Offenbarung als Geschichte: Implikationen und Konsequenzen eines theologischen Programms [1 ed.] 9783666570797, 9783525570791

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Offenbarung als Geschichte: Implikationen und Konsequenzen eines theologischen Programms [1 ed.]
 9783666570797, 9783525570791

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Gunther Wenz (Hg.)

Offenbarung als ­Geschichte Implikationen und Konsequenzen eines theologischen Programms Pannenberg-Studien

Band 4

Pannenberg-Studien

Band 4

Herausgegeben von Gunther Wenz

Gunther Wenz (Hg.)

Offenbarung als Geschichte Implikationen und Konsequenzen eines theologischen Programms

Vandenhoeck & Ruprecht

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.de abrufbar. © 2018, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: Wolfhart Pannenberg © Hilke Pannenberg Satz: 3w+p, Rimpar Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISSN 2367-4369 ISBN 978-3-666-57079-7

Inhalt

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Gunther Wenz Pannenbergs Kreis. Genese und erste Kritik eines theologischen Programms . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

17

Martin Arneth Alttestamentliche Aspekte der Programmschrift „Offenbarung als Geschichte“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

59

Friederike Nüssel Was heißt „als Geschichte“? Zur christologischen Fundierung des offenbarungstheologischen Programms . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

71

Klaus Vechtel SJ Offenbarung am Ende der Geschichte und eschatologische Vollendung. Pannenbergs Theologie im Gespräch mit Holm Tetens’ rationaler Erlösungshoffnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

91

Josef Schmidt SJ Die Einheit von Absolutheit und Relativität in „Offenbarung als Geschichte“ und ihre spätere Entfaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 Thomas Oehl Gottes strittige Wirklichkeit und unthematisches Wissen von Gott. Zum Zusammenhang zweier Kerngedanken in Pannenbergs Theologie . . . . . 119 Manuel Zelger Theologie als Universaltheorie. Zur Funktion der als Geschichte konzipierten Offenbarung für den Aufbau der Theorie . . . . . . . . . . . 135

6

Inhalt

Dietrich Korsch Der doppelte Ausgang der Eschatologie. Jürgen Moltmann und Wolfhart Pannenberg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155 Felix Körner SJ Gottes Weltregierung im Prozess der Geschichte. Handlungstheorien bei Wolfhart Pannenberg und in der islamischen Theologie . . . . . . . . . . 167 Wolfgang Thönissen Offenbarung in der Geschichte. Joseph Ratzingers Verortung des Offenbarungsbegriffs im ökumenischen Diskurs im Vorfeld der Programmschrift „Offenbarung als Geschichte“ . . . . . . . . . . . . . . . 205 Helge Siemers Trutz Rendtorffs Beitrag „Das Offenbarungsproblem im Kirchenbegriff“ . 223 Walter Dietz Hermeneutik und Universalgeschichte bei W. Dilthey und W. Pannenberg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 237 Georgios Zigriadis Eine philosophische und systematische Konstellation. Nicolai Hartmann und Wolfhart Pannenberg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 261 Gunther Wenz Geschichte versus Geschichtlichkeit. Pannenberg und der frühe Heidegger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 269 Gunther Wenz Von der Kunst, Hermeneutik zu verstehen. Zur Frage nach dem Sinn des Ganzen beim Heideggerschüler Gadamer und bei Pannenberg . . . . . . 347 Gunther Wenz Karl Löwith. Heideggerschüler und philosophischer Lehrer Pannenbergs . 381 Gunther Wenz Die Glaubwürdigkeit des Christentums. Zu Wolfgang Greives gleichnamigem Pannenbergbuch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 405

Inhalt

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Wolfhart Pannenberg Zwanzig Jahre Evangelisch-Theologische Fakultät in München – aus der Sicht der „Fundamentaltheologie und Ökumene“ . . . . . . . . . . . . . . 413 Verzeichnis der Autoren

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 421

Vorwort

Am 2. Oktober 2018 jährt sich zum 90. Mal der Tag der Geburt Wolfhart Pannenbergs, dessen Denken im 20. Jahrhundert für die evangelische Theologie in Deutschland und nicht nur für sie weichenstellend wurde. Grundgelegt ist sein theologischer Entwurf in der Programmschrift „Offenbarung als Geschichte“ von 1961, näherhin in den „Dogmatische(n) Thesen zur Lehre von der Offenbarung“, die er in ihrem Kontext entwickelt hat.1 Implikationen und Konsequenzen des epochemachenden Programms waren Thema des 4. PannenbergKolloquiums, das am 13./14. Oktober 2017 in der Münchener Hochschule für Philosophie stattfand und dessen Beiträge ergänzt durch einige Zusatztexte in dem vorliegenden Sammelband von einer Ausnahme abgesehen dokumentiert sind. Die Themenstellung entsprach derjenigen einer Tagung, die ein gutes halbes Jahrhundert vorher am 28./29. September 1964 als 33. Theologische Flemhuder Konferenz im Schleswig-Holsteinischen Kropp stattfand. Den Hauptvortrag mit anschließender Aussprache hielt Rolf Rendtorff, Heidelberg. Er führte gemäß Protokoll nach dem einleitenden Hinweis, dass es sich bei dem programmatischen Entwurf noch „nicht um ein abgeschlossenes theologisches System“2, wohl aber um den Versuch handele, eine „Neuorientierung der Theologie“ (1) herbeizuführen (ebd.: „Die Frage des Erfolges dieser Intention kann erst die spätere Theologiegeschichte entscheiden.“), aus biographischer Perspektive in die Genese der Schrift und des Kreises ein, aus dessen Zusammenarbeit sie entstand. Den Beginn des Arbeitskreises datierte Rendtorff auf die Jahre 1950/51. „Es war dies die Zeit, in der die Theologie Bultmanns ihren Durchbruch feierte.“ 1 W. Pannenberg, Dogmatische Thesen zur Lehre von der Offenbarung, in: ders. (Hg.), Offenbarung als Geschichte, Göttingen 1961, 91–114; vgl. auch die Einführung des Herausgebers, a. a. O., 7–20. 2 K. Goßmann, Protokoll der 33. Flemhuder Konferenz am 28. und 29. September 1964 in Kropp, 7 Seiten maschinenschriftlich, hier: 1. Die nachfolgenden Seitenverweise im Text beziehen sich hierauf. Eine Liste der Konferenzteilnehmer findet sich im Archiv der Stiftung Diakoniewerk Kropp.

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Vorwort

(Ebd.) Die Mitglieder des Kreises seien in ihrem Denken davon nicht unberührt geblieben; ihr Denkweg habe nicht an Bultmanns Theologie vorbei, sondern durch diese hindurch und so über sie hinaus geführt. Der erste Anstoß, über Bultmann hinauszugehen, sei aus der alttestamentlichen Wissenschaft und zwar namentlich von dem 1954 erschienenen Buch des damals seit drei Jahren in Göttingen lehrenden Schweizer Alttestamentlers Walther Th. Zimmerli über „Erkenntnis Gottes nach dem Buche Ezechiel“3 ausgegangen. Habe man bisher die differenzierte Einheit der theologischen Disziplinen und insbesondere diejenige von historisch-kritischer Exegese und Systematik auf Bultmannsche Fundamente zu gründen gesucht, so sei nun erkannt worden, dass sich nach alttestamentlichem Zeugnis Gott durch sein geschichtliches Handeln zur Erkenntnis bringe und offenbare. Diese Sicht ließ sich „mit dem Geschichtsverständnis Bultmanns nicht vereinen“ (ebd.). Als eine Bestätigung hierfür sei sowohl die Auseinandersetzung zwischen dem von Bultmann geprägten Neutestamentler Hans Conzelmann und Gerhard von Rad in der Zeitschrift für „Evangelische Theologie“ des Jahres 19644 als auch der in Abkehr von Bultmann erfolgte Neuansatz Ernst Käsemanns in der Frage des historischen Jesus zu werten.5 Das Alte Testament entzieht sich Rendtorff zufolge „jeder Auflösung in das Existentielle“ (ebd.). Wolle man an der Einheit der Testamente bzw. an ihrer 3 W. Th. Zimmerli, Erkenntnis Gottes nach dem Buche Ezechiel, Zürich 1954. 4 Vgl. H. Conzelmann, Fragen an Gerhard von Rad, in: EvTh 24 (1964), 113–125; G. v. Rad, Antwort auf Conzelmanns Fragen, in: EvTh 24 (1964), 388–394. Conzelmann attestierte von Rads Konzept eine „Ambivalenz von theologischer Intention und historischer Bestandsaufnahme“ (121). Die behauptete „Einheit von Tatsachen und Deutung“ (117) bleibe unausgewiesen. Anders als in der „Theologie des Alten Testaments“ (Bd. 1: Die Theologie der geschichtlichen Überlieferungen Israels, München 1957; Bd. 2: Die Theologie der prophetischen Überlieferungen Israels, München 1960) in Anschlag gebracht sei das „Verständnis von Verheißung und Erfüllung … nicht linear, sondern dialektisch“ (125). Von Rad konterte in einer brieflichen Entgegnung mit der Bemerkung: „Seien Sie mir nicht böse, aber einen solchen Satz würde ich keinem Studenten durchlassen und auch Ihnen vermag ich ihn nicht abzunehmen.“ (389) Nie habe er einen linearen Ablauf der biblischen Geschichte ohne Diskontinuitäten und ohne Neuansätze gelehrt, am allerwenigsten in Bezug auf das Verhältnis von Altem und Neuem Testament. Gleichwohl sei „noch längst nicht allseitig erwogen“ (391), was es theologisch bedeute, dass nach biblischem Zeugnis das Heilsgeschehen und nachgerade das Christusereignis kein punktuelles, sondern ein Phänomen im Verlauf eines zusammenhängenden Geschichtswaltens Gottes sei. Was hinwiederum das Verhältnis von geschichtlicher Faktizität und Deutung angehe, so müsse bedacht werden, dass es bruta facta überhaupt nicht gebe: „wir haben die Geschichte immer nur in Gestalt von Deutungen.“ (393; zu Biographie und Werkgeschichte von Rads vgl. J. L. Crenshaw, Gerhard von Rad. Grundlinien seines theologischen Werks, München 1979) 5 E. Käsemann, Das Problem des historischen Jesus (1953), in: ders., Exegetische Versuche und Besinnungen. Erster und zweiter Band, Göttingen 1964, I, 187–214; vgl. hierzu und zur Geschichte der Leben-Jesu-Forschung insgesamt G. Wenz, Christus. Jesus und die Anfänge der Christologie, Göttingen 2011, 84ff., bes. 103ff.

Vorwort

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kontinuierlichen Beziehung festhalten, müsse dies auch unter neutestamentlichen Bedingungen Anerkennung finden. Käsemann habe in dieser Hinsicht die passende Devise ausgegeben, wenn er die Apokalyptik zur Mutter der christlichen Theologie erklärt habe, auch wenn er diesem Vorsatz in der Durchführung seines eigenen Denkens nicht wirklich treu geblieben sei. Immerhin habe er im Unterschied etwa zu E. Fuchs und seiner Hermeneutik6 die historische Isolierung des neutestamentlichen Zeugnisses gegenüber der alttestamentlichen Tradition behoben. In dieser Richtung gelte es im Sinne eines überlieferungsgeschichtlichen Konzepts fortzuschreiten, welches Altes und Neues Testament über das „Zwischenglied“ (2) der Apokalyptik miteinander vermittle, um so zu einer exegetisch verantworteten und systematisch zu explizierenden biblischen Theologie zu gelangen. Einen ersten großen Schritt dahin habe Wolfhart Pannenberg mit seinem 1959 in der Zeitschrift „Kerygma und Dogma“ publizierten Artikel „Heilsgeschehen und Geschichte“ vollzogen.7 „Hier ist der eigentliche Vorstoß getan.“ (Ebd.) Die zwei Jahre später, 1961, in Beiheft 1 von „Kerygma und Dogma“ erschienene Schrift „Offenbarung als Geschichte“ stellte dann, so Rendtorff, „den Versuch dar, den neuen Ansatz für das ganze Gebiet der Theologie in ihren verschiedenen Disziplinen fruchtbar zu machen“ (ebd.) und zwar vor allem in der differenzierten Einheit von exegetischer und systematischer Arbeit.8 Ziel der Pannenberg-Studien, deren 4. Band hiermit vorgelegt wird, war und bleibt es, einen „Zugang zu den immanenten Konstruktionsprinzipien von 6 E. Fuchs, Hermeneutik, Bad Canstatt 1954; ferner: ders., Marburger Hermeneutik, Tübingen 1968. 7 Vgl. W. Pannenberg, Heilsgeschehen und Geschichte, in: KuD 5 (1959), 218–237; 259–288; wiederabgedruckt in: ders., Grundfragen systematischer Theologie. Gesammelte Aufsätze, Göttingen 21971, 22–78. 8 In den Folgeabschnitten seines Kropper Referats stellte Rendtorff den Entwurf von „Offenbarung als Geschichte“ in seinen wesentlichen Bestimmungsmomenten dar und zwar unter Konzentration auf das Verhältnis zum einen von Wort und Geschichte, zum andern von Glaube und Erkennen. Wie das Wort dem Offenbarungsgeschehen nicht äußerlich hinzugefügt werde, sondern die Bedeutung zur Sprache bringe, die diesem selbst eigne, so stünden auch Glaube und Erkennen in keinem additiven oder gar in einem Gegensatzverhältnis, weil der Glaube auf dasjenige vertraue, was ihm im Offenbarungsgeschehen zu erkennen gegeben sei. Im Anschluss daran kommt Rendtorff auf den modernitätsspezifischen Charakter der Programmschrift, durch den sie sich signifikant von den herrschenden Spielarten der WortGottes-Theologie, dem Barthianismus und der Entscheidungstheologie der Bultmannschen Schule, unterscheide, sowie noch einmal auf den Begriff der Geschichte als Überlieferungsgeschichte zu sprechen, durch den sich das Konzept und seine Durchführung zusammenfassend „am besten“ (4) benennen ließen. Die „letzte Konsequenz“ (ebd.) der Programmschrift sei „die Integration von theologischem Denken und gegenwärtiger Wirklichkeit“ (ebd.). Die nachfolgende Aussprache bezog sich vor allem auf die Themenaspekte Wort und Geschichte, Geschichte und Offenbarung sowie auf das Problem der Kontinuität der Offenbarungsgeschichte.

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Vorwort

P(annenberg)s Theologie“9 zu erschließen. Es ist unschwer zu erkennen, dass für die Erfüllung dieser Aufgabe der offenbarungstheologischen Programmschrift von 1961 eine besondere Bedeutung zukommt. Ihre aktuelle Relevanz wurde u. a. durch die Beiträge und Diskussionen beim 15. Europäischen Kongress für Theologie bestätigt, der im September 2014 zum Thema „Geschichte und Gott“ in Berlin stattgefunden hat. So hob, um ein naheliegendes Beispiel zu wählen, der Münchener Systematiker Jörg Lauster unter Berufung auf Pannenberg nachdrücklich hervor, dass es Heilsgeschichte „allein im Modus der Überlieferungsgeschichte“10 geben könne: Offenbarung als theologische Kategorie gibt es nur in den religiösen Verarbeitungsleistungen menschlicher Subjekte, es gibt keine supranaturale Offenbarung an sich. Aber – und das ist die große Stärke in Pannenbergs Modell – die subjektiven Verarbeitungsleistungen sind von dem Ereignis evoziert. Tradition ist, so konnte er in einer These sagen, die Explikation des Sachgehaltes, der in dem sie begründenden Ereignis angelegt ist. In seiner Theorie der christologischen Traditionsbildung hat er dies dann exemplarisch durchexerziert.11

Die Theorie der christologischen Traditionsbildung wird Gegenstand einer der nächsten Pannenberg-Kolloquien sein. In dem hier dokumentierten wurde ihr offenbarungstheologischer Ansatz untersucht und debattiert, wie er in der Programmschrift von 1961 grundgelegt ist. Pannenberg hat sie in Verbindung mit Rolf Rendtorff, Ulrich Wilckens und Trutz Rendtorff, dem jüngeren Bruder von Rolf, herausgegeben. Über ihre Stellung in der Gruppe, die man später den Pannenberg-Kreis nannte, und über dessen frühes Credo, wonach Geschichte der 9 W. Schoberth, Rez. v. „Eine neue Menschheit darstellen“ – Religionsphilosophie als Weltverantwortung und Weltgestaltung. Eröffnung der Wolfhart Pannenberg-Forschungsstelle an der Münchener Hochschule für Philosophie. Philosophische Fakultät SJ, hg. v. G. Wenz, Göttingen 2015, in: ThRev 113 (2017), Sp. 62–64, hier: 64. Vgl. ferner: G. Wenz (Hg.), Vom wahrhaft Unendlichen. Metaphysik und Theologie bei Wolfhart Pannenberg (PannenbergStudien Bd. 2), Göttingen 2016; ders. (Hg.), Kirche und Reich Gottes. Zur Ekklesiologie Wolfhart Pannenbergs (Pannenberg-Studien Bd. 3), Göttingen 2017. 10 J. Lauster, Das Gedächtnis seiner Wunder. Zur Problematik der Erinnerung als theologischer Kategorie, in: M. Meyer-Blanck (Hg.), Geschichte und Gott. XV. Europäischer Kongress für Theologie, Leipzig 2016, 709–718, hier: 712. „In den Zeiten, als es noch ein fruchtbares Gespräch zwischen Systematischer Theologie und Exegese gab, machte sich Pannenberg die Einsichten Gerhard von Rads produktiv zu eigen. Dem Volk Israel erschloss sich die Wirklichkeit Gottes nicht in übernatürlichen Sprechakten eines höheren Wesens, sondern im Begreifen seiner eigenen Geschichte. Das Ringen darum, was die eigene Geschichte bedeuten sollte, prägte die eigene Überlieferung. Von daher konnte Pannenberg die alttestamentliche Überlieferungsgeschichte als den ‚tieferen Begriff von Geschichte überhaupt‘ bezeichnen, denn die Überlieferung reproduzierte nicht nur Fakten der Vergangenheit, sondern fügte diese zusammen zu einer religiösen Sinngeschichte: Heilsgeschichte gibt es allein im Modus der Überlieferungsgeschichte.“ (Ebd.) 11 A. a. O., 713.

Vorwort

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umfassendste Horizont christlicher Theologie sei, unterrichtet der Eröffnungsbeitrag des Herausgebers. Er rekonstruiert die Genese von „Offenbarung als Geschichte“ und bringt zugleich die ersten kritischen Stimmen aus den Reihen der Kerygmatheologie in Erinnerung. Auch Pannenbergs direkte Replik wird skizziert. Wichtige Zusatzinformationen bringt der Beitrag von Martin Arneth zu alttestamentlichen Aspekten der Programmschrift bei. Auf breiter Basis entfaltet hat Pannenberg sie in den „Grundzüge(n) der Christologie“ von 1964. Dass es sich dabei um eine Explikation der impliziten Prämissen von „Offenbarung als Geschichte“ handelt, zeigt Friederike Nüssel in ihrem Beitrag: Was heißt „als Geschichte“? Zur christologischen Fundierung des offenbarungstheologischen Programms. Eine der Grundthesen von „Offenbarung als Geschichte“ lautet, dass sich das Ende der Offenbarungsgeschichte im Geschick Jesu von Nazareth vorwegereignet habe. Auf sie und auf den Zusammenhang von Geschichte, Offenbarung und Eschatologie reflektiert Klaus Vechtel SJ. Er bringt dabei Pannenbergs Konzeption unter dem Aspekt endzeitlicher Hoffnung ins Gespräch mit dem Versuch über rationale Theologie des Berliner Philosophen Holm Tetens.12 Eigens erörtert wird die Frage des erkenntnistheoretischen Status eschatologischer Aussagen. Sie begegnet auch im Text von Josef Schmidt SJ über die Einheit von Absolutheit und Relativität in Pannenbergs offenbarungstheologischem Entwurf. „Lässt sich die definitive Selbsterschließung Gottes in der Geschichte mit deren stets unabgeschlossenem Deutungskontext in Einklang bringen?“ Aus der Beantwortung dieser Frage ergeben sich, wie Schmidt am Schluss seines Beitrags zeigt, weitreichende Konsequenzen für das Verhältnis von Wissenschaftstheorie und Theologie. Thomas Oehls beim Kolloquium vorgetragene Überlegungen zu Pannenbergs Wissenschaftstheorie der Theologie im Lichte der Programmschrift „Offenbarung als Geschichte“ waren direkt auf diesen Zusammenhang bezogen; auch in der vorliegenden Version bleibt besagter Bezug erhalten, um durch Fokussierung auf zwei Kerngedanken Pannenbergscher Theologie konkretisiert zu werden: Gottes strittige Wirklichkeit und unthematisches Wissen von Gott. Oehls Beitrag endet mit einem werkgeschichtlichen Epilog, in dem er die These vertritt, dass Pannenbergs Konzeption der Sinntotalität nicht schon in der Monographie „Wissenschaftstheorie und Theologie“ von 1973, sondern erst in der Folgezeit vollentwickelte Gestalt angenommen habe, als der Sinnbegriff in expliziter Relation auf das begriffliche Verhältnis von Endlichem und Unendlichem verstanden worden sei. Über diese Annahme wird in der Pannenbergforschung ebenso zu diskutieren sein wie über den Text von Manuel Zelger, der in systemtheoretischer Perspektive nach der Funktion der als Geschichte konzi12 Vgl. H. Tetens, Gott denken. Ein Versuch über rationale Theologie, Stuttgart 2015.

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Vorwort

pierten Offenbarung für den Aufbau einer als Universaltheorie angelegten Theologie fragt. Alte Probleme, wie etwa dasjenige einer adäquaten Hegelrezeption, stellen sich neu. Im zweiten Band der Pannenberg-Studien sind sie bereits aufgegriffen und auf breiter Basis erörtert worden. Die Debatte ist im Gange. Sie wird umso schärferes Profil gewinnen, je mehr man die weiteren und engeren Kontexte Pannenbergschen Denkens in Betracht zieht. Zu den engsten gehören in Konstruktion und Kritik Jürgen Moltmanns Untersuchungen zur Begründung und zu den Konsequenzen einer christlichen Eschatologie, wie sie in der Monographie „Theologie der Hoffnung“ von 1964 vorgelegt wurden.13 Dietrich Korsch weiß dazu unter dem, wie er selbst schreibt, assoziationsfördernden Titel „Der doppelte Ausgang der Eschatologie“ Erhellendes zu sagen. Pannenberg im Kontext: Sehr weit ausgespannt ist der Horizont in der Studie von Felix Körner SJ „Gottes Weltregierung im Prozess der Geschichte. Handlungstheorien bei Wolfhart Pannenberg und in der islamischen Theologie“. Eine engere Perspektive wählt Wolfgang Thönissen in seinem Text über Joseph Ratzingers Verortung des Offenbarungsbegriffs im ökumenischen Diskurs mit Karl Barth und Oscar Cullmann im Vorfeld der Programmschrift „Offenbarung als Geschichte“. Noch enger sind die kontextuellen Grenzen in einer Reihe weiterer Beiträge gezogen. Helge Siemers analysiert Trutz Rendtorffs Beitrag zu „Offenbarung als Geschichte“ und deutet die Entwicklungen, welche die Rendtorffsche Ekklesiologie des Weiteren genommen hat; Walter Dietz erörtert Pannenbergs Verhältnis zu Dilthey, Georgios Zigriadis dasjenige zu Nicolai Hartmann, den Pannenberg ausdrücklich seinen philosophischen Lehrer nannte. Neben Nicolai Hartmann hat Pannenberg nur noch Karl Jaspers und Karl Löwith als seine philosophischen Lehrer bezeichnet. Beide standen, wie schließlich auch Hans-Georg Gadamer, dessen Werk „Wahrheit und Methode“ für Pannenberg in hohem Maße bedeutsam wurde, in enger Beziehung zu Martin Heidegger, dessen Verständnis von Geschichtlichkeit hintergründig entscheidend zur Konzeptionalisierung der Pannenbergschen Offenbarungstheologie beigetragen hat. Die Devise lautete: Geschichte versus Geschichtlichkeit. Wie Pannenberg sie gegen den frühen Heidegger geltend machte, wird in einem beigegebenen Text des Herausgebers ausführlich zur Darstellung gebracht. Zwei weitere Texte, die in diesen Zusammenhang gehören, sind angefügt. Der eine thematisiert Pannenbergs Aufnahme der Hermeneutik Gadamers, der andere sein Verhältnis zu seinem Lehrer, dem Heideggerschüler Karl Löwith. Beigefügt ist ferner die Besprechung eines der wichtigsten Werke, die in letzter Zeit zur Theologie Pannenbergs erschienen sind.

13 J. Moltmann, Theologie der Hoffnung. Untersuchungen zur Begründung und zu den Konsequenzen einer christlichen Eschatologie, München 1964.

Vorwort

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Im vergangenen Jahr feierte die Evangelisch-Theologische Fakultät der Ludwig-Maximilians-Universität München den 50. Jahrestag ihres Bestehens. Einen Überblick über ihre beiden ersten Dezennien hat Pannenberg in einem Beitrag gegeben, der am Ende des vorliegenden Sammelbandes abgedruckt ist. Er enthält instruktive Informationen zur Fakultätsgeschichte im Allgemeinen sowie zur Geschichte des Lehrstuhls für Systematische Theologie I und des Ökumenischen Instituts im Besonderen, dem Pannenberg vorstand und für dessen Erhalt und Fortbildung er sich energisch einsetzte. Welche Mühe dies zeitweilig bereitete, belegen die Auseinandersetzungen Mitte der 70er Jahre. Erst im Zuge von Verhandlungen zur Abwendung eines Rufs, den Pannenberg an die School of Theology in Claremont/Kalifornien erhalten hatte, wurde 1977 das evangelische Ökumenische Institut wiederhergestellt bzw. zu einem eigenen Institut für Fundamentaltheologie und Ökumene unter Pannenbergs Leitung gestaltet. Sein Lehrstuhl kam unter Aufhebung der Zuteilung zum Institut für Systematische Theologie zu dem neu errichteten Institut, jedoch ohne Änderung von Bezeichnung und Funktionsbestimmung. Pannenberg beschloss seine Bemerkungen zu den ersten 20 Jahren der Evangelisch-Theologischen Fakultät in München mit der Feststellung, das Experiment der Neugründung einer Evangelisch-Theologischen Fakultät in München habe sich für ihn gelohnt. Es ist eine Fakultät entstanden, die gerade auch in der Systematischen und Ökumenischen Theologie ein eigenes Profil gewonnen hat und die mit ihrem Bemühen um die Verbindung von Liberalität und Pflege geschichtlicher Kontinuität vielleicht auch in dieser schönen Stadt und ihrem kulturellen Klima keinen Fremdkörper bildet. (S. o. 420)

München, 16. März 2018 Gunther Wenz

Gunther Wenz

Pannenbergs Kreis Genese und erste Kritik eines theologischen Programms

1.

Ein „Kreis“ und sein Credo

Den Namen der niedersächsischen Kleinstadt Dassel im Landkreis Northeim sollte man sich aus zumindest zwei Gründen merken: Erstens, weil Rainald, Erzbischof von Köln, Erzkanzler von Italien und enger Berater des Stauffers Friedrich I. Barbarossa, aus einem dort ansässigen Grafengeschlecht stammte; Rainald von Dassel nahm nicht nur bedeutenden Einfluss auf die kaiserliche Reichs- und Italienpolitik, sondern ließ zudem nach erfolgreicher Niederwerfung Mailands die Gebeine der Heiligen Drei Könige von dort nach Köln überführen, wo sie bis heute verehrt werden. Ein weiterer Grund, der Stadt Dassel zu gedenken, besteht wegen einer theologischen Arbeitstagung, die in ihren Mauern vom 22. bis 26. Oktober 1960 stattfand und ebenfalls nachhaltige Wirkungen zeitigte. Das damalige Tagungsthema lautete: „Offenbarung als Geschichte“. Vor 28 Teilnehmern, darunter Peter Cornehl, Berthold Klappert, Traugott Koch, Hartmut Löwe, Wolfgang Reich, Adolf-Martin Ritter und Odil-Hannes Steck referierten Rolf Rendtorff zum Offenbarungsverständnis des Alten und Ulrich Wilckens zu demjenigen des Neuen Testaments. Am nächsten Tag ergriff Wolfhart Pannenberg, der zuvor schon eine systematische Einführung in die Thematik gegeben hatte, mit dogmatischen Thesen zum Offenbarungsbegriff das Wort, und Trutz Rendtorff stellte Erwägungen zu Offenbarung und Kirche an. Die Tagung wurde durch ein abendliches Rundgespräch mit Pannenberg beschlossen, das in einer Debatte zur Auferstehung Jesu Christi gipfelte, deren Historizität der Protagonist vehement gegen Bestreitungen verteidigte. Dokumentiert wurden die Vorträge in Beiheft 1 der Zeitschrift für theologische Forschung und kirchliche Lehre „Kerygma und Dogma“. Die Auslieferung des Heftes erfolgte im März 1961; im selben Monat wurde Wilckens nach Berlin berufen, während Pannenberg bereits im November einen Ruf an die Universität Mainz erhalten hatte, wohin er von der Kirchlichen Hochschule Wuppertal wechselte.

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Gunther Wenz

Die Dasseler Tagung war nicht die erste, zu der sich die Arbeitsgruppe um Pannenberg zusammenfand. Ihre Anfänge reichen in die beginnenden 1950er Jahre zurück. Pläne zur Gründung eines Kreises jüngerer Kommilitonen zur gemeinsamen Beschäftigung mit theologischen Fundamentalfragen hatten Rolf Rendtorff und Dietrich Rössler schon in ihrer Kieler Zeit 1949/50 erwogen. Im Herbst 1950 kam es in Heidelberg zur Begegnung von Rendtorff und Wilckens, kurz darauf ergaben sich Kontakte zu Klaus Koch und Pannenberg. R. Rendtorff (1925–2014) promovierte 1950 bei Gerhard von Rad in Heidelberg, wo er seit 1963 selbst als Professor für Altes Testament tätig war. In den stürmischen Jahren von 1970–1972 war er Rektor der Ruprecht-Karls-Universität. Dietrich Rössler (geb. 1927) promovierte 1951 in Medizin, 1957 in Theologie; 1960 erfolgte die Habilitation in Praktischer Theologie. 1965 erhielt er einen Ruf an die Evangelisch-Theologische Fakultät der Universität Tübingen, wo er bis zu seiner Emeritierung lehrte. Ulrich Wilckens (geb. 1928) studierte in Heidelberg und in Tübingen und lehrte nach pfarramtlicher Tätigkeit seit 1958 Neues Testament an der Marburger Universität, an der Kirchlichen Hochschule in Berlin und an der Universität Hamburg. Von 1981 bis 1991 war er Bischof des Sprengels HolsteinLübeck in der Nordelbischen Evangelisch-Lutherischen Kirche. Klaus Koch (geb. 1926) war von 1950 bis 1954 Assistent bei Gerhard von Rad in Heidelberg. 1953 wurde er im Fach Altes Testament promoviert, 1957 habilitiert. Seit 1960 lehrte Koch an der Kirchlichen Hochschule Wuppertal, seit 1962 bis zu seiner Emeritierung in Hamburg. Klaus Kochs Bruder Traugott promovierte 1964 bei Pannenberg mit einer Dissertation über Hegels „Wissenschaft der Logik“; in Mainz und München war er einige Jahre Pannenbergs Assistent, später Professor in Regensburg und in Hamburg. Mit R. Rendtorff, D. Rössler, U. Wilckens und K. Koch war die Kernmannschaft der Arbeitsgruppe um Pannenberg formiert. Im November 1951, kurz nach Rendtorffs Promotion, gab es das erste förmliche Treffen in Ulrich Wilckens Studentenbude in der Heidelberger Hauptstraße 33. Von da an traf man sich in regelmäßigen, meist 14–tägigen Abständen zur Diskussion theologischer Grundprobleme und vereinbarte eine längerfristige Zusammenarbeit. Der Beginn wurde mit hermeneutischen Fragen gemacht. Pannenberg trug im WS 51/52 u. a. zum Thema „Mythus und Wort“ vor. Im SS 1952 war die schöpfungstheologische Thematik der „creatio ex nihilo“ Generalthema. In der vorletzten Semestersitzung führte man das vertraute „Du“ ein. Besondere Ereignisse waren der offene Abend für Ordinarien am 24.7., den Hans von Campenhausen, Günther Bornkamm und Gerhard von Rad besuchten1, und der Besuch in Martin Heideggers Todtnauberger Hütte am 16. 8. 1952.2 1 Hans Erich Freiherr von Campenhausen (1903–1989) lehrte als Nachfolger Hans von Schuberts seit 1945 Kirchengeschichte an der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg. Günther Born-

Pannenbergs Kreis. Genese und erste Kritik eines theologischen Programms

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Mit dem Sommersemester 1952 endete die gemeinsame Zeit in Heidelberg; doch sollte „der Kreis“, wie sich die Gruppe nun ausdrücklich selbst nannte, fortleben. Intensiv diskutierte man Pannenbergs Entwurf eines Briefes an Heidegger und die Rundbriefkommentare, welche die Mitstreiter anfügten. Im Oktober 1953 wurde der Heideggerbrief zum Abschluss gebracht. Ob man ihn abschickte, muss einstweilen offen bleiben; der Eingang beim Adressaten konnte vom Marbacher Heideggerarchiv nicht bestätigt werden. Wichtigstes Arbeitsthema der unmittelbaren Folgezeit sollten die Lehren von Sühne und Versöhnung sein. Am 14./15. März 1954 wird anlässlich einer Zusammenkunft in der nahe Heidelberg gelegenen Gemeinde Bammental das Credo des Kreises formuliert: „Geschichte ist Offenbarung“. Ferner beschließt man eine Erweiterung der Gruppe um ein bis zwei Kirchenhistoriker. Zur Göttinger Tagung im August des Jahres zum Thema Erwählung werden Martin Elze und Georg Kretschmar als Gäste eingeladen; beide referieren neben Rendtorff, Koch, Wilckens und Pannenberg; Elze wird dem Kreis künftig als ordentliches Mitglied angehören.3 Nachdem Pannenberg bereits bei der Augusttagung in Göttingen das Glaubensbekenntnis des Kreises eigens thematisiert hatte, versuchten es die Vertreter der anderen Disziplinen bei einer Heidelberger Tagung im April 1955 im Sinne eines skizzenhaften Gesamtentwurfs zu explizieren. Im Zuge dessen und in Konsequenz der vormaligen Ausführungen Pannenbergs kommt es zur Modifikation des Credos, das nun nicht mehr heißt „Geschichte ist Offenbarung“, sondern „Offenbarung ist Geschichte“, will heißen: „Offenbarung definiert, was Geschichte ist, nicht umgekehrt.“ So steht es im Buch der Chronik auf Seite 12 geschrieben. Vermerkt ist zudem: „Aus ‚Herrn Elze‘ wird ‚Martin‘.“ Ergänzt sei, dass sich Pannenberg anlässlich einer Tagung „Alter Marburger“ im rheinhessischen Jugenheim heftige Gefechte mit Rudolf Bultmann und Friedrich Gogarten lieferte. Außer Bultmann und Gogarten waren Bornkamm, der zusammen mit Pannenberg opponierte, Käsemann, Braun, Harbsmeier, H. Diem sowie Anz kamm (1905–1990) war seit 1949 dortiger Professor für Neues Testament und Gerhard von Rad, dessen überlieferungsgeschichtlicher Ansatz für Pannenberg und seinen Kreis weichenstellende Bedeutung gewann, ebenfalls seit 1949 Heidelberger Professor für Altes Testament. 2 Zum Besuch bei Heidegger vgl. im Einzelnen: G. Wenz, Ausfahrt Todtnauberg. Begegnungen Wolfhart Pannenbergs mit Martin Heidegger, in: ders. (Hg.), Vom wahrhaft Unendlichen. Metaphysik und Theologie bei Wolfhart Pannenberg, Göttingen 2016 (Pannenberg-Studien 2), 71–87. 3 Martin Elze (geb. 1927) wirkte nach einer Privatdozentur in Tübingen seit 1967 als Professor für Kirchengeschichte (Schwerpunkt Patristik) an der Universität Hamburg, seit 1976 als Pfarrer in Aschaffenburg, seit 1980 als Dekan in Würzburg und Honorarprofessor an der dortigen Universität. Elze verdanke ich die meisten der in diesem Abschnitt verarbeiteten Informationen; er stellte mir eine 38–seitige, mit einigen Fotos versehene handschriftliche „Chronik des (später so genannten) Pannenberg-Kreises“ zur Verfügung, die in der Pannenberg-Forschungsstelle an der Münchener Hochschule für Philosophie aufbewahrt ist.

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und Gadamer präsent. Intern bestimmten Unterredungen zum Verhältnis von Altem und Neuem Testament die weitere Diskussion; der Kreis konsolidierte sich und sah sich vor Aufgaben gestellt, deren Bewältigung Geschlossenheit und abgestimmtes Handeln zur Voraussetzung hatte.4 Im September 1955 leitete Pannenberg in Göttingen ein Kant-Seminar des Kreises. Die Chronik verzeichnet seine „(u)nbezähmbare Sehnsucht nach einem ernstzunehmenden Gesprächspartner (– ein zweiter Systematiker?)“. Ferner wird notiert, man habe sich nach erfolgter Beschäftigung mit Kant und phänomenologischen Strömungen „im ‚Hegeln‘ und ‚Jasperln‘“ geübt. Zentrales Thema, auf das sich die gemeinsamen Interessen fokussierten, blieb im Übrigen die Offenbarungsproblematik. Ihr sind ein Heidelberger Treffen vom April 1956, bei dem Rendtorff, Rössler und Wilckens referierten, und ein weiteres im September gleichen Jahres mit Beiträgen von Wilckens, Pannenberg und Koch gewidmet. Man formuliert gemeinsam sog. Heidelberger Thesen zum Verhältnis von Gottesrecht und Geschichte im vorexilischen Israel in der Prophetie, beim Deuteronomisten, im nachexilischen Judentum, in der Apokalyptik, bei Jesus, im 1. Petrusbrief und schließlich bei Paulus, der, wie es heißt, auf dem Hintergrund des in 1. Petr 1 erkennbaren Traditionsschemas zu Ziel und Weg des Glaubens Jesus Christus als das Ende des Gesetzes verstehen und gegen die Behauptung einer bleibenden Heilsbedeutung des Gesetzes polemisieren konnte. Heilsentscheidend sei das Erscheinen Jesu Christi und das gegenwärtige Glaubensverhältnis zu ihm, wobei die Perspektive einer futurischen Eschatologie unter paulinischen Bedingungen durchaus erhalten bleibe; von seiner Umbildung der apokalyptischen Tradition her, so der Schluss der letzten von insgesamt acht Thesen, wende sich der Apostel gegen eine rein präsentische Erlösungslehre, wie sie die sog. Gnosis vertreten habe. Bei einer Heidelberger Zusammenkunft im März 1957 sollten die Thesen erneuter Gegenstand gemeinsamer Verhandlungen sein, auch wenn sich die Referenten dann nur zum Teil an diese Vorgabe hielten. Rendtorff sprach über den Kult des älteren Israel, Koch über den Jerusalemer Kult; Rössler hielt sich mit seinem Referat „Gesetz und Geschichte“ an die geplante Thematik, Wilckens trug Erwägungen zur vorpaulinischen Tradition vor. Ein Besuch bei Richard Siebeck schloss sich an. Im Oktober 1957 traf man sich erneut im Ökumenischen Heim zu Heidelberg. Pannenberg lieferte einen Beitrag zur „‚Offenbarung‘ des Unendlichen als Unendlichen“, Rendtorff Thesen zu Kult, Mythos und Geschichte, Elze zur Anfangshistorie altkirchlicher Christologie. Zudem verfasste sich der Kreis in selbstironischer Manier und in Form einer „Satzung heiligen Rechts“ als eigene Fakultät mit der Verfügung, der Dekan sei jeweils erst am Ende seiner Amtszeit zu

4 Für Hinweise zur Jugenheimer Tagung und für die Durchsicht des Manuskripts danke ich Frau Hilke Pannenberg.

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wählen; die Vermutung liegt nahe, dass diese Auflage der Einsicht geschuldet war, dass sich der Sinn einer bzw. der Geschichte erst von ihrem Finale her erschließt. Die nächste Sitzung fand im April 1958 in Heidelberg statt, erneut im Ökumenischen Heim. Neben der Offenbarungsfrage interessierte v. a. das Personverständnis; Pannenberg sprach zu „Epiphanie und Offenbarung (Das Unendliche als Person)“. Die ursprünglich vorgesehene Herbsttagung entfiel. Erst im März 1959 traf man sich im Heidelberger Petersstift wieder. Proklamiert wurde, dass die Entstehung des Kreises nunmehr vollendet und seine Arbeit, so der Wortlaut der Proklamation, „sich von jetzt an in der Semestertätigkeit seiner Glieder (vollzieht), die in den Referaten ihren Ausdruck findet“. Pannenberg hielt sich an diese Vorgabe: Sein Beitrag über „Heilsgeschehen und Geschichte“ gibt Ergebnisse seiner Wuppertaler Lehr- und Forschungstätigkeit wieder, was im nächsten Abschnitt dieses Beitrags inhaltlich entfaltet werden wird. Neben dem Pannenbergschen gab es im März 59 folgende Beiträge: Rendtorff erörterte das Königtum Gottes in Ugarit und in Israel sowie die Bedeutung von Überlieferungsgeschichte für die theologische Interpretation des Alten Testaments, Wilckens das religionsgeschichtliche Problem der Bekehrung des Paulus sowie das Verhältnis von Christus und Christen im paulinischen Zeugnis, Elze den Zusammenhang von Christus und Kirche bei Luther. „Kirche“ lautete übrigens das vorgesehene Gesamttagungsthema. Eine Nachmittagsdiskussion über Theorie und Praxis des Gottesdienstes stand unter dem Motto: „Predigt nicht ‚Wort Gottes‘.“ Die sonstigen Diskussionen konzentrierten sich auf die Verhältnisbestimmung von Altem und Neuem Testament. Zum Schluss der Frühjahrstagung 1959 erging folgende „Tora“, die auf der 21. Seite im Buch der Chronik – wie es sich gehört – auf Hebräisch festgehalten und hier in der deutschen Übersetzung meines Münchner alttestamentlichen Kollegen Christoph Levin wiedergegeben wird: Dies ist die Ordnung des Kreises: Zweimal im Jahr versammelt sich die ganze Gruppe, die ‚der Kreis‘ heißt. / Und wenn ein einziger verhindert ist, versammelt sie sich an jenem Tage nicht. / Keiner soll unvorbereitet kommen, / sondern die Aufgabe, die ihm auferlegt ist, / soll er mit seiner ganzen Kraft tun. / Und wenn er sie nicht tut, sei er verflucht. / Dies ist eine ewige Regel für den Kreis. / Es soll nichts hinzugefügt und nichts davon weggenommen werden.

Der eingangs erwähnten Dasseler Tagung vom Oktober 1960 gingen im selben Jahr bereits zwei Sitzungen voraus, eine Hofgeismarer im Januar und eine Berliner, die im Johannesstift stattfand, im April. Koch thematisierte in einem für die Konzeption von „Offenbarung als Geschichte“ sehr wichtigen Beitrag spätjüdisches Geschichtsdenken am Beispiel des Buches Daniel, Pannenberg neben der Personalität Gottes bei Hegel den geschichtlichen Begriff der Offenbarung. Außerdem referierten Rössler, Wilckens und Elze, letzterer zum Thema „Christus

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und die Christen bei Luther“. Wilckens bot eine Exegese von Mt 5,17–20 und kommentierte die Ergebnisse einer Tagung in der Evangelischen Akademie Tutzing vom Mai 1959 zur Frage nach dem historischen Jesus, die in Beiheft 1 der „Zeitschrift für Theologie und Kirche“ dokumentiert sind. Rössler hinwiederum kritisierte den Ansatz damals aktueller Seelsorgekonzeptionen. Bei der Tagung im Berliner Johannesstift war erstmals Rolf Rendtorffs Bruder Trutz vertreten und zwar mit einem Beitrag über die Gegenwart Gottes in Kirche und Welt.5 Die, wie es in der Chronik heißt, „Nostrifizierung“ des auf Wunsch Pannenbergs in den Kreis Geladenen erfolgte im Berliner Restaurant „Kopenhagen“ am Kurfürstendamm. Daneben wird von einem Besuch im Pergamonmuseum und von einem mitternächtlichen Kulttanz unterm grünen Baum berichtet; für die als „Kreisjugendfürsorge“ rubrizierte Dasseler Tagung führte man sich danach gut gerüstet. Über die weitere Entwicklung der Arbeitsgruppe nach 1960 sei nur noch stichpunktartig berichtet: Im Mai 1961 debattiert man in Schloss Rauischholzhausen, dem gegenwärtigen Tagungshotel der Universität Gießen, über die Auferstehung Jesu; ein gemeinsamer historischer Rekonstruktionsversuch des Ereignisses mit eingehender Methodendiskussion erfolgte. Im darauffolgenden Oktober konzentriert man sich auf die Anthropologie, erörtert aber zudem erneut christologische Fragen, insbesondere die Auferstehungsproblematik. Die Dezenniumsfeier des Kreises wurde, wie die Chronik vermeldet, mit liturgischekstatischen Übungen begangen; Näheres hierzu war nicht in Erfahrung zu bringen. Im März 1962 wurden dann in Wuppertal gemeinsame Pläne mit der Deutschen Forschungsgemeinschaft erörtert sowie Vorträge zur Theologie des Alten und Neuen Testaments, zur dogmatischen Gotteslehre und zum Tod des Moses gehalten; vom 22. bis 24. Oktober des Jahres fand auf Schloss Berlepsch im Werratal mit Unterstützung der DFG ein Symposion über das Verhältnis der vorderorientalischen Religionsgeschichte zur historischen Theologie statt, an dem u. a. der Assyriologe R. Borger, der Religionswissenschaftler C. Colpe, der Klassische Philologe H. Dörrie sowie Jacob Taubes teilnahmen, der 1947 eine Monographie zur „Abendländischen Eschatologie“ vorgelegt hatte. Pannenberg stellte „Elemente einer Theologie der Religionsgeschichte“ dar. 5 Trutz Rendtorff (1931–2016) studierte evangelische Theologie und Soziologie in Kiel, Bloomington, Göttingen, Basel und Münster, wo er 1956 zum Doktor der Theologie promoviert und 1961 habilitiert wurde. Von 1968 bis zu seiner Emeritierung 1999 war Rendtorff ordentlicher Professor für Systematische Theologie mit Schwerpunkt Ethik an der LudwigMaximilians-Universität München. Zu Rendtorffs Beitrag zur Programmschrift „Offenbarung als Geschichte“ sowie zu seinem Verhältnis zu Pannenbergs Neubegründung der Geschichtstheologie vgl. im Einzelnen M. Laube, Theologie und neuzeitliches Christentum. Studien zu Genese und Profil der Christentumstheorie Trutz Rendtorffs, Tübingen 2006, 134ff., bes. 157ff. Zu Rendtorffs späterem Programm einer Christentumsgeschichte vgl. 310ff.

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Ein auf das Jahr 1962 datiertes Gruppenfoto, für das sich die Mitglieder des Kreises auf einer Schlosstreppe postierten (auf der obersten Stufe Pannenberg und R. Rendtorff, eine darunter Wilckens, der gleichwohl den Kopf einziehen musste, um noch ins Bild zu gelangen, auf der untersten Tr. Rendtorff, Rössler und Koch Arm in Arm sowie Elze), ist mit der in Großbuchstaben geschriebenen und unterstrichenen Überschrift versehen: „finis circuli“. Zwar sind in der Chronik des Kreises bis zum Jahr 1969 noch eine Reihe weiterer Gemeinschaftstagungen verzeichnet; doch die konzeptionelle Grundlegungsarbeit, die man sich vorgenommen hatte, war geleistet. Im Frühjahr 1963 wird die 2. Auflage von „Offenbarung als Geschichte“ ausgeliefert; im darauffolgenden Monat bricht Pannenberg bis Juli in Begleitung seiner Frau zu seiner „1. Missionsreise“, wie es in der Chronik heißt, von Mainz in die USA auf. Im August 1963 erhält er einen Ruf nach Harvard, nachdem er bereits im April des Jahres nach Heidelberg berufen worden war; doch bleibt er einstweilen der Johannes Gutenberg-Universität treu.6 Bei den Gruppentagungen nach 1962, die in dem von der Universität Münster genutzten Landheim Rothenberger (Oktober 1963 und 1964) bzw. in der Evangelischen Akademie Hofgeismar (Juni 1965, Oktober 1965, April 1966, Oktober 1967, Juni 1968, Februar 1969, Oktober 1969) stattfanden, ist Pannenberg nicht mehr durchgängig präsent und im Falle seiner Anwesenheit mit folgenden Themen vertreten: Theologie der Kirche und ihrer Geschichte; Über historische und theologische Hermeneutik (Prolepse); Enzyklopädie sowie Glaube und Vernunft; Erscheinung als Ankunft des Zukünftigen; Theologie der Natur; Der Grund des Glaubens; Aufriss einer Theologie der Vernunft. Mit Ende der 60er Jahre des 20. Jahrhunderts wurde das Ende des Kreises definitiv. Sein innerer Zusammenhalt hatte sich ohnehin schon seit einigen Jahren gelockert. Die Mitglieder gingen von nun an eigene Wege, die sie zum Teil von dem Programm „Offenbarung als Geschichte“ entfernten. Pannenberg hat es mit der ihm eigenen Konsequenz weiterverfolgt und zum System seiner Theologie ausgebaut.

2.

Geschichte als umfassendster Horizont christlicher Theologie

Literarisch hat Pannenberg in Deutschland und über Deutschland hinaus bereits in vergleichsweise jungen Jahren einen hohen Bekanntheitsgrad erlangt und zwar vornehmlich durch zwei Schriften: „durch seinen Aufsatz Heilsgeschehen und Geschichte, erschienen 1959, vor allem aber durch die Veröffentlichung des 6 Der Ruf nach Heidelberg war auf einen Lehrstuhl für Religionsphilosophie erfolgt. Pannenberg machte die Rufannahme davon abhängig, das ganze Gebiet der Systematischen Theologie und besonders der Dogmatik behandeln zu können.

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Sammelbandes Offenbarung als Geschichte, 1961.“7 Der Studie „Heilsgeschehen und Geschichte“ liegt ein Vortrag zugrunde, der am 5. Januar 1959 bei einer Zusammenkunft der Dozentenkollegen der Kirchlichen Hochschulen Bethel und Wuppertal in Wuppertal gehalten wurde. Vor allem die Ausführungen im ersten Teil über die Erschlossenheit der Wirklichkeit als Geschichte durch die biblische Gottesoffenbarung berühren sich nach seinem eigenen Bekunden eng mit der Thematik, mit der man sich im „Kreis“ seit sieben Jahren beschäftigt hatte. Erschienen ist der Wuppertaler Text zuerst im 5. Jahrgang der Zeitschrift „Kerygma und Dogma“; später wurde er in den 1. Band der gesammelten Aufsätze Pannenbergs zu „Grundfragen systematischer Theologie“ aufgenommen.8 Bereits die ersten Sätze formulieren das zu entwickelnde Programm: Geschichte ist der umfassendste Horizont christlicher Theologie. Alle theologischen Fragen und Antworten haben ihren Sinn nur innerhalb des Rahmens der Geschichte, die Gott mit der Menschheit und durch sie mit seiner ganzen Schöpfung hat, auf eine Zukunft hin, die vor der Welt noch verborgen, an Jesus Christus jedoch schon offenbar ist. (22)

Nach zwei Seiten, fährt Pannenberg fort, müsse die offenbarungsgeschichtliche Voraussetzung christlicher Theologie heute innerhalb dieser selbst verteidigt werden: einerseits gegenüber einer Existenztheologie, die Geschichte auf Geschichtlichkeit reduziere und dadurch in ihrer transsubjektiven Bedeutung entwerte bzw. auflöse, andererseits gegen eine supranaturalistisch-suprarationalistische Theologie, welche die Offenbarungsgeschichte jenseits der Historie und in einer Übergeschichte ansetze. Als Repräsentanten der ersten Position werden Rudolf Bultmann und Friedrich Gogarten, als Vertreter der zweiten Martin Kähler, Johann Christian Konrad von Hofmann sowie Karl Barth genannt, der die Offenbarungsgeschichte zur Urgeschichte und damit zu einer Art von Mythos erklärt habe, welcher der Historie entzogen sei. Beiden Positionen ist nach Pannenberg die Abwehrhaltung gegenüber der historisch-kritischen Forschung gemeinsam, weil diese als wissenschaftliche Analyse geschichtlichen Geschehens angeblich für Offenbarungsereignisse, ja für die Realität göttlichen Wirkens prinzipiell keinen Platz und keine Möglichkeit vorsehe. 7 I. Berten, Geschichte. Offenbarung. Glaube. Eine Einführung in die Theologie Wolfhart Pannenbergs, München 1970, 11. Das mit einem Vorwort von E. Schillebeeckxs versehene Buch eines Dominikanerpaters, das im Original auf Französisch erschienen ist, stellt das Programm der Pannenbergschen Geschichts- und Offenbarungstheologie in einem ersten Kapitel in Grundzügen dar (vgl. 19–68), um in einem zweiten Kapitel eigene Reflexionen zum Thema anzustellen (vgl. 69–128). Auf kritische Anfragen Bertens hat Pannenberg in einem Nachwort reagiert (vgl. 129–141). 8 W. Pannenberg, Heilsgeschehen und Geschichte, in: ders., Grundfragen systematischer Theologie. Gesammelte Aufsätze, Göttingen (1967) 21971, 22–78. Die nachfolgenden Seitenverweise im Text beziehen sich hierauf; zur Genese der Studie vgl. 22 Anm. 1.

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Pannenberg will anders als die damals aktuelle Existenztheologie, welche Geschichte in Geschichtlichkeit transformiere, und anders als eine heilsgeschichtliche Theologie, welche das Offenbarungsgeschehen einer Übergeschichte anheimstelle, dezidiert an der „Geschichtshaftigkeit des Heilsgeschehens“ (ebd.) festhalten. Dazu sieht er sich durch die biblischen Befunde alternativlos verpflichtet. Die hebräische Bibel bezeuge eindeutig, dass Israel „nicht in Abschattungen eines mythischen Urgeschehens“ (24) und auch nicht, wie man hinzufügen darf, in übergeschichtlichen bzw. in Ereignissen lediglich intrasubjektiver Art, „sondern immer entschiedener gerade im geschichtlichen Wandel selbst die Wirklichkeit seines Gottes“ (ebd.) erfahren habe dergestalt, dass die Erschlossenheit der Wirklichkeit als Geschichte selbst als eine Folgewirkung sich ereignender Gottesoffenbarung zu gelten habe. Habe die Erkenntnis, dass Israel innerhalb der Religionsgeschichte durch sein geschichtliches Bewusstsein einen singulären Ort einnehme, als „Gemeingut der heutigen Forschung“ (23) zu gelten, so trete nicht minder deutlich zutage, dass sowohl im Judentum als auch im Neuen Testament die „von Israel entdeckte Wirklichkeit der Geschichte … in ihrer spezifischen Struktur … festgehalten worden“ (28) sei. Altem und Neuem Testament sei das Bekenntnis „zu der einen, beide verbindenden Gottesgeschichte“ (30) gemein, was nicht nur für den christlich-jüdischen Dialog, sondern für die Gesamtanlage christlicher Theologie von grundlegender Bedeutung sei gemäß der eingangs ausgegebenen Devise, wonach Geschichte als ihr umfassendster Horizont zu gelten habe. Weil das Wirklichkeitsverständnis der Bibel seinem Wesen nach geschichtlich geprägt ist, erscheint die christliche Geschichtstheologie als „legitime Erbin“ (35) der biblischen und das umso mehr, als die Eschatologisierung der alttestamentlichen Überlieferungsbestände im Zuge der Apokalyptik nicht nur in der Konsequenz der Geschichte Israels liege, sondern zugleich den konstitutiven Bestimmungsgrund des Christusereignisses und seiner Wahrnehmung darstelle. Die Offenbarung Jesu Christi hat in der Geschichte und als Geschichte in der Weise statt, dass sie auf deren Ende und Sinnganzheit vorausgreift, um sie proleptisch und antizipativ zu erschließen. Damit vollziehe sie, was in jedem geschichtlichen Vorgang seinserschließender Existenzerhellung statthabe. Doch wäre es nach Pannenberg ein theologischer Kategorienfehler, existentielle Geschichtlichkeit zur Basis des Verständnisses von Geschichte zu erheben, weil diese „umgekehrt … in der Erfahrung der Wirklichkeit als Geschichte, wie sie in der Verheißungsgeschichte Gottes mit Israel auf die in Jesus Christus vorweggenommene Erfüllung hin erschlossen ist, gründet“ (38). Anders zu urteilen, liefe zwangsläufig darauf hinaus, das Begründungsverhältnis zwischen Gott und Mensch, Schöpfer und Geschöpf zu verkehren. Pannenberg bestätigt diese Annahme ausdrücklich, wenn er sagt:

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Die Emanzipation der Geschichtlichkeit von der Geschichte, die Umkehrung des zwischen beiden waltenden Verhältnisses zu einer Begründung der Geschichte aus der Geschichtlichkeit des Menschen erscheint als die letzte Spitze des Weges, der damit begann, dass man in der Neuzeit an Stelle Gottes den Menschen zum Träger der Geschichte machte. (39)

Nicht der Mensch, sondern Gott ist der Träger der Geschichte. Ohne ihn können weder ihre Einheit noch ihr Sinn angemessen erfasst werden. Mit der Erfahrung von Geschichte in ihrer göttlichen Trägerschaft müsste zwangsläufig auch diejenige existentielle Geschichtlichkeit versinken. So entschieden sich Pannenberg unter Berufung auf das Zeugnis der Schrift gegen eine anthropozentrische Auflösung der Geschichtstheologie ausspricht, so wenig will er die biblische Geschichte als Geschichte göttlicher Selbsterschließung in supranaturalistischsuprarationalistischer Manier als Übergeschichte verstanden wissen, welche sich historischer Betrachtung entzieht. Die für die Neuzeit und die Moderne historische Methodik kennzeichnende Zentralität der Anthropologie soll nicht abstrakt negiert, sondern aufgegriffen und in konstruktiver Kritik vor einer Fehlbestimmung bewahrt werden, die kontraproduktive Konsequenzen aus der Zentralstellung des Menschen in der Welt und ihrer Geschichte nach sich zieht. Unter neuzeitlichen Bedingungen kann Pannenberg zufolge der Gehalt der biblischen Geschichte bzw. des Offenbarungsgeschehens, welches die Bibel bezeugt, nicht anders als historisch-kritisch behauptet und bewährt werden. Dies schließt indes die Möglichkeit einer Auseinandersetzung mit den impliziten, oft in stillschweigender Selbstverständlichkeit vorausgesetzten Prämissen historisch-kritischer Forschung nicht aus, sondern ein. Dazu gehöre die Feststellung, „daß die Prinzipien historischer Forschung nicht wesentlich und unvermeidlich einem weltanschaulichen Anthropozentrismus verhaftet sein müssen, daß vielmehr derartige weltanschauliche Tendenzen den Fortgang historischer Forschung hemmen“ (46). Als fortschrittshemmende Folge eines ideologisch gefassten Anthropozentrismus stuft Pannenberg beispielsweise die methodische Forderung ein, alles historische Geschehen müsse sich in die menschliche Lebens- und Erfahrungswelt in der Form einordnen lassen, dass eine Vergleichbarkeit mit bisher Bekanntem grundsätzlich gewährleistet sei. Nach Pannenbergs Urteil ist das Postulat einer prinzipiellen Analogie allen historischen Geschehens auf das weltanschauliche Vorurteil eines ideologischen Anthropozentrismus gegründet und in der Sache unhaltbar. Da nämlich jeder Analogie ein univoker Logos und jedem Vergleich ein sinnidentisches tertium comparationis zugrunde liege, laufe eine auf das Analogieprinzip und das Prinzip grundsätzlicher Vergleichbarkeit festgelegte historisch-kritische Methode notwendigerweise auf den Ausschluss alles Neuen, das noch nie dagewesen ist, alles Kontingenten und Einmaligen von singulärer Individualität aus der Geschichte hinaus, was nachgerade unter den Gesichtspunkten historisch-kriti-

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scher Methodik entwicklungshemmend wäre. Konstruktiv geübt werde historische Kritik nur dann, wenn sie selbstkritisch und unideologisch vollzogen und nicht auf Prinzipien fixiert werde, die ihr äußerlich und dem geschichtlichen Wesen von Geschichte gegenläufig seien, zu der konstitutiv Offenheit gehöre. Zwar spreche nichts gegen den Aufweis konkreter geschichtlicher Analogien von Fall zu Fall; „eine prinzipielle Gleichartigkeit alles Wirklichen vom jeweils nächstliegenden Umkreis der Erfahrung und Forschung aus“ (50) zu postulieren, sei hingegen methodisch und sachlich abwegig. Wo die „Allmacht der Analogie“ (E. Troeltsch) herrsche, werde das geschichtlich Einmalige unterdrückt und das Typische obsiege über das Individuelle und Singuläre. Auf die theologische Relevanz dieser Problematik weist Pannenberg anmerkungsweise hin, wenn er fragt: „Pflegt nicht das Postulat der prinzipiellen Gleichartigkeit alles Geschehens z. B. das Hauptargument gegen die Historizität der Auferstehung Jesu zu bilden?“ (53, Anm. 22) Unter der Voraussetzung möglicher und tatsächlicher Kritik eines „weltanschaulich anthropozentrischen Geschichtsbild(s)“ (54) ist der Gebrauch der historisch-kritischen Methode nach Pannenberg für die Theologie unverzichtbar, wenn es darum geht, unter den Bedingungen der Neuzeit den Gehalt der biblisch bezeugten Offenbarungsgeschichte Gottes zu erheben. Denn mit einem „zweiten Weg zuverlässiger Erkenntnis des Vergangenen neben der historischkritischen Forschung“ (57) ist nicht zu rechnen. Insofern der christliche Glaube „von einem realen vergangenen Geschehen“ (ebd.) lebe, könne sein Gegenstand von historisch-kritischen Forschungsergebnissen „nicht unberührt bleiben“ (ebd.). Sich mit ihnen auseinanderzusetzen, sei alternativlos: Mit der Geschichtsbezogenheit des christlichen Glaubens ist es nun einmal unvermeidlich gegeben, daß der Glaubende sich gegenüber kritischem historischem Fragen nicht auf ein ‚sturmfreies Gebiet‘ retten kann – bei Strafe des Verlustes seines geschichtlichen Grundes. (59)

Pannenberg ist zuversichtlich, dass sich der geschichtliche Grund des Glaubens durch vorurteilslose Forschung tatsächlich historisch verifizieren lasse, wenngleich unter dem für jede Wissenschaft, ja jeden Behauptungssatz gültigen Vorbehalt des Hypothetischen. Im Übrigen rät er dem Glauben zum Vertrauen auf die Selbstbewährungsfähigkeit seines Grundes, das für ihn grundsätzlich obligat sei. Mit seiner Wirklichkeit werde der Grund des Glaubens zugleich seine Bedeutung für diesen und für alle Menschheit und Welt erweisen. Nicht so, als ob jene Realität erst nachträglich gedeutet werden müsste, um als relevant erfahrbar zu werden. Die Wirklichkeit des Glaubensgrundes trägt ihre Bedeutung realiter in sich. Ihre Realität deutet sich selbst und kann in ihrer Bedeutung nur in der Gewissheit realen Selbstdeutevermögens erfasst und vermittelt werden. Pannenberg führt diese Annahme auf das reformatorische Schriftprinzip zurück,

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demzufolge der Kanon seine Kanonizität selbst bezeuge und die Schrift ihre eigene Interpretin und Kritikerin sei. Zwar könne man von den Lesern der Schrift und den Hörern des Worts keineswegs abstrahieren; aber ihr Hören und Lesen geschehe doch nur dann recht, wenn es im Vertrauen auf die Selbstbezeugungskraft des Gelesenen und Gehörten vollzogen werde. Glauben an Jesus Christus und gläubige Zeugenschaft gibt es nur in der durch das Osterereignis begründeten pfingstlichen Gewissheit, dass der auferstandene Gekreuzigte sich in der Kraft des göttlichen Geistes selbst zu bezeugen vermag. Der Glaube wird daher nicht beanspruchen, den Sinn seines Grundes in diesen allererst hineinzudeuten, sondern ihn im Gegenteil als eine Gegebenheit voraussetzen, die für ihn gegeben ist. Unter diesem Aspekt lässt sich unschwer erkennen, warum Pannenberg auf der Historizität der Auferweckung bzw. Auferstehung des gekreuzigten Jesus von Nazareth insistiert. Er tut dies, weil die Leugnung dieses Sachverhalts nach seinem Urteil die Konsequenz nach sich ziehen müsste, die Gegebenheit des österlichen Urdatums des Christentums in Abrede zu stellen und damit den Grund des Glaubens prinzipiell dem Fiktionsverdacht auszusetzen. Solle dies vermieden werden, führe an dem Anspruch historischer Verifikation des Osterereignisses kein Weg vorbei, wobei ein Zweifaches kritisch in Anschlag zu bringen habe: 1. Unvergleichliche Singularität schließt historische Realität nicht prinzipiell aus und umgekehrt. 2. Das Ostergeschehen darf unbeschadet seiner Einzigartigkeit vom traditionsgeschichtlichen Zusammenhang der Offenbarungsgeschichte nicht isoliert werden, weil es sich nicht ohne, sondern im universalgeschichtlichen Horizont göttlichen Handelns an Menschheit und Welt vollzieht. „Von der Universalität des biblischen Gottes geht“, so schließt Pannenberg seine Studie zu „Heilsgeschehen und Geschichte“, „ein Antrieb zu unbeschränkter Ausdehnung historischer Forschung aus. In ihr muß der christliche Glaube seine geistige Bewährung suchen, ebenso notwendig, wie die alte Kirche die griechische Philosophie für ihr Zeugnis von der universalen Gottheit des Vaters Jesu Christi in Anspruch genommen hat.“ (78)9

3.

Die Programmschrift „Offenbarung als Geschichte“

Gegen Ende seines auf einen Wuppertaler Vortrag zurückgehenden Aufsatzes über „Heilsgeschehen und Geschichte“ hat Pannenberg eigens auf die vielen Anregungen verwiesen, die er einem im SS 1959 an der dortigen Hochschule 9 Vgl. dazu den im selben Jahr wie „Heilsgeschehen und Geschichte“ in ZKG 70 (1959), 1–45 erschienenen Aufsatz über „Die Aufnahme des philosophischen Gottesbegriffs als dogmatisches Problem der frühchristlichen Theologie“; wiederabgedruckt in: ders., Grundfragen systematischer Theologie, 296–346.

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gemeinsam mit Hans Walter Wolff gehaltenen Seminar über „Heilsgeschichte und Geschichtsphilosophie“ verdanke. Wolff, 1911 in Bremen geboren und Anfang der 50er Jahre auf den Lehrstuhl für Altes Testament an der Kirchlichen Hochschule Wuppertal berufen, hatte u. a. auf die theologische Bedeutung aufmerksam gemacht, „die im israelitischen Geschichtsverständnis durch den Übergang von der Sage zur Geschichtsschreibung im engeren Sinne erfolgt ist“ (77f. Anm. 70). Nun trete Gott „nicht mehr in Konkurrenz mit menschlichem Wirken“ (78 Anm. 70), sondern realisiere seinen Willen mittels dessen und „ohne selbst unmittelbar einzugreifen“ (ebd.). Mit dieser Einsicht ist die These vorweggenommen, mit welcher Pannenberg seinen Beitrag in der 1961 publizierten Programmschrift „Offenbarung als Geschichte“ einleitet: „Die Selbstoffenbarung Gottes hat sich nach den biblischen Zeugnissen nicht direkt, etwa in der Weise einer Theophanie, sondern indirekt, durch Gottes Geschichtstaten, vollzogen.“10 Auf die These einer indirekten Selbstoffenbarung Gottes durch die Geschichte zielte bereits die Einführung ab, die Pannenberg dem von ihm herausgegebenen Sammelband vorangestellt und in der er das Gesamtthema von „Offenbarung als Geschichte“ umrissen hat. Ausgegangen wird von der, wie es heißt, „bemerkenswerte(n) Übereinstimmung“11, die über alle Unterschiede hinweg zwischen den meisten theologischen Lagern bestehe, dass nämlich „Offenbarung wesentlich Selbstoffenbarung Gottes“ (8) sei. Aus dem strengen Begriff von Offenbarung als Selbsterschließung Gottes, der im Deutschen Idealismus und insbesondere in Hegels Philosophie des Absoluten seinen Ursprung habe, ergebe sich im Verein mit der Einzigkeit der Offenbarung die Aufnahme des von Gott unterschiedenen Offenbarungsmediums in die göttliche Einheit selbst, was in der Trinitätslehre seine folgerichtige Entfaltung gefunden habe. Die Lehre von der göttlichen Dreieinigkeit erschließe die theologische Denkmöglichkeit des Begriffs der Offenbarung, der streng genommen nicht lediglich Manifestation im Sinne einer wesensunterschiedenen Erscheinung, sondern wesentlich Selbsterschließung bedeute. Denkbar ist Selbstoffenbarung nur, „wenn das besondere Medium, durch das Gott manifest wird, die besondere Tat, durch die er sich erweist, von seinem eigenen Wesen nicht zu scheiden ist“ (10). Dies „allen zeitgenössischen Theologen voran“ (11) erkannt und mit Entschiedenheit zur Geltung gebracht zu haben, wird Karl Barth als hohes und bleibendes Verdienst angerechnet. Offenbarung ist aus Gründen theologischer Logizität als Selbstoffenbarung, Selbstoffenbarung als Wesenserschließung Gottes zu denken. Doch bleibt zu 10 Ders., Dogmatische Thesen zur Lehre von der Offenbarung, in: ders. (Hg.), Offenbarung als Geschichte, Göttingen (1961) 31965, 91–114, hier: 91; bei P. gesperrt. 11 Ders., Einführung, in: ders. (Hg.), a. a. O., 7–20, hier: 7. Die nachfolgenden Seitenverweise im Text beziehen sich hierauf.

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fragen, ob der Begriff einer wesenserschließenden Selbstoffenbarung Gottes biblisch gerechtfertigt werden kann. Tatsache ist, dass weder die Schriften des Alten noch diejenigen des Neuen Testaments eine vergleichbare terminologische Prägung kennen. Dies muss nicht ausschließen, dass in der Bibel der Sache nach von Selbstoffenbarung die Rede ist und zwar im direkten Sinne. Als ein Vorgang direkter Selbstoffenbarung könnte beispielsweise die Kundgabe seines Namens, das sog. Wort Gottes oder die Proklamation des Gesetzes am Sinai infrage kommen, durch die Gott seinen Willen als Wesensausdruck unmittelbar zu erkennen gibt. Nach Pannenbergs Urteil erweist sich bei genauerem Zusehen keine der angegebenen Fälle als geeignet, den Begriff der Selbstoffenbarung sachlich zu begründen. Es sei vielmehr festzustellen, daß die theologische Behauptung einer direkten Selbstoffenbarung Gottes weder aus den biblischen Äquivalenten für ‚offenbaren‘ noch aus den drei hier besprochenen Vorstellungskreisen, denen eine derartige Bedeutung zugeschrieben worden ist, gerechtfertigt werden kann. (15).

Pannenberg geht noch weiter und fügt hinzu: Selbst wenn andere Vorstellungen, wie die der Herrlichkeit Jahwes, ursprünglich den Gedanken direkter Selbsterschließung implizieren, sind sie doch in den alttestamentlichen Überlieferungen durch die für Israel entscheidende Anschauung absorbiert worden, daß die grundlegenden Erweise der Gottheit Jahwes in seinen Geschichtstaten vorliegen. (Ebd.)

Der negative Befund, wonach von einer direkten und unmittelbaren Selbstoffenbarung Gottes biblisch nicht die Rede ist, erweist sich als durch den positiven bedingt, demzufolge Gott sich auf indirekte und vermittelte Weise, nämlich durch seine Geschichtstaten erschließt. Die Gesamtheit seines Redens und Tuns, die von Jahwe gewirkte Geschichte, zeigt indirekt, wer er ist. Erst angesichts der Bedeutung dieser indirekten Selbsterschließung Gottes für das Ganze der israelitischen, apokalyptischen und urchristlichen Traditionsgeschichte erhalten die negativen Feststellungen über das Fehlen oder Zurücktreten der Vorstellung einer direkten Selbstoffenbarung ihr volles sachliches Gewicht. (15f.)

Nachdem er die begriffliche Unterscheidung zwischen direkter und indirekter Offenbarung am Verhältnis von direkter und indirekter Mitteilung exemplifiziert und erläutert hat, versichert sich Pannenberg abschließend im Negativen und im Positiven des bisher erlangten Resultats: Die Mitteilung des Gottesnamens wäre direkte Offenbarung, wenn darin unmittelbar das Wesen Gottes selbst eröffnet würde. Das Gesetz wäre direkte Offenbarung, wenn es unmittelbar identisch wäre mit Gottes Willen, der seinerseits das Wesen Gottes ist. Das Wort Gottes wäre direkte Offenbarung, wenn sein Inhalt unmittelbar Gott selbst wäre, etwa im Sinne einer Selbstvorstellung der Gottheit. (17)

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Mitteilung des Gottesnamens, des Gesetzes und dessen, was Wort Gottes heißt, könnten als direkte und unmittelbare göttliche Selbstoffenbarung und Wesenserschließung begriffen werden, wären sie nicht in der alttestamentlichen Überlieferung in die für Israel entscheidende Annahme aufgehoben, dass der Erweis der Gottheit Gottes in seinen Geschichtstaten grundgelegt sei, als dessen Momente sich Namenskundgebung, Gesetzesmitteilung und alles erweise, was Gott im Einzelnen kundgebe und mitteile. In der Einsicht Israels, dass Gott sich wesentlich in seinem Geschichtshandeln in seiner Gottheit erweise, sei die Erkenntnis der Indirektheit seiner Selbsterschließung fundiert. Gott, so Pannenberg, offenbart sich nicht in vermittlungsloser Unmittelbarkeit, sondern auf vermittelte und indirekte Weise, nämlich mittels des geschichtlichen Geschehens. Dabei ist es nicht das isolierte Einzelereignis, das als Medium göttlicher Selbstoffenbarung in Betracht kommt, sondern der Geschehensverlauf als Ganzer, dessen Moment das einzelne Geschichtsereignis ist. Im als geschichtliche Tat Gottes begriffenen Einzelereignis spiegelt sich seine Gottheit lediglich momentan und partiell wieder, sodass es des Reflexes auf das Ganze des Gotteshandelns in der Geschichte bedarf, damit sich die Teile zu einer Einheit und die Momente zu einer Sinntotalität fügen. Dieser Reflex ist stets nur im Vorgriff auf eine noch ausstehende Zukunft zu vollziehen, was die Möglichkeit der Korrektur und Fortbildung bisheriger Einsichten in Gottes geschichtliches Handeln einschließt. Das Wissen darum gehört wesentlich zur Theorie einer indirekten Selbstoffenbarung Gottes hinzu. Als göttliche Wesenserschließung ist gemäß der Theorie indirekter Selbstmitteilung Gottes nicht das geschichtliche Einzelereignis, sondern das Ganze der Gesamtgeschichte, das Ganze alles Geschehens, das Ganze des Gotteshandelns zu verstehen. Dabei tun sich zwei Wege auf: Wird das Ganze der Wirklichkeit in seinen unveränderlichen Verhältnissen (als Kosmos) als indirekte Mitteilung des wahren Gottes verstanden, dann sind wir auf dem Wege der griechischen philosophischen Gottesfrage, der ‚natürlichen Theologie‘. Wird das Ganze der Wirklichkeit in ihrem zeitlichen Wandel als Geschichte und so als Selbstmitteilung Gottes gedacht, dann befinden wir uns auf dem Wege, den das Denken des Deutschen Idealismus seit Lessing und Herder eingeschlagen hat. (17f.)

Gegen diesen Weg haben sich „nicht nur philosophisch, sondern auch theologisch schwerwiegende Bedenken erhoben“ (18), die aber nach Pannenbergs Urteil grundsätzlich zu bewältigen seien. Erläutert wird dies an zwei besonders wichtigen Punkten: Der eine betrifft die exemplarisch von David Friedrich Strauß gegen Schleiermacher und Hegel geltend gemachte These, wonach es nicht die Art der Idee sei, in ein Individuum ihre ganze Fülle auszuschütten. Erschließt sich Gottes Gottheit im Ganzen der geschichtlichen Wirklichkeit, dann kann, so scheint es, kein Einzelereignis in ihr wie das Geschick Jesu Christi

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von absoluter Bedeutung und daher nicht Selbstoffenbarung des Absoluten sein. Pannenberg wird diesem Einwand mit einer Theorie proleptischer Antizipation des Geschichtsganzen im österlichen Ereignis der Auferweckung des Gekreuzigten begegnen, um auf dieser Basis zugleich das zweite Bedenken gegen die grundsätzliche Gangbarkeit des Weges zurückzuweisen, die Selbstmitteilung Gottes geschichtlich zu denken. Soll die Geschichte als Ganze Offenbarung sein, „dann scheint es über Jesus Christus hinaus weitere Fortschritte des Offenbarwerdens Gottes geben zu müssen“ (19). Ja, wird Pannenberg sagen, die Geschichte schreitet post Christum weiter, was aber dann keine Falsifikation von dessen absoluter Relevanz im Sinne göttlicher Selbstoffenbarung bedeutet, wenn sich das noch ausstehende Ende der Geschichte als die Zukunft des Gekommenen erweist, in dessen Erscheinen der Sinn des Ganzen vorgreifend erschlossen ist. In Grundzügen durchgeführt hat Pannenberg diese Argumentation in einer Abfolge von sieben dogmatischen Thesen zur Lehre von der Offenbarung, deren erste den Skopus seiner Einführung zusammenfasst, um die dort skizzierte Konzeption der indirekten Selbstoffenbarung Gottes im Detail zu entfalten. Die Untersuchungen, die in Beiheft 1 der Zeitschrift „Kerygma und Dogma“ erstmals der Öffentlichkeit vorgelegt wurden, sind, wie Pannenberg in einem Vorwort zur Dokumentation vermerkt, „aus der Wechselwirkung von systematischer und historischer Arbeit“12 hervorgegangen und „auf einer theologischen Arbeitstagung im Oktober 1960“13 vorgetragen worden. Es handelt sich dabei neben seinem eigenen Thema um einen Beitrag Rolf Rendtorffs zu den Offenbarungsvorstellungen im Alten Israel und einer Studie von Ulrich Wilckens zum Offenbarungsverständnis in der Geschichte des Urchristentums. Beigegeben ist ein Text von Trutz Rendtorff zum Offenbarungsproblem im Kirchenbegriff. „Das alttestamentliche Referat“, so Pannenberg im Vorwort, unternimmt eine begriffsgeschichtliche Untersuchung, die noch auf das Ganze der israelitischen Überlieferungsgeschichte bezogen werden müßte. Das neutestamentliche Referat gibt eines Skizze der urchristlichen Überlieferungsgeschichte, ohne schon begriffsgeschichtliche Einzeluntersuchungen, insbesondere zur Offenbarungsterminologie, einzubeziehen.14

Trotz dieser Schranken lieferten beide Untersuchungen Beweise genug für die Richtigkeit der These, dass die Selbstoffenbarung Gottes sich nach biblischem Zeugnis nicht direkt und unmittelbar, sondern indirekt, nämlich mittels der Geschichtstaten Gottes erwiesen habe. Mit der dogmatischen These einer Indirektheit göttlicher Selbstoffenbarung, wie sie sich aus der „vom Alten Testament über die Apokalyptik zur Verkündigung 12 Ders., Vorwort, in: ders. (Hg.), a. a. O., 3. 13 Ebd. 14 Ebd.

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Jesu, der ersten Gemeinde und Paulus“15 verlaufenden Traditionskette ergebe, ist nach Pannenberg eine weitere „auf das engste“ (95) verbunden, nämlich dass die Offenbarung „nicht am Anfang, sondern am Ende der offenbarenden Geschichte“ (ebd.; bei P. gesperrt) stattfindet. „Sie folgt unmittelbar aus der Indirektheit des göttlichen Selbsterweises und ist umgekehrt ohne diese Voraussetzung nicht zu verstehen.“ (Ebd.) Die Gründe hierfür sind im Wesentlichen bereits benannt worden. Pannenberg ergänzt sie durch exegetische Beobachtungen und durch den wiederholten Hinweis, dass die der Universalität und Einzigkeit des Gottes Israels entsprechende Ausweitung der Gottes Gottheit erweisenden Geschichte auf die Menschheits- und Weltgeschichte zur Konsequenz haben musste, da nur die Gesamtheit allen Geschehens Jahwes Wesen in der Weise seiner Selbstoffenbarung erschließen konnte. Demgemäß sei man offenbarungstheologisch nicht an den Anfang, sondern an das Ende der Geschichte als künftiger Manifestation ihrer Ganzheit verwiesen. Treffe dies zu, dann ergibt sich Pannenberg zufolge die weitere Konsequenz, „daß der biblische Gott in gewissem Sinne selbst eine Geschichte hat, da das Offenbarungsgeschehen nicht als seinem Wesen äußerlich gedacht werden kann – sonst wäre es nicht Offenbarung seines Wesens“ (97). Obwohl von Ewigkeit zu Ewigkeit derselbe und eins in sich habe Gott gemäß seiner Erscheinung in der Zeit eine Geschichte, wofür die Trinitätslehre insofern ein Ausdruck sei, als sie hypostatische Differenzen als zur göttlichen Wesensidentität unveräußerlich zugehörig erkläre. Die göttliche Ökonomie sei Gottes dreieiniger Gottheit nicht äußerlich, sondern in ihrer Externität gottintern begründet. Pannenberg führt dies im Zusammenhang seiner zweiten dogmatischen These zur Lehre von der Offenbarung noch nicht eigens aus, deutet aber die trinitarischen Prämissen seiner Argumentation zumindest implizit an, wobei der Gedanke der Vorwegereignung des Endes der Geschichte im Geschick Jesu als Basis fungiert, ökonomische und immanente Trinität als differenzierte Einheit zu erfassen. Gott offenbart sich in der Geschichte. Weil das so ist und die göttliche Selbsterschließung nicht über der Geschichte und auf transhistorische Weise, sondern in ihr und durch sie statthat, ist sie historisch und damit auf „natürliche“, der Wesensnatur des Menschen entsprechende Weise zu erfassen. Dies besagt die dritte These, wenn es heißt: „Im Unterschied zu besonderen Erscheinungen der Gottheit ist die Geschichtsoffenbarung jedem, der Augen hat zu sehen, offen. Sie hat universalen Charakter.“ (98; bei P. gesperrt) Das Verständnis der Offenbarung steht in keinem Gegensatz zu natürlichem Erkennen, sondern erschließt sich mittels einer Erkenntnis, welche der Wesens- und Wissensbestimmung des Menschen gemäß ist. Die Offenbarungsgewissheit sprengt das Bewusstsein des Menschen von Selbst und Welt nicht, sondern bringt es zur Erfüllung. 15 Ders., Dogmatische Thesen zur Lehre von der Offenbarung, in: ders. (Hg.), a. a. O., 91–114, hier: 95. Die nachfolgenden Seitenverweise im Text beziehen sich hierauf.

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Pannenberg verhehlt sich nicht, dass Menschen faktisch von der gewissen Offenbarung nichts wissen und „die offen zutage liegende Wahrheit nicht sehen wollen“ (99). Es macht für diesen Sachverhalt im Wesentlichen hamartiologische Gründe geltend, weigert sich aber, daraus zu folgern, dass die Wirklichkeit und der Sinngehalt der Offenbarung nur supranatural bzw. suprarational erkennbar sei. „Daß die Wahrheit so vor aller Augen liegt, daß ihre Wahrnehmung die natürliche, von der Sache her einzig mögliche Folge sein müßte, davon wird nichts zurückgenommen.“ (Ebd.) Denn: „Die Theologie hat gar keinen Anlaß, dem Standpunkt der Verblendung das Prädikat und die Würde der allgemeinen vernünftigen Wahrheit zuzubilligen.“ (100) Dieses Prädikat sei im Gegenteil der Wahrheit der Offenbarung Gottes vorbehalten, deren Erkennbarkeit und Universalität daher theologisch vorbehaltlos zu behaupten sei. Nicht, als ob sich in der Gottesoffenbarung nur erschließen würde, was der Mensch ohnehin schon und von sich aus weiß. Die Selbstoffenbarung Gottes erbringt für den Menschen Aufschlüsse, die er aus sich selbst heraus nicht nur nicht hat, sondern die zu haben er sich durch sich und seine Selbstverkehrtheit gründlich verstellte. Insofern verfügt er über die Möglichkeit, sich Gottes Gottheit zu erschließen, faktisch nicht. Möglichkeit und Tatsächlichkeit der Gotteserkenntnis muss ihm unter den gegebenen Umständen von Selbst und Welt durch Offenbarung Gottes erschlossen werden. Die Selbsterschließung Gottes in seiner Offenbarung ist insofern die Bedingung aller menschlichen Gotteserkenntnis. Indes ist sie dies dergestalt, dass dadurch die Selbst- und Welterkenntnis des Menschen nicht außer Kraft gesetzt, sondern ihrer innersten und ureigensten Bestimmung gemäß erfüllt wird. Die Selbstoffenbarung Gottes trifft den Menschen nicht wie ein Keil den Klotz, auch nicht in Form eines blinden Gehorsam fordernden Befehls oder auf ähnlich autoritäre Weise, sondern so, dass sich in der Begegnung mit ihr die menschliche Freiheit erfüllt. Dergestalt und nicht anders will Offenbarung überzeugen als kraft des ihr eigenen Realitätsgehalts. Dies meint Pannenberg, wenn er sagt, die Offenbarung spreche die Sprache der Tatsachen, um in ihr die Gottheit Gottes realiter zu erweisen. Um sie „wahrzunehmen, braucht zu den offenbarenden Begebenheiten – die natürlich“, wie in Parenthese vermerkt wird, nicht als bruta facta, sondern in ihrem überlieferungsgeschichtlichen Kontext zu sehen sind – nichts hinzugefügt zu werden, das in den Ereignissen etwas anderes sehen ließe als was aus ihnen selbst erhoben werden kann. Daß diesen wie übrigens auch andern Ereignissen gegenüber viele Menschen verblendet sind, ja zunächst doch wohl alle Menschen, das bedeutet nicht, daß die Wahrheit ihnen zu hoch ist, so daß ihrer Vernunft noch andere Erkenntnishilfen beigegeben werden müßten, sondern es bedeutet gerade umgekehrt, daß sie zur Vernunft gebracht werden müssen, damit sie recht hinsehen. (Ebd.)

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Gottes Selbstoffenbarung bringt den Menschen zur Vernunft und zu der Erkenntnis, die seiner Bestimmung und derjenigen aller Welt entspricht. In diesem Sinne gründet der Glaube im Erkennen. Er weiß, woran er glaubt. Mit Pannenberg zu reden: „Das Wissen von Gottes Offenbarung in der seine Gottheit erweisenden Geschichte muß … Grund des Glaubens sein.“ (101) Hinzugefügt wird: Daß dieses Wissen sich verändert, weil historische Forschung sich wandelt, braucht den Glauben nicht zu erschüttern, solange er in dem jeweils neuen Bild von den Tatsachen der Geschichte das ihn begründende Geschehen noch wiederzuerkennen und sich selbst zu wiederholen vermag. (Ebd.)

Ohne Vertrauen, wie es für den Glauben kennzeichnend ist, wird es dabei nicht abgehen. Doch richtet sich dieses nicht auf den Glauben selbst, sondern auf seinen Grund. Vertrauensvoller Glaube verlässt sich darauf, dass sich Gott, um dessen Offenbarung er weiß, auch künftig als derjenige erweisen wird, als der er sich erwiesen hat, ohne dass das Wissen um dieses Faktum auf seinen erreichten Stand fixiert werden könnte. Es gilt: „In der vertrauenden Hingabe seiner Existenz ist der Glaubende, auch über seine eigenen theologischen Formulierungen hinaus, offen für andere und bessere Erkenntnis der Geschichte, aus der er lebt.“ (102; vgl. auch ebd. Anm. 15) Gottes Selbstoffenbarung, auf die der Christ in der Gemeinschaft der ganzen Christenheit auf Erden im Glauben und im Erkennen bezogen ist, vollzieht sich indirekt im Medium der Geschichte, um sich an ihrem Ende zu vollenden. Dieses Ende, so sagt es die vierte dogmatische Programmthese, ist in der Geschichte Jesu Christi vorwegereignet, sodass erst diese und noch nicht die Geschichte Israels als die Verwirklichung der universalen Offenbarung der Gottheit Gottes zu gelten hat. Allerdings muss, um an dieser Stelle keine Missverständnisse hervorzurufen, mit der fünften These zugleich hinzugefügt werden, dass das Christusgeschehen die Gottheit des Gottes Israels in seiner universalen Einheit nicht als isoliertes Ereignis, sondern nur als Glied der Geschichte Gottes mit Israel erweist (vgl. 107). Ohne die im Alten Testament kanonisierte Überlieferungsgeschichte und namentlich ohne die prophetisch-apokalyptische Tradition mit der für sie charakteristischen Enderwartung könne weder das irdische Leben Jesu Christi noch gar seine Auferweckung aus dem Kreuzestod angemessen verstanden werden. Verstehe man hingegen sein Leben, Sterben und Auferstehen auf dem Hintergrund des Alten Testaments und der apokalyptischen Eschatologie, dann erschlössen sich das Osterereignis und mit ihm Passion und irdische Sendung Jesu als proleptische Antizipation der Endzeit und damit als Vorwegereignung des kommenden Reiches Gottes, sodass gesagt werden könne: Der provisorische Charakter (vgl. 103), den der geschichtliche Selbsterweis Jahwes in Israel hatte, ist in der Gestalt des auferstandenen Gekreuzigten behoben, insofern dieser die

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Zukunft seiner eigenen Geschichte und die der ganzen Menschheit und Welt bereits in sich trägt, wenngleich nicht auf unmittelbare und direkte, sondern auf indirekte und mittelbare, nämlich auf proleptisch-antizipatorische Weise, wie es der Geschehensgeschichte der Gottesoffenbarung entspricht. Nach Zeugnis des Neuen Testaments ist im Geschick Jesu Christi „das Ende nicht nur im voraus erschaut, sondern im voraus ereignet worden. Denn: An ihm ist mit der Auferweckung von den Toten bereits geschehen, was allen andern Menschen noch bevorsteht.“ (103f.) Zugleich ist es Pannenberg zufolge in dem eschatologischen Charakter des Christusgeschehens als proleptischer Antizipation des Endes der Geschichte begründet, dass die Universalität des einen Gottes Israels alle Menschen umfasst und die Differenz zwischen Juden und Nichtjuden zwar nicht einfachhin vergleichgültigt, aber doch dergestalt behebt, dass das Recht der urchristlichen Heidenmission als begründet erscheint. Wie sich diese in Auseinandersetzung insbesondere mit der paganen Kosmosfrömmigkeit und der griechischen Ontotheologie gestaltete, wurde von Pannenberg in „Offenbarung als Geschichte“ in Grundzügen skizziert und in Einzelstudien detailliert ausgearbeitet – etwa in dem bereits 1959 in der „Zeitschrift für Kirchengeschichte“ veröffentlichten Aufsatz über „Die Aufnahme des philosophischen Gottesbegriffs als dogmatisches Problem der frühchristlichen Theologie“. Im gegebenen Zusammenhang genügt es, mit der sechsten These festzustellen, dass in der Ausbildung außerjüdischer Offenbarungsvorstellungen innerhalb der heidenchristlichen Kirche „die Universalität des eschatologischen Selbsterweises Gottes im Geschick Jesu zum Ausdruck“ (109; bei P. gesperrt) kam. Eine ausführliche Begründung dieser These wird Pannenberg 1964 in seinen „Grundzügen der Christologie“ geben; sie ist deshalb hier nicht weiter zu erörtern. Mit Bedacht zu konstatieren ist dagegen, was Pannenberg über die Abskondität und Transzendenz des im auferstandenen Gekreuzigten offenbaren Gottes sagt. Durch sie sei, wie es heißt, der „Kanon der Unbegreiflichkeit des philosophischen Gottesbegriffs“ (105) überboten. Der Begriff, den wir von der Auferweckung des Gekreuzigten in ihrer historischen Faktizität als proleptische Antizipation des Eschatons haben, ist nach Pannenberg umgriffen von einer Unbegreiflichkeit, die unausdenkbar ist. Wir reden zwar von Auferweckung, und das in durchaus begründeter Weise, aber wir vermögen noch nicht auszudenken, was wir damit sagen, obwohl schon das, was wir von dem Geschehen der Auferweckung Jesu wahrnehmen, unsere Lebenswirklichkeit in das Licht der letzten Entscheidung stellt und uns berechtigt, von der Selbstoffenbarung Gottes zu sprechen. Diese Unerschöpflichkeit des Offenbarungsgeschehens als eschatologischen Geschehens für unser Begreifen ist sehr wichtig: Man mißversteht sonst leicht das bisher über das Wissen vom Selbsterweis Gottes Gesagte als rationalistisches Bescheidwissen. (Ebd.)

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Offenbarung als Geschichte? Frühe Kritik aus den Reihen der Kerygmatheologie

Gemäß dem Selbstverständnis ihrer Verfasser und allen voran ihres Herausgebers war die Schrift „Offenbarung als Geschichte“ von 1961 programmatisch gegen die damals gängige Kerygmatheologie gerichtet, die seit Jahrzehnten die universitäre und kirchliche Szene beherrschte. Bestanden diesbezüglich auf Seiten der Akteure noch irgendwelche Zweifel, so würden sie spätestens durch die Auslegung des siebten und letzten dogmatischen These Pannenbergs zur Lehre von der Offenbarung beseitigt. Die These selbst lässt von einer Attacke auf die „Theologie des Wortes Gottes“ auf den ersten Blick wenig erkennen: „Das Wort“, so wird gesagt, „bezieht sich auf Offenbarung als Vorhersage, als Weisung und als Bericht.“ (112; bei P. gesperrt) Dass von Gott her ergehende Worte in der Offenbarungsgeschichte eine wesentliche Funktion haben, wird also nicht nur nicht bestritten, sondern ausdrücklich anerkannt, wobei bemerkenswerterweise gerade der sog. Offenbarungsbericht kerygmatisch gefasst wird, da er „(a)ls distanziert neutrale Chronik“ (113) „gerade nicht sachgemäß“ (ebd.) wäre. Dies hängt mit Pannenbergs Bestimmung von Geschichte als Überlieferungsgeschichte zusammen, die sich „nie aus sogenannten bruta facta“ (112) zusammenfügt, sondern ihrer geschichtlichen Eigenart nach stets mit den Vollzügen ihrer Wahrnehmung und ihres Verstehens verbunden ist. Faktizität und Verständnis lassen „sich schon in den anfänglichen Begebenheiten einer Geschichte nicht trennen“ (ebd.). In diesem Sinne ist zu sagen: Als Bericht von der Offenbarung Gottes im Geschick Jesu ist das Ergehen des Kerygmas selbst ein Moment im Vollzug des Offenbarungsgeschehens. Der Selbsterweis Gottes vor allen Menschen ist ohne die universale Kundmachung nicht zu denken. (113)

Unbeschadet dessen sei dem Kerygma zu bestreiten, dass es „für sich selbst Offenbarungsrede“ (ebd.) sei, „etwa in seinem formalen Charakter als Ruf“ (ebd.). Offenbarungsrede ist das Kerygma nur kraft seiner inhaltlichen Bestimmtheit und damit im Dienst des geschichtlichen Geschehens, das es zu verstehen gibt. „Das Kerygma bringt nicht noch etwas zum Geschehen hinzu. Die Ereignisse, in denen Gott seine Gottheit erwiesen hat, sind als solche innerhalb ihres Geschichtszusammenhanges selbstevident.“ (113f.) Die Annahme, das Kerygma müsse im Sinne einer eigens inspirierten und inspirierenden Interpretation zu den geschichtlichen Tatsachen des Offenbarungsgeschehens hinzutreten, wird abgewiesen. Eine von der als Geschichte manifesten Offenbarung gesonderte Wortoffenbarung sei theologisch abzulehnen, weil das Wort wie der es hervorrufende Geist nicht unabhängig oder parallel zum geschichtlichen Offenbarungsgeschehen in seiner selbsterschließenden Tatsächlichkeit, sondern in, mit und unter diesem wirke.

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Die Kritik der gängigen „Wort-Gottes-Theologie“ erfolgte in der Programmschrift „Offenbarung als Geschichte“ in formaler und inhaltlicher Hinsicht. Formal wird geltend gemacht, dass ein allgemeiner Begriff von „Wort Gottes“, dem sich alle Einzelaspekte biblischen Zeugnisses subsummieren ließen, in der Heiligen Schrift nicht begegne. Inhaltlich aber müsse festgehalten werden, dass das Zeugnis des Wortes stets hingeordnet sei auf geschichtliches Geschehen, in dem Gott sich in einer Weise offenbare, die selbst evident zu nennen sei. Als Leitkategorie theologischen Offenbarungsverständnisses auf biblischer Basis komme der Begriff des Wortes Gottes weder unter formalen noch unter inhaltlichen Gesichtspunkten infrage; das Motto habe vielmehr zu lauten: „Offenbarung als Geschichte“. Gegen die programmatische These, wonach sich Offenbarung als Geschichte ereigne, wurde bald schon kerygmatheologische Widerrede laut – am lautesten und offensivsten in zwei Beiträgen, die im Jahr 1962 publiziert wurden. Sie sind nicht von den damaligen Granden der Wort-Gottes-Theologie, sondern von einem Privatdozenten und einem Assistenten verfasst. Im Vorwort zu der 1982 erschienenen fünften Auflage von „Offenbarung als Geschichte“ deutete Pannenberg dies rückblickend als strategisch bedingt: Die Matadoren der damals herrschenden Richtungen hätten sich damit begnügt, „Jüngere in den Kampf zu schicken, um der Herausforderung nicht zu viel Gewicht zu verschaffen“16. Die beiden Jüngeren hießen: Günter Klein und Lothar Steiger. Klein (1928–2015) wurde an der Universität Bonn 1959 mit einer Dissertation über das lukanische Apostelbild und den Ursprung des Zwölferapostolats promoviert und zwei Jahre später mit einer Arbeit über die Einheit der Kirche bei Paulus habilitiert. Als Bonner Privatdozent verfasste er einen Beitrag „Offenbarung als Geschichte? Marginalien zu einem theologischen Programm“, der 1962 in der Monatsschrift für Pastoraltheologie erschien und von Pannenberg als Pamphlet qualifiziert wurde. Züge einer Schmähschrift wies jedenfalls teilweise auch der im selben Jahr in der „Zeitschrift für Theologie und Kirche“ veröffentlichte Artikel „Offenbarungsgeschichte und theologische Vernunft“ von L. Steiger auf, zur damaligen Zeit Tübinger Assistent, seit 1968 Professor für Theologie und Philosophie an der Kirchlichen Hochschule Wuppertal, ab 1973 Inhaber des Lehrstuhls für Dogmatik, später für Homiletik und Seelsorge an der Universität Heidelberg. 1961 erschien von ihm eine Monographie „Die Hermeneutik als dogmatisches Problem. Eine Auseinandersetzung mit dem transzendentalen Ansatz des theologischen Verstehens“. Steiger beginnt seine Ausführungen zu „Offenbarungsgeschichte und theologische Vernunft“ mit der Feststellung, dass in letzter Zeit 16 Ders., Vorwort zur 5. Auflage, in: ders. (Hg.), Offenbarung als Geschichte, Göttingen 1982, V– XV, hier: V.

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„eine Gruppe von jüngeren Theologen mit allen Anzeichen, eine geschlossene Schule bilden zu wollen, durch die Aufstellung eines theologischen Systems öffentlich von sich reden“17 mache. Neben Pannenberg, so Steiger, treten besonders hervor Rolf Rendtorff für das Alte Testament, Dietrich Rössler für das Spätjudentum, und Ulrich Wilckens für das Neue Testament. Trutz Rendtorff scheint auf gleichem Hintergrunde neue Gedanken für die Ekklesiologie entwickeln zu wollen. Weniger deutlich lassen ihre Zugehörigkeit zu diesem Kreise bisher der Alttestamentler Klaus Koch und auf kirchengeschichtlichem Gebiet Martin Elze erkennen. (89)

Rössler wird von Steiger insofern eine Sonderrolle zuerkannt, als er in seiner Monographie „Gesetz und Geschichte. Untersuchungen zur Theologie der jüdischen Apokalyptik und der pharisäischen Orthodoxie“, erschienen 1960, „das spätjüdische Gesetzesverständnis aus der apokalyptischen Tradition erhob(en) und gegen die rabbinische Thora-Auslegung abgegrenzt“ (ebd.) sowie zugleich die Verbindung von Apokalyptik und neutestamentlicher Eschatologie hergestellt habe, wie sie denn für den Entwurf in historischer und systematischer Hinsicht grundlegend sei. Doch wie immer Steiger die Stellung Rösslers und anderer im Kreis einschätzt, die Hauptrolle erkennt er eindeutig Pannenberg zu, auf dessen Schriften er sich bei der Beurteilung der Gesamtkonzeption denn auch beschränkt. Der erste Teil seiner Studie ist der „Kritik an der Methode“ (91) Pannenbergs, der zweite der „Kritik des Ansatzes im einzelnen“ (ebd.) und des inhaltlichen Systemaufbaus gewidmet. Was die Methodenkritik anbelangt, so lautet der entscheidende Vorwurf, dass „die Offenbarungsgeschichte Gottes nicht aus ihrem Zeugnischarakter, d. h. aus ihrer Wendung zum Glauben und notwendig von ihm her, betrachtet, sondern erst nachträglich – und deshalb zu spät –“ (94) auf diesen und auf die Bedeutung bezogen werde, die seiner Wirklichkeit zukomme. Verursacht sieht Steiger dieses gravierende Defizit, in dessen Folge der hermeneutische Horizont der Argumentation wenn nicht völlig ausgeblendet, so doch entscheidend eingeschränkt werde, durch die unbedachte Rezeption eines idealistischen Geschichtsentwurfs, wie namentlich Hegel ihn vertreten habe; ihn nehme Pannenberg theologisch „unreflektiert“ (93) auf. Pannenbergs Hegelianismus, der im Übrigen das Niveau des Systemdenkers nicht annähernd erreiche, habe zur Konsequenz, dass er das geschichtliche Christusereignis trotz Betonung seiner Kontingenz in einen geschlossenen Geschehensverlauf einzeichne, dessen Notwendigkeit vorweg konstatiert werde. Infolge von Pannenbergs angeblichem Hegelianismus ergibt sich in seinem Konzept gemäß Steigers Urteil eines aus dem andern: „Alles ist einsichtig, nichts 17 L. Steiger, Offenbarungsgeschichte und theologische Vernunft. Zur Theologie W. Pannenbergs, in: ZThK 59 (1962), 88–112, hier: 88. Die nachfolgenden Seitenverweise im Text beziehen sich hierauf.

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braucht bezeugt und geglaubt zu werden.“ (99) Auf diese Weise werde „die hermeneutische Differenz des theologischen Verstehens zum Verstehen überhaupt erkenntnismäßig aufgehoben“ (ebd.): Lieferten doch die Offenbarungstatsachen in ihrer schieren Faktizität selbst den hermeneutischen Grund ihrer Erkenntnis und ihrer Bedeutsamkeit. Die Verkündigung des Offenbarungsgeschehens auf Glauben hin und seine Bezeugung im Bekenntnis des Glaubens erübrige sich so im Grunde, weil die offenbaren Tatsachen für sich zu sprechen scheinen. Sie gelten wie ein römischer Kathedralspruch ex sese: „Und Gott ist der Papst in den Fakten.“ (94) Steiger gemäß hat Pannenberg „die theologische Problematik der Historie und der Hermeneutik überhaupt gar nicht“, wie es heißt, „in den Griff bekommen“ (97). Seine zur Schau gestellte Gelehrsamkeit sei im Grunde bloßer „Schein“ (103) und diene „einem im Ansatz gescheiterten Unternehmen“ (97), das als „unernst“ (103) zu qualifizieren sei. So jedenfalls lautet das letzte Wort des ersten Teils der Untersuchung, das durch den zweiten im Detail gerechtfertigt und bestätigt werden soll. Grundlegend für alle inhaltlichen Aspekte der Pannenbergschen Konzeption ist Steiger zufolge die Behauptung einer mit Mitteln historisch-kritischer Forschung zu verifizierenden Historizität der Auferstehung Jesu Christi und ein vorgefasster Begriff der Rahmenbedingungen, aus deren Kontext heraus sich die Bedeutung des faktischen Ereignisses für jedermann erkennbar erschließe. Dieser Rahmen sei mit dem „apokalyptischen Auferstehungsschema“ (105) gegeben, in das die Auferstehung des Gekreuzigten eingezeichnet werde: Die allgemeine Totenauferstehung, welche die Apokalyptik erwarte, bildet den Verständnishorizont, aus dem heraus sich die Bedeutung der Auferstehung Jesu in ihrer faktischen Besonderheit erschließen soll. Damit sei „die Richtung der paulinischen Argumentation“ (106) im 15. Kapitel des 1. Korintherbriefes umgekehrt und ihr Skopus verfehlt, der in der Erkenntnis bestehe, dass die Auferstehung aller Toten am Ende der Tage nur deshalb als heilsam erwartet werden könne, weil der auferstandene Gekreuzigte als künftiger eschatologischer Richter zugleich als Retter fungiere, der diejenigen rechtfertige, die an ihn glauben. Die Subsumtion des Osterereignisses unter einen vorgegebenen Allgemeinbegriff der Auferstehung bzw. Auferweckung ist nach Steigers Urteil signifikant für das Verfahren, dem sich Pannenberg generell und in Bezug auf alle Inhalte seines Systemkonzepts bediene. So stehe ihm beispielsweise der „Begriff der Selbigkeit Gottes“ (107) jenseits des Unterschieds von Altem und Neuem Testament von Anbeginn als ein gewissermaßen metaphysisches Faktum fest mit der Folge, dass eine theologische Spannung in der Offenbarungsgeschichte im Grunde gar nicht erst aufkomme. Die Funktion, die ursprünglich und gewissermaßen unter judenchristlichen Bedingungen der Apokalyptik mit ihrer Vorstellung einer eschatologisch orientierten Universalgeschichte und einer allgemeinen Auferstehung der Toten am Jüngsten Tag zugedacht worden sei,

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übernehme unter heidenchristlichen Bedingungen der späteren Zeit die philosophische Ontotheologie, welche die Rahmenbedingungen christlicher Theologie philosophisch festlege. In jedem Fall gehe ein allgemeines Wissen dem Glauben vorher, wodurch dessen Eigentümlichkeit schon im Ansatz verfehlt und verkannt werde. Dies sei „theologisch fatal“ (111) und das umso mehr, als Pannenbergs Begriff von Wissen zweideutig sei, da er einerseits zu wissen beanspruche, dass das österliche Geschick Jesu die proleptische Antizipation des Eschatons darstelle, andererseits selbst einräume, über kein wirkliches Wissen von diesem zu verfügen. In dasselbe Horn wie Steiger stieß mit teilweise noch lauteren und schrilleren Tönen Günter Klein. Seine „Marginalien zu einem theologischen Programm“ ließen Pannenberg verwundert fragen: „Wer hätte vermutet, daß einige Verfechter der herrschenden Worttheologie sich ihrer Sache so wenig sicher sein würden, daß sie sich eines in andere Richtung vorstoßenden Entwurfs durch grobe Verzeichnungen und abgegriffene Etikettierungen der gegnerischen Position erwehren müßten?“18 Klein arbeitete zwar der Reihe nach die Beiträge aller in „Offenbarung als Geschichte“ vertretenen Autoren ab, konzentrierte sich dann aber wie Steiger im Wesentlichen auf Pannenberg, da dessen „Dogmatische Thesen zur Lehre von der Offenbarung“ den „Höhepunkt des Werkes“19 markierten. Schon der Einführung des Herausgebers der Programmschrift wird eine „Theoretisierung des Offenbarungsbegriffs“ (66) attestiert, welcher „seine Subjektivierung auf dem Fuße“ (68) folge. Faktisch sei „die Reflexion zum Ort der Offenbarung erhoben“ (ebd.). Der gleiche Vorwurf wird gegen Pannenbergs dogmatische Thesenreihe geltend gemacht und dahingehend zugespitzt, dass die Einreihung des Osterereignisses als Urdatum von Christologie und Christentum in den allgemeinen Geschehensverlauf der Geschichte und die damit einhergehende Historisierung des Offenbarungsgeschehens bereits das definitive „Scheitern des Programms“ (78) antizipierten, weil dadurch die Erscheinung des auferstandenen Gekreuzigten zu einem vergangenen Weltphänomen herabgesetzt, enteschatologisiert und von seinem unveräußerlichen Glaubensbezug abgetrennt werde. Im Übrigen sei recht eigentlich nicht, wie behauptet, die Auferweckung des Gekreuzigten das grundlegende Offenbarungsdatum, sondern der vorgegebene apokalyptische Verstehenshorizont einer allgemeinen Totenauferstehung, von dem her das Ostergeschehen erst seine Bedeutung gewinne, ohne welche es nichts wäre als ein inhaltsleeres Faktum. 18 W. Pannenberg, Nachwort zur zweiten Auflage, 134. Vgl. im Einzelnen 134f. Anm. 7. 19 G. Klein, Offenbarung als Geschichte? Marginalien zu einem theologischen Programm, in: MPTh 51 (1962), 65–88, hier: 77. Die nachfolgenden Seitenverweise im Text beziehen sich hierauf.

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Analog stellt sich Klein zufolge die Angelegenheit im Hinblick auf Pannenbergs Gesamtkonzeption dar: der universalgeschichtliche Rahmen, für welchen die Apokalyptik den Entdeckungszusammenhang bilde, fungiere als Bedingung der Möglichkeit dafür, das österliche Geschehen mit jenem Sinn zu versehen, welchen der Glaube voraussetze. Klein sieht durch dieses Verfahren „die Einheit von Grund und Gegenstand des Glaubens“ (ebd.) aufgelöst, da der Glaubensgegenstand nicht auf Glauben hin und vom Glauben her, sondern von anderwärts, nämlich von den Rahmenbedingungen des Christusereignisses, von der Apokalyptik, dem Theoriekonzept einer Universalgeschichte bzw. von metaphysischen Prämissen her erschlossen werde. Die von Pannenberg vorgenommene Verhältnisbestimmung von Glaube und Wissen wertet Klein als einen Beleg für die Richtigkeit seiner Annahme. Für Pannenberg sei der Grund des Glaubens ein Wissen, nämlich ein theoretischer Begriff von dem, was Geschichte heiße. Sein nicht ohne subjektive Willkür in Anschlag gebrachter Geschichtsbegriff fungiere als regulative Idee und Kriterium des gesamten Systems. Klein spricht von Geschichtsfetischismus, um hinzuzufügen: „Daß dieser Fetischismus der Geschichte, der einen religionsgeschichtlichen Prozeß zum Gott in der Zeit erhebt, das christliche Verständnis der Offenbarung pervertiert, sollte keiner Begründung bedürfen.“ (80) So wie Christus an Ostern „als der bloße Spezialfall des allgemeinen anthropologischen Tatbestandes der Totenauferweckung“ (ebd.) erscheine, so werde Gottes Gottheit mittels eines universalgeschichtlichen Theoriekonzepts genetisiert, das die metaphysische Grundlage, ja die Möglichkeitsbedingung der gesamten Theologie bilde. Gottes Offenbarung höre auf, der Vernunft eine Torheit zu sein, bewirke „keinerlei Anstoß mehr“ (83), sondern füge sich umstandslos in den Rahmen ein, der ihr durch allgemeine Prämissen gesetzt sei, die Pannenberg für vernünftig halte. Die Folge sei eine „theologia gloriae“ (88) sowie ein „total intellektualisierte(r) Glaube“ (83). Das als „zukunftsträchtig ausgegebene Konzept“ (86) erweise sich, wie Klein es ausdrückt, „als stigmatisiert von einer Grundeinstellung, welche sich vor Gott theoretisch verhalten zu können meint“ (ebd.). Es leite förmlich dazu an, dass „der persönlich unbeteiligte Mensch“ (ebd.) aus „subjektivistische(r) Distanz“ (ebd.) „mit Gott als seinem Objekt kalkuliert“ (ebd.). Wo dies geschehe, werde keine Theologie mehr betrieben, die das Prädikat christlich verdiene: „Der handelnde Gott als konstatierbares Moment der Historie ist gewiß das Ende christlicher Theologie“ (88) und das umso mehr, als Geschichtsfetischismus faschismusaffin sei: Die evangelische Theologie, die mit einer dezidiert geschichtsgläubigen Offenbarungskonzeption erst vor kurzem einen Kampf auf Leben und Tod bestehen mußte, hat allen Anlaß, aus dieser Richtung drohende Gefahren sorgfältig im Auge zu behalten. (87)20

20 Ähnlich urteilte E. Wolf; vgl. dazu J. Moltmann, Weiter Raum. Eine Lebensgeschichte. Gü-

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5.

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Überlieferungsgeschichte, eschatologische Prolepse, wissender Glaube. Pannenbergs Replik

In seiner Replik auf Steiger und Klein im Nachwort zur zweiten Auflage von „Offenbarung als Geschichte“ ist Pannenberg nur beiläufig auf die dem Vorwurf eines Geschichtsfetischismus folgende Faschismusanspielung eingegangen.21 Stattdessen hat er versucht, die „Kritik auf ihre sachlichen Motive abzuhören“ (134f.), was ihm freilich, wie er vermerkt, „nicht leicht“ (134) gefallen sei. Mit welchen Sachgesichtspunkten man es vorzugsweise zu tun bekomme, wird am Schluss des Nachworts zusammengefasst und aufgelistet: erstens mit dem überlieferungsgeschichtlichen Verständnis von Altem und Neuem Testament sowie des Urchristentums, zweitens mit dem proleptischen Charakter der Geschichte Jesu und besonders seiner Auferstehung in ihrer Bedeutung für den Offenbarungsbegriff und drittens mit der Dialektik von Glauben und Wissen im Lichte der proleptisch-eschatologischen Eigenart der Christusoffenbarung (vgl. 147f.). Im Voraus wird die intendierte Alternative zur „Theologie des Wortes“ betont, die aber nicht als abstrakter Gegensatz zu betrachten sei. Es sei keineswegs so, dass man die Kategorie des Wortes offenbarungstheologisch zu eskamotieren gedenke; durch den Gang der Argumentation werde eindeutig das Gegenteil belegt. Man verwahre sich lediglich dagegen, die Wortkategorie zu prinzipialisieren, was durch den biblischen Befund nicht nur nicht begründet, sondern im Gegenteil ausgeschlossen werde. Zumindest insofern, nämlich in der negativen Feststellung, dass die gängige Worttheologie nicht geteilt werde, sei man mit den Gegnern ganz einig (vgl. 136). Dabei bilde man sich nicht ein, die Kerygmatheologie bereits im ersten Anlauf überwunden zu haben, wie gerne unterstellt werde. Denn zum einen habe man, was den Ausbau der eigenen Stellung angehe, noch manche Lücke zu schließen und vieles zu tun, zum anderen sei die Attacke auf die „Wort-Gottes-Theologie“ keineswegs unvermittelt, sondern im Zuge einer Entwicklung erfolgt, in deren Verlauf sich diese gleichsam von selbst problematisierte. Der Anstoß zu dieser Selbstproblematisierung sei dabei in erster Linie gar nicht von Seiten der Systematischen Theologie, sondern von der alttestamentlichen Wissenschaft her erfolgt, wofür Gerhard von Rads Entwurf einer Theologie des Alten Testaments beispielhaft sei (vgl. 134 Anm. 7).

tersloh 2006, 58. Zu den Wuppertaler Begegnungen zwischen Moltmann und Pannenberg vgl. a. a. O., 97 sowie 110ff. 21 Vgl. W. Pannenberg, Nachwort zur zweiten Auflage, in: ders. (Hg.), Offenbarung als Geschichte, 132–148, hier: 134f. Anm. 7. Die nachfolgenden Seitenverweise im Text beziehen sich hierauf.

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Mit den anderen Verfassern von „Offenbarung als Geschichte“, aber auch mit den ersten Kritikern der Programmschrift stimmt Pannenberg in der Auffassung überein, dass mit dieser der Umkreis der Kerygmatheologie „verlassen“ (132) sei. Zwar sei offenbarungstheologisch weiterhin vom Wort und vom Wort Gottes zu reden, aber im Bewusstsein, dass ein formaler Allgemeinbegriff „Wort Gottes“, welchem das ganzes Offenbarungsgeschehen zu subsummieren oder zuzuordnen sei, „in den biblischen Schriften gar nicht zu finden ist“ (ebd.). Durchgängig zu finden sei in ihnen dagegen die Auffassung, dass Gott sich durch sein geschichtliches Handeln offenbare, zu dessen Verständnis vorhergehende, begleitende und nachfolgende Worte zwar zweifellos hinzugehörten, ohne doch das grundlegende Medium des Offenbarungsgeschehens zu sein. Dieses sei vielmehr die Geschichte und erst vermittels ihrer das Wort, welches als Moment im geschichtlichen Geschehensvollzug der Gottesoffenbarung aufgehoben werde. Klein und Steiger haben Pannenberg und den Mitgliedern seines Kreises vorgeworfen, vom Wortcharakter der Offenbarung abstrahiert und davon abgesehen zu haben, dass dieses als konkrete Anrede auf Antwort und eine entsprechende Entscheidung ziele, die im hörenden Gehorsam dem Wort Gottes gegenüber zu vollziehen sei. In der Konsequenz, so Klein ausdrücklich, ergebe sich eine abstrakte Theologie, die sich in theologischen Reflexionen ohne existentielle Betroffenheit ergehe sowie nach eigenem Bekunden keine andere Sprache verstehen wolle und tatsächlich verstehe als diejenige der Tatsachen. Pannenberg weist den genannten Vorwurf mitsamt den aus ihm gezogenen Folgerungen als auf einer gründlichen Verkennung beruhend zurück. Die vermeintliche Trennung von bruta facta und Wortgeschehen, bloßer Historie und Sinndeutung etc. sei auf ein elementares Missverständnis zurückzuführen und gar nicht gegeben, wenn man unter Geschichte Überlieferungsgeschichte verstehe und dieses Verständnis offenbarungstheologisch entsprechend zur Geltung bringe. Was Geschichte ist und bedeutet, erschließt sich Pannenberg zufolge stets nur in einem Traditionszusammenhang, aber nun eben in, mit und unter und nicht außerhalb oder parallel zu diesem. Entscheidend für den Geschichtsbegriff der offenbarungstheologischen Programmschrift sei seine überlieferungsgeschichtliche Fassung. Offenbarung vermittle sich in und als Überlieferungsgeschichte und zwar zugleich in ihrer Faktizität und in ihrer Bedeutung, die beide zwar zu unterscheidende, nicht aber zu trennende Momente eines, nämlich des überlieferungsgeschichtlichen Zusammenhangs seien, der Sein und Bewusstsein des Geschehens verbinde und damit auch die Bedingung der Möglichkeit historischer Arbeit schaffe. Alles Wissen vom Geschichtsgeschehen hinsichtlich seiner Faktizität und Bedeutung und damit die historische Arbeit selbst muss als traditionsgeschichtlich vermittelt gelten.

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Wo diese Einsicht sich einstellt, ist nach Maßgabe Pannenbergs die hermeneutische Perspektive immer schon erschlossen und zwar nicht als ein Zusatzaspekt, sondern als ein Gesichtspunkt innerhalb der Überlieferungsgeschichte als solcher. Pannenberg gibt seiner festen Überzeugung Ausdruck, dass die hermeneutische Problematik im Begriff der Universalgeschichte als Überlieferungsgeschichte prinzipiell aufgehoben, also sowohl als Moment bewahrt wie auch im Ganzen „überholt“ sei. Dies gelte, obwohl die universalgeschichtliche Konzeption selbst jeweils von einem bestimmten geschichtlichen Ort aus entworfen werde und so ihrerseits wieder der historischen Differenz unterliege, womit die Vorläufigkeit aller Entwürfe und ihr Abstand von der endgültigen Wahrheit erwiesen seien. Den Primärtest ihrer Bewährung stellt für eine überlieferungsgeschichtlich ausgerichtete Offenbarungstheologie die Aufgabe der Verhältnisbestimmung von Altem und Neuem Testament dar. Sachgemäß formuliert werden kann beider Zusammenhang nach Pannenberg nur bei entsprechender Berücksichtigung der apokalyptischen Bewegung, welche die alttestamentliche Tradition eschatologisch öffne und für die neutestamentliche Rezeption erschließe, die freilich nicht einfach bestätigend, sondern in konstruktiver Kritik erfolge, welche die Apokalyptik zu umfassen habe. Das Verdikt, wonach diese im Entwurf von „Offenbarung als Geschichte“ den fixen Rahmen für die Deutung des Christusereignisses vorgebe, wird zurückgewiesen. Die apokalyptische Tradition werde im Neuen Testament unter der Voraussetzung des Osterereignisses überlieferungsgeschichtlich fort- und umgebildet, ohne deshalb verabschiedet zu werden. In transformierter Gestalt bleibe sie fester Bestandteil des neutestamentlichen Zeugnisses von der offenbaren Gottesgeschichte in Jesus als dem Christus. Am Osterereignis und seinem christlichen Verständnis lasse sich dies exemplarisch belegen, sofern einerseits „die allgemeine Auferstehungserwartung sachlich die Voraussetzung auch für das Reden von der Auferstehung Jesu bildet“ (141), andererseits von Ostern her ein Licht auf sie zurückfällt, das alles als neu erscheinen lasse. Nach Pannenbergs wiederholtem Urteil hat die Auferstehung Jesu Christi für die vom „Kreis“ „versuchte Neufassung des Offenbarungsbegriffs tragende Bedeutung“ (ebd.), weil im Osterereignis sich das Ende der Geschichte vorwegereignet habe. Bei der Annahme einer österlichen Prolepse handle es sich „um den springenden Punkt“ (143) des ganzen Entwurfs: „Erst der Gedanke der Vorwegnahme des Endes erlaubt es nämlich, überhaupt von schon geschehener Offenbarung zu sprechen.“ (Ebd.) Denn als Akt der Selbstoffenbarung könne das Christusereignis nur in der Weise einer Antizipation des Eschaton verstanden werden. Als eschatologisches Geschehen sei das Christusereignis, obwohl ein einmaliges Ereignis, das zu einer bestimmten Zeit in der Vergangenheit stattgefunden habe, zugleich seine eigene Zukunft, die uns und alle Welt am letzten

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Ende bevorstehe. In diesem Sinne sei die ganze Geschichte christologisch als vorläufig zu bestimmen. An der Vorläufigkeit der Geschichte, deren Ende im Christusereignis antizipiert worden ist, hat alle Erkenntnis einschließlich der Erkenntnis des Offenbarungsgeschehens teil. Diese Einsicht ist nach Pannenberg grundlegend für das Verständnis von Wissen, Glauben sowie von Wirkung und Wirklichkeit des Heiligen Geistes. In der dritten der offenbarungstheologischen Thesen werde dies entfaltet. Die dort vertretenen Auffassungen zur Erkennbarkeit des Offenbarungsgeschehens hatten „wohl am meisten Anlaß zur Kritik gegeben“ (144). Nicht nur Steiger und Klein, sondern auch „ein so sachlicher und bei aller Schärfe seiner Anfragen wohlwollender Kritiker wie P. Althaus“ (ebd.), habe hier deutliche Kritik geübt und Anstoß vor allem an der Auffassung genommen, „daß der Heilige Geist nicht die Bedingung sei, durch die das Christusgeschehen erst als Offenbarung erkennbar wird“ (ebd.). Vorgetragen hatte Althaus seine „Bemerkungen zu Wolfhart Pannenbergs Begriff der Offenbarung“ in der „Theologischen Literaturzeitung“ vom Mai 1962 und zwar unter der Überschrift „Offenbarung als Geschichte und Glaube“, womit angezeigt werden sollte, dass er, Althaus, nicht auf alle Aspekte der Thesenreihe, „sondern allein auf den Begriff der Offenbarung als Geschichte im Verhältnis zum Glauben“22 eingehen werde. Nach Althaus verdient Pannenbergs Programm „alle Beachtung und ernste Auseinandersetzung“ (321), gerade was den Gegensatz zu dem Verständnis des Verhältnisses von Offenbarung und Geschichte betreffe, „wie es in breiter Front von der heutigen Dogmatik vertreten wird“ (323). Dennoch äußerte der Erlanger Dogmatiker die Befürchtung, dass die Alternative überzogen sei: (S)chlägt das Pendel der Reaktion nicht doch weit hinaus über das heilsame Maß? Wird der Geschichtscharakter der Offenbarung hier nicht in einem Sinn ausgelegt, der das echte Wesen der Offenbarung in einem den existentialistischen Thesen entgegengesetzten Sinne verfehlt? Simplifiziert Pannenberg das Verständnis von Offenbarung und Geschichte nicht ebenso wie die andre Seite nur mit umgekehrten Vorzeichen? (Ebd.)

Um diese Fragen einer Antwort zuzuführen, untersucht Althaus zunächst Pannenbergs Exegese thematisch einschlägiger neutestamentlicher Texte (vgl. 323– 326), um dann auf ihre dogmatische Auswertung einzugehen (vgl. 326–330). Das Ergebnis lautet, dass sich die von Pannenberg vorgetragene offenbarungstheologische Unterscheidung von Wissen und Glauben „nicht halten“ (326) lasse: denn „zur Offenbarung gehört als unentbehrliches Moment das Wirken des Hl. Geistes, das Geschenk des Glaubens hinzu“ (330). Das Wissen um die Offenbarung und ihren Tatsachencharakter gehe dem Glauben nicht voran, sei vielmehr 22 P. Althaus, Offenbarung als Geschichte und Glaube. Bemerkungen zu Wolfhart Pannenbergs Begriff der Offenbarung, in: ThLZ 87 (1962), Sp. 321–330, hier: 321. Die nachfolgenden Seitenverweise im Text beziehen sich hierauf.

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implizite Prämisse desselben. Wohl wisse der Glaube, dass er nicht in sich, sondern in der Offenbarung gründe, durch die er erschlossen sei; doch sei die Gewissheit des objektiven Grundes des Glaubens nicht ohne dessen subjektiven Vollzug zu haben, welchen der Heilige Geist ermögliche. Althaus schloss seine Bemerkungen zu Pannenbergs Programmschrift mit dem Hinweis, ihr Titel „wäre zu ergänzen zu unserer Überschrift: Offenbarung als Geschichte und Glaube.“ (330) In seiner „Antwort an Paul Althaus“ rechnet es Pannenberg diesem als Verdienst an, mit der Frage nach dem Verhältnis der Offenbarungserkenntnis zu Glaube und Heiligem Geist das vielleicht von der theologischen Überlieferung her dringendste und zu einer weiteren Diskussion am meisten bedürftige Problem des Heftes ‚Offenbarung als Geschichte‘ herausgegriffen zu haben. Insofern bilden seine Ausführungen einen weiterführenden Gesprächsbeitrag, im Unterschied zu anderen, die Sache verzerrenden Stellungnahmen.23

Des Weiteren räumt Pannenberg ein, seine These, die Erkennbarkeit des Christusgeschehens sei ohne ein gesondertes Wirken des Heiligen Geistes gegeben, nicht hinreichend gegen Missverständnisse abgesichert zu haben. Keineswegs habe er die Wirksamkeit des Heiligen Geistes im Offenbarungsereignis leugnen wollen. Aber diese erfolge in, mit und unter dem Christusgeschehen und nicht parallel oder zusätzlich zu diesem in einem noch eigens hinzukommenden Offenbarungsakt, woraus sich ergebe: Die Frage, ob die Botschaft, die mir verkündet wird, wahr sei, kann nur von ihrem Inhalt her beantwortet werden, durch Hinweis auf das, wovon sie berichtet, und auf den dem berichteten Geschehen innewohnenden Sinn. Dies ist das Wissen, das der Glaube (logisch) voraussetzen muß, wenn er nicht zur selbstmächtigen Entscheidung verfälscht werden soll.24

Aus den genannten Gründen weigert sich Pannenberg, den Zusammenhang von Geschichtsoffenbarung und geistgewirktem Glauben als ein Ergänzungsverhältnis zu bestimmen, wie Althaus dies wolle: Offenbarung als Geschichte und Glaube? Man wird Althaus zugeben, daß die Offenbarung Gottes erst da zu ihrem Ziel kommt, wo sie Glauben wirkt und also jemandem offenbar wird. Eigentlich kommt sie sogar zu ihrem Ziel erst mit der Verherrlichung der Glaubenden in der Zukunft Jesu Christi, in der alle Dinge aus dem Geiste Gottes neugeschaffen werden, so wie jetzt schon Jesus Christus selbst durch den Geist Gottes vom Tode auferweckt ist. Nicht nur der Glaube, sondern auch die Verherrlichung der Glaubenden gehört mit in die Offenbarungsgeschichte. Gottes Offenbarung in Jesus Christus ist ja nur ein Vorgriff auf das Endgeschehen, das das eigentliche Offenba23 W. Pannenberg, Einsicht und Glaube. Antwort an Paul Althaus, in: ThLZ 88 (1963), Sp. 81–92, hier: 81f. 24 A. a. O., 86.

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rungsgeschehen sein wird. Und doch haben wir die begründete Zuversicht: Das Endgeschehen wird nichts entscheidend Neues mehr bringen, was nicht in der Auferstehung Jesu schon vorweggenommen ist. Insofern ist Jesus bereits die Offenbarung Gottes. Das mit ihm Geschehene wird durch keine weiteren Begebenheiten mehr ergänzt, auch durch unsern Glauben nicht.25

Der Glaube wird durch die geschichtliche Christusoffenbarung erschlossen, durch die hindurch – und nicht etwa neben ihr – der Heilige Geist wirkt. Dieser bildet daher „keine besondre, zusätzlich zum Evangelium etwa noch erforderliche Erkenntnisbedingung. Dementsprechend ist die Erkenntnis dessen, was die Christusbotschaft mitteilt, Grundlage und nicht erst Folge des Glaubens.“26 Mag die Einsicht mit dem Glauben in psychologischer Hinsicht auch ununterscheidbar übereinkommen, so ist sie ihm Pannenberg zufolge doch logisch eindeutig vorgeordnet. Käme die durch das Offenbarungsgeschehen erschlossene Einsicht in den Grund des Glaubens dem Glauben nicht in bestimmter Weise zuvor, stünde dieser im Verdacht der Selbstbegründung bzw. eines blinden Willkürentscheids aufgrund eines formalen Autoritätsanspruches, dessen inhaltliche Relevanz nicht zur Einsicht zu bringen sei. Im Zuge dieser Argumentation führt Pannenberg nicht weniger als den Gabencharakter und seine Exzentrizitätsstruktur auf die logische Priorität wissenden Erkennens vor dem Glauben zurück, dessen Gewissheit eben nicht unmittelbar auf ihm selbst basiere, sondern grundlegend durch das Offenbarungsgeschehen vermittelt sei. Der Publizist Rainer Röhricht beschloss seine Besprechung von „Offenbarung als Geschichte“ im „Sonntagsblatt“ vom 16. Juli 1961 mit der Feststellung, man bräuchte „eine ausführliche Theologie der Vernunft“27, um die von dem Konzept 25 A. a. O., 90. Pannenberg fährt fort: „Darum muß es doch dabei bleiben: Offenbarung als Geschichte, vorgreifend zusammengefaßt in Jesus Christus, – aber für den Glauben, der zwischen der Prolepse des Endes im Christusgeschehen und dem universalen Anbruch des Endes lebt. Die proleptische Struktur des Glaubens (im Zukunftsbezug des Vertrauens) entspricht der Struktur des Christusgeschehens, und gerade darum ist dieses nur im Glauben seiner Eigenart gemäß hinzunehmen. Auch die Einsicht, die wir von der geschehenen Offenbarung Gottes in Christus erlangen können, setzt immer schon die Zusammenschau des Geschickes Jesu mit dem für uns noch ausstehenden Ende der Welt voraus. Insofern ist auch das Reden von der Offenbarung Gottes in Jesus Christus proleptisch. Es geschieht im Vorgriff auf den abschließenden Erweis ihrer Wahrheit durch den Anbruch des Endes selbst. Dieser Vorgriff hat nicht den Charakter subjektiv ergänzender Deutung eines objektiven brutum factum, sondern die Verklammerung des Geschickes Jesu mit dem Endgeschehen ist durch den israelitisch-jüdischen Überlieferungszusammenhang, in welchem das Ostergeschehen seinen ursprünglichen Sinnhorizont hat, begründet. Eine sachgemäße Erkenntnis dieses Geschehens ist darum nicht anders als durch den Nachvollzug seiner proleptischen Struktur möglich, also nur so, daß der Erkennende sich durch das Geschehen selbst in die Bewegung des Glaubens hineinnehmen läßt.“ (90f.) 26 Ders., Nachwort zur Zweitauflage von „Offenbarung als Geschichte“ (Anm. 20), 144. Die nachfolgenden Seitenverweise im Text beziehen sich hierauf. 27 R. Röhricht, An seinen Taten sollt ihr ihn erkennen. Offenbarung als Geschichte – Versöh-

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aufgeworfenen Fragen zu beantworten. Nach Pannenberg trifft diese Bemerkung uneingeschränkt zu: „Auch ich sehe in dieser Richtung ein dringendes Desideratum.“ (146) Pannenberg leugnet nicht, dass seine „Andeutungen über die Eigenart des Glaubens genauerer Entfaltung und Ergänzung bedürfen“ (145). In welche Richtung diese zu gehen haben, deutet er gegen Ende des Nachworts der Zweitauflage von „Offenbarung als Geschichte“ mit dem Hinweis an, eine Theologie der Vernunft nach seinen Vorstellungen würde „die Vernunft nicht als apriorisches Vermögen, sondern in ihrer geschichtlichen Struktur von Entwurf und Reflexion beschreiben, damit aber auch die in ihrer wesensgemäßen (dagegen nicht immer faktischen) Offenheit auf Wahrheit hin, die im Vollzug des entwerfenden Denkens immer vorausgesetzt, aber nie eingeholt wird“ (146). Weil die alle Erkenntnisvollzüge formal bestimmende proleptische Struktur nach Pannenberg auch der materialen Erkenntnis des Christusgeschehens eignet, wird seinem Urteil zufolge jedes Wissen vom Offenbarungsereignis zur Selbsttranszendenz im Zuge der Wahrnehmung seiner Vorläufigkeit bewegt, um sich ganz für die in der Auferweckung des Gekreuzigten antizipierte Zukunft zu öffnen, auf deren Entgegenkommen der Glaube vertraut. Pannenberg kann in diesem Zusammenhang signifikanterweise von einer „Preisgabe des schon erreichten eigenen Wissens im Akt des Glaubens“ (147) sprechen. Zwar sei dies erst der letzte Schritt rechten theologischen Erkennens, „der selbst aus der Eigenart des glaubensbegründenden Wissens motiviert ist“ (ebd.); aber durch den Umstand, wonach rechte theologische Erkenntnis im Bewusstsein ihrer Vorläufigkeit darauf angelegt ist, ihn zu tun, werde unmissverständlich angezeigt, dass „sie sich nicht über den Glauben erheben, sondern in den Glauben münden“ (ebd.) wird. Aus der Distanz von 20 Jahren hat Pannenberg im Vorwort zur fünften Auflage von „Offenbarung als Geschichte“ erneut auf frühe Kritik an dem Programmentwurf des „Kreises“ Bezug genommen und resümiert: „Die damals herrschenden Richtungen der deutschen evangelischen Theologie – die Schule K. Barths und die R. Bultmanns – fühlten sich in ihrem Zentrum, bei der ins Mythische übersteigerten Formel vom Worte Gottes als nicht hinterfragbarem Prinzip der Theologie und der Verkündigung, angegriffen.“28 Daraus erkläre sich die Polemik, wie sie die Beiträge Steigers und insbesondere Kleins kennzeichne. Weitere polemische Reaktionen wie etwa diejenige des Marburger Theologen Ernst Fuchs29 ließen sich benennen, was sich aber insofern erübrigt, als das nung der Vernunft mit dem Glauben, in: Sonntagsblatt 1961/Nr. 29, 31. Vgl. G. Wenz, Theologie der Vernunft. Zum unveröffentlichten Manuskript einer Münchener Vorlesung Wolfhart Pannenbergs vom SS 1969, in: ders. (Hg.), Vom wahrhaft Unendlichen, 355–377. 28 W. Pannenberg, Vorwort zur 5. Auflage, in: ders., Offenbarung als Geschichte, Göttingen 5 1982, V–XV, hier: V. 29 Fuchs hält den ideologischen Charakter von „Offenbarung als Geschichte“ für ausgemacht, die Vertreter des Pannenberg-Kreises für verblendet: „Das Unternehmen – sofern es auf das

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von Pannenberg mit einer neuen Fragestellung problematisierte Verhältnis von Wort und Geschichte … von der Worttheologie selbst … im Grunde genommen nur durch die Wiederholung der eigenen Position und nicht durch die Neuaufnahme der Problematik selbst diskutiert30 Programm der Geschichte selbst rekurriert, wird es freilich kein Programm sein wollen – ist gegen seinen eigenen ideologischen Charakter starblind.“ (E. Fuchs, Theologie oder Ideologie? Bemerkungen zu einem heilsgeschichtlichen Programm, in: ThLZ 88 [1963], Sp. 257– 260, hier: 260; vgl. ebd.: „Wenn Wilckens Recht hat, dann lohnt es sich nicht mehr, das Neue Testament zu pflegen.“) Ungleich differenzierter, aber mit vergleichbarem Ergebnis urteilt H.-G. Geyer, Geschichte als theologisches Problem, in: EvTh 22 (1962), 92–104. Geyers Analyse des Programms von „Offenbarung als Geschichte“ kreist um die beiden „Korrelatthese(n)“ (98; bei G. gesperrt) „von der wesenhaften Bindung des geschichtlichen Bewußtseins an den biblischen Glauben“ (95; bei G. gesperrt) und „von der wesenhaften Bindung des christlichen Glaubens an geschichtliches Denken“ (98; bei G. gesperrt). Ihr Resultat, das zugleich als systematische Prämisse fungiert, besteht in der kerygmatheologischen Annahme, dass „der Grund des Glaubens kein Faktum der Vergangenheit“ (100; bei G. gesperrt) sei: „im Kerygma, als der Heilsbotschaft von Jesus Christus, ist die Geschichte Jesu Christi, die an ihr selbst das Ereignis der Selbstoffenbarung Gottes ist, als die universale Verheißung zur Sprache gekommen, um aus dem bewegenden Unterschied ihres eschatologischen Vorsprungs zur Geschichte je neu in der von ihr überholten und befristeten und so gerichteten und geretteten Zeit zu Wort und Mensch zu kommen. Darin setzt das Kerygma die in Jesus Christus geschehene Selbstkundgabe Gottes, oder, um den Schein der Distinktion gänzlich zu tilgen: die in der Auferweckung terminierende Geschichte Jesu Christi und also Jesus Christus selbst zu Grund und Inbegriff der Hoffnung und hebt sie zugleich als Gegenstand der Erinnerung und in Prolongation als Gegenstand historischer Erkenntnis auf.“ (102) Geyers Ausführungen enden mit dem Aufruf zu „radikale(m) Verzicht darauf, in der vergangenen Geschichte die Wahrheit des Kerygmas entdecken zu wollen“ (104; vgl. dazu G. Wenz, Vom apostolischen Osterzeugnis. Notizen zu Gedanken Hans-Georg Geyers, in: D. Korsch/H. Ruddies [Hg.], Wahrheit und Versöhnung. Theologische und philosophische Beiträge zur Gotteslehre, Gütersloh 1989, 167–189). 30 P. Eicher, Offenbarung. Prinzip neuzeitlicher Theologie, München 1977, 435. Eicher hat die „Pannenbergdiskussion von 1961–1972“ (vgl. 433–439) in Grundzügen nachgezeichnet. Die einschlägigen Texte sind bei ihm benannt, die in ihnen geltend gemachten Vorbehalte aufgeführt. Ein früher römisch-katholischer Debattenbeitrag stammt von den Innsbrucker Jesuiten G. Muschalek und A. Gamper, Offenbarung in Geschichte, in: ZkTh 86 (1964), 180–196. Die beiden zentralen Anfragen lauten: „Gibt es Selbstoffenbarung Gottes tatsächlich nur indirekt im Ablauf der Geschichte?“ (187) „Wird die Offenbarung wirklich jedem zuteil, der das geschichtliche Handeln Jahwes erfährt?“ (188) Die Autoren beantworten sie auf der Basis der traditionellen Unterscheidung von Natur und Übernatur, die sie zum Kriterium der Beurteilung des Pannenbergschen Offenbarungskonzepts erklären, die dann „naturgemäß“ kritisch ausfällt. Pannenberg hat zum Text in einem Schreiben an Muschalek vom 7. 8. 1964 Stellung genommen, dessen Durchschlag an die Redaktion der ZkTh ging. Darin hebt er noch einmal nachdrücklich hervor, dass wie alles Geschehen auch Ereignisse, denen Offenbarungsqualität zuzuerkennen sei, ihren Sinn aus dem überlieferungsgeschichtlichen Zusammenhang gewinnen, in dem Geschehen und Wort ursprünglich verbunden sind. Weder vertrete er einen Faktenpositivismus noch eine supranaturale Theorie transhistorischer Heilsgeschichte noch auch eine Worttheologie, die den Zusammenhang von Sprache und Geschichte auflöse. Was aber die von Muschalek und Gamper betonte Gnadengewirktheit des Glaubens betreffe, so wolle er nicht sie, sondern lediglich ihre supranaturalistische Deutung bestreiten.

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wurde. Pannenberg teilte diese Einschätzung, zu der Peter Eicher im Zuge seiner Darstellung der Diskussionen der Programmschrift von „Offenbarung als Geschichte“ im Jahrzehnt nach ihrem erstmaligen Erscheinen gelangt war31, und nimmt deshalb auf die frühen Auseinandersetzungen lediglich kurz Bezug. Eigens zu vermerken ist im gegebenen Zusammenhang nur noch die ebenso knappe wie scharfe Replik auf Jürgen Moltmann, der die weitgehende Übernahme von Thesen dieses Buches in seiner ‚Theologie der Hoffnung‘ 1964 durch den Nebel einer polemischen Auseinandersetzung (verdeckt habe), die einen imaginären Gegner vernichtete, sich aber den hier aufgeworfenen Problemen nicht stellte, vielleicht mit Ausnahme der Frage nach dem Verhältnis von Verheißung und Überlieferung, deren Spannung aber allzu umstandslos im Sinne der herrschenden Worttheologie in eine ‚Wirkungsgeschichte des Wortes‘ aufgelöst wurde (V)32. 31 Auch Eichers Erhebung des Offenbarungsbegriffs zum „Prinzip neuzeitlicher Theologie“ pflichtet Pannenberg bei (vgl. VI Anm. 4). Zu dessen Kritik an der Vorstellung vom Ende der Geschichte, wie sie im „Kreis“ angeblich vertreten worden sei, vgl. XIII Anm. 13. Eine englischsprachige Zusammenfassung der frühen Debatte um das Programm von „Offenbarung als Geschichte“ bietet C. E. Braaten, The Current Controversy on Revelation: Pannenberg and his Critics, in: The Journal of Religion 45 (1965), 225–237. 32 In der Einführung zu seinem Vortrag „Der offenbarungstheologische Ansatz in der Trinitätslehre“ bei der Tübinger Festveranstaltung anlässlich des 80. Geburtstags von Jürgen Moltmann hat Wolfhart Pannenberg nicht nur an die neue Gesprächsimpulse setzende Ansprache erinnert, die der Jubilar drei Jahre zuvor aus vergleichbarem Anlass in München zum Thema „Wege zu einer trinitarischen Eschatologie“ gehalten hatte, sondern auch die fast ein halbes Jahrhundert zurückliegenden Anfänge des Gesprächs beider während der gemeinsamen Lehrtätigkeit an der Kirchlichen Hochschule in Wuppertal in den Jahren 1958 bis 1961 ins Gedächtnis gerufen. Beide seien mit der Bedeutung der Eschatologie für die Theologie insgesamt beschäftigt gewesen, er, Pannenberg, im Zusammenhang der Ausarbeitung des Programms von „Offenbarung als Geschichte“, Moltmann in Vorbereitung seiner „Theologie der Hoffnung“, die dann 1964 erschienen ist. Im 7. Paragraphen („Geschichte“ als indirekte Selbstoffenbarung Gottes) des 1. Kapitels (Eschatologie und Offenbarung) von Moltmanns Hoffnungstheologie wird explizit auf den Entwurf Pannenbergs und seines „Kreises“ Bezug genommen. Der Ansatz der universalgeschichtlichen Konzeption, so Moltmann, gehe „von dem Beweis Gottes aus dem Kosmos, bzw. dem Aufweis der Frage nach Gott aus dem Aufweis der Frage nach der Wirklichkeit im Ganzen“ (J. Moltmann, Theologie der Hoffnung. Untersuchungen zur Begründung und zu den Konsequenzen einer christlichen Eschatologie, München [1964] 81969, 67. Die nachfolgenden Seitenverweise in dieser Anmerkung beziehen sich hierauf.) aus, sodass sie sich „zunächst offensichtlich als eine Erweiterung und Überholung der griechischen Kosmostheologie“ (68) darstelle mit der Folge einer Preisgabe der ursprünglich in Anschlag gebrachten Spannung von Verheißung und noch nicht erfolgter Erfüllung: Der Verheißungsgott des Alten Testaments drohe auf diese Weise „zu einem Theos epiphanes zu werden, dessen Epiphanie das Ganze der Wirklichkeit darstellen wird in ihrer Vollendung“ (69). Der eschatologische Vorbehalt, der die Offenbarung Gottes in Jesus Christus als proleptischantizipatorisch kennzeichne, behebe diese Gefahr nicht, weil er durch die Behauptung der Historizität der Auferweckung Jesu und die damit gegebene Einzeichnung des österlichen Offenbarungsgeschehens in einen gegebenen Geschichtsbegriff faktisch unterlaufen werde. Die anschließenden Ausführungen zum „Streit zwischen Worttheologie und Geschichtstheologie“ (70) bestätigen Moltmann die Richtigkeit seiner Annahme. Zwar ist er bemüht,

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Neben Moltmann werden unter den Diskutanten der 60er Jahre allein Althaus und W. Zimmerli namentlich erwähnt, der in der Zeitschrift für „Evangelische Theologie“ 1962/63 mit Rolf Rendtorff über Fragen alttestamentlicher Exegese stritt. R. Rendtorff taucht dann an späterer Stelle erneut auf und zwar, weil er sich inzwischen von seiner einstmaligen These distanziert hatte, wonach sich die Rede des Alten Testaments von Jahwes Offenbarung fortschreitend eschatologisiert und auf Zukunft hin ausgerichtet habe. Pannenberg verteidigt die Richtigkeit dieser These gegen Rendtorffs aktuelle Bestreitungen (vgl. VIIIff.)33 und weist des den überlieferungsgeschichtlichen Ansatz in das Konzept seiner Hoffnungstheologie insbesondere durch Rezeption apokalyptischer Überlieferungsbestände zu integrieren. Aber: „Der apokalyptische Erwartungshorizont reicht keineswegs aus, um die nachösterliche Apokalyptik der Gemeinde zu begreifen.“ (73) Von ihr her müssten die apokalyptischen Traditionen und ihre universalgeschichtlichen Prämissen, Implikationen und Folgen modifiziert und transformiert werden. Dies sei im Entwurf von „Offenbarung als Geschichte“ nicht hinreichend geschehen, was sich vor allem darin zeige, dass infolge einer „Einlinigkeit universalgeschichtlicher Apokalyptik“ (ebd.) „die theologische Bedeutung des Kreuzes Jesu hinter seiner Auferweckung“ (ebd.) zurücktrete. Moltmann schließt den Paragraphen mit dem signifikanten Satz: „Für die Theologen geht es nicht darum, die Welt, die Geschichte und das Menschsein nur anders zu interpretieren, sondern sie in der Erwartung göttlicher Veränderung zu verändern.“ (74) 33 Unter Verweis auf R. Rendtorff, Offenbarung und Geschichte. Partikularismus und Universalismus im Offenbarungsverständnis Israels, in: J. J. Petuschowski/W. Strolz (Hg.), Offenbarung im jüdischen und christlichen Glaubenszeugnis, 1981, 37–49. Ulrich Wilckens hat unlängst sein Bedauern darüber zum Ausdruck gebracht, dass aus dem Pannenbergkreis bzw. „aus dem Programm der Gruppe keine theologische Schule geworden (ist), die als Widerlager gegen die sich dann rasch verbreitende neu-liberale Theologie hätte wirken können“ (U. Wilckens, Theologie des Neuen Testaments. Bd. III: Historische Kritik der historisch-kritischen Exegese. Von der Aufklärung bis zur Gegenwart, Göttingen 2017, 379). Während er Trutz Rendtorff ähnlich wie Dietrich Rössler „im Bereich der religionsgeschichtlichen Konzeption von Ernst Troeltsch“ (ebd. Anm. 991) verortet und die beiden alttestamentlichen Exegeten des Kreises verschiedene – dem Ursprungsprogramm nur noch bedingt oder gar nicht mehr verpflichtete – Wege gehen sieht (ebd.: „Klaus Koch mit dem nahezu exklusiven Schwerpunkt auf der Einbettung des Alten Testaments in der Religionsgeschichte des Alten Orients. Rolf Rendtorff stellte das jüdisch-christliche Verhältnis in die Mitte seiner ‚Theologie des Alten Testaments. Ein kanonischer Entwurf‘, Bd. 1 [1999]; Bd. 2 [2001].“), weiß sich Wilckens nach eigener Einschätzung mit seinem Konzept einer „Theologie des Neuen Testaments“ „am nächsten“ (ebd.) bei Pannenberg, der die ursprüngliche Einsicht von „Offenbarung als Geschichte“ in konsequenter Systematik entfaltet habe. Die Gründe für diese Annahme sind im Abschlussband des groß angelegten Werkes detailliert expliziert. Im Rahmen seiner historischen Kritik der historisch-kritischen Exegese von der Aufklärung bis zur Gegenwart kommt Wilckens zuletzt auf die, wie er sie nennt, heilsgeschichtliche Theologie Wolfhart Pannenbergs zu sprechen, die er als „Basis eines Neuanfangs“ (378) qualifiziert, weil sie unter gegenwärtigen Bedingungen die besten Voraussetzungen für eine Überwindung historisch-kritischer Exegese aus ihrem historisch-kritischen Verständnis heraus biete. Bereits im Werk Karl Barths, dem man „hohe Achtung nicht versagen“ (335) könne, sei die Grundproblematik erstmals klar zutage getreten, „die die protestantische Theologie seit der Aufklärung beherrscht und die zu überwinden zuvor keine ihrer Schulrichtungen in der Lage gewesen ist: ein ungewollter Atheismus, der sich überall dort einstellt,

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weiteren dessen Vorwurf zurück, in „Offenbarung als Geschichte“ sei bezüglich des Verhältnisses von Judentum und Christentum implizit eine „Substitutionstheorie“ vertreten worden (vgl. XI Anm. 9). Da „die Gestalt Jesu Christi … nicht

wo in der Neuzeit Autonomie mit christlichem Glauben verbunden sein soll“ (ebd.). Doch habe die Dominanz der Dialektischen Theologie „seit den 1960er Jahren ein rasches Ende gefunden“ (354). Die produktivste Fortentwicklung des Barthschen Ansatzes findet Wilckens in der Theologie Pannenbergs, „der im Kern die von Barth aufgenommene Grundthese der Selbstoffenbarung Gottes zugrunde lieg(e)“ (379), die aber nicht mehr einseitig kerygmatheologisch, sondern im Kontext einer umfassenden Geschichtstheologie entfaltet werde. „International“, so Wilckens, „wurde Pannenberg durch zwei Generationen hindurch – besonders in den USA – als der wichtigste und wissenschaftlich interessanteste Repräsentant deutscher Theologie nach Karl Barth hoch geachtet. In Deutschland selbst dagegen blieb er relativ isoliert. Offenbar hat man die Weise, wie er echte Theo-logie, in Aufnahme und Weiterführung der Philosophie Hegels, mit Geschichts-, Natur- und Kulturwissenschaft verbindet, nicht verstanden bzw. nicht akzeptiert. Einerseits erscheint er wegen seiner theologischen heilsgeschichtlichen Grundlegung und der von daher begründeten Bekräftigung der geschichtlichen Wirklichkeit der Auferstehung Jesu als unzeitgemäß-konservativ, andererseits wiederum wegen seines ‚universalgeschichtlichen‘ Ansatzes und der Breite des Dialogs mit nahezu allen Wissenschaften als allzu philosophisch orientiert.“ (381) Sein eigenes Verhältnis zu Pannenbergs Theologiekonzeption beschreibt Wilckens wie folgt: „Vielleicht kann man tatsächlich einwenden, dass bei Pannenberg die Wirklichkeit Gottes selbst in seinem ‚personalen‘ Gegenüber als Schöpfer des Weltalls und Herr aller Menschen und der ‚Gottesgedanke‘ in israelitisch-christlicher Überlieferung zu wenig deutlich unterschieden sind. Ferner erscheint, aufgrund des Unterschieds zwischen der Zukunft der Endvollendung der Selbstoffenbarung Gottes und der Gegenwart ihrer ‚proleptischen‘ Inanspruchnahme in Glaube und Verkündigung, der Wahrheitsanspruch aller Theologie allzu pauschal als hypothetische Behauptung, die der endzeitlichen Bewährung bedarf, sodass diese im Ganzen seines Systems allzu sehr den Charakter vorläufiger Wahrheit zu bekommen scheint. Gewiss ist in der Auferweckung Jesu die endzeitliche Totenauferweckung als wirkliches Geschehen ‚vorwegereignet‘; und insofern sich alle Theologie auf dieses Ereignis gründet, hat sie in der Tat ‚antizipatorischen‘ Charakter. Die Auferweckung Jesu selbst aber ist ja doch auch in ihrem Charakter als Vorausereignis des Endgeschehens bereits selbst vollauf eschatologische Wirklichkeit; und darum ist auch alle Verkündigung und Theologie, sofern sie sich auf dieses Geschehen der Auferstehung Jesu gründet, durchaus und vollauf eschatologisch wahr. Hypothetischen Charakter können nur die gedanklichen Explikationen und ‚Systeme‘ christlicher Theologien haben. So wahr diese sich aber in all ihrer Verschiedenheit auf die Geschehenswirklichkeit der Auferstehung Jesu berufen, die sie im Zeugnis des Neuen Testaments vorfinden, haben auch diese einen gemeinsamen eschatologischen Wahrheitsgrund – eben weil sich in der geschichtlichen Tatsache der Auferweckung Jesu aus seinem Kreuzestod die endzeitliche Wirklichkeit der Totenauferweckung tatsächlich ereignet hat, wie immer der Zukunft ihrer endgültigen Offenbarung voraus. Darum kommt es so entscheidend darauf an, dass die Theologen der Gegenwart Wege finden, diesen einen Wahrheitsgrund gemeinsam zu bezeugen.“ (381f.) Trotz seiner kritischen Vorbehalte kann nach Urteil von Wilckens „das Werk Pannenbergs zu einer Wende in der evangelischen Theologie der Gegenwart führen: Indem es seinen Ort auf der von Karl Barth gelegten Basis nimmt, diese aber sowohl theo-logisch konkretisiert als auch wissenschaftsdialogisch erweitert, trägt es maßgeblich dazu bei, die von Barth nicht geleistete Begründung seiner Position durch biblische Präzisierung der Rede von Gottes geschichtlichem Heilshandeln und deren rationale Begründung nachzuholen und so die

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ohne Israel und nicht ohne die Geschichte seiner Gottesoffenbarung“ (XI) gedacht werden könne, sei die Annahme, das Christentum habe das Judentum ersetzt, sowohl historisch als auch systematisch abwegig und von Pannenberg und seinem ursprünglichen „Kreis“ so nie vertreten worden. Abgesehen von seiner Stellungnahme zu kritischen Einwänden von Seiten Einzelner ist es Pannenberg im Vorwort zur fünften Auflage von „Offenbarung als Geschichte“ hauptsächlich darum zu tun, das Grundanliegen und Elementarmotiv der Programmschrift zu Bewusstsein zu bringen, weil diese bisher noch nicht hinreichend wahrgenommen, ja durch „das unzutreffende, den differenzierten theologiegeschichtlichen Sachverhalt grob verzeichnende Klischee eines theologischen Hegelianismus verdeckt“ (VI) worden seien. Kaum bedacht habe man bisher die Fragen nach dem Verhältnis von Gotteswirklichkeit und Welt, die den neuzeitlichen Problemhorizont des Buches bilden: Angesichts der neuzeitlichen Infragestellung überlieferten Gottesglaubens (und nicht zuletzt des Glaubens an das inspirierte Gotteswort der Bibel) vermittelt der Gedanke der Selbstoffenbarung die sich gegen Gott verselbständigende Welt mit Gott durch die Konzeption einer Geschichte, die diese Welt durch Gericht und Versöhnung hindurch in den Ort der Herrlichkeit Gottes und der endgültigen Offenbarung seiner Herrlichkeit durch eschatologische Affirmation seines Schöpfungswillens verwandelt. (Vf.)

Um einen weiteren Anstoß zur Würdigung der Zentralintention des Programms von 1961 zu geben, erörtert Pannenberg erneut und eingehend die bibeltheologischen sowie neuzeitspezifischen Prämissen und Implikationen seines Offenbarungsbegriffs (vgl. VIff.) und zwar mit dem Ausdruck der Hoffnung, dass die Zeit einer angemessenen Würdigung des Beitrags von „Offenbarung als GeIsolation aufzuheben, in die Barth – durchaus willentlich – geraten war und die der tiefere Grund dafür ist, dass die Dialektische Theologie sich in der evangelischen Theologie nicht auf Dauer hat durchsetzen können. Einerseits ist die theo-logische Korrektur des Verhältnisses von Wort und Handeln Gottes biblisch schlechthin richtig und trägt so auch zu einem Verständnis der heilsgeschichtlichen Einheit des Alten und Neuen Testaments bei, ja, darüber hinaus auch der heilsgeschichtlichen Einheit von Schrift und Christentumsgeschichte. Das ist zugleich auch ein wesentlicher Beitrag zu einer ökumenisch-theologischen Lösung des Problems ‚Schrift und Tradition‘. Andererseits bietet Pannenberg durch sein theo-logisches Verständnis der Vernunft auch eine Möglichkeit, das Verhältnis von Glaube und Vernunft neu zu verstehen und so eine Brücke zwischen Theologie und Philosophie zu schlagen – anders als bei Bultmann, der nur Heidegger folgte – auf der wesentlich tragfähigeren Basis einer kritischen Aufnahme der Hegel’schen Philosophie. Auf diese Weise öffnet Pannenberg die Türen für Nichtchristen der Gegenwart, den christlichen Glauben zu verstehen, indem er zugleich seit langem verfestigte Vorurteile beseitigt. Von daher erklärt sich auch, dass Pannenberg aufseiten der katholischen Kirche und Theologie ein besonders hohes Ansehen genießt. Ja, es gibt gute Gründe, ihn als den führenden ökumenischen Theologen der gegenwärtigen evangelischen Kirche zu sehen.“ (382; vgl. insgesamt auch ders., Kritik der Bibelkritik. Wie die Bibel wieder zur Heiligen Schrift werden kann, Neukirchen 2012; dazu meine Rezension in: ThRev 109 [2013], Sp. 470–473.)

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schichte“ zur theologischen Lösung der durch die Moderne aufgegebenen Probleme noch kommen wird. Pannenberg schließt mit einem Hinweis auf den Wittenberger Professor und Predigerseminardirektor Carl Ludwig Nitzsch, der mit seiner Schrift „De Revelatione Religionis externa eademque publica prolusiones academicae“ (Leipzig 1808) am Anfang der Entwicklung gestanden habe, die Geschichte als Medium der Offenbarung so in Betracht zu ziehen, dass mit dem Gegensatz von Rationalismus und Supranaturalismus auch alle anderen abstrakten Alternativen behoben werden, die sich mit der überkommenen Offenbarungstheologie verbunden hätten.34 Die theologische Programmschrift des Pannenbergkreises ist aus dem spezifischen Kontext der evangelischen Theologie in Deutschland in den 50er Jahren des 20. Jahrhunderts heraus erwachsen. Auch die ersten Stellungnahmen nach der 1961 erfolgten Publikation von „Offenbarung als Geschichte“ stammten aus dem Bereich des deutschen Protestantismus. Doch blieb die Debatte um die Texte und insbesondere um die dogmatischen Thesen Pannenbergs zur Lehre von der Offenbarung nicht lange hierauf beschränkt. Sie fand bald nicht nur interkonfessionell, sondern auch im internationalen Rahmen statt, wie das von James M. Robinson und John B. Cobb, Jr. herausgegebene Sammelwerk „Theology as History“ für die USA belegt, wo Pannenbergs Theologie besonders nachhaltig wirken sollte. Der Band dokumentiert eine Tagung, die an der Divinity School der Vanderbilt University stattfand und intensive Gespräche der beteiligten Autoren ermöglichte, und ist im Jahr 1967 auch auf Deutsch erschienen. Er enthält einen bereits 1963 abgeschlossenen Text Pannenbergs über „Die Offenbarung Gottes in Jesus von Nazareth“, der als Gesprächsgrundlage diente, und folgende Dialogbeiträge: M. Buss, Der Sinn der Geschichte; K. Grobel, Offenbarung und Auferstehung; W. Hamilton, Die Eigenart der Theologie Pannenbergs. John Cobb fasst die Diskussionen des Symposions unter dem Titel „Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft“ zusammen. Den Schluss bildet eine ausführliche Stellungnahme Pannenbergs zur Diskussion, die sich auf die Themen Offenbarung, Geschichte sowie Glauben und Wissen konzentriert.35 Sie ist auch für die skizzierte frühe Debattenlage zu „Offenbarung als Geschichte“ innerhalb der deutschen evangelischen Theologie sachlich sehr aufschlussreich, etwa was die Auseinandersetzung mit Jürgen Moltmanns „Theologie der Hoffnung“ und 34 Auch im Epilog der „Problemgeschichte der neueren evangelischen Theologie in Deutschland“ (Göttingen 1997, 350–356, hier: 353) hat Pannenberg Nitzsch neben Richard Rothe eine wichtige Stellung im Zusammenhang der theologischen Thematisierung der Geschichte als Offenbarungsmedium zuerkannt. Zu den Sachfragen, die sich mit seinem Namen verbinden, vgl. bes. ders., Systematische Theologie. Band I, Göttingen 1988, 241ff. 35 W. Pannenberg, Stellungnahme zur Diskussion, in: J. M. Robinson/J. B. Cobb, Jr. (Hg.), Theologie als Geschichte (Neuland in der Theologie. Ein Gespräch zwischen amerikanischen und europäischen Theologen Bd. III), Zürich/Stuttgart 1967, 285–351.

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insbesondere mit der von diesem verfolgten Konzeption von „Verheißung und Erfüllung“ betrifft.36 Interessant sind ferner die Anmerkungen zu G. Sauter37 oder zu O. Cullmann, der in der aktuellen Theologie die „Differenz zwischen Heils- und Profangeschichte … am nachdrücklichsten“38 betone. Zusätzlichen Wert erhält der Sammelband durch die einleitende theologiegeschichtlich-systematische Übersicht über die bestehende Problemlage von J. M. Robinson, Theologieprofessor für Neues Testament an der Claremont Graduate University, California, und im deutschen Sprachgebiet vor allem durch seine Studie „Kerygma und historischer Jesus“ bekannt geworden.39 Nach einführenden Erwägungen über „Die theologische Erfahrung zeitgenössischer Geschichte“ (vgl. 13–25), der auch Bemerkungen zur Biographie Pannenbergs (vgl. etwa 22 Anm. 26: „Pannenbergs eigener Weg zum Christentum war mehr ein Weg rationaler Reflektion als ein Weg christlicher Erziehung oder der einer Bekehrungserfahrung gewesen.“) und zur Genese seines „Kreises“ (vgl. bes. 24f. Anm. 37) beinhaltet, bestimmt Robinson den „Ort der neuen Position im theologischen Spektrum“ (vgl. 25–63) und zwar unter besonderer Berücksichtigung der programmatischen Kritik von „Offenbarung als Geschichte“ an der sog. Wort-Gottes-Theologie. Daran anschließend stellt er ausführlich „Die Debatte in der alttestamentlichen Wissenschaft“ (vgl. 63–87), wie sie „in erster Linie zwischen Rendtorff und Zimmerli geführt wurde“ (87), sowie „Die Debatte in der modernen systematischen Theologie“ (vgl. 88–134) dar, wobei er neben den frühen kritischen Stellungnahmen aus dem Bereich der deutschen Theologie, wie sie namentlich von Althaus (vgl. 90ff.), Steiger (vgl. 96ff.), J. Wirsching (vgl. 98ff.) und Klein (vgl. 102ff.) sowie von Moltmann (vgl. 121ff.; „sorgfältigste und bedeutendste Kritik“ [121]) vorgetragen wurden, kurz auch auf amerikanische Diskussionen (vgl. 132–134) eingeht, die seit dem Frühjahr 1963 anhoben, als Pannenberg Gastprofessor an der University of Chicago war und Vorlesungen an vielen Orten der USA hielt. Dass diese Diskussionen wie die in dem von Robinson und Cobb herausgegebenen Sammelband dokumentierten nur einen „Vorgeschmack bedeutender kommender Ereignisse“ (134) boten, beweisen u. a. die „Twelve American Critiques“, die in dem von Carl E. Braaten und Ph. Clayton herausgegebenen Band „The Theology of Wolfhart Pannenberg“ gesammelt 36 Vgl. a. a. O., 329ff. Besonders bemerkt zu werden verdient in diesem Zusammenhang 336 Anm. 45, wo Pannenberg unbeschadet des antizipatorischen Charakters des Ostergeschehens auf dem vollendeten Perfekt seines Geschehenseins insistiert: „Das Geschehensein des Endgültigen, das perfectum – ist die Grundlage des christlichen Inkarnationsglaubens geworden, der das Christentum vom bloßen Hoffnungswissen des jüdischen Glaubens unterscheidet.“ 37 Vgl. a. a. O., 332ff. Anm. 43. 38 A. a. O., 315ff. Anm. 24. 39 J. M. Robinson, Offenbarung als Wort und als Geschichte, in: ders./J. B. Cobb, Jr. (Hg.), a. a. O., 11–134. Die nachfolgenden Seitenverweise im Text beziehen sich hierauf.

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sind, der ein Vierteljahrhundert nach dem ersten Besuch des Herausgebers von „Offenbarung als Geschichte“ in den Vereinigten Staaten erschienen ist.40

40 C. E. Braaten/Ph. Clayton (Ed.), The Theology of Wolfhart Pannenberg. Twelve American Critiques, with an Autobiographical Essay and Response, Minneapolis 1988. Der autobiographische Essay Pannenbergs findet sich a. a. O., 11–18. Vgl. ferner: ders., An Intellectual Pilgrimage, in: D. R. Nelson/J. M. Moritz/T. Peters (Ed.), Theologians in Their Own Words, Minneapolis 2013, 151–161.

Martin Arneth

Alttestamentliche Aspekte der Programmschrift „Offenbarung als Geschichte“

1.

Eine Erinnerung an „Offenbarung als Geschichte“

Nach dem Altmeister der Historik, Johann Gustav Droysen1, ist die historische Forschung fundiert im Akt der Erinnerung, der für das historische Bewußtsein konstitutiv ist. Ausgangspunkt für die Erinnerung ist das, was von der Vergangenheit in der Gegenwart übriggeblieben ist und als Ausdruck menschlicher Handlung gelten und somit verstanden werden kann, nach Droysens Einteilung: Überreste, Denkmäler und Quellen. Dieser Gegenstandsbezug auf gegenwärtig Gegebenes sichert der Geschichtswissenschaft den Status als empirische Wissenschaft. 1980 erinnert sich der Heidelberger Alttestamentler Rolf Rendtorff in einem mit „Offenbarung und Geschichte“2 betitelten Beitrag an seinen gut 20 Jahre alten Aufsatz in „Offenbarung als Geschichte“3 und den damit verbundenen Programmkontext – und zwar so, wie das für Erinnerungsleistungen wohl immer typisch ist: sie vollziehen sich zwischen den Polen von Aneignung und Fremdsetzung. In Rendtorffs Erinnerung überwiegt dabei das Moment der Fremdsetzung gegenüber den Objektivationen der eigenen Wissenschaftsbiographie, also mit Blick auf seine Darstellung des Offenbarungsproblems im Alten Testament von 1961. Die Wandlung hängt mit seiner veränderten Einstellung zum Judentum zusammen, die hinsichtlich ihrer Motivationslagen in diesem Zusammenhang

1 J.G. Droysen, Historik. Rekonstruktion der ersten vollständigen Fassung der Vorlesungen (1857). Grundriß der Historik in der ersten handschriftlichen (1857/1858) und in der letzten gedruckten Fassung (1882). Textausgabe von Peter Leyh, Stuttgart-Bad Cannstatt 1977. 8ff.399ff. 2 R. Rendtorff, Offenbarung und Geschichte. Partikularismus und Universalismus im Offenbarungsverständnis Israels (1980), in: ders., Kanon und Theologie. Vorarbeiten zu einer Theologie des Alten Testaments, Neukirchen-Vluyn 1991, 113–122. 3 Vgl. R. Rendtorff, Die Offenbarungsvorstellungen im Alten Israel, in: OaG, 21–41; vgl. ders., Kontinuität im Widerspruch. Autobiographische Reflexionen, Göttingen 2007, 62f.

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Martin Arneth

nicht weiter erörtert werden muß4. Wolfhart Pannenberg hat auf die Kritik des Renegaten 1982 in der Vorrede zur 5. Auflage im Ton einerseits recht maßvoll reagiert, wenngleich seine Erinnerung an das 20 Jahre alte Programm stärker durch das Moment der „Aneignung“ bestimmt ist. Auf der anderen Seite gilt: Die Auseinandersetzung über Fragen zum Alten Testament nimmt in Pannenbergs Vorrede immerhin den meisten Raum ein. Zudem weist er im Rückblick 1982 selber darauf hin, daß es nach dem Erscheinen von „Offenbarung als Geschichte“ zu „einer sachlich gewichtigen und differenzierten Diskussion … damals am ehesten im Bereich der alttestamentlichen Exegese gekommen“5 sei. Die exegetischen Argumente aufzulisten, mit denen Rendtorff seinen Umschwung erläutert, ist in diesem Zusammenhang nicht ergiebig, zumal an vielen Stellen unsicher bleibt, ob Rendtorff das Gewicht des gedanklichen Problems, das sich mit der – wenngleich indirekten – Selbstoffenbarung Gottes6 verbindet, tatsächlich empfunden hat. Dem Problem der Selbstoffenbarung Gottes ist nicht mit der Beschwörung einzelner Bibelstellen beizukommen, in denen eine solche bereits für die mutmaßlichen Anfänge der israelitischen Religion einfach behauptet wird. Denn die Analyse der Belege für eine Selbstoffenbarung Jahwes setzt nicht nur voraus, daß von einem Offenbarungsvorgang bzw. Offenbarungsgeschehen die Rede ist, sondern zugleich auch die Rekonstruktion der Transzendenzstufe der jeweiligen Vorstellung vom Gott Jahwe. Von den Schwierigkeiten, die die späteren Rabbinen mit der Vorstellung der Erkennbarkeit Gottes gehabt haben, mal ganz zu schweigen7. Interessanter ist vielmehr eine andere Erinnerungsleistung Rendtorffs, die die Genese des Programms betrifft. Folgt man seinem Rückblick8, dann wurde die alttestamentliche Überlieferung in das Prolepse-Programm von „Offenbarung als Geschichte“ integriert, nachdem – erstens – Ulrich Wilckens mit dem Hinweis, die Auferstehung der Toten sei Zeichen des anbrechenden Eschatons, den Anstoß für das Konzept gegeben hatte, dies – zweitens – um den Gedanken ergänzt wurde, „daß sich der volle Sinn alles Geschehens erst von seinem Ende her“ enthülle, mithin auch die Selbsterschließung Gottes erst am Ende ‚erkennbar‘ sei, und daß – drittens – die Auferstehung Jesu „die Vorwegnahme des Endes in diesem einen Menschen sei“. Man kann sich des Eindrucks nicht ganz erwehren,

4 Vgl. dazu die – mit nicht geringem Selbstbewußtsein verfaßte – Autobiographie Rendtorffs: Kontinuität im Widerspruch, a. a. O., 77ff. 5 W. Pannenberg, OaG5. Vorwort, V. 6 Vgl. W. Pannenbergs Beiträge in OaG, 7ff.91ff. 7 Vgl. etwa U. Wilckens, Das Offenbarungsverständnis in der Geschichte des Urchristentums, OaG, 44ff. 8 Die folgenden Zitate finden sich alle bei R. Rendtorff, Offenbarung und Geschichte, a. a. O., 114.

Alttestamentliche Aspekte der Programmschrift „Offenbarung als Geschichte“

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Rendtorff erinnere die Genese so, als sei die sekundäre Fundierung des Programms im alttestamentlichen Vorlauf etwas unorganisch erfolgt. Ob die Erinnerung nun trügt oder nicht – an dieser Stelle schlummert in der Tat ein Problem von gewisser Tragweite, zumindest für alle, die eine „Krise des Schriftprinzips“ in welcher Form auch immer nicht nur diagnostizieren, sondern gleichzeitig auch darunter leiden. Denn der Satz: „Der volle Sinn alles Geschehens enthülle sich erst von seinem Ende her“ gehört traditionsgeschichtlich in den Kontext der sogenannten Apokalyptik – ist aber, wie wir gleich sehen werden, im Zusammenhang der Apokalyptikdeutung forschungsgeschichtlich alles andere als eindeutig und – je nach Ausprägung derselben – dann für die Integrationsmöglichkeiten der alttestamentlichen Traditionen folgeträchtig.

2.

Das Problem der Apokalyptikdeutung

„Ratlos vor der Apokalyptik“ lautet der Titel einer kleinen Monographie, die der „dem Pannenberg-Kreis“ nahestehende Alttestamentler Klaus Koch 1970 veröffentlichte9. Der Titel gibt auch noch knapp 10 Jahre nach dem Erscheinen von „Offenbarung als Geschichte“ das Unbehagen wieder, das sich mit dem Stichwort „Apokalyptik“ verbindet. Obwohl die im Zuge der religionsgeschichtlichen Entwicklung im 2. Jh. v. Chr., insbesondere im Kontext der Erschütterungen durch die religionspolitischen Maßnahmen des Seleukidenherrschers Antiochos IV. Epiphanes (175–164 v. Chr.) entstandenen apokalyptische Texte – vornehmlich das literarisch mehrstufige Danielbuch10 – gegenstandsbedingt zur vorgegebenen Interessenssphäre der alttestamentlichen Wissenschaft gehören, erzeugt „das jüngste theologische Phänomen im Alten Testament“11 hin und wieder ein gewisses „Fremdkörpergefühl“, zumal es durchaus Unklarheiten bei der traditionsgeschichtlichen Herleitung des Phänomens gibt. Auf die entsprechende Klassifizierung der Apokalypsen als „krause Gebilde“ hatte Ulrich Wilckens in seinem Beitrag eigens hingewiesen12.

9 K. Koch, Ratlos vor der Apokalyptik. Eine Streitschrift über ein vernachlässigtes Gebiet der Bibelwissenschaft und die schädlichen Auswirkungen auf Theologie und Philosophie, Gütersloh 1970. Interessanterweise ist es aber nicht Klaus Koch, der innerhalb des für „Offenbarung als Geschichte“ verantwortlichen Arbeitskreises für die Hintergrundklärung des Apokalyptik-Problems hervortritt, sondern Dietrich Rössler und Ulrich Wilckens, obwohl Koch bereits 1961 einen einschlägigen Aufsatz veröffentlicht hat: Spätisraelitisches Geschichtsdenken am Beispiel des Buches Daniel, HZ 193, 1961, 1–32. 10 Genannt werden können auch die sog. „Jesaja-Apokalypse“ (Jes 24–27) oder „Tritosacharja“ (Sach 12–14), auch wenn diese anders zu kontextualisieren sind als das Danielbuch. 11 J. Jeremias, Theologie des Alten Testaments, GAT 6, Göttingen 2015, (446–459) 446. 12 U. Wilckens, a. a. O., 49.

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Im Programm „Offenbarung als Geschichte“ nimmt die Apokalyptik indes eine gewisse Schlüsselstellung für die Korrelation von neutestamentlich-christologischer Traditionsbildung und alttestamentlichem Traditionsstrom ein13 – und im Zuge seiner Erörterung im Umkreis von „Offenbarung als Geschichte“ tauchen vornehmlich zwei einschlägige Untersuchungen auf: einerseits Rudolf Bultmanns Monographie „Geschichte und Eschatologie“ (1958), die deutsche Übersetzung seiner in Edinburgh Anfang 1955 gehaltenen und thematisch weit ausgreifenden Gifford Lectures14, andererseits Dietrich Rösslers unter der Ägide von Günther Bornkamm in Heidelberg abgefaßte neutestamentliche Dissertation „Gesetz und Geschichte“ (1957, veröffentlicht 1960)15. Die beiden Entwürfe sind geeignet, das Problem kurz zu umreißen und den Anschlußpunkt für die alttestamentlichen Überlieferungen zu markieren. Rudolf Bultmann hat die seiner Einschätzung nach bestehende Unvereinbarkeit der im Wesentlichen dualistischen Eschatologie mit alttestamentlichen Anschauungen prägnant hervorgehoben. Um das deutlich zu machen, reichen einige wenige Zitate: Eine „eigentliche Eschatologie als die Lehre vom Ende der Welt und von einer darauffolgenden Heilszeit enthält das Alte Testament noch nicht, schon deshalb nicht, weil diese Vorstellung dem alttestamentlichen Gottesgedanken nicht entsprechen würde, und zwar aus zwei einander scheinbar widersprechenden Gründen: Erstens widerstreitet der Dualismus der Äonen-Anschauung der Vorstellung von Gott als dem Schöpfer, und zweitens ist im Alten Testament Gott nicht als der Weltengott gedacht, sondern als der Herr der Geschichte. Dabei ist aber nicht die Weltgeschichte in den Blick gefaßt, sondern die Geschichte des Volkes Israel“16.

13 Ein für „Offenbarung als Geschichte“ gewissermaßen „zeitgenössischer“ Problemaufriß findet sich bei O. Plöger, Theokratie und Eschatologie, WMANT 2, Neukirchen-Vluyn 1959, 9ff.37ff.; vgl. auch K. Koch/J.M. Schmidt, Apokalyptik, WdF CCCLXV, Darmstadt 1982, 1–29. 14 R. Bultmann, Geschichte und Eschatologie, Tübingen 1958. Der Entstehungskontext der Monographie bedingt auch die Auswahl der angeführten Sekundärliteratur. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, daß mit Blick auf die alttestamentliche Geschichtsauffassung an deutschsprachiger Literatur lediglich Gustav Hölscher (Die Anfänge der hebräischen Geschichtsschreibung, Heidelberg 1942) zitiert wird. Die einschlägigen Untersuchungen etwa von Martin Noth und Gerhard von Rad (s. u.) spielen lediglich vermittelt durch E. Voegelin, Order and History I. Israel and Relevation, Louisiana 1956, eine Rolle. 15 D. Rössler, Gesetz und Geschichte. Untersuchungen zur Theologie der jüdischen Apokalyptik und der pharisäischen Orthodoxie, WMANT 3, Neukirchen-Vluyn 1960. 16 R. Bultmann, a. a. O., 28f. Vgl. auch a. a. O., 23: „Im Alten Testament wird die Geschichte als Einheit verstanden, aber nicht analog zur Natur als beherrscht durch immanente Gesetze …, sondern ihre Einheit ist gegeben durch ihren Sinn: die Führung oder die Erziehung Gottes. Sein Plan gibt dem Lauf der Geschichte eine Richtung in beständigem Kampf mit den Menschen. Aus der Tatsache dieses Kampfes erwächst ein Problem: Wenn es vom Gehorsam der Menschen abhängt, ob das Ziel der Geschichte erreicht werden kann, dann erhebt sich die Frage: Wie kann die göttliche Verheißung erfüllt werden? Diese Frage kann nicht beantwortet werden, weil das zukünftige Heil im Alten Testament als ein innerweltliches gedacht ist. Erst

Alttestamentliche Aspekte der Programmschrift „Offenbarung als Geschichte“

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Der Gott Israels als Herr der Geschichte ist also der Geschichtsvorstellung der Apokalyptik, die mit Daniel einsetzt, diametral entgegengesetzt. Und das Problem verschärft sich noch, denn Bultmann klassifiziert die Vorstellung vom Ende der Geschichte in der Apokalyptik des näheren als „Entgeschichtlichung der Geschichte“17: An die Stelle der alten Welt wird eine neue Schöpfung treten, ein neuer Himmel und eine neue Erde, und jede Kontinuität zwischen beiden Äonen fehlt. … Sofern das Ende der Welt das Ende des alten, bösen Äons im Gericht Gottes ist, bricht die Geschichte ab. Ihr Ende wird ihr von Gott gesetzt und ist nicht der organische Schluß, die Vollendung einer Entwicklung. Das Kommen des Endes ist also nicht an eine von den Menschen zu erfüllende Bedingung gebunden wie im Alten Testament. … So läßt sich wohl sagen, daß das Ende der Welt das Ziel der Geschichte ist, aber es ist nicht das dem geschichtlichen Gang eigene Ziel, sondern es ist Ziel als der Geschichte von außen, nämlich durch göttliche Determination gesetztes Ziel.18

Damit ist ein Anschluß an die Geschichtsvorstellungen im Alten Testament – welcher Spielart auch immer – ausgeschlossen. Zu einem anderen Ergebnis kommt nun die Dissertation von Dietrich Rössler, der den Mitgliedern „des Kreises“ vielfach verbunden war. Die Bedeutung seiner nicht sehr umfangreichen, aber ausgesprochen prägnanten und gehaltvollen Studie „Gesetz und Geschichte“ für die Entstehung von „Offenbarung als Geschichte“19 läßt sich nicht nur an dem einfachen Umstand ablesen, daß sie Wilckens20 und Pannenberg21 mit einer gewissen Regelmäßigkeit zitieren, sondern auch daran, daß sich in ihr im Gegenzug auch der Einfluß Pannenbergs zeigt, nicht zuletzt ausgewiesen durch die Rezeption von Pannenbergs „Heilsgeschehen und Geschichte“ (1959) in der 1960 erschienenen Druckfassung der bereits 1957 eingereichten Dissertation22. Rössler macht sich anheischig, den Geschichtsentwurf der Apokalyptik in einem streng historisch-systematisieren-

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die spätere Eschatologie der jüdischen Apokalyptik kann eine Antwort geben, die im Alten Testament nur an ganz wenigen Stellen sichtbar wird (Jes. 24–27, Daniel)“; a. a. O., 30: „In der jüdischen Apokalyptik … ist die Geschichte nun von der Eschatologie aus interpretiert worden, und damit hat sich gegenüber der alttestamentlichen Anschauung von der Geschichte ein entscheidender Wandel vollzogen“. R. Bultmann, a. a. O., 35. R. Bultmann, a. a. O., 34f.; vgl. D. Rössler, a. a. O., 69, Anm. 1. Darüber berichtet R. Rendtorff, Kontinuität im Widerspruch, a. a. O., 61ff. Etwa U. Wilckens, a. a. O., 46ff. Etwa W. Pannenberg, Dogmatische Thesen zur Lehre von der Offenbarung, OaG, 93. W. Pannenberg, Heilsgeschehen und Geschichte (1959), in: GSTh 1, 22–78. Zu Bultmann und Rössler vgl. a. a. O., 28f. Pannenbergs Aufsatz sowie auch Bultmanns Buch tauchen bei Rössler nur in zwei zusammenfassenden Kapiteln (Rössler, a. a. O., 68–70.110–112) auf, betreffen also nicht den quellenbasierten Analyseteil der 1957 zur Promotion eingereichten Fassung.

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den Zugriff so rekonstruieren zu können, daß die ihr vorangehende alttestamentliche Überlieferungsgeschichte anschluß- bzw. integrationsfähig bleibt. Was ist Rösslers These? Die Studie, die dann selber den Bezug zum Neuen Testament nicht mehr herstellt, widmet sich der Verhältnisbestimmung von Gesetz und Geschichte in der pharisäischen Orthodoxie und in der apokalyptischen Tradition23 und profiliert damit zwei Spielarten des antiken Judentums, die es zunächst als historische Idealtypen in ihrer jeweiligen theologischen Gesamtstruktur zu differenzieren gilt. Dabei kommt es darauf an, den Gehalt einzelner Aspekte – vor allen Dingen natürlich „Gesetz“ und „Geschichte“ – zunächst innerhalb des jeweiligen idealtypischen Entwurfs zu bestimmen, ohne sofort auf einheitsstiftende Vermittlungsfiguren auszuweichen bzw. die jeweiligen Spielarten des spätantiken Judentums lediglich auf einzelne Momente – etwa die Eschatologie – zu reduzieren24. Die scharf konturierten Ergebnisse, die dann wiederum, dem idealtypischen Verfahren entsprechend, die Möglichkeit eröffnen, allgemeine Anschauungen und individuelle Prägungen der jeweiligen Quellen in den Blick zu nehmen, lassen sich wie folgt umreißen: Der orthodoxe Pharisäismus, wie er aus der rabbinischen Literatur rekonstruiert werden kann, hat „nicht auf einem heilsgeschichtlichen Entwurf aufgebaut“25, sondern Geschichte lediglich als Kette einzelner Episoden und Situationen aufgefaßt. Mithin fehlt „jeder Ansatz zu einem geschlossenen Geschichtsbild, zu einem heilsgeschichtlichen Entwurf, der das Ganze der Geschichte umfaßte und ihre Kontinuität“ garantierte. Und damit ist auch „die Vorstellung eines geschichtlichen Fortschritts“26 ausgeschlossen, das Eschaton – der ‘olam haba’ – kann „nur als Schlußglied dieser Kette charakterisiert werden“, weil die in Einzelgebote zerfallende und somit je und je zu erfüllende „Tora … jede Situation und damit die ganze Geschichte“27 von vorneherein, uranfänglich und im Wesentlichen unwandelbar umgreift. Anders die apokalyptische Geschichtsauffassung. Sie zeichnet sich dadurch aus, „daß hier ‚die Geschichte‘ als Eines und als Ganzes in den Blick kommt“. 23 Sowohl Rössler als auch Bultmann argumentieren mit derselben Quellenbasis an apokalyptischen Schriften: 4. Esra, syrischer Baruch und äthiopischer Henoch. 24 D. Rössler, a. a. O., 110; vgl. a. a. O., 44, den methodischen Hinweis mit Blick auf die apokalyptischen Quellen, die sich aber auch mühelos auf Rösslers Rekonstruktion der rabbinischen Traditionen übertragen läßt: „Die gemeinsame Überlieferung muß erst bekannt sein, bevor das Eigene gerade von daher erfaßt werden kann. Die Frage nach der apokalyptischen Tradition ist also eine Frage unter systematischen Gesichtspunkten“. 25 D. Rössler, a. a. O., 42. 26 D. Rössler, a. a. O., 29. „Aber das heißt nicht, daß die Veränderungen, die Andersartigkeit und das Neue in den jeweils wechselnden Zeitabschnitten geleugnet werden. Und zwar liegt das Prinzip dieser Interpretation in der Voraussetzung, daß keine Veränderung jemals das Wesentliche trifft. Ihrer Struktur nach bleiben alle Situationen untereinander gleich. Die Veränderung und der Wechsel betreffen allein Akzidentelles.“ (a. a. O., 30). 27 D. Rössler, a. a. O., 41.

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Einheit der Geschichte heißt aber nicht: „Einheit ihrer einzelnen Fakten“. Vielmehr gilt: „Im apokalyptischen Entwurf hat das einzelne Ereignis seinen Sinn allein vom umfassenden Rahmen der Geschichte her“. Einheitsgrund der Geschichte ist der mit der Schöpfung gegebene göttliche Plan, „den Gott selbst durch sein Handeln in der Zeit verwirklicht“28, Ziel ist das „Heil des erwählten Volkes“29, das plangemäß erwählt wird. Allerdings ist festzuhalten: auch wenn der Plan unumstößlich gilt, so ist er doch nicht einsehbar, d. h. die Erfahrung von prinzipiell Neuem ist ausdrücklich eingeschlossen. Das Gesetz30 hat in diesem Zusammenhang nicht vornehmlich die Funktion eines Kodex oder einer Gebotssammlung, bei der es auf die einzelnen Regeln ankommt, sondern soll als Ganzes eine Haltung bei dem Israel zugehörigen Frommen hervorrufen, die Erwählung zu bewähren – aber eben nicht erst zu begründen, es ist „das die Heilsgemeinde sammelnde und einende Dokument göttlicher Erwählung“. Die besondere Leistung der Apokalyptik besteht nicht zuletzt „in der radikalen Universalität des geschichtstheologischen Ansatzes“31. Prägnant und in explizitem Gegensatz zu Bultmanns Entwurf formuliert: Geschichte ist Geschichte der ganzen Welt, insofern nicht allein Israel – so deutlich es im Mittelpunkt steht –, sondern die Menschheit insgesamt umfaßt wird; und sie ist zugleich darin Geschichte der Welt im ganzen, daß sie die Summe des Weltlaufs von der Schöpfung bis zum Ende umgreift32.

Damit ist der Anschluß an die alttestamentlichen Quellen offen – denn Prophetie und theologische Geschichtsschreibung im antiken Israel haben dem vorgearbeitet. Nicht zuletzt an den im Kontext des sich konsolidierenden weltumspannenden Perserreichs entstandenen zukunftsoffenen und tendenziell universalen Prophetenschriften Ezechiel und Deuterojesaja läßt sich das ablesen. Man denke nur an den monotheistischen Spitzensatz in Jes 45,5–7, der die Totalität unter Einschluß aller Gegensätze in Kosmos und Geschichte zu umreißen sucht. Die bis dahin führende Entwicklung hat Rolf Rendtorff nach meinem Urteil in „Offenbarung als Geschichte“ im damaligen Forschungskontext gründlich und mustergültig nachgezeichnet. Und er hat sie in der sich anschließenden Auseinandersetzung über die einschlägigen Offenbarungslexeme, die „Erkenntnis Gottes bei Ezechiel“33, den „kebod Jahwe“ und die sogenannte Selbstvorstellungsformel „ani-Jahwe“ – „Ich bin Jahwe“34, die ja schon von der Klassifikation 28 29 30 31 32 33

D. Rössler, a. a. O., 68. D. Rössler, a. a. O., 69. D. Rössler, a. a. O., 77ff. D. Rössler, a. a. O., 111. D. Rössler, a. a. O., 111. Vgl. W. Zimmerli, Erkenntnis Gottes nach dem Buch Ezechiel, in: ders., Gottes Offenbarung. Gesammelte Aufsätze, ThB 19, München 1963, 41–119. 34 Vgl. W. Zimmerli, Ich bin Jahwe, in: ders., Gottes Offenbarung. Gesammelte Aufsätze, ThB 19,

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her den Bezug zur Selbstoffenbarung nahelegt, aber wie Rendtorff einleuchtend nachweist35, gar keine Selbstvorstellungsformel ist, – all das hat er vor allem in der Auseinandersetzung mit dem Göttinger Walther Zimmerli bewährt36, eine Debatte, die – nebenbei bemerkt – gewissermaßen zwischen Großordinarius und ehemaligem Assistent stattfand, denn Rendtorff war ab dem WS 1952/53 Zimmerlis wissenschaftlicher Mitarbeiter in Göttingen. Im Rahmen dieser asymmetrischen Fachmenschenbeziehung hat er auch das Stellenregister zu Zimmerlis einschlägiger Monographie „Erkenntnis Gottes nach dem Buche Ezechiel“ (1954) angefertigt, was ihm der Verfasser nicht ausreichend gedankt hat – Rendtorff hat das bei der Abfassung besagter Autobiographie im Jahre 2007 immer noch gewurmt.37 Statt eines Referats von Rendtorffs Thesen und der sich daran anschließenden Diskurse will ich auf dem Hintergrund der Kontroverse zwischen Bultmann und Rössler einige Gedanken zu dem Konzept anschließen, das alle Mitglieder des Pannenberg-Kreises wohl nachhaltig geprägt hat, nämlich die „Theologische Geschichtsschreibung im Alten Testament“, wie sie Gerhard von Rad vorschwebte38.

3.

„Ein dem Untergang naher Aramäer war mein Vater …“

„… der Gott der Bibel ist der Gott der Geschichte, und das Verständnis der Welt als Geschichte ist diejenige Auffassung der Wirklichkeit, die das biblische Gottesverständnis der Menschheit erschlossen hat“39, schreibt W. Pannenberg in seinem Beitrag „Die Krise des Schriftprinzips“ (1962). „Jahwe wird aus seinen Geschichtstaten offenbar“ heißt es entsprechend in „Offenbarung als Geschichte“40.

35 36 37 38

39 40

München 1963, 11–40. Vgl. A. A. Diesel, „Ich bin Jahwe“. Der Aufstieg der Ich-bin-JahweAussage zum Schlüsselwort des alttestamentlichen Monotheismus, WMANT 110, Neukirchen-Vluyn 2006, 13ff. R. Rendtorff, Die Offenbarungsvorstellungen im Alten Testament, a. a. O., 32ff. W. Zimmerli, „Offenbarung“ im Alten Testament. Ein Gespräch mit R. Rendtorff, EvTh 22, 1962, 15–31. R. Rendtorff, Kontinuität im Widerspruch, a. a. O., 64.68f. Vgl. R. Rendtorff, Geschichte und Überlieferung (FS von Rad, 1961), in: ders., Gesammelte Studien zum Alten Testament, ThB 57, München 1975, 25–38; ders., Hermeneutik des Alten Testaments (1960), in: ders., a. a. O., 19ff.; vgl. auch: Gerhard von Rad. Seine Bedeutung für die Theologie. Drei Reden von H.W. Wolff, R. Rendtorff, W. Pannenberg. München 1973. W. Pannenberg, Die Krise des Schriftprinzips (1962), GSTh 1, 21. W. Pannenberg, Dogmatische Thesen zur Lehre von der Offenbarung, a. a. O., 91.

Alttestamentliche Aspekte der Programmschrift „Offenbarung als Geschichte“

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Die „Theologische Geschichtsschreibung im Alten Testament“ hat Gerhard von Rad in seiner Göttinger Antrittsvorlesung 194841 anhand des sogenannten „Deuteronomistischen Geschichtswerks (DtrG)“ entfaltet und damit eine Hypothese profiliert, die der nachmalige Bonner Kollege Martin Noth 1943 in seinen „Überlieferungsgeschichtlichen Studien“42 zur Diskussion gestellt hatte. G. von Rad hat dabei im DtrG, das nach Noth ursprünglich vor der Verbindung des Dtn mit dem Tetrateuch, von Dtn-2Reg reichen sollte und seinen Namen dem Umstand verdankt, daß der Geschichtsverlauf durch Reden und Reflexionen im Geiste des Dtn strukturiert und mit Blick auf die Unheilsgeschichte kommentiert wurde, eine mit den Davididen verknüpfte Heilslinie herausgearbeitet, die die prinzipielle Zukunftsoffenheit von Jahwes Geschichtshandeln zum Gegenstand hat. Hervorzuheben ist in diesem Zusammenhang dann allerdings, daß es sich hier nicht nur um ein Geschichtskonzept handelt, zu dem sich im Alten Testament auch noch Alternativen mit anderem Profil finden lassen – etwa im chronistischen Geschichtswerk, das eine ganz andere Geschichtsvorstellung zu erkennen gibt43. Sondern mit dem zukunftsoffenen Geschichtshandeln soll gleichzeitig das Wesen der alttestamentlichen Tradition zur Sprache kommen. Das ist bemerkenswert, denn ein Blick in die Forschungsgeschichte lehrt, daß da auch noch andere Kandidaten für die Wesensbestimmung in Frage kämen. Ich nenne nur aus den von Rad vorangehenden Zeiten den ethischen Monotheismus der Propheten, wie er Julius Wellhausen vorschwebte44, oder den ursprungshaften partikularen Universalismus des Israel ursprünglich fremden Wahlgottes Jahwe, der etwa nach Karl Budde45 und, ihm folgend, Max Weber46 für die Anfänge Israels kennzeichnend ist, und der für die Institutionalisierung der ethischen Dauerreflexion in der Religionsgeschichte verantwortlich sein soll. Daß für von Rad demgegenüber die Geschichte wesensbestimmend ist, hängt nicht nur am DtrG und in der Folge an der exilischen Prophetie, sondern ist auch ursprungsgenetisch angelegt. Dabei spielt das Konzept der „Überlieferungsge41 G. von Rad, Theologische Geschichtsschreibung im Alten Testament, ThZ 4, 1948, 161–174; wieder abgedruckt in: ders., Gottes Wirken in Israel. Vorträge zum Alten Testament, Neukirchen-Vluyn 1974, 175–190. Im folgenden wird nach der Originalpaginierung zitiert. Zu v. Rad vgl. M. Oeming, Gesamtbiblische Theologien der Gegenwart. Das Verhältnis von AT und NT in der hermeneutischen Diskussion seit Gerhard von Rad, Stuttgart u. a. 21987, 20ff. 42 M. Noth, Überlieferungsgeschichtliche Studien. Die sammelnden und bearbeitenden Geschichtswerke im Alten Testament, Tübingen 31967, 3–109. 43 Vgl. G. von Rad, Das Geschichtsbild des chronistischen Werks, Stuttgart 1930; M. Noth, a. a. O., 110–179; D. Rössler, a. a. O., 38ff. 44 J. Wellhausen, Israelitische und jüdische Geschichte, Berlin 91958, 108. 45 K. Budde, Die Altisraelitische Religion, Gießen 31912, 6ff. 46 M. Weber, Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen. Das antike Judentum, in: ders., Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie III, Tübingen 81988, 143ff.

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schichte“ eine Rolle, die – und das ist signifikant – nicht nur die Abfolge der einzelnen schriftlichen Quellenstufen nachzeichnet, sondern auch die mündliche Vorgeschichte methodisch zu erfassen sucht. In seiner Göttinger Antrittvorlesung klingt das dann so: Das Deuteronomium mit seiner Forderung der Kultuszentralisation ist selbst keineswegs als ein junges Dokument anzusprechen. Sein Bestreben ist vielmehr gerade dies, alte und älteste sakrale Traditionen einer kulturell bedenklich vorgerückten und religiös schon weithin zersetzten Zeit zu aktualisieren und neu verbindlich zu machen. Tatsächlich hat das alte Israel so etwas wie eine Einheit der Kultusstätte gekannt, und das war in der Zeit, als es ein sakraler Stämmebund, eine Amphiktyonie, war, also in der sog. Richterzeit.47

Im Hintergrund steht dabei die u. a. von Max Weber inspirierte und dann durch Martin Noth48 profilierte Amphyktioniehypothese, die die kultische Organisation Israels in vorstaatlicher Zeit beschreibt. Von Rad hat aber genau diese vorliterarische Vorgeschichte auch um ein eigenständiges Profil bereichert49, die er mit dem sog. „kleinen geschichtlichen Credo“ aus Dtn 26,5b–950 verbindet, das in der stofflichen Grundsubstanz, nicht unbedingt in der literarischen Ausprägung, in der es im Deuteronomium vorliegt, in vorliterarische Zeiten zurückreichen soll51. Es nennt die wichtigen Heilsdaten des Auszugs aus Ägypten und der Landnahme, die für die Religionsgeschichte der Frühzeit konstitutiv gewesen sein sollen, bemerkenswerterweise aber nicht die Sinaitradition mit der Gesetzesverkündigung. „Die feierliche Rezitation der Hauptdaten der Heilsgeschichte, sei es als direktes Credo oder als paränetische Rede an die Gemeinde, muß einen festen Bestandteil des israelitischen Kultus gebildet haben.“52 Von Rad beantwortet mit Verweis auf das „kleine geschichtliche Credo“ dann auch die Frage, wie es zu der vorliterarischen Verbindung der Stoffe des Pen47 G. von Rad, a. a. O., 166f. 48 M. Noth, Geschichte Israels, Göttingen 31956, 83ff. 49 G. von Rad, Das formgeschichtliche Problem des Hexateuch (1938), in: ders., Gesammelte Studien zum Alten Testament, ThB 8, München 1958, 9–86. Vgl. ders., Theologie des Alten Testaments. Bd. 1. Die Theologie der geschichtlichen Überlieferung Israels, München 91987, 135ff. 50 In der Übersetzung von Rads: „Ein dem Untergang naher Aramäer war mein Vater, und als er nach Ägypten hinabzog, wurde er dort ein Fremdling, dem nur wenige Leute angehörten; aber er wurde dort zu einem großen, starken und zahlreichen Volk. Die Ägypter aber behandelten uns übel, bedrückten uns und legten uns harten Dienst auf. Da schrien wir zu Jahwe, dem Gott unserer Väter, und Jahwe erhörte uns und sah unser Elend und unsere Mühsal und unsere Bedrängnis. Und Jahwe führte uns aus Ägypten mit starker Hand und ausgerecktem Arm, und furchtbaren Großtaten, mit Zeichen und Wundern, und brachte uns an diesen Ort und gab uns dies Land, ein Land, das von Milch und Honig fließt“ (Dtn 26,5b–9); G. von Rad, Das formgeschichtliche Problem des Hexateuch, a. a. O., 11f. 51 G. von Rad, Das formgeschichtliche Problem des Hexateuch, a. a. O., 11ff.49ff. 52 G. von Rad, Das formgeschichtliche Problem des Hexateuch, a. a. O., 15.

Alttestamentliche Aspekte der Programmschrift „Offenbarung als Geschichte“

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tateuch gekommen ist. Kurz zusammengefaßt lautet die These: Überlieferungskern ist demnach der Auszug aus Ägypten, der – verbunden mit dem Landnahmethema – das Thema der Führung durch die Wüste nötig machte. Die Ägypten-Landnahmetradition wird beim – ursprünglich in Gilgal beheimateten – Wochenfest institutionell verortet. Die damit primär verbundene mittelpalästinische Jakob-Tradition wird rücklaufend um die Isaak- und judäische Abrahamüberlieferung erweitert und mit der Josephsgeschichte als literarischer Brücke verbunden. Das Thema „Offenbarung am Sinai“ ist dann erst nachträglich in die heilsgeschichtliche Überlieferung eingeordnet worden. Festzuhalten ist: bereits am Anfang steht die „Geschichte“ bzw. der Gott der Geschichte und sein in der Genese nicht weiter aufhellbares, mithin verhülltes Geschichtshandeln. Diese Vorstellung prägt wesentlich die Anfänge Israels, und zwar noch bevor die ersten literarischen Entwürfe vorliegen. Die Gesetzesverkündigung ist demgegenüber nachrangig.

4.

Abschließende Überlegungen

Es ist wenig weiterführend, angesichts der Entwürfe zur Literaturgeschichte und Theologie des Alten Testaments G. von Rads darauf zu verweisen, daß sich mittlerweile – wie der Blick in ein beliebiges Lehrbuch zur Sache erhellt – die Gewichte bei der Quellenkritik und der Rekonstruktion der Religionsgeschichte des Antiken Israel gehörig verschoben haben, daß sich die Quellenbestände erheblich erweitert haben und daß deswegen jetzt alles zumindest etwas unübersichtlicher geworden sei. Denn auch in der alttestamentlichen Wissenschaft verläuft die Forschungsgeschichte so, wie es Max Weber 1919 in seiner Rede „Wissenschaft als Beruf“ mit Blick auf die geringe Halbwertzeit von Forschungsergebnissen in der Moderne vorhergekündet hat53. Wer das nicht einkalkuliert bzw. erträgt, hat nach M. Weber seinen Beruf verfehlt. Ich will vielmehr mit einer allgemeinen Beobachtung und einer Frage schließen. J.G. Droysen habe ich anfangs nicht nur ins Spiel gebracht, um über „Aneignung und Fremdsetzung“ einen mehr oder weniger eleganten Einstieg für die Darstellung der divergenten Zwischenevaluation des Programms von Offenbarung als Geschichte bei R. Rendtorff und W. Pannenberg zu finden, sondern auch, um abschließend noch einmal auf Droysens Historik zurückzukommen. Denn die Geschichtswissenschaft ist eine empirische Wissenschaft, weil sie vom gegenwärtig Gegebenen ausgehend das Gewordensein erinnernd rekonstruiert. Und indem man sich im Pannenbergkreis auf die Ergebnisse der 53 M. Weber, Wissenschaft als Beruf, in: ders., Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, Tübingen 71988, 582–613.

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Bibelwissenschaften bezieht, hat man zugleich eine empirische Basis, die in ihrer Genese und ihrer Konstruktivität zunächst einmal prinzipiell jedermann zur Nachprüfung offensteht. Die Bibel kommt also nicht als Heilige Schrift ins Spiel, sondern als eine Quellenbasis für die Rekonstruktion der dahinterliegenden Geschichte, die dann die Anknüpfungspunkte für die systematische Durchdringung und Durchklärung bietet. Insofern ist nicht alles gedacht, wie gedacht. Und der Umstand, daß dieser Anmarschweg mühevoll ist und in den letzten Jahren auch noch mühevoller geworden sein dürfte, besagt natürlich nichts für die Triftigkeit des Programms. Die bange Frage aus dem edomitischen Wächterlied Jes 21: „Wächter, ist die Nacht schon hin?“, die u. a. bereits Max Weber inspirierte54, muß man natürlich aushalten können. Die sich anschließende und diese Überlegungen beschließende Frage lautet: Hat das hierauf aufbauende systematische Programm der indirekten Selbstoffenbarung Gottes Rückwirkungen auf die historische Forschung – oder bleibt sie dieser letztendlich nicht äußerlich?

54 M. Weber, a. a. O., 613.

Friederike Nüssel

Was heißt „als Geschichte“? Zur christologischen Fundierung des offenbarungstheologischen Programms

Die Schrift ‚Offenbarung als Geschichte‘1, mit der Wolfhart Pannenberg und seine Mitstreiter Rolf Rendtorff, Ulrich Wilckens und Trutz Rendtorff 1961 auf einen Schlag in das Rampenlicht der theologischen Öffentlichkeit traten, war nicht als Programmschrift gedacht. Wie Wolfhart Pannenberg in einem späten Selbstzeugnis festhält, ging des dem Kreis junger Heidelberger Theologen darum, eine gründlichere biblische Fundierung für den theologischen Schlüsselbegriff der Offenbarung zu entwickeln2. Dass die Schrift in ihrer kritischen Auseinandersetzung mit dem Offenbarungsverständnis verschiedener Wort-GottesTheologien gleichwohl mit Recht als Programmschrift verstanden wurde, bewährt nicht nur die umfangreiche Diskussion, die sie auslöste3, sondern auch die Genese und Entwicklung der Pannenbergschen Theologie, die an dem Ansatz von ‚Offenbarung als Geschichte‘ festhält und diesen schließlich in der Systematischen Theologie4 durchführt. 1. Der Titel der Schrift ‚Offenbarung als Geschichte‘ markiert bereits die These, die die Autoren mit ihrer biblischen Fundierung des Offenbarungsbegriffs verbanden. Sie besagt, dass für das in der Bibel greifbare Verständnis der Offenbarung deren geschichtliche Realisierung und Gestalt schlechterdings konstitu1 Wolfhart Pannenberg (Hg.) in Verbindung mit R. Rendtorff, Ulrich Wilckens und Trutz Rendtorff, Offenbarung als Geschichte, 5. Aufl., mit einem Nachwort, Göttingen 1982 (im Folgenden: OaG). 2 Vgl. das Selbstzeugnis von Wolfhart Pannenberg, An intellectual pilgrimage, KuD 54 (2008), 149–158, bes. 155. Siehe auch Christine Axt-Piscalar, Offenbarung als Geschichte. Die Neubegründung der Geschichtstheologie in der Theologie Wolfhart Pannenbergs, in: Jörg Frey, Stefan Krauter und Hermann Lichtenberger, Heil und Geschichte. Die Geschichtsbezogenheit des Heils und das Problem der Heilsgeschichte in der biblischen Tradition und in der theologischen Deutung, WUNT 248, Tübingen 2009, 725–744, bes. 725f; außerdem dies., Offenbarung als Geschichte, in: Christian Danz (Hg.), Kanon der Theologie, Wissenschaftliche Buchgesellschaft Darmstadt 2008, 2. Aufl. 2010, 296–302. 3 Vgl. Pannenberg, OaG, Vorwort, V. 4 Wolfhart Pannenberg, Systematische Theologie, 3 Bände, Göttingen 1988/1990/1993. Zum Offenbarungsverständnis vgl. insbes. Kap. 4 in Band 1.

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tiv ist. Offenbarung geschieht nicht jenseits der Geschichte, auch nicht einfach in der Geschichte, sondern als Geschichte. Damit ist das Verständnis von Geschichte selbst wesentlich für das Verständnis der Offenbarung. So grundlegend allerdings der Terminus ‚Geschichte‘ für den Ansatz der Theologie beim Offenbarungsverständnis ist, so sehr fällt in Pannenbergs Beitrag ‚Dogmatische Thesen zur Lehre von der Offenbarung‘5 auf, dass der Terminus ‚Geschichte‘ keiner begrifflichen Definition zugeführt wird. Der Ausdruck ‚Geschichte‘ begegnet im Verlauf der Thesen zunächst in Zusammensetzungen wie vor allem ‚Geschichtshandeln‘‚ ‚Geschichtstaten‘, ‚Geschichtsereignissen‘, dann auch als Terminus zur Bezeichnung des Zusammenhangs der Geschichtsereignisse. Aber es findet sich in dem Text weder ein Rekurs auf ein allgemeines Geschichtsverständnis, noch finden sich definitorische Sätze, die ‚Geschichte‘ bestimmen. Das Geschichtsverständnis, das für das Verständnis der Offenbarung Gottes in den dogmatischen Thesen zur Lehre von der Offenbarung in Anschlag gebracht wird, erhebt Pannenberg konsequent aus dem Reden von Offenbarung in den verschiedenen Schichten das Alten und des Neuen Testaments. Den Ausgangspunkt bildet die stark von Gerhard von Rad geprägte Interpretation der Offenbarungs- und Geschichtstheologie im Alten Testament.6 Grundlegend ist hier für Pannenberg die vom Jahwisten berichtete Geschichtstat Jahwes am Schilfmeer, die in Verbindung mit den Wundern des Mose als Erweis der heilschaffenden Macht Jahwes und darin als sein Selbsterweis verstanden werde, der das gläubige Vertrauen des Volkes bewirke7. Einen nächsten Entwicklungsschritt findet Pannenberg in der Theologie des Deuteronomiums, die nicht mehr einzelne Geschichtstaten, sondern „den ganzen Zusammenhang des Auszug-LandnahmeGeschehens als Selbsterweis Jahwes“8 präsentiere. Die prophetische Tradition insbesondere bei Deuterojesaja wiederum mache geltend, dass der eigentliche „Zweck des schon eingeleiteten und noch bevorstehenden Heilshandelns“ im „Erweis der Gottheit Jahwes“9 bestehe. Die Apokalyptik schließlich setze diese Linie des alttestamentlichen Offenbarungsverständnisses fort, erwarte nun aber den endgültigen Selbsterweis Jahwes und damit die Erscheinung seiner Herrlichkeit „im Zusammenhang der Endereignisse“10. In dieser Entwicklung zeige sich insgesamt, dass Offenbarung biblisch nicht als Theophanie oder unmittelbare Selbstoffenbarung Gottes verstanden werde, sondern als indirekter Selbsterweis Gottes in seinen Geschichtstaten11. 5 6 7 8 9 10 11

Wolfhart Pannenberg, Dogmatische Thesen zur Lehre von der Offenbarung, in: OaG 91–114. Vgl. zur Bedeutung Gerhard von Rads Pannenberg, An intellectual pilgrimage, 153. OaG, 91. OaG, 91. OaG, 92. OaG, 92. Vgl. OaG, These 1, 91: „Die Selbstoffenbarung Gottes hat sich nach den biblischen Zeugnissen

Was heißt „als Geschichte“?

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Die eschatologische Ausrichtung der Apokalyptik auf die Endereignisse und damit auf den Selbsterweis Jahwes am Ende der Geschichte bildet nach Pannenberg den entscheidenden hermeneutischen Horizont der Verkündigung Jesu. Dabei werde aber das apokalyptische Geschichtsdenken in der Beziehung auf Leben, Leiden und Auferstehung Jesu zugleich über sich hinausgeführt. Denn zum einen werde der Selbsterweis der heilschaffenden Macht und Gottheit Gottes im Geschick Jesu und damit in der Lebensgeschichte eines Menschen gesehen; zum zweiten werde damit verbunden die Auferweckung Jesu als Vorwegnahme des von Gott noch heraufzuführenden Endes der Geschichte verstanden12. In seiner Rekonstruktion des biblischen Offenbarungsverständnisses bis hin zur Geschichte Jesu zeigt Pannenberg so, dass das Verständnis der Offenbarung als Selbsterweis Gottes selbst geschichtlich gewachsen ist und dass sich in dieser Entwicklung selbst auch das dem Verständnis der Offenbarung korrelierende Geschichtsverständnis herausgebildet hat. Ausgehend von der Vorstellung eines Selbsterweises Jahwes in einzelnen Geschichtstaten erwuchs die Vorstellung, dass dieser Selbsterweis sich in einem Zusammenhang von Geschichtsereignissen ereignen werde; dieser wurde in der Apokalyptik am Ende der Geschichte erwartet, das wiederum im Neuen Testament als im Geschick Jesu schon vorweggenommen erschlossen wird. Als Geschichte kommt in dieser Entwicklung schließlich der Zusammenhang des Geschichtshandelns Gottes im Ganzen zu stehen, der in der Vorwegnahme des Endes der Geschichte in der Geschichte Jesu schon jetzt erkennbar wird. Damit begründet diese Geschichte eine gewisse Erkenntnis des Endes und eine Vorerfahrung desselben. Dass von der Offenbarung Gottes in Jesus Christus wiederum ein überlieferungsgeschichtlicher Prozess anhebt, in dem der weitere Geschichtsverlauf im Lichte des vorweggenommenen Gesamtzusammenhangs verstehbar wird, gehört dabei selbst zur Geschichtlichkeit der Offenbarung hinzu. Dieser überlieferungsgeschichtliche Prozess wird zuerst greifbar in den neutestamentlichen Zeugnissen der zweiten Generation urchristlicher Zeugen. Denn diese verarbeiten, wie Pannenberg im Rekurs auf Ulrich Wilckens zeigt, im Unterschied zu den Zeugnissen der ersten Generation bereits das Problem des Abstandes der eigenen Gegenwart vom Geschick Jesu Christi und entwickeln für den Umgang mit diesem Abstand unterschiedliche Modelle. Während Lukas den Schwerpunkt auf das vergangene Heilsgeschehen lege und die eschatologische Zukunft in unbestimmte Ferne rücke, betone Johannes die gegenwärtige Geisterfahrung13. Der nicht direkt, etwa in der Weise einer Theophanie, sondern indirekt, durch Gottes Geschichtstaten, vollzogen.“ (Im Original gesperrt) 12 Vgl. OaG, These 4, 103: „Die universale Offenbarung der Gottheit Gottes ist noch nicht in der Geschichte Israels, sondern erst im Geschick Jesu von Nazareth verwirklicht, insofern darin das Ende alles Geschehens vorweg ereignet ist.“ (Im Original gesperrt) 13 Vgl. OaG, 94.

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Hebräerbrief wiederum lege den Akzent ganz auf das Heil in der Zukunft14. Die rekonstruierte Genese und Entwicklung des biblischen Geschichtsdenken mündet in der zweiten Generation somit in eine Pluralität von Ansätzen, die aber gleichermaßen auf die Entwicklungslinie bis hin zum Christusgeschehen zurückverweisen und in ihrer Pluralität nicht die Einheit des Selbsterweises tangieren, sondern durch die Frage des Abstandes motiviert sind. Die Dogmatik müsse sich darum in ihrem Verständnis der Offenbarung als Geschichte „in erster Linie an der Traditionskette, die vom Alten Testament über die Apokalyptik zur Verkündigung Jesu, der ersten Gemeinde und Paulus verläuft, orientieren“15. Gleichwohl sei aber die Weiterführung des Geschichtsdenkens in den verschiedenen Entwürfen der zweiten Generation dogmatisch auch nicht zu ignorieren, sondern hinsichtlich der theologischen Motive zu berücksichtigen. Pannenberg entnimmt der zweiten Generation vielmehr die Grundimpulse, die den weiteren überlieferungsgeschichtlichen Prozess lenken und die sich – gerade indem sie Momente des Überlieferungsprozesses selbst sind – gewissermaßen als geschichtstheologische Maximen qualifizieren und implementieren. So gelte es zum einen, „das Damals des Jesusgeschehens ohne Verflüchtigung festzuhalten“16, und zwar „nicht nur in seinem ‚Daß‘, sondern auch in seinem ‚Was‘“17(so insbesondere bei Lukas). Zum anderen sei das Motiv bestimmend, „die eschatologische Qualifizierung der Gegenwart vom Christusgeschehen und der Heilszukunft her“18 zu bewahren (so auf unterschiedliche Weise bei Johannes und im Hebräerbrief). Die beschriebene Rekonstruktion des offenbarungstheologischen Geschichtsdenkens in seiner Entwicklung von den Erweisen der Macht und Gottheit Jahwes in Geschichtstaten im Plural bis zum vorweggenommenen, aber endgültigen Selbsterweis Gottes im Geschick Jesu fundiert die Rede von „der offenbarenden Geschichte“ im Singular19 in der zweiten der dogmatischen Thesen. Für die Frage „was heißt ‚als Geschichte‘?“ lässt sich mithin notieren, dass für Pannenberg die Rede von Geschichte im Singular selbst erst in Bezug auf die Offenbarungstat Gottes in Jesus Christus möglich wird. Zwar nimmt die Apokalyptik mit der Sicht auf die Endereignisse und das Ende der Geschichte diese bereits als Totalität oder universale Geschichte in den Blick. Doch die Qualität dieser universalen Geschichte bleibt verborgen, weil das Ende in der Zukunft liegt und sich jeder Erfahrung entzieht. Im Geschick Jesu hingegen hat sich nach 14 15 16 17 18 19

Vgl. OaG, 95. OaG, 95. OaG, 95. OaG, 95. OaG, 95. Vgl. OaG, These 2, 95: „Die Offenbarung findet nicht am Anfang, sondern am Ende der offenbarenden Geschichte statt.“ (Im Original gesperrt)

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Pannenberg „das Ende aller Geschichte im voraus, als Vorwegnahme ereignet“20. Mit diesem eschatologischen Selbsterweis Gottes im Auftreten und Geschick Jesu Christi wird die Geschichte nicht mehr nur in ihrer Universalität projektiert wie in der Apokalyptik, sondern in der Vorwegnahme des Endes in Jesu Auftreten und Geschick in ihrer Universalität und Endlichkeit schon jetzt vorweg erfahrbar. Geschichtsepistemologisch gesehen erscheint in Pannenbergs Argumentation die Geschichte Jesu damit als die Bedingung der Möglichkeit für die Rede von Geschichte im Sinne eines Geschichtszusammenhangs. Das Verständnis der Geschichte als Geschehenszusammenhang in seiner Ganzheit gewinnt Pannenberg in den dogmatischen Thesen zur Lehre von der Offenbarung nicht in einer geschichtsphilosophischen Reflexion auf den Begriff der Geschichte, sondern in der Rekonstruktion der offenbarungsgeschichtlichen Überlieferung im Alten und Neuen Testament. ‚Geschichte‘ im Singular wird auf den Gesamtprozess „der Geschichte Israels bis zum Auftreten Jesu von seinem Ende her“21 bezogen und in diesem Bezug als Bezeichnung für die Ganzheit und den Zusammenhang einzelner Geschichtsereignisse konkretisiert. Dabei ist es der biblische Überlieferungszusammenhang selbst, der von der Erwartung der in der Zukunft liegenden Vollendung des göttlichen Geschichtshandelns zeugt und darin den Sinn der Rede von Geschichte im Singular begründet. Die Einheit der Geschichte als Geschehenszusammenhang wiederum ist dabei für Pannenberg die Voraussetzung dafür, dass Geschichte als „Medium der Offenbarung Gottes“22 verstanden werden kann, in der Gott seine Gottheit erweist und sich selbst offenbart23. Wollte man die indirekte Selbstmitteilung, die in jeder einzelnen der Taten Gottes liegt, als Offenbarung verstehen, dann gäbe es so viele Offenbarungen wie göttliche Taten und Begebenheiten in Natur und Geschichte. So verfehlt man aber den strengen Sinn von Offenbarung als Selbstoffenbarung Gottes. Es kann also nur gelten, das Ganze des Gotteshandelns – und das heißt, wenn es um den einen Gott geht, das Ganze alles Geschehens – als Offenbarung Gottes zu verstehen.24 20 OaG 98. 21 Pannenberg, OaG, Vorwort, XI. 22 Die Rede von „Geschichte als Medium der Offenbarung“ findet sich im Vorwort zur 5. Auflage von OaG in der Beschreibung der von Carl Ludwig Nitzsch anhebenden schrifttheologischen Entwicklung. Gegenüber der supranaturalistischen Gleichsetzung von Bibelwort und Offenbarung sei in der von Nitzsch ausgehenden Entwicklung nun der Offenbarungscharakter der Schrift im „Rückgang vom Buchstaben der biblischen Schriften auf die durch sie bezeugte Geschichte als Geschichte göttlichen Handelns“ (OaG, XII) erschlossen worden. Bei Nitzsch sei dabei die „Funktion der Inanspruchnahme der Geschichte als Medium der Offenbarung mit besonderer Deutlichkeit“ (ebd.) hervorgetreten. 23 Für Pannenberg impliziert dabei der Gedanke der Offenbarung Gottes, dass „das besondere Medium, durch das Gott manifest wird, die besondere Tat, durch die er sich erweist, von seinem eigenen Wesen nicht zu scheiden ist.“ (Pannenberg, OaG, Einführung, 10). 24 Pannenberg, OaG, Einführung, 17.

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Die Begriffe der Selbstoffenbarung Gottes und der Geschichte im Singular bedingen sich mithin wechselseitig.25 2. Die Implikation der Pannenbergschen Rekonstruktion des biblischen Geschichtsdenkens, wonach die Rede von Geschichte im Singular in Bezug auf diesen Prozess selbst möglich wird, ist eine wesentliche Voraussetzung für die dritte der dogmatischen Thesen, die den Skopus der Argumentation darstellt und zugleich besonderer Gegenstand in den Debatten um Pannenbergs Ansatz war und ist: „Im Unterschied zu besonderen Erscheinungen der Gottheit ist die Geschichtsoffenbarung jedem, der Augen hat zu sehen, offen“26. In der in übertragenem Sinn zu verstehenden Wendung „jedem, der Augen hat zu sehen“ lässt Pannenberg bewusst die Sprache der Jesusworte in Mk 4,12; 8,18 anklingen, die in alltagssprachliche Wendungen wie „mach einfach die Augen auf“ oder „du musst nur hinsehen“ ihre Spuren hinterlassen haben, um den Charakter der Offenheit und Zugänglichkeit der Offenbarung auch mit den Mitteln der Sprache zu betonen. Die Pointe der These besteht darin, dass es auch ohne die Annahme einer hinzutretenden göttlichen Inspiration und eines bereits gegebenen Glaubens möglich sei, den Offenbarungscharakter der Geschichte Jesu Christi zu erkennen.27 Pannenberg betont dabei einerseits, dass Offenbarungserkenntnis keine übernatürliche Erkenntnis sei28, macht andererseits aber ebenso geltend, „daß niemand aus eigener Vernunft und Kraft zur Erkenntnis Gottes“29 komme. Vielmehr brächten die „Gott offenbarenden Ereignisse und die Botschaft, die von diesem Geschehen berichtet, […] den Menschen zu einer Erkenntnis, die er nicht aus sich selbst hat.“30 Die offenbarenden Ereignisse haben nach Pannenberg mithin selbst wirklich überführende Kraft. Wo sie als das, was sie sind, in dem Geschichtszusammenhang, dem sie von Hause aus zugehören, wahrgenommen werden, da sprechen sie ihre eigene Sprache, die Sprache der Tatsachen.31 25 Pannenberg, OaG, Vorwort, XI: „Die Verbindung des Begriffs der Selbstoffenbarung Gottes mit dem der Geschichte – und zwar nicht nur mit einzelnen Geschichtsereignissen, sondern (entsprechend der Einheit des geschichtlich handelnden Gottes) mit dem Gesamtprozeß der von Gott gewirkten Geschichte – faßt diesen ganzen Prozeß der Geschichte Israels bis zum Auftreten Jesu von seinem Ende her zusammen.“ 26 OaG, 98. 27 Vgl. OaG, 100f: „Man muß keineswegs den Glauben schon mitbringen, um in der Geschichte Israels und Jesu Christi die Offenbarung Gottes zu finden. Vielmehr wird durch die unbefangene Wahrnehmung dieser Ereignisse der echte Glaube geweckt.“ 28 Vgl. OaG, 100. 29 OaG, 100. 30 OaG, 100. 31 OaG, 100.

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In ihrer Einbindung in den Geschichtszusammenhang sind sie nach Pannenberg gerade keine bruta facta. Denn Geschichte füge sich „nie aus sogenannten bruta facta zusammen“32. Vielmehr sei Menschheitsgeschichte in ihrem Geschehen „immer schon mit Verstehen verflochten, in Hoffnung und Erinnerung“33. Die Wandlungen des Verstehens seien dabei selbst Geschichtsereignisse. Geschehen und Verstehen lasse „sich schon in den anfänglichen Begebenheiten einer Geschichte nicht trennen“34. Geschichte sei darum immer auch Überlieferungsgeschichte, und selbst die Naturereignisse, die in die Geschichte eines Volkes eingreifen, haben ihre Bedeutung nicht außerhalb ihres positiven oder negativen Bezugs zu den Überlieferungen und Erwartungen35,

die zum Überlieferungszusammenhang gehören, in dem Menschen leben. Mit der Rede von den „für sich sprechenden Tatsachen“ will Pannenberg nicht den Zusammenhang zwischen Ereignis, Erfahrung und Verstehen in Abrede stellen, sondern vielmehr die Vorstellung ausschließen, als müsse den Ereignissen noch etwas hinzugefügt werden, durch das sich in ihnen etwas anderes sehen lässt als das, was aus ihnen selbst erhoben werden kann. Im Gegenzug zu einer solchen Sicht macht Pannenberg in der siebten seiner dogmatischen Thesen geltend, die Botschaft der Apostel heiße „Wort Gottes, insofern sie nicht aus menschlichem Antrieb ergeht, sondern durch Gott selbst, entscheidend durch die Erscheinungen des auferweckten Jesus (Gal 1,12 und 15f.), in Bewegung gesetzt worden ist (1 Thess 2,13).“36 Damit verbunden sei die Botschaft der Apostel wesentlich Bericht. Sie berichte vom Geschick Jesu als „dem Geschehen, in welchem Gott offenbar ist“,37 und sei gerade als Bericht wesentlich Verkündigung bzw. Kerygma. Das Kerygma füge mithin „nicht noch etwas zum Geschehen hinzu“38, sondern sei selbst „Moment im Vollzug des Offenbarungsgeschehens.“39 Mit diesem Verständnis der apostolischen Botschaft wendet sich Pannenberg gegen die Unterscheidung zwischen „dem Bericht über die geschichtliche Tatsache“ und der „Bezeugung des offenbarenden Wertes“ bei Martin Kähler40, die den Ausgangspunkt für die Differenzierung zwischen Historie und Kerygma bei 32 33 34 35 36 37 38 39 40

OaG, 112. OaG, 112. OaG, 112. OaG, 112. OaG, 113. OaG, 113. OaG, 113. OaG, 113. Vgl. Wolfhart Pannenberg, Kerygma und Geschichte (1961), in: ders., Grundfragen systematischer Theologie, Bd. 1, 3. Auflage, 1979, Göttingen 79–90, hier: 82. Vgl. zu Kählers biblischer Theologie Jörg Lauster, Prinzip und Methode. Die Transformation des protestantischen Schriftprinzips durch die historische Kritik von Schleiermacher bis zur Gegenwart, Tübingen 2004, 224–239.

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Rudolf Bultmann und Nachfolgern bildete. Kähler sei darin der „neukantianischen Scheidung von Sein und Wert“41 gefolgt, bei der verkannt werde, dass „die Bedeutung eines Geschehens diesem selbst“ eigne, „sofern es nur in seinem Geschehenszusammenhang verstanden“42 werden könne. Während Pannenberg an Kählers Einsicht in die konstitutive Rolle der Wirkungsgeschichte anknüpft, kritisiert er seine in der Auseinandersetzung mit der Leben-Jesu-Forschung geltend gemachte Konzentration auf das Kerygma43 und betont gegenüber Kähler die Notwendigkeit der historischen Rückfrage.44 Denn es müsse aus der Eigenart des historischen Geschehens selbst heraus gezeigt werden, dass und wie es Ausgangspunkt der geschichtlichen Wirkung sei. 3. Die dogmatischen Thesen zur Lehre von der Offenbarung skizzieren zwar in thetischer Weise, dass die Offenbarung Gottes im Geschick Jesu in ihrer Geschichtlichkeit universal zugänglich ist. Was unter Geschichte zu verstehen ist, wird aber allein in der Rekonstruktion des biblischen Überlieferungszusammenhangs erschlossen, in dem die Geschichte Jesu als Vorwegnahme des endgültigen Selbsterweises Gottes am Ende der Geschichte zu stehen kommt. Pannenberg entwickelt hier weder einen allgemeinen Geschichtsbegriff noch setzt er sich mit außertheologischen Geschichtskonzeptionen auseinander. Dies geschieht in Ansätzen in einigen frühen Aufsätzen, umfassender aber erst in seinem Buch „Wissenschaftstheorie und Theologie“ von 197345. Pannenberg setzt sich hier in der Rekonstruktion der Entwicklung vom Positivismus zum kritischen Rationalismus im ersten Kapitel46 unter der Überschrift „Strukturwissenschaft und Geschichte“47 mit der Debatte um den wissenschaftlichen Charakter der Geschichtsforschung auseinander48. In den in der analytischen Philosophie be41 Pannenberg, Kerygma und Geschichte, 83. 42 Pannenberg, Kerygma und Geschichte, 83. 43 Vgl. Martin Kähler, Der sogenannte historische Jesus und der geschichtliche, biblische Christus, hg. von Ernst Wolf, München 1956, bes. 60f. 44 Vgl. Wolfhart Pannenberg, Problemgeschichte der neueren evangelischen Theologie in Deutschland, Göttingen 1997, 115–120, bes. 119. 45 Wolfhart Pannenberg, Wissenschaftstheorie und Theologie, Frankfurt am Main 1973 (im Folgenden kurz: WT). 46 WT, 31–73. 47 WT, 60–73. 48 In den drei ersten Kapiteln der WT, in denen Pannenberg die Theologie im Spannungsfeld von Einheit und Vielheit der Wissenschaften erörtert (so Teil I), zeigt er zuerst, dass die entscheidenden zeitgenössischen Anstöße in der Wissenschaftstheorie in der Entwicklung vom logischen Positivismus zum kritischen Rationalismus zu finden sind. Dem hier konzipierte einheitliche Wissenschaftsbegriff stünde „das Selbstverständnis der sogenannten Geisteswissenschaften gegenüber, die ihre eigene methodische Grundlegung in der Hermeneutik und in Abgrenzung der historischen von den naturwissenschaftlichen Methoden ausgebildet haben“ (WT, 25). Das Selbstverständnis der Geisteswissenschaften in ihrer

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heimateten Positionen des logischen Positivismus und kritischen Rationalismus erblickt Pannenberg dabei den seinerzeit wichtigsten Beitrag zur wissenschaftstheoretischen Debatte, in der die Theologie mit der Frage nach der Wahrheitsfähigkeit theologischer Aussagen konfrontiert und darin in ihrem Wissenschaftsanspruch hinterfragt wird. Die geschichtstheoretische Auseinandersetzung bildet nur einen Teil der Argumentation, die Pannenberg als Antwort auf diese Herausforderung in der Aufarbeitung der philosophischen, geistes- und geschichtswissenschaftlichen und hermeneutischen Debatte entwickelt. Den Ausgangspunkt für die Debatte um das Verständnis der Geschichtswissenschaft und damit das Verständnis von Geschichte sieht Pannenberg in Karl Poppers Forderung der Einheit der Methode für die Wissenschaften, in der dieser die geschichtstheoretische These von Carl Gustav Hempel aufnimmt, der die Geschichtswissenschaft als Gesetzeswissenschaft bestimmte. Dieses Verständnis ermöglicht Popper die Zuordnung der Geschichtswissenschaft zu einem einheitlichen, an den Naturwissenschaften orientierten Wissenschaftsverständnis. Die Auffassung der Geschichtswissenschaft als Gesetzeswissenschaft bei Hempel und Popper interessiert Pannenberg dabei zum einen, weil sie die Wissenschaftlichkeit der Geschichtswissenschaften im Kontext eines einheitlichen Wissenschaftsverständnisses und damit im Zusammenhang mit den anderen akademischen Disziplinen bestimmt, zum anderen aber wegen der inhaltlichen Bestimmung von Geschichte, die aus seiner Sicht philosophisch und theologisch nicht zutrifft. Denn in dem Verständnis von Geschichte, das Popper im Anschluss an Hempel entwickelt, geht er davon aus, dass „a singular event is the cause of another singular event – which is its effect – only relative to some universal laws“49. Eine solche Sicht läuft dem biblischen Geschichtsdenken, wie es Pannenberg in ‚Offenbarung als Geschichte‘ entfaltet hat, zuwider. Denn für historische Ereignisse ist nach Pannenberg nicht die Ableitbarkeit aus vorangehenden Ereignissen und damit ihre Gesetzmäßigkeit charakteristisch, sondern ihre Kontingenz und Unableitbarkeit. Entsprechend sei in der Geschichte mit analogielosen Ereignissen und mit Neuem zu rechnen. Gleichwohl verteidigt Pannenberg aber nicht einfach die Betonung der „Eigenart historistischer Erklärung individueller Prozesse“50, die er in der amerikanischen Auseinandersetzung mit Hempel findet, sondern betont das Recht der „Herausarbeitung des Typischen, Strukturellen und die vergleichende Betrachtung als zumindest gleichberechtigtes Interesse historischer Forschung und Darstellung“51, das in der deutschen Diskussion hervorgehoben werde. Dabei sei Emanzipation von den Naturwissenschaften behandelt Pannenberg im zweiten Kapitel, dem ein drittes Kapitel über Hermeneutik als Methode des Sinnverstehens folgt. 49 WT, 61, dort Zitat. 50 WT, 61. 51 WT, 61.

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allerdings „eine genauere Klärung des Verhältnisses von Typus und Naturgesetz notwendig“52. Wichtig ist ihm hier die Auffassung von Arthur C. Danto, wonach die Subsumption eines Ereignisses unter ein allgemeines Gesetz bereits eine allgemeine Beschreibung des Ereignisses voraus[setze], die ihrerseits schon auf seiner ‚historischen Erklärung‘ als Glied eines Erzählungszusammenhangs53

beruhe. Dabei ließen sich die Strukturen aber nicht auf die Anwendbarkeit von Naturgesetzen beschränken, sondern umfassen nach Pannenberg auch „soziologische oder spezifisch historische Strukturen oder Typen von begrenzter Allgemeinheit“54. Entscheidend sei schließlich vor allem, dass man in der Anwendung solcher Strukturen in Bezug auf die Ausgangsbedingungen eines historischen Prozesses zwar zu einer Klasse von Ereignissen gelange, zu denen auch das Resultat des Prozesses gehöre, dass aber „das Urteil über solche Zugehörigkeit […] seinerseits abhängig von der nur in Form einer Erzählung darstellbaren konkreten Ereignisfolge“55 bleibe. Insofern erweise sich die historistische Sicht, der zufolge die Historie als unwiederholbare Folge von einmaligen Ereignissen Gegenstand der Geschichtswissenschaft sei, „als grundsätzlich berechtigt“56, „so allerdings, daß das Auftreten von regelmäßigen Strukturen unterschiedlicher Allgemeinheitsstufe an derartigen Ereignisfolgen den Gegenstandsbereich der Historie miteinzubeziehen ist“57. Weiter erklärt Pannenberg, dass das Poppersche „Falsifikationskriterium zumindest in der ihm von Popper gegebenen Form auf Hypothesen über historische Prozesse nicht anwendbar“58 sei, weil die Möglichkeit der Widerlegung einer Gesetzmäßigkeit durch einen einzelnen Fall nicht auszuschließen sei. Es lasse sich darum kein abschließendes Urteil darüber treffen, ob ein vergangenes Ereignis stattgefunden haben kann oder nicht. Nur in der Verbindung „von gegenwärtigen Anhaltspunkten und unter Berücksichtigung alles einschlägigen Strukturwissens“59 lasse sich eine Hypothese gewinnen, die aber selbst historischen Charakter habe. Ähnlich gelte das auch für Behauptungen über Ereignisfolgen, sofern Ereignisse einer Reihe nicht nur durch allgemeine Gesetze zusammenhängen, die auf sie als gleichgültige Exemplare einer Klasse

52 53 54 55 56 57 58 59

WT, 62. WT, 62. WT, 63. WT, 63. WT, 63. WT, 63. WT, 63f., vgl. zur Begründung im Einzelnen WT, 64f. WT, 65.

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von Ereignissen Anwendung finden, sondern auch unter sich als individuelle Ereignisse in der Zeitfolge verknüpft sind60.

Man könne eine solche Ereignisfolge als evolutiv bezeichnen, insofern ihre allgemeine Tendenz vom Ausgangspunkt des Prozesses her festgelegt sei. Davon unterscheidet Pannenberg eine kontingente Ereignisfolge, bei der „der Zusammenhang in der Abfolge der Ereignisse selbst erst schrittweise mit deren Eintreten begründet wird, indem jedes Ereignis sich zurückbezieht auf die vorangegangenen Glieder der Reihe“61. Auf Basis dieser Überlegungen vertritt Pannenberg die Auffassung, dass „geschichtliche Prozesse im engeren Sinn der Grundform von kontingenten Ereignisfolgen genügen, wenn auch evolutive Phasen in sie eingebettet sein mögen“62. Auch wenn sie damit einer narrativen Beschreibung zugänglich seien, ließen sie „sich nicht in der Gesamtheit ihres charakteristischen Verlaufs als Anwendungsfall eines einzigen Gesetzes beschreiben, obwohl die einzelnen Vorgänge, die die Glieder einer solchen Ereignisfolge bilden“63. Vielmehr handele es sich sowohl bei individuellen Einzelereignissen wie bei kontingenten Ereignisfolgen um Gegebenheiten, die nicht aus einem Gesetz oder einer Tendenz ableitbar, sondern „in ihrer spezifischen Faktizität nicht wiederholbar sind. Wiederholbar und damit überprüfbar ist nur die Argumentationsstruktur der historischen Konstruktionen selbst“64. Das Problem, welches für Popper mit der Nichtfalsifizierbarkeit des Singulären für die Wissenschaftlichkeit verbunden sei, sei dabei eines, das nicht nur die historischen Disziplinen, sondern auch die Naturwissenschaften betreffe. Es müsse im Lichte der Annahme bedacht werden, „daß die Welt im ganzen ein einmaliger Prozeß in der Zeit“65 und damit auch jedes einzelne Ereignis streng genommen einmalig sei. Von dieser Einmaligkeit abstrahiere die naturwissenschaftliche und naturgeschichtliche Betrachtung, indem sie „die Unterschiede der Einzelereignisse zugunsten ihrer typischen Struktur“66 vernachlässige. Wissenschaftstheoretisch folgert Pannenberg aus der Tatsache, dass die historische Untersuchung der Wirklichkeit nicht ferner sei als die Naturwissenschaft, es wäre willkürlich, „historischen Urteilen, sofern sie sich auf das Einmalige in den einzelnen Ereignissen beziehen, den Charakter der Wissenschaft zu bestreiten“67. In kritischer Auseinandersetzung mit Popper macht Pannenberg geltend, dass das Kriterium für die Prüfung und Bewährung von Hypothesen nicht „auf die 60 61 62 63 64 65 66 67

WT, 65. WT, 65. WT, 65. WT, 65f. WT, 66. WT, 67. WT, 67. WT, 68.

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Bedingung der Vorhersagbarkeit eingeschränkt werden“68 dürfe und eine abschließende Falsifikation oder vollständige Verifikation bei historischen Aussagen deshalb schwierig sei, weil sie weder die Behauptung einer allgemeinen Regel noch eine singuläre Tatsachenbehauptung enthalten. „Historische Hypothesen lassen sich daher selten durch ein einzelnes Indiz bestätigen oder widerlegen“69. Für die Überprüfbarkeit historischer Hypothesen sei nur maximale Klarheit der Konstruktion zu fordern, damit sich eine bestimmte historische Rekonstruktion mit ihren leitenden Annahmen wie in der Inanspruchnahme des Belegmaterials deutlich von alternativen Hypothesen abhebt70.

Dabei sei für die historische Forschung in ihrem Bezug auf vergangene Ereignisse und Prozesse wesentlich zu berücksichtigen, dass sie die von ihr behandelten Erscheinungen noch nicht allseitig in den Blick fassen kann: Der über die Gegenwart hinausdrängende Prozeß der Geschichte wird auch in Zukunft die Begebenheiten der Vergangenheit in neues Licht rücken, neue Sinnbeziehungen an ihnen entdecken lassen.71

Dabei münde die historische Frage notwendig in die philosophische Frage nach dem Wesen einer Sache bzw. der endgültigen Wahrheit über sie. Diese aber lasse „sich nur im Blick auf die Totalität der Wirklichkeit, bezogen auf den Gesamtzusammenhang menschlicher Wirklichkeitserfahrung bestimmen“72. Weil aber die Wirklichkeitserfahrung unabgeschlossen und der Weltprozess in seinem Verlauf offen sei „auf eine noch nicht realisierte Zukunft hin“73, sei „die Totalität beider nur durch Antizipation zugänglich“74. Das Moment der Antizipation oder Mutmaßung sei darum auch im Begriff der Hypothese eingeschlossen, „wie gerade auch Popper gesehen“75 habe. 4. Mit den beschriebenen Überlegungen argumentiert Pannenberg für den wissenschaftlichen Charakter der Geschichtswissenschaften gerade in ihrer relativen Unterschiedenheit von den Naturwissenschaften, in der sie das Augenmerk auf die Einmaligkeit einzelner Ereignisse und geschichtlicher Prozesse richten. Zugleich bringt er den Zusammenhang zwischen Geschichtswissenschaft und philosophischer Wahrheitserkenntnis zur Geltung. Von entscheidender Bedeu68 69 70 71 72 73 74 75

WT, 69. WT, 69. WT, 69. Dies macht Pannenberg in Analogie zur philosophischen Forschung geltend (vgl. WT, 70f.), bei der sich die Urteilsbildung über die Erklärungsleistung eines philosophischen Entwurfs „nicht definitiv abschließen“ (70) lässt. WT, 71. WT, 71. WT, 71. WT, 71.

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tung ist dabei die Einsicht in die Notwendigkeit einer Antizipation der Totalität der Wirklichkeit als Bedingung der Wahrheitserkenntnis, die für die philosophische Urteilsbildung und damit indirekt auch für die Qualifizierung historischer Aussagen als wissenschaftliche Hypothesen konstitutiv ist. Pannenberg entwickelt in der Wissenschaftstheorie dabei keinen allgemeinen Geschichtsbegriff, klärt aber in Auseinandersetzung mit der Debatte um das Verständnis der Geschichtswissenschaft die wissenschaftstheoretischen Bedingungen so, dass die historische Rekonstruktion der Offenbarung Gottes im Geschick Jesu Christi in ihrer Wissenschaftlichkeit nachvollziehbar wird und die in ‚Offenbarung als Geschichte‘ behauptete Allgemeinzugänglichkeit der Geschichte Jesu als Offenbarung Gottes im Gespräch mit nicht-theologischen Disziplinen begründet werden kann. Die in der Wissenschaftstheorie gegenüber Popper und Hempel vertretene Sicht der Geschichte als kontingente Ereignisfolge, deren vollständiges Verständnis nur im Zusammenhang einer Antizipation der Wirklichkeit im Ganzen möglich wird, deckt sich dabei in seiner Struktur unverkennbar mit dem Geschichtsverständnis, das Pannenberg in ‚Offenbarung als Geschichte‘ dem biblischen Geschichtsdenken in seiner Entwicklung entnimmt. Die wissenschaftstheoretischen und die offenbarungsgeschichtlichen Argumentationen verweisen dabei in der Sache aufeinander. Während die Argumentation in der Wissenschaftstheorie den wissenschaftlichen Status der historischen Argumentation in ‚Offenbarung als Geschichte‘ unterfüttert, ergibt sich aus der historisch-theologischen Rekonstruktion der Offenbarung als Geschichte, dass und wie die in der Wissenschaftstheorie geltend gemachte Struktur von Geschichte in der Geschichte Jesu Christi tatsächlich einem historischen Geschehenszusammenhang inhäriert. Für die Konsistenz der geschichtstheoretischen Argumentation Pannenbergs ist dieser Sachverhalt nicht unerheblich. Denn nur wenn es eine Geschichte gibt, in der das Verstehen singulärer Ereignisse und Ereignisfolgen in der Verbindung von überlieferungsgeschichtlichem Zusammenhang und Antizipation des Ganzen tatsächlich ermöglicht und realisiert wird, kann gesagt werden, dass das Geschichtsverständnis nicht reine Konstruktion ist, sondern selbst in einem Geschehenszusammenhang gegeben ist und in der Anschauung desselben erkannt werden kann. Damit beschränkt sich die Bedeutung der historisch-theologischen Rekonstruktion der Geschichtsoffenbarung Gottes nicht allein darauf, den Offenbarungscharakter der Geschichte Jesu zu erschließen. Vielmehr wird damit auch die Faktizität des Geschichtsverständnisses selbst erschlossen, für das Pannenberg in seinen wissenschaftstheoretischen Überlegungen eintritt. Um schlüssig sagen zu können, dass das Verständnis von Geschichte selbst in einem Geschehenszusammenhang gründet, muss dieser allerdings als tatsächlich geschehener erwiesen werden.

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Die entsprechende historisch-theologische Argumentation entwickelt Pannenberg in seiner Monographie ‚Grundzüge der Christologie‘76 mit der Methode der Christologie von unten, wobei er später die Notwendigkeit einer Ergänzung der Christologie von unten durch eine Christologie von oben herausstellt77 und in seiner Systematischen Theologie die beiden Methoden in ihrem Zusammenhang entwickelt78. Den sachlichen Ausgangspunkt der Argumentation bildet im Rahmen der Christologie von unten die Analyse der Wirksamkeit und Verkündigung Jesu vom nahen Reich Gottes79, die den impliziten Anspruch einer besonderen Nähe zu Gott enthält. Dieser führt im Rahmen der historischen Bedingungen – also der jüdischen Gottesvorstellung und Gesetzesfrömmigkeit sowie dem römischen Interesse an politisch-gesellschaftlichem Frieden – zur Anklage, Verurteilung und Hinrichtung Jesu als Gotteslästerer und Unruhestifter und ergibt sich schlüssig aus den Verstehensbedingungen, in denen die Wirksamkeit Jesu wahrgenommen wurde. Die Beurteilung Jesu, die zu seiner Verurteilung führt, ist dabei nach Pannenberg nicht einfach als Irrtum abzutun, sondern korrespondiert der Zweideutigkeit seines Auftretens in Gestalt seiner Verkündigung und Zeichenhandlungen. Die Lebensgeschichte Jesu ist offen und teilt darin den Charakter historischer Prozesse. Eindeutigkeit gewinnt die Geschichte Jesu erst durch die Auferweckung Jesu von den Toten durch den Geist Gottes als „göttliche Beglaubigung des vor Ostern erhobenen, jede menschliche Autorität unter sich lassenden Vollmachtsanspruches Jesu“.80 Zugleich bedeutet sie, „daß das Ende im Geschick Jesu schon angebrochen und also Gott in ihm offenbar ist.“81 Die detaillierte Rekonstruktion der Auferweckung als eines historischen Ereignisses bietet Pannenberg noch nicht in ‚Offenbarung als Geschichte‘, sondern erst in den ‚Grundzügen der Christologie‘82 und in der Systematischen Theologie83. Entscheidend ist dabei zunächst, dass Pannenberg im ersten Schritt dieser Argumentation die Sprachform der Rede von der Auferstehung als Metapher identifiziert – ein Sachverhalt, dem in den kritischen Reaktionen auf seine Argumentation nicht hinreichend Rechnung getragen wurde. Die Sprachform der Rede von der Auferstehung Jesu sei Metapher, „weil das Wort ‚auferwecken‘ das 76 Wolfhart Pannenberg, Grundzüge der Christologie, Gütersloh 1964, 6. Auflage 1982, vgl. zur Methode der Christologie bes. 26–31. 77 Vgl. Wolfhart Pannenberg, Christologie und Theologie, in: ders., Grundfragen systematischer Theologie, Bd. 2, Göttingen 1980, 112–145. 78 Vgl. Pannenberg, Systematische Theologie, Bd. 2, Kapitel 9 und 10. 79 Vgl. Pannenberg, Grundzüge der Christologie, § 6, 232–242. 80 OaG, 107. 81 OaG, 107. 82 Vgl. Pannenberg, Grundzüge der Christologie, § 3, 47–112. 83 Vgl. Pannenberg, Systematische Theologie, Bd. 2, Kap. 10, 1, c: „Die Rechtfertigung Jesu durch den Vater in seiner Auferweckung von den Toten“, 385–405.

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Bild des Erwachens vom Schlafe“84 und damit die Vorstellung von „einem alltäglich vertrauten Vorgang“85 heranziehe, um das singuläre Ereignis der Auferweckung Jesu vom Tode zu neuem Leben zu beschreiben. Die Metapher eröffnet hier also mit dem Bild eines bekannten Vorgangs eine Vorstellung von einem Geschehen, das in der Alltagserfahrung keine Analogie hat, und macht es auf diese Weise in seiner Realität der Erfahrung zugänglich. Dabei basiert der Einsatz der Metapher der Auferweckung selbst auf der „im jüdischen und griechischen Denken verbreiteten Auffassung des Todes als Schlaf“86, die selbst metaphorischen Charakter hat. Das Verständnis der Metapher der Auferweckung verweist damit selbst zurück auf einen Überlieferungszusammenhang, der auch die in der exilischen und nachexilischen Zeit manifest werdende eschatologische Hoffnung auf eine Auferstehung vom Tode umfasst. Sie liefert nach Pannenberg „den sprachlichen Ausdruck und den Vorstellungsrahmen für die christliche Osterbotschaft“87. Ist damit der Überlieferungszusammenhang und Verstehenshorizont für die Verkündigung der Auferweckung Jesu bestimmt, so ist im nächsten Schritt wichtig zu sehen, dass Pannenberg die Faktizität des Geschehens streng aus den Hinweisen rekonstruiert, die den beiden einander redaktionell zugeordneten Traditionssträngen zu entnehmen sind: die Erscheinungstradition und die Tradition vom leeren Grab. Während letztere zweideutig sei, weil unterschiedliche Erklärungen für das leere Grab denkbar seien, biete die Erscheinungstradition Zugang zum Geschehen. Diese nun – und das ist nach Pannenberg ein exegetischer Befund – präsentiere die Erscheinung des Auferstandenen als das Ereignis, in dessen Erleben die Jünger erkennen, dass Jesus Christus auferstanden ist. Die Erscheinungen lassen sich nach Pannenberg durchaus als visionäre Erlebnisse verstehen, woraus aber nicht eine Bestreitung ihres Realitätsgehaltes folge. Ein Verständnis der visionären Erlebnisse „als psychische Projektion ohne gegenständlichen Bezug“ lehnt Pannenberg „als nicht hinreichend begründetes weltanschauliches Postulat“88 ab. In der Sichtung der verschiedenen Erscheinungstraditionen argumentiert er, dass das in Apg 9,3 beschriebene Erscheinungserlebnis des Paulus in Gestalt einer Lichterscheinung „als Hinweis auf die Urgestalt auch der übrigen Erscheinungen zu nehmen“89 sei. Der gesamte Argumentationszusammenhang zeigt, dass Pannenberg die Auferweckung nicht als brutum factum geltend macht, welches für sich ge84 Wolfhart Pannenberg, Systematische Theologie, Bd. 2, Göttingen 1990, 387. (Im Folgenden ST 2) 85 ST 2, 388. 86 ST 2, Bd. 2, 388. 87 ST 2, 390, im Original kursiv. 88 ST 2, 396. 89 ST 2, 397.

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nommen erkannt und vom Geschehenszusammenhang und Verstehenshorizont abgelöst werden könnte. Vielmehr war die Erscheinung des auferstandenen Gekreuzigten ein Ereignis, das in seinem Überlieferungszusammenhang als Auferweckung durch Gott und als Tat Gottes zu erfassen war. Dieser Geschehenszusammenhang wiederum ist singulär, kontingent und nicht aus beobachtbaren Gesetzmäßigkeiten oder Tendenzen in Natur und Geschichte ableitbar. Die Einzigartigkeit besteht dabei nicht nur darin, dass die Auferstehung bis dato analogielos ist, sondern ebenso darin, dass sie als Vorwegnahme des eschatologischen Geschehens der allgemeinen Totenauferweckung und darin Grund der christlichen Hoffnung ist90. Welcher Art die Geschichtlichkeit des Selbsterweises Gottes in Jesus Christus ist, wird bei Pannenberg mithin nicht im Ausgang von einer Geschichtsphilosophie bzw. von einem allgemeinen Verständnis des Geschichtlichen her entwickelt, sondern im Rekurs auf die Repräsentation dieses Ereignisses in seinem narrativen, überlieferungsgeschichtlich vermittelten Niederschlag. Dabei fundiert die christologische Argumentation das Verständnis des Geschehenszusammenhangs in seiner Tatsächlichkeit, so dass die Antizipation des Endes der Geschichte in einem tatsächlich geschehenen Ereignis in Anspruch genommen werden kann. Pannenbergs Rekonstruktion vermittelt so faktisch ein genaueres Verständnis davon, dass und inwiefern die Geschichtsphilosophie „im Abendland ihren Grund im christlichen Glauben“91 hatte, wie Karl Jaspers festhält. Zugleich begegnet Pannenberg mit seinem Verständnis von Gottes Offenbarung als Geschichte und der entsprechenden christologischen Argumentation aber der Sache nach auch dem Grundeinwand von Jaspers, wonach das christliche Verständnis der Geschichte einen universalgeschichtlichen Anspruch erhebe, der aber doch „nur für gläubige Christen Geltung haben kann“92. 5. Der geschichtstheologische Ansatz Pannenbergs impliziert einen universalgeschichtlichen Anspruch. Dabei grenzt sich Pannenberg jedoch von dem Verständnis der Universalgeschichte bei G. W. F. Hegel ausdrücklich ab. Im Gegensatz zu Hegel, der mit seinem „System des absoluten Begriffs die unauf90 Vgl. Wolfhart Pannenberg, Über historische und theologische Hermeneutik, in: ders., Grundfragen systematischer Theologie, Bd. 1, 3. Aufl. Göttingen 1979, 123–158. Der Vorgriffcharakter des Auftretens und Geschicks Jesu als solcher ist noch nicht das Entscheidende. Vielmehr betont Pannenberg hier, 157: „Im Vorgriff auf Zukunft zu leben, dürfte ja allgemeiner Grundzug menschlicher Existenz sein, ist vielleicht sogar in der einen oder andern Weise konstitutiv für alles Seiende schlechthin. Aber im Geschick Jesu ist das Ende im voraus Ereignis geworden in einer von seiner eigentlichen Wirklichkeit nicht mehr qualitativ verschiedenen Form. Wegen dieser spezifischen Antizipation konnte das Urchristentum Jesus als den eschatologischen Offenbarer Gottes verkünden.“ 91 Karl Jaspers, Vom Ursprung und Ziel der Geschichte, München 1949, 19. 92 Ebd.

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hebbare Endlichkeit der Erfahrung übersprungen“93 habe, müsse „heute eine Konzeption der Universalgeschichte […] die Endlichkeit der menschlichen Erfahrung und damit die Offenheit der Zukunft, sowie das Eigenrecht des Individuellen“94 wahren. Die Geschichte ist kontingent, und entsprechend lässt sich die Bestimmung der Offenbarung als Geschichte nicht in umgekehrten Sinne so verstehen, als seien alle geschichtlichen Ereignisse indirekte Offenbarung Gottes und direkt auf göttliches Handeln zurückzuführen. Dies würde ein deterministisches Verständnis der Geschichte implizieren und die Bestreitung der relativen Selbständigkeit menschlichen Handelns bedeuten. Die damit verbundene Frage nach dem Verhältnis von göttlichem und menschlichem Handeln beschäftigt Pannenberg in verschiedenen Teilen der Systematischen Theologie, insbesondere aber in der Schöpfungslehre und Anthropologie und sodann in der Erwählungslehre. In der Schöpfungslehre erschließt er das Handeln Gottes als trinitarisches, in welchem der Vater als Prinzip des Ursprungs, der Sohn als generatives Prinzip der Andersheit und der Geist als synthetisierende Lebenskraft interagieren.95 Die Unterschiedenheit des Menschen von Gott und seine Besonderheit im Verhältnis zu den Mitgeschöpfen verdankt sich dabei der Schöpfungsmittlerschaft des Sohnes als dem generativen Prinzip der Andersheit in ihrer Verbundenheit mit der synthetisierenden Lebenskraft des Geistes, welche relative Selbständigkeit des Menschen in seinem Selbstvollzug ermöglicht, die wiederum Voraussetzung für ein bewusstes und ungezwungenes Gottesverhältnis ist. Zugleich ist auf diese Weise aber auch die Möglichkeit der Entfremdung von Gott gesetzt, auf deren Überwindung die Selbstoffenbarung Gottes in Jesus Christus zielt, indem sie im Geschick Jesu das geistvermittelte Verhältnis des Sohnes zum Vater als die wahre Bestimmung des Menschen offenbar macht. Das Handeln Gottes in der Selbstoffenbarung ist Geschichtshandeln, das den Menschen mit und in seiner Geschichte nicht determiniert, sondern ihn durch die Botschaft des Evangeliums von Jesus Christus in die Gemeinschaft mit Christus und damit in das Verhältnis des Sohnes zum Vater hinein- und aus der Entfremdung und Selbstzentrierung hinauszieht. Darin vollzieht sich das göttliche Erwählungshandeln96, das eine spezifische Form des schöpferischen Handelns Gottes im Verhältnis zum Menschen darstellt. 93 Wolfhart Pannenberg, Hermeneutik und Universalgeschichte (1963), in: ders., Grundfragen systematischer Theologie, Bd. 1, 3. Aufl. Göttingen 1979, 91–122, hier: 120. Pannenberg stimmt hierin Gadamers Kritik zu. 94 Pannenberg, Hermeneutik und Universalgeschichte, 121. 95 Vgl. dazu Friederike Nüssel, Challenges of a Consistent Language on the Spirit in Creation and New Creation, in: M. Welker (Hg.), The Spirit in Creation and New Creation. Science and Theology in Western and Orthodox Realms, Eerdmans Publishing Company Grand Rapids Michigan/Cambridge U.K. 2012, 120–133. 96 Vgl. Wolfhart Pannenberg, Systematische Theologie, Bd. 3, Göttingen 1993, 563. (Im Folgenden ST 3)

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Friederike Nüssel

In der Erwählungslehre betont Pannenberg sodann, das Handeln Gottes dürfe „weder in bezug auf das Naturgeschehen, noch hinsichtlich der Geschichte der Menschheit in Konkurrenz zum Wirken geschöpflicher Faktoren aufgefaßt werden“.97 Gott regiere als Schöpfer „durch das Handeln seiner Geschöpfe hindurch“.98 Eine Konkurrenz, die dem Gedanken Gottes als alles bestimmender Wirklichkeit widerstreite und einen Dualismus implizieren würde, entstehe nicht, weil „Gott und Mensch […] als Handlungsprinzipien nicht derselben Ebene“99 angehörten. Im göttlichen Erwählungshandeln spielt für Pannenberg dabei die Kirche eine wesentliche Rolle. Sie ist die durch die Verkündigung des Evangeliums konstituierte Geistgemeinschaft, in der das Evangelium Gottes nicht nur verkündigt, sondern in seiner Kraft auch bezeugt werde, und zwar in der Existenz der Gemeinschaft der Kirche, die die, wenn auch notwendig vorläufige und unvollkommene Vorausdarstellung der zukünftigen Gemeinschaft im Reich Gottes sei.100 Insofern ist die Kirche als vorausdarstellendes Zeichen auch Instrument und Gegenstand des Handelns Gottes. Zugleich impliziert der „Gedanke göttlichen Handelns an der Kirche im Gang ihrer Geschichte“101 für Pannenberg aber die Differenz zwischen der Existenz der Kirche und allem kirchlichen Handeln und dem Offenbarungshandeln Gottes und seiner schöpferisch-providenten Wirksamkeit. Die Kirche ist nach Pannenberg nicht als Fortsetzung der Inkarnation zu denken102. Vielmehr ist die Unterschiedenheit vom Inkarnationsgeschehen als dem Geschehen der Selbstoffenbarung Gottes gerade konstitutiv für das Sein und die Bestimmung der Kirche. Als „Zeugnis für die universale, alle Menschen angehende Wahrheit Gottes“ hat sie ihren Ort „in der noch nicht vollendeten Geschichte und damit in dem Felde der Strittigkeit Gottes.“103 Die Strittigkeit Gottes ist für Pannenberg dabei nicht nur ein empi97 98 99 100

ST 3, 542. ST 3, 542, Hervorhebung FN. ST 3, 542, Hervorhebung FN. Konstitutiv für das Sein der Kirche ist damit zum einen ihre Unterschiedenheit vom Reich Gottes, zum anderen aber auch von Gesellschaft und politischen Herrschaftsformen, vgl. Pannenberg, ST 3, Kap. 12. 101 ST 3, 544. 102 Siehe zum Verhältnis von Inkarnation und Kirche folgende Passage in ST 3, 544: „Die Geschichte der Kirche ist nicht Fortsetzung der Inkarnation, wenn auch Ausbreitung des in dieser begründeten Versöhnungsgeschehens. Gott und der erhöhte Christus bleiben das Gegenüber zur Kirche in ihrer Geschichte, obwohl Jesus Christus ihre durch seinen Geist gegenwärtig wird im Glauben an das Evangelium und in der Feier des Herrenmahls. Die Verbundenheit der Kirche mit Gott durch ihren Herrn wird erst in der eschatologischen Zukunft des Reiches Gottes vollendet sind. Sie wird daher im Blick auf die Geschichte der Kirche sachgerechter durch den Gedanken der Erwählung als durch den der Inkarnation beschrieben, und die Kirche bleibt auf dem Wege ihrer Geschichte der Vorsehung Gottes als einer von ihrem Wesensbegriff verschiedenen, ihr und der Welt transzendenten Wirklichkeit untergeordnet, die sich sowohl in ihrer Sendung bekundet.“ 103 ST 3, 548.

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risches Datum, das mit mangelnder Erkenntnis auf Seiten des Menschen zu erklären wäre, sondern hängt mit der Geschichtlichkeit der Offenbarung selbst zusammen, in der die eschatologische Vollendung im Geschick Jesu Christi zwar vorweg offenbart, aber noch nicht endgültig realisiert ist. Als solche gibt sie einerseits Anlass zu Zweifel an Gott und Anfechtung im Glauben, sie öffnet nach Pannenberg aber auch den Raum „für das Zeugnis der Kirche von der Wahrheit Gottes in seiner Offenbarung, mit dem Ziel, allen Menschen den Zugang zu Gott und seinem Heil zu vermitteln.“104 Pannenberg bringt auf diese zur Geltung, dass die Geschichtlichkeit des göttlichen Offenbarungshandelns auch die Geschichtlichkeit des Offenbarwerdens Gottes für den Menschen in seiner jeweiligen singulären, individuellen geschichtlichen Realität umfasst.

104 ST 3, 548.

Klaus Vechtel SJ

Offenbarung am Ende der Geschichte und eschatologische Vollendung Pannenbergs Theologie im Gespräch mit Holm Tetens’ rationaler Erlösungshoffnung

1.

Einleitung

Die 1961 unter „Offenbarung als Geschichte“ veröffentlichte Neufassung des Offenbarungsbegriffs stellte vor allen Dingen für die Dialektische Theologie eine Herausforderung dar, insofern sie „die fundamentale Funktion des Wortes Gottes für die Theologie in Frage zu stellen schien“1. Pannenberg betont im Vorwort zur 5. Auflage von „Offenbarung als Geschichte“ die zweifache Zielrichtung, die mit dieser Neufassung des Offenbarungsbegriffs im Anschluss an die Offenbarungsdiskussion im 19. Jahrhundert intendiert war. Dieser richtet sich nicht primär gegen eine Wort-Gottes-Theologie: Angesichts der neuzeitlichen Infragestellung des Gottesglaubens und auch des Glaubens an das inspirierte Gotteswort der Bibel erlaubt der Gedanke der Selbstoffenbarung Gottes die Vermittlung einer sich verselbständigen modernen Welt mit Gott durch die Konzeption der Geschichte als Ort einer indirekten Selbstoffenbarung Gottes. Eine Vergewisserung der Wirklichkeit Gottes, die nicht mehr in der Form der klassischen Gottesbeweise oder Schriftautorität möglich war, wird somit auf das Ganze der menschlichen Erfahrung im Prozess ihrer Geschichte bezogen, die zum Ort der Herrschaft Gottes und seiner endgültigen Offenbarung „durch eschatologische Affirmation seines Schöpfungswillens“2 wird. Der Gedanke einer Selbstoffenbarung Gottes, der auf das Ganze der Geschichte bezogen ist, erlaubt eine Lösung der „supranaturalistischen“ Aporien der Theologie des 19. Jahrhunderts, insbesondere der einseitigen Fokussierung des geschichtlichen Handelns Gottes auf einzelne Wundertaten, aber auch die Vorstellung einer zur Geschichte des Gotteshandelns hinzutretenden inspirierten Deutung bei R. Rothe. 1 Wolfhart Pannenberg, Systematische Theologie Bd.1 [=STh1], Göttingen 1988, 249. 2 Wolfhart Pannenberg, Vorwort zur 5. Auflage, in: Offenbarung als Geschichte, Göttingen 51982, VI.

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Für beide Problemkreise spielt die These von der Offenbarung am Ende der Geschichte eine wichtige Rolle: Die idealistische These von der Offenbarung als Geschichte wird durch die Beziehung auf die biblische Eschatologie entscheidend korrigiert. Dabei wird der Vorläufigkeit und Endlichkeit allen menschlichen Verstehens durch den Gedanken einer Antizipation des Endes der Geschichte „in der eschatologischen Prägung der Lehre und des Geschickes Jesu Rechnung“3 getragen. Die Christusoffenbarung ist „nur Prolepse des Endgeschehens, nicht aber dieses selber“4. Zu den nach Pannenberg umstrittensten Thesen von „Offenbarung als Geschichte“ gehört die Aussage, die Offenbarung Gottes aus den Geschichtstatsachen stehe „jedem, der Augen hat zu sehen, offen“5 und bedürfe keiner hinzutretenden Deutung. Diese These wird erst im Kontext des Gedankens der Offenbarung am Ende der Geschichte verstehbar: Auch wenn die Offenbarung in der Geschichte keiner zusätzlichen inspirierten Deutung bedarf, werden dadurch der Glaube und das Vertrauen nicht in Geschichtswissen aufgelöst, angesichts der bleibenden Offenheit der Geschichte und der Strittigkeit Gottes in diesem offenen Prozess. Erst die eschatologische Vollendung der Geschichte wird diese Strittigkeit Gottes beenden: „Erst für die Ereignisse der eschatologischen Heilszukunft wird […] in der späteren Prophetie jene Evidenz in Anspruch genommen, die durch diese Ereignisse die Gottheit Gottes ‚vor allem Fleisch‛ offenbar werden lässt.“6 Die These von der endgültigen Offenbarung Gottes am Ende der Geschichte, die den Offenbarungsgedanken auf die biblische Eschatologie bezieht, enthält ein beachtliches rationales und systematisches Potential. Sie lautet wörtlich: „Die Offenbarung findet nicht am Anfang, sondern am Ende der Geschichte statt.“7 Im Folgenden möchte ich der Frage nachgehen, was diese These für eine Begründung eschatologischer Hoffnung beitragen kann. Ich möchte dies im Gespräch mit der Begründung rationaler Erlösungshoffnung bei Holm Tetens versuchen und somit in einem ersten Schritt Tetens Entwurf einer rationalen Erlösungshoffnung skizzieren, in einem zweiten Schritt Pannenbergs These in 3 Pannenberg, STh1, 250f. 4 Pannenberg, Vorwort zur 5. Auflage, X. Wenn die Geschichte als ganze Offenbarung Gottes sein soll, dann scheinen über die Offenbarung in Jesus Christus Fortschritte des Offenbarwerdens Gottes nicht ausgeschlossen zu sein. Ein solcher Fortschritt stellt bei Hegel das Begreifen der in Christus vollzogenen Offenbarung dar. Der Antizipationsgedanke kann dieses Problem lösen: Das eschatologische Offenbarwerden Gottes am Ende der Geschichte wird in universalem Rahmen das vollziehen, was an Jesus geschehen ist. Vgl. Wolfhart Pannenberg, Einführung, in: Offenbarung als Geschichte, Göttingen 1961, 7–20, hier: 18–20. 5 Pannenberg, STh1, 272. Vgl. auch: Wolfhart Pannenberg, Dogmatische Thesen zur Lehre von der Offenbarung, in: Offenbarung als Geschichte, a. a. O., 98–103. 6 Pannenberg, STh1, 273. 7 Pannenberg, Dogmatische Thesen 95.

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den Kontext der eschatologischen Implikationen von Sinnerfahrungen stellen. Schließlich wird in einem dritten Schritt ein Gespräch Pannenberg – Tetens versucht.

2.

Die rationale Hoffnung auf Erlösung bei Holm Tetens

Der Berliner Philosoph Holm Tetens hat in den letzten Jahren in verschiedenen Veröffentlichungen eine Rechtfertigung des Gottesglaubens als „vernünftige Hoffnung“8 vorgelegt, die mit einem beeindruckenden persönlichen Denkweg verbunden ist.9 Ein wichtiger Ausgangspunkt für die Überlegungen von Tetens ist Kants Intuition, dass der moralisch Glückswürdige am Ende auch glückselig sei.10 Darin drückt sich für Tetens die Hoffnung aus, dass die Leiden und Übel nicht das letzte Wort haben werden, „und insofern handelt es sich um Erlösungshoffnung“11. Für Kant habe die praktische Vernunft demnach keine Gründe, das höchste Gut nicht zu wollen; das heißt: sich in der Erfüllung seiner moralischen Pflichten des Glückes würdig zu erweisen und tatsächlich glücklich zu sein. Allerdings steht demgegenüber die Beobachtung, dass die moralisch Guten nicht von Natur mit einem glücklichen Leben belohnt werden. Der moralische Wille geht von Natur aus nicht immer überein mit natürlichen Neigungen und Interessen, so dass in der „empirischen Welt […] die Realisierung des höchsten Gutes immer von Zufällen abhängig [bleibt]“12. Der für das Selbstverständnis des Menschen als vernünftige moralische Person unerträglichen Konsequenz, dass in dieser empirischen Welt unser moralisches Handeln intrinsisch nichts mit Glück zu tun hat, kann nach Kant nur entgangen werden, wenn „wir von der Existenz Gottes als Schöpfer der Natur und von der Unsterblichkeit der Seele ausgehen“13. Allein Gott ist es vorbehalten, „die Harmonie von Moralität und Glückseligkeit herbeizuführen“14. Kants Argument zielt jedoch nicht auf einen Existenzbeweis

8 Holm Tetens, Gott denken. Ein Versuch über rationale Theologie, Stuttgart 2015, 10. 9 Vgl. dazu auch Raphael Weichheim „…und erlöse uns von dem Bösen“. Skizzen einer rationalen Soteriologie im Anschluss an Holm Tetens, in: ThPh 92 (2017) 78–99. 10 Vgl. zum Ganzen: Holm Tetens, Die Möglichkeit Gottes. Ein religionsphilosophischer Versuch, in: Sebastian Rödl u. Henning Tegtmeyer (Hg.), Sinnkritisches Philosophieren, Berlin – Boston 2013, 11–38; Ders., Kann es ein gutes Leben ohne Hoffnung auf Erlösung geben? Systematische Rehabilitation eines kantischen Arguments, in: Stephan Herzberg u. Heinrich Watzka (Hg.), Transzendenzlos glücklich? Zur Entkoppelung von Ethik und Religion in der postchristlichen Gesellschaft (FTS Bd. 75), Münster 2016, 97–109. 11 Tetens, Die Möglichkeit Gottes, 14. 12 Tetens, Kann es ein gutes Leben ohne Hoffnung auf Erlösung geben?, 101. 13 Ebd., 103. 14 Tetens, Die Möglichkeit Gottes, 16.

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Gottes, sondern auf eine „lebenstragende Möglichkeit“15, in der Gott und das ewige Leben Gegenstände einer rational begründeten Hoffnung sind. Ausgehend von Kants Argument beschreibt Tetens die Situation des Menschen in einer Welt, die von zahlreichen Leiden und Übeln bestimmt ist. Menschen sind in diese Leiden und Übel verstrickt als Täter und als Opfer. Menschen bedürfen des Trostes und der Vergebung; sie können allerdings die Leiden und Übel niemals endgültig aus der Welt schaffen; wir können uns nicht selbst erlösen: Wer auf eine endgültige Erlösung von den Übeln und Leiden dieser Welt hofft und zugleich weiß, dass wir uns nicht selbst erlösen können, der hofft auf eine Macht, die nicht die Macht von Menschen ist […]. So lässt sich das Wort ‚Gott‘ einführen: ‚Gott‘ heiße die Macht, deren Wirklichkeit jemand unterstellen muss, der auf eine endgültige Erlösung von den Leiden und Übeln hofft.16

Die Rationalität einer solchen theistischen Erlösungshoffnung wird von Tetens nicht direkt durch die Formulierung eines Postulates der praktischen Vernunft, sondern „induktiv“ in der Auseinandersetzung mit dem Naturalismus gewonnen. Gänzlich unvernünftig wäre eine Erlösungshoffnung, wenn die naturalistische Zentralthese richtig wäre, die lautet: Die materielle Erfahrungswirklichkeit, wie sie durch die Naturwissenschaften im Prinzip zutreffend beschrieben werden kann, macht die ganze Wirklichkeit aus: „Es gibt nur die durch die Wissenschaften erkennbare Erfahrungswelt.“17 Der Naturalismus geht damit jedoch über eine erfahrungswissenschaftliche Tatsache hinaus und bietet eine philosophische Auskunft über die Wirklichkeit im Ganzen: „In diesem Sinne ist der Naturalismus eine metaphysische Position.“18 Für Tetens gerät der Naturalismus in gravierende Probleme, wenn er erklären soll, wie in einer rein materiellen Erfahrungswelt erlebnisfähige, selbstbewusste Subjekte mit ihrer spezifischen Ich-Perspektive aufgetaucht sind.19 Selbstwidersprüchlich ist für Tetens 15 16 17 18 19

Ebd. Ebd., 17. Tetens, Gott denken, 21. Tetens, Die Möglichkeit Gottes, 22. Vgl. zum Ganzen: Ders., Gott denken, 12–20. Der Naturalismus behauptet, dass mentale Zustände über physischen Zuständen supervenieren, da sie nichts als die physischen Zustände sind und daher auch auf diese zurückgeführt werden können. Dabei handelt es sich um eine schwache Supervenienz, das heißt: Sind die physischen Zustände und die grundlegenden Naturgesetze gegeben, werden mentale Zustände dadurch noch nicht determiniert bzw. für uns erkennbar. Das Mentale tritt als etwas Neuartiges und Überraschendes gegenüber dem Physischen auf. In diesem Zusammenhang spricht man auch von einer starken Emergenz. Die Vorstellung einer starken Emergenz lässt sich zwar mit dem Naturalismus vereinbaren, sie kaschiert jedoch eine Erklärungslücke, „die der Naturalismus bisher nicht zu schließen vermag. Starke Emergenz ist bereits Dualismus, aber noch im Gewande des Naturalismus“. Tetens, Gott denken, 26. Vgl. zum Ganzen: ebd., 21–27.

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auch der Versuch des Naturalismus, „vollständig naturgesetzlich und zirkelfrei erklären zu wollen, warum wir Menschen die materielle Realität zureichend erkennen“20. Der Naturalismus ist alles andere als bewiesen. Gleichwohl ist der Naturalismus, weil er eine metaphysische Position ist, nicht schlechthin widerlegt. Angesichts dieser, wie Tetens sagt, epistemischen Pattsituation, hat folgendes an Kant geschultes Argument zentrale Bedeutung: Auf einen Sachverhalt, ohne den wir uns schwerlich als autonome Vernunftwesen begreifen und ernst nehmen können, dürfen wir hoffen, es sei denn, wir können definitiv beweisen, dass der Sachverhalt nicht besteht oder bestehen kann.21

Wir sind als Täter und Opfer in Leiden und Übel verstrickt. Wir können uns jedoch nicht endgültig aus dieser Verstrickung befreien. Weil Menschen handeln müssen, sind das Vertrauen und die Hoffnung auf die unverfügbaren Bedingungen und Voraussetzungen, dass unser Handeln gelingt, eine „Bedingung der Möglichkeit vernünftigen Handelns“22. Wie weit reicht diese Hoffnung? Schließt sie auch die Hoffnung auf eine endgültige Erlösung von den Übeln und Leiden dieser Welt mit ein? Wir müssen es zumindest für möglich halten, durch unser Handeln keine neuen Leiden zu erzeugen. Dadurch kommt die Frage nach der Erlösung als Ziel des Handelns unweigerlich in den Blick, wenn wir uns als vernünftige Personen verstehen. Die Aussicht auf eine endgültige Überwindung von Leiden und Übel ist nicht definitiv zu beweisen, jedoch auch nicht definitiv zu widerlegen. Aus diesem Grund ist die Erlösungshoffnung nicht unvernünftig: „Es ist nicht unvernünftiger, auf Gott als Erlöser von den Leiden und Übeln zu hoffen, als es in naturalistischer Perspektive nicht zu tun.“23 Von diesen Grundannahmen aus lässt sich eine rationale Eschatologie skizzieren: Die Vorstellung einer Erlösung wäre für Tetens pervertiert, wenn das Leiden, das Menschen einander antun, dem Vergessen anheimfiele. Wir kommen in einem Erlösungsgeschehen nur dann als vernünftige und verantwortliche Personen vor, wenn die Erlösung „so etwas wie einen Gerichtsprozess“24 einschließt. Deshalb gilt: „Wer vom Gericht nicht reden will, sollte daher von Erlö-

20 Ebd., 27. Vgl. auch: Ders., Kann es ein gutes Leben ohne Hoffnung auf Erlösung geben?, 107: „Mit Mitteln der Wissenschaft beweisen zu wollen, dass es nichts gibt, was sich nicht mit Mitteln der Wissenschaft beweisen lässt, ist offenkundig selbstwidersprüchlich.“ 21 Tetens, Die Möglichkeit Gottes, 23f. Wenn für uns aufgrund der Annahme X ein angemesseneres Verständnis als moralische Person möglich ist, als aufgrund der Annahme Y, und wenn beide Annahmen nicht zu widerlegen sind und zwischen ihnen ein epistemisches Patt herrscht, dann ist es vernünftiger, um eines angemessenen Selbstverständnisses willen, von der Wahrheit der Annahme X auszugehen und nicht von der Annahme Y. Vgl. Tetens, Kann es ein gutes Leben ohne Hoffnung auf Erlösung geben?, 107–109. 22 Tetens, Die Möglichkeit Gottes, 24. 23 Ebd., 27. 24 Tetens, Gott denken, 69.

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sung schweigen“25. In diesem Gerichtsgeschehen werden Menschen nicht nur mit ihrem Leben konfrontiert, sondern auch als Täter mit den Menschen, an denen man schuldig geworden ist. Die Hoffnung auf Erlösung impliziert nicht, dass die Täter ihrerseits mit Leiden bestraft und ausgeschlossen werden von einem vollendeten Leben: „Vielmehr richtet sich die Hoffnung darauf, dass die Konfrontation mit der ungeschminkten Wahrheit über sich und ihr Leben die Menschen dazu befreit, sich miteinander zu versöhnen und einander zu vergeben.“26 Eine solche Erlösungshoffnung auch für die Opfer von geschehenem Leid und Unrecht kann der Naturalismus nicht formulieren. Für den Naturalismus kommt jede Beseitigung von Leid und Übeln für die Opfer zu spät. Die Hoffnung auf eine endgültige Erlösung durch einen Gerichtsprozess setzt voraus, dass – (a) gerade angesichts der Schwierigkeiten des Naturalismus mit dem Leib-SeeleProblem – das Ich-Bewusstsein einer Person über den Tod hinaus fortgesetzt werden kann, (b) das gesamte Leben einer Person und ihre Identität in Gottes Denken bewahrt werden, und Gott diese Person in einem neuen Leib wiederverkörpern kann, so dass (c) von Gott eine Gemeinschaft mit anderen wiederverkörperten Personen ermöglicht wird. Schließlich muss gelten (d), dass Gott einem Leben eine Naturgesetzlichkeit aufprägen kann, „die zwar nicht moralische Übel, sehr wohl hingegen physische Übel in der erlösten Welt ausschließt“27. Tetens Begründung einer theistischen Erlösungshoffnung zielt keinen Existenzbeweis Gottes an, sondern eine „lebenstragende Möglichkeit“, die es Menschen eröffnet, sich als moralische und vernünftige Personen zu verstehen. Dass Gottes Gerechtigkeit nicht der Grund für das moralische Handeln des Menschen ist, scheint mir – wie bei Kant – klar zu sein, denn andernfalls wäre das sittliche Handeln in seinem Wert aufgehoben. M. E. wird somit eine umgreifende Sinnperspektive aufzeigt, die dem Selbstverständnis des Menschen als Subjekt sittlichen Handelns und des Strebens nach Erkenntnis gerecht wird, damit dem Menschen beides sowohl individuell als sinnvoll und möglich erscheint.28 Allerdings ist zu fragen, ob für Tetens Ähnliches gilt, wie für Kants Postulat Gottes als Urheber der Natur und der Unsterblichkeit der Seele. Die Hoffnung auf Erlösung, so macht Pannenberg im Anschluss an Kants Argument für die Unsterblichkeit des Menschen fest, kann sich als eine leere Implikation der Sinn25 Ebd., 70. 26 Ebd., 69f. 27 Ebd., 71. Diese letzte von Tetens genannte Bedingung wird noch im 3. Punkt zu diskutieren sein. 28 Für Medard Kehl ist ohne eine solche Sinnperspektive, wie sie etwa von Kant formuliert wird, auf Dauer die unbedingte Geltung der Würde des Menschen im umfassenden gesellschaftlichen Kontext kaum aufrecht zu erhalten. Vgl. Medard Kehl, Glaube und Vernunft. Anmerkungen eines Theologen zur christlichen Hoffnung auf ein Leben nach dem Tod, in: KarlLudwig Koenen u. Josef Schuster (Hg.), Seele oder Hirn? Vom Leben und Überleben der Personen nach dem Tod (FTS Bd. 68), Münster 2012, 17–28.

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struktur menschlichen Erlebens erweisen.29 Ein Postulat ist aus einer Sinn-Forderung entwickelt, kann aber die Möglichkeit eines absurden Daseins nicht ausschließen.30 Holm Tetens scheint sich dieser Schwierigkeiten bewusst zu sein, da sein moralisches Argument in seinem Buch „Gott denken“ auf ein – wiederum induktiv aus der Auseinandersetzung mit dem Naturalismus gewonnenes – kosmologisches Argument aufbaut, welches die Rationalität der Annahme Gottes als Schöpfer begründet.31 Damit bezieht sich der Entwurf einer rationalen Theologie christlich gesprochen auf den 1. und den 3. Artikel des Apostolischen Glaubensbekenntnisses, in dem die Schöpfung und die Vollendung der Welt als Werk Gottes benannt werden. Die für den christlichen Glauben zentrale Überzeugung der Offenbarung Gottes in Jesus Christus wird hingegen nicht thematisiert, wofür aus Sicht einer philosophischen Argumentation plausible Gründe sprechen. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, dass Tetens dem Offenbarungsgedanken nicht schlechthin ablehnend gegenübersteht, sondern eine indirekte Gegenwart Gottes32 in der Erfahrungswelt der Menschen plausibel macht, die auf den Offenbarungsgedanken hinweist.33 Gott kann als allmächtiger, gerechter und 29 Wolfhart Pannenberg, Constructive and critical Functions of Christian Eschatology, in: HTR 77 (1984), 119–139, hier: 122. 30 So Gerd Haeffner, Vom Unzerstörbaren im Menschen. Versuch einer philosophischen Annäherung an ein problematisch gewordenes Theologumenon, in: Godehard Brüntrup u. a. (Hg.), Auferstehung des Leibes – Unsterblichkeit der Seele, Stuttgart 2010, 43–58, hier: 50f. 31 Vgl. Tetens, Gott denken, 78f. Vgl. ebd., 37–43, 51–54. 32 Der Offenbarungsglaube stellt die Vorstellung einer indirekten Gegenwart Gottes nicht in Frage, wie im Blick auf Pannenbergs Offenbarungsdenken noch genauer zu zeigen sein wird. Dies gilt auch für das Offenbarungshandeln Gottes in Jesus Christus, insofern die Menschheit Jesu im strengen Sinne Ausdruck einer göttlichen Selbstzusage ist. Jede geschichtliche Manifestation oder Repräsentation Gottes in seinem Offenbarungshandeln behält ihren Verweischarakter auf das ursprüngliche Verhältnis der Welt und des Menschen zum Geheimnis Gottes. 33 Vgl. ebd., 80–84. Die zugrundeliegende fundamentale Äquivalenz (G) eines objektiven Idealismus besagt: Alles Wirkliche hat im Denken Gottes als unendlichem Geist bzw. Subjekt einen Grund. Aufgrund dieser Annahme lässt sich eine indirekte Gegenwart Gottes in der Erfahrungswelt der Menschen aussagen: „Gott denkt sich selbst durch den Menschen“ (ebd., 82; vgl. zum Ganzen: ebd., 33–37). Tetens hat diese fundamentale Äquivalenz (G) eines objektiven Idealismus in einer neueren Veröffentlichung bezüglich ihrer panentheistischen Implikationen nicht unerheblich modifiziert. Er reagiert dabei nicht zuletzt auf die kritischen Rückfragen von: Benedikt Paul Göcke/Ludwig Jaskola, Holm Tetens on Panentheism: The Concept of Panentheism, Sin, and Special Divine Action, in: NZSTh 59 (2017), 482–494, die vor allen Dingen eine zu Inkonsistenzen führende, mangelnde Unterscheidung zwischen einem epistemischen und einem ontologischen Verständnis von Panentheismus sowie Unklarheiten bezüglich eines besonderen Eingreifens Gottes (Special Divine Action) in Tetens Konzeption beanstanden. Tetens räumt ein, dass seine Panentheismus-Konzeption zu Missverständnisse sowohl bezüglich der Frage Absolutheit Gottes als auch bezüglich der Frage nach Freiheit des Menschen gegenüber Gott führe. Vgl. Holm Tetens, An Outline of Rational Theology, in: NZSTh 59 (2017), 531–547, hier: 538–542.

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barmherziger Schöpfer und Erlöser treffend nur bestimmt werden, soweit über die Beziehung der Welt und der Menschheit zu Gott gesprochen wird. Wie Gott „in sich“ ist, können wir nicht sagen.34 Gott ist für Tetens als unendliches Subjekt

34 Für Tetens’ modifizierten Gottesbegriff gilt die folgende fundamentale Äquivalenz (G): Ein Selbstverständnis des Menschen und seiner Position in der Erfahrungswirklichkeit als sinnvoll, vernünftig und gut, ist dann möglich zu denken, wenn Gott der allmächtige, gerechte und gnädige Schöpfer und Erlöser der Welt ist. In diesem Zusammenhang betont Tetens, dass dieser Gottesbegriff nicht einer mehr oder weniger willkürlich eingeführten philosophischen Definition Gottes folgt, sondern sich aus einer existenzphilosophischen Analyse, worauf Menschen hoffen können, hoffen dürfen und hoffen sollen, ergibt. Vgl. Tetens, An Outline of Rational Theology, 538–540. Georg Gasser unterscheidet in seiner Auseinandersetzung mit Tetens’ Entwurf einer rationalen Theologie zwischen gerechtfertigten und nicht gerechtfertigten Formen des Hoffens. Dabei wird verdeutlicht, dass die Standards für eine gerechtfertigte Hoffnung kontextsensibel sind. Insbesondere im Blick auf metaphysisch mögliche Gegenstände von Hoffnung gilt für Gasser, dass diese ihre Rationalität auf dem Hintergrund metaphysischer, wissenschaftlicher und religiöser Überzeugungen (beliefs) gewinnen. Abhängig davon, welche Überzeugung (beliefs) die Weltsicht einer Person prägen, wird somit bestimmt, welche weiteren Überzeugungen als begründet und vernünftig erscheinen. Personen werden dabei unterschiedliche Gewichtungen in dem vornehmen, worauf sie hoffen, abhängig davon, welche Überzeugungssysteme für sie Geltung beanspruchen. Dabei gilt: Eine Überzeugung ist zentral, insofern eine Person an ihr festhält, trotz einer gegenteiligen Evidenz. Eine Person wird in diesem Zusammenhang weniger zentrale Überzeugungen modifizieren, um an der zentralen Überzeugung ihrer Weltsicht festzuhalten. Gasser argumentiert dafür, dass die theistische Position zwar eine berechtigte Überzeugung und Quelle der Hoffnung für Menschen darstellt, allerdings eine schwächere Rechtfertigungsgrundlage hat als Tetens ihr in der Auseinandersetzung mit dem Naturalismus zuspricht. Der Grund dafür liegt nach Gasser im Theodizee-Problem: Theisten müssen zumindest provisorische Antworten auf die Frage geben, warum Gott Leiden und Übel in erschreckender und furchtbarer Form zulässt. Naturalisten hingegen können sich im Blick auf die Frage nach Leiden und Übeln auf das blinde Spiel eines sinnlosen Zufalls berufen. Vgl. Georg Gasser, Holm Tetens on the Moral-Existential Argument for Theism. Reasonable Hope and Wishful Thinking, in: NZSTh 59 (2017), 495–513. Georg Gassers differenzierte Analyse der Hoffnung hat von Holm Tetens weitgehend Zustimmung erfahren. Insbesondere das Problem der Theodizee, so räumt Tetens ein, schwächt die begründete Annahme, der fundamentalen Äquvalenz (G) Gott als allmächtigen, allwissenden, gerechten und barmherzigen Schöpfer und Erlöser einen zentralen Platz in unserem Überzeugungssystem einzuräumen. Nach Tetens verhindert Gott nicht, dass bestimmte Dinge geschehen können und wirklich werden, die er nicht will. Gott lässt diese dennoch zu, weil eine echte menschliche Freiheit verlangt, dass Geschehnisse, die Gott nicht will, dennoch eintreffen können. Dabei hält Tetens fest: Wer die Existenz Gottes angesichts der Leiden und Übel bestreitet, muss auch bestreiten, dass es für und bei Gott keine Gründe dafür geben kann, die Übel zuzulassen, selbst wenn er sie verhindern könnte und wollte. Für eine solche starke Behauptung liegt die Beweislast nach Tetens beim Atheismus und nicht beim Theismus. Vgl. Tetens, An Outline of Rational Theology, 543–547. 35 Vgl. Tetens, An Outline of Rational Theology 540f. In diesem Zusammenhang wäre weiter zu diskutieren, inwieweit der voraussetzungsreiche Begriff „unendliches Subjekt“ in der Verwendung auf den Gottesgedanken sinnvoll ist. Im Blick auf die christliche Trinitätslehre ergeben sich hierbei weitere Gesprächsmöglichkeiten mit Holm Tetens. Vgl. dazu auch Wolfhart Pannenberg, Die Subjektivität Gottes und die Trinitätslehre, in: Grundfragen Systematischer Theologie Bd.2, Göttingen 1980, 96–111.

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zu denken.35 Nichts in dieser Welt ist, das nicht durch Gottes vernünftiges Erkennen und Wollen wirklich ist, so dass Gott in der Erfahrungswelt der Menschen gegenwärtig sein kann, wo Menschen in ihrem Leben auf ihn hoffen, ihn loben, ihn in ihren Nöten anrufen.36 Hier kann jedoch das Gespräch zwischen Philosophie und Theologie weitergeführt werden: Wie kann eine eschatologische Hoffnung auf Erlösung im Blick auf das Offenbarungshandeln Gottes weiter begründet werden? Wie lässt sich dieses mit anthropologisch-philosophischen Überlegungen verknüpfen? Welche Rolle spielt dabei der Gedanke der Offenbarung am Ende der Geschichte? Welche Rolle die Christologie?

3.

Offenbarung am Ende der Geschichte und die Begründung der Eschatologie

Die Vorstellung einer Offenbarung am Ende der Geschichte folgt für Pannenberg aus der „Indirektheit des göttlichen Selbsterweises“37. Gott gibt sich selbst zu erkennen in der Geschichte seines Handelns, so dass die göttlichen Bekundungen „etwas über Gott selbst, über sein Wesen und seine Gottheit erkennen lassen“38. Daraus folgt, dass „es zur Erkenntnis Gottes […] erst im Nachhinein, im Rückblick auf sein Handeln in der Geschichte“39 kommt. Da die Gotteserkenntnis in den biblischen Schriften nicht mit einzelnen Ereignissen, sondern mit einer Reihe von göttlichen Bekundungen verbunden ist, kann eine durch die Ereignisse vermittelte Gotteserkenntnis erst „am Ende der seine Gottheit offenbarenden Ereignisreihe stehen“40. Paradigmatisch ist dabei die mit dem Exodusgeschehen verbundene Ereignisfolge von der Vätergeschichte bis zur Inbesitznahme Palästinas, die dazu führen soll, dass „das Volk erkenne, ‚dass Jahwe allein Gott ist und keiner sonst‘ (Dtn 4,35; vgl. 39 und 7,9)“41. Findet damit der Selbsterweis Gottes nicht am Ende, sondern – wie R. Rendtorff in Distanzierung gegenüber 36 Tetens, An Outline of Rational Theology, 541f. Vgl. auch Tetens, Gott denken, 84. M. E. ließen sich die Anfragen von Göcke/Jaskolla, Holm Tetens on Panentheism, 490–494 bezüglich eines besonderen Eingreifens Gottes (Special Divine Action) in dem von den Autoren skizzierten Sinn klären, dass sich Tetens mit der Ablehnung eines Wunderglaubens gegen ein die Naturgesetze und die Selbstständigkeit der Schöpfung außer Kraft setzendes Eingreifen Gottes wendet. 37 Wolfhart Pannenberg, Dogmatische Thesen zur Lehre von der Offenbarung, in: Offenbarung als Geschichte, a. a. O., 95. 38 Pannenberg, STh1, 267. 39 Ebd., 268. Vgl. Pannenberg, Dogmatische Thesen, 96. 40 Pannenberg, STh1, 268. 41 Ebd. Diese Ursprungsgeschichte entspricht in ihrer Funktion „der stiftenden Urzeit in den Nachbarreligionen“ und kommt demnach der weltbegründenden Funktion eines Mythos gleich. Vgl. ebd., 268f.

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seinen frühen Ausführungen festhält – am Anfang der Geschichte Israels statt?42 Entscheidend für das biblische Offenbarungsverständnis sind für Pannenberg die politischen Umwälzungen der späten judäischen Königszeit und zur Zeit des babylonischen Exils. In der Exilsprophetie findet eine Universalisierung des Gottesverständnisses Israels und der Durchbruch zum Monotheismus statt in Verbindung mit einer „Wendung zur Eschatologie, und zwar zur eschatologischen Zukunft der Weltgeschichte“43. Über die Geschichte Israels hinaus wird die Geschichte der Völkerwelt zum Gegenstand des Geschichtshandelns Gottes. Insbesondere Ezechiel und Deuterojesaja erwarten, dass auch die Völker am Ende der noch unabgeschlossenen Geschichte Jahwe als einzigen Gott erkennen (vgl. Ez 36,6), bzw. der Gott Israels sich als der einzige Gott offenbart (vgl. Jes 40,5). Im Anschluss an K. Koch hält Pannenberg fest: „Die Geschichte wird also zum Gottesbeweis, freilich erst an ihrem Ende.“44 In Jesu Auftreten und Wirken wird die kommende Gottesherrschaft, die den Kernbestand der eschatologischen Erwartung Israels bildet, bereits „zur gegenwartsbestimmenden Macht“45, ohne dass ihr zukünftiger Charakter dadurch aufgehoben wäre. Die Christusoffenbarung und die Auferweckung Jesu von den Toten kann gerade im Blick auf die späte biblische Erwartung einer Totenauferweckung am Ende allen Geschehens als Prolepse des Endgeschehens verstanden werden: „im Geschick Jesu ist das Ende aller Geschichte im voraus [sic!], als Vorwegnahme ereignet“46. Das hier skizzierte Verständnis der Offenbarung am Ende der Geschichte lässt sich für Pannenberg gerade aufgrund seiner Beziehung zur Eschatologie auf die neuzeitlich begründete Geschichtserfahrung und auf die Struktur menschlichen Erfahrens und Vernehmens von Sinn in einer geschichtlichen Wirklichkeit beziehen: Exakt die Offenheit geschichtlich erfahrenen Sinns und eine nur von einer endgültigen Zukunft her vollendbare Sinnganzheit kann den Offenbarungsgedanken mit dem neuzeitlich-geschichtlichen Selbstverständnis des Menschen vermitteln. Anders als Tetens geht Pannenberg weniger von einer Sinnforderung, als vielmehr vom konkreten, geschichtlichen Sinnerleben und seinen Implikationen aus, denen der biblische Offenbarungsgedanke entgegenkommt. Die Kategorien von „Sinn“ und „Bedeutung“ gehören für Pannenberg zu den formalen Struk42 Vgl. Rolf Rendtorff, Offenbarung und Geschichte. Partikularismus und Universalismus im Offenbarungsverständnis Israels, in: Jakob J. Petuchowski u. Walter Strolz (Hg.), Offenbarung im jüdischen und christlichen Glaubensverständnis (QD Bd. 92), Freiburg 1981, 37–49, hier: 44–47. 43 Pannenberg, STh1, 270. 44 Ebd., 269. Vgl. zum Ganzen: ebd., 209–211; Pannenberg, Dogmatische Thesen, 96f.; Pannenberg, Vorwort zur 5. Auflage, IXf. 45 Pannenberg, STh1, 270. 46 Pannenberg, Dogmatische Thesen, 98.

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turelementen menschlicher Erfahrungen.47 Im Anschluss an Diltheys Einsicht, dass es in allem Erleben um ein Verhältnis von Teil und Ganzem geht, ist festzuhalten, dass jede Erfahrung von Bedeutung bzw. Sinn sich im Vorgriff auf eine noch nicht vollendete Ganzheit unseres Lebens vollzieht. Aufgrund der Geschichtlichkeit unserer Sinnerfahrung kommt der Zukunft, „und zwar der letzten Zukunft eine entscheidende Funktion nach dem Sinn unseres Lebens und nach der endgültigen Bedeutung der einzelnen Erlebnisse zu“48. Für eine Ganzheit des Lebens kann dabei der Tod keine konstitutive Funktion haben, da dieser ein Abbruch des Lebens ist und seine Sinnstruktur fragmentiert.49 Nur eine Wesenszukunft kann das Dasein in seine Ganzheit bringen, die ihrerseits bestimmt wird durch die sozialen und geschichtlichen Kontexte, den Lebenszusammenhang, in dem wir stehen. Die alltäglich im Erfassen von Bedeutung und Sinn einzelner Handlungen oder Ereignisse implizit vorausgesetzte Sinntotalität, darauf weisen Schleiermachers Überlegungen zum Wesen der Religion in den Kategorien von Teil und Ganzem deutlich hin, wird „in der religiösen Erfahrung und im religiösen Bewusstsein ausdrücklich thematisch, und zwar so, dass das einzelne der Erfahrung als Manifestation der Sinntotalität erlebt wird“50. Verbindet man Schleiermachers Religionstheorie mit Diltheys Einsicht über die Geschichtlichkeit menschlicher Sinnerfahrung, dann ergibt sich: Die in der religiösen Erfahrung thematisch werdende Sinntotalität ist noch im Prozess und somit in diesem geschichtlichen Prozess als strittig anzusehen. Erst eine endgültige eschatologische Zukunft, die über den Gesamtsinn der Wirklichkeit entscheidet, konstituiert diese Sinntotalität. Entscheidend für den Wahrheitsanspruch des christlichen Glaubens ist für Pannenberg die Einsicht, dass die geschichtliche Struktur der menschlichen Sinnerfahrung nur durch eine religiöse 47 Vgl. Wolfhart Pannenberg, Eschatologie und Sinnerfahrung, in: Grundfragen Systematischer Theologie Bd.2, Göttingen 1980, 66–79, hier: 74. 48 Ebd., 75. 49 Pannenberg nimmt Heideggers Intuition auf, dass die Bedeutungszusammenhänge eines Lebens- und Geschichtsverlaufs erst von der Zukunft her konstituiert werden. Dilthey konnte dies nach dem Urteil Pannenbergs nicht erkennen, da er die Überzeugung der historischen Schule von der Geschichte als eines Wirkungszusammenhanges teilte. Gegenüber Heidegger fragt Pannenberg jedoch, ob die Intention des Daseins auf Ganzheit über den Tod hinausgehen muss: „In diesem Falle könnte das Dasein des einzelnen nicht vom Tode her als ganzes in den Blick kommen, sondern nur von einer die Endlichkeit des Daseins überschreitenden Bestimmung her“. Wolfhart Pannenberg, Über historische und theologische Hermeneutik, in: Grundfragen Systematischer Theologie Bd.1, Göttingen 1967, 123–158, hier: 146. Auch wenn bei einer das Dasein überschreitenden Bestimmung zunächst an soziale Lebenszusammenhänge zu denken ist, so machen die wechselseitigen Bedingungen, in denen das Wohl gesellschaftlicher Lebensform und des Individuums stehen, deutlich, dass die Frage nach der Ganzheit des Daseins eine Antwort finden kann, in einer Bestimmung des Einzelnen und der Menschheit als Ganzer über den Tod hinaus. Vgl. ebd.,142–146. 50 Ebd., 76. Dabei gilt für Pannenberg, dass die Sinntotalität auch in der religiösen Erfahrung meistens indirekt thematisch wird im Blick auf die sie verbürgende Gottheit.

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Sichtweise erfasst und in sich integriert werden kann, die den Zukunftsbezug menschlichen Lebens und Erfahrens thematisiert und für die eigene religiöse Erfahrung als konstitutiv ansieht.51 Exakt dies gilt für den biblischen Offenbarungsglauben: Die endgeschichtliche Zukunft der Geschichte erweist sich als konstitutiv für den Selbsterweis des biblischen Gottes und somit für die Wahrheit und Allgemeingültigkeit dieser bestimmten Gottesauffassung.52 Die eschatologischen Aussagen der Bibel beschreiben nicht den genauen Ablauf zukünftiger Ereignisse, sondern formulieren Bedingungen, wie die Humanität des Menschen und die seinem Dasein Ganzheit verleihende Sinntotalität verstanden werden können, nämlich „als Folge der Durchsetzung der Gerechtigkeit Gottes, die für das Menschsein des Menschen konstitutiv ist“53. Pannenberg verfolgt damit keine Begründung eschatologischer Aussagen aus allgemeinen anthropologischen Erwägungen. Ein solches Vorgehen beanstandet er bei Karl Rahner, in dem – wie Pannenberg formuliert – „wichtigsten Beitrag der gegenwärtigen Theologie zu einer anthropologischen Begründung und Interpretation eschatologischer Aussagen“54. Rahners Begründung eschatologischer Aussagen aus dem menschlichen Selbstverständnis und seiner notwendigen Verwiesenheit auf Zukunft steht für Pannenberg in einer deutlichen Nähe zu Kants Postulat der Unsterblichkeit angesichts der Situation des Menschen als moralischem Wesen. Weil jedoch anthropologische Erwägungen nicht deren Erfüllung garantieren, bedarf es einer Modifikation des Rahnerschen Ansatzes zur Begründung eschatologischer Aussagen. Diese können nicht aus einer Transposition der Situation des Menschen als geschichtliches Wesen in die Zukunft der Heilsvollendung gewonnen werden, sondern erst durch das „Hineinwirken der Zukunft des kommenden Gottes in die Gegenwart“55. Der menschlichen Sinnstruktur und deren Wissen um ein mögliches Ganzsein „kommt in Jesus Christus die umgekehrte Bewegung aus der Zukunft Gottes auf den Menschen hin entgegen. Erst dadurch wird die christliche Hoffnungsgewissheit begründet.“56 51 52 53 54

Vgl. ebd., 75–77. Vgl. Pannenberg, STh1, 210. Pannenberg, Eschatologie und Sinnerfahrung, 70. Wolfhart Pannenberg, Systematische Theologie Bd.3 [=STh3], Göttingen 1983, 585. Vgl. Karl Rahner, Theologische Prinzipien der Hermeneutik eschatologischer Aussagen, in: Schriften zur Theologie Bd. IV, Einsiedeln 1960, 401–428. Der Übergang von allgemein anthropologischen Erwägungen zu deren Erfüllung in Christus, in dessen Person die Heilszukunft des Menschen ablesbar wäre, erfordert nach Pannenberg „unerlässliche, vermittelnde Zwischenglieder“ (Pannenberg, STh3, 586.), insofern im Zentrum der biblischen Eschatologie und auch im eschatologischen Bewusstsein Jesu die Zukunft Gottes und das Kommen seines Reiches, der Anspruch des ersten Gebotes und erst als Konsequenz das anbrechende Heil der Gottesherrschaft stehen. 55 Ebd., 578. 56 Ebd.

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Wenn Kants Postulat des ewigen Lebens sowohl für Tetens rationale Eschatologie als auch für Rahners Begründung eschatologischer Aussagen Pate gestanden hat, dürften Pannenbergs Überlegungen zu Rahner auch auf Tetens Entwurf übertragbar sein. Die Begründung der eschatologischen Hoffnung kann sich demnach nicht allein auf eine anthropologisch aufgezeigte Sinnperspektive stützen. Diese bedarf des Hinweises auf ein Subjekt, das erfüllen kann, was die menschliche Vernunft als Hoffnung postuliert. Umgekehrt kann die Hoffnung auf endgültige Erlösung nicht exklusiv aus den biblischen Verheißungen abgeleitet werden, wenn diese nicht in einer positiven Beziehung zur menschlichen Erfahrung und zum Selbstverständnis des Menschen stehen.57 Pannenberg plädiert für eine Komplementarität beider Ansätze, ein Ineinander von göttlichem und menschlichem Element, das in Christus – der vorweggenommenen Gegenwart der eschatologischen Erfüllung – bereits gegeben ist.58 Welche Möglichkeiten ergeben sich dadurch für ein Gespräch mit dem Ansatz von Holm Tetens? Kann die Rationalität, die im biblischen Offenbarungsdenken impliziert ist, mit den philosophischen Überlegungen von Tetens vermittelt werden? Kann umgekehrt die Theologie von einer rational-philosophischen Begründung von Hoffnung lernen? Dem soll im letzten Punkt nachgegangen werden.

4.

Der Status eschatologischer Aussagen

Die rational begründete Hoffnung des Menschen auf Erlösung und Vollendung seiner umfassenden Lebenswirklichkeit ist verwiesen auf den Offenbarungsglauben, der das Subjekt einer solchen Erlösung und Vollendung im Kommen der Zukunft Gottes in Jesus Christus thematisiert. Bemerkenswert ist hierbei, dass auch die christliche Hoffnungsgewissheit die Endlichkeit allen Erkennens und die Strittigkeit des Kommens Gottes in der Geschichte nicht aufhebt. Dies gilt auch im Blick auf die Christusoffenbarung und die in Christus vorweggenommene Auferstehung der Toten.59 Person und Geschichte Jesu haben selbst noch eine Zukunft: Sie eröffnen, mit einer Formulierung von Medard Kehl, der 57 Die biblischen Erzählungen und ihre eschatologischen Verheißungen müssen sich am Menschen und an seinem Angelegtsein auf eine Zukunft der Vollendung bewähren, wenn die „überlieferten Verheißungen mit Recht als Verheißungen Gottes“ (ebd., 583) verstanden werden sollen. 58 Vgl. Pannenberg, Constructive and Critical Functions of Christian Eschatology, 121–123. 59 Auch wenn sich das Wirken und das Geschick Jesu nicht allein durch den Begriff der Verheißung charakterisieren lässt, insofern Christus das „Ja [ist] zu allem was Gott verheißen hat“ (2 Kor 1,20), so gilt doch, dass das „Element der Verheißung auch im Evangelium von Jesus Christus und der darauf begründeten christlichen Hoffnung noch wirksam [ist]“. Pannenberg, STh3, 594.

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Wirklichkeit von Gott her den „Möglichkeitshorizont“60 einer universalen Teilhabe an Christi versöhntem und geheiltem Leben im Reich Gottes. Die These von der Offenbarung Gottes am Ende der Geschichte hat somit einen präzisen Sinn für die Bestimmung der christlichen Hoffnungsgewissheit und für deren Vermittlung mit einer rational-philosophischen Hoffnungsbegründung. Dem Postulat bzw. der aufgezeigten Sinnperspektive von Seiten der Philosophie entspricht auf theologischer Ebene keinesfalls eine unumstößliche Sicherheit oder ein „Bescheidwissen“ von Gott und seinem die Welt zur Vollendung führenden Handeln, sondern eine Erkenntnis aus dem Versprechen Gottes, das für den glaubenden Menschen bereits die Geschichte und Wirklichkeit bestimmt.61 Der Status eschatologischer Aussagen kann, wie Gunther Wenz im Anschluss an Schleiermacher erläutert, im Sinne „prophetischer Lehrstücke“verstanden werden: Ihre charakteristische Bezeichnung verweist auf ein Doppeltes, nämlich dass sie zum einen keineswegs vollkommener Unbestimmtheit zu überlassen sind, dass sie aber ebensowenig einer vollständigen Bestimmtheit zugeführt werden können.62

Die Implikationen der These der Offenbarung Gottes am Ende Geschichte betreffen das Wesen Gottes selbst: Dass der „biblische Gott in gewissem Sinne selbst eine Geschichte hat, da das Offenbarungsgeschehen nicht als seinem Wesen äußerlich gedacht werden kann“63, hat Pannenberg in späteren Veröffentlichungen präzisiert. Wenn der Sinn der Geschichte durch ihre zukünftige Vollendung konstituiert wird und wenn die Antizipation des Endes in der Verkündigung Jesu von der anbrechenden Gottesherrschaft und der Auferstehung Christi vorweggenommen wird, dann kann Gott als Macht der Zukunft verstanden werden, die bereits wirksam ist in kontingenten Ereignissen, im partikulären Sinnerleben und die Quelle der endgültigen Identität des Ganzen der Wirklichkeit ist.64 Das Verständnis Gottes als Macht der Zukunft kann die Kohärenz der christlichen Hoffnung im Gespräch mit dem philosophischen Hoffnungsentwurf von Tetens weiter erläutern. Die Überzeugung, dass Gott der Erlöser der Welt ist, 60 Medard Kehl, Eschatologie, Würzburg 31996, 30. 61 Vgl. ebd. 20–33. Zum Versprechenscharakter eschatologischer Aussagen vgl. auch Franz Gruber, Der Diskurs der Hoffnung. Zur Hermeneutik eschatologischer Aussagen, in: Edmund Arens (Hg.), Zeit Denken. Eschatologie im interdisziplinären Diskurs (QD 234), Freiburg 2010, 19–45; Hans-Joachim Höhn, Versprechen. Das fragwürdige Ende der Zeit, Würzburg 2003, 60–76. 62 Gunther Wenz, Vollendung. Eschatologische Perspektiven (Studium Systematische Theologie Bd. 10), Göttingen 2015, 66. Vgl. zum Ganzen: ebd., 61–82. 63 Pannenberg, Dogmatische Thesen zur Lehre von der Offenbarung, 97. 64 Vgl. Wolfhart Pannenberg, Modernity, History and Eschatology, in: Jerry L. Walls (Hg.), The Oxford Handbook of Eschatology, Oxford University Press 2008, 493–499, hier: 497.

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kann für Tetens nicht bewiesen werden. Es handelt sich um eine „transzendentale Rahmenannahme“65, die es dem Menschen ermöglicht, im Lichte dieser Überzeugung seine Erfahrung zu interpretieren und zu deuten. Wie kann man jedoch „Ernst machen“ und „lernen“, mit der theistischen Überzeugung zu leben? Der Schritt von der Einsicht in die grundsätzliche Vernünftigkeit des Gottesgedankens zum Vertrauen in Gott kann nicht mehr allein durch Argumente philosophisch aufgezeigt werden.66 M. E. kann Pannenbergs Ausgangspunkt bei der konkreten Sinnerfahrung des Menschen auf eine mögliche Antwort hinweisen. Im konkreten Erleben und Handeln des Menschen sind immer schon Sinnwahrnehmungen so präsent, dass sich Sinnzusammenhänge nicht primär als Sinngebung, sondern Sinnfindung erschließen.67 Die gegenwärtige Sinnerfahrung kann sich dabei nicht nur als das Vorwegnehmen eines endgültigen Sinnes erweisen, sondern als ein Vorwegschenken eines endgültigen Sinns in der endlichen und fragmentarisch bleibenden Sinnerfahrung, das in der religiösen Erfahrung thematisch wird.68 Die in der endlichen und fragmentarisch bleibenden Sinnfindung eröffnete Erfahrung eines grundsätzlichen Verdanktseins kann dabei die Möglichkeit des Vertrauens in die theistische Annahme über die vernünftige Sinnforderung hinaus begründen.69 In kontingenten Ereignissen und fragmentarisch bleibenden Sinnerfahrungen kann die Gegenwart Gottes als

65 Tetens, Die Möglichkeit Gottes, 34f. Vgl. auch: ders., Gott denken, 82f. 66 Tetens betont, dass eine rationale Theologie dazu beitragen kann, die intellektuellen Hindernisse, die dem religiösen Glaube im Weg stehen, aus dem Weg zu räumen. Die den Glauben begleitenden stabilen Haltungen von Vertrauen und Zuversicht sind jedoch nicht demonstrierbar. Vgl. Tetens, An Outline of Rational Theologogy, 547. 67 Vgl. zum Ganzen Wolfhart Pannenberg, Sinnerfahrung, Religion und Gottesfrage, in: Beiträge zur systematischen Theologie Bd.1, Göttingen 1999, 101–113: Pannenberg macht im Blick auf sprachlichen Sinn deutlich, dass sowohl die Interpretation von sprachlichen Äußerungen und die darin gegebene Möglichkeit, den Sinn eines Gesprochenen bzw. eines geschriebenen Textes zu verfehlen, darauf hinweisen, dass die Sinnstruktur der sprachlichen Äußerung eine selbstständige Größe ist. Wie die Interpretation von Gesprochenem und Geschriebenem dessen Sinngehalt voraussetzt, so ist auch der Behauptungscharakter bzw. der darstellende Charakter von sprachlichen Äußerungen auf eine vorausgesetzte Wahrheit bezogen, die nicht allein durch die sprachliche Äußerung selbst hervorgebracht wird. Dieser Sachverhalt ist für das Verhältnis von Sinnerfahrung und Religion fundamental. Der erfahrene Sinn geht der Erfassung durch den Menschen voraus und ist nicht nur als Produkt menschlicher Sinngebung zu verstehen. Andernfalls wäre „Religion bloße Projektion des Menschen ohne einen das menschliche Bewusstsein übersteigenden Wahrheitsgehalt“ (ebd.,105). 68 M. E. deuten Pannenbergs Ausführung über die Beziehung von Diltheys Analyse des Erlebens zu Schleiermachers Verständnis der Religion in diese Richtung. 69 Karl Rahner ist diesen Zusammenhängen für die Frage der Glaubensbegründung im Sinne einer „Logik der existentiellen Erkenntnis“ im Anschluss an seinen Ordensgründer Ignatius von Loyola nachgegangen Vgl. dazu Karl Rahner, Glaubensbegründung heute, in: Schriften zur Theologie Bd. 12, Zürich 1975, 17–40; ders., Einige Bemerkungen zu einer neuen Aufgabe der Fundamentaltheologie, in: Schriften zur Theologie Bd. 12, a. a. O., 198–211.

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Macht der Zukunft angenommen werden, ohne die Endlichkeit menschlichen Erkennens und die Strittigkeit der Gegenwart Gottes zu leugnen. Wenn für „prophetische Lehrstücke“ gilt, dass diese keinesfalls in einer vollständigen Unbestimmtheit bleiben, dann kommt dem Gerichtsgedanken im Blick auf das biblische Zeugnis eine zentrale Bedeutung für das eschatologische Gotteshandeln am Ende der Geschichte zu. Für Tetens ist der Gerichtsgedanke nicht bestimmt durch eine Bestrafung der Übeltäter, sondern durch eine in der Konfrontation mit der Wahrheit des eigenen Lebens von Gott gewährte Möglichkeit zur Versöhnung von Tätern und Opfern. Die christliche Theologie wird in diesem Zusammenhang betonen, dass Gott die letzte Verantwortung für das Versöhnungsgeschehen trägt. Diese Verantwortung darf nicht einseitig auf die Opfer übertragen werden. Andernfalls besteht die Gefahr, dass die Opfer einmal mehr instrumentalisiert werden. Ein intersubjektiv und sozial gedachtes eschatologisches Gerichts- und Versöhnungsgeschehen impliziert von Seiten des Menschen die Möglichkeit eines über den Tod hinaus fortgesetzten Freiheitsgebrauchs, den die traditionelle Eschatologie in dieser Form nicht kannte.70 Die damit implizierten Probleme deutet Tetens an, wenn er davon spricht, dass die Rahmenbedingungen eines ewigen Lebens zwar keine physischen Übel, wohl aber noch die Möglichkeit eines durch menschliches Handeln verursachten Übels zulassen.71 Ist hier nicht die Gefahr einer „Verdoppelung der Welten“ gegeben? Wird hier über die Begrenztheit eines „prophetischen Lehrstücks“ hinausgegangen? Für Tetens wird es nicht zu erneuten „eschatologischen“ Leiden und Übeln kommen, weil sich die Menschen faktisch versöhnen lassen. Im Anschluss an Holm Tetens ist festzuhalten, dass es der Bedeutung der menschlichen Freiheit und der Würde eines personalen Gottes und seines Gerichtshandelns widerspricht, wenn die menschliche Freiheit im Tod schlicht „erlischt“ und der Mensch unerbittlich auf einen bestimmten moralischen Status quo festgelegt wird. Allerdings kann in diesem Zusammenhang – mit Karl Rahner und über ihn hinaus – deutlicher unterschieden werden zwischen einer im Tod erreichten Endgültigkeit der menschlichen Lebensgeschichte und ihrer Vollendung durch Gott, in die auch die menschliche Freiheit einbezogen ist.72 Eine bestimmte Freiheit, die immer wieder neue „kategoriale“ Einzelakte setzt (klassisch gesprochen: eine Freiheit, die „Verdienste“ erwirbt), endet mit dem Tod. Denkbar ist jedoch eine Freiheit, die sich mit der Geschichte ihrer Taten dem richtenden, läuternden und vollendenden Handeln Gottes überlässt. Das Gericht 70 Vgl. dazu Eva-Maria Faber, Das Ende, das ein Anfang ist. Zur Deutung des Todes als Verendgültigung des Lebens, in: ThPh 76 (2001), 238–252. 71 Vgl. Tetens, Gott denken, 69. 72 Vgl. dazu meine Habilitationsschrift: Klaus Vechtel, Eschatologie und Freiheit. Zur Frage der postmortalen Vollendung in der Theologie Karl Rahners und Hans Urs von Balthasars (ITS Bd.89) Innsbruck – Wien 2014, 107–128, 264–268.

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kann dabei als Geschehen einer endgültigen und vollendenden Identitätsfindung gedacht werden.73 Der Mensch wird mit der Wahrheit seines Lebens und den Konsequenzen seines Tuns konfrontiert und zu einer unverstellten Selbsterkenntnis geführt. Damit ist jedoch keine schlichte Fixierung auf einen Status quo impliziert. Entscheidend für die letztgültige und vollendete Identität des Menschen wäre, inwieweit er sich im Gericht für die Wahrheit seines Lebens öffnen wird und diese annehmen kann. Wir können unserem Leben nichts mehr „hinzufügen“. Wir können es jedoch mit anderen Augen sehen lernen: mit den Augen des gerechten und zugleich barmherzigen Gottes. Eine hier skizzierte Beteiligung der menschlichen Freiheit im Vollendungsgeschehen ist im Denken Pannenbergs nicht ausgeschlossen. Der für die Trinitätslehre, Christologie und Anthropologie zentrale Gedanke einer Selbstunterscheidung Jesu bzw. des Menschen von Gott kann dabei das Vollendungsgeschehen bezogen werden.74 Die Einheit des Menschen mit Gott wird nur dort realisiert, „wo der Mensch sich von Gott unter unterschieden weiß und sich selbst in seiner Endlichkeit Gott gegenüber annimmt als sein Geschöpf“75. „Nur unter der Bedingung der Selbstunterscheidung von Gott“76, nur indem der Mensch seine Endlichkeit als von Gott gegeben annimmt, gelangt er zur Gemeinschaft mit Gott. Die Menschen müssen „dem Bilde des Sohnes gleichgestaltet werden“77, um in der Teilnahme an der Selbstunterscheidung des Sohnes vom Vater auch an seiner Gemeinschaft mit dem Vater Anteil zu erhalten. Dieser Zusammenhang gilt in besonderer Weise für die eschatologische Vollendung: Die Selbstständigkeit und freie Selbstunterscheidung des Geschöpfes bzw. des Menschen von Gott bleibt in der eschatologischen Vollendung erhalten „und wird sogar erst durch dieses Geschehen in ihrem eigentlichen Sinne, nämlich als Realisierung der wahren Freiheit des Geschöpfes vollendet“78. Für Pannenberg verbindet sich die 73 Vgl. zu einer solchen Gerichtskonzeption Kehl, Eschatologie 281–292; Jan-Heiner, Tück, In die Wahrheit kommen. Das Gericht Jesu Christi – Annäherungen an ein eschatologisches Motiv, in: Thomas Herkert/Matthias Remenyi (Hg.), Neues von den letzten Dingen, Darmstadt 2009, 99–122; Joseph Ratzinger, Eschatologie – Tod und ewiges Leben, 177; 168–171; vgl. auch Vechtel, Eschatologie und Freiheit 283–302. Pannenberg schreibt das vergebende und läuternde Handeln Gottes vor allen Dingen dem heilschaffenden Geist zu. Vgl. Pannenberg, STh3, 668–672. 74 Ich verdanke diesen Hinweis dem Beitrag von Frau Prof. Dr. Christine Axt-Piscalar. 75 Wolfhart Pannenberg, Systematische Theologie Bd.2, Göttingen 1991, 264. 76 Ebd., 265. 77 Ebd. 78 Pannenberg, STh3, 690. Pannenberg betont dabei, dass die Trennung von Gott durch das WieGott-sein-Wollen des Ich verursacht ist. Durch das vollendende Wirken des Geistes wird eine Verselbständigung überwunden und das Sohnesverhältnis des Geschöpfes vollendet: „Dadurch wird es möglich, unser geschöpfliches Leben als ganzes aus der Hand des Schöpfers anzunehmen, in Selbstunterscheidung von Gott und daher im Geltenlassen der anderen Geschöpfe. Dennoch wartet auch der Christ noch auf eine Zukunft, in der sein zeitliches

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Frage nach dem Selbst des Menschen und seiner Identität mit dem Gedanken einer Wesenszukunft, die über den Tod hinaus bei Gott und seinem die Geschichte vollendenden Handeln liegt.79 Gottes Selbsterweis am Ende der Geschichte als Richter und Tröster kann somit als entscheidend für unser Selbstverständnis als freie und moralische Wesen verstanden werden. Diesen Möglichkeitshorizont eröffnen das Denken des Philosophen Holm Tetens und des Theologen Wolfhart Pannenberg.

Leben zur Gänze vom Gotteslob durchdrungen und zu unvergänglicher Gemeinschaft mit dem ewigen Gott verherrlicht wird.“ Ebd., 648. Vgl. zum Ganzen: ebd., 641–654. 79 Vgl. Pannenberg, Eschatologie und Sinnerfahrung, 73.

Josef Schmidt SJ

Die Einheit von Absolutheit und Relativität in „Offenbarung als Geschichte“ und ihre spätere Entfaltung

1.

Offenbarung als Geschichte1

In seiner „Einführung“ in die Programmschrift „Offenbarung als Geschichte“ (1961, 4. Aufl. 1970) schreibt W. Pannenberg, dass es in der neueren Theologie eine „bemerkenswerte Übereinstimmung darüber“ gebe, „dass Offenbarung wesentlich Selbstoffenbarung Gottes ist“ (7f.), d. h. nicht als „Kundmachung beliebiger, sonst verborgener Sachverhalte durch Gott“ verstanden wird, sondern als dessen „Selbstenthüllung“ oder „Selbsterschließung“ (8). Den strengen Begriff von Offenbarung als Selbsterschließung des Absoluten scheint erst Hegel eingeführt zu haben; denn bei ihm wird zum ersten Mal sichtbar, dass die volle Selbstkundgabe Gottes nur eine einzige sein kann (8).

Zu den verschiedenen Stellen, die Pannenberg als Beleg anführt (9, Anm. 7), sei noch auf folgende hingewiesen: Im indischen Pantheismus kommen unzählig viele Inkarnationen vor, da ist die Subjektivität, das menschliche Sein nur akzidentelle Form in Gott, sie ist nur Maske, die die Substanz annimmt und in zufälliger Weise wechselt. Gott aber als Geist enthält das Moment der Subjektivität, der Einzigkeit an ihm; seine Erscheinung kann daher auch nur eine einzige sein, nur einmal vorkommen (G.W.F. Hegel, Vorlesungen. Ausgewählte Nachschriften und Manuskripte, Band 5, hrsg. von Walter Jaeschke, Hamburg 1984, S. 237).

Pannenberg: Die Behauptung einer Mehrzahl von Offenbarungen bedeutet die Diskreditierung jeder einzelnen von ihnen. Die Gestalt der göttlichen Manifestation ist dann in keinem Falle 1 Aus folgenden Büchern Pannenbergs wird zitiert: OaG: Offenbarung als Geschichte, Göttingen 1961; GsTh: Grundfragen systematischer Theologie, Göttingen 1971; ThuRG: Theologie und Reich Gottes, Güthersloh 1971; GdChr: Grundzüge der Christologie, Güthersloh, 4. Aufl. 1972; GmFr: Gottesgedanke und menschliche Freiheit, Göttingen 1972; WuTh: Wissenschaftstheorie und Theologie, Frankfurt a. M. 1973; GsTh 2: Grundfragen systematischer Theologie Band 2, Göttingen 1980.

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der einzig adäquate Ausdruck des Offenbarenden. Gott mag in jeder dieser Gestalten mehr oder weniger transparent sein, aber er ist in keiner von ihnen im vollen und ausschließlichen Sinne offenbar (10)

„Der Ursprung eines theologischen Gedankens im deutschen Idealismus ist nicht immer schon der Erweis seiner Verwerflichkeit“ (9). Die Schwierigkeit besteht allerdings darin, „dass die Schriften des Alten und Neuen Testamentes eine terminologische Prägung ‚Selbstoffenbarung Gottes‘ nicht kennen“ (12). Hier findet sich statt einer direkten Selbstoffenbarung Gottes der Sache nach der Gedanke einer indirekten Selbstoffenbarung im Spiegel seines Geschichtshandelns. Die Gesamtheit seines Redens und Tuns, die von Jahwe gewirkte Geschichte, zeigt indirekt, wer er ist (15).

„Es kann also nur gelten, das Ganze des Gotteshandelns – und das heißt, wenn es um den einen Gott geht, das Ganze alles Geschehens – als Offenbarung Gottes zu verstehen“ (17). Dass die Selbstoffenbarung Gottes sich geschichtlich und zwar bezogen auf die Gesamtgeschichte ereignet, ist nun wiederum eine Gedanke Hegels, wie Pannenberg feststellt. Doch die Gestalt wie er bei Hegel begegnet, musste auf Widerspruch stoßen, und zwar in dem Maße, als man sich „immer deutlicher der Unabgeschlossenheit und daher Unüberschaubarkeit der Geschichte als ganzer, der Offenheit alles Geschehens auf die Zukunft hin bewusst geworden ist“ (19). Lässt sich die definitive Selbsterschließung Gottes in der Geschichte mit deren stets unabgeschlossenem Deutungskontext in Einklang bringen? Pannenberg antwortet auf diese Frage mit der zweiten These in seinem systematischen Beitrag, die lautet: „Die Offenbarung findet nicht am Anfang, sondern am Ende der offenbarenden Geschichte statt“ (95). Zunächst nennt er die wichtigen Schritte, in denen sich Gott durch sein Geschichtshandeln dem Volk Israel jeweils neu offenbarte (96, 103): Es sind: die Befreiung aus Ägypten, die Landnahme, das Königtum, dessen Zusammenbruch von den Propheten vorhergesagt, aber zugleich mit der Verheißung neuen Heiles verbunden wurde. Da dieses neue Heil nicht einfach identisch sein konnte mit der Situation der Heimkehrer aus dem Exil, bildete sich eine Apokalypik aus, die das endgültige Heilshandeln Gottes und die endgültige Aufrichtung seiner Herrschaft in einer letzten Zukunft erwartete, dem Ende der Welt mit ihrem Übergang in einen neuen Himmel und eine neue Erde, verbunden mit der allgemeinen Auferstehung von Toten. „Erst am Ende alles Geschehens kann Jahwe als der eine, einzige Gott endgültig offenbar sein“ (97). Alles Handeln Gottes zuvor im Laufe der Geschichte ist nur indirekter Vorschein dieses Endes. Wie verhält sich dazu der Glaube, dass Gott sich bereits innerhalb der Geschichte, in Jesus von Nazareth letztgültig und unüberholbar offenbart hat? Die Antwort ist Pannenbergs 4. These: „Die universale Offenbarung der Gottheit Gottes ist noch nicht in der Geschichte Israels, sondern erst im Geschick Jesu von Nazareth

Die Einheit von Absolutheit und Relativität in „Offenbarung als Geschichte“

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verwirklicht, insofern darin das Ende alles Geschehens vorweg ereignet ist“ (103). An Jesus „ist mit der Auferweckung von den Toten bereits geschehen, was allen anderen Menschen noch bevorsteht“ (104). In dieser Perspektive ist das Geschick Jesu zur „weltgeschichtlichen Tatsache“ (105) geworden. Angenommen kann sie allerdings nur werden in einem Verstehenshorizont, der für die Auferstehungshoffnung aufgeschlossen ist. Wenn es keine Auferstehung gibt, kann auch Christus nicht auferstanden sein (108), so Paulus. Doch gilt nach ihm auch das Umgekehrte: Nun ist aber Christus auferstanden. Also ist jene allgemeine Hoffnung berechtigt. Mag die Botschaft von einer leiblichen Auferstehung auch zunächst auf Unverständnis stoßen (Apg. 17,32). Sie kann jedoch an einen verbreiteten Unsterblichkeitsglauben anknüpfen und ihn modifizierend vertiefen. Pannenberg sieht die Notwendigkeit eines entsprechenden Verstehenshorizontes auch für heute gegeben (109). Für ihn zu sensibilisieren sieht er für unverzichtbar an, wenn die Osterbotschaft auch heute Bedeutung haben soll. In einer auf der Transzendenzfähigkeit des Menschen basierenden Anthropologie sieht er die Möglichkeit dazu gegeben (109). Denn eines ist klar Eine Verkündigung von Jesus, die sich von der Osterbotschaft löst und zwar in ihrer Bedeutung für alle Menschen, gibt ihren Kern auf. Das bleibt ein Hauptpunkt der Theologie Pannenbergs. In Jesu Geschick ereignet sich vorweg die Aufnahme der Schöpfung in das Leben Gottes. Diese Aufnahme ist die Zukunft, auf welche die Schöpfung zugeht. Indem der Mensch sich auf diese Zukunft einstellt, sich auf sie hin öffnet, ist sie auch schon in ihm wirksam und d. h. wirklich. Denn diese Zukunft ist nichts anderes als die Macht Gottes selbst, die schon immer die Gegenwart bestimmt hat und sie auch jetzt bestimmt. Sie ist insofern diese Zukunft als schon gegenwärtiges Sein, als Hypostasis, auf die sich zu stellen, Vertrauen, Glaube ist (Hebräer 11, 1). Die Aporie ist damit entschärft, denn: 1. Obwohl nur die Gesamtgeschichte die Gottheit des Einen Gottes erweisen und dieses Resultat nur am Ende aller Geschichte sich ergeben kann, hat doch ein einzelnes Geschehen absolute Bedeutung als Offenbarung Gottes, das Christusgeschehen, sofern es das Ende der Geschichte vorwegereignet. 2. Aus demselben Grunde, als Vorausereignis des Endes, kann das Christusereignis durch kein späteres Geschehen überholt werden und bleibt auch allem Begreifen immer noch voraus, solange die Menschen der offenen Zukunft des Eschaton noch entgegengehen (106).

2.

Die Ausführung der Christologie

Alles hängt an der Osterbotschaft, der Botschaft vom auferstandenen Jesus. Was seine Auferstehung zu dem großen Vorwegereignis des Endes der Geschichte und der allgemeinen Totenauferstehung macht, ist dies, dass sich hier Gott selbst in Vorwegnahme dieses Endes gezeigt hat. Wie dies mit der Indirektheit seines

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Handelns zusammengeht, wird von Pannenberg noch nicht genauer ausgeführt. Dies geschieht erst in dem 1964 erschienen Buch „Grundzüge der Christologie“. In OaG verweist er immerhin darauf, dass „die Trinitätslehre den Gottesgedanken der als Geschichte ereigneten Offenbarung formuliert“ (105). Der Grundgedanke der „Christologie“ von 1964 ist der, dass die Botschaft Jesu von der kommenden Gottesherrschaft seine Einheit mit Gott begründet. Jesus verweist von sich weg auf den kommenden Gott. Damit wird Gott indirekt, d. h. im Verweis Jesu auf ihn, offenbar. Gott erscheint in dem Menschen, der in vollkommener Selbstübergabe auf Gott verweist. Diese Erscheinung ist die volle Selbstaussage Gottes in der Geschichte. Gott ist von dem Menschen, in dem er so vollkommen erscheint, nicht mehr zu trennen. Er ist eins mit ihm in der Einheit des Seins. D. h. indem Jesus sich in Selbstunterscheindung Gott unterordnet, wird dieser als Vater seines Sohnes offenbar, offenbar als der Gott, der er in Ewigkeit ist, im einen Geist Gottes. Die Auferstehung ist der Beweis dieser Einheit mit Gott, die Einheit mit seinem göttlichen Leben. Der theologische Gedanke der vollkommenen Selbsterschließung Gottes ist hier bewahrheitet, die Offenbarung des einen Gottes, in der Beziehungseinheit Gottes von Vater und Sohn im einen und einigenden Geist (vgl. besonders GdChr § 9).

3.

Die Anwendung auf die Religionsgeschichte

Im Jahr 1962, also ein Jahr nach dem Erscheinen von OaG hielt Pannenberg vor Orientalisten, Althistorikern und Theologen den Vortrag „Erwägungen zu einer Theologie der Religionsgeschichte“, der überarbeitet und erweitert in den „Grundfragen systematischer Theologie“ (1967) erschien. Die in OaG erarbeitete Sicht auf die Vielfalt der indirekten Offenbarung Gottes wird nun auf die gesamte Religionsgeschichte angewendet. Scharf wendet sich Pannenberg gegen Versuche der dialektischen Theologie, das Christentum mit seinem Offenbarungsanspruch den „Religionen“ als bloß menschlichen Erfindungen gegenüberzustellen: Man rufe hier nur den „Feuerbachschen Illusionimus zu Hilfe, um sich die Konkurrenz der anderen Religionen vom Halse zu schaffen“ (GsTh 253 Anm 5). Das Christentum muss sich den konkurrierenden Ansprüchen der anderen Religionen stellen. „Es könnte doch sein, dass die religiöse Besonderheit des Christentums erst durch seine Funktion im Prozess der Religionsgeschichte selbst in den Blick käme“ (256). Jede der Religionen hat ihre Entwicklung. Sie stehen untereinander in Wechselwirkung, und jede ist auf ihre Weise „synkretistisch“ (268 ff). Pannenberg gibt diesem Begriff einen positiven Sinn, denn er verweist auf die jeweilige „Assimilations- und Integrationskraft“ (269) einer religiösen Tradition.

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In den geschichtlichen Wechselwirkungen zwischen den verschiedenen Religionen ist faktisch die Einheit der Religionsgeschichte hervorgetreten, oder besser: Dieser Prozess ist heute noch im Gange als ein Wettstreit der Religionen um die Wirklichkeit, ein Wettstreit, der darin begründet ist, dass Religionen es mit dem Gesamtverständnis der Wirklichkeit zu tun haben. (270).

Wandlungen der Religionen lassen sich nicht allein aus ökonomischen oder politischen Gegebenheiten erklären, sondern müssen der religiösen Intention folgen, die auf das Widerfahrnis des Göttlichen gerichtet ist, „weil schon von den Anfängen her die verschiedenen Völker ihre Götter als die Gesamtwirklichkeit bestimmende Mächte verstanden“ (277). Mit Feuerbach schien man diesen Wirklichkeitsbezug in Illusion auflösen zu können, wobei diese Illusion ihren Realitätscharakter dadurch gewinnen sollte, dass man sie in der anthropologischen Struktur verankerte (279f.). Auf eine solche Verankerung läuft nach Pannenberg auch die Rede vom „religiösen Apriori“ (280) hinaus, da gerade ihre Kantische Prägung eine Reduktion des Religiösen lediglich auf die Subjektstruktur des Menschen nahelegt. Doch diese Reduktionen übersehen die prinzipielle Fähigkeit des Menschen zur Selbsttranszendenz des Menschen. Wenn es wirklich zur Struktur seines Daseins gehört, ein seine Endlichkeit übersteigendes Geheimnis der Wirklichkeit vorauszusetzen und sich auf dieses als Erfüllung seines eigenen Seins zu beziehen, dann lebt der Mensch faktisch immer schon im Umgang mit dieser Wirklichkeit. (283).

„In solchem tatsächlichem Umgang der Menschen mit dem Geheimnis des Seins, auf das die Struktur ihres Dasein sie verweist, muss sich dessen Wirklichkeit erweisen“ (284). Es geht also um einen Erweis, ja einen Selbsterweis der göttlichen Wirklichkeit. Doch: Diese Feststellung hat einen durchaus unmythologischen Sinn. Wo der von früheren Generationen überlieferte oder aus eigener früherer Erfahrung erinnerte oder auch noch nie so gedachte Gott – oder auch das unpersönliche, verborgene Geheimnis des Daseins – plötzlich relevant wird für die Erfahrung der Daseinswirklichkeit in konkreter Situation, da ereignet sich ein Widerfahrnis der Wirklichkeit, auf die die religiöse Sprache und implizit alles menschliche Verhalten sich beziehen im transzendierenden Vorgriff über sich selbst und alles Endliche hinaus – christlich gesprochen, ein Handeln Gottes. (284).

Mit den geschichtlichen Umbrüchen im allgemeinen Weltverständnis kann sich in den Religionen auch die Deutung jener Widerfahrnisse ändern und ihre Vorläufigkeit bewusst werden. Wird die Religion solche Infragestellungen verkraften oder daran zugrunde gehen? (289) Israel ist die Religion, welche die Vorläufigkeit des göttlichen Handelns in sich aufgenommen hat, in dem Bewusstsein, dass sich ihm Gott immer wieder neu zeigt, aber auch in der oft schmerzlichen Andersheit seines göttlichen Erscheinens immer als der selbe und

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treue doch noch erkennbar bleibt, erkennbar freilich nur im Vorgriff auf eine letzte Zukunft, aus der Gott uns Menschen entgegenkommt. Das ist die Botschaft Jesu vom Reich Gottes. Als die Macht der aus ihrer Zukünftigkeit, aus ihrem Kommen gedachten Zukunft kann er durch keine andere Zukunft, durch keine neue Gotteserfahrung mehr überholt werden, sondern sich in neuen Widerfahrnissen des göttlichen Geheimnisses nur noch als in neuen Erscheinungsformen seiner selbst manifestieren. (292).

Der Blick auf die Religionsgeschichte legt die Überzeugung nahe, dass hier die in der Geschichte der Religionen – auch des Christentums selbst – immer wieder strittige Wirklichkeit der göttlichen Macht in ihrer Unendlichkeit, die in den Wandlungen der Religionsgeschichte sich manifestiert, definitiv erschienen, offenbar geworden ist. (294).

4.

Konsequenzen für das Verhältnis von Wissenschaftstheorie und Theologie

Schon in OaG hieß es, dass „die Gott offenbarenden Ereignisse“ prinzipiell der Vernunft zugänglich sein müssen, denn: In dieser Sprache der Tatsachen hat Gott seine Gottheit erwiesen. Um das wahrzunehmen, braucht zu den offenbarenden Begebenheiten – die natürlich nicht als bruta facta, sondern in ihrem überlieferungsgeschichtlichen Kontext zu sehen sind – nichts hinzugefügt zu werden, das in den Ereignissen etwas anderes sehen ließe als was aus ihnen selbst erhoben werden kann. (100).

Eine vollkommen subjektunabhängige Faktizität gibt es ohnehin nicht. Alles was ist, steht in einem Bedeutungszusammenhang, den Pannenberg in „Wissenschaftstheorie und Theologie“ (1973) als Sinnzusammenhang entfaltet. Dieser Sinnzusammenhang ist umfassend, denn ihn als prinzipiell begrenzten zu denken wäre ein Widerspruch. Zugleich ist diese Ganzheit unbestimmt und nicht irgendwo abschließbar. Alle einzelnen Sinneinheiten sind in diesen Kontext eingebettet und durch ihn bestimmt. Mit dem geschichtlichen Wandel, dem er unterworfen ist, sind es auch die Bedeutungen jener Einheiten und der Mensch selbst ist einbezogen in die Sinnthematik, und zwar theoretisch-praktisch wie es der Struktur des Sinnbegriffs entspricht. Der Sinnkontext ist der eigene Lebenskontext. Das eigene Leben zu bejahen heißt seinen Sinn zu bejahen und wenn dieser nur im Sinnkontext gegeben ist, dann muss die Bejahung sich auch auf ihn erstrecken. Doch dieser Kontext ist unüberschaubar, unabgeschlossen und geschichtlich veränderlich. So wird der bis in die eigene Existenz reichende Zweifel am Sinn verständlich. Die Radikalisierung zum Nihilismus gerät allerdings in einen performativen Widerspruch. Denn:

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Dabei hat das Erlebnis der Sinnlosigkeit selber den Charakter eines Bedeutungserlebnisses in dem hier verwendeten formalen Sinn des Wortes und impliziert seinerseits eine bestimmte Sinntotalität. Diese ist hier wie sonst im Bedeutungserlebnis mitgesetzt in der Weise, dass dieses zur Anweisung ihrer fortschreitenden hermeneutischen Erhellung werden kann,

bis dahin dass der „Eindruck: ‚alles ist sinnlos‘ […] als ‚falsches Bewusstsein‘ überführt“ werden kann (218). Die Ambivalenz, die diese performative Argumentation bestimmt, indem sie deren negativen Aspekt veranlasst und ihren positiven ermöglicht, muss auch den Begriff einer selbst nochmals transzendenten und damit alles bestimmenden Sinn-Wirklichkeit betreffen. „An dieser Stelle, nämlich im Hinblick auf die einende Einheit alles Wirklichen, stellt sich für die Philosophie die Gottesfrage, die Frage nach der letztlich alles bestimmenden Wirklichkeit“ (306). Insofern dieser Begriff der „alles bestimmenden Wirklichkeit“ eine Herausforderung für das Denken ist, ist er immerhin ein „Problembegriff“ (301). Doch wie wäre seine Wahrheit zu erweisen? Wohl nicht durch eine äußere Verifikation, in der er auf eine „von ihm unterscheidbare Realität angewiesen“ wäre, um in seiner Wahrheit „überprüfbar“ zu sein. Dieser […] Schwierigkeit lässt sich dadurch begegnen, dass der Gottesgedanke an seinen eigenen Implikationen gemessen und geprüft wird: Der Begriff Gottes als der seinem Begriff nach alles bestimmenden Wirklichkeit ist an der erfahrenen Wirklichkeit von Welt und Mensch zu bewähren. Gelingt solche Bewährung, dann ist sie nicht durch eine dem Gottesgedanken äußerliche Instanz erfolgt, sondern das Verfahren erweist sich dann als der Form des ontologischen Gottesbeweises gemäß, als Selbsterweis Gottes. (302).

Der Text ist genau zu lesen. Der Gottesbegriff soll an seinen eigenen Explikationen gemessen werden, und eben dies soll dem ontologischen Gottesbeweis entsprechen. Doch kann diese Entsprechung nur dann zum Wahrheitsbeweis Gottes werden, wenn der ontologische Gottesbeweis nicht in der Weise der gewöhnlich kritisierten Form verstanden wird, nämlich als Deduktion aus einem bloßen Begriff. Denn solche Deduktion kann nichts anderes produzieren als wiederum nur bloße Begriffe. Auf den ersten Blick scheint Pannenberg diesem fragwürdigen Verständnis des Beweises zu folgen, da er ihn als Explikation eines Problembegriffes beschreibt. Doch soll dieser an der Erfahrung verifiziert werden, was jenem Verständnis widerspricht. Aber widerspricht diese erfahrungsbezogene Konzeption nicht wieder dem Gedanken der Selbstexplikation des Gottesbegriffs. Sie widerspricht ihr nicht, wenn der Begriff der alles bestimmenden Wirklichkeit von vornherein als Explikat einer Erfahrung begriffen wird, einer Erfahrung, in der Gott selbst sich zu erfahren gibt. Meiner Ansicht nach ist dies überhaupt das

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korrekte Verständnis des Anselmischen Beweises. Der Ausgang ist dort nicht ein bloß Gedachtes, sondern das Denken, über welches eben dieses Denken, und das kann nur heißen, das Denken in seiner Selbsttranszendenz, nicht hinausgehen kann. Die Frage ist allerdings, ob es geschickt ist, diesen bereits erfahrungsbasierten Gottesbegriff eine „Nominaldefinition“ (304) zu nennen. Doch dieser Gottesbegriff hat seine geschichtliche Gestalt, in der sich jene Grunderfahrung, dessen Explikat er ist, jeweils darstellt. Wir sahen, dass sie sogar vom Schatten des Nihilismus begleitet sein kann. D. h. Die Überzeugungs- und Integrationskraft des Gottesbegriffes bleibt Antizipation. Pannenbergs Resumé (im Text kursiv): Die Wirklichkeit Gottes ist mitgegeben jeweils nur in subjektiven Antizipationen der Totalität der Wirklichkeit, in Entwürfen der in aller einzelnen Erfahrung mitgesetzten Sinntotalität, die ihrerseits geschichtlich sind, d. h. der Bestätigung oder Erschütterung durch den Fortgang der Erfahrung ausgesetzt bleiben (312f.).2 Dabei ist auch hier die Bekundung göttlicher Wirklichkeit immer als Selbstbekundung zu denken, ihre Bedingtheit durch den antizipatorischen Charakter menschlicher Sinnerfahrung also noch einmal als Selbstbedingen Gottes; denn es würde dem Gedanken der alles bestimmenden Wirklichkeit widersprechen, wenn er anders als durch sich selbst zugänglich wäre. (313).

Daraus ergibt sich die Möglichkeit einer „kritischen Theologie der Religionen“ ohne „dogmatische ‚Prämisse‘“ (369), „durch die Erwägung“, dass in der Geschichte die Frage nach der ‚wahren‘ Religion strittig ist und dass es bei dieser Strittigkeit um die Fähigkeit der verschiedenen religiösen Überlieferungen zur Integration der sich verändernden Wirklichkeitserfahrung von den Motiven der eigenen Überlieferung aus und zur Assimilation der in ihrem Licht sich aufdrängenden Wahrheitsmomente anderer religiöser Traditionen. (369).

Pannenberg stellt genau das in die Mitte seiner Theologie, was seit D.F. Strauß und A. Schweizer für unsere Zeit obsolet geworden zu sein schien: den apokalyptischen Zug in Jesu Botschaft. Dabei lenkt er den Blick auf die Identifikation Jesu mit dem kommenden Menschensohn. Nicht die politischen Reiche, die dort als Tiere symbolisiert werden, sind die letzten Mächte, sondern der Menschensohn (Dan 7), d. h. die Menschlichkeit ist letzte Macht (GsTh 2, 69). Jede Zeit hat neue, eigene Herausforderungen, denen nur eine schöpferische Reflexion auf den mit Christus gegeben Maßstab wahrer Menschlichkeit gerecht werden kann. Außerdem hat die Christusbotschaft neue Herausforderungen mit „geschaffen“. 2 Der Begriff der „Sinntotalität“ entspricht nach Pannenberg dem Begriff des am Menschen handelnden Universums bei Schleiermacher. Doch wird dieser mit einer Korrektur versehen: „denn nicht die Sinntotalität des Universums wird als auf uns handelnd erfahren, sondern die diese Sinntotalität selbst konstituierende, sie einende Einheit einer göttlichen Wirklichkeit“ (GsTh 2, 76).

Die Einheit von Absolutheit und Relativität in „Offenbarung als Geschichte“

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Pannenberg nennt als „weltgeschichtliche Tatsachen“ „die Verbindung des Evangeliums mit dem griechischen Geist“, „die im Wesen der eschatologischen Gemeinde begründete Übernahme von Verantwortung für die staatliche Rechtsordnung im heute so viel geschmähten konstantinischen Zeitalter“ (OaG 106). Ebenso wie es eine „christliche Legitimität der Neuzeit“ gibt (GmF 126) und „die Säkularisierung“ als „Ausdruck der Mündigkeit des christlichen Laien“ gesehen werden kann (ebd. 127). So steht jede Zeit vor neuer Beanspruchung durch Gott, der durch diese Beanspruchung an uns handelt dasjenige fordernd, was die Menschlichkeit von uns verlangt. Einen anderen Maßstab haben wir nicht als den der definitiven Liebe Gottes zu seinen Geschöpfen. Diese Liebe hat Ewigkeitswert und eröffnet so die Perspektive auf ein Leben über den Tod hinaus. Denn die Liebe ist die letzte Macht und durch nichts widerlegbar. Dies zeigt das Kreuz, über das Gott gesiegt hat, indem er sich ihm unterwarf und Gott blieb und so auch als Macht über alles Geschehen, sei es vergangen, gegenwärtig oder zukünftig, d. h. über alle Geschichte, offenbar wurde.

Thomas Oehl

Gottes strittige Wirklichkeit und unthematisches Wissen von Gott Zum Zusammenhang zweier Kerngedanken in Pannenbergs Theologie

1.

Einleitung

Wolfhart Pannenbergs Theologie hat ihre Keimzelle in der Programmschrift Offenbarung als Geschichte (1961). In ihr ist angelegt, was Pannenberg in den Folgejahrzehnten profiliert als eigenständigen theologischen Entwurf – auch als Gegenentwurf zur Theologie Karl Barths – entwickeln sollte. Ein Entwurf, für den der Gedanke wesentlich ist, dass die Theologie wahre Behauptungen über Gott (und über anderes sub ratione dei) aufstellt, die als solche den Charakter wissenschaftlicher Behauptungen haben; weiter, dass diese Behauptungen – wie in jeder anderen Wissenschaft – bestreitbar sind, aber auch tatsächlich strittig, jedenfalls bis zu ihrer möglichen endgültigen Verifikation; und schließlich, dass diese Strittigkeit kein malum ist, sondern dem Wesen Gottes als eines sich geschichtlich – und nicht instantan – offenbarenden Gottes angemessen. Die Strittigkeit Gottes unter präeschatologischen Bedingungen ist so nicht etwas, auf das sich fromme Theologen, wider besseren Wissens, aus Respekt vor einer säkularen Öffentlichkeit einzulassen hätten, sondern etwas, das wesentlich zu ihrem Geschäft, der Theologie, hinzugehört, wenn sie (und deshalb, weil sie) Gott als das, was er wesentlich ist, zu denken versuchen – als einen Gott, der sich geschichtlich selbst offenbart und dessen Wirklichkeit erst dadurch erkennbar wird, und zwar auch als unter präeschatologischen Bedingungen prinzipiell strittige.1 1 Pannenberg formuliert dies in aller Klarheit so (STh I, 59): „Sogar noch die Strittigkeit der Wirklichkeit Gottes in der Welt muß in Gott begründet sein, wenn er der Schöpfer dieser Welt sein soll. Darum darf die Darstellung der christlichen Lehre nicht von der Voraussetzung ihrer Wahrheit ausgehen, sondern muß sich – auch in ihrem Selbstverständnis (denn faktisch tut sie es ohnehin) – der Strittigkeit der Wirklichkeit Gottes und seiner Offenbarung in der Welt stellen.“

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Vor dem Hintergrund dieser Wesenszüge von Pannenbergs Theologie muss man, nüchtern besehen, überrascht bis verblüfft sein, dass zu ihren Kernbeständen ein Theorem gehört, das diesen Wesenszügen, jedenfalls auf den ersten Blick, entgegenzustehen scheint: die Rede ist von der Denkfigur einer „Intuition des Unendlichen“ oder, wie Pannenberg es mit einem Wort Karl Rahners auch nennen kann, eines „unthematischen Wissens von Gott“. Wenn Gott unmittelbar, präreflexiv gewusst wird, scheint eine zentrale Behauptung der Theologie – nämlich dass Gott existiert – keinesfalls prinzipiell strittig zu sein. Man wird gut daran tun, Pannenberg hier keinen Widerspruch zu unterstellen. Die angedeutete Spannung zwischen der These von der Strittigkeit Gottes und derjenigen vom unthematischen Wissen von Gott ist aber Anlass genug, den Zusammenhang dieser beiden Kerngedanken näher zu untersuchen; und diese Spannung deutet darauf hin, dass sich hinter diesem Zusammenhang etwas theologisch Sachhaltiges und Komplexes verbirgt, das zu explizieren sich lohnt.2 Dies soll im Folgenden versucht werden. Dazu gehe ich in drei Hauptteilen vor. Im ersten diskutiere – und widerlege – ich zwei naheliegende Versuche, die Spannung zwischen den beiden Kerngedanken aufzulösen. Der zweite Hauptteil wird darin bestehen, zu zeigen, dass tatsächlich keine Spannung besteht – mit einem Argument, das sich auf eine genaue Analyse des Verhältnisses dessen, was in der Unendlichkeitsintuition intuiert wird, zur Wirklichkeit Gottes stützt. Im dritten Hauptteil werde ich zwei (mögliche) Probleme an Pannenbergs Fassung der Figur der Unendlichkeitsintuition ansprechen. Sodann werde ich mit einer kurzen Zusammenfassung schließen. Dem Haupttext folgt schließlich ein 2 Dafür spricht auch, dass der Denkfigur der Intuition des Unendlichen bereits einige Beiträge zu früheren Pannenberg-Kolloquia gewidmet waren, so: C. Axt-Piscalar, „Das religiöse Bewusstsein und sein Grund. Zum Verhältnis von Religion und Offenbarung in STh I“, in: G. Wenz, »Eine neue Menschheit darstellen« − Religionsphilosophie als Weltverantwortung und Weltgestaltung. Eröffnung der Wolfhart Pannenberg-Forschungsstelle an der Münchener Hochschule für Philosophie, Philosophische Fakultät SJ, Pannenberg-Studien Band 1, Göttingen 2015, 113–129; W. Dietz, „Die Stellung von „Natürlicher Theologie“ und „natürlichem Gottesgedanken“ in STh I“, in: G. Wenz, »Eine neue Menschheit darstellen« − Religionsphilosophie als Weltverantwortung und Weltgestaltung. Eröffnung der Wolfhart PannenbergForschungsstelle an der Münchener Hochschule für Philosophie, Philosophische Fakultät SJ, Pannenberg-Studien Band 1, Göttingen 2015, 85–111; G. Wenz, „Wissenschaft von Gott. W. Pannenbergs Dogmatik im Kontext von Wissenschaftstheorie und theologischer Enzyklopädie“, in: G. Wenz, »Eine neue Menschheit darstellen« − Religionsphilosophie als Weltverantwortung und Weltgestaltung. Eröffnung der Wolfhart Pannenberg-Forschungsstelle an der Münchener Hochschule für Philosophie, Philosophische Fakultät SJ, Pannenberg-Studien Band 1, Göttingen 2015, 37–55; W. Dietz, „Das vere ens infinitum bei Descartes, Hegel und Pannenberg. 20 Thesen zum Begriff des wahrhaft Unendlichen“, in: G. Wenz, Vom wahrhaft Unendlichen. Metaphysik und Theologie bei Wolfhart Pannenberg, Pannenberg-Studien Band 2, 123–140; F. Nüssel, „Wolfhart Pannenbergs Descartes-Rezeption“, in: G. Wenz, Vom wahrhaft Unendlichen. Metaphysik und Theologie bei Wolfhart Pannenberg, PannenbergStudien Band 2, 89–104.

Gottes strittige Wirklichkeit und unthematisches Wissen von Gott

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werkgeschichtlicher Epilog: Darin wird gezeigt, dass sich Pannenbergs reife Position in Bezug auf die beiden Kerngedanken durch sein Werk erst entwickelt hat. Somit hat meine Argumentation auch eine Relevanz für einen werkgeschichtlich adäquaten Blick auf Pannenbergs Theologie.

2.

Erster Hauptteil: Widerlegung zweier Entschärfungsversuche

Sehen wir uns zunächst genauer an, worin die vermeintliche Spannung zwischen den beiden Kerngedanken besteht. Am besten sichtbar machen lässt sich diese in maximaler Zuspitzung der Spannung zu einem Widerspruch. Fasst man die beiden Kerngedanken wie folgt, besteht tatsächlich ein Widerspruch zwischen ihnen: (Strittigkeit Gottes) Ich weiß prinzipiell nicht (mit Gewissheit), ob Gott existiert. (Unthematisches Wissen von Gott) Ich habe ein gewisses, unthematisches Wissen von Gott. Beide Sätze stehen tatsächlich in einem Widerspruch zueinander. Keiner kann denken, dass er prinzipiell nicht – oder nicht mit Gewissheit – wisse, ob Gott existiert, und anderseits mit Gewissheit, wenn auch unthematisch, von ihm wisse. So etwas zu sagen, wäre schlicht irrational. Will man solche Irrationalität – besagten Widerspruch – Pannenberg nicht zuschreiben, muss man annehmen, dass mindestens einer dieser Sätze den jeweiligen Kerngedanken falsch oder zumindest undifferenziert widergibt. Sie sind also zu korrigieren bzw. zu differenzieren. Im Folgenden will ich zwei Korrektur- bzw. Differenzierungsvorschläge prüfen und zurückweisen: (i) Erstens die Behauptung, das unthematische Wissen von Gott impliziere keine Gewissheit; und (ii) zweitens die Behauptung, das unthematische Wissen von Gott sei genauso falsifizierbar wie jedes andere Wissen. Ad (i). Es ist in der Tat richtig, dass Pannenberg weder in Metaphysik und Gottesgedanke noch in der Systematischen Theologie prominent davon spricht, dass der epistemische Modus des unthematischen Wissens von Gott derjenige der Gewissheit sei. Mir scheint aber, dass man klar zeigen kann, warum Pannenberg auf diese Auffassung verpflichtet ist, wenn man die Rolle des unthematischen Wissens von Gott, wie Pannenberg es versteht, näher untersucht: Das Endliche ist nur als Einschränkung des Unendlichen, und ist – für mich – als Endliches auch nur gegeben als Einschränkung des Unendlichen. In diesem Sinne ist das Unendliche, als Eingeschränktes, mitgegeben, wenn Endliches gegeben ist. Da aber mit Gewissheit Endliches gegeben ist – da zumindest ich mir selbst mit Gewissheit gegeben bin – ist mir auch mit Gewissheit das Unendliche als das, dessen Einschränkung ich als Endliches bin, mitgegeben.3 Die Intuition 3 So meine Paraphrase dessen, was Pannenberg u. a. in MuG, 23 wie folgt ausführt: „Der Gedanke

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des Unendlichen – das unthematische Wissen von Gott – hat also Gewissheit zu ihrem epistemischen Modus. Ad (ii). Damit ist der zweite Differenzierungsvorschlag – das unthematische Wissen von Gott sei wie jedes andere Wissen falsifizierbar – ebenfalls schon zurückgewiesen. Dennoch ist es lohnend, ihn noch einmal eigens zu konfrontieren, da so ein weiteres Spezifikum des unthematischen Wissens von Gott herausgearbeitet werden kann. Dieses ist nicht nur deshalb nicht falsifizierbar, weil es im epistemischen Modus der Gewissheit steht, sondern auch deshalb, weil es in einem anderen Sinne Wissen ist als propositionales Wissen. Es ist präreflexives, intuitives, gefühlsmäßiges, ahndendes – eben unthematisches – Wissen. Als solches ist es aus kategorialen Gründen nicht falsifizierbar – jedenfalls nicht in dem Sinne, wie Falsifikation im Hinblick auf wissenschaftliche (und damit auch theologische) Aussagen zu verstehen ist. Präreflexives, intuitives, gefühlsmäßiges, ahnendes, unthematisches Wissen könnte sich – wenn es nicht gewiss wäre – auflösen oder verschwinden; aber zu sagen, es würde falsifiziert – d. h. begründet widerlegt – wäre schlicht ein Kategorienfehler.

3.

Zweiter Hauptteil: Identität und Nichtidentität zwischen dem intuierten Unendlichen und Gott

Zwei Korrektur- bzw. Differenzierungsvorschläge sind also gescheitert. Es bleibt ein dritter – und dieser ist gangbar. Er besteht in der Behauptung, dass die obige Formulierung der beiden Kerngedanken insofern undifferenziert ist, als das Wort „Gott“ in den beiden Sätzen nicht strikt dieselbe Bedeutung hat. In (Strittigkeit Gottes) bedeutet es den Gott, von dem die Systematische Theologie Pannenbergs, als christliche Theologie, redet; in (unthematisches Wissen von Gott) hingegen bedeutet es ein Unendliches, das als solches noch nicht an sich selbst dieser Gott ist, d. h. dem Ichbewusstsein auch (noch) nicht als dieser Gott gewärtig ist. Für Pannenberg ist diese Differenzierung von größter Bedeutung. Er hebt sie sowohl in Metaphysik und Gottesgedanke als auch im ersten Band der Systematischen Theologie explizit hervor.4 Um diese Differenzierung genau zu verstehen, bedarf des Ich ist jedoch keineswegs durch sich selbst gegeben, sondern er setzt seinerseits die Idee des Unendlichen voraus, ist selber eine Einschränkung des Unendlichen, wie das für alle andern Vorstellungen von Endlichem ebenfalls gilt.“ 4 Vgl. MuG, 23f.: Ein Problem der cartesischen Argumentation, so Pannenberg, „liegt in der allzu raschen Identifizierung jenes quodammodo allen anderen Bewußtseinsinhalten vorausgehenden Bewußtseins vom Unendlichen mit dem Gottesgedanken. […] Ich bezweifle, daß mit der Idee des höchst Vollkommenen schon der Gottesgedanke erreicht ist. Der Gottesgedanke hat in jedem Fall eine erheblich höhere Bestimmtheit, als sie der allgemeinen Vorstellung eines höchst Vollkommenen eignet: Der Gottesgedanke ist nicht ablösbar von den Mo-

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es zunächst der Unterscheidung dreier Ebenen, auf denen das unthematische Wissen von Gott auftritt: (Ebene 1) Die erste Ebene ist das Bewusstsein und Selbstbewusstsein5 des Menschen, in welchem das unthematische Wissen von Gott vorkommt. Was unthematisch gewusst wird, ist implizit gewärtig; es wird nicht als das, was es ist, gewusst. (Ebene 2) Die zweite Ebene ist die philosophische Reflexion auf eben dieses unthematische Wissen von Gott, als im Bewusstsein und Selbstbewusstsein des Menschen vorkommendes. Von dieser Ebene aus lässt sich der Unterschied zwischen implizitem Gewärtigsein und explizitem als-etwas-Wissen allererst formulieren. (Ebene 3) Die dritte Ebene ist die theologische Behandlung dieses unthematischen Wissens von Gott, von welcher aus sich eigentlich erst von einem „unthematischen Wissen von Gott“ reden lässt. Es ist instruktiv und praktisch, die erste Ebene die implizite, die zweite die philosophisch-explizite und die dritte die theologisch-explizite zu nennen. Die Frage ist nun, was auf welcher Ebene über Gott propositional gewusst bzw. begründet behauptet werden kann. Ad (Ebene 1). Auf (Ebene 1) wird aufgrund ihres unmittelbaren, präreflexiven Charakters überhaupt nichts propositional gewusst oder begründet behauptet. Ad (Ebene 2). Auf (Ebene 2) wird propositional gewusst, dass es das Unendliche gibt. Es ist nicht nur implizit zu erfahren und explizit zu denken, sondern es gibt es auch. Das ist von der Warte unbefangener reinrationaler Reflexion zuzugeben, wie Pannenberg sie versteht. Er folgt hier der cartesischen, vorkantischen Ontologie, der zufolge das Unendliche nicht bloß ein Begriff ist, der notwendig von endlichen Subjekten gebildet wird, sondern selbst eine Wirklichkeit, durch deren Einschränkung allein das Endliche ist.6 Entsprechend kann das Endliche auch nur als Einschränkung des Unendlichen gedacht und erkannt werden. Es gibt nun einige Bestimmungen dessen, was im unthematischen Wismenten einer wie auch immer verstandenen Personalität und eines irgendwie gearteten Willens. Deshalb ist die Idee eines höchst Vollkommenen als solche noch nicht mit dem Gottesgedanken identisch.“ Vgl. auch STh I, 382ff. und 127ff.. Entsprechend macht Pannenberg in aller Klarheit darauf aufmerksam: „Daß es sich […] um ein „unthematisches Wissen von Gott“ handelt […], läßt sich allerdings erst im Nachhinein, im Rückblick von einem später gewonnenen, expliziten Gottesbewußtsein her behaupten.“ (STh I, 129). 5 Auch: der Welt- und Selbsterfahrung des Menschen, wie mit Pannenberg gesagt werden kann, um dem Missverständnis einer idealistischen Fixierung auf den Standpunkt des Bewusstseins vorzubeugen, die Pannenberg nicht eingehen will. 6 Vgl. MuG, 23: „Der Gedanke des Ich ist jedoch keineswegs durch sich selbst gegeben, sondern er setzt seinerseits die Idee des Unendlichen voraus, ist selber eine Einschränkung des Unendlichen, wie das für alle andern Vorstellungen von Endlichem ebenfalls gilt.“ Vgl. auch STh I, 382, wo Pannenberg die Ebene der philosophischen Reflexion genauer erläutert.

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sen von Gott intuiert wird, die sich bereits auf (Ebene 2) aufweisen lassen: Es ist das Unendliche, das wirklich ist und ein einziges – etc.7 Ad (Ebene 3). Auf (Ebene 3) nun wird propositional einiges über den dreieinigen Gott und seine Geschichte begründet behauptet – und weiter, ebenfalls propositional, begründet behauptet, dass dieser Gott, auf den diese Behauptungen zutreffen, identisch ist mit dem Unendlichen, von dem auf (Ebene 2) die Rede war, wobei auf (Ebene 2) viele seiner wesentlichen Eigenschaften – seine Personalität, sein Wille, und erst recht seine Trinität – nicht nur nicht gewusst werden, sondern prinzipiell nicht in den Blick kommen können.8 Diese Identitätsbehauptung9 ist also, wie Pannenberg ausdrücklich hervorhebt10, erst von (Ebene 3) aus zu erheben. Erst von (Ebene 3) aus, d. h. aus genuin dogmatischer oder systematisch-theologischer Perspektive, kann begründet eingesehen werden, dass das im unthematischen Gottesbewusstsein intuierte Unendliche Gott ist. Innerhalb dieses Bewusstseins ist es noch nicht als Gott erfahrbar; und auf (Ebene 2), in philosophischer Reflexion, ebenfalls nicht begründet als „Gott“ namhaft zu machen. Dass dem so ist, entspricht – wie ange7 In Pannenbergs – cartesischer – Ontologie lässt sich sogar sagen, dass das Unendliche omnitudo realitatis und, in diesem Sinne, ein ens perfectissimum sein muss (vgl. MuG, 23f.). Denn es muss irgendwie alle endlichen Bestimmungen enthalten, da alles Endliche ja Einschränkung desselben ist. 8 Vgl. dazu T. Oehl, „Die theologische Insuffizienz des Begriffs. Zur Systemkonzeption Wolfhart Pannenbergs“, in: G. Wenz (Hg.), Vom wahrhaft Unendlichen. Metaphysik und Theologie bei Wolfhart Pannenberg, Pannenberg-Studien Band 2, Göttingen 2016, 233–263. 9 Diese ist der Form nach keineswegs trivial, sondern einer Analyse bedürftig: So bietet es sich an, mit Gottlob Frege („Über Sinn und Bedeutung“, 1892) zwischen einem Gegenstand („Bedeutung“) und dessen Gegebenheitsweisen („Sinn“) zu unterscheiden: Gott kommt also, wenn Pannenberg Recht behält, in der Gegebenheitsweise Gott, und in der Gegebenheitsweise des Unendlichen vor. Nur durch dieses Moment der Nichtidentität, das in den verschiedenen Gegebenheitsweisen desselben Gegenstandes liegt, lässt sich überhaupt von nicht-tautologischen Identitätsaussagen sprechen. 10 Vgl. MuG, 23f.: „[Ein Problem] der Ausführungen von Descartes liegt in der allzu raschen Identifizierung jenes quodammodo allen anderen Bewußtseinsinhalten vorausgehenden Bewußtseins vom Unendlichen mit dem Gottesgedanken. […] Mit dem Gesagten soll nicht bestritten werden, daß das in seinem vollen Sinne gedachte Unendliche und das höchst Vollkommene faktisch mit Gott identisch sind und nur mit ihm identisch sein können, nur von ihm in Wahrheit prädiziert werden können.“ STh I, 127: „Die Intuition des Unendlichen ist nicht als solche schon ein Gottesbewußtsein, mag ein solches auch für uns, die wir vom Standpunkt eines voll ausdifferenzierten Erfahrungswissens aus darauf reflektieren, darin enthalten scheinen. […] Erst wenn sich auf einem später gewonnenen Standpunkt der Erfahrung und Reflexion ergibt, daß das Unendliche im eigentlichen Sinn des Wortes nur ein einziges und identisch mit dem einen Gott ist, kann gesagt werden, daß jenes unthematische Bewußtsein des Unendlichen eigentlich schon ein Bewußtsein von Gott war.“ Siehe dazu auch G. Wenz, „Metaphysik und Theologie bei Wolfhart Pannenberg“, in: G. Wenz (Hg.), Vom wahrhaft Unendlichen. Metaphysik und Theologie bei Wolfhart Pannenberg, PannenbergStudien Band 2, Göttingen 2016, 15–70 [hier v. a.: 31ff.].

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deutet – der Gesamtanlage von Pannenbergs Theologie: Da Gott sich wesentlich geschichtlich offenbart, ist er nicht instantan offenbar; die instantane, ja zeitlose Form des unthematischen Gottesbewusstseins wie der philosophischen Reflexion ist nicht diejenige Form, in der Gott sich offenbart. Man könnte deshalb auch von einer Abskondität Gottes im unthematischen Gottesbewusstsein (und der Philosophie/Metaphysik) sprechen. Diese Abskondität Gottes steht aber im Dienste der Offenbarung Gottes, denn: Gott ist offenbar als derjenige, der nur in der Mitte und am Ende der Geschichte, antizipativ und in eschatologischer Zukunft, voll offenbar wird und – essentiell kontrastiv dazu – im Instantanen verborgen bleibt.11 Ein Blick in Pannenbergs Gotteslehre belegt, dass er die Offenbarung Gottes als die Offenbarung des verborgenen Gottes denken will12, worin sich besagte theologische Identitätsbehauptung zwischen dem intuierten Unendlichen und Gott widerspiegelt. Wir haben es, wie ich hervorheben will, hier mit einer extrem starken Form von Abskondität zu tun: Pannenberg fasst das im unthematischen Wissen von Gott intuierte Unendliche so auf, dass in Bezug auf es noch nicht einmal entschieden ist, ob es personal ist oder nicht, ob es ein jemand oder ein etwas ist. Gott zeigt sich darin also als diesseits der Unterscheidung einer Person und eines apersonalen Etwas.13 Zurück zur Argumentationslinie: Nun können wir zeigen, dass und warum die Denkfigur des unthematischen Wissens von Gott mit derjenigen von Gottes strittiger Wirklichkeit vereinbar ist. Im unthematischen Wissen von Gott – und in philosophischer Reflexion darauf – wird gewusst, dass ein Unendliches existiert. Das aber impliziert noch nicht, dass Gott existiert. Genauer gesagt: Der Satz „Gott existiert“ ist nach Pannenberg in zwei Sätze zu analysieren: (i) „Das im unthematischen Gottesbewusstsein intuierte Unendliche existiert“ und (ii) „Das im unthematischen Gottesbewusstsein intuierte Unendliche ist identisch mit dem so-und-so-bestimmten Gott“.14

11 Pannenberg schließt keine unmittelbare Gotteserfahrung aus, wohl aber eine, die gänzlich ohne (lebens)geschichtlichen Deutungsrahmen bleibt. Was dies bedeutet, ist in seiner eigenen Biographie – von einem Lichterlebnis ausgehend – gespiegelt. 12 Vgl. STh I, 365f.. 13 Logisch-begrifflich präzise gesprochen, ist das Unendliche auf (Ebene 2) als ein Disjunkt ‚ENTWEDER ein Unendlicher ODER ein Unendliches (aber nicht beides zugleich)‘ zu analysieren. 14 Satz (ii) ist wiederum in zwei Sätze zu analysieren: (iia) „Gott ist (als) so-und-so (bestimmt)“ und (iib) „Das im unthematischen Gottesbewusstsein intuierte Unendliche ist identisch mit Gott“.

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Der zweite Satz trägt dem Satz „Gott existiert“ seinen hypothetischen Anteil ein. Dadurch gewinnt Pannenbergs These, der Satz „Gott existiert“ sei hypothetisch, einen differenzierten und abgemilderten Sinn. Strittig ist ihm zufolge „nur“, ob das intuierte Unendliche (der so-und-so bestimmte) Gott ist; unstrittig hingegen ist, dass es ein solches Unendliches gibt. Das zeigt, so Pannenberg, die Philosophie oder Metaphysik, auf (Ebene 2), zweifelsfrei – und darin liegt ein wesentlicher Grund, warum Theologie der Metaphysik bedarf. Denn: In einem weiteren Schritt lässt sich nun einsehen, dass die Denkfigur des unthematischen Wissens von Gott nicht nur kompatibel ist mit Pannenbergs Auffassung von der strittigen Wirklichkeit Gottes, sondern dass letztere sogar ersterer bedarf, um in Form einer Wissenschaftstheorie der Theologie vertreten werden zu können. Denn: Für eine Theologie als Wissenschaft strittig kann Gott überhaupt erst sein, wenn es etwas Unstrittiges gibt, das diese Wissenschaft zur Wissenschaft macht, ihr eine Einheit qua Gegenstand, auf den sie sich primär richtet, gibt. Mit diesem Problem ringt Pannenberg bereits im Kapitel „Theologie als Wissenschaft von Gott“ aus Wissenschaftstheorie und Theologie von 1973.15 Sofern Theologie als Wissenschaft von Gott verstanden werden soll – und nach Pannenberg ist sie allein so angemessen verstanden –, kann sie weder die Existenz Gottes dogmatisch voraussetzen – dann wäre sie stark vorurteilsbelastet und mithin nicht Wissenschaft von Gott –, noch kann sie ihren Gegenstand als einen reinen Gegenstand der Frage oder des Problems auffassen – dann wäre sie nämlich ohne wirklichen Gegenstand, und somit ebenfalls nicht Wissenschaft von Gott, nicht Wissenschaft von irgendetwas. Nach Pannenberg ist dieses Dilemma nur zu umgehen, sofern ein Gegenstand aufgewiesen wird, dessen Existenz sich außerhalb der Theologie aufweisen lässt und der sodann, als Gegenstand der Theologie, in der Theologie bestimmt wird – und zwar so, dass Gott als so-und-so-seiend behauptet und der als so-und-so-seiende Gott dann mit diesem Gegenstand identifiziert wird; wobei sowohl diese Identifikation als auch die Bestimmungen Gottes Hypothesen sind. Sie sind im Hinblick auf Transparenz, Intelligibilität, Konsistenz, Kohärenz zu prüfen und haben sich – nach Pannenberg – fortlaufend an unserer Selbst- und Welterfahrung im weitesten Sinne zu bewähren. Hier handelt es sich aber um eine prinzipielle Strittigkeit, da aufgrund der andauernden Geschichte der Offenbarungsprozess, in welchem sich 15 Vgl. WuTh, 299–348. Dort bezieht sich Pannenbergs allerdings nicht auf die Denkfigur der in allem (endlichen) Bewusstsein mit- und vorausgesetzten Intuition des Unendlichen, sondern auf die in allem (endlichen) Erfahren und Erkennen mit- und vorausgesetzten unmittelbaren Gegebenheit der Sinntotalität. Im werkgeschichtlichen Epilog dieses Beitrags werde ich erläutern, warum es dennoch sachgerecht ist, bereits an dieser Stelle die Intuition des Unendlichen zu veranschlagen. Sollte ein/e Leser/in dies bestreiten, ändert sich insofern nichts an der im Haupttext vorgetragenen Argumentation, als sie sich ganz analog auch für die und mit der Sinntotalität durchführen ließe.

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das so-und-so-Sein Gottes zeigt, unbeschadet der Antizipation des Eschaton in Kreuz und Auferstehung Jesu Christi noch nicht abgeschlossen ist. Durch diese Differenzierung zwischen einem – wie man es nennen könnte – Gegenstandskern oder Gegenstandsgaranten, dem Unendlichen, und dessen noch ausstehender, strittiger näheren theologischen Bestimmung kann Pannenberg zudem ein fundamentales Problem lösen, dem er ansonsten ausgeliefert wäre16: Wie können theologische Sätze, wie z. B. „Gott existiert“, überhaupt Sinn haben, d. h. die Bedingung der Möglichkeit von Veri- und Falsifikation erfüllen, falls der Gegenstand, auf den sie referieren, nicht existieren sollte? Pannenberg kann darauf antworten, dass man Sätze wie „Gott existiert“ eben zu analysieren hat in „Das intuierte Unendliche, das laut philosophischer Reflexion existiert, ist Gott, und als solcher so-und-so bestimmt“; so analysiert ist der Satz jedenfalls sinnvoll, wenngleich möglicherweise falsch – und damit jedenfalls falsifizierbar.

4.

Dritter Hauptteil: Zwei (mögliche) Probleme an der Figur der Unendlichkeitsintuition

Der Begriff des „Unendlichen“ ist, wie Pannenberg betont, in maximaler Schärfe und Tiefe in Hegels Seinslogik expliziert worden. Dort wird gezeigt, dass das Unendliche, wie jeder bestimmte Begriff, nur denkbar ist durch Negation eines Anderen, hier: des Endlichen. Das Unendliche jedoch ist, seinem Begriff nach, nicht bloß das Andere des Endlichen, da es sonst selbst endlich wäre. Das Unendliche ist deshalb zu denken als zugleich in bestimmter Negation vom Endlichen unterschieden als auch als dieses umfassend. Pannenberg bemerkt, meiner Interpretation zufolge, scharfsinnig, dass wir diese beiden Denkerfordernisse – das Unendliche als zugleich unterschieden vom Endlichen als auch als selbiges umfassend – zwar klar aus dem Begriff des Endlichen bzw. Unendlichen ableiten und einsehen, doch nicht wirklich zusammendenken können. Anders als Hegel, der dieses wirkliche Zusammendenken in der Begriffslogik realisiert sieht17, argumentiert Pannenberg – im Geiste des späten Schelling –, dass solches Zusammendenken nur möglich ist im Rahmen und in Form eines realen, personalen Zusammenhangs. Diese Auffassung vertritt er, wie ich andernorts zu zeigen versucht habe, aus guten philosophischen wie, vor allem, theologischen Gründen.18 Wenn nun die Unendlich16 Vgl. zu diesem Problem T. Oehl, „Theologie als Grammatik“, in: KuD 61:2 (2015), 120–156. 17 Und sich damit diejenigen Implikationen einkauft, die Pannenberg in theologischer Absicht unbedingt vermeiden will: dass das Andere des Unendlichen nur ohne Selbststand (und damit nicht als frei) und als notwendig für das Unendliche (und damit nicht als aus Freiheit geschaffen) gedacht werden kann. Vgl. dazu Pannenbergs Hegelkritik in ThuPh, 285ff.. 18 Vgl. dazu und zum Schelling-Bezug T. Oehl, „Die theologische Insuffizienz des Begriffs. Zur

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keitsintuition ein, wenngleich unmittelbarer, so doch realisierter (Denk-/Erfassungs-)Zusammenhang von Unendlichem und Endlichem ist19, so wäre impliziert, dass das Unendliche darin an sich selbst personal verfasst ist, dass also auf (Ebene 1), im Bewusstsein und Selbstbewusstsein des Menschen, eine Person (wenn auch nicht als Person) intuiert wird. Das ist das erste der beiden möglichen Probleme, die ich andeuten wollte.20 Zum zweiten Problem lässt sich nun leicht überleiten. Man kann es gewissermaßen als problematischen Lösungsversuch des ersten Problems auffassen: Pannenberg behauptet, in der Unendlichkeitsintuition lägen die drei Metaphysica – Welt, Gott, Selbst – „ungeschieden ineinander“.21 Der Bezug zum ersten Problem liegt darin, dass man diese Behauptung so verstehen könnte, als läge eine so radikal verunmittelbarte Form des Vermittlungszusammenhangs von Unendlichem und Endlichem vor, dass die These, ein Denkzusammenhang des Unendlichen und Endlichen sei nur in personalen Verhältnissen gegeben, eben nicht gelte, weil es sich nicht einmal mehr um einen impliziten Denkzusammenhang handelt, sondern um eine derart verunmittelbarte Form desselben, dass darin auch die Züge des Personalen sozusagen verwischt sind. Unabhängig davon, ob man diese Volte für plausibel hält, wirft sie ein neues Problem auf: Ist die Intuition des Unendlichen derart verunmittelbart, dass in ihr keinerlei Differenz zwischen Welt, Gott und Selbst mitintuiert wird, ließe sich auch keine Systemkonzeption Wolfhart Pannenbergs“, in: G. Wenz (Hg.), Vom wahrhaft Unendlichen. Metaphysik und Theologie bei Wolfhart Pannenberg, Pannenberg-Studien Band 2, Göttingen 2016, 233–263; außerdem T. Oehl, „Nichtidentität, aber wirksame Gegenwart. Zum Zeichenbegriff in Pannenbergs Verhältnisbestimmung von Kirche und Reich Gottes“, in: G. Wenz, Kirche und Reich Gottes. Zur Ekklesiologie Wolfhart Pannenbergs, Pannenberg-Studien Band 3, 75–99. 19 Hegels plausibler Argumentation folgend, ist zu sagen, dass ein nicht in toto unbestimmtes Gefühl wie die Intuition des Unendlichen, also eine bestimmte und nicht eine unbestimmte Unmittelbarkeit, nur als (ver)unmittelbar(t)e Form von etwas ursprünglich Vermitteltem zu denken ist. 20 Ein Problem für Pannenberg ist es auch insofern, als es freilich Implikationen für die Auffassung von (Ebene 2) hat. Pannenberg müsste dann entweder bei seiner Behauptung bleiben, dort seien die Begriffsbestimmungen des Unendlichen letztlich nicht zusammenzudenken – was bedeuten würde, dass (Ebene 2) nicht mehr als vollständige Explikation von (Ebene 1) gelten könnte. Oder er will an letzterem festhalten, dann müsste er der Philosophie/Metaphysik zugeben, besagte Begriffsbestimmungen eben doch zusammendenken zu können, was ex hypothesi Pannenberg (nach meiner Interpretation) bedeuten würde, zuzugeben, dass schon die Philosophie den personalen Charakter des Unendlichen – wenngleich durchaus nicht in der vollständig ausbuchstabierten (v. a. trinitarischen) Bestimmung – mit ihren Mitteln erfassen kann. Andernorts habe ich argumentiert, dass dies – mit Hegels Mitteln – der Fall ist: Vgl. dazu T. Oehl, „Selbstbewusstsein und absoluter Geist“, in: T. Oehl/A. Kok (Hgg.), Objektiver und absoluter Geist nach Hegel. Kunst, Religion und Philosophie innerhalb und außerhalb von Gesellschaft und Geschichte, Boston/Leiden 2018, 353–388. 21 In STh I, 383 spricht Pannenberg auch von einer „verworrenen Anschauung“.

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Identität zwischen einem dort intuierten Unendlichen und dem Unendlichen der philosophischen Reflexion, das aus theologischer Perspektive sodann mit Gott identifiziert wird, herstellen. Denn das Intuierte wäre zu unscharf, um Gegenstand einer Identitätsbehauptung sein zu können. Mit Hegel gesprochen: ein unbestimmt Unmittelbares, wenn es das gäbe, ließe sich eben nicht mehr vermitteln.22 Soweit zu den beiden – zusammenhängenden – Problemen. Sie fordern eine noch tiefergehende Analyse der Gedankenfigur der Unendlichkeitsintuition sowie zum Begriff der Unmittelbarkeit, die ich hier nicht mehr leisten kann. Jedenfalls hat sich gezeigt, dass diese Gedankenfigur eine immense Begründungslast in Pannenbergs Theologie zu tragen hat. Fällt sie, fällt vieles.

5.

Schlusszusammenfassung

Fassen wir zusammen: Es hat sich gezeigt, dass es instruktiv ist, die beiden Denkfiguren – strittige Wirklichkeit Gottes und Unendlichkeitsintuition (man sollte aus nunmehr offensichtlichen Gründen zunächst nicht Rahners Formel benutzen) – zusammen zu betrachten und sub specie einer Wissenschaftstheorie der Theologie in ein theoretisches Verhältnis zu setzen. In diesem Verhältnis klärt sich beider Bedeutung und Funktion. Dabei hat sich gezeigt, dass zwischen beiden – entgegen dem initialen Anschein – nicht nur kein Widerspruch besteht, sondern das intuierte Unendliche als (ein) Gegenstandsgarant der Theologie sogar eine notwendige Bedingung für deren Wissenschaftlichkeit ist. Da das Unendliche, qua Intuition und Reflexion, nicht schon mit Gott zu identifizieren ist, 22 Wie genau Pannenberg die Unmittelbarkeit, die in der Intuition des Unendlichen statthat, gefasst hat, ist auch deshalb schwer zu klären, weil er sehr verschiedene Auffassungen davon amalgamiert: jedenfalls diejenige Descartes’, Hegels und Schleiermachers. Vgl. dazu W. Dietz, „Das vere ens infinitum bei Descartes, Hegel und Pannenberg. 20 Thesen zum Begriff des wahrhaft Unendlichen“, in: G. Wenz, Vom wahrhaft Unendlichen. Metaphysik und Theologie bei Wolfhart Pannenberg, Pannenberg-Studien Band 2, 123–140. Christine Axt-Piscalar macht darauf aufmerksam, dass die in der Unendlichkeitsintuition liegende Verworrenheit von Pannenberg kritisch auch als Zweideutigkeit der (natürlichen) Religiosität aufgewiesen wird. Siehe C. Axt-Piscalar, „Das religiöse Bewusstsein und sein Grund. Zum Verhältnis von Religion und Offenbarung in STh I“, in: G. Wenz, »Eine neue Menschheit darstellen« − Religionsphilosophie als Weltverantwortung und Weltgestaltung. Eröffnung der Wolfhart Pannenberg-Forschungsstelle an der Münchener Hochschule für Philosophie, Philosophische Fakultät SJ, Pannenberg-Studien Band 1, Göttingen 2015, 113– 129. So plausibel dies einerseits in Bezug auf Pannenbergs Verhältnisbestimmung von natürlicher Religion/Theologie und Offenbarung ist, auch in deren Verhältnis zum Barthianismus, so problematisch erweist sich eine solche Zweideutigkeit im Hinblick auf die argumentfunktionale Eindeutigkeit, die der Gedankenfigur der Unendlichkeitsintuition, wie dargestellt, eignen soll.

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bleibt der hypothetische Charakter der Theologie erhalten. So sind wir also mit Konsequenz vom programmatischen Kern in Offenbarung als Geschichte, der Programmschrift von 1961, über die wissenschaftstheoretische Grundlegung von 1973 zur Figur der Unendlichkeitsintuition und deren wissenschaftstheoretischer und theologischer Funktion im reifen System fortgegangen – in einem geschlossenen Argumentationsgang. Ich hoffe, ihn möglichst klar offengelegt sowie einen Beitrag zu seiner Erschließung und damit konkrete Anknüpfungspunkte für Diskussion und Kritik geboten zu haben.

6.

Werkgeschichtlicher Epilog

Der Argumentationsgang hat jedoch auch eine werkgeschichtliche Dimension. Damit meine ich zweierlei: dass die Abfolge der Werke Pannenbergs als zunehmend klarer zu diesem Argumentationsgang führend zu lesen ist; und dass, folglich, manches in seinen früheren Werken als Grundlage dieses Argumentationsgangs fungiert, die als solche weiterhin Gültigkeit behält, anderes jedoch verworfen wird, und daher in einer systematischen Rekonstruktion dieses Argumentationsgangs, wie ich sie im Haupttext zu leisten versucht habe, nicht vorkommen darf. Beides soll im Folgenden konzise – unter Berücksichtigung einiger Meilensteine von Pannenbergs Werk – aufgewiesen werden. Ansatzpunkt ist hierbei eine bestimmte, auffällige Abweichung meiner systematischen Rekonstruktion vom Wortlaut eines Frühwerks Pannenbergs, die sich aus dem eben Gesagten zwangsläufig ergibt: In Wissenschaftstheorie und Theologie (1973) wird als Gegenstand, der der Theologie eine wissenschaftstheoretisch gesicherte Einheit gibt, noch nicht, wie ich es getan habe, die intuierte Unendliche bestimmt23, sondern vielmehr die in jeder Einzelaussage, -erkenntnis oder -erfahrung implizit mitgesetzte Sinntotalität – eine Gedankenfigur, die auch der Pannenberg der Systematischen Theologie noch vertritt24. 1973 behauptet Pannenberg nicht nur nicht, dass das intuierte Unendliche ebenfalls besagte Funktion ausfüllen könnte, sondern legt sogar nahe, dass sie es nicht tun könne. Dennoch ist es unter dem Gesichtspunkt der systematischen Rekonstruktion richtig, das intuierte Unendliche an diese argumentative Funktionsstelle zu setzen – als zweite Möglichkeit neben der Gedankenfigur der Sinntotalität. Warum, will ich im Folgenden erläutern. Dazu ist zunächst zu fragen, warum Pannenberg in Wissenschaftstheorie und Theologie (1973) wie eben beschrieben optiert. Es ist unplausibel, dies dadurch zu erklären, dass Pannenberg die Figur der Unendlichkeitsintuition noch nicht zur 23 Vgl. dazu auch Fn. 15. 24 Vgl. STh I, 180f..

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Verfügung hatte – schließlich hat er, retrospektiv, im Vorwort zu seiner erst 2007 erschienenen Habilitationsschrift Analogie und Offenbarung aus dem Jahr 1955 sein damaliges, frühes Interesse am (entlegenen) scholastischen Thema der analogia entis so begründet, dass die diesbezüglichen Streitigkeiten in engem sachlichen Bezug zur Debatte um die Priorität des Unendlichen vor dem Endlichen und die Unendlichkeitsintuition im (Selbst-)Bewusstsein stehen.25 Des Weiteren erwähnt Pannenberg die Gedankenfigur der Unendlichkeitsintuition in Wissenschaftstheorie und Theologie sogar – wenngleich noch nicht mit derjenigen Schärfe, mit der er sie später erörtert hat. Was also erklärt Pannenbergs Option von 1973? Ich glaube, dass er in der Denkfigur damals noch die Gefahr sah, selbst der von ihm ausführlich monierten neuzeitlichen Anthropologisierung der Theologie aufzusitzen, wie sie seinem Urteil nach in der Selbstbewusstseinsphilosophie von Kant über den frühen Fichte und den frühen Schelling bis hin zu Schleiermacher statthat.26 Diese Sorge wird sodann, wie mir scheint, durch zwei Entdeckungen Pannenbergs zerstreut: Zum einen realisiert er in seinen Studien der modernen Anthropologie, dass es vielfältige erfahrungshaltige Belege für diese Gedankenfigur gibt27 – und dass diese somit offenbar nicht nur in selbstbewusstseinstheoretischer Einstellung aufzuweisen ist und daher vom Verdacht freizusprechen ist, ein bloß Subjektives im Sinne des Idealismus, ein Gedachtes möglicherweise ohne Wirklichkeit zu sein; zum anderen realisiert er, dass die Gedankenfigur und ihre Gültigkeit nicht schlicht im endlichen (Selbst-)Bewusstsein gründet, sondern in einem spekulativ-logischen, begrifflichen Zusammenhang, den Hegel in seiner Seinslogik als Dialektik des Unendlichen und Endlichen expliziert hat. Spätestens 1988 – sowohl in Metaphysik und Gottesgedanke als auch im ersten Band der Systematischen Theologie28 – ist Pannenberg klar, dass die philosophisch wie anthropologisch aufzuweisende Gedankenfigur der Unendlichkeitsintuition eine Manifestation oder Realisation dieses begriff-

25 Vgl. Analogie und Offenbarung, 5f.. 26 Diese problematische Entwicklung neuzeitlicher Theologie, gipfelnd in Schleiermachers Begründung der Wissenschaftlichkeit der Theologie im religiösen Bewusstsein, wird von Pannenberg in Wissenschaftstheorie und Theologie ausführlich und dezidiert kritisch besprochen. Vgl. WuTh, 303ff.. 27 Siehe dazu exemplarisch Anthr., 67, wo Pannenberg im Anschluss an Plessner schreibt: „[Wir haben es] im exzentrischen Verhalten des Menschen mit einem faktischen Bezug zum Unbedingten oder Unendlichen zu tun.“ 28 Für die zahlreichen philosophischen, anthropologischen und biblischen Bezüge, die Pannenberg in seinem reifen System herstellt und eine systematische Sammlung des Materials, das sich um die nunmehr voll durchdrungene Gedankenfigur der Unendlichkeitsintuition gruppiert, siehe F. Nüssel, „Wolfhart Pannenbergs Descartes-Rezeption“, in: G. Wenz, Vom wahrhaft Unendlichen. Metaphysik und Theologie bei Wolfhart Pannenberg, PannenbergStudien Band 2, 89–104 [hier v. a.: 96ff.].

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lichen Zusammenhangs ist.29 Damit ist klar, dass er nicht im Menschen begründet liegt – und eine Theologie, die sich gegenständlich am Unendlichen festmacht, entsprechend nicht die neuzeitliche Geschichte der Anthropologisierung der Theologie fortschreibt. Freilich lässt sich nun nicht nur die Intuition des Unendlichen als Manifestation oder Realisation besagten begrifflichen Zusammenhangs verstehen, sondern eben auch die implizite Inanspruchnahme einer Sinntotalität im Erfassen, Erkennen oder Erfahren eines bestimmten Endlichen. Solches Erfassen ist, meint Pannenberg, das Erfassen von etwas einzelnem Sinnvollen, das nur vor dem Hintergrund des Sinnganzen möglich ist – ganz analog wie das Gegebensein von Endlichem nur als aus dem Unendlichen Herausgeschnittenes möglich ist. Deshalb kann Pannenberg 1988 an der 1973 vertretenen diesbezüglichen Auffassung festhalten, hat nun aber eine (tiefergehende) Begründung dafür, ja, hat die Begründungszusammenhänge überhaupt erst richtig herum aufgefasst: der Totalitätsbegriff ist nicht von einer seiner Realisationen her zu begründen, wie er dies 1973 versucht hatte, sondern umgekehrt sind seine Realisationen durch eine Untersuchung dieses Begriffs als solchem als eben dessen Realisationen aufzuweisen. Dies hat Pannenberg 1973 nicht klar gesehen30 – was seine Konzeption der Sinntotalität angreifbar macht. Denn dass es so etwas wie Sinntotalität gibt, lässt sich nicht unmittelbar am Sinn aufweisen, sondern nur, wenn man den Sinn als Realisation des begrifflichen Zusammenhangs von Endlichem und Unendlichem aufweist31; dies ist der einzig gangbare Weg, gegen so verschiedene Kritiker wie Ludwig Wittgenstein32, Falk Wagner33 oder jüngst Markus Gabriel34 zu 29 Was genau „Manifestation“ und „Realisation“ bedeuten und wie sie sich (nach Hegel) vollziehen, muss hier offen bleiben: Klar ist, dass Pannenberg sie – vernünftigerweise – nicht so versteht, als würde ein quasi-Lebewesen namens „Begriff“ sich um die Natur vermehren. Stattdessen ist gemeint, dass das Wirkliche nicht anders sein kein als seine logische Form es vorgibt – und in diesem Sinne an allem, was in einem entwickelten Sinne wirklich ist, diese logische Form aufgewiesen werden kann. (Damit ist nicht impliziert, dass das, was ihr folgt, nicht reicher bestimmt sein kann als nur etwas, das ebendiese logische Form aufweist; Pannenberg fasst die Realisation einer logischen Form vielmehr auch als Negation ihrer Abstraktheit und Vorläufigkeit – und ist deshalb kein hegelianisierender Logizist. Vgl. dazu auch Fn. 18.) 30 Pannenberg zählt deshalb listenartig, fast überrascht klingend, die Reihe an Denkern – von Augustin über Cusanus, Leibniz und Descartes bis hin zu Hegel, Schelling und Schleiermacher – auf, die auf diese Figur Bezug nehmen (vgl. WuTh, 308f.). 31 Damit scheint gegenüber 1973 ein weiterer Fortschritt gewonnen zu sein: Der Theologie droht nicht mehr, ihren (scheinbaren) Gegenstand an eine ganz andere Disziplin (z. B. die Psychologie oder Soziologie) zu verlieren; vielmehr ist ihr (scheinbarer) Gegenstand mit Gewissheit Gegenstand auch der spekulativen Logik oder Metaphysik, und anderer Disziplinen allenfalls im Zusammenhang mit ihr. 32 Vgl. dazu T. Oehl, „Theologie als Grammatik“, in: KuD 61:2 (2015), 120–156. 33 Vgl. dazu STh I, 180f. (Fn. 129). 34 Gabriel argumentiert unter dem Titel „Warum es die Welt nicht gibt“ bekanntlich dafür, dass

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bestehen; man muss argumentieren, dass der Sinnbegriff nicht ohne Rekurs auf das begriffliche Verhältnis von Endlichem und Unendlichem zu verstehen ist. Es ist diese – sehr fundamentale – These im Anschluss an die hegelsche Logik, die Hermeneutiker von Dilthey über Pannenberg bis Gadamer vertreten müssen, wenn ihre hermeneutischen Thesen Verbindlichkeit beanspruchen können sollen. Doch abschließend zurück zu Pannenberg: Pannenberg realisiert, dass sich der Begriff des Unendlichen und Endlichen sowohl welt- als auch menschseitig aufweisen lässt. D. h. der abstrakte Zusammenhang der, wie man auch sagen könnte, Vorgängigkeit des Unendlichen vor dem Endlichen realisiert sich im Menschen – subjektseitig – im Modus des Selbstgefühls, Urvertrauens, der ursprünglichen Welt- und Gottoffenheit etc., und in der kontextuellen Welterfahrung des Menschen – objektseitig oder subjekt-objektseitig – in der Erfahrung von Sinnimplikationen und Sinnantizipationen. In Bezug auf die Verbindung beider im Lichte der anthropologischen Erkenntnisse und im Hinblick auf ihre genuin theologische Relevanz schreibt Pannenberg bereits in der Anthropologie in theologischer Perspektive: [Der Mensch] sucht die Antwort auf die Frage nach sich selbst von den Gegenständen und Verhältnissen seiner Welt her, d. h. er sucht sich selber zu orientieren durch Orientierung über seine Welt. Dabei wird er über alle bestimmten endlichen Gegenstände und Verhältnisse hinausgeführt. Wird er dessen inne, so erfährt der Mensch, daß die Frage nach seiner Bestimmung, die Frage nach sich selbst, und die Frage über die Welt hinaus nach dem tragenden Grunde ihres und des eigenen Lebens eine und dieselbe Frage sind. Die Frage des Menschen nach sich selbst und die Frage nach der göttlichen Wirklichkeit gehören zusammen. (Anthr., 69)

Sieht man von den im Hauptteil angesprochenen zwei (möglichen) Problemen ab, erweist sich Pannenbergs Denken also im Hinblick auf die Konzeption der Unendlichkeitsintuition einmal mehr als strengstens durchdacht und absolut kohärent entwickelt. Dies war es, wie unsere Überlegungen auch gezeigt haben, aber nicht immer schon gleichermaßen, sondern erst im reifen System ab 1988. Deshalb müssen wir von dort her einen retrospektiv-kritischen Blick auf Pannenbergs frühere Werke werfen, die nicht mehr uneingeschränkt als Grundlage des Späteren, sondern als vorläufiger Vorlauf des Späteren zu lesen sind. Die Darlegungen besagter Gedankenfiguren insbesondere in Wissenschaftstheorie und Theologie (1973) entbehren des späteren Verständnisses der Realisation des begrifflichen Zusammenhangs des Unendlichen und Endlichen35 wie der anfür einen realistischen Sinnbegriff zwar die Annahme von Ganzem vorauszusetzen sei – aber nicht eines allumfassenden Ganzen, sondern vieler einzelner Ganzer („Sinnfelder“). Vgl. auch M. Gabriel, Sinn und Existenz. Eine realistische Ontologie, Frankfurt am Main 2016. 35 Damit einhergehen mag ein vorläufiger Mangel in der Verhältnisbestimmung von Meta-

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thropologisch aufweisbaren Wirklichkeit von Implikaten dieser Gedankenfigur – und sind daher problematische Abstraktionen. Ist man sich dessen bewusst, kann man sie als solche lesen – und d. h. erst im Lichte der späteren Systematik als, mit Gunther Wenz zu reden, umfassende und ausdifferenzierte „Enzyklopädie der theologischen Wissenschaften“.36 Der Rückblick auf diese Werke in systematischer Absicht impliziert sodann Abweichungen von deren Wortlaut, wie ich sie im Haupttext unternommen habe. Auf Basis dieser Feststellung kann man dann auch Sinn aus einer – soweit ich sehe nirgends zitierten und ernst genommenen – Anmerkung Pannenbergs aus dem Vorwort zur Systematischen Theologie, Band 1, machen: Daß eine bestimmte Auffassung des Verhältnisses der Theologie zur Philosophie diese ganze Darstellung der christlichen Lehre durchzieht, ist wohl unverkennbar, zumal gleichzeitig im selben Verlag ein Büchlein des Autors mit Vorträgen zur Metaphysik erscheint. Ich kann aber nur davor warnen, der hier vorgetragenen Darstellung einen Anschluß an dieses oder jenes philosophische System nachzusagen, sei es auch mein eigenes. (Kursivierung T.O.)

physik/Anthropologie und Theologie so, dass der Gottesbegriff im Kontext von Metaphysik/ Anthropologie höchst fragwürdig erscheinen kann – so etwa diagnostiziert von E. Jüngel, Gott als Geheimnis der Welt, Tübingen 72001, 19f. (Fn. 6). 36 Siehe G. Wenz, „Wissenschaft von Gott. W. Pannenbergs Dogmatik im Kontext von Wissenschaftstheorie und theologischer Enzyklopädie“, in: G. Wenz, »Eine neue Menschheit darstellen« − Religionsphilosophie als Weltverantwortung und Weltgestaltung. Eröffnung der Wolfhart Pannenberg-Forschungsstelle an der Münchener Hochschule für Philosophie, Philosophische Fakultät SJ, Pannenberg-Studien Band 1, Göttingen 2015, 37–55 [hier v. a.: 45ff.].

Manuel Zelger

Theologie als Universaltheorie Zur Funktion der als Geschichte konzipierten Offenbarung für den Aufbau der Theorie

In seinem Vorwort zur 5. Auflage von „Offenbarung als Geschichte“ (OaG) bemerkt Pannenberg, dass die „erregte und weitverzweigte Diskussion“1 des Buches dem „aus dem Gange des neuzeitlichen Denkens erwachsene[n] Problemhorizont“2, auf den er das im Buch dargelegte Offenbarungskonzept bezogen sehen möchte, kaum Beachtung schenkte. Es ist die Intention des hier Auszuführenden, in die von Pannenberg in besagtem Vorwort erhoffte „ernsthaftere Diskussion“3 des neuzeitlichen Problemstands einzutreten und damit seine vorgeschlagene Lösung der Probleme des Offenbarungsbegriffs eine „angemessenere Würdigung“4 erfahren zu lassen. Bevor in die Diskussion eingetreten werden kann, gilt es zu benennen, worin diese spezifisch neuzeitliche Problemlage besteht. Pannenberg sieht sie durch eine „säkular gewordene Welt“5 gegeben. In der Perspektive der Theorie sozialer Systeme Niklas Luhmanns lässt sich das Problem der Säkularität der Welt genauer als Folge der funktionalen Differenzierung der modernen Gesellschaft beschreiben. Unter deren Bedingung finden religiöse Äußerungen – auch solche mit universellen Wahrheitsansprüchen – grundsätzlich nur dann Gehör oder Zustimmung, also kommunikativen Anschluss, wenn sie in Strukturen religiöser Kommunikation eingebettet sind6. Soll unter modernen Bedingungen an der universellen Wahrheit religiöser Aussagen festgehalten werden, dann müssen diese den auf Wahrheitsprüfung spezifizierten Strukturen wissenschaftlicher Kommunikation angemessen sein. Das Programm von OaG sei hier als ein Vorschlag diskutiert, auf diese Problemlage zu antworten und Aussagen über Gott immer auch so zu tätigen, dass sie im Rahmen wis1 2 3 4 5 6

OaG, Göttingen 51982, S. V. a.a.O., S. VI. ebd. ebd. a.a.O., S. XII. Das im hiesigen Zusammenhang Nötigste zu den Strukturen religiöser Kommunikation wird bei Gelegenheit der Skizze der Strukturen wissenschaftlicher Kommunikation auszuführen sein. Siehe S. 136f. unten.

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senschaftlicher Kommunikation Anschluss finden. Die Diskussion des von Pannenberg unterbreiteten Vorschlags erfolgt in drei Schritten. In einem ersten seien zunächst die zentralen Strukturen wissenschaftlicher Kommunikation skizziert. Dem zweiten obliegt es, das Programm von OaG so zu explizieren, dass es als den Strukturen wissenschaftlicher Kommunikation genügendes und damit als ein Beitrag zu dieser verständlich wird. Der hiermit verbundene Anspruch auf Allgemeingültigkeit wird dann im dritten Schritt zu prüfen sein.

I. Für die Skizze der wesentlichen Strukturen wissenschaftlicher Kommunikation wird die systemtheoretische Perspektive beibehalten.7 In dieser werden Äußerungen dann als wissenschaftliche verstanden, wenn der, dem gegenüber sie geäußert werden (Ego), sie so versteht, dass die geäußerten Sachverhalte auch unabhängig von deren Äußerung und in gleicher Weise wie dem sie Äußernden (Alter) zugänglich seien. Die von Alter mitgeteilte Information wird so behandelt, dass sie nicht eine durch Alter selbst erzeugte ist. Wissenschaftliche Kommunikation ist demnach so strukturiert, dass in ihr die mitgeteilte Information und der Mitteilende entkoppelt werden. Von Alter wird erwartet nur das mitzuteilen, was jedermann auch ohne diese seine Mitteilung zugänglich ist. Alter erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass seine Äußerung Ego akzeptiert, wenn er als durch jedermann substituierbar erlebt wird. Zugleich muss die Mitteilung Alters darauf eingestellt sein, dass Ego die mitgeteilte Information nur akzeptieren wird, wenn er unabhängig von deren Mitteilung Kenntnis von ihr nehmen, sie überprüfen kann. In wissenschaftlicher Kommunikation werden die an ihr Beteiligten als für das Zustandekommen der mitgeteilten Information irrelevant und bei Invarianz der Information als beliebig variabel erlebt. Religiöse Kommunikation unterscheidet sich unter Bedingungen funktionaler Differenzierung strukturell von wissenschaftlicher dadurch, dass Alter für das Zustandekommen der mitgeteilten Information eine konstitutive Rolle zugeschrieben wird. Allerdings wird Alter seine für das Zustandekommen der mit7 Die folgenden Ausführungen entreißen dem Begriffsnetz der Systemtheorie Luhmanns einige wenige Begriffe, um damit zu skizzieren, wie sich wissenschaftliche vor allem von religiöser Kommunikation unterscheidet. Ohne zu beanspruchen, deren Verwendung durch Luhmann genau zu entsprechen, wird auf die Begriffe des Erlebens und des Handelns zurückgegriffen. Erleben oder Handeln werden in der Kommunikation zugeschrieben, je nachdem, ob das, was in ihr mitgeteilt wird, als durch Selbstbestimmung oder Fremdbestimmung des Mitteilenden Bedingtes in Betracht kommt. Zu Erleben und Handeln im Allgemeinen vgl. N. Luhmann, Erleben und Handeln, in: ders., Soziologische Aufklärung 3. Soziales System, Gesellschaft, Organisation, Opladen 31993, S. 67–80 und bezogen auf Wissenschaft: ders., Die Wissenschaft der Gesellschaft, Frankfurt a. M. 1992, S. 140–147.

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geteilten Information konstitutive Rolle nicht so zugeschrieben wie etwa in wirtschaftlicher Kommunikation die für die Festlegung eines Preises oder in politischer die für die Festlegung einer Verwaltungsmaßnhme. Das, was in religiöser Kommunikation mitgeteilt wird, ist stets so strukturiert, dass dem Mitteilenden die Eigenschaft zugeschrieben wird, dass nicht er das Mitgeteilte bestimmt, sondern das Mitgeteilte in jeder Hinsicht ihn bestimmt. Für Ego sind die Gehalte, die Alter unter allen Umständen betreffen, von ihrer Mitteilung durch Alter nicht lösbar. Es sind keine unabhängig von ihrer Mitteilung jedermann zugänglichen Tatsachen, sondern solche, die Ego nur mittels ihrer Mitteilung durch Alter zugänglich sind. Egos Annahme des Mitgeteilten besteht dann auch nicht wie in wissenschaftlicher Kommunikation darin, es als für jedermann identische Tatsache anzuerkennen, sondern darin, Alter zu verstehen geben, sich ebenfalls als durch das Mitgeilte absolut bestimmt zu erleben. Thema religiöser Kommunikation sind aber nicht die an ihr Beteiligten, sondern das, was sie als sie in jeder Beziehung betreffend erleben. Da die an religiöser Kommunikation Beteiligten zu dem, was die Anderen als sie absolut bestimmend erleben, außerhalb der Mitteilung darüber keinen Zugang haben, besteht das sie gemeinsam Bestimmende auch nur in der gegenseitigen mitgeteilten Bestätigung, dass es ein ihnen gemeinsames sei.8 8 Die zugegebenermaßen äußert sparsamen Bemerkungen zur Strukturierung religiöser Kommunikation lassen sich im hiesigen Zusammenhang an manchen kritischen Reaktionen auf Pannenbergs Beitrag zu OaG noch ein wenig empirisch unterfüttern, wenn man in den Blick bekommt, dass Pannenbergs Kritiker theologische Aussagen als Beiträge zur religiösen Kommunikation behandelt wissen möchten. In kommunikationstheoretischer Perspektive stellt sich die Kritik an Pannenberg dann so dar, dass sie an seinen Äußerungen über die Offenbarung Gottes in Jesus Christus bemängelt, sie wären keine religiösen. Die Kritik spricht sich näherhin darin aus, dass Pannenberg Offenbarung als von jedermann zu konstatierende und damit wissenschaftlich zu bewährende Tatsache und nicht als ein auf Glauben beruhendes und abzielendes Kerygma fasse (Vgl. P. Althaus, Offenbarung als Geschichte und Glaube, in: ThLZ 87(5), 1962, Sp. 321–330, Sp. 328: „Vermag die Verkündigung in anderem Sinne ‚aufzuweisen‘ [zu überzeugen; M.Z.] als mit der Sicht des Glaubens und durch den Aufruf zum Glauben?“; H.-G. Geyer, Geschichte als theologisches Problem. Bemerkungen zu W. Pannenbergs Geschichtstheologie, in: EvTh 22, 1962, S. 92–104, S. 102: „Denn die Immanenz der Offenbarung Gottes in der Geschichte Jesu Christi hatte und hat nicht, weder prinzipiell noch faktisch, die historische Erkennbarkeit zur Konsequenz, sondern die Wortverkündigung, das Kerygma, das die dem ‚Geschick Jesu von Nazareth‘ selbst eignende ‚Tatsache, daß Gott (in ihm) offenbar ist‘, verheißt, und nicht einfach als Faktum der Vergangenheit berichtet.“; G. Klein, Offenbarung als Geschichte? Marginalien zu einem theologischen Programm, in: MPTh 51, 1962, 65–88, S. 78: „Nicht mehr legt sich nun [bei Pannenberg; M.Z.] der im Widerfahrnis der Auferstehung gewonnene Glaube an sie als Offenbarung Gottes in variablen Vorstellungsformen […] theologisch aus, sondern umgekehrt entscheidet der Besitz der richtigen Vorstellungsform darüber, ob sich die Auferstehung Jesu beim Menschen als Offenbarung Gottes zu artikulieren vermag.“; L. Steiger, Offenbarungsgeschichte und theologische Vernunft. Zur Theologie W. Pannenbergs, in: ZThK 59(1), 1962, S. 88–113, S. 94: „[D]enn in Wirklichkeit tritt die geschichtliche Offenbarung Gottes nicht erst durch Bezeugung in ihre

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Mit der fortlaufenden Abkoppelung der mitgeteilten Gehalte von den spezifischen Kontexten ihrer Mitteilung in der Autopoiesis wissenschaftlicher Kommunikation kristallisieren sich Strukturen heraus, in denen Bewährtes, d. h. Geprüftes eingelagert und in der fortlaufenden Kommunikation verwendbar ist. Für den hier verfolgten Zweck sei der Fokus besonders auf Begriffe und Theorien9 als solche Strukturen wissenschaftlicher Kommunikation gelegt. In der Abstraktheit wissenschaftlicher Begriffsbildung schlägt sich nieder, dass von dem, worüber wissenschaftliche Aussagen reden, alle die Eigenschaften abzuziehen sind, die von spezifischen Bedingungen des sie Äußernden bestimmt sind, und nur solche verbleiben, die aufgrund jedermann zugänglichen Bedingungen geäußert werden können. Die wissenschaftliche Arbeit am Begriff wiederum dient dem Aufbau von Theorien. Theoretische Aussagen bringen die in ihnen verwendeten Begriffe in einen solchen Zusammenhang, dass jedem besonderen Begriff der Theorie die allgemeinen Begriffe inhärieren, die den Gegenstandsbereich der Theorie konstituieren.10 Wirklichkeit ein, sondern sie begegnet mir – im textlichen Zeugnis von ihr – überhaupt nur in diesem Vorgang der Bezeugung.“). Aus kommunikationstheoretischem Blickwinkel kann der Ausdruck „auf Glauben beruhendes und abzielendes Kerygma“, der das den Kritikern Gemeinsame auf den Punkt bringen soll, als Strukturbeschreibung religiöser Kommunikation interpretiert werden. Unter Kerygma sei der in der Kommunikation mitgeteilte Gehalt verstanden, der als auf Glauben beruhender und abzielender erst zu einem religiösen, zum Kerygma bestimmt wird. Wenn unter Glaube die spezifische Weise verstanden wird, in der der mitgeteilte Gehalt die an der Kommunikation Beteiligten uneingeschränkt betrifft bzw. betreffen kann, dann besagt das Beruhen des Kerygmas auf Glauben, ein mitgeteilter Gehalt gelte nur als dieses, wenn er so mitgeteilt wird, dass Alter ein grundsätzlich geltendes Bestimmtsein durch den von ihm mitgeteilten Gehalt zugeschrieben werden kann. Im Abzielen des Kerygmas auf Glauben kommt kommunikationstheoretisch betrachtet zum Ausdruck, dass für das Zustandekommen religiöser Kommunikation Ego die Mitteilung Alters so verstehen muss, dass auch ihm zugeschrieben wird, unter allen möglichen Umständen davon betroffen zu sein oder sein zu können. Religiös kann die Kommunikation nur fortgesetzt werden, wenn Ego zu verstehen gibt, dass er verstanden habe, dass es in der Mitteilung darum gehe, das Mitgeteilte als ihn in jeder Beziehung betreffend zu erleben. Es lässt sich vermuten, dass eine Theologie, die Aussagen über Gott nur akzeptiert, wenn sie in religiöser Form kommuniziert werden, sich nicht in der Lage sieht, Pannenbergs Anliegen, unter den Bedingungen einer „säkularen Welt“ theologischen Aussagen auch in der auf Geltungsfragen spezifizierten wissenschaftlichen Kommunikation Geltung zu verschaffen, angemessen zu würdigen. Es sei hier lediglich als Vermutung geäußert, dass die Forcierung des Glaubensbegriffs in der Theologie der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts auch dazu diente, wissenschaftliche Erwartungen an theologische Aussagen zu enttäuschen. 9 Zu Begriffen als in der Autopoiesis des Wissenschaftssystems erzeugte und verwendete Strukturen vgl. N. Luhmann, Wissenschaft (wie Anm. 7), S. 383–391 und entsprechend zu Theorien vgl. a.a.O., S. 406–413 und ders., Die Ausdifferenzierung von Erkenntnisgewinn: Zur Genese von Wissenschaft, in ders., Ideenevolution. Beiträge zur Wissenssoziologie, hg. von A. Kieserling, Frankfurt a. M. 2008, 132–185, S. 156–159. 10 Im Rahmen der explizit aufzubauenden Theorie, die Pannenbergs Beiträge zu OaG als wissenschaftlich diskutable implizieren, wird hierauf zurückzukommen sein. Siehe unten S. 141.

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Der nun anstehende zweite Schritt, das von Pannenberg vorgeschlagene Konzept von Offenbarung als eines in wissenschaftlicher Kommunikation anschlussfähiges zu explizieren, kann nunmehr dahingehend spezifiziert werden, es in Form einer den genannten Standards wissenschaftlicher Kommunikation gehorchenden Theorie darzustellen. Wenn Pannenberg sein Programm auch nicht explizit als Theorie aufbaut, so muss es doch zumindest eine solche implizieren, soll es unter modernen Bedingungen den Anspruch auf allgemeingültige Wahrheit erheben können.

II. Jeder Aufbau einer Theorie muss damit beginnen, deren Gegenstandsbereich festzulegen. Es besteht vermutlich kein Zweifel, dass es den Intentionen Pannenbergs entspricht, Gott als den Gegenstand der Theorie festzulegen und es von den Bestimmungen Gottes abhängig zu machen, ob überhaupt weitere und dann welche Arten von Gegenständen in den Gegenstandsbereich der Theorie aufzunehmen seien. Hierfür bedarf es der Bildung eines Begriffs, der es erlaubt, Gott als den so bestimmten von dem zu unterscheiden, was nicht so bestimmt ist. Es bedarf eines Merkmals, das Grund der Erkennbarkeit des Merkmalsträgers ist. Bei Pannenberg fungieren die Begriffe „alles bestimmende Macht“ oder „alles bestimmende Wirklichkeit“11 als dieser geforderte Erkenntnisgrund. Da die Begriffe „Macht“ und „Wirklichkeit“ im Rahmen der aufzubauenden Theorie dem Begriff des alles Bestimmenden keine weitere Bestimmtheit verleihen, sei im Folgenden mit dem Begriff des alles Bestimmenden operiert. Ohne auf die Frage eingehen zu müssen, ob dieser Begriff überhaupt auf irgendetwas zutrifft, lässt sich bereits aus rein analytischen Gründen, d. h. durch Arbeit am Begriff feststellen, dass er maximal nur durch eine Instanz erfüllbar ist. Voraussetzung für diese Feststellung ist allerdings, der Begriff des alles Bestimmenden sei so definiert, dass alles, was durch das alles Bestimmende bestimmt ist, dieses umgekehrt nicht bestimmen kann. Gäbe es nämlich unter dieser Bedingung weitere alles Bestimmende, so fielen diese jeweils in den Skopus des durch die anderen alles Bestimmenden Bestimmten und widersprächen der genannten Bedingung, durch anderes nicht bestimmt zu sein. 11 W. Pannenberg, Über historische und theologische Hermeneutik, in: GSTh 1, S. 123–158, S. 138. Die Prädikate „alles bestimmende Macht“ und „alles bestimmende Wirklichkeit“ finden in OaG zwar keine Verwendung, aber der Sache nach z. B. in der Aussage, der eine „einzige Gott“ könne „nur aus der Gesamtheit alles Geschehens […] in seiner Gottheit offenbar werden“ (OaG, S. 104). Wenn die Gottheit Gottes aus der Gesamtheit alles Geschehens offenbar wird, dann manifestiert die Gottheit Gottes sich auch darin, dass er in irgendeiner Weise für diese Gesamtheit bestimmend ist.

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Dem bisher Gesagten ist aber noch nicht zu entnehmen, ob der Begriff des alles Bestimmenden geeignet ist, als theoretischer Begriff zu fungieren. Hierfür ist zu fordern, dass alles dasjenige, von dem die Theorie aussagt, durch das alles Bestimmende bestimmt zu sein, selbst theoretischer Beschreibung zugänglich sei. Pannenberg kommt dieser Forderung nach, indem er den Skopus des uneingeschränkten Allquantors, im Ausdruck „das alles Bestimmende“ im Rahmen einer Theologie, die als Wissenschaft zu verstehen ist, auf die von den Wissenschaften insgesamt, sprich von deren Theorien behandelten Gegenstandsbereiche bezieht.12 Pannenberg konzipiert das Ganze der Wirklichkeit nicht als eine lose, lediglich aufgrund ihres Charakters als Vielheit zusammengeraffte Menge von Tatsachen, sondern als eine Einheit, die das, was in ihr zur Einheit gebracht wird, in seiner zu vereinzelnden Besonderheit erst endgültig konstituiert. Diese so qualifizierte Einheit erblickt Pannenberg in der Geschichte, die als das Ganze der Wirklichkeit nur als Universalgeschichte zu begreifen ist. Geschichte ist für ihn mithin nicht nur der Sachbereich der Geistes- und Sozialwissenschaften, sondern auch der Naturwissenschaften. Kann man zeigen, dass die so als Einheit bestimmte Universalgeschichte durch eine ihr gegenüber transzendente Instanz konstituiert ist, dann kann diese als das alles Bestimmende gerechtfertigt und der Term Gott gerechtfertigt in deren Theorie eingeführt werden. Pannenbergs Vorschlag für eine Theorie, in der Aussagen über Gott möglich sind, verpflichtet sich demnach dazu, alles von dem sich sagen lässt, es sei wirklich, als etwas in die eine Universalgeschichte Einzugliederndes auszuweisen. Damit rücken alle möglichen Sachbereiche in den Gegenstandbereich der Theorie, in der sie aber in der Weise zum Zuge kommen müssen, dass sie erst durch die eine Universalgeschichte ihre vollständige Bestimmtheit erhalten. Als alle möglichen Gegenstandsbereiche integrierende ist diese Theorie somit als Universaltheorie angelegt. Da die Einheit der Universalgeschichte als Einheit von Vielem, konzipiert ist, das mit dieser nicht identisch ist, muss die Theorie angeben, worin das von der Einheit Unterschiedene und in ihr Vereinigte besteht. Die Theorie muss sagen, welche Qualitäten dasjenige besitzt, das in der Universalgeschichte vereinigt ist. 12 Als Beleg hierfür dient allerdings nicht OaG, sondern ein Aufsatz Pannenbergs zum Status der Theologie als Wissenschaft, der sich aber werkgeschichtlich der Entwicklungsphase zuordnen lässt, in der auch OaG zu stehen kommt. Vgl. W. Pannenberg, Die Fragwürdigkeit der klassischen Universalwissenschaften (Evangelische Theologie), in: Die Krise des Zeitalters der Wissenschaften. Referate der Tagung des Deutschen Instituts für Bildung und Wissen vom 14. bis 20. Oktober 1962 in Arnsberg, Frankfurt a. M. 1964, S. 173–188, S. 188: „Insofern nun theologische Sätze durch ihr Verhältnis zur außertheologischen Erforschung des betreffenden Sachbereichs verifizierbar oder falsifizierbar sind, kann die Theologie sich als Wissenschaft im Kreise der übrigen Wissenschaften verstehen.“ Verifiziert bzw. falsifiziert werden theologische Sätze im Verhältnis zu den durch die anderen Wissenschaften erforschten Sachbereichen in der Weise, dass diese als durch Gott bestimmte auszuweisen sind oder nicht.

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Dessen im Folgenden aufzulistenden Qualitäten seien im Begriff des Ereignisses zusammengefasst. Obwohl bei Pannenberg der Begriff der Geschichte als der alles vereinigenden Einheit13 eine zentrale Rolle spielt, findet sich bei ihm keine explizite Bestimmung des in der Einheit Vereinigten. Damit bleibt aber auch der Begriff der Geschichte für die Theoriebildung zu unbestimmt. Es sei deshalb im Folgenden der Begriff des Ereignisses in seinen wesentlichen Merkmalen festgelegt und darauf aufbauend dann der der Geschichte expliziert. Alle Bestimmungen, die im weiteren Theorieaufbau dann noch von der Universalgeschichte ausgesagt werden, müssen diese konstitutiven Merkmale beinhalten. Ohne in die vielfältige und sich in allen entscheidenden Fragen im Dissens befindliche Diskussion des Ereignisbegriffs einsteigen zu können, lässt sich konstatieren, dass Pannenberg sich den Ereignistheoretikern zurechnen lässt, die Ereignisse als mit Objekten vergleichbare Entitäten behandeln.14 Als solche sind sie zu vereinzeln, d. h. sie lassen sich von allen anderen Ereignissen unterscheiden. Dabei ist die Identität einzelner Ereignisse notwendigerweise an die Zeiten gebunden, zu denen sie stattfinden. Von Ereignissen, die zu verschiedenen Zeiten stattfänden und ansonsten nicht zu unterscheiden wären, könnte niemals ausgesagt werden, sie seien dieselben. Da der Unterschied der Ereignisse von dem der Zeiten abhängt, ist man gezwungen, die Zeiten und ihre Unterscheidbarkeit von dem, was sich zu ihnen ereignet, unabhängig zu machen. Um Zeiten unterscheiden zu können, ohne über die Qualitäten dessen zu verfügen, was sich zu ihnen ereignet, genügt es Zeiten als qualitätslose, einfache Einzelne, als Elemente15 zu konzipieren, die als etwas Bestimmtes einzig durch die Relation bestimmt sind, in der sie zu allen 13 Vgl. W. Pannenberg, Heilsgeschehen und Geschichte, in: GSTh 1, S. 22–78, hier S. 28: „Geschichte ist die Wirklichkeit in ihrer Totalität.“ 14 Für eine Übersicht über die aktuellen Debatten um den Ereignisbegriff siehe: R. Casati/A. Varzi, Events, in: The Stanford Encyclopedia of Philosophy (Winter 2015 Edition), E. N. Zalta (Hg.), URL = , zum Verhältnis von Ereignissen zu Objekten siehe den Abschnitt: „1.1 Events vs. Objects“. Dies., Event Concepts, in: T. F. Shipley/J. M. Zacks, Understanding Events. From Perception to Action, Oxford, New York 2008, S. 31–53, zum Verhältnis von Ereignissen zu Objekten vgl. S. 42–44. 15 In der hier verwendeten Weise ist der Begriff des Elements von Wolfgang Cramer gebildet worden. Vgl. W. Cramer, Aufgaben und Methoden einer Kategorienlehre, in: Kant-Studien 52 1961/62, S. 351–368, S. 363f. Um sagen zu können, etwas stehe zu noch etwas in einer Relation, müssen die in der Relation Stehenden unabhängig von ihrer relationalen Bestimmtheit bereits unterschieden werden können. Erhalten die in der Relation Stehenden erst durch die Relation eine Eigenschaft, die sie als jeweils einzigartig Qualifizierte voneinander abhebt (vgl. hierzu Anm. 16), dann müssen sie unabhängig von sie individuierenden Qualitäten als unterschiedene vorausgesetzt sein. Elemente sind genau solche Einzelne, die nicht dadurch unterschieden werden, dass sie jeweils anders qualifiziert sind, sondern dadurch, dass eines einfach eines und noch eines auch nichts anderes als einfach eines ist. Eines, dem gegenüber noch eines ist, ist diesem gegenüber selbst noch eines.

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anderen stehen. Alle Zeiten sind durch die Relation __früher als__ linear16 geordnet. Die Zeit ist somit nichts anderes als die eine lineare Ordnung der qualitätslos verschiedenen Zeiten. Theoretische Aussagen über Ereignisse implizieren demnach notwendig den Begriff der einen linearen Zeitordnung, da diese in allen, von wem auch immer geäußerten Aussagen, die sich auf irgendwelche Ereignisse beziehen, als invariant vorauszusetzen ist. Da die Zeiten als einzig durch ihre Stelle in der linearen Ordnung individuierte nicht zum Ausdruck bringen, was sich zu ihnen ereignet, muss zudem ausgeführt werden, worin die Qualität von Ereignissen besteht. Qualitativ lassen sich Ereignisse allgemein als Veränderungen bestimmen. Veränderung ist AndersWerden, früheres So-Sein und späteres Anders-Sein.17 Jedes Anders-Werden ist an die eine Zeitordnung gebunden, weil das So-Sein stets an Zeiten gebunden ist, die früher sind als die Zeiten, an die das Anders-Sein gebunden ist. Nur indem So-Sein und Anders-Sein an Zeiten gebunden sind, können sie in der Konstitution eines Ereignisses eine Rolle spielen. Die Zeiten hingegen, zu denen das Anders-Werden stattfindet, verändern sich nicht. Sie sind, was sie sind, durch die eine lineare Ordnung, gleichgültig, was zu ihnen geschieht. Die Bestimmtheit einer Veränderung hängt folglich von der Bestimmtheit der Qualitäten ab, die 16 Die hier unter dem Label „lineare Ordnung“ firmierende Struktur stimmt nicht mit der in der geläufigen mathematischen Ordnungstheorie (vgl. M. Erné: Einführung in die Ordnungstheorie, Mannheim u. a. 1982, S. 46) überein. In dieser gilt für die Relation, die die Elemente linear ordnet, sie müsse eine reflexive sein. Die Relation __früher als__ erfüllt diese Bedingung offensichtlich nicht, da Zeiten – die durch sie geordneten Elemente – nicht früher als sie selbst sind. Somit gilt für jedes beliebige Paar von Zeiten tx und ty, dass entweder tx früher als ty oder ty früher als tx ist. Aufgrund der linearen Ordnung durch die Relation __früher als__ ist jede Zeit tx durch die Menge Mtx der Zeiten, die früher sind als tx und später sind als tx, individuell qualifiziert. Jede Menge Mtx ist anders als alle weiteren, weil für sie im Unterschied zu allen anderen Mengen Mt_ gilt, tx ∉ Mtx. In der Menge Mtx drückt sich die individuelle Bestimmtheit aus, die tx durch seine spezifische Stelle in der einen linearen Ordnung aller Zeiten t_ erhält. In Aufnahme einer von McTaggart (vgl. J. M. E. McTaggart, The Unreality of Time, The Monist 17(68), 1908, S. 457–474, S. 458) inaugurierten Unterscheidung, deren Verwendung in der Philosophie der Zeit gebräuchlich geworden ist, kann die hier vorausgesetzte Zeitstruktur als B-Reihe bezeichnet werden. Für diese ist kennzeichnend, dass in ihrer Beschreibung die Zeitmodi Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft im Gegensatz zur von McTaggart so genannten A-Reihe keine Rolle spielen. Die Debatten in der Philosophie der Zeit über die angemessene Modellierung der Zeitstruktur kann hier nicht nachgezeichnet werden. Für eine Übersicht vgl. N. Markosian, Time, in: The Stanford Encyclopedia of Philosophy (Fall 2016 Edition), E. N. Zalta (Hg.), URL = und K. Miller, Presentism, Eternalism and the Growing Block, in: H. Dyke/A. Bardon (Hg.), A Companion to the Philosophy of Time, 2013, S. 345–364. 17 Die Konzeption des Ereignisses als Veränderung von Qualitäten verdankt sich L. B. Lombard, Events, in: Canadian Journal of Philosophy 9(3), 1979, S. 425–460, S.437ff. Eine detaillierte Auseinandersetzung mit der Position Lombards muss hier entfallen, da es im hier verfolgten Argumentationsgang vor allem um die Gesamtheit aller Ereignisse als Universalgeschichte geht.

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zeitlich aufeinander folgen. Individuiert wird ein Ereignis allerdings nicht dadurch, von welcher Art es ist, also dadurch, welche Qualitäten aufeinander folgen, sondern durch die Zeiten zu denen es stattfindet. Genau gesagt, muss bei qualitativ identischen Ereignissen, die zu denselben Zeiten stattfinden, auch noch der Raum hinzukommen, dessen Elemente, die Raumstellen, auch nur qualitätslose und lediglich relational bestimmte sind.18 Im Naturgeschehen ist Letzteres durchaus der Regelfall. Weil Ereignisse, als qualitativ bestimmte, Fälle von Ereignisarten sind, können sie untereinander in Beziehungen stehen, die über die des __früher als__ hinausgehen. Dass ein Ereignis früher stattfindet als ein anderes, resultiert bereits aus der linearen Ordnung der Zeiten, an die Ereignisse notwendig gebunden sind. Die für den hiesigen Kontext wesentliche Beziehung ist die von Teil und Ganzem. Es ist die spezifische Art eines Ereignisses, die die Möglichkeit eröffnet, es als das Ganze von bestimmen Teilereignissen zu betrachten. In einem als Schachpartie qualifizierten Ereignis z. B. bilden die Züge dessen Teilereignisse. Das ganze Ereignis wäre dann als das Anders-Werden der Figurenkonstellation auf der Spielfläche zu beschreiben. Die Endstellung ist anders als die Ausgangsstellung. Die Beziehung des Ganzen zu seinen Teilen ist als konstitutiv dafür anzusehen, dass unterschiedliche Ereignisse eine Geschichte bilden können. Eine Geschichte ist nicht nur ein Aggregat verschieden gearteter Ereignisse, sondern sie qualifiziert als das Ganze umgekehrt auch die Ereignisse, die seine Teile ausmachen. Als was ein Ereignis insgesamt qualifiziert ist, von welchen Arten es ein Fall ist, hängt demnach von dem umfassendsten Ganzen ab, dessen Teil es ist. Die einzelnen Züge eines Schachspiels z. B. gewinnen ihre vollständige Bestimmung erst im Zusammenhang der ganzen Partie. Erst von hieraus gewinnt ein Zug z. B. die Bestimmtheit, die Wende zum Matt zu sein. Da eine Theorie, die den Anspruch erhebt, eine universale zu sein, der Forderung genügen muss, auch sich selbst in das Universum ihrer Gegenstandsbereiche inkludieren zu können, muss eine solche, die als Theorie der Universalgeschichte ausgearbeitet werden soll, Theorien auf Ereignisse zurückführen können. Um dieser Forderung nachkommen zu können, muss die hier aufzubauende Theorie sich besonderen Arten von Ereignissen zuwenden. Die zu explizierenden Ereignisarten lassen sich vielleicht am besten unter dem Begriff des Mentalen zusammenfassen. Unter diesen Begriff fällt das ganze Inventar der klassischen rationalen Psychologie wie Empfinden, Wahrnehmen, Denken, Wollen usw. Mentale Ereignisse ermöglichen ein besonderes Verhältnis zu anderen Ereignissen. Sie können zu ihnen im Verhältnis der Repräsentanz stehen. 18 Zum Problem der Individuation von Ereignissen vgl. R. Casati/A. Varzi (Hg.), Events, The International Research Library of Philosophy Band15, Aldershot u. a. 1996, Part III: Identity and Individuation, S. 265–398.

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Im Gegensatz zum repräsentierten Ereignis findet dessen mentaler Repräsentant nicht statt. Das Verhältnis von stattfindendem Ereignis und seiner Repräsentation in einem mentalen Ereignis kann in der Perspektive des robusten Alltagsrealismus19 Pannenbergs dennoch als ein Zusammenhang von Ereignissen bestimmt werden. Man geht davon aus, dass in der einen Zeitordnung auf irgendwelche Ereignisse mentale Ereignisse folgen können, in denen jene Ereignisse durch einen Repräsentanten präsent sind. Mentalen Ereignissen, also dem Anders-Werden präsenter Repräsentanten, wird ein durch die Sinnesorgane vermittelter Kontakt zu Außermentalem unterstellt, das sich durch Veränderung der Sinnesorgane in den Repräsentanten auswirkt. Theoretische Aussagen über Ereignisse und ihre Zusammenhänge sind dann auch nichts anderes als mentale Repräsentanten, die in den mentalen Ereignissen vorkommen, die diese Aussagen z. B. denken, sprechen, hören oder lesen. Mit dem hinreichend explizierten allgemeinen Begriff des Ereignisses können nunmehr die ersten Aussagen der Theorie zur Universalgeschichte getroffen werden. In seiner Allgemeinheit, die all seinen möglichen Spezifikationen implizit ist, wird der Begriff der Universalgeschichte hiermit so festgelegt, dass in ihm die Gesamtheit der in der einen linearen Zeitordnung geordneten Ereignisse gemeint sein soll. Durch seine notwendige Bindung an die Zeitordnung steht jedes Ereignis zu jedem anderen in dem Verhältnis, früher oder später als es oder mit ihm gleichzeitig zu sein. Als in dieser ihrer größtmöglichen Allgemeinheit bestimmte firmiert die Universalgeschichte im Folgenden unter dem Label des Totums, da dieses als die Gesamtheit der nur in ihrer Zeitlichkeit bestimmten Ereignisse die Bestimmung, ein Ganzes und damit seine Teile vollständig Bestimmendes zu sein, nicht erfüllt. Aus dem Verhältnis der Gesamtheit der Er19 Die Rede von einem „robusten Alltagsrealismus“ ist bewusst gewählt, da Pannenberg sich dem „Grundproblem der Philosophie“ (W. Cramer, Das Grundproblem der Philosophie, in Diskus. Frankfurter Sudentenzeitung Beilage zu 4(2), 1954, S. 57–60), wie dem Wissen gegenüber Transzendentes gewusst werden kann, wenn Gewusstes nur als dem Wissen Immanentes ist, – zumindest im Umfeld von OaG – gar nicht stellt, sondern es als im Vollzug der Erfahrung immer schon gelöstes ansieht. Vgl. W. Pannenberg, Kontingenz und Naturgesetz, in: A. M. K. Müller/ders., Erwägungen zu einer Theologie der Natur, Gütersloh 1970, S. 33–80, S. 45. „[D]ie Eigenart menschlicher Erfahrung [ist] auf die Eigenart der ihr vorgegebenen Wirklichkeit bezogen [Hv. von M.Z.] und lässt etwas von ihr erkennen“. Als mentale Akte finden menschliche Erfahrungen in derselben Zeitordnung statt wie alle anderen Ereignisse auch. Reale Ereignisse können sie allerdings nur repräsentieren, wenn diese früher stattfinden als sie selbst. Da auch in der faktischen wissenschaftlichen Kommunikation der Alltagsrealismus häufig implizit übernommen wird, ohne dass er eine theoretische Explikation erfährt, sei er auch für die Explikation der OaG impliziten Theorie unterstellt, ohne vom Verf. geteilt zu werden. Unter Beachtung der erkenntnistheoretischen Fragestellung müsste die von Pannenberg für die Theologie zu Recht geforderte universaltheoretische Ausrichtung allerdings einen ganz anderen Zuschnitt erhalten.

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eignisse zur linearen Ordnung der Zeiten lassen sich allerdings bereits unterschiedliche Modelle des Totums entwickeln. Da der Begriff des Ereignisses es zulässt, dass es Zeiten geben kann, die früher oder später sind als alle diejenigen, zu denen noch irgendein Ereignis stattfindet, kann das Totum mit Anfang und Ende modelliert werden. Ebenso lässt sich das Totum aber auch so modellieren, dass es anfangs- und endlos ist. Wenn die Frage nach Anfang und Ende des Totums auch nicht aus dem Begriff des Ereignisses heraus beantwortet werden kann, so lassen sich doch zunächst einmal Folgerungen aus der bloßen Hypothese ziehen, es habe Anfang oder Ende. Nimmt man an, das Totum habe einen Anfang, dann kann es nicht von sich aus anfangen. Wenn nämlich es, das ja aus nichts anderem als aus Ereignissen besteht, von selbst anfinge, dann müsste das Übergehen von den Zeiten, die früher sind als alle die, zu denen noch irgendein Ereignis stattfindet, selbst als Ereignis zu begreifen sein. Damit würde dieses Ereignis allerdings zu Zeiten stattfinden, die zugleich solche sein sollen, zu denen keine Ereignisse stattfinden. Man könnte auch sagen, das Werden des Totums müsste in diesem selbst stattfinden und damit sein Gewordensein bereits voraussetzen. Analog dazu lässt sich zeigen, dass die Universalgeschichte aus sich heraus auch nicht enden kann. Anfang und Ende des Totums und damit der Universalgeschichte sind nur möglich, wenn das, was sie ermöglicht, dieser gegenüber transzendent ist. Geht man von der Hypothese aus, die Universalgeschichte sei zeitlich begrenzt, dann kann ein ihr transzendenter Ermöglichungsgrund in die Theorie eingeführt werden. Damit wäre eine notwendige Bedingung für die Einführung des Terminus „Gott“ erfüllt, weil die Universalgeschichte als nicht durch sich selbst bestimmte ausgewiesen wäre. Hinreichend dafür, den Ermöglichungsgrund als das alles Bestimmende zu bezeichnen, wäre es, wenn das Totum als eine solche Einheit qualifiziert wäre, durch die alles in ihr Vereinigte erst seine volle Bestimmtheit erhielte, das Totum also auch das Ganze aller Ereignisse, also eine universale Geschichte wäre. Wenn sich die Antwort auf die Frage nach einem transzendenten Grund des Totums nicht a priori analytisch aus dessen Begriff ergibt, weil dieser auch ein zeitlich unbegrenztes Modell zulässt, dann bleibt noch die Möglichkeit, dass im Totum Ereignisse stattfänden, die a posteriori zu erkennen geben, dass es zeitlich begrenzt ist und damit von ihm Transzendentem abhängt. Pannenberg wählt für seine Konzeption der Universalgeschichte genau diese Option. Damit flaggt er sie nicht nur als eine empirische, auf Daten beruhende aus, sondern bestimmt damit auch den theoretischen Ort, an dem der Offenbarungsbegriff in Funktion tritt. Als Daten sind bestimmte Ereignisse deshalb zu begreifen, weil die aus Begriffen abgeleiteten Modelle darüber keine Auskunft erteilen, was innerhalb des Totums stattfindet. Theoretisch erzwungen ist allerdings die Aussage, dass nur die Er-

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eignisse Daten für die Theorie sein können, die früher stattfinden als das Auftreten ihrer mentalen Repräsentanten in den theoretischen Äußerungen über sie. Sieht man das basale Merkmal von Offenbarung darin, dass Gott in seinem Wesen nur dann erkennbar ist, wenn er sich selbst so zu erkennen gibt, sich quasi zum Datum macht, dann lässt sich an das Modell, in dem sich die transzendente Konstitution des Totums durch bestimmte Ereignisse also Daten zu erkennen gibt, der Offenbarungsbegriff anschließen. Der Sachverhalt, dass die Theorie ihre Aussagen über Gott an ihr vorgegebene Daten bindet, erfüllt die Forderung an den Begriff der Offenbarung, dass es Gott selbst ist, der für seine Erkennbarkeit aufkommt. Die Art der Ereignisse, die die zeitliche Begrenzung und transzendente Konstitution des Totums zu erkennen geben, sind aus dem Begriff „Totum der Ereignisse“ nicht abzuleiten. Die Theorie muss sich diese Ereignisse vorgeben lassen. Mit den Ereignissen, auf die sich die Berichte über „Auftreten und Geschick Jesu von Nazareth“ beziehen, liegen solche Daten vor, die dafür in Anspruch genommen werden können, Erkenntnisse über Gott als den die Einheit der Universalgeschichte Konstituierenden zu gewinnen. So, wie von ihnen berichtet wird, besitzen diese Ereignisse eine Stelle in der Zeitstruktur des Totums und sind somit zur Theorie passende Daten.20 Im Ganzen der Religionsgeschichte Israels ist das Christusgeschehen als Vorwegnahme des Geschehens am Ende der Universalgeschichte bestimmt. Die Eigenschaft, Vorwegnahme des Endes der Universalgeschichte zu sein, kommt dem Christusgeschehen also aus einem Ganzen zu, dessen Teil es ist.21 Auch die Religionsgeschichte Israels ist der Theorie vorgegebenes Datum, ein Ganzes von Ereignissen, das seinen Teilen Eigenschaften verleiht, die sie als isoliert betrachtete nicht haben. Zur Theorie passendes Datum ist auch ein aus Teilen bestehendes Ereignis nur unter der Bedingung, dass ihm 20 Pannenberg legt größten Wert darauf, dass das Auftreten und Geschick Jesu von Nazareth denselben allgemeinen Bestimmungen gehorcht, wie alle anderen Ereignisse auch. Will man sich versichern, ob sie so stattgefunden haben, dann ist man an dieselben geschichtswissenschaftlichen Methoden gebunden wie bei anderen Ereignissen auch. Vgl. OaG, S. 100. Zum allgemeinen Ereignischarakter des Christusgeschehens und zur Anwendung geschichtswissenschaftlicher Methoden auf das Christusgeschehen vgl. W. Pannenberg, Heilsgeschehen (wie Anm. 13), S. 22–78, S.67: „Wäre nicht im Sinne der These, daß die Offenbarung in einem geschichtlichen Geschehen der Vergangenheit beschlossen ist, und daß es zu vergangenen Geschehen nun einmal keinen sichereren Zugang gibt als historische Forschung, dem Historiker die Beweislast zuzumuten dafür, daß in Jesus von Nazareth Gott sich offenbart hat? Diese Zumutung, die noch vor wenigen Jahrzehnten im Zeitalter der positivistischen Wissenschaftstheorie ein Skandal gewesen wäre, ist in der Tat kaum zu umgehen.“ 21 Mit der häufig kritisierten Bedingung für die Bestätigung des durch Anfang und Ende bestimmten Modells des Totums, das Ereignis der Auferweckung Jesu von Nazareth sei notwendigerweise zu den Daten zu zählen, hat die hier explizierte Theorie keine Schwierigkeiten. So wie in den Quellen von den Osterereignissen berichtet wird, steht dem nichts entgegen, sie unter den Begriff des Ereignisses zu subsumieren.

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eine Stelle in der einen Zeitordnung angewiesen werden kann. Hat das stattfindende Christusgeschehen in der stattfindenden Religionsgeschichte Israels die Eigenschaft, Vorwegnahme des Endes der Geschichte zu sein, dann darf auf der Basis der aus dem Ereignisbegriff a priori abgeleiteten allgemeinen Bestimmungen des Totums daraus geschlossen werden, dass es tatsächlich ein Ende hat. Der historisch-kritische Weg, aus den Quellen der Religionsgeschichte – das sind vor allem die biblischen Schriften – die Eigenschaften der Universalgeschichte zu extrahieren, die sich nur aufgrund der den Quellen entnommenen Ereignisse erkennen lassen, sei hier übersprungen.22 Im Zusammenhang der vorliegenden Untersuchung interessiert vielmehr das wissenschaftstheoretische Problem, ob die am Ziel der historisch-kritischen Analyse stehenden Bestimmungen der Universalgeschichte mit den aus dem Begriff des Totums gewonnenen konsistent sind, also in einem seiner Modelle erfüllt werden. Es gilt also im letzten Schritt zu prüfen, ob alle den Daten entnommenen Bestimmungen im Rahmen der aufgebauten Theorie Anspruch auf Geltung erheben können.

III. Für die Eigenschaften der Universalgeschichte, einen Anfang und vor allem ein Ende zu besitzen, ist der verlangte Konsistenzbeweis im Vorgehenden bereits erbracht worden. Dass ihr Anfang und ihr Ende eines transzendenten Grundes bedürfen, hatte sich bereits a priori aus dem Begriff des Ereignisses ergeben. In dem Modell, das – durch gegebene Ereignisse bestätigt – von Anfang und Ende des Totums ausgeht, kann der transzendente Grund darüber hinaus als der die Ganzheit des Totums konstituierende, d. h. es zu der einen Geschichte machende, ausgewiesen werden. Da das Totum als zeitlich begrenztes seinen Beginn und sein Ende nicht selbst in der Hand hat, somit die Art der Anfangs- und Endereignisse nicht bestimmen kann, ist es auch nicht in der Lage sich als das Ganze zu konstituieren. Als das eine Ganze von Anfang bis Ende kann das Totum nur von einem ihm transzendenten Ort aus bestimmt sein. Damit erfüllt der transzendente Grund der Universalgeschichte auch die Bedingung, als das alles Bestimmende gelten zu können und zu Recht den Term „Gott“ zugesprochen zu bekommen. Im Rahmen einer Theorie der Universalgeschichte und darin impliziert, einer der – alle Ereignisse in ihre Einheit inkludierenden – einen Zeitordnung kann also Aussagen über Gott ein expliziter theoretischer Status verliehen werden. Der Begriff der Offenbarung fungiert in diesem empirischen Theoriedesign in der 22 Es sei allerdings zugestanden, dass sich OaG insgesamt zum größten Teil dieser Aufgabe widmet.

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Art, dass das Modell einer vollständig durch Gott bestimmten Universalgeschichte durch Ereignisse in dieser bestätigt wird. Da in diesem Modell der Universalgeschichte auch die bestätigenden Ereignisse als durch Gott bestimmte Ereignisse zu bestimmen sind, lässt sich auch behaupten, Gott gebe sich selbst in den Daten zu erkennen, die ihn als das alles Bestimmende bestätigen. Die Behauptung, Gott sei als der die Universalgeschichte als das Ganze konstituierender offenbar, schließt nicht die ein, alle Ereignisse wären in ihrer vollständigen Bestimmtheit offenbar. Während Gott als der die Universalgeschichte als ein Ganzes Konstituierende, wie in den eben gemachten Aussagen geschehen, mental repräsentiert werden kann, lässt sich das für die vollständige Bestimmtheit irgendeines Ereignisses nicht sagen. Gibt es nämlich zu einem mentalen Ereignis m, das die Bestimmtheit eines Ereignisses e0 repräsentiert, spätere Ereignisse e1, e2 usw., dann kann nicht mit Anspruch auf allgemeine Gültigkeit behauptet werden, in m wäre die volle Bestimmtheit von e0 repräsentiert. Zusammen mit den Ereignissen e1, e2 usw. könnte nämlich e0 ein Teil eines Ganzen sein und daraus Eigenschaften beziehen, die im früher als e1, e2 usw. stattfindenden Ereignis m nicht repräsentiert werden können. Wird die Theorie als an mentale Ereignisse gebundener Zusammenhang von Repräsentanten in ihr eigenes Modell abgebildet, dann ist in diesem zwar die Aussage erfüllt, jedes Ereignis sei durch Gott vollständig bestimmt, aber keine Aussage, die zu sagen beansprucht, worin die vollständige Bestimmtheit eines einzelnen Ereignisses bestehe. Aus dem Theorem, kein mentales Ereignis könne die vollständige Bestimmtheit eines Ereignisses repräsentieren, solange es Zeiten gibt, zu denen Ereignisse stattfinden, die später sind als die Zeiten, zu denen die seine Repräsentanten präsentierenden Ereignisse stattfinden, kann als ein Theorem gefolgert werden, die vollständige Bestimmtheit eines Ereignisses sei nur dann repräsentierbar, wenn keine Ereignisse mehr folgen, also erst am Ende der Geschichte.23 Bis hierhin konnten die Bestimmungen der Universalgeschichte und damit auch die Gottes, die Pannenberg den aus den Quellen der biblischen Schriften herausgelesenen Daten, sprich Ereignissen entnommen hat, als im Modell der durch Gott konstituierten und vollständig bestimmten Universalgeschichte erfüllte ausgewiesen werden. Eine für Pannenberg zentrale Bestimmung der Universalgeschichte, die er den biblischen Quellen entnimmt, nämlich die, ein „Prozeß […] auf eine noch offene

23 Die von Pannenberg den religionsgeschichtlichen Daten entnommene Behauptung, Gott sei als das alles Bestimmende erst am Ende der Geschichte offenbar, weil erst dann die ganze Geschichte als durch Gott bestimmte offenbar sein könne, kann nicht nur als mit den Aussagen der hier explizierten Theorie konsistente ausgewiesen werden, sondern darüber hinaus sogar als eines deren Theoreme. Erfüllt wird das Theorem aber nur in dem Modell des Totums, das dieses als mit Anfang und Ende versehenes ausweist.

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Zukunft hin“24 zu sein, findet in dem hier entwickelten Modell jedoch keine Erfüllung. Als ein Prozess ließe sich die Universalgeschichte in dem hier entwickelten Modell auch noch begreifen, wenn man darunter nichts anderes versteht als die Veränderung des So-Seins des Anfangs in das Anders-Seins des Endes. Indem Pannenberg in die nähere Bestimmung des Prozesses den Zeitmodus der Zukunft einträgt, kann er aber nicht mehr – wie im Folgenden zu zeigen sein wird – die Universalgeschichte als die Totalität aller wirklichen Ereignisse auffassen. Da die eine lineare Ordnung der Zeiten eine notwendige Bedingung für das Stattfinden aller Ereignisse und damit für die Universalgeschichte als einer Wirklichkeit ist, müsste der Zeitmodus der Zukunft sich zumindest mit der linearen Zeitordnung vereinbaren lassen, wenn denn der Prozess der Universalgeschichte durch ihn konstitutiv bestimmt sein soll. Um die Vereinbarkeit prüfen zu können, muss die Eigenart der Zeitmodi zunächst einmal detaillierter qualifiziert werden. Als erstes ist festzustellen, dass die Zeitmodi keine Bestimmungen der linearen Zeitordnung sein können. Bestimmt man etwa ein Ereignis als Gegenwärtiges, dann schließt das ein, dass es andere Zeiten gibt, zu denen es vergangen und wiederum andere zu denen es zukünftig ist. Versucht man nun Zeiten selbst als gegenwärtig zu bestimmen, dann sind die als gegenwärtig bestimmten Zeiten auch zu anderen Zeiten, zu denen sie vergangen oder zukünftig sind. Als zu anderen Zeiten seiende Zeiten wären die gegenwärtigen Zeiten früher oder später als sie selbst und damit nicht mehr die Zeiten der linearen Ordnung. Wenn es nicht die Zeiten der linearen Ordnung sind, die durch die Zeitmodi bestimmt sind, was ist es dann? Die Antwort lautet: Die Zeitmodi sind Bestimmungen, die nur auf Besonderheiten mentaler Ereignisse zu beziehen sind. Die drei Zeitmodi sind nichts anderes als Bestimmungen der Präsenz von Repräsentanten in mentalen Ereignissen. Mentale Ereignisse wiederum sind nichts anderes als das Präsentieren von Repräsentanten, wobei der Repräsentant nur dadurch ist, dass er präsentiert wird und damit präsent ist. Was präsent ist, ist nicht schon und wird dann noch präsent, sondern sein Sein ist einzig PräsentSein. Gegenwart ist folglich nur die Präsenz von Präsentem. Umgekehrt ist Präsenz nicht abzutrennen von dem, was präsent ist. Als an die Präsenz von Präsentem gebundene ist die Gegenwart auch an die Veränderung des Präsenten gebundenen. Da der Unterschied von etwas Präsentem gegenüber anderem Präsenten nicht bereits vorgegeben sein kann, um dann noch präsent zu werden, muss er aus der Gegenwart als Präsenz von Präsentem selbst stammen. Es ist die eine Gegenwart, die sich als Vergegenwärtigung von etwas zur Vergegenwärtigung von anderem macht. Darin negiert sie sich selbst. Die Gegenwart, die darin besteht, etwas zu vergegenwärtigen, negiert sich selbst so, dass das, was gegenwärtig ist, nicht mehr so, sondern anders ist. In der Negation ihrer selbst bleibt 24 W. Pannenberg, Hermeneutik (wie Anm. 11), S. 138.

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die Gegenwart also Vergegenwärtigung von etwas und somit sie selbst. Das in der Negation Negierte ist allerdings nicht mehr gegenwärtig und somit überhaupt nicht mehr. Der Zeitmodus der Vergangenheit ist demgemäß ein notwendiges Moment, der als Selbstnegation bestimmten Gegenwart. Da jedes gegenwärtige Etwas aufgrund der Selbstnegation der Gegenwart immer auch ein zu negierendes sein muss, steht mit der Gegenwärtigkeit von etwas immer noch weiteres, erst zu vergegenwärtigendes aus. Damit ist auch der Zeitmodus der Zukunft als ein notwendiges Moment der Selbstnegation der Gegenwart ausgewiesen. Da das Vergegenwärtige nur in seiner Vergegenwärtigung das ist, was es ist, verbleibt das zu Vergegenwärtigende im Vollzug der sich bestimmenden Gegenwart das unbestimmt Andere des Gegenwärtigen. In indexikalischen Repräsentanten wie „jetzt“ oder „in diesem Augenblick“ kann die Präsenz selbst repräsentiert werden. Die Vergegenwärtigung des Repräsentanten ist im Repräsentanten repräsentiert. Deshalb können Ereignisse jeweils immer nur aus der Perspektive der präsenten Gegenwärtigkeit mentaler Ereignisse als in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft eingeteilte repräsentiert werden. Eine so eingeteilte Zeitreihe ist somit immer nur ein je verschieden präsenter Repräsentant der einen linearen Zeitreihe, die an sich selbst von dieser Einteilung vollständig unberührt bleibt. Wenn die Gegenwart als die Präsenz von etwas Präsentem in der Zeit als der linearen Ordnung von Zeiten nicht zu verorten ist, wie kann das Prozessieren der Selbstnegation dann unter den Begriff „Ereignis“ subsumiert werden, der Ereignisse wesentlich als solche bestimmt, die zu Zeiten in der linearen Ordnung stattzufinden? Möglich ist dies, weil die Gegenwart als der eine stetige Prozess der Selbstnegation sich so repräsentieren kann, dass er in einem Repräsentanten, „ich“, dem Entstehen und Vergehen des Präsenten unterstellt (subjectus) wird. Damit wird Präsentes so repräsentierbar, dass es notwendigerweise dem einen Identischen präsent ist. Da das Subjekt als durch einen Körper individuiertes in Ereignissen eine Rolle spielt, die nicht mentaler Art sind, können mentale Ereignisse vermittelt über den Körper als zu Zeiten der einen linearen Ordnung stattfindende bestimmt werden.25 Ein Subjekt kann zu bestimmten Zeiten etwas empfinden, wahrnehmen, denken usw. Das heißt aber nicht, dass in dem Modell des Totums, das in der hier vorgelegten Theorie beschreiben wurde, ein Prozess auf eine offene Zukunft hin modelliert werden kann. Die Zeitmodi sind nämlich an die Art mentaler Ereignisse gebunden und nicht an die Zeiten, zu denen diese stattfinden.

25 Es dürfte ersichtlich sein, dass es sich hier nur um eine Skizze handeln kann, um zumindest plausibel zu machen, weshalb die Veränderung des Vergegenwärtigen im Prozess des Vergegenwärtigens als Ereignis behandelt werden kann, das mit nicht-mentalen in derselben Zeit stattfindet.

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Ein Ausweg böte sich nur, wenn sowohl das Modell des Totums als auch der Begriff des Zeitmodus anders zugeschnitten werden könnten. Das Totum der Ereignisse wäre nicht mehr als die Gesamtheit aller Ereignisse zu modellieren, denen Zeiten der einen linearen Ordnung entsprechen, zu denen sie stattfinden, sondern als ein in dem besagten Prozess werdendes. In dem Prozess seines Werdens kämen bis zu seinem Abschluss zu bereits hinzugekommenen Ereignissen immer neue Ereignisse hinzu. Weil an seinem Ende keine Ereignisse mehr hinzukämen, wäre das Ende des Prozess das gewordene Totum. Die Zeitmodi könnten dann auf die folgende Weise als Bestimmungen des Prozesses festgelegt werden: Gegenwärtig sind die Ereignisse, die zu den bereits hinzugekommenen noch hinzugekommen sind, ohne dass zu ihnen weitere hinzugekommen wären. Diejenigen hinzugekommenen Ereignisse, zu denen bereits weitere hinzugekommen sind, bilden die Vergangenheit und die Möglichkeit, dass weitere hinzukommen, also die Unabgeschlossenheit des Prozesses kann als Zukunft bezeichnet werden. Die Offenheit der Zukunft besteht dann darin, dass das, was in noch hinzukommenden Ereignissen stattfindet unbestimmt ist und erst durch das Hinzugekommensein bestimmt wird. Mit weiterhin hinzukommenden Ereignissen kommt der Gegenwart die Zukunft stets entgegen und lässt die Vergangenheit ständig anwachsen26. Aufgrund ihrer Eigenschaft, ein Werden auf eine offene Zukunft hin zu sein, kann die Universalgeschichte die Gesamtheit der Ereignisse nur an ihrem Ende sein; d. h., erst dann, wenn alle Ereignisse hinzugekommen sein werden. Gott ist in diesem Modell dann auch erst am Ende der Geschichte der sie vollständig bestimmende. Erst dann, wenn die Geschichte vollendet ist, ist Gott auch der sie vollständig bestimmende. Die Gottheit Gottes ist selbst geschichtlich. Erst am Ende der Geschichte ist er zum alles Bestimmenden geworden.27 26 Eine Zeitstruktur, die durch ein werdendes Totum ausgezeichnet ist, firmiert in der Philosophie der Zeit unter dem Label „growing block“ (Vgl. den Abschnitt „Presentism, Eternalism and The Growing Univers Theory“ in N. Markosian, wie Anm. 16 und K. Miller, wie Anm. 16, S. 347f. und S. 358f.). Dass Pannenbergs Modell der Universalgeschichte, das die eine Gesamtheit aller Ereignisse als durch die Zeitmodi bestimmte modellieren will, auf der Zeitstruktur des growing blocks aufbaut, lässt sich am deutlichsten aus seiner Konzeption des geschichtlichen Zusammenhangs ersehen: „Nur in dieser Weise, als rückgreifende Eingliederung des kontingent Neuen in das Gewesene kann der primäre Zusammenhang der Geschichte gedacht werden, ohne dass ihre Kontingenz verlorengeht.“ (vgl. W. Pannenberg, Heilsgeschehen (wie Anm. 13), S.74). Durch die Zeitstruktur des growing block ist der durch Eingliederung des Neuen ins Gewesene konstituierte Zusammenhang geradezu erzwungen, da ein Zusammenhang zwischen Ereignissen nur im block des Geschehenen bestehen kann. Die Kontingenz geht nicht verloren, weil das jeweils Einzugliedernde aus der unbestimmten Zukunft kommt. 27 Vgl. OaG, S. 97: „Das Wesen Gottes, obwohl von Ewigkeit zu Ewigkeit dasselbe, hat in der Zeit eine Geschichte.“ Zu einer etwas detaillierteren Beschreibung der Geschichtlichkeit Gottes vgl. W. Pannenberg, Die Aufnahme des philosophischen Gottesbegriffs als dogmatisches

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Der Versuch den Begriff der Zukunft als einen die Universalgeschichte bestimmenden dadurch zu retten, dass das Totum der Ereignisse als ein werdendes bestimmt wird, scheitert allerdings daran, dass er mit der Bestimmung der Ereignisse als wirklicher Entitäten in Konflikt gerät. Ereignisse sind ihrem Begriff nach als in der einen realen Zeitordnung stattfindende bestimmt. Es kann kein Ereignis geben, dass nicht zu bestimmen Zeiten stattfindet. Zeiten wiederum sind einzig relational durch ihre Einordnung in die lineare Zeitstruktur bestimmt. Auch den Ereignissen, die im Modell des werdenden Totums sukzessive zu bereits hinzugekommenen hinzukommen, müssen bestimmte Zeiten zugeordnet werden, zu denen sie stattfinden. Ein hinzukommendes, gegenwärtiges Ereignis sei demgemäß zeitlich so festgelegt, dass die Zeiten zu denen es stattfindet, später sind als die Zeiten, zu denen die bereits hinzugekommenen, vergangenen stattfinden. Weitere Ereignisse, die noch hinzukommen, zukünftige finden zu Zeiten statt, die wiederum später sind als die gegenwärtigen. Es seien e1 und e2 Ereignisse und T1 und T2 die entsprechenden Zeiten ihres Stattfindens, wobei gelten soll, T1 sei früher als T2. Dann ist mit der Gegenwärtigkeit von e1 notwendig verbunden, dass zu ihm noch kein Ereignis hinzugekommen ist und deshalb zu Zeiten, die später sind als T1, und damit auch zu T2, kein Ereignis stattfindet. Die Gegenwärtigkeit von e2 hingegen schließt es notwendig ein, dass es zu T2 stattfindet. Das Modell des werdenden Totums schließt demnach den Widerspruch ein, es gebe Zeiten, zu denen ein Ereignis stattfindet und nicht stattfindet. Wollte man versuchen, den Widerspruch dadurch zu lösen, indem man behauptete, in der Gegenwart von e1 finde zu T2 kein Ereignis statt, während zu Zeiten, in denen e1 vergangen ist, das Ereignis e2 zu T2 stattfinden könne, dann zersetzt man damit die Einheit der Zeit und damit die der Universalgeschichte. Da e1 zu T1 stattfindet, gleichgültig, ob es gegenwärtig oder vergangen ist, besagt die Aussage, in der Gegenwart von e1 finde zu T2 kein Ereignis statt, nichts anderes als, zu T1 finde zu T2 kein Ereignis statt. Da damit nicht gemeint sein kann, die ereignislosen Zeiten T2 fänden zu T1 statt, muss T1 einer Zeitordnung H angehören, die höherstufiger ist als eine basale Zeitordnung B, der T2 angehört.28 Die höhere lineare Zeitordnung H ermöglicht Zeiten TH1, zu denen zu den Zeiten TB2 in B nichts stattfindet, und spätere Zeiten TH2, zu denen zu TB2 ein Ereignis e2 Problem der frühchristlichen Theologie, in GSTh 1, S.296–346, S. 337: „Im kontingenten Wirken äußert nicht eine unbestimmt dahinter liegende Ursache ihr Wesen durch Teilgabe, sondern der Handelnde erwirbt sich Eigenschaften, indem er sich für ein solches statt für ein anderes Wirken ’entscheidet’. […] So erweist der kontingent handelnde Gott der Bibel in seinem Tun sein Wesen. Und daher ist sein Wesen nicht als eigenschaftslos hinter seinem Tun zu suchen.“ 28 Zum Konzept einer „meta-time“ oder „hyper-time“ vgl. K. Miller, wie Anm. 16, S. 350, die allerdings nicht thematisiert, welche Arten von Ereignissen zu Zeiten der meta-time stattfinden können.

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stattfindet. Das Anwachsen der Gesamtheit von Ereignissen durch das Hinzukommen neuer Ereignisse stellt sich somit als eine Veränderung dar, die zu Zeiten von H stattfindet. Zu TH2 ist die Gesamtheit der Ereignisse eine andere als zu TH1, weil hier e2 nicht in sie integriert ist, hingegen dort schon. Erst in der Zeitordnung H ist die Universalgeschichte der Prozess des werdenden Totums. Allerdings ist die einzige Art von Ereignissen, die zu Zeiten in H stattfinden, die Veränderung der Gesamtheit der Ereignisse durch das Hinzukommen weiterer Ereignisse, während die Veränderungen, die die Qualität der jeweils hinzukommenden Ereignisse und die Teile der Universalgeschichte als Ganzes ausmachen, in B stattfindenden. Die Universalgeschichte als das Ganze der zu Zeiten in B stattfindenden Ereignisse ist in eine Mehrzahl von Geschichten dissoziiert, die zu verschiedenen Zeiten in H jeweils andere sind, weil die Gegenwart und damit auch das Totum jeweils andere sind. Der zu Zeiten in H stattfindende Prozess des werdenden Totums, wiederum lässt sich überhaupt nicht als ein Ganzes bestimmen, da Ereignisse die von der Art sind, eine Veränderung der Gesamtheit der zu Zeiten in B stattfinden Ereignisse zu sein, bereits vollständig bestimmt sind, wenn sie zu Zeiten in H stattfinden. Sie erhalten aus dem Ganzen des in H stattfindenden Prozess keine weiteren Eigenschaften. Das Modell der einen realen Universalgeschichte, die zeitlich begrenzt und deshalb von ihr gegenüber Transzendentem abhängig ist, lässt sich also nur um den Preis von Inkonsistenzen als ein Prozess auf eine offene Zukunft hin beschreiben. Das von Pannenberg mit OaG verfolgte Programm, der Religion entstammende Aussagen als wissenschaftliche kommunizieren zu können, entwickelt das Modell der Universalgeschichte damit so, dass sein Geltungsanspruch nicht gerechtfertigt werden kann. Aber als einer der wenigen hat er der Zunft der Theologen ins Stammbuch geschrieben, es sei ihre erste Aufgabe, Gott dadurch die Ehre zu geben, dass sie ihn für theoriefähig erachtet. Sich dieser Aufgabe zu stellen, kann wohl als angemessene Würdigung des Programms von OaG im durch die Neuzeit bestimmten Problemhorizont angesehen werden. Ob die Zeit mittlerweile gekommen ist29, dass dies in hinreichendem Maße geschehen ist, sei dem Urteil der Leserschaft überlassen.

29 Vgl. OaG, S VI: „Deshalb dürfte die Zeit für eine ernsthaftere Diskussion des in diesem Buche in Erinnerung gerufenen Problemstands noch kommen, und damit wird dann auch erst eine angemessenere Würdigung seines eigenen Beitrags möglich werden.“

Dietrich Korsch

Der doppelte Ausgang der Eschatologie Jürgen Moltmann und Wolfhart Pannenberg

Vom doppelten Ausgang der Eschatologie zu reden, ist eine assoziationsfördernde Ausdrucksweise. Natürlich ist im engen und eigentlichen Sinn diejenige Vorstellung vom Endgericht gemeint, in der Gute und Böse, Schafe und Böcke geschieden werden. Man kann den Ausdruck aber erweitern und damit den Gegensatz dieser Weise des Endgerichts und ihres Widerparts meinen, der sich dann als Allerlösung kennzeichnen läßt. Abermals stufen läßt sich freilich auch diese Opposition, indem man diesen beiden Weisen eines endgeschichtlichvorstellungsmäßigen Verständnisses der Eschatologie eine existential-kerygmatische Fassung gegenüberstellt. Schließlich – und das war meine Ausgangsintuition – kann man auch die unterschiedliche Ausarbeitung der Eschatologie bei Jürgen Moltmann und Wolfhart Pannenberg als einen doppelten Ausgang desselben Themas bezeichnen. Was es damit auf sich hat und inwieweit diese letzte, zugegebenermaßen ungewöhnliche, Bezeichnung auf die anderen Begriffsverständnisse zurückweist, inwiefern sich also im theologiegeschichtlichen ein systematisches Problem verbirgt, sollen die nachfolgenden, einigermaßen skizzenhaft gehaltenen Überlegungen deutlicher machen.

1.

Eschatologie als Figur der Letztbegründung unter den Umständen des Historismus

Da es mir um die Funktion der Eschatologie in der jüngeren Theologiegeschichte geht, erlaube ich mir einen Einsatz des Themas ab 1892. In diesem Jahr erschien bekanntlich Johannes Weiß’ Studie über die Predigt Jesu vom Reich Gottes, welche die jesuanische Apokalyptik als mit der liberalprotestantisch vertrauten Geschichtlichkeit des Nazareners unverträglich herausarbeitete.1 Die synthetische Verwertung der historistisch aufgefaßten Geschichte für die Theologie war 1 Johannes Weiß, Die Predigt Jesu vom Reich Gottes, Göttingen 1892.

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damit unmöglich geworden, stellt doch die eigentümliche Enderwartung Jesu den gemäßigt fortschrittsorientierten, auf moderner Sittlichkeit beruhenden Geschichtsverlauf in Frage. Weiß selbst zögerte denn auch, wie nicht zu übersehen ist, die Konsequenzen aus seiner historischen Analyse für den Aufbau der Theologie selbst zu ziehen. Es meldete sich aber, gewissermaßen unwillkürlich, die Frage nach der Möglichkeit einer Aufnahme der religionsgeschichtlichen Einsichten in die Grundlagen einer normativen Theologie an. In gewisser Weise verhielt es sich mit Albert Schweitzers Konzept einer „konsequenten Eschatologie“ ganz ähnlich.2 Einerseits fand bei ihm ebenfalls ein methodischer Rückzug auf die kulturprotestantische Grundlagenreflexion statt, andererseits sprach er die Regel aus, nach der weiterhin die Deutung der religionsgeschichtlich ermittelten Apokalyptik Jesu aus systematischer Perspektive erfolgen sollte: die Vorstellung der Endgeschichte ist nämlich nichts anderes als die Anzeige einer Letztbegründung im Gewand historischen Ablaufs. Das damit gestellte Problem erwies sich freilich als intrikat. Denn wie sollte man Geschichte und Endgeschichte so einander zuordnen, daß die endgeschichtliche Kategorienbildung zugleich innergeschichtlich anwendbar werden könnte? Der vermittelnde Versuch etwa Ernst Troeltschs, mit einer geschichtlich aufgebauten Metaphysik der Persönlichkeit zu arbeiten, erwies sich als nicht durchgreifend erfolgreich, was auch, aber nicht nur, an dem frühen Lebensende Troeltschs gelegen haben dürfte.3 Die mit der religionsgeschichtlichen Beobachtung der Apokalyptik Jesu gegebene Problemstellung ließ sich nur schwer in die liberaltheologische Sichtweise von der religiösen Persönlichkeit integrieren – zumal dann, wenn die Geschichte selbst diese Persönlichkeitsauffassung in das kulturelle Desaster des 1. Weltkriegs führte. Daraus entstand die Herausforderung, die religiöse Letztbegründung anders und kritischer anzusetzen – und zwar gerade in der Aufnahme der endgeschichtlichen Vorstellungen, wie sie sich bei Jesus und im Neuen Testament finden. Diese Konstellation war die Geburtsstunde der dialektischen Theologie, die – bei Barth wie bei Bultmann – die endgeschichtlichen Redeweisen als Anzeige einer kritisch-religiösen Begründung der Subjektivität zu verstehen suchten; einer Subjektivität, die in sich selbst gespalten ist, die folglich zur einen wie zur anderen Seite gewendet werden kann.4 Damit tauchte jedenfalls die Möglichkeit auf, die katastrophischen Konsequenzen der Geschichte des frühen 2 Albert Schweitzer, Geschichte der Leben-Jesu-Forschung, Tübingen 1913. 3 Vgl. Ernst Troeltsch, Die Dogmatik der „religionsgeschichtlichen Schule“ (1913), Gesammelte Schriften 2, Tübingen 1922, 500–524, bes. 522f. 4 Vgl. Karl Barth, Der Römerbrief, 2. Auflage, München 1922, 175, zum „ewigen Futurum meines ‚Wandels in Lebensneuheit‘“, und Rudolf Bultmann, Die Bedeutung der „dialektischen Theologie“ für die neutestamentliche Wissenschaft (1928), in: Ders., Neues Testament und christliche Existenz, Tübingen 2002, 39–58.

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20. Jahrhunderts aus einem einheitlichen, eben nur gespaltenen Grund zu verstehen. Die dialektische Hermeneutik der sog. Wort-Gottes-Theologie war selbst eine Reaktion auf die Geschichte vor dem Hintergrund einer religionsgeschichtlich-eschatologischen Sicht auf Jesus und das Neue Testament. Sie verwendete jedoch die geschichtlich-vorstellungshaften Momente in antihistoristisch-kategorialer Absicht. Es erscheint, im Nachhinein betrachtet, dann allerdings als fraglich, inwiefern diese kategorial-restriktive Sicht der Genese von Subjektivität (im Glauben) in der Lage war, den geschichtlichen Herausforderungen der Nachkriegszeit standzuhalten, insbesondere den Kräften, die auf den 2. Weltkrieg hinarbeiteten. Die zum Teil aktiv betriebene Unterscheidung von Glaube und Geschichte, die im Sinne eines Aufbaus von Subjektivität sinnvoll erscheint, läßt sich kaum als durchgängige Differenz bewähren; und wo man das tut, erwächst daraus eine separate, vom wirklichen Geschehen geschiedene Sondergeschichte des Glaubens und der Kirche, die nur noch über eine existenzgeschichtliche Brücke in die Geschichte hineinwirkt.5 Man muß sich diese Hintergründe und Verquickungen klarmachen, wenn man zu verstehen versucht, woher der Aufbruch zu einem neuen und anderen Umgang mit der Apokalyptik Jesu und des Neuen Testaments am Ende der fünfziger und in den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts motiviert ist. Das Grundproblem freilich, die apokalyptischen Vorstellungen für eine Letztbegründung zu verwerten, erweist sich, wir gleich sehen werden, als überraschend konstant.

2.

Eschatologie als Quintessenz der Geschichte

Man hat häufig darüber diskutiert, ob bzw. in welcher Hinsicht das Ende des 2. Weltkriegs eine Zäsur in der intellektuellen Landschaft Deutschlands bedeutet hat, die über den Wegfall der NS-Propaganda hinausreicht. Vielmehr gab es deutliche Anzeichen dafür, daß sich Strukturen des Denkens und Verhaltens fortgesetzt haben; nicht zuletzt darum fand eine aktive und kritische Auseinandersetzung mit den Spätfolgen des Nationalsozialismus erst ab 1967 statt. Es darf aber nicht übersehen werden, daß sich die Anfänge der damit nötigen Umstellung von Themen und Aufmerksamkeiten bereits alsbald nach Kriegsende vorbereiteten; die theologische Bewegung, die mit den Namen Wolfhart Pannenberg und Jürgen Moltmann verbunden ist, gehört dazu. Nur vordergründig also, so wird man von heute her urteilen dürfen, war es der alte Barth5 Vgl. Gerhard Ebeling, Das Wesen des christlichen Glaubens, Tübingen 1959, 227–242: Die Zukunft des Glaubens, bes. 235–242.

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Bultmann-Gegensatz, der die deutsche Theologie bestimmte (an dessen Rand in den Erlanger Gestalten von Werner Elert, Paul Althaus und Walter Künneth ein noch ziemlich abständiges Luthertum weiterlebte, das seine Prägungen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts verdankt).6 Nun ist es interessant, sich einmal auf die Bedingungen zu besinnen, unter denen eine theologische Neuorientierung stattfindet (man wird Analoges auch für die Philosophie und die Sozialwissenschaften versuchen können). Ich schlage vor, mit dem Ineinander und der Interaktion von drei Aspekten zu rechnen. Der erste ist eine zunächst noch durchaus diffus bleibende (und unbestimmt bleiben dürfende) Ahnung eines geschichtlichen Wandels; es ändert sich etwas, welches etwas Altes für nicht fortsetzungsfähig erachten läßt – um was handelt es sich da? In dieses Empfinden greift ein zweites Moment ein, nämlich die methodische Versicherung von Möglichkeiten, diese Unbestimmtheit nachvollziehbar zu bearbeiten. Drittens freilich bedarf es einer sozusagen illuminativen Intuition, die den Schlüssel abgibt für die konstruktive und problemlösende Verwendung der bereitstehenden Methodik, welche dann unter Umständen auch deren Neufassung zur Folge hat. Diese drei Gesichtspunkte lassen sich ganz gut anwenden auf die Neugestaltung der theologischen Programme, wie sie ab 1960 ans Licht der Öffentlichkeit traten. Die Ausgangsempfindung besteht darin, daß die Abspaltung der Heilsthematik von der Geschichte, wie sie mit den Wort-Gottes-Theologien gegeben zu sein schien, nicht länger aufrechterhalten werden sollte. Zu diesem Eindruck mag einerseits beigetragen haben, daß sich mit dem Typus der kerygmatischen Theologie, wie man sie auch rubrizieren konnte, ein Rückzug auf die Kirche bzw. auf kirchliche Milieus verbunden war, die auf einen Allgemeinheitsanspruch verzichteten – oder diesen nur im extrem kontrafaktischen Sinne behaupten konnten. Noch schlimmer schien es, andererseits, mit der Fähigkeit dieses theologischen Typus bestellt, die Geschehnisse des Nationalsozialismus und des Weltkriegs überhaupt zu bearbeiten. Die Neuauflagen der alten Debatten nach 1945 unterstrichen diesen Eindruck aufs Deutlichste. Ich plädiere mit diesen Überlegungen, wie leicht zu sehen, dafür, nicht nur einfach einen biographischen Generationenwandel oder einen Wunsch nach theologischer Abwechslung als Ausgangslage des näher zu beschreibenden Wandels anzunehmen, sondern noch nicht vollends erschlossene historische Erfahrungen; das heißt aber auch, daß ich sehr skeptisch bin hinsichtlich der seinerzeit von den Akteuren, Pannenberg wie Moltmann, unterstellten binnentheologischen Logik des eigenen Fortschreitens.

6 Vgl. den konzisen Überblick bei Eckart Conze, Die Suche nach Sicherheit. Eine Geschichte der Bundesrepublik Deutschland von 1949 bis in die Gegenwart, München 2009, 227–330: Ende der Nachkriegszeit 1957–1966.

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Wie sieht nun die Methodik aus, die für die neue Ineinssetzung von Glaube und Geschichte die geeigneten Mittel bereitstellen sollte? Hier ist es nicht überflüssig zu bemerken, welche Rolle die Wissenschaft von Alten Testament gespielt hat, und das in doppelter Hinsicht. Einerseits nämlich waren die methodischen Verfahren in der Erforschung des Alten Testaments durchaus in einer kontinuierlichen Line mit den Anforderungen des Historismus geblieben; ihr Gegenstand war ja auch, auf die Bedeutung für den christlichen Glauben gesehen, weniger konstitutiv. Andererseits konnte darum gerade im Medium der alttestamentlichen Forschung das Thema „Glaube und Geschichte“ unbefangener verhandelt werden als sonst in der Theologie; daß es in anderen Disziplinen, insbesondere auch der Systematischen Theologie, gerade durch die religionsähnliche Beanspruchung der Geschichte durch den Nationalsozialismus verdorben war, lag ja auf der Hand. Dagegen ließ sich im Medium der Geschichte des Alten Israel relativ unbefangen mit Konstruktionen über Religion und Geschichte umgehen. Dort konnte man dann in der Tat so etwas wie eine religiöse Imprägnierung des Geschichtsverständnisses finden. Die Methodik der Überlieferungsgeschichte nahm im Setting der Methoden dafür einen besonderen Platz ein, also die Überzeugung, daß geschichtliche Ereignisse stets schon von den vorgegebenen Erwartungshorizonten her verstanden werden, daß sich die Ereignisse dann aber auch im Zusammenhang dieses Verständnisses selbst wieder als Grundlage eines neuen Erwartungsaufbaus herausstellen. Im Grunde folgt auch das Verständnis der Prophetie diesem Muster, sofern in ihr aktuell Möglichkeiten des Verstehens zur Ansage kommen, die die Wahrnehmung künftiger Ereignisse steuern wollen. Nun fehlt allerdings noch das dritte Moment in dem Setting theologischer Innovation, und das ist der entscheidende Schlüssel zur Integration von Zeitwahrnehmung und Methode. Es besteht in der Einsicht, daß sich der Zusammenhang von geschichtlichem Geschehen und religiösem Verstehen nicht über die Vergangenheit und deren Tradierung aufbaut, sondern vom Ende der Geschichte her. Es ist leicht zu erkennen, daß diese spezifische Anverwandlung des herkömmlich apokalyptischen Gedankens vom Weltende in einem spezifisch methodischen Kontext erfolgt, der sich von allen anderen, früheren Verwendungsweisen dieses Vorstellungsarsenals unterscheidet. Vielmehr läßt sich deutlich sehen, daß und inwiefern die apokalyptische Grundfigur hier die Funktion der Letztbegründung übernimmt, für die im historistischen Kontext keine innergeschichtliche Instanz mehr angenommen werden kann. Dagegen enthält der Gedanke des Weltendes als Inbegriff einer religiös gedeuteten Geschichte beide Momente: dasjenige des definitiven Abschlusses ebenso wie dasjenige eines geschichtlichen Faktors. Allerdings kommt es nun darauf an, diese Zuordnung von geschichtlichem Movens und endgeschichtlichem Ziel so zu formatieren, daß sich damit tatsächlich beide Probleme bearbeiten lassen,

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nämlich die Geschichtlichkeit der Geschichte und ihr religiöser Sinn – also die nun zeitgeschichtlich geforderte Integration von Glaube und Geschichte. Ich habe bis jetzt die Entfaltung der neuen Problematik einer die Apokalyptik methodisch integrierenden Theologie nach dem 2. Weltkrieg zusammenfassend behandelt – und bin der Auffassung, daß sich die theologischen Arbeiten Pannenbergs und Moltmanns tatsächlich innerhalb dieser Klammer verstehen lassen. An dieser Stelle freilich wird es auch nötig, die beiden Autoren für sich zu behandeln. Es wird sich zeigen, daß der damit auftauchende Unterschied alles andere als zufällig oder willkürlich ist. Ich beschränke mich auf die jeweilige Figur, in der ich den systematischen Zentralgedanken beider Konzeptionen sehe. Es kennzeichnet die Theologie Wolfhart Pannenbergs als einen systematischen Entwurf von Rang, daß sich tatsächlich ein alles vermittelnder und begründender Gedanke nennen läßt, dessen Vorbereitung, Durchführung und Auslegung das Ganze steuert. Ich meine das, was unter der „Vorwegereignung des Endes in der Auferweckung Jesu Christi“ gemeint ist.7 Denken wir zunächst dem Moment der Vorwegereignung des Endes nach. Wir hatten gesehen, daß die Pointe des, wenn ich so sagen darf, antihistoristischen Historismus darin besteht, für die Letztbegründung nicht auf Ursprünge ur- oder vorgeschichtlicher Art zu rekurrieren oder transhistorische Gegebenheiten einzuführen, sondern vom Ziel und Ende der Geschichte her zu denken. Diesem Gedanken eines Ziels der Geschichte kann man ja, als in der Geschichte handelnder Mensch, gar nicht wiedersprechen; es gehört, so gewiß wir uns selbst als endlich verstehen müssen, zum geschichtlichen Handeln hinzu. Allerdings kann nun dieses Ende seinerseits nicht nur als Abschluß der Geschichte verstanden werden; dann wäre es von einem transhistorischen Faktum gar nicht zu unterscheiden, also bestenfalls von utopischem Potential. Vielmehr muß das Ende schon in der Geschichte eine Rolle spielen – und zwar als Ende, wenn es seine Letztbegründungsfunktion erfolgreich behaupten will. Insofern legt sich der Gedanke nahe, eine innergeschichtliche Begebenheit als Schlüssel für das Ende aufzusuchen. Diese muß nun ihrerseits selbst von der Art sein, daß sie als geschichtliche das Ende der Geschichte repräsentiert. Soweit der Grundgedanke in formaler Hinsicht. Es versteht sich von selbst, daß dieser Grundgedanke nur dann stichhält, wenn sich tatsächlich ein historisches Ereignis findet, das diese Funktion übernimmt – das ist die Auferweckung Jesu. Für sie gilt einerseits, daß sie sich im Medium überlieferungsgeschichtlichen Verstehens erschließt; die Erwartung von Gottes endgeschichtlichem Handeln ist dessen hermeneutischer Rahmen. Andererseits beweist die Auferweckung Jesu darin den Status eines eigenen geschichtlichen

7 Als ein zentraler Beleg für viele: Wolfhart Pannenberg, Dogmatische Thesen zur Lehre von der Offenbarung, in: Offenbarung als Geschichte, Göttingen 1961, 4. These, 103–106.

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Ereignisses, daß eine tatsächliche Auferweckung eines Einzelnen nicht in das von der apokalyptischen Erwartung geprägte Wahrnehmungssetting paßt. Es kann nun dahingestellt bleiben, ob man die von mir jetzt vorgenommene Aufteilung von formalem Begriff und historischer Realität als Abfolge verstehen soll oder nicht; entscheidend ist, daß das Faktum und sein Horizont zusammengespannt werden müssen und wirklich zusammenpassen. (Man sieht daraus im Übrigen, wie unverzichtbar für Pannenberg die Behauptung der Auferstehung Jesu als historisches Ereignis ist.) Daß diese Zusammenfügung im Horizont der methodischen Anforderungen eines, wie ich sagte, antihistoristischen Historismus vorgenommen wird und sich keinesfalls naiv von selbst ergibt, soll wenigstens noch einmal unterstrichen werden. Aus dieser folgenreichen Grundfigur läßt sich nun alles ableiten, was zu den maßgeblichen Momenten der Theologie Wolfhart Pannenbergs gehört. Insbesondere, darauf komme ich noch zurück, die Auffassung vom humanen Handeln in der Geschichte. Aber auch die Konstruktionen in der „Systematischen Theologie“ von der Geschichtlichkeit der Wahrheit in der Nachfolge der Auferweckung Jesu speisen sich aus dieser Quelle8 – ebenso wie die Aufstellungen zur Geschichtswissenschaft am Schluß der Anthropologie.9 Wendet man sich nun dem entsprechenden Grundgedanken Jürgen Moltmanns zu, so läßt sich dieser nicht so klar und eindeutig formulieren wie Pannenbergs ursprüngliche Einsicht, hat es aber nicht minder mit der Handlungssituation in der Geschichte zu tun. Auch für Moltmann gilt in gewisser Weise eine methodische Vorgabe der alttestamentlichen Forschung, nämlich der Gedanke der Verheißung. Wenn man diese Figur in eine überlieferungsgeschichtliche Sprache übersetzt, dann wird damit auf den Sachverhalt abgestellt, daß sich die Erwartung zukünftiger geschichtlicher Ereignisse stets dem Vorlauf gegenwärtiger Ansage des Künftigen verdankt. Wenn man sich die Überlieferungsgeschichte als Strom von Erwartungen und ihren wie auch immer modifizierten Erfüllungen in künftigen Ereignissen vorstellen kann, in dem sich die Erwartungen Zug um Zug modifizieren (und dabei wohl auch vereinheitlichen), so akzentuiert Moltmanns Rezeption der Überlieferungsgeschichte das Moment, daß sich dieser Prozeß nicht als selbstläufige Bewegung verstehen läßt, sondern der stets neuen Initiative bedarf, um für eine jeweilige Gegenwart überzeugend sein zu können. Gerade dann aber, wenn die verschiedenen Zukünfte miteinander zusammenhängen und so eine Geschichte bilden sollen, ist es unerläßlich, irgendwann einmal eine sozusagen universale Verheißung artikuliert zu finden, 8 Vgl. Wolfhart Pannenberg, Systematische Theologie, Bd. 3, Göttingen 1993, 641–654: Das Reich Gottes als Eintritt der Ewigkeit in die Zeit. 9 Vgl. Wolfhart Pannenberg, Anthropologie in theologischer Perspektive, Göttingen 1983, 472– 517.

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die das Ende des Ganzen als wirksames Motiv der Gegenwart zu verwerten imstande ist. Das wäre etwa der Versuch, den Moltmannschen Grundgedanken der universalen Verheißung in seiner formalen Struktur zu beschreiben.10 Nun kommt es freilich auch bei ihm, ebenso antihistoristisch unter den Bedingungen des Historismus, darauf an, diese Struktur geschichtlich verwirklicht zu finden. An dieser Stelle kommt nun für Moltmann die Auferweckung Jesu ist Spiel – jedoch nicht als Vorwegereignung des Endes, sondern als definitive und letztgültige Verheißung, die als solche den Anspruch der Letztbegründung tragen kann und soll. Warum läßt sich dieser Anspruch mit der Auferstehung Jesu verbinden? Antwort: Weil das schlechthin Negative, die Gottverlassenheit Jesu am Kreuz, ihr voraus liegt, das reine Nichts, aus dem das neue Ganze wird. (Man kann von hier aus schon sehen, warum diese Figur alsbald danach ruft, in dem Gedanken vom „gekreuzigten Gott“ ihre Ausführung zu finden.) So gewiß und definitiv die Verheißung hier artikuliert wird, so wenig ist damit das Risiko geschichtlichen Handelns schon bewältigt – aber das ist ja auch gut so, denn es läßt sich gar nicht vermeiden; es kann aber getragen werden, wenn die Aussicht aufs Gelingen gewiß ist.11 Auch für Moltmann kann gezeigt werden, inwiefern der Gedanke von der universalen Verheißung in der Auferstehung Jesu Christi das weitere Werk strukturiert. So stellt die konsequent trinitarische Ausführung seiner „Systematischen Beiträge zur Theologie“, also seine mehrbändige Dogmatik, der Sache nach nichts anderes dar als eine Entfaltung der Vergegenwärtigungsbedingungen der umfassenden Verheißung.12 Bemerkenswert ist nun freilich, wenn wir die beiden systematischen Konzepte nach dieser Differenzierung aufeinander abbilden, der Unterschied, der sich dann ergibt – ungeachtet der, wie es scheint, gemeinsamen Orientierung an der zusammenfassenden Funktion der Eschatologie für den Aufbau der Einheit von Glaube und Geschichte. Aus der gemeinsamen Intuition, Glaube und Geschichte durch einen Rekurs aufs Ende der Geschichte zusammenzufassen, resultieren nämlich geradezu gegensätzliche Konsequenzen. Für Pannenberg bildet die Auferweckung Jesu denjenigen Punkt in der Geschichte, der eine Kontinuität bis ans Ende konsti10 Vgl. Jürgen Moltmann, Theologie der Hoffnung, München 1964, 85–134; Jürgen Moltmann, Das Ende der Geschichte (1965), in: Ders., Perspektiven der Theologie, München 1968, 232– 250. 11 Vgl. Jürgen Moltmann, Theologie der Hoffnung, a. a. O., 184–209. 12 Jürgen Moltmann, Trinität und Reich Gottes. Zur Gotteslehre, München 1980; Gott in der Schöpfung. Ökologische Schöpfungslehre, München 1985; Der Weg Jesu Christi. Christologie in messianischen Dimensionen, München 1989; Der Geist des Lebens. Eine ganzheitliche Pneumatologie, München 1991; Das Kommen Gottes. Christliche Eschatologie, München 1995.

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tuiert. Das hat einerseits den Vorteil, daß sich eine Verbindung zum allgemeinen Werden der Geschichte in der Abfolge von Vergangenheit zur Zukunft ergibt; die „Heilsgeschichte“ ist der Kern der „Weltgeschichte“. Mit ihm ist andererseits allerdings auch die Aufgabe gesetzt, das christliche Handeln nach Maßgabe dieser geistlich gefüllten, aber weltlich ausagierten Kontinuität auszurichten. Dabei stellt sich die Herausforderung, auch unter weltgeschichtlich-kontinuierlichen Bedingungen die Maßgeblichkeit der Heilsgeschichte darzutun. Dafür müssen aber Menschen im Zusammenhang der Kultur nicht nur überhaupt von der Triftigkeit der durch die Auferweckung Jesu konstituierten Gesamtgeschichte überzeugt sein, sie können dieser Zielsetzung auch nicht nachkommen ohne einen starken Anspruch auf religiöse, konkret: kirchliche, Kulturgestaltung zu erheben. Insgesamt: ein deutlich kulturkonservatives Konzept humanen Handelns. Dagegen läuft Moltmanns Handlungsprogramm auf eine kritisch-kulturrevolutionäre Praxis hinaus. Denn immer neu anzufangen im Bewußtsein des religiösen, durch die Verheißung vorgegebenen Ausgerichtetseins aufs Ganze – das zeigt, daß es im Einzelnen eben immer ums Ganze geht. Damit wird, auch das ist realistisch, auf den unabgeschlossenen Risikocharakter allen Handelns abgehoben – man weiß eben nicht im Vorhinein, was das Resultat der eigenen Anstrengung sein wird. Gleichwohl richtet die Verheißung alles aufs gemeinsame Ende aus und überwölbt damit auch unter Umständen sehr verschiedene Handlungsoptionen. Wenn es sich aber so verhält, dann muß schon jetzt, innergeschichtlich, entschieden werden, welche Optionen denn am ehesten und besten zu dem universalen Verheißungsziel passen – was freilich auf eine Konkurrenz von religiösen Bestimmungsfaktoren hinausläuft. De facto also baut sich durch die unterschiedliche Inanspruchnahme des Endes der Geschichte auf der Basis einer methodisch bestimmten Apokalyptik ein praktischer Gegensatz auf. Wir stehen vor einem doppelten Ausgang der Eschatologie. Ein solcher Gegensatz freilich ist für Konzepte des Ganzen schlechterdings desaströs. Denn es zeigt sich, daß die Deutung des jeweils in Anspruch genommenen Ausgangspunktes keineswegs in der Lage ist, ein unbestrittenes Ganzes zu generieren, weil sie selbst partikular bleibt. Die Bestimmungsmomente für diesen Widerspruch sind unterschiedlich, verhalten sich aber komplementär zueinander. Einerseits nämlich erhebt Pannenbergs Konzept den Anspruch, durch die Erkenntnis der Auferweckung Jesu als historisches Ereignis die objektive Grundlage für die Bestimmung der Geschichte von dort her aufzuweisen; die individuelle und lebensleitende Zustimmung zu dieser Einsicht freilich ergibt sich – auch nach Pannenbergs eigener Einsicht – nicht aus der zugemuteten Zwangsläufigkeit dieser Erkenntnis selbst. Insofern bleibt auch dem objektiven Grund der ganzen Geschichte ein subjektives Konstitutionsmoment eingeschrieben – weshalb dann auch die umfassende Objektivität nicht

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erreichbar ist. Zugegebenerweise ist es immer mißlich, aus der Nichtakzeptanz eines Gedankens auf dessen Ungenügen zu schließen; es zeichnete sich aber seit den letzten 57 Jahren auch kein nennenswerter Zustimmungsfortschritt für diese Konzeption über theologische Kreise hinaus ab – auf den der Gedanke der geschichtlich fortschreitenden Wahrheit doch aus systematischen Gründen angewiesen wäre. Aber auch jenseits dieser empirische Beobachtung bleibt das Sachproblem bestehen, daß die Vorwegereignung des Endes in der Auferweckung Jesu eine Einsicht individuellen Glaubens ist, mit der sich zwar ein Raum des Ganzen öffnet, der sich jedoch allein unter dieser Bedingung des religiösen Überzeugtseins als plausibel erweist, de facto aber mit anderen Auffassungen von Geschichte koexistieren muß. Die besondere Rolle religiös konstituierter Geschichte läßt sich damit nicht halten. Für Moltmann gilt analog, vielleicht noch deutlicher zu sehen: Die Begründung der Geschichte aus der universalen Verheißung ist eine christliche Geschichtsdeutung, die sich in ihrer Durchführung mit anderen Auffassungen von Geschichte ins Benehmen setzen muß. Die Verheißung kann als individuelle Schematisierung des Handlungserfolgs gelten, nicht als geschichtliches Konstruktionsprinzip. Auch hier bleibt es bei der Konkurrenz von Handlungsoptionen im religiösen wie im profanen Feld. Moltmanns Theologie ist vor allem ökumenisch rezipiert worden und sie hat gewiß zur Bewegung religiös-kirchlicher Verhältnisse beigetragen; eine auch nur irgendwie erkennbare Übereinstimmung der Handlungsrichtungen im Blick auf ein daraus resultierendes Ganzes freilich ist daraus nicht erwachsen. Wir stehen mithin nicht nur vor einem doppelten Ausgang der Eschatologie in Gestalt der beiden hier ins Auge gefaßten Protagonisten, sondern auch vor einem doppelten Ausgang, was den Umgang mit der Eschatologie überhaupt angeht. Denn zieht man aus dem bisherigen Ergebnis eine Quintessenz, dann könnte es geraten sein, auf die Konstitution des Gottesbezuges der Geschichte über den apokalyptisch aufgebauten Gedanken des Ganzen überhaupt zu verzichten. Dieser Verzicht fällt umso leichter, als die von Pannenberg und Moltmann schematisierten Aspekte der Eschatologie sich ohne Mühe als Momente am Begriff des Handelns selbst identifizieren lassen. Geschichtliches Handeln ist, erstens, stets teleologisch verfaßt. Wer handelt, ist auf ein Ziel und dessen Realisierung aus. Dabei kann von einer Realisierung des Angestrebten (unter anderem) nur dann die Rede sein, wenn sich eine Koexistenz mit anderem Gewollten, sei es desselben Subjekts, sei es verschiedener Subjekte, erzielen läßt. Daraus erwächst ein – relativ weicher – Begriff des Ganzen, der nur eine regulative, keine konstitutive und schon gar keine empirische Bedeutung besitzt. Das Ganze ist insofern dem einzelnen Handeln eingeschrieben, ohne daß daraus ein weltgeschichtlich mit sich selbst überein-

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stimmendes Ganzes erwachsen könnte und müßte – jedenfalls nicht als Ergebnis eines menschlichen Handelns. So viel zu dem Aspekt, der Pannenberg besonders am Herzen liegt. Zweitens ist jedem Handeln das Moment des Wagnisses eigen, in dem sich eine innere Motivation nach außen sichtbar macht. In der Tat steckt in jedem Handeln ein Überschuß, der sich auch nicht durch ein mögliches Mißlingen des Gewollten auf Dauer zum Verschwinden bringen läßt. Das ist das Motiv der Verheißung, die aber auch bereits darin ihren Sinn erfüllt, daß sie immer wieder neu als Beweggrund des Handelns erweist. Auch dafür ist eine Übereinstimmung der individuellen Handlungssinnrichtungen nicht erforderlich; es muß also aus der der Verheißung nicht das Ganze der Geschichte geboren werden. Das reduziert die Ansprüche von Moltmanns Programm. Gewiß, man kann es gut nachvollziehen, daß sowohl Moltmann als auch Pannenberg, darin Generationsgenossen, sich um eine Integration von Glaube und Geschichte bemüht haben – und gerade im Blick auf die Gesamtheit der geschichtlichen Verantwortung nach dem 2. Weltkrieg zu der Figur einer Letztbegründung über das die Einheit der Geschichte vom Ende her konstituierende eschatologische Modell gegriffen haben. Es hat sich aber auch gezeigt, daß dieser Weg am Ende nicht gangbar ist, weder rechts noch links. Es wird daher bei der Aufgabe bleiben, die Handlungssituation und die ihr zugrunde liegende Subjektivität religiös exakt zu bestimmen. Dabei kommen erneut die Bestimmungsmomente mit zum Zuge, auf die sich die Wort-GottesTheologie berief (und auf die sich sie auch zu beschränken hat), es bleibt aber ebenso die geschichtliche Perspektive einer potentiellen, wiewohl immer nur bruchstückhaft anschaulich werdenden Ganzheit verbindlich. Man kann an den methodisch-apokalyptisch arbeitenden Theologien Pannenbergs und Moltmanns lernen, inwiefern man auch wieder Abschied von der Eschatologie als theologischer Prinzipienlehre nehmen muß.

Felix Körner SJ

Gottes Weltregierung im Prozess der Geschichte Handlungstheorien bei Wolfhart Pannenberg und in der islamischen Theologie

Wie sind Gotteshandeln und menschliches Handeln begrifflich zu fassen, und wie steht beides in Beziehung zueinander?1 Hierauf hat die islamische Theologie, etwa in ihren sunnitischen Klassikern, eine Reihe von subtilen Antworten gegeben; und bekanntlich findet sich hierzu in Wolfhart Pannenbergs Geschichtstheologie Weiterführendes. Was aber kann ein Vergleich zwischen muslimischen Denkern des 10. Jahrhunderts und einem lutherischen Denker des 20. Jahrhunderts erbringen? Vergleiche wirken leicht künstlich. Der gleichzeitige Blick auf zwei weit auseinanderliegende Traditionen kann jedoch Fragen aufwerfen, mit denen sich beide besser verstehen lassen. Am Ende der Untersuchung seien zumindest drei Fragen gestellt und beantwortet, nämlich erstens, inwieweit sich die gründenden Ereignisse und Texte des Islam einerseits und der christlichen Kirche andererseits auf die jeweiligen Handlungstheorien ausgewirkt haben; inwieweit zweitens geschichtstheologische Grundkategorien, wie sie Pannenberg einsetzt, auch islamischerseits anschlussfähig sind; und drittens, wie der Pannenberg’sche Ansatz ‚Offenbarung als Geschichte‘2 die christliche Theologie der Religionen befruchten kann.

1.

Gottes Handeln und Menschenhandeln bei Pannenberg

1.1

Concursus ohne Konkurrenz?

Gott handelt in der Geschichte. So erweist er seine Herrlichkeit. Das ist das Zeugnis der Schriften Israels (Exodus 14,4 u. ö.). Ihnen zufolge handelt Gott aber nicht nur in einer bestimmten Ereignisfolge, wie Wolfhart Pannenberg bereits 1 Dank gilt Johannes Stoffers SJ für seine äußerst hilfreichen Verbesserungsvorschläge. 2 Wolfhart Pannenberg, „Dogmatische Thesen zur Lehre von der Offenbarung“, in: ders. (Hg.), Offenbarung als Geschichte (= OaG), Göttingen 1961, 91–114 (vgl. auch seine „Einführung“ ebd., 7–20).

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Felix Körner SJ

1961 betonte. Den sogenannten apokalyptischen Schrifttexten zufolge wird der eschatologische Anbruch des neuen Zeitalters vielmehr „zeigen, daß das gesamte Geschick der Menschheit von der Schöpfung an nach einem Plan Gottes abgelaufen ist. Die Apokalyptik konzipiert eine universale Geschichte“ (OaG, 96). Hierin liegt jedoch, wie Pannenberg ebenfalls beobachtet, kein Bruch mit den früheren Schriftzeugnissen: „Die Ausweitung der Gottes Gottheit erweisenden Geschichte auf die Gesamtheit alles Geschehens überhaupt entspricht der Universalität des Gottes Israels, der nicht nur der Gott Israels, sondern aller Menschen sein will. Diese Ausweitung der Heilsgeschichte zur Universalgeschichte ist im Grunde schon durch die große Prophetie Israels vollzogen worden, indem sie die Weltreiche als Befehlsempfänger Jahwes behandelte. “3 Wie handelt Gott in der Universalgeschichte? Die Antwort des prophetischen, eben erwähnten Modells, lautet: durch Befehle an die Weltreiche. Das ist jedoch nicht die einzige biblische Zuordnungsform von menschlichem und göttlichem Handeln. Die verschiedenen Vorstellungen der Schrift lassen sich kaum zu einer einzigen Handlungstheorie systematisieren. Das muss man auch gar nicht leisten. Schon Autoren wie Gerhard von Rad lösten die Widersprüche über eine Chronologisierung. Israel habe seine Geschichte zuerst in der „Auffassung von einem direkten sichtbaren oder hörbaren Eingreifen“ seines Herrn erzählt.4 In staatlicher Zeit aber – also ab etwa 1000 v. Chr. – rücke Gottes Handeln in den Hintergrund des Erzählablaufs. Man sehe nun eher „eine stille Führungsgeschichte“ (64). Gott handele in der späteren Darstellung stärker durch „eine Führung der Herzen als der äußeren Ereignisse“ (65). Die klassische Antwort in der lateinischen Tradition lautet, dass es ein Zusammengehen – einen concursus – von Gottes- und Menschenhandeln gibt. Diesen concursus kann man schon in der Bibel finden. Sie kennt nämlich für irdisches Geschehen eine „Doppelverursachung“. So hatte Yehezkel Kaufmann (st. 1963) die biblische Sichtweise benannt.5 Beide, Menschen und Gott, bewirken, was geschieht. Beide Verursachungen kommen sich nicht in die Quere. Wie ist dieser ‚concursus ohne Konkurrenz‘ systematisch zu denken?

3 OaG, 97. Den offensichtlichen Druckfehler „vollzogen werden“ habe ich oben im Text korrigiert. 4 Gerhard von Rad, Theologie des Alten Testaments, Band 1, München 101992 (11958), 64. Die beiden folgenden Seitengaben im Text oben beziehen sich ebenfalls auf diesen Band. 5 Vgl. Yairah Amit, „The Dual Causality Principle and Its Effects on Biblical Literature“, in: Vetus Testamentum 37 (1987), 385–400, hier 388.

Gottes Weltregierung im Prozess der Geschichte

1.2

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Geschichtstheologische Kategorien: Erwählung, Gericht und Bund

Wie klärt Wolfhart Pannenberg das Ineinander von göttlichem und menschlichem Handeln? Eine gewichtige Antwort hat er 15 Jahre nach Offenbarung als Geschichte gegeben. Zwischen 1975 und ’76 trug er an verschiedenen Orten in den USA und in England eine Art politisch-theologische Anthropologie vor, die in Buchform 1977 auf Englisch erschien6 und im Folgejahr auch auf Deutsch: Die Bestimmung des Menschen.7 Hierin entwickelt er eine Lehre von der Erwählung. Klärt denn eine Erwählungslehre die Frage, wie der concursus von Gottes- und Menschenhandeln ohne Konkurrenz zu denken ist? „Die wichtigste Funktion des Erwählungsbegriffs für eine Theologie der Geschichte besteht darin, daß er eine Begründung dafür liefert, wie man überhaupt von einem Handeln Gottes in der Geschichte sprechen kann“ (105). Denn mit der Vorstellung einer göttlichen Erwählung versuchen Menschen dreierlei zu erklären: ein bestimmtes Ereignis als den Moment göttlicher Erwählung, die Identität eines Volkes und seiner gesellschaftlichen Institutionen als göttlich gewollt, aber drittens auch alle späteren Ereignisse des erwählten Volkes als Taten Gottes. Wenn nun aber die Erfahrungen des Volkes sich nicht danach anfühlen, als schützte Gott die Seinen; wenn etwa Katastrophen hereinbrechen, hat Gott dann seine Treue gebrochen? Oder ist das Böse einfach weiterhin stark und handelt gegen Gott? Israels Prophetie wird anders antworten. Sie wird ein Unglück nicht für gegengöttliches Wirken halten, sondern neben die Erwählung eine zweite, ihr zugehörige Vorstellung setzen und auch die Katastrophe „als Ausdruck einer anderen Art göttlichen Handelns verstehen, nämlich als einen Akt göttlichen Gerichts. Gottes Gericht offenbart seine Macht über diejenigen, deren Verhalten der von ihm für das Wohlergehen seines erwählten Volkes begründeten Ordnung nicht entspricht“ (97). Das hat für die Theologie der Geschichte zwei wichtige Folgen. Zum einen rückt damit die scheinbare Abwesenheit Gottes von den Herzen der Menschen und ihrer Geschichte als Vorzeichen seines kommenden Gerichts in den Blick. Zum andern ist damit zwischen Erwählung und Gericht die dritte geschichtstheologische Kategorie getreten: der Bund. Ein Bund aber ist etwas Beidseitiges. Er lässt beiden Seiten auf je eigene Weise Gerechtigkeit zuteilwerden. Der Bund ist zum einen die göttlich gestiftete Gesellschaftsordnung. Die Menschen gehen auf den Bund ein, indem sie nach der gottgegebenen Ordnung leben, also „gerecht“. Wie aber erfüllt Gott seinen Bund? Doch wohl nicht nur, indem er Abweichungen im geschichtlichen Gerichtshandeln straft. Nein; der 6 Human Nature, Election, and History, Louisville KY 1977. 7 Die Bestimmung des Menschen. Menschsein, Erwählung und Geschichte, in: Wolfhart Pannenberg, Kleine Schriften, Göttingen 2016. Die Paginierung dieser Neuausgabe entspricht der Originalausgabe von 1978. Die folgenden drei Seitenangaben oben im Text beziehen sich auf diese Schrift.

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göttliche Bund enthält eine Verheißung. Sie wird sich im kommenden Gottesreich erfüllen. Damit wird auch die Frage beantwortet sein, ob sich Gott nicht an seinen Bund hält. Das Reich Gottes rechtfertigt damit Gott gegen den Vorwurf seiner Untreue oder Machtlosigkeit. Lässt sich aber der Erwählungsgedanke vom biblischen Israel auf andere Völker übertragen, und zwar auch ins Heute, und nicht nur im Sinne einer Erlösungsgewissheit, sondern auch in politisch relevanter Weise? Im Laufe der Geschichte hat es ja Augenblicke eines solchen Erwählungsbewusstseins im Raum des westlichen Christentums gegeben, in den USA, in England, in Frankreich – viel weniger damals übrigens bei den Deutschen. Bis in die Moderne hinein bewahrten sie ihr ohnehin als heilig verstandenes Kaisertum vor der – mehr Zündstoff enthaltenden – Frage nach Gottes politischem Volksauftrag. Der Erwählungsgedanke ist aber auch nicht notwendig jener brandgefährliche nationale Überlegenheitsanspruch, der jederlei unmenschliche Ein- und Übergriffe legitimiert (101). Vielmehr kann die religiöse Frage nach der eigenen Rolle in der gegenwärtigen Gesamtlage, also danach, ‚wozu Gott uns erwählt hat‘, eine heuristische Kraft entwickeln und die Augen auch eines Gemeinwesens wohltuend öffnen; weil „das Bewußtsein einer Erwähltheit zumindest in einigen Fällen eine besondere Sensibilität für die Gesamtsituation der jeweiligen geschichtlichen Erfahrung bekundet, eine Sensibilität, die Aufgeschlossenheit für geschichtliche Möglichkeiten und zugleich den Sinn für die damit verbundene Verantwortlichkeit einschließt und die vielleicht nur in religiöser Sprache angemessen beschrieben werden kann. Eine solche Sensibilität kann ebenso realistisch sein wie irgendein Faktenwissen“ (101). In diesem eindrucksvollen Gedankengang aus den 1970’er Jahren hatte Wolfhart Pannenberg aber drei Schwierigkeitsbereiche in der Vorstellung, dass Gott handelt, noch nicht betreten. Einerseits führt ja die Behauptung von Gottes Wille und Handeln scheinbar notwendig zur Annahme eines beschränkten Gottes – wie gleich zu zeigen sein wird. Zweitens hatte Pannenberg daher auch noch nicht klären können, warum der concursus von Gott und Menschen im Geschichtshandeln nicht als Konkurrenz zu denken ist. Schließlich aber vermag der Erwählungsgedanke mit seinen Kategorien Gericht und Bund noch nicht voll zu begründen, was bereits Offenbarung als Geschichte angedeutet hatte, nämlich dass „die Gesamtheit alles Geschehens“ die Geschichte sein soll, die Gottes Gottsein erweist. Denn damit ist noch nicht Leid, das dem Gerechten widerfährt, also nicht Gericht sein kann, erklärbar. Alle drei Schwierigkeiten wird Pannenberg allerdings in seiner Systematischen Theologie8 behandeln.

8 Wolfhart Pannenberg, Systematische Theologie (= STh), Band 1–3, Göttingen 1988, 1991, 1993, 2 2015.

Gottes Weltregierung im Prozess der Geschichte

1.3

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Gotteswille und Gotteshandeln: die drei theologischen Hauptschwierigkeiten

Wenn man sagen will, dass Gott einen ‚Willen‘ hat und dass er ‚handelt‘, tun sich drei Schwierigkeiten auf. Man kann sie das Vorgabenproblem, das Mangelproblem und das Tyrannisproblem nennen. Alle drei lassen sich als anthropomorphe Fallen entlarven. Denn Gottes Wille und Handeln unterscheiden sich grundsätzlich vom menschlichen. Viele religiöse Lehren beinhalten eine Vorstellung vom Gotteshandeln und daher auch vom Gotteswillen. Der Ansatz dafür liegt wohl in der „Erfahrung von einer auf den Menschen machtvoll eindringenden Wirklichkeit, die durch solche gerichtete Dynamik ‚etwas von ihm will‘ oder zu wollen scheint, auch wenn noch unbestimmt ist, was sie ‚will‘“ (STh I, 412). Recht bedacht gibt es aber bei Gott kein ihm vorgegebenes Angezieltes, ebenso keine bestimmten ihm zur Auswahl stehenden, also bereits vorher bereitliegenden Mittel. Es gibt bei ihm auch keinen Unterschied zwischen dem Gegenstand seines Wollens und seiner Verwirklichung: weder einen Zeitunterschied noch eine Zielverfehlung. Weiterhin meint ‚Gottes Wille‘ auch nicht einen Drang, wie wir bei uns vom ‚Lebenswillen‘ oder vom ‚Willen zur Macht‘ sprechen (STh I, 412). Das würde ja bedeuten, es bestünde in Gott ein Mangel. Tatsächlich aber fehlt ihm nichts; und er ist allen Zeitpunkten zugleich gegenwärtig. Wie lässt sich hier weitersehen? Der biblische Haupt-Anhaltspunkt für die Rede vom Gotteshandeln lag bemerkenswerter Weise nicht im Erlebnis eines göttlichen Anspruchs und der Vorstellung eines daraus ja leicht ableitbaren Subjektseins Gottes. Israels Interesse galt vielmehr dem Zusammenhang, wie er zwischen den einzelnen Wirkungen des als solches verstandenen göttlichen Wirkens zu bestehen scheint: In Weltordnung und Geschichtsverlauf zeigt sich anscheinend ein Plan, der es erlaubt, nicht nur von einzelnem ‚Wirken‘ Gottes zu sprechen, sondern von einer hierin verwirklichten großen Absicht, und in diesem – die ganze Geschichte planend gestaltenden – Sinne von Gottes ‚Handeln‘. Damit liegt der Einsatz von Israels Bekenntnis eines göttlichen Willens in der Bezeugung von göttlichem Geschichtshandeln. Hier jedoch tut sich die dritte Schwierigkeit auf. In die anthropomorphe Falle getreten ist man nämlich nicht nur, wenn man Gott zeitlich fasst und ihn menschlichem Vorbild folgend als Subjekt vorstellt, das unter vorgegebenen Möglichkeiten und Mitteln wählen muss oder einen in ihm bestehenden Mangel ausgleichen will. Wenn Israels Ausgangspunkt für die Suche nach Gottes Willen der Willens-Zusammenhang ist, ist hier vielmehr als drittes Problem zu benennen: Die Vorstellung eines Willens-Ichs und die Ahnung eines Willens-Zusammenhangs müssen ja irgendwie zusammengebracht werden. Die Frage lautet dann: Wie wirkt der wollende Gott denn in Kosmos und

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Geschichte? Will er alles, was geschieht? Will er es, indem er die Handlungen anderer Subjekte abändert und so seinen Willen durchsetzt? Dann ist er doch nichts anderes als ein Gewalt-Potentat. Hier ist damit auch die dritte anthropomorphe Falle zu markieren. Denn: „Weltherrschaft eines endlichen Subjekts kann immer nur Tyrannis, weil totale Kontrolle über den Geschehensverlauf, bedeuten“ (STh I, 420). In ihr hätte alle geschöpfliche Wirklichkeit ihre Eigenständigkeit verloren. Kann man jedoch auch einen im Natur- und Menschengeschehen handelnden, ja herrschenden Gott denken, ohne sich alle Vorgänge darin marionettenhaft gottgesteuert vorstellen zu müssen? In seiner Systematischen Theologie hat Pannenberg für diese Frage eine eindrucksvolle Lösung gefunden. Die Antwort liegt im Dreifaltigkeitsbekenntnis. Für die christliche Rede vom Handeln Gottes ist das handelnde Subjekt die Lebensgemeinschaft von Vater, Sohn und Geist. Hier wird nicht der Wille des einen gegen die Absichten anderer durchgesetzt. Vielmehr handelt der Sohn ohne Zwang nach dem Willen des Vaters; und der Geist ist jene Gemeinschaft zwischen Christus und dem von ihm bezeugten himmlischen Vater, in der weder der eine noch der andere zu kurz kommen, sondern ihre Erfüllung finden – und an der andere Wirklichkeiten, die Geschöpfe, in derselben gemeinschaftlichen Weise teilnehmen können. Damit klärt sich auch, wie bei der Rede von Gottes Handeln und Gottes Willen die Vorstellung eines Handlungszieles zu verstehen ist. Soeben war ja der Gedanke eines Zieles göttlichen Handelns als anthropomorphe Vorstellung, nämlich als Mangel erkannt worden. Dennoch will man bekennen, dass Gott zielführend handelt, will er doch die Welt im Gegenüber zu ihm erschaffen und vollenden, und sich in ihr so offenbaren, dass die Geschöpfe ihn als Schöpfer anerkennen können. Also doch ein Ziel, das Gott sich vornehmen muss, weil ihm etwas fehlt? Nein; das Ziel seines Handelns hat Gott sich nicht aus Mangel gesetzt. Vielmehr ist sein Ziel „die Einbeziehung seiner Geschöpfe in die ewige Gemeinschaft des Sohnes mit dem Vater durch den Geist. Insofern ist das Welthandeln Gottes Wiederholung seiner ewigen Gottheit im Verhältnis zur Welt“ (STh I, 421f.). Was Gott anzielt, ist also die Hereinholung von allem in das, was in ihm selbst schon besteht.9 Aus Liebe, wie sie zwischen Vater, Sohn und Geist ewig lebendig ist, will Gott die Geschöpfe teilhaben lassen an diesem Verhältnis der liebevollen Selbstunterscheidung vom anderen und der liebevollen Verherrlichung des anderen.

9 Zu Pannenbergs Handlungstheorie gehört auch die Beobachtung: „Der Begriff des Handelns setzt immer schon ein fertiges Subjekt voraus.“ Anthropologie in theologischer Perspektive, Göttingen 22011 (11985), 156, vgl. bereits 58 und öfter.

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Gottes Regierungskunst: Zusammenwirken ohne Konkurrenz

Eine Reihe von Historikern des 18. Jahrhunderts wollte die alte Vorstellung eines in der Geschichte handelnden Gottes überwinden und dagegen die Geschichte allein als Menschenwirken darstellen, wie ja auch das Naturgeschehen ohne göttlichen Eingriff vorzustellen sei. „Der Rekurs auf göttliches Handeln wurde also als Konkurrenz zur Erklärung der Ereignisse durch geschöpfliche Faktoren beurteilt und darum ausgeschlossen. “10 Was solchen Vorhaben der Neuzuordnung von göttlichem und menschlichem Handeln aber zugrunde liegt, ist eine „fehlerhafte Form jener Vorstellung. Das Handeln Gottes in seiner Schöpfung darf weder in bezug auf das Naturgeschehen, noch hinsichtlich der Geschichte der Menschheit in Konkurrenz zum Wirken geschöpflicher Faktoren aufgefaßt werden. Gott und Mensch gehören als Handlungsprinzipien nicht derselben Ebene an, so daß zwischen ihnen eine Konkurrenz entstehen könnte. Vielmehr regiert der Schöpfer seine Schöpfung durch das Handeln seiner Geschöpfe hindurch“ (542). Die Unterscheidung zwischen conservatio und concursus, also zwischen Gottes Erhaltung der Geschöpfe im Sein und Gottes Mitwirkung an ihren Tätigkeiten liegt in der aristotelisch-scholastischen Tradition. Die Lutheraner hielten klassisch an ihr fest: Es gibt ein simultanes Zusammenwirken von Gott und Geschöpf (STh II, 64). Für die Reformierten dagegen ist das Mitwirken Gottes vorausgehend (concursus praevius). Schleiermacher hält die gesamte conservatio-concursus-Unterscheidung für unsinnig, weil jede Kraft in Tätigkeit sei; der implizite Gedanke ist: wenn Gott mächtig ist, dann nicht nur, indem er andern ermöglicht zu handeln, sondern dabei selbst tätig ist.11 Karl Barth hatte das Problem nicht gelöst – so Pannenberg:12 Barth zufolge ist Gottes unbedingte und unwiderstehliche Herrschaft gerade die Begründung der Freiheit des geschöpflichen Wirkens. Pannenbergs Kritik daran ist doppelt. Zum einen ist diese Behauptung ebenso formal – und vorchristlichen Begriffen ausgeliefert – wie Barth das anderen Kausaltheorien vorwirft; zum andern gelingt es Barth nicht, zu erklären, wieso Gott die Sünde nicht bewirkt. Pannenbergs erster Schritt auf die Lösung zu ist die Unterscheidung von drei Tätigkeiten Gottes: zum einen die Schöpfung, die kein Akt in der Zeit sein kann. Die übrigen beiden Tätigkeiten entspringen Gottes Willen, am Leben seiner Geschöpfe auch teilzunehmen, setzen voraus, dass es die Geschöpfe bereits gibt, und haben daher auch selbst Zeitstruktur. Gott nimmt nun auf zweierlei Weise 10 Systematische Theologie, Band 3, Göttingen 22015, 542. Das folgende Zitat ebd. 11 Friedrich Schleiermacher, Der christliche Glaube. Nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt (herausgegeben von Rolf Schäfer), Berlin 2008, 271: § 46 Zusaz (sic!). 12 STh II, 64, Fußnote 115.

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am Leben seiner Geschöpfe teil. Er tut dies einerseits in deren Erhaltung. Sie bezieht die Geschöpfe auf den Schöpfungsakt zurück. Die Erhaltung ist die allgemeine Bedingung geschöpflicher Selbständigkeit. Schließlich handelt er als der begleitend Mitwirkende. Das heißt, Gott nimmt am Lebensvollzug seiner Geschöpfe auch dann teil, wenn sie seinen offenbaren Willen nicht erfüllen, wenn nämlich ihre Intentionen von der Norm der Beziehung des Sohnes zum Vater abweichen. Nun gelingt es Gott dabei aber, die faktischen Resultate des selbständigen Verhaltens der Geschöpfe – auch ihre Verfehlungen und das daraus folgende Übel – in seine ‚Absichten‘ mit der Welt einzuordnen. Er ist nämlich dem Missbrauch geschöpflicher Selbständigkeit überlegen. Daher ist das Böse keine Gegenmacht. Darin besteht sozusagen die Regierungskunst Gottes. Pannenberg belegt ihre Integrationskraft biblisch: „Es ist die hohe Kunst der Weltregierung Gottes, aus Bösem Gutes hervorgehen zu lassen (Gen 50,20) und so das Böse durch Gutes zu überwinden, wie Jesus es von seinen Jüngern forderte (Mt 5,39) und Paulus es als christliche Lebensregel formulierte (Röm 12,21)“ (STh III, 567). Diese Kunst heißt auch „Gottes Weisheit“. Schon im alten Israel hat die Weisheit nicht nur mit der Ordnung des Kosmos, sondern auch mit der „Determination der Zeiten“ im Ablauf der Geschichte zu tun.13 Die Weisheit Gottes ist den Menschen allerdings nicht einfach zugänglich. Unsere Zukunft ist uns unerforschlich; und wie Tun und Ergehen im Ablauf des Geschehens folgerichtig zueinander gehören, ist uns uneinsichtig. Mit anderen Worten: Gottes Regierungsweisheit ist den Menschen verborgen. „Erst am Ende der Geschichte wird der Ratschluß Gottes erkennbar sein, der ihrem Ablauf zugrunde liegt“ (STh I, 475). Schon zuvor hatte Pannenberg den hier wieder anklingenden Begriff gebraucht, der ihn weiterführte, als es die Rede von göttlicher Schöpfung, Erhaltung und Mitwirkung tat; nämlich göttliche „Weltregierung“. Sie deutet die maßgebliche Perspektive von Pannenbergs Geschichtsverständnis an, demzufolge bekanntlich Gott der den Geschichtsverlauf Bestimmende sein soll,14 obwohl ja Menschen auch gegen Gottes offenbaren Willen handeln. Dies hatte Pannenberg zuvor bereits ausdrücklich verarbeitet: Das zentrale Thema der göttlichen Weltregierung ist die Überlegenheit Gottes über den Mißbrauch der geschöpflichen Selbständigkeit. An diesem Punkt enthält die Vorstellung von der Weltregierung Gottes ihren deutlichsten Überschuß über das, was die

13 Pannenberg belegt das mit einer Schrift seines Lehrers Gerhard von Rad, Weisheit in Israel, Neukirchen 1970, 337–363. 14 Wolfhart Pannenberg, „Erfordert die Einheit der Geschichte ein Subjekt?“, in: Reinhart Koselleck und Wolf-Dieter Stempel (Hgg.), Geschichte – Ereignis und Erzählung (= Poetik und Hermeneutik, Band 5), München 1973, 478–490.

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Begriffe der Schöpfung, der Erhaltung und Mitwirkung Gottes beinhalten. Dem Bösen und dem Übel in der Welt wird der Anspruch streitig gemacht, sich als Gegenmacht gegen Gottes Schöpferwillen behaupten zu können. Diese Pointe des Gedankens der göttlichen Weltregierung findet ihren Ausdruck darin, daß sogar die Folgen geschöpflichen Versagens durch Abwendung des Geschöpfes von seinem Schöpfer letztlich den ‚Absichten‘ Gottes mit seiner Schöpfung dienen müssen: Die Regierungskunst Gottes bewährt sich darin, daß sie immer wieder sogar aus Bösem Gutes hervorzubringen vermag. Ihre endgültige Rechtfertigung wird freilich erst durch die eschatologische Verwandlung und Vollendung der Welt zum Reiche Gottes erbracht sein.15

Die drei oben genannten Schwierigkeiten – Anthropomorphismus, concursus ohne Konkurrenz und Leiden des Gerechten – sind damit einer Lösung nähergebracht: Gott handelt trinitarisch – auch das Böse bekommt eine gute Rolle – Gottes Wirken ist in der Geschichte noch nicht vollendet. Exkurs: Zur Begriffsgeschichte von Gottes Weltregierung An dieser Stelle sei eine persönliche Bemerkung erlaubt. Die Rede von göttlicher Weltregierung war mir vor meiner Pannenberglektüre nicht vertraut. Sie hätte es aber sein können. Das römische Lehramt, die klassischen Theologen und auch Bibelübersetzungen kennen den Begriff. Zwar verwenden die Texte des Zweiten Vatikanums das Wort ‚Weltregierung‘ nicht; aber der Katechismus der Katholischen Kirche kennt genau diese Formel – zumindest wenn man in den deutschen Text und das französische Original schaut: KKK 1884 Gott wollte die Ausübung aller Gewalten nicht sich allein vorbehalten. Er überlässt jedem Geschöpf jene Aufgaben, die es den Fähigkeiten seiner Natur gemäß auszuüben vermag. Diese Führungsweise soll im gesellschaftlichen Leben nachgeahmt werden. Das Verhalten Gottes bei der Weltregierung, das von so großer Rücksichtnahme auf die menschliche Freiheit zeugt, sollte die Weisheit derer inspirieren, welche die menschlichen Gesellschaften regieren. Sie haben sich als Diener der göttlichen Vorsehung zu verhalten.

Der vorletzte Satz lautet im Französischen bzw. im Lateinischen: CEC 1884 Le comportement de Dieu dans le gouvernement du monde, qui témoigne de si grands égards pour la liberté humaine, devrait inspirer la sagesse de ceux qui gouvernent les communautés humaines. CCE 1884 Modus quo Deus agit in mundo gubernando, qui tantam considerationem erga humanam testatur libertatem, sapientiam deberet inspirare eorum qui communitates gubernant humanas. 15 Systematische Theologie, Band 2, Göttingen 22015, 76. Pannenberg verweist dort auch auf die augustinische Formel vom Gutes-aus-Bösem-Hervorbringen: das „bene de malo facere“ (Augustinus, Enchiridion ad Laurentium 11), die auch Thomas von Aquin (Summa Theologiae, Ia 48,2) und die Confessio Helvetica (II, 3) zitieren.

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Ein solcher, philologischer Blick in den Weltkatechismus klärt viererlei: Erstens steht das Wort „sollte“ in dem Ausdruck, das „Verhalten Gottes … sollte … inspirieren“ nicht in der Vergangenheitsform, meint also keinen gescheiterten göttlichen Plan, etwa ‚ursprünglich hatte Gott damit vorgehabt …‘. Vielmehr bringt der Katechismus hier einen Wunsch der Kirche zur Sprache, ja eine Forderung an heutige Politiker. Zweitens zeigt sich so, dass die Weltregierung Gottes im Zusammenhang mit menschlicher Weltregierung zu sehen ist. Auch wenn die Rede des Katechismus vom „Verhalten“ Gottes arg anthropomorph ist, ist die Zuordnung treffend: Gottes Handeln ist von den Menschen mitzuvollziehen im Sinne weiser Nachahmung seiner raumgebenden Weisheit und im Sinne eines Dienstes innerhalb seiner Weltsorge („Vorsehung“). Nicht ausdrücklich gemacht ist damit allerdings, dass sich der Dienst, das ministerium politischer Weltgestaltung, aus dem Großzusammenhang göttlicher Weltsorge auch relativieren und kritisieren lassen muss. Drittens zeigt sich, dass man den französischen Katechismus-Wortlaut als die faktische Vorlage der deutschen Übersetzung betrachten und mitberücksichtigen sollte, auch wenn die lateinische Version rechtlich als die maßgebliche (editio typica) gilt. Denn „bei der Weltregierung“ hätte man im Lateinischen eindeutiger mit ‚in gubernatione mundi‘ wiedergeben können, da „agit in mundo gubernando“ sich auch auf nur einzelne Gottestaten in der Welt beziehen kann, während „dans le gouvernement du monde“ auf Gottes Verantwortlichkeit für das Gesamtgeschehen in seinem Zusammenhang verweist. Schließlich aber ist damit der Eindruck richtiggestellt, die Rede von der göttlichen Weltregierung sei eine Besonderheit reformatorischer Theologie. Nein, sie findet sich sogar im Katechismus. Und woher hat der sie? Thomas von Aquin kannte die Rede von der gubernatio Gottes: Summa Theologiae, Ia 22,3 c ad providentiam duo pertinent, scilicet ratio ordinis rerum provisarum in finem et executio huius ordinis, quae gubernatio dicitur – zweierlei gehört zur Vorsehung, nämlich die Idee einer Hinordnung der Gegenstände der Vorsehung auf ein Ziel und die Ausführung dieser Hinordnung; die Ausführung heißt Regierung. Summa Theologiae, Ia 103,4 c duo sunt effectus gubernationis, scilicet conservatio rerum in bono et motio earum ad bonum – zweierlei sind die Wirkungen der Regierung, nämlich die Erhaltung der Dinge im Guten und ihre Bewegung auf das Gute hin.

Die lutherische Orthodoxie nahm hierbei eine noch feinere Unterscheidung vor. Johann Andreas Quenstedt († 1688) unterscheidet in seinem Theologischen Systema bei Gottes Weltregierung vier göttliche Akte: permissio, impeditio, directio und determinatio.16 16 Zitiert nach Wolfhart Pannenberg, STh II, 76.

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Im Deutschen ist die Rede von der „Regierung“ Gottes vertraut aus Joachim Neanders Lob auf Gott, „der alles so herrlich regieret“; und dies schließt sich offenkundig an die Bibelübersetzung Martin Luthers an, die so lautet: Psalm 67,5(4) Die Völcker frewen sich vnd jauchzen / Das du die Leute recht richtest / Vnd regierest die Leute auff erden / Sela. Zu „recht richtest“ hatte der Reformator außerdem in einer Randerklärung nochmals Gottes Regierung erwähnt: „Verteidigest vnd regierest. “ Das hebräische tanhe¯m – Hifʿil von n-h-h „du regierst (sie)“ – übersetzen die Septuaginta ˙ ˙ mit ὁδηγήσεις und die Vulgata mit dirigis. Es seien noch fünf weitere biblische Kontexte aufgeführt. Wo Paulus schreibt: Galater 5,18 ει᾿ δὲ πνεύματι ἄγεσθε, οὐκ ἐστὲ ὑπὸ νόμον, übersetzt Luther das Mediopassiv ‚sich vom Geist führen lassen, geistgeführt sein‘ wiederum mit „regieren“: Regieret euch aber der Geist / So seid jr nicht vnter dem Gesetze. Zur Posaune des siebten Engels der Apokalypse verkünden die Himmelsstimmen: Offenbarung 11,15 Es sind die Reiche der Welt vnsers HErrn vnd seines Christus worden / vnd er wird regieren [βασιλεύσει] von ewigkeit zu ewigkeit (vgl. 22,5). Von „Weltregierung“ ist in dieser Sprachtradition also von Anfang an die Rede. Auch dass sie in Weisheit geschieht, ist biblisch: Sprichwörter 8,15 Durch mich [nämlich die Weisheit] regiern die Könige / vnd die Ratherrn setzen das Recht. Die im masoretischen Text nicht überlieferten deuterokanonischen Bücher hatte der Reformator bekanntlich ebenfalls in seine Bibelausgabe aufgenommen und deren Übersetzung mit der Bemerkung eingeleitet: „Apocrypha: das sind Bücher: so der heiligen Schrifft nicht gleich gehalten / vnd doch nützlich vnd gut zu lesen sind“. Dort ist besonders häufig vom ‚Regieren‘, sogar vom ‚Regieren der Welt‘ die Rede. In der Weisheit Salomos wird der Herr, der „Liebhaber des Lebens“ (11,26), mit den Worten angesprochen: Weisheit 12,15 WEil du denn Gerecht bist / so regierestu alle ding recht / vnd achtests deiner Maiestet nicht gemes jemand zu verdamnen / der die straffe nicht verdienet hat. 16 Denn deine stercke ist eine herrschafft der gerechtigkeit / Vnd weil du vber alle herrschest / so verschonestu auch aller. 17 Denn du hast deine stercke beweiset / an denen / so nicht gleubeten / das du so gar mechtig werest / Vnd hast dich erzeiget an denen /die sich keck wusten. 18 Aber du gewaltiger Herrscher / richtest mit lindigkeit / vnd regierest vns mit viel verschonen / Denn du vermagst alles was du wilt. Dass Gottes Regierung einen anderen Stil hat als den der irdischen Herrscher, unterstreicht Luther hier noch mit einer Randbemerkung zu „deiner Majestät nicht gemäß“ (12,15): „Wie die Tyrannen sich düncken lassen / als müssten sie

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jrer macht brauchen / andern zu schaden vnd pochen etc.“ Nochmals heißt es dann: Weisheit 15,1 ABer du vnser Gott / bist freundlich vnd trew / vnd gedültig / vnd regierst alles mit Barmhertzigkeit. Wie Gottes Schöpfungsweisheit und menschliche Regierungsweisheit zusammenkommen, spiegelt sich in Salomos Worten wider – „aus der massen ein schön Gebet“, vermerkt Luther am Rand: Weisheit 9,1 O Gott meiner Veter vnd HERR aller güte / Der du alle ding durch dein Wort gemacht / 2 vnd den Menschen durch deine Weisheit bereitet hast / das er herrschen solt vber die Creatur / so von dir gemacht ist / 3 das er die Welt regieren solt / mit heiligkeit /vnd gerechtigkeit / vnd mit rechtem hertzen richten / 4 Gib mir die Weisheit / die stets vmb deinen Thron ist / vnd verwirff mich nicht aus deinen Kindern [.] Aufgrund dieser biblisch-sprachlichen Vorlage überrascht es nicht, wenn etwa Schleiermacher in seiner Glaubenslehre ausdrücklich von der „göttlichen Weltregierung“ spricht (§ 164). Er betont, dass „für unser christliches Selbstbewußtsein“ nicht erst eine unbestimmte Schöpfungsordnung denkbar ist, die dann nachträglich eine Erlösungsordnung bekommt. Alles ist vielmehr bereits auf Christus hin geschaffen (Kolosser 1,16). Es folgt, „daß schon durch die Schöpfung alles vorbereitend und rükkwirkend eingerichtet ist in Bezug auf die Offenbarung Gottes im Fleisch und zu der möglich vollständigsten Uebertragung derselben auf die ganze menschliche Natur zur Gestaltung des Reiches Gottes.“ Gegenstand der göttlichen Weltregierung ist die „Pflanzung und Verbreitung der Kirche“ (§ 164). Was bedeutet hier „Gegenstand“? Es ist offenbar die Kategorie, die es Schleiermacher ermöglicht, zugleich Motiv und Thema, Ziel und Mittel zu benennen. Anschließend (§ 165) zeigt Schleiermacher, dass Gott seine Weltregierung in Liebe und Weisheit vollzieht. „Denn Liebe ist doch die Richtung, sich mit andern vereinigen und in anderem sein zu wollen; ist daher der Angelpunkt der Weltregierung die Erlösung und die Stiftung des Reiches Gottes, wobei es auf Vereinigung des göttlichen Wesens mit der menschlichen Natur ankommt, so kann die dabei zum Grunde liegende Gesinnung nur als Liebe vorgestellt werden. Unter Weisheit aber versteht man die richtige Entwerfung der Zwekkbegriffe, diese in ihrer mannigfaltigen Bestimmbarkeit und in der Gesammtheit ihrer Verhältnisse zueinander gedacht.“17

17 Friedrich Schleiermacher, Der christliche Glaube. Nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt (herausgegeben von Rolf Schäfer), Berlin 2008, 499. Zwecks besserer Auffindbarkeit sei hier angegeben, auf welchen Seiten sich diese Stelle in anderen wichtigen Ausgaben der Glaubenslehre findet. 21830/31 (Vorlage für die Ausgabe von 2008): 558f. 31835/6: 512. 71960 (Redeker): 445.

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Dieser Exkurs konnte zeigen, dass die möglicherweise überraschende Rede von Gottes weiser Weltregierung bei den theologischen Klassikern römisch-katholischer wie auch reformatorischer Tradition fest verankert ist, aus Katechismus und Liedgut wohlvertraut sein kann und ihren Anhaltspunkt in der Heiligen Schrift hat.

2.

Gottes Handeln und Menschenhandeln in der klassisch-islamischen Theologie

2.1

Die Entstehung der islamischen Theologie

Die islamische Handlungstheorie entsteht in einem ganz bestimmten Geschichtszusammenhang, und zwar angesichts der innerislamischen Spaltung.18 Diese stellt für die frühen Muslime einen schmerzhaften Einschnitt dar. Denn die koranische Grundausrichtung ist stets Einheit; nicht nur in Bezug auf die Einheit Gottes und die Einheitlichkeit der Offenbarung bei allen Propheten. Auch in Bezug auf die Geschlossenheit, den Zusammenhalt der entstehenden Gemeinde erhebt der Koran Forderungen. Dass Muslime sich gegeneinander erheben konnten, Untergruppen bilden konnten, Führungspersonen die Legitimität absprechen und die so Gebrandmarkten töten konnten, das war traumatisch. Es lief offensichtlich dem Koranwortlaut zuwider. Schon mittelmekkanisch19 hatte eine Sure vor Spaltung gewarnt und die umma als eine einzige bestimmt (23:52f.). Ebenso ergeht noch in Mekka das ausdrückliche Verbot, sich in Religionsfragen zu zerstreiten und zu zerteilen: aqı¯mu¯ d-dı¯na wa-la¯ tatafarraqu¯ fı¯hi (42:13): „Haltet die Religion und spaltet euch nicht in ihr.“ Unmittelbar anschließend sichert derselbe Vers Muhammad zu, dass diese Einheit ein Geschenk Gottes ist, ˙ das er denen macht, die er dafür vorgesehen hat: „Die polytheistischen ‚Beigeseller‘ überfordert (k-b-rʿala¯) das, wozu du sie aufrufst (d-ʿ-y). Gott erwählt dafür, wen er will, und schenkt die Rechtleitung dorthin dem, der bereut.“ Mit seinem Ruf zur Einheit will der Koran die durch ihn entstehende Gemeinde ausdrücklich von der Christenheit absetzen, die sich über Lehrfragen zerstritten und zerrissen habe bis hin zur Handlungsunfähigkeit (vgl. 19:37). Nun mussten aber auch die Muslime sehen, dass es unter ihnen Streit gab, und zwar blutigen. Es ging vor allem darum, wer der rechtmäßige Muhammad-Nachfolger (halı¯fa) in der Lei˙ ˘ 18 Ich folge in vielen Punkten dem Werk Josef van Ess’, vor allem Theologie und Gesellschaft im 2. und 3. Jahrhundert Hidschra. Eine Geschichte des religiösen Denkens im Islam, Band 4, Berlin 1997. 19 In Buchform (mushaf) ist der Koran der Surenlänge nach angeordnet. Die traditionelle ˙ islamische Koranforschung kennt bereits Chronologisierungen. Heute üblich ist die historische Einteilung in drei mekkanische Phasen und, ab 622 n. Chr., eine medinensische.

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tung des Gemeinwesens sein sollte. Kein Vierteljahrhundert nach Muhammads ˙ Tod ereignet sich der erste Kalifenmord: ʿUtma¯n wird im Jahr 656 gelyncht. Wie ¯ schwer die Muslime die Erfahrung ihrer Spaltung belastet, zeigt der Name, den sie den jetzt ausbrechenden Bürgerkriegen geben. Sie wählen das koranische Wort für ‚schwere Prüfung‘ (fitna, pl. fitan). Der Zusammenhalt der ‚Erwählten‘ war zerbrochen, nach wenig mehr als 20 Jahren. Die Katastrophe war unter einer Rücksicht produktiv. Sie rief die Denker auf den Plan, und zwar in drei Disziplinen, die für den hohen Reflexionsgrad des Islam seither kennzeichnend sind. Wenn eine Partei die Schuld für die Spaltung nicht einer anderen gab, schien sie sich selbst zu bezichtigen. Man musste also angeben können, wie es zum Zerwürfnis gekommen war, um sich selbst freizusprechen. – Plötzlich war Geschichtsschreibung notwendig. Außerdem wurde die Frage laut und dringlich, wie denn die ersten Leitungsfiguren hätten handeln sollen. Hatte die Gemeinde in ihrem Wahlverfahren und hatten die Führungspersönlichkeiten selbst Fehler gemacht, aus denen für eine bessere Zukunft zu lernen wäre? Und wie begründet sich die augenblickliche Herrschaft? – So entstand die politische Theorie des Islam. Schließlich aber wollten die Muslime das schmerzliche Geschehen auch aus ihrem Glauben deuten; sie wollten wissen, wie sich die Spaltung angesichts der göttlichen Verheißung und Macht erklären lasse und wie viel Spielraum die menschliche Sünde dabei hat. – Die Theologie war geboren. Die Erklärung ist vielleicht etwas eingleisig. Gläubige Menschen brauchen, wenn sie den Raum zum Fragen haben, nicht erst einen Bürgerkrieg, um einen theologischen Gedanken zu entwickeln. Aber einen wichtigen Kontext hatte die früheste islamische Theologie so in jedem Fall. Von den ersten einhundert Jahren der islamischen Geschichtsschreibung, politischen Theorie und Theologie wissen wir allerdings wenig. Denn angesichts je neuer Ereignisse konnten sich die Ansichten der Autoren immer wieder grundlegend verschieben. Man betrieb ‚nachziehende Theorie‘, ein ‚Deckungsdenken‘.20 Damit aber war ein eben noch einleuchtendes Werk nun plötzlich veraltet. Entsprechend wurde es auch nicht mehr kopiert und tradiert. Wir können oft nur aus Anspielungen anderer erschließen, wer was vertreten hatte. Die erste theologische Bewertung der Spaltung ist noch spürbar geprägt von einer Hoffnung auf Wiedervereinigung. Man enthielt sich eines Urteils darüber, wer nun inhaltlich im Recht war. Das könne ja ohnehin Gott im Jüngsten Gericht

20 Felix Körner, „Glaubensgemeinschaft und politische Ordnung. Pannenbergs Ekklesiologie im Gespräch mit islamischen Staatstheorien“, in: Gunther Wenz (Hg.), Kirche und Reich Gottes. Zur Ekklesiologie Wolfhart Pannenbergs (PSt 3), Göttingen 2017, 157–180, hier: 175.

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am besten entscheiden. Die Bewertung solle man bis dahin aufschieben. Das ist die Sichtweise der – deshalb so genannten – Murgˇiʾiten, der ‚Aufschieber‘. Im Jahre 750 n. Chr. hat der Islam bereits seine dritte fitna erlebt. Sie führte zum ersten großen Dynastie-Wechsel: von den Umayyaden zu den ʿAbba¯siden. Angesichts der jetzt unüberwindlich scheinenden Spaltungen ist die theologische Bewertung kaum noch so hoffnungsvoll versöhnlich wie früher, bei den ‚Aufschiebern‘. Die Bewegung der sogenannten Muʿtazila entsteht; und zwar aus einer tiefen Enttäuschung über die Muslime selbst. Daher betont die Muʿtazila die menschliche Entscheidungsfreiheit; und am Werk sieht sie unverblümt, ohne Urteilsaufschub, die Sünde. Der muʿtazilitischen Theologie ging es allerdings an den Kragen; und zwar gerade deshalb, weil sie die vorherrschende geworden war, ja die Denkweise der Herrschenden. Der ʿAbbasidenkalif al-Maʾmu¯n hatte beschlossen, sie zur offiziellen Lehre zu machen; und er – nicht etwa eine quasi-kirchliche Instanz – ließ eine Inquisitionswelle über sein Reich hinwegrollen. Auch hierfür verwendet die islamische Geschichtsdeutung ein Wort, das ‚Prüfung‘ bedeutet: mihna. Die ˙ stärker traditionsbedachten Religionsgelehrten empfanden die herrscherliche und herrische Protektion ihrer Gegenposition selbstverständlich als übergriffig. Sowie sie wieder freie Hand hatten, taten sie alles, um das muʿtazilitische, disputationsfreudig-philosophische Denken aus der islamischen Theologie hinauszudrängen. In dieser Konstellation wuchs einem Bagdader ‚Dogmatiker‘ seine Rolle zu: alˇ Asʿarı¯. Die ascharitische Denkschule wurde geradezu zum Maßstab islamischer Orthodoxie, zumindest für eine Mehrheit. Vielerorts gilt die Lehre des Asˇʿarı¯ (st. 935) bis heute als Inbegriff sunnitisch-arabischer Rechtgläubigkeit. Seine Theologie entwickelt er in ständiger Absetzung von der Muʿtazila.

2.2

Handelt der Mensch, ‚oder‘ ist Gott der Schöpfer aller Dinge? Die Debatte zwischen al-Asˇʿarı¯ und der Muʿtazila

In Bezug auf die Handlungstheorie stellt sich al-Asˇʿarı¯ die Frage, ob es tatsächlich Gott ist, der schafft: wirklich alles unter jeder Rücksicht?21 Die Muʿtaziliten schränkten hier gleich zweifach ein. Zum einen besteht der göttliche Schöpfungsakt ihnen zufolge lediglich darin, dass Gott bereits bestehenden Wesenheiten Sein verleiht. Denn das Nichtexistierende ist für die Muʿtazila kein reines Nichts. Die Klassen der Seienden haben bereits vor ihrer tatsächlichen Existenz (wugˇu¯d) eine Wirklichkeit (tubu¯t), eine ungeschaffene. ¯ 21 Daniel Gimaret, La Doctrine d’al-Ash‛arı¯, Paris 1990, 369.

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Zum andern ist Gott aber nicht einmal der Schöpfer all dessen, was tatsächlich existiert. Gott ist dort nicht der Hervorbringer, wo der menschliche Willensakt ˇ ubba¯ʾı¯: tasarruf, also tätig ist. Dieser Willensakt heißt, etwa im Gefolge des G ˙ ˇ ‚Verfügung‘. al-Gubba¯ʾı¯ (st. 913) war übrigens al-Asˇʿarı¯s muʿtazilitischer (!) Lehrer. Die Muʿtaziliten brauchen diese selbständige Verfügungsmacht des handelnden Geschöpfs über die Hervorbringungen aus Wahlfreiheit (ihtiya¯r). ˘ Denn nur so können sie erklären, dass ein gerechter Gott ein im Diesseits zu befolgendes Gesetz erlässt und entsprechend im Jenseits belohnt und bestraft. Verantwortlich für sein Tun könne aber nur der sein, der sein Tun selbst ins Sein treten lässt. Hier richtet sich die Muʿtazila gegen die sunnitische Lehre, dass Gott den menschlichen Willensakt schafft: die sogenannte gˇabr-Lehre, die meint, die ˇ ahm b. Safwa¯n (st. Geschöpfe stehen unter „absolutem göttlichem Zwang“. G ˙ ca. 746) etwa vertrat genau dies: Der Mensch ist für ihn nur das Gefäß, in dem Gott Handlungen hervorbringt. al-Asˇʿarı¯ vertritt nun zwar ebenfalls die unbeschränkte Allwirksamkeit des göttlichen Schöpfungsaktes und des göttlichen Willens. Aber, wie im folgenden Absatz zu zeigen ist, weist er den Gedanken vom göttlichen Zwang zurück. Zunächst jedoch: Auch die Unterscheidung zwischen der tatsächlichen Existenz von Seienden und ihrem ‚Bestehen bereits vor ihrer Schöpfung‘ (tubu¯t) lehnt er ab. ¯ Etwas ist, bevor es erschaffen wird, wirklich nichts. Gott schafft nicht nur die Existenz, sondern auch die Essenz der Geschöpfe. Gott lässt die Sache nicht nur sein, „er lässt“ die Sache „das sein, was sie in ihrer Wirklichkeit ist“: ahdatahu¯ʿala¯ ˙ ¯ haqı¯qatihı¯. Da für die Sunniten alles aus dem göttlichen qadar, seiner Ent˙ scheidungsmacht, kommt, ist es eben auch Gott, der jede Handlung der Menschen schafft, einschließlich ihrer Sünden. Man sollte hier nicht – wie es aber Daniel Gimaret tut – von „Kreationismus“ sprechen; denn das ist ja die Bezeichnung für die Sichtweisen derer, die die Schöpfungserzählung als Gegenlehre zur Evolutionstheorie ausspielen. Man könnte al-Asˇʿarı¯s Position Monoktistismus nennen, weil sie nur einem Einzigen zugesteht, κτίστης, Schöpfer, zu sein, nämlich Gott. Weniger hochtrabend ist es aber wohl, die Sicht al-Asˇʿarı¯s als Lehre von Gottes Alleinschöpfertum zu bezeichnen. Nun ist jedoch, wie angekündigt, zu betonen, dass al-Asˇʿarı¯s Lehre vom göttlichen Alleinschöpfertum ihn nicht zu der Überzeugung bringt, Gott zwinge die Menschen in allem, was sie tun. Der Einwand, dass dies doch die notwendige Folge eines Alleinschöpfertums sei, war von muʿtazilitischer Seite natürlich erhoben worden. al-Asˇʿarı¯ geht darauf mit einer Unterscheidung ein: Nicht jede Bewegung im Körper des Menschen verursacht sein Wille – man denke an den Blutkreislauf. Hier liege daher tatsächlich ein Zwang vor. Was der Mensch aber selbst willentlich steuern kann, etwa Aufstehen und Hinsetzen, tue er mittels „Aneignung“ (kasb oder iktisa¯b). Was bedeutet das?

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2.3

183

Die ascharitische Lehre von der Tat-Aneignung: Grundlagen

Dass der Mensch sich das, was er tut, „aneignet“, das sagt schon der Koran. Denn häufig, und zwar schon frühmekkanisch, finden sich Formeln wie „kullu nafsin bi-ma¯ kasabat rahı¯natun – Jede Seele ist für das, was sie sich angeeignet hat, verpfändet“ (74:38). Damit nimmt der Koran allerdings nicht Stellung zu der Frage, wie sich Schöpferhandlung und menschliches Tun zueinander verhalten. Gemeint ist mit dem Koranwort von der Aneignung vielmehr – um es buchhalterisch wiederzugeben: ‚Jeder Mensch wird für das zur Verantwortung gezogen, was er sich auf seinem Taten-Konto an Guthaben oder Schulden angesammelt hat.‘ Die sunnitischen Theologen nutzen diese koranische Formulierungsvorlage nun allerdings über den offenkundigen Textsinn hinaus weiter. Mit ‚aneignen‘ können sie nämlich jenes besondere Verhältnis zwischen Tat und Täter zur Sprache bringen, demzufolge ein Handelnder verantwortlich für seine Handlungen ist, obwohl er sie nicht hervorbringt. Was ‚Aneignen‘ für al-Asˇʿarı¯ genau bedeutet, ist gleich noch zu klären. Zuerst aber ist auf die grundlegendere Frage einzugehen: Wie lässt sich zeigen, dass Gott der Schöpfer der menschlichen Handlungen ist? Das ist nämlich die Gegenposition zur Muʿtazila, die im Namen der menschlichen Verantwortung ja gerade nicht sagen will, dass Gott das schafft, was Menschen tun. Die Argumentationsform al-Asˇʿarı¯s ist hier jeweils doppelt-doppelt, sie besteht nämlich aus Affirmation und Refutation, und beide Male aus vernunftbasierten und koranbasierten Begründungen. Den Anfang macht die Ablehnung eines vernunftbasierten Arguments der Muʿtazila; und hier zeigt sich das hohe Niveau des Begründungsganges des Asˇʿarı¯: Die Muʿtaziliten gehen davon aus, dass jede Handlung dann notwendig Handlung des Handelnden ist, wenn er sie seinem Willen entsprechend hervorbringt (bi-hasabi qasdihı¯). Das ist aber nicht immer der Fall. al-Asˇʿarı¯s Bei˙ ˙ spiel ist der Unglaube. Eine ungläubige Person mag zwar wollen, dass ihr Unglaube gut, gerecht und wahr ist; er ist es aber tatsächlich (ʿala¯ haqı¯qatihı¯) nicht; ˙ also entspricht er nicht ihrem Willen. Nun schließt al-Asˇʿarı¯ allerdings, dass deshalb eben nicht der Handelnde die Handlung hervorbringe, sondern Gott. Das Argument leuchtet nicht ein. Man kann ja einwenden, dass das vorausgesetzte Prinzip unklar ist: Heißt ‚seinem Willen entsprechend hervorbringen‘ schlicht ‚die Handlung tun wollen‘ oder eben – wie al-Asˇʿarı¯ hier unterstellt – ‚die Handlung wahrheitsgemäß bestimmen können und als solche wollen‘? Das ist aber zu viel verlangt; und als Beweis für das Tätigsein Gottes im menschlichen Handeln ist es zu wenig. Zutreffend ist natürlich, dass Menschen nie genau absehen können, was sie wirklich alles mit einer bestimmten Tat tun. Aus alAsˇʿarı¯s Begründungsgang folgt allerdings etwas theologisch Hochbedeutsames:

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Alles geschöpfliche Tun steht in einer den Täter übersteigenden Perspektive, steht unter einem anderen Urteil. Das muʿtazilitische Gegenargument verläuft anders als das soeben vorgetragene: Dass Gott einige Eigenschaften einer menschlichen Handlung erschafft, macht ihn noch nicht zum alleinigen Schöpfer dieser menschlichen Handlung, denn die von Gott ins Wirklichsein gesetzten bereits vorfindlichen Wesenheiten seien ja nicht von Gottes Willen abhängig. al-Asˇʿarı¯ lehnt das ab, weil er, wie gesagt, Wirklichsein und Wesenheit für voneinander untrennbar hält. Anders gesagt: Für ihn gibt es keine Essenz ohne Existenz. Ihm zufolge gilt daher, was in seiner Tatsächlichkeit durch Gott ist, ist schlechthin von Gott. Eine andere Weise, mit der al-Asˇʿarı¯ häufig das göttliche Alleinschöpfertum von Handlungen, die die Geschöpfe vollbringen, begründet haben soll, findet sich nur in Berichten Späterer. Sie verläuft wie folgt. Offenkundig erweist man dadurch, dass man etwas gekonnt vollbringt (fiʿl muhkam), wie kenntnisreich ˙ man ist. So lässt sich ja auch Gott als der Wissende anhand seiner Schöpfungstaten erweisen. Da Menschen nun aber gerade das, was sie gekonnt vollbringen, durchaus auch einmal unbewusst (g˙a¯fil) zustandebringen können, muss der eigentlich Handelnde dabei Gott sein.22 Die dritte Begründung geht von einem Prinzip aus, das auch die Muʿtazila zugibt: Eine gewollte Handlung kann man nur ausführen, wenn Gott einem dazu, in jedem einzelnen Fall wieder, die Fähigkeit verleiht. Jetzt aber argumentiert alAsˇʿarı¯ weiter: Gott selbst hat immer Macht über das, wozu er Macht gibt, so wie er auch Wissen von dem hat, was er ein Geschöpf wissen lässt. Also ist er es, der im scheinbar geschöpflichen Tun handelt. Diesen Begründungsgang führt al-Asˇʿarı¯ in seinem Kita¯b al-Luma¯ʿ aus.23 Die vierte Begründung hatte al-Asˇʿarı¯ vorgeschaltet; sie leuchtet allerdings weniger ein.24 Ein unwillkürliches Tun sei offenkundig von Gott erschaffen. Nun aber sei eine willkürliche Handlung einem unwillkürlichen Tun in allen Punkten gleich, durch die man dessen Geschaffensein erweist, nämlich dass sie an einem bestimmten Ort zu einem bestimmten Zeitpunkt ins Sein getreten sein muss. Das Argument verfängt allerdings nicht. Denn damit erweist man ja nur Kontingenz, nicht aber Geschaffensein durch Gott. Das Argument ist zirkulär, weil al-Asˇʿarı¯ voraussetzt, was er doch gerade begründen will: dass Verursachtsein gleich GottGeschaffensein meint.

22 Gimaret, La Doctrine d’al-Ash‛arı¯, 374. 23 The Theology of al-Ash‛arı¯ (herausgegeben, übersetzt und kommentiert von Richard J. McCarthy), Kita¯b al-Lumaʿ, § 95; Gimaret, La Doctrine d’al-Ash‛arı¯, 375. 24 Kita¯b al-Lumaʿ, § 91–95.

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Eine fünfte und letzte Begründung brachte al-Asˇʿarı¯ außerdem nach der Darstellung von al-Sˇahrasta¯nı¯ (st. 1153) vor: Bei dem, von dem ich meine, mein eigener Wille brächte es vor, kann ich nicht etwa den Geruch ändern. Hierin zeigt sich, dass eben Gott selbst der Schöpfer auch meines Willensaktes ist, denn wer etwas schafft, kann auch dessen Eigenschaften gestalten.25 Nun kann man aber die Frage, wie sich begründen lässt, dass Gott der Schöpfer auch dessen ist, was vom Menschen hervorgebracht scheint, noch anders stellen. Statt philosophischen Gründen müssen sich doch auch koranische Gründe finden lassen, das heißt: Belegzitate. Eine erste Antwort ist, dass sich Gott im Koran vorstellt als der „Schöpfer aller Dinge“ (ha¯liqu kulli ˇsayʾin, 6:102 etc.). ˘ Meist aber führen al-Asˇʿarı¯ und seine Schule ein anderes Koranzitat an: „wa-lla¯h halaqakum wa-ma¯ taʿmalu¯na – Gott hat euch erschaffen, und was ihr hervor˘ bringt“ (37:96). Das klingt eindeutig; ist es aber nicht. Der Zusammenhang ist nämlich klar, und er deutet in eine andere Richtung: Abraham zerschlägt die Götzenstatuen der Leute um seinen Vater und argumentiert, dass Gott der Schöpfer und damit allein verehrungswürdig ist und dass die Statuen ja doch nur selbstgebaute Pseudogottheiten sind. Das koranische Abrahamswort, dass Gott die Menschen und was sie hervorbringen, erschaffen hat, bezieht sich also nicht auf die Frage, wie ursächlich die menschliche Beteiligung an ihren Handlungen ist, sondern darauf, dass die angeblichen Götter in Wirklichkeit bloß menschlich fabriziert, also kein uns verpflichtendes Gegenüber sind, und damit nicht verehrungswürdig. Selbstverständlich lehnt die Muʿtazila daher auch den gesamten Gedanken ab (378): Für sie bleibt die Behauptung, Gott schaffe auch das, was die Menschen hervorbringen, unbegründbar – nicht mit der Vernunft und genauso wenig mit dem Koran. Beim letzten Punkt ist ihnen auf jeden Fall zuzustimmen: Sure 37 ist keine Begründung.

2.4

Gott als alleiniger Schöpfer und eigentlich Handelnder: Begründung und Einwände

al-Asˇʿarı¯ sagt noch mehr. Gott sei nicht nur alleiniger Schöpfer, er sei sogar der einzige Handelnde! al-fa¯ʿil ʿala¯ haqı¯qa huwa lla¯h: Gott ist der eigentlich Han˙ delnde.26 Man muss aber genau hinsehen. Denn al-Asˇʿarı¯ begründet dies mit einer Behauptung zur Wortbedeutung von f-ʿ-l: Es heiße „zum Sein bringen“. 25 Gimaret, La Doctrine d’al-Ash‛arı¯, 376. Auch die folgende Seitenzahl oben im Text bezieht sich auf dieses Buch. 26 Kita¯b al-Lumaʿ, § 87; Gimaret, La Doctrine d’al-Ash‛arı¯, 388. Auch die folgenden Seitenzahlen oben im Text beziehen sich auf Gimarets Buch.

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Damit ist es ja synonym mit h-l-q und den anderen Verben für ‚schaffen‘ (h-d-t ˙ ¯ ˘ IV, b-d-ʿ IV und h-r-ʿ VII sowie n-sˇ-ʾ). Folglich hat er aber dann gar nichts mehr ˘ Neues gesagt über Gottes ohnehin schon behauptetes Allein-Schöpfertum hinaus. Vom Menschen lasse sich eine mit diesen Verben bezeichnete Tätigkeit nur im übertragenen Sinn aussagen. Damit geht er deutlich hinaus über zwei frühere Theologen: Dira¯r ibn ʿAmr (st. 800/820) und den von diesem abhängigen Nagˇgˇa¯r. ˙ Beide hatten nämlich den Mensch als Handelnden im eigentlichen Sinne bezeichnen können. Aber al-Asˇʿarı¯ ist nicht der erste, der dem Menschen sogar abstreitet, Handelnder zu sein; das hatte schon ein Schüler Nagˇgˇa¯rs vertreten, ein gewisser Muhammad ibn ʿI¯sa¯ Burg˙u¯t (388). Wie zirkulär sie argumentierten, ist ¯ ˙ ihnen wohl nicht klar geworden. Erst definiert man das Wort, das üblicherweise für jederlei ‚handeln‘ steht, als ‚überhaupt erst ins Sein bringen‘, also als ‚schaffen‘ im strengen Sinn; von da aus ist es dann leicht, zu schließen, dass also nur Gott handeln könne. Als unhaltbar weil anstößig empfinden die Muʿtaziliten die ascharitische Position, Gott sei auch Schöpfer der Handlungen der Menschen, aus dem Grunde, dass Gott dann ja auch das Böse schaffte, und Unglauben. Damit wird Gott ja selbst schlecht. al-Asˇʿarı¯s Antwort lautet: Nein; denn Gott schafft das Böse so, dass es zu einem andern gehört, nicht zu ihm selbst (379). Er ‚schafft‘ es sozusagen einem anderen ‚an‘: „halaqahu¯ ˇsarran li-gˇayrihı¯, la¯ lahu¯ – Er schafft es ˙ ˘ als Böses-bei-einem-anderen, nicht bei sich selbst“. Kann man dann sagen, dass das Böse von Gott kommt? Die ascharitische Schule antwortet hierauf: „Alles kommt von Gott.“ Damit vermeiden sie zu sagen, dass Gott das Böse unmittelbar schafft. al-Asˇʿarı¯ selbst sagt es aber unumwunden: Gott schafft das Böse; nur eben als das Böse in einem andern, nicht in Gott selbst. Ein weiterer Einwand lautet: Wer Böses hervorbringt, ist böse. Wenn Gott das Böse in Menschen schafft, ist er doch selbst böse. Nein, sagt al-Asˇʿarı¯; das gilt nur, wenn das hervorgebrachte Böse den Hervorbringer ungerecht macht. Das aber ist bei Gott nicht der Fall (379). Aber hat Gott wegen eines angeblichen Alleinschöpfertums nicht auch die Ungerechtigkeit erschaffen und ist damit ungerecht? Nein, sagt al-Asˇʿarı¯ und begründet dies mit der Frage, ‚wem‘ (!) Gott in diesem Fall schafft: Er schafft die Ungerechtigkeit „den anderen, nicht sich“. Der schwerwiegendste Einwand versucht es jetzt mit folgendem Gedankengang: Wenn Gott beschlossen hat, einem Menschen Unglauben ‚an-zuschaffen‘, und wenn man einem Beschluss Gottes immer zustimmen muss, muss man dann dem Unglauben zustimmen? Nein, gibt al-Asˇʿarı¯ zurück: Gott hat beschlossen, dass der Unglaube schlecht ist; dem ist zuzustimmen. Dem Zustand, dass der Ungläubige wegen des Unglaubens ungläubig ist, muss man dagegen nicht zustimmen (382).

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Die Muʿtazila konnte noch einen weiteren Koranvers gegen das ascharitische Alleinschöpfertum ins Feld führen. Gott ist nach Sure 23:14 „ahsan al-haliqı¯na – ˙ ˘ der beste der Schöpfer“. Also gibt es, folgert die Muʿtazila, offenkundig für den Koran mehr als einen Schöpfer. Folglich könne sich al-Asˇʿarı¯s Lehre von Gottes alleinigem Schöpfertum nicht auf den Koran berufen; ja, sie sei koranisch sogar widerlegt (387). Das Gegenargument, mit dem al-Asˇʿarı¯ der Überlieferung zufolge pariert haben soll, lautet: Der Koran fasst hier unter dem einen Begriff ‚Schöpfer‘ mehrere grundverschiedene Wesen zusammen, den eigentlichen Schöpfer, Gott, und andere, die man landläufig und fälschlich auch so bezeichnet. Man muss dem Koran allerdings gar nicht ankreiden, dass er bis ins Verkehrte hinein lose spricht. Der Zusammenhang des Koranverses legt nämlich schon ein anderes Verständnis nahe. Hier sollen die Hörer zur staunenden Anerkennung der Gottesmacht geleitet werden, um sich jetzt schon das Endgericht vor Augen zu führen. Um dann sein Urteil zu fällen, kann Gott – so spricht die Sure die Hörer an – euch auch nach eurem Tode neu schaffen, wie er euch doch schon in einer Dreierreihe von Schöpfungsakten bis heute geschaffen hat: aus Lehm beim Anbeginn der Welt, aus einem Tropfen bei der Zeugung, aus einem Fötus im Mutterleib. Das Ergebnis, zu dem man über diese Beobachtung kommen soll, lautet ausformuliert: Lebt jetzt in verantwortlicher Gottesfurcht, denn Auferstehung und Gericht kommen mit Sicherheit; seht nur: Jemand, der aus weniger einen ganzen Menschen schaffen – und also auch nach dem Tod neu schaffen – kann, ist undenkbar. Gott ist der beste Schöpfer.27 Die Muʿtazila hätte hier aber ihr Argument ebenfalls mit einem Hinweis auf den Zusammenhang stärken können. Gottes Schöpferleistung bezeichnet in diesem Vers ja ausdrücklich kein Schaffen ex nihilo. Von einem Allein-Schöpfertum Gottes geht der Koran also nicht aus. Lehm, Tropfen, Embryo sind ja jeweils schon vorhanden, und als Schöpfung wird nur bezeichnet, was in Wirklichkeit eine Umgestaltung ist. Dieses Beispiel zeigt besonders deutlich, wie die beiden Parteien sich in ihrem Streit verrannt haben. Vor lauter Raufsucht fehlt ihnen die Ruhe, näherliegende Lösungsmöglichkeiten zu sehen. Ein wirkliches Argument aus dem Hören auf den unmittelbaren Zusammenhang im Korantext kann sich so nicht einstellen. Das lässt die Theologie auf beiden Seiten verstiegen erscheinen.

27 Treffend ergänzt Paret in seiner Koranübersetzung den Versschluss mit der Klammererklärung: „Er ist der beste Schöpfer (den man sich denken kann)“, Rudi Paret, Der Koran, Stuttgart 122014, in loc.

188 2.5

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al-Asˇʿarı¯s Lösung: Tat-Aneignung als Wollen

Nun muss sich aber auch ein al-Asˇʿarı¯ fragen, wie er das bezeichnen will, was ja offenkundig ‚unter der Hand‘ des Menschen geschieht: Menschen tun ja unbestreitbar fast unentwegt etwas, und zwar bewusst; und anscheinend stehen doch die gewollten menschlichen Bewegungen und das, was in ihrer Nähe geschieht, in einem Zusammenhang miteinander, in einem Wirkungsverhältnis. Bewirken wir wirklich nichts? al-Asˇʿarı¯s Antwort lautet bekanntlich: Was wir zu bewirken scheinen, geschieht durch Aneignung (iktisa¯b oder einfach kasb). Die Lehre von der Tat-Aneignung gilt als typisch ascharitisch, aber al-Asˇʿarı¯ ist weder Vater des Gedankens noch des Ausdrucks; Dira¯r und Nagˇgˇa¯r kannten sie schon. Schaffung ˙ des Aktes durch Gott und Aneignung des Aktes seitens des Menschen geschehen nicht nacheinander, sondern sie sind ein einziges Wesen (ʿayn wa¯hida, 388). Die ˙ Handlung geht zugleich auf Gott zurück, denn er allein hat Schaffensvermögen, und auf den Menschen, der ja immerhin ein Aneignungsvermögen hat. Damit ist die Handlung eines Menschen etwas „von zwei Vermögenden gemeinsam Ermöglichtes – maqdu¯r bayna qa¯dirayn“. Das ist in dreifacher Richtung eine Gegenformel: gegen die Handlungstheorie, wie sie Dira¯r – oder etwa Ibn Kulla¯b (st. ca. 855) – ˙ vorgetragen hatte. Sie lösten die Frage, wie Schöpfer und Geschöpf an einer menschlichen Handlung beteiligt sind, mit der Formel: „von zwei Handelnden gemeinsam vollbrachte Handlung – fiʿl bayna fa¯ʿilayn“. Das wäre eine Konkursus-Vorstellung, die nicht weiter klärt, wie die verschiedenen Vermögen ineinandergreifen; gegen die Schule des Nagˇgˇa¯r, der zufolge eine menschliche Handlung „einerseits Schöpfung, andererseits Aneignung“ ist (halqun min gˇihatin – kasbun ˘ min gˇihatin, 389). Dagegen wehrt sich al-Asˇʿarı¯ mit der Begründung, dass eine menschliche Handlung nur ein Akzidens sein könne, Akzidentia aber hätten keine Seiten: wiederum ein kleinlicher Umgang mit der Formulierung eines anderen. Denn es geht ja nicht um räumliche Seiten, sondern um Bezüge; und in Bezug auf Gott ist eine menschliche Handlung für al-Asˇʿarı¯ doch Schöpfung, in Bezug auf den Menschen Aneignung. Die inkriminierte Formel hätte er also durchaus als Wiedergabe seiner Position gelten lassen können; gegen Nagˇgˇa¯rs Lösung, dass der Mensch, wenn er schon unfähig zur Erschaffung ist, immerhin fähig zur Aneignung ist. an-Nagˇgˇa¯r schlägt also vor: Der geschöpfliche Handelnde „hat Macht bezüglich des Erwerbs, aber Ohnmacht bezüglich der Erschaffung – qa¯dir ʿala¯ l-kasb, ʿa¯gˇiz ʿani l-halq“. al-Asˇʿarı¯s Ge˘ genargument erwidert hier: Man kann nicht sagen, dass jemand zu etwas unfähig ist, wenn er dazu gar nicht fähig sein kann. Nun aber ‚kann‘ ein Geschöpf ja gar nicht ‚schaffen können‘; denn das kann nur der Schöpfer. Also ist es unsinnig, einem Geschöpf dann noch zuzuschreiben, dass es nicht schaffen kann (390).

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Auch dies ist eine äußerst spitzfindige Sichtweise. al-Asˇʿarı¯s Argument ist wohlbekannt, nur aus einem anderen Zusammenhang. Es handelt sich dabei um einen an den Haaren herbeigezogenen Streit, nämlich um die Frage: Kann ein Allmächtiger etwas tun, was ihn in die Lage versetzt, dann etwas nicht tun zu können? Dann nämlich wäre er ja nicht allmächtig. Das klassische Beispiel ist, ob Gott einen Stein schaffen kann, der so schwer ist, dass er ihn nicht aufheben kann. Der Ausweg hieraus lautet: Eine Handlung, die ein allmächtiges Wesen nicht vollbringen kann, ist ein logischer Widerspruch. Das Vermögen zu dieser Handlung nicht zu haben ist daher keine Einschränkung der Macht dieses Allmächtigen. Anders gesagt, die Frage ‚Kann Gott etwas schaffen, was dem unendlich Starken zu schwer ist‘ muss man nicht erst groß beantworten; man handelt sich dann nicht die Folgerung ein: also ist er nicht allmächtig. Denn der für den unendlich Starken zu schwere Stein ist ein Unding. Man kann es gleich begrifflich wegstreichen. Man braucht auf die Frage also nicht weiter einzugehen. Sie betrifft nicht das Vermögen Gottes. Entsprechend will al-Asˇʿarı¯ nun in einem anderen Fall erst gar nicht auf ein Schaffenkönnen in Bezug auf den Menschen eingehen, auch nicht in der Verneinung, weil das ohnehin nur Gott kann und damit das Schaffenkönnen eines Geschöpfs von vornherein ein Unding ist. In diesem Punkt hängt al-Asˇʿarı¯s Denken also ganz an seinem univoken Schöpfungsbegriff: Schaffen ist nur das, was Gott selbst und allein tut. Was heißt das nun aber: Aneignung? Auszugehen ist von dem hochbestimmten Schöpfungsbegriff al-Asˇʿarı¯sˇ, der ja nicht nur bedeutet ‚sein lassen‘, sondern ‚so sein lassen‘ („er setzt etwas ins Sein, wie es tatsächlich ist – ahdatahu¯ ˙ ¯ ʿala¯ haqı¯qatihı¯“). ˙ Kasb heißt, so die maßgebliche Definition des Asˇʿarı¯: „ma¯ waqaʿa bi-qudratin muhdatatin – was durch ein (selbst ebenfalls erst) ins Sein gebrachtes Vermögen ˙ ¯ entsteht“.28 Damit wird ‚Aneignung‘ nach fünf Seiten abgegrenzt. 1. Die Rede vom ‚Vermögen‘ ist in zweierlei Hinsicht eine Abgrenzung. Da ein Vermögen dahinter steht, ist die Aneignung (kasb) einerseits gegen unwillkürliches Tun abgesetzt, 2. andererseits gegen eine erzwungene Handlung. 3. Dieses Vermögen aber ist selbst nicht ewig (qadı¯m), nicht absolut, sondern es ist erst ins Sein gebracht, nämlich durch göttliche Schöpfung. Das ist die Leistung des Partizips muhdat: „erst ins Sein gesetzt“. ˙ ¯ 4. Weiterhin ist das verwendete Verb bedeutsam. Es verlegt den Aneignungsvorgang nämlich doch in erstaunliche Nähe zum Schöpfungsvorgang. So ist die Aneignung von der Wahrnehmung unterschieden. Auch bei der Aneignung ist etwas „entstanden“ (waqaʿa). Damit hat al-Asˇʿarı¯ ein Wort verwendet, das er auch in seiner Definition für das Geschaffenwerden braucht. al28 Kita¯b al-Lumaʿ, 40,7f. im arabischen Text, und oft.

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Asˇʿarı¯ kann ‚Entstandensein‘ sowohl im Zusammenhang mit göttlichem als auch mit menschlichen Tun (fiʿl) aussagen. Das ist schon deswegen bedeutsam, weil al-Asˇʿarı¯ also bewusst nicht immer – wenn er sich auch oft darum bemüht – univoke Begriffe verwendet. Vielmehr kann sein waqaʿa sowohl ‚überhaupt erst ins Sein und Sosein setzen; schaffen‘ bedeuten, als auch ‚sich aneignen‘. Was Letzteres eigentlich ist, verrät er zwar immer noch nicht genauer (391, dazu unten). Aber damit ist nun die Frage zu stellen: 5. Welches Verhältnis besteht beim Aneignen zwischen dem Vermögen und dem Entstandenen? Bisher haben wir ja bewusst nur vage umschrieben und umständlich vom ‚Entstandensein im Zusammenhang mit menschlichen Tun‘ gesprochen. Die Präposition, die al-Asˇʿarı¯ setzt, ist aber „durch“. Das ist keineswegs vage; und er sagt ausdrücklich, das Vermögen, sei es nun ewig oder nicht, ist Ursache (sabab oder auch ʿilla, 392).29 Das Verhältnis zwischen Vermögen und Entstandenem ist also kausal: Es besteht eine Verursachungsbeziehung, auch im Falle der Aneignung. Dies ist nun hochbedeutsam. Denn damit täuschen sich ascharitische Ausleger wie schon Ansarı¯ (st. 1089) ˙ über die Position des Meisters. al-Asˇʿarı¯ meinte keineswegs, die Aneignung habe sich überhaupt nicht auf Dass und Was des Entstandenen ausgewirkt, also weder auf sein Entstehen noch auf seine Gestaltung; wie gesagt: Dann wäre Aneignung nur so etwas wie ein Wahrnehmungsvorgang. Natürlich meint al-Asˇʿarı¯ auch nicht, dass der kasb das Entstandene hervorgebracht hätte. Nein, das kann nur ein Schöpfungsakt, und der ist Gott allein vorbehalten. Aber dem Menschen kommt doch ein gewisses Mitgestalten zu. Nicht ob es ist, aber wie es ist („ʿala¯ sifatin – in Bezug auf Eigenschaft“), kann das menschliche Vermögen mitbestimmen. Mit der Präposition „durch“ in seiner Aneignungs-Definition – „was durch ein ins Sein gebrachtes Vermögen entsteht“ – setzt al-Asˇʿarı¯ sich sozusagen gegen die späteren radikal-ascharitischen Epigonen ab. Bei aller Präzision und Distinktion blieb doch nach wie vor unklar, was ‚aneignen‘ eigentlich besagt. al-Asˇʿarı¯ hatte ja definiert: „was durch ein selbst erst ins Sein gebrachtes Vermögen entsteht“. Offenbar führt aber die Bestimmung über den Begriff ‚Vermögen‘ nicht weiter. Daher versucht es al-Asˇʿarı¯ selbst über den Willensbegriff.30 Das lag auch nahe, da er die angeeignete Handlung ja schon von der unwillkürlichen, erzwungenen unterschieden hatte. Was wir uns aneignen, geschieht, wenn wir es wollen – im Sinne von ‚falls‘, ‚sowie‘ und ‚solange‘. alAsˇʿarı¯ sagt nun: Ja, Gott schafft die angeeignete Handlung, aber er schafft sie eben, wann wir sie wollen. al-Asˇʿarı¯s Sicht lässt sich daher so wiedergeben: 29 Gimaret, La Doctrine d’al-Ash‛arı¯, 392; vgl. das dort 139f. Angegebene. 30 Gimaret, La Doctrine d’al-Ash‛arı¯, 393, Kita¯b al-Lumaʿ, § 52.

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‚Angeeignet‘ ist jene Handlung, die Gott ständig in uns schafft, wie wir sie wollen (vgl. 393). Das Ergebnis dieses langen Durchgangs durch die Handlungstheorie al-Asˇʿarı¯s lässt sich jetzt endlich feststellen: Faktisch heißt aneignen also wollen (395). Insgesamt hinterlässt die ascharitische Handlungstheorie den Eindruck, sie wolle um jeden Preis präzise sein, selbst auf Kosten ihrer Überzeugungskraft.

2.6

Ein klassisch-sunnitischer Meisterdenker: al-Ma¯turı¯dı¯

Die klassische sunnitische Theologie hat neben al-Asˇʿarı¯ noch ein zweites großes Vorbild, al-Ma¯turı¯dı¯ (st. 941).31 Anders als al-Asˇʿarı¯ lebt und arbeitet er nicht im Irak, sondern im heimatlichen Samarkand in Usbekistan. Er ist ebenfalls kein Muʿtazilit, sondern wie al-Asˇʿarı¯ gehört er zur Rechtsschule der Hanafiten. al˙ Asˇʿarı¯ wird genaugenommen allerdings zugleich von zwei sunnitischen Rechtsschulen als Meisterdenker beansprucht, nämlich von der Hanafı¯ya und der Sˇa¯˙ fiʿı¯ya. al-Ma¯turı¯dı¯s Spät- und Meisterwerk ist das Kita¯b at-Tawh¯ıd. Es ist die ˙ älteste erhaltene theologische Summa aus dem islamischen Kulturkreis (209). Aber ist al-Asˇʿarı¯ nicht einige Jahre älter? Das schon; aber von ihm gibt es kein derart umfassendes Werk. Auch das soeben mit seiner Handlungstheorie zur Sprache gebrachte Kita¯b al-Lumaʿ ist eine recht kurze Schrift. al-Ma¯turı¯dı¯ kennt offenbar den arabischen Kollegen und sein Denken nicht. al-Asˇʿarı¯ nimmt das Werk des Denkers aus Samarkand dagegen zur Kenntnis. Er fasst auch zusammen, worum es im Kita¯b at-Tawh¯ıd grundsätzlich geht. Es will, sagt sein Autor, ˙ viererlei, nämlich (a) zeigen, dass die Welt nicht ewig, sondern geschaffen ist; (b) zeigen, dass sie Werk eines einzigen Schöpfers ist; (c) zeigen, dass Muhammad ˙ wahrhaft Gottes Gesandter ist; (d) befolgen, was Muhammad über Glauben und ˙ religiöse Pflichten mitgeteilt hat (221f., Fußnote 1). Dabei will sich das Kita¯b atTawh¯ıd vor allem mit zwei Gegnergruppen auseinandersetzen, nämlich mit der ˙ den Dualisten (der tanawı¯ya) sowie mit der sogenannten dahriya. Diese Rich¯ tung behauptete die Ewigkeit des Materiellen. Das kann zweierlei bedeuten; entweder: die Welt war schon immer, wie sie jetzt ist – oder: ein urewiges materielles Prinzip (asl) bestimmt die Welt. Wie seine Diskussionspartner bietet al˙ Ma¯turı¯dı¯ eine ausgefeilte Handlungstheorie. Sie zerfällt in zwei große Teile, nämlich Menschenhandlungen und Gottes Handlungen.

31 Ulrich Rudolph, Al-Ma¯turı¯dı¯ und die Sunnitische Theologie in Samarkand, Leiden 1996. Seitenangaben beziehen sich im Folgenden auf Rudolphs Standardwerk. Bei wörtlichen Zitaten wurde die Schreibweise der Vorlage beibehalten; nur die von Rudolph gerade gestellten Transkriptionen aus dem Arabischen sind hier kursiv gesetzt.

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Immer wieder wird sich al-Ma¯turı¯dı¯s Stärke zeigen, wenn er sich in eine Kontroverse hineinbegibt. Er beschreibt zwei einander entgegenstehende theologische Positionen, bildet dann aber nicht einfach einen Kompromiss. Es gelingt ihm vielmehr stets, sich von den Vorgaben der beiden Extreme zu befreien, deren jeweilige Anliegen aber aufzunehmen. al-Ma¯turı¯dı¯ ist ein meisterhafter Synthetiker (342). Denn er findet eine höhere Einsicht zwischen zwei sich widersprechenden Ansichten, indem er im Augenblick der Aporie kreativ die Ebene wechselt. Das werden wir vor allem in seiner Theorie des göttlichen Handelns sehen. Zunächst aber zur Frage des menschlichen Handelns.

2.7

al-Ma¯turı¯dı¯s Theorie menschlichen Handelns im Kontext

Die Handlungstheorie des Denkers aus Samarkand muss im historischen Kontext erklärt werden. Kurz bevor al-Ma¯turı¯dı¯ sich an die Frage macht, war in Transoxanien der Muʿtazilit Kaʿbı¯ aufgetreten und hatte die Lehre der Hanafiten ˙ in Frage gestellt. In Bezug auf die Handlungstheorie stellen sich die Anhänger Abu¯ Hanı¯fas, wie man das ja häufig tut, als Mittelweg zwischen zwei Extrem˙ positionen dar. Die Hanı¯fiten betrachten die Vertreter beider Sichten als Häre˙ tiker: ˇ abriten. Das Wort gˇabr32 ist uns bereits begegnet (2.2). Es sind zum einen die G ˇ abriten haben „die Es bedeutet ‚Einrenkung, Nötigung, Determinismus‘. Die G Handlungen völlig dem Einfluß des Menschen entzogen und allein Gott zugeschrieben. Sie konzentrierten sich ganz auf den Aspekt, daß Gott die Taten erschaffe. Daraus folgerten sie in unzulässiger Weise, er sei der einzige Handelnde und müsse alles verantworten, während der Mensch für sämtliche Geschehnisse entschuldigt sei“ (337). Die anderen Gegner der Hanafiten in der Frage der ˙ menschlichen Handlungen sind die Qadariten. Sie „verfielen angeblich in den umgekehrten Fehler. Ihre Lehre bestehe darin, Gottes Anteil an den Handlungen zu leugnen und alle Aspekte einer Tat, also Wille, Hervorbringung und Ausführung dem Menschen zuzuschreiben“ (337). Beide Positionen sind offenˇ abriten nehmen den Menschen kundig theologisch hochproblematisch. Die G jegliche Verantwortung für ihr Tun, die Qadariten nehmen Gott seine Macht. Die Anhänger Abu¯ Hanı¯fas tragen als ihre Lösung ein synergistisches Modell vor: ˙ Gott will, bestimmt, beschließt und erschafft sämtliche Handlungen (masˇ¯ıʿa, qadar, qada¯ʾ und halq sind Gottes); aber der Mensch führt sie aus (der fiʿl ist der ˙ ˘ menschliche Beitrag). Die Ausführung geschieht im Falle einer guten Tat unter Gottes Beistand; bei einer bösen Tat aber aufgrund von Gottes ‚Alleinlassung‘ (tawfı¯q hidla¯n, 337). ˘ ¯ 32 Vgl. ‚Algebra‘ in unseren Sprachen.

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Eine Frage war dabei offen geblieben: Erhält der Mensch sein Handlungsvermögen (seine istita¯ʿa) – das eine Möglichkeit zweier gegensätzlicher Hand˙ lungen einschließen muss – bei oder vor der Tat (maʿa / qabla l-fiʿl)? Erhält der Mensch sein Handlungsvermögen erst ‚bei‘ der Tat, so untersteht der gesamte Handlungsablauf der Hoheit des Schöpfers. Das wollten die Hanafiten betonen; ˙ daher entschieden sie sich für ‚bei‘. Die Muʿtaziliten (und Karra¯miten) dagegen legten Wert darauf, dass dem Menschen das Handlungsvermögen schon ‚vor‘ der Ausführung verliehen ist. Ihnen ging es ja um Gottes Gerechtigkeit; und die schließe ein, dass Gott von seinen Geschöpfen nichts verlangt, wozu er sie Geschöpfe nicht erst einmal ermächtigt hat (338). Das war die Diskussionslage, als al-Ma¯turı¯dı¯ sich einschaltete. Er antwortete „wie ein Scholastiker, indem er beide Positionen berücksichtigte und eine subtile Unterscheidung traf“ (341). Man sollte seine Lösungen aber nicht für sophistisch oder kompromisslerisch halten. Wie löst der Synthetiker nun das Vor-oder-BeiProblem der Handlungsfähigkeit? Für ihn gibt es bei der Beschreibung einer Handlung im Menschen zweierlei Befähigung. Man könnte sie Verfügbarkeit und Verfügenkönnen nennen. Die erste ist „die Verfügbarkeit des Körpers und des Verstandes“ (341); und sie hat man natürlich bereits vor der Tat. Dass der Mensch aber tatsächlich von den zur Verfügung stehenden Mitteln Gebrauch machen kann, das sei eine zweite Fähigkeit, sagt al-Ma¯turı¯dı¯ – und die bekomme man erst bei der Tat. Schließlich zur entscheidenden Frage einer Theologie menschlichen Handelns, des Zueinanders von göttlichem und menschlichem Tun. al-Ma¯turı¯dı¯ trägt einen synergistischen Ansatz vor, klärt ihn aber wiederum streng begrifflich. Er vertritt selbstverständlich ein göttlich-menschliches Zusammenwirken; und er bringt es nun so zum Ausdruck: Gott erschafft, der Mensch führt aus (halq / fiʿl). ˘ al-Ma¯turı¯dı¯s Begründung lautet, dass jede Tat mehrere Aspekte hat (gˇiha¯t, pl. von gˇiha, 340). Diese müsse man in Verbindung (ida¯fa) bringen, und zwar eben zum ˙ Teil mit Gott, zum Teil mit den Menschen. Das ist zwar zirkulär argumentiert, weil er einfach voraussetzt, dass jede geschöpfliche Handlung irgendwie von Gott und irgendwie von uns kommt, schafft aber eine beruhigende Klarheit. Entscheidend ist jedoch, dass al-Ma¯turı¯dı¯ hier einen Optionsbegriff einführt. Er geht von einem Diktum des Schulgründers Abu¯ Hanı¯fa aus, demzufolge der Mensch beim ˙ Handeln immer das Vermögen zu zwei entgegengesetzten Handlungen hat (alistita¯ʿa li-d-diddayn). Hier formuliert al-Ma¯turı¯dı¯ nun: der Mensch hat die freie ˙ ˙ ˙ Wahl (ihtiya¯r, 340); dieses Wort, aus h-y-r, ‚bevorzugen‘ gebildet, ist uns bereits ˘ ˘ bei den Muʿtaziliten begegnet (oben, 2.2). Sein Gegenbegriff wäre ‚Naturzwang‘: tabʿ. ˙

194 2.8

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al-Ma¯turı¯dı¯s Handlungstheorie zwischen ascharitischem und muʿtazilitischem Anliegen

In Bezug auf Gottes Handlungen hat al-Ma¯turı¯dı¯ ebenfalls Eindrucksvolles zu bieten. Er stellt zunächst zwei Fragen, über die mit der Muʿtazila zu streiten ist: Sind Gottes Tätigkeiten ewig? Und haben Gottes Tätigkeiten eine von Gott selbst abgetrennte Existenz? (330) Dann aber behandelt al-Ma¯turı¯dı¯ die Frage, ob Gottes Tätigkeiten „einer inneren Gesetzmäßigkeit folgen“ (330). Vom Menschen aus formuliert, ließe sich die Frage auch wie folgt stellen: Führt Gott seine Handlungen so aus, dass unser Verstand darin ein leitendes Prinzip erkennen kann? Auch bei dieser dritten Frage steht der Denker aus Samarkand in Auseinandersetzung mit den Muʿtaziliten. Auf dem Spektrum der islamischtheologischen Möglichkeiten zwischen Orientierung an koranischen Vorgaben und menschlicher Vernunft finden sich ihre Antworten regelmäßig und deutlich im Bereich der Vernunftbasiertheit. Was bedeutet das in Bezug auf die Einsehbarkeit göttlicher Handlungen? Um hier weiterzusehen, ist ein Blick in den Koran angebracht. Er liefert eine Vokabel, die das Wie göttlichen Handelns bezeichnet: Gottes Weisheit. al-Ma¯turı¯dı¯ wird sie, wie unten zu zeigen ist, äußert produktiv einsetzen. Zunächst aber der angekündigte Blick in den Koran und seine unmittelbaren Folgen. Sowie Muh ammad mit den Seinen in Medina angekommen ist, ergehen ˙ aus seinem Munde koranische Suren, in denen es heißt, dass Gott „der Mächtige und Weise“ ist (al-ʿazı¯z al-h akı¯m), und das dutzendemal. Nun ˙ wird der Koran die Eigenschaft der Weisheit Gottes immer mit einer anderen Eigenschaft zusammenbringen. Neben dem häufigsten Adjektivʿazı¯z – ‚mächtig‘ (47-mal) sind es ʿalı¯m – ‚wissend‘ (36-mal), h abı¯r ‚kundig, be˘ scheidwissend‘ (dreimal), sowie auch ‚umkehrbereit, umfassend, gepriesen und erhaben‘ (tawwa¯ b, wa¯ siʿ, h amı¯d,ʿalı¯). Dabei ist die Weisheit weder Gott ˙ vorbehalten, noch einfach so jedem zugänglich: Gott gibt Weisheit (h ikma), ˙ wem er will; und er gibt sie vor allem seinen Propheten. Die muʿtazilitischen Theologen der unmittelbar auf den Koran folgenden Jahrhunderte werden nun eine andere Eigenschaft Gottes mit seiner Weisheit zusammenstellen. Sie werden die Lehre vertreten, dass er „gerecht und weise“ ist. Von Gottes Gerechtigkeit reden sie mit einem unkoranischen Wort (ʿadl). Der Koran hatte für ‚Gerechtigkeit‘ nämlich qist. Es ist schon einigermaßen verwun˙ derlich, dass sie sich ausgerechnet für diese beiden Eigenschaften entscheiden. Die Vorrangigkeit der Gerechtigkeit könnte auf Debatten mit Juden und Christen zurückgehen. Jedenfalls hat sie den Vorzug, dass sie einen Maßstab darstellt, mit dem sich jederlei Handeln, auch göttliches, beurteilen lässt – aus ascharitischer Sicht müsste man sagen: Die Theologen wollen, horribile dictu, auch göttliches Handeln menschlichem Urteil un-

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terwerfen, zumindest einem von jedem Menschen anlegbaren Maßstab. Genau darum ging es den Muʿtaziliten tatsächlich. „Sprach ein Muʿtazilit von Gerechtigkeit und Weisheit, so verstand er darunter rational erfassbare Normen. Sie sollten unabhängig von Gottes Befehlen und Verboten bestehen“ (330). Die Muʿtazila wandte sich also gegen eine heute so genannte divine command-Theorie. Ihr zufolge ist gut, was Gott als solches festlegt. Gerechtigkeit und Weisheit als rational erfassbare und auch von Gott zu befolgende Normen sollen dagegen „objektiv angeben, was gut und was schlecht ist, was gerecht und was weise ist“ (330). Was aber meinten die Muʿtaziliten hier mit ‚objektiv‘? „Für den Menschen bedeutete dies, daß er mit seinem Verstand das Gute und das Schlechte erkennen konnte“ (330). Das hatte nun eine Folge sowohl für die Theorie des menschlichen Handelns – in Bezug auf die Fundamentalethik – als auch für die Theorie göttlichen Handelns – in Bezug auf die Nachvollziehbarkeit seiner Ratschlüsse: Der Mensch „unterlag also schon deswegen, weil er ein vernunftbegabtes Lebewesen war, einer moralischen Pflicht. Aber auch für den Schöpfer blieb das Konzept nicht ohne Konsequenzen. Denn Gott mußte sich, um ein weiser und gerechter Gott zu sein, ebenfalls nach diesen Normen richten. Sein Handeln war also rational kalkulierbar; es folgte einem unwandelbaren Maßstab“ (330). Das hatte nun eine weitere Folge für die Theorie vom göttlichen Handeln. Denn so kam es, dass viele Muʿtaziliten „die Lehre vom ‚Optimum‘ vertraten. Sie besagt nämlich, Gott vollbringe nicht irgendwelche unvorhersehbaren Taten, sondern wirke stets das, was für die Adressaten seiner Handlung ‚das Heilsamste‘ (al-aslah) sei“ (331). ˙ ˙ Soweit also die muʿtazilitische Sichtweise. „Völlig entgegengesetzt lautete der Ansatz der Asˇʿariten. Sie lehnten jeden Gedanken an eine objektive Norm oder auch nur an rational nachvollziehbare Wertmaßstäbe ab. Was Weisheit und was Gerechtigkeit sei, bestimmt für sie allein Gott selber, und diese Bestimmung erfolgt in einer Weise, die keine Rechtfertigung zuläßt. Denn, so betonten sie, Gott kann tun und lassen, was er will. Jede seiner Handlungen ist allein deswegen, weil sie von ihm stammt, weise und gerecht. Er hätte ebenso gut das Gegenteil vollbringen können. Es gibt in dem, was er tut, und auch in dem, was er befiehlt oder verbietet, keine intelligible Struktur. Folglich kann der Mensch auch nicht auf rationalem Wege seine Pflichten erkennen. Er ist vielmehr auf die Offenbarung angewiesen, um festzustellen, was gut und was schlecht ist“ (331). Zwischen diesen beiden Ansätzen sieht sich al-Ma¯turı¯dı¯. Er will eine Theologie vortragen, die zugleich vernünftig Nachvollziehbares vertritt, die aber deswegen Gott weder als unfrei darstellt noch einem menschlichen Urteil ausliefert. „Die beiden Positionen hätten konträrer kaum sein können. Aber trotzdem nahm jede für sich in Anspruch, einen wesentlichen Zug in der Beschreibung Gottes zu garantieren. Asˇʿarı¯ betonte die göttliche Allmacht und die göttliche Freiheit. Er

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wollte vermeiden, daß Gott an irgendetwas gebunden sein könnte, und nahm dafür den Eindruck, daß sein Schöpfer willkürlich agierte, billigend in Kauf. Die Muʿtaziliten suchten dagegen nach einem Gott, der gerecht war und diese Gerechtigkeit auf verständliche Weise mitteilte. Deswegen postulierten sie einen Maßstab, der sowohl für die Handlungen des Schöpfers als auch für die Handlungen der Menschen gelte. Aber das barg andererseits in sich die Gefahr, daß man Gott an ein äußeres Gesetz band und ihm damit seine unveräußerliche Allmacht und Freiheit nahm“ (331). Wie konnte al-Ma¯turı¯dı¯ hier weiterkommen? Er „versuchte seinerseits, ein Konzept zu entwickeln, das auf beide Aspekte, – die göttliche Souveränität und die Durchschaubarkeit der göttlichen Handlungen – in ausreichender Form Rücksicht nahm. Der zentrale Begriff, den er dabei verwendete, war die Weisheit.33 Sie sollte nach seinem Verständnis eine absolute, nicht mehr hinterfragbare Eigenschaft des göttlichen Wesens sein. Daraus folgte zunächst, dass der Gott Ma¯turı¯dı¯’s, wie der Gott Asˇʿarı¯’s, in völliger Freiheit handelte. Er tat nicht, was ohnehin gut oder schlecht war, sondern erließ Befehle und Verbote, die festlegten, was gut und schlecht sei“ (331f.). Hat sich al-Ma¯turı¯dı¯ damit einfach auf die ascharitische Seite einer absolutistischen, nicht-rationalen divine command-Theorie geschlagen? Nein. Denn im Unterschied zu al-Asˇʿarı¯ meinte alMa¯turı¯dı¯, dass sich aus den von Gott erlassenen Bestimmungen „sehr wohl ein stabiles und intelligibles System von Normen ergebe. Denn Gott agiert immer weise. Er hält sich an die Normen, die er einmal gesetzt hat. Somit gewinnt der Mensch auch die Möglichkeit, die göttliche Ordnung in der Schöpfung zu verstehen, und kann mit seiner Ratio erkennen, was gut und schlecht ist – wie es die Muʿtaziliten gefordert hatten“ (332).

2.9

al-Ma¯turı¯dı¯s Lösung: eine Theologie der göttlichen Weisheit

Wie ist al-Ma¯turı¯dı¯s Rettung der Freiheit Gottes und zugleich der Einsehbarkeit des Gotteshandelns nun genauerhin zu verstehen? Zwar antwortet das Kita¯b atTawh¯ıd nicht en bloc darauf; der Autor hat seine Antwort darauf vielmehr an ˙ verschiedenen Stellen des Buches eingebracht. Ulrich Rudolph systematisiert alMa¯turı¯dı¯s Theologie der göttlichen Weisheit (hikma) als Lösung des Freiheits˙ und Verstehbarkeits-Dilemmas in drei Gedanken. Um der Übersichtlichkeit willen werden sie im Folgenden als Absolutheits-, Erwiesenheits- und Angemessenheits-Gedanken bezeichnet. 33 Vgl. hierzu auch Hikmet Yaman, Prophetic Niche in the Virtuous City. The Concept of Hikmah in Early Islamic Thought (= Islamic Philosophy, Theology and Science. Texts and Studies, Band 81), Leiden 2011.

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Der Absolutheits-Gedanke besagt, dass Gott allwissend und weise eben in absolutem Sinne ist. Mit diesem Gedanken will al-Ma¯turı¯dı¯ zum Ausdruck bringen, „daß es keinen Maßstab gibt, mit dem sich Gottes Weisheit messen ließe. Sie hat ihren Grund nur in sich selbst. Denn wer sollte es wagen, den allwissenden Schöpfer zur Rechenschaft zu ziehen“ (332)? Das ist das Argument, mit dem alMa¯turı¯dı¯ die Theorie ablehnt, Gottes Handlungen seien vorhersagbar und beurteilbar, da Gott immer das Beste tun müsse. Hiermit weist er also die muʿtazilitische aslah-Theorie zurück. ˙ ˙ Den zweiten Gesichtspunkt könnte man, wie gesagt, den Erwiesenheits-Gedanken nennen. Er besteht darin, „daß sich Spuren der Weisheit überall in der Welt finden. Gott hat also seine Ratschlüsse nicht verborgen, sondern in einer allen Menschen verständlichen Form mitgeteilt“ (332). Gott erweist der Schöpfung seine Weisheit auf drei unterschiedlichen Ebenen. Man könnte von Weisheit im Kosmos, im Ethos und im Übel sprechen. Sie zeigt sich nämlich: „in der harmonischen Lenkung (tadbı¯r) der Schöpfung; in der Rationalität der ethischen Normen, ja sogar darin, daß Gott aus bestimmten Gründen auch schädliche [da¯rr] Lebewesen und Substanzen […] geschaffen hat. In all diesen Fällen ist die ˙ göttliche Weisheit am Werke. Und sie manifestiert sich so planmäßig, daß der Mensch ihre Spuren verstehen kann“ (332f.). Bezüglich der ‚Weisheit im Ethos‘ nimmt al-Ma¯turı¯dı¯ allerdings aus Absetzungsgründen eine Einschränkung vor. Der Denker aus Samarkand setzt bei der zutreffenden Beobachtung an, dass der menschliche Verstand ja nicht in jedem Fall das Gute vom Schlechten unterscheiden kennt. „Er kennt nur die grundsätzlichen Richtlinien“ (332). Nun kann sich al-Ma¯turı¯dı¯ nach zwei Seiten abgrenzen: Denn in vielen Einzelfällen treten Gutes und Schlechtes „gemeinsam auf (was den Dualisten entgangen ist). Hier bedarf der Mensch häufig der göttlichen Unterweisung, um die richtige Bewertung vorzunehmen“ (332). Damit hat alMa¯turı¯dı¯ zweitens Stellung bezogen gegen die Muʿtazila. Denn die Weisheit ist bei ihm nicht der Richter, notfalls auch über Gott, wie sie es im muʿtazilitischen Denken ist. Für al-Ma¯turı¯dı¯ ist die Weisheit vielmehr das „Instrument, mit dem Gott uns erlaube, das Gute vom Schlechten zu trennen“ (332). Zum dritten Punkt, dem Angemessenheits-Gedanken, geht der Denker aus Samarkand über, indem er sich fragt: Wenn sich die göttliche Weisheit nun überall zeigt, woran erkennen wir sie dann? Hat sie ein überall zu findendes Charakteristikum? al-Ma¯turı¯dı¯ legt dar, dass sich Gottes Weisheit „auf zwei Wegen (tariqa¯ni)“ äußere. Der eine sei der Weg der Güte (fadl), der andere der ˙ ˙ Weg der Gerechtigkeit (ʿadl). „Die Güte Gottes hält Ma¯turı¯dı¯ für unermeßlich. Sie kennt keine Grenze (niha¯ya). Also kann man auch niemals behaupten, daß in einer göttlichen Handlung das Maximum an Güte (al-afdal) zum Ausdruck ge˙ kommen sei“ (333). Damit hat al-Ma¯turı¯dı¯ auch den möglichen Einwand abgewendet: Wenn Gott in der Schöpfung das Allergütigste vollbringt, warum ist dann

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doch nicht alles so vollkommen gut? Wenn al-Ma¯turı¯dı¯ hier von behaupteten Superlativ-Taten Gottes spricht, bereitet er aber außerdem eine weitere Absetzung von der Muʿtazila vor. Sie hatte ja Gott begrifflich darauf festlegen wollen, immer das Wohltätigste zu tun. Aus Gottes unendlicher Güte lässt sich das nun für al-Ma¯turı¯dı¯ nicht ableiten, und zwar schon aus der formalen Überlegung heraus nicht, dass die göttliche Güte grenzenlos ist, in einer vollbrachten Maximalgüte aber plötzlich ihre Grenze hätte. Gott ist jedoch weise, indem er zugleich grenzenlos gütig und grenzenlos gerecht ist. Von grenzenloser Gerechtigkeit will al-Ma¯turı¯dı¯ nun aber offenkundig nicht wie bei der Güte in dem Sinne reden, dass Gerechtigkeit in der Welt von Gott nie vollkommen verwirklicht wird. Der Denker aus Samarkand argumentiert daher: „Die Gerechtigkeit dagegen lässt sich auf eine Richtschnur festlegen. Aber sie besteht wiederum nicht darin, daß Gott etwas angeblich Maximales, also zum Beispiel das Heilsamste (al-aslah) ˙ ˙ vollbringe. Gerecht ist Gott vielmehr deswegen, weil er jedes Ding so behandelt, wie es ihm [dem Ding] angemessen ist“ (333). Gerechtigkeit bezieht sich immer auf etwas Bestimmtes mit seinen bestimmten Eigenschaften. Gerechtigkeit ist daher nicht etwas Schlechthinniges, mit dem Gott die Geschöpfe maximal zuschüttet. Seine Gerechtigkeit übt er ja in Weisheit aus. Wie tut er das? Er berücksichtigt darin sozusagen das bereits Gegebene in der Weise, wie es sich gibt. „Dafür finden sich bei Ma¯turı¯dı¯ zwei Formeln. Die eine, knappere lautet, weise zu sein bedeute, das Richtige zu treffen (al-isa¯ba). Die andere wird fast im Sinne ˙ einer Definition verwendet und besagt, Gott sei weise, weil er ‚jedes Ding an seinen (spezifischen) Platz stellt‘ (wadʿu kulli ˇsayʾin mawdiʿahu¯)“ (333f.). ˙ ˙ Diese Formel ließe sich, wie gesagt, als Angemessenheits-Gedanke bezeichnen. „Damit ist der entscheidende Punkt angesprochen, denn damit gelingt es Ma¯turı¯dı¯, die beiden Pole, um die es ihm geht, zu verbinden. Er beschreibt Gott als das Prinzip, das alles ‚setzt‘ (wadaʿa) und nach seinen [Gottes] Regeln festlegt. ˙ Aber er läßt auch den Geschöpfen ihr Recht. Denn sie werden nicht willkürlich positioniert, sondern sind Teil einer Ordnung, in der jedes Ding ‚seinen Platz‘ (mawdiʿuhu¯) besitzt. Das aber gilt, wie gesagt, für sämtliche Handlungen Gottes, ˙ also für jeden Akt, in dem er mit seiner Schöpfung in Verbindung tritt. Denn sie alle sind weise. Und das bedeutet für unseren Theologen, daß sie frei gewählt und doch dem rationalen Verständnis zugänglich sind“ (334). Was hier anklingt, ist offenkundig der platonisch-aristotelische Gedanke der proportionalen Gerechtigkeit, des jedem jeweils ‚Zukommenden‘ (πρέπον), des suum cuique.34 Die Verstehbarkeit Gottes, für die al-Ma¯turı¯dı¯ plädiert, ist damit keine Kalkulierbarkeit. Man kann nicht vorhersagen, welchen Ort Gott jemandem zu 34 „Nam iustitia, quæ suum cuique distribuit“: Cicero, de Natura Deorum, 3,38; vgl. Aristoteles, Nikomachische Ethik, V 7, 1131 b 16f., und Wolfhart Pannenberg, „Verbindliche Normen ohne Gott?“ (1996), in: ders., Beiträge zur Ethik, Göttingen 2004, 147–157, 154.

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einem bestimmten Zeitpunkt zuweisen wird. Denn das hängt stets davon ab, was der jeweiligen Person oder Sache dann zukommt, was sich wiederum danach richtet, als was sie sich erwiesen haben wird. In Gottes Weisheit sieht al-Ma¯turı¯dı¯ also eine Art Treue zum Vorhandenen, eine Art Analogie. Daher kann man nur im Nachhinein sehen, dass Gottes Platzzuweisung stimmt, nämlich Sinn ergibt und passt. Verstehbar heißt damit für al-Ma¯turı¯dı¯ nicht, dass etwa logisch vorhersagbar, sondern dass es anschließend nachvollziehbar ist. So ist dem Synthetiker aus Samarkand ein Ausgleich zwischen Rationalität und Koranizität geglückt.

3.

Drei Fragen zum Schluss

3.1

Gründende Texte und Ereignisse als Matrix für spezifische Handlungstheorien

Kann man sagen, dass die Gedanken der klassischen islamischen Theologen typisch für den Islam und diejenigen Wolfhart Pannenbergs typisch sind für das Christentum? Besser gefragt: Inwieweit haben sich die gründenden Ereignisse und Texte des Islam einerseits und der Kirche andererseits auf deren jeweilige Handlungstheorien ausgewirkt? Die Frage unterscheidet bewusst nicht scharf zwischen Texten und Ereignissen. Denn zum einen ist der Koran ja unter mehrfacher Rücksicht Text und Ereignis zugleich: Er lässt sich als göttliche Interaktion mit der entstehenden Gemeinde verstehen und als performativer Vollzug dessen, was er verkündet – etwa symmetrische Verständlichkeit in der Weltordnung und im Surenaufbau.35 Zum andern haben der christliche Glaube und seine Gemeinschaft nicht im Text ihren Ausgangspunkt, sondern in den bezeugten Osterereignissen. Um eine Handlungstheorie wie die des Ma¯turı¯dı¯ als spezifisch islamisch zu erklären, genügt es nun nicht, etwa seine Weisheitstheologie mit koranischen Belegen für die Rede von Gottes Weisheit zu unterfüttern. Man muss ja mitberücksichtigen, dass er damit eine theologische Konfliktlage zu lösen versucht, die sich bei muslimischen Denkern vor ihm ergeben hatte. Man muss also erklären, wie es im Raum des Islam dazu kam, dass die eine Seite die Allmacht Gottes, die andere Seite die Verantwortlichkeit der Menschen so stark betonen konnte, dass beide nicht mehr sahen, wie die Gegenseite ernsthaft beanspruchen konnte, islamisch zu sein. Hierauf lassen sich drei Antworten anbieten; sie lassen sich als

35 Angelika Neuwirth, Der Koran als Text der Spätantike. Ein europäischer Zugang, Berlin 2010, 608.

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‚allgemeine Ausdrucksproblematik‘, ‚koranische Situativität‘ und ‚Nicht-Linearität‘ überschreiben. 1. Zum einen handelt es sich beim Verhältnis von Gottesmacht und Menschenfreiheit ohnehin um eine Zuordnung, die irdische Kategorien an ihre Grenzen stoßen lässt. Die Begriffe unserer Sprachen haben sich an mittelgroßen materiellen Gegenständen gebildet; wenn sie nun das Ineinander von göttlichem und geschöpflichem Wirken zum Ausdruck bringen sollen, werden sie kaum mit derselben Präzision arbeiten können wie bei der Beschreibung von Gegenständen, mit denen unsere Begriffe vertrauter sind. Der gott-menschliche concursus ist nicht komplizierter, als wenn man mit Elektro- und Verbrennungsmotor zugleich fährt, sondern er ist anders. Christlicherseits bietet sich hier die Rede vom Geist an. Denn er bezeichnet sowohl das göttliche Wirken als auch das, was den Menschen aus sich heraus bewegt. 2. Zweitens ist der Koran nicht in dem Sinne ein Buch, dass er einer systematischen Gliederung folgt oder aus einer von Anfang bis Ende gleichen Situation entsteht, bei der sich ein Autor am Schreibtisch seine späteren Leser vorstellt. Vielmehr enthält der Koran Suren aus klar unterschiedlichen Zeiten, die Adressaten und ihre Bedürfnisse variieren im Laufe der Zeit stark: Der Koran ist lebendige Rede.36 Je nach Kontext aber wird der Koran eben einmal seine Hörerinnen und Hörer an ihre Verantwortung, ein andermal an Gottes Macht erinnern. 3. Eine dritte Antwort lässt sich leichter im Kontrast mit der Frühgeschichte des christlichen Denkens geben. Die islamische Theologie setzte sich nicht in gleicher Weise mit den Schriften und der geschichtlichen Erfahrung Israels auseinander. Daher steht im theologischen Vordergrund weniger das heilsgeschichtliche Muster „Ihr habt Böses gegen mich im Sinne gehabt, Gott aber hatte dabei Gutes im Sinn, um zu erreichen, was heute geschieht“ (Genesis 50,20). Der koranische Appell zielt vor allem auf verantwortliches Handeln, und die koranische Typologie nutzt häufig eine Musterwiederholung als je neu zu deutende Wiedervorlage. So ließ sich die islamische Theologie leichter von griechischlateinischen ethisch-philosophischen Sichtweisen prägen, die stärker Einzelhandlungen als das Gesamtgeschehen in den Blick nehmen. Umgekehrt sind für die Entstehung der christlichen Theologie ebenfalls drei Besonderheiten in Anschlag zu bringen, nämlich der ‚integrative Geschichtsblick‘, die ‚Teilnahme an der Gottesherrschaft‘ und die ‚Weisheit des Kreuzes‘.

36 Vgl. Ömer Özsoy, „Die Geschichtlichkeit der koranischen Rede und das Problem der ursprünglichen Bedeutung von geschichtlicher Rede“, in: Felix Körner (Übers.), Alter Text – neuer Kontext. Koranhermeneutik in der Türkei heute, Freiburg 22015, 77–101.

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1. Das Christentum konnte – wenn auch mit jahrhundertelangen Aussetzern – den Blick dafür leichter offen halten, dass sich auch das offenbar gegen Gottes Plan Verlaufende später als Gottes Heilswirken erweist. Dazu verhalf das Selbstverständnis der Christen, Teil der Geschichte Israels zu sein; so konnte und musste man nicht eine nur wenige Jahre dauernde Gründungsgeschichte verarbeiten, sondern Jahrhunderte des Lebens unter der Erwählung Gottes. Damit war den frühen Christen das Geschichtsdenken Israels selbstverständlich zugänglich, das mit außerordentlichen Enttäuschungen umzugehen gelernt hatte. 2. Dass Gottes Regierung das menschliche Handeln einbezieht, lag wohl auch daher dem christlichen Denken griffbereiter vor, weil es auf der Botschaft Jesu vom angebrochenen und den Menschen eröffneten Gottesreich – seiner Geschichtsherrschaft – gründet. 3. Dass Gottes guter Plan und das ungute Handeln der Menschen dennoch ineinanderwirken, das konnten die Verkünder und Denker der Kirche schließlich vor allem deswegen sehen, weil es ihrem Grundzeugnis entsprach: die Auferstehung Christi zeigte oder bewirkte, dass ein himmelschreiendes Unrecht, nämlich die Hinrichtung Jesu, Teil der guten Geschichte Gottes ist.

3.2

Christliche Geschichtstheologie islamisch anschlussfähig?

An manchen Stellen hatte sich die muslimische Theologie im 10. Jahrhundert offenbar verrannt und gelegentlich – zumindest in der Rechtsdiskussion – geradezu verrammelt.37 Faktisch ist die theologische Entwicklung aber immer einmal weitergegangen. Es fehlten jedoch häufig Denkräume, in denen die politische Macht Freiheit und Zeit gewährte, die man für die Entwicklung innovativer Theologien braucht. Daher kann man heute auch fragen, inwieweit geschichtstheologische Grundkategorien, wie sie Pannenberg einsetzt, islamischerseits anschlussfähig sind. Vor allem würde sich dafür ja der Gedanke eignen, dass Gott nicht nur in der Ordnung des Kosmos und am Gerichtstag regiert, sondern auch im eigenständigen Handeln der Menschen in der Geschichte. Da der Koran sich im Laufe seiner Verkündigungsgeschichte oft – und oft anders – auf Figuren und Ereignisse aus der Hebräischen Bibel bezieht,38 liegt 37 Gegen die Behauptung, dass ‚das Tor selbständiger Rechtsfindung im 9. Jh. geschlossen‘ worden sei (der sogenannte insida¯d ba¯b al-igˇtiha¯d), vgl. Wael B. Hallaq, „Was the Gate of Ijtihad Closed?“, in: International Journal of Middle East Studies 16 (1984), 3–41. 38 Vgl. Angelika Neuwirth, Der Koran als Text der Spätantike, sowie dies., Koranforschung – eine politische Philologie? Bibel, Koran und Islamentstehung im Spiegel spätantiker Textpolitik und moderner Philologie, Berlin 2014.

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dem aufgrund des Koran entstehenden religiösen Denken die Geschichtstheologie nicht fern. Sie hielte im Grunde die entscheidende Lösung bereit, nämlich die Erkenntnis, dass Gotteshandeln nicht in Konkurrenz zum Menschentun steht, sondern dieses einbaut. Diese Lösung wird zwar bisher islamischerseits nicht genutzt, ist aber nutzbar. Auch semantisch bietet der Koran dafür vier Anknüpfungspunkte. 1. Sure 8 erklärt, dass etwas, das offenkundig Menschentat war, nämlich die siegreichen Kampfhandlungen der Muslime gegen die Nichtmuslime in der Schlacht von Badr (17. März 624), in Wirklichkeit Gotteshandeln war: 8:17 Nicht ihr habt sie getötet, sondern Gott. Und nicht du hast jenen Wurf ausgeführt, sondern Gott. Und er wollte mit alledem seinerseits die Gläubigen etwas Gutes erleben lassen.39

2. Ein zweiter geschichtstheologisch nutzbarer koranischer Gedanke ist die Formel, dass Gott ein „Ränkeschmied“ (ma¯kir) ist. Ränke sind ja Pläne, die den Betroffenen erst einmal nicht offenbar sind. Gott hat demzufolge einen Plan, in dem auch die gegen sein Gesetz Handelnden, ohne es zu wissen, eine plangemäße Rolle übernehmen. Sure 8 erinnert Muhammad an seine unglückliche mekka˙ nische Vergangenheit: 8:30 Und damals, als die Ungläubigen gegen dich Ränke schmiedeten, um dich festzunehmen oder zu töten oder aus Mekka zu vertreiben! Sie schmieden Ränke. Aber auch Gott schmiedet Ränke. Er kann es am besten.

3. Koranische Gottesnamen, die auf seine schützende Herrschaft bezugnehmen, etwa al-Walı¯ (45:19) und al-Wa¯lı¯ (13:11) lassen sich drittens zwanglos auf seine Macht über die Menschengeschichte verstehen. 4. Als letzter Ansatzpunkt aber sei auf einen koranischen Zentralbegriff hingewiesen. Was Gott mit dem Koran den Menschen schenkt, ist „Rechtleitung“ (huda¯, als Substantiv erstmals mittelmekkanisch, 72:13). Gottes Rechtleiten aber ist ein Tun, bei dem die Menschen zugleich als Selbständige beteiligt sind: Denn ob man in die aufgezeigte Richtung geht, liegt an jedem selbst; und bei dem das Weltgeschehen allein in Gottes Leitungshand liegt: Denn er leitet recht, wen er will (verbal schon frühmekkanisch, 74:31).

39 Mit erläuternden, aber hier nicht eigens gekennzeichneten Ergänzungen aus der Übersetzung von Rudi Paret, Der Koran, Stuttgart 122014. Das theologische Gewicht des Verses sieht schon David Marshall, God, Muhammad and the Unbelievers. A Kuranic Study, Richmond (U.K.) 1999.

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3.3.

203

Offenbarung als Geschichte und die christliche Theologie der Religionen

Wie kann sich die Pannenberg’sche Sicht der ‚Offenbarung als Geschichte‘ auf eine christliche Theologie der Religionen auswirken? Seine Geschichtstheologie eignet sich für einen Neuansatz in der Theologie der Religionen ausgezeichnet. Es besteht bei einer Theologie der Religionen die Gefahr, eine religiöse Erscheinung, etwa eine Prophetenfigur oder einen Text mit Offenbarungsanspruch gegenüber nicht ausdrücklich religiösen Erscheinungen zu privilegieren. Die Geschichtstheologie befragt dagegen alle Ereignisse gleichermaßen, auch wenn sie selbst keinen religiösen Anspruch erheben. Die Religionen lassen sich so als Element der Geschichte sehen: zum Teil als deren Faktoren, zum Teil als deren Produkt. Damit verdient – um zwei Beispiele anzuführen – das Buch Mormon nicht, weil es einen religiösen Anspruch erhebt, automatisch mehr theologisches Interesse als der europäische Einigungsprozess. Wenn die umgreifende Kategorie nicht mehr ‚die Religionen‘, sondern ‚die Geschichte‘ ist, wird das, was man als ‚Religionen‘ versteht, nicht von vornherein als bedeutsamer vorgezogen – aber auch nicht als ‚eine weitere Religion‘ eingeebnet. Was aber meint dann „bedeutsam“? Zum einen kann man sich von der christlichen Geschichtstheologie daran erinnern lassen, dass Gott aus allem, unabhängig übrigens von seinem Wahrheits- und Gutheits-Gehalt, Gutes wirken kann. Aufgrund von Wolfhart Pannenbergs offenbarungstheologischem Geschichtsverständnis wäre aber noch entschieden Präziseres zu sagen: Das christliche Grundzeugnis besteht ja darin, dass im Christusgeschehen das Geschichtsende antizipiert ist.40 Nun muss man nicht sagen, dass damit alle anderen Ereignisse verblassen; im Gegenteil. Jedes menschliche Tun und jedes geschichtliche Ereignis kann sich davon beleuchten lassen – und kann sich daran messen lassen, inwieweit es die so erschienene Erfüllung der Welt widerspiegelt. Allerdings ist die österliche ‚Antizipation‘ nicht nur eine Verkündigung der Geschichtserfüllung, sondern auch deren vorwegnehmende Ereignung. Denn die von Ostern ergriffenen Geschöpfe werden ja tatsächlich schon mehr und mehr in das ewige Leben in der Gottesgemeinschaft hineinverwandelt. Ebenso können andere Ereignisse die Auferstehung nicht nur berichtend „widerspiegeln“, sondern auch eine tatsächlich Verwandlung bewirken. Dass das in der Feier der Eucharistie in besonders hohem Maße geschieht, werden die meisten Christen zugestehen; auch dass Schrifttexte eine solche Funktion haben, ist leicht zu sehen: Wer sie hört, kann von der Hoffnung der angebrochenen Gottesherrschaft, also von der Vorfreude ergriffen werden, die Menschen zu liebenden Geschöpfen wandelt. Nun kann das aber, wohl in weniger ausdrücklicher Weise, auch in der Begegnung mit Texten, Institutionen, Perso40 Vgl. OaG, 103.

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nen und Ereignissen geschehen, deren Ziel gar nicht bewusst darin besteht, die durch Ostern antizipierte Weltvollendung zu bezeugen und zu vermitteln. Der entscheidende Punkt ist also, dass man, ohne ein genaues Maß anlegen zu müssen, eine abgestufte Intensität von Antizipationen des Geschichtsendes im Laufe der Geschichte erkennen und so etwa auch den Koran – und den Islam – als Teil der Offenbarungsgeschichte Gottes verstehen kann.

Wolfgang Thönissen

Offenbarung in der Geschichte Joseph Ratzingers Verortung des Offenbarungsbegriffs im ökumenischen Diskurs im Vorfeld der Programmschrift „Offenbarung als Geschichte“

1.

Katholische Theologie auf dem Weg der Erneuerung

Die Überwindung der neuscholastischen Theologie und des mit ihr einhergehenden Neuthomismus1 ist, nachdem Papst Leo XIII. noch am Ende des 19. Jahrhunderts Thomas von Aquin der Kirche nachdrücklich als Lehrmeister und Kirchenlehrer empfohlen hatte2, das für die katholische Theologie des zwanzigsten Jahrhunderts herausragende Ereignis der neueren Kirchen- und Theologiegeschichte.3 Seitdem befindet sich die katholische Theologie auf dem Weg einer tief greifenden Veränderung, den sie bisher nicht abgeschlossen hat. Eine überzeugende Gestalt katholischer Theologie ist bis heute noch nicht gefunden worden und lässt sich möglicherweise auch nicht mehr finden. Dieser Umbruch in der katholischen Theologie, vorbereitet durch verschiedene einzelne theologische Entwicklungen nach dem Ersten Weltkrieg, begann dann erst nach dem Zweiten Weltkrieg. Die Krise der Theologie und der Kirche hatte sich in Folge des Krieges und unter den Umständen der Nachkriegszeit noch verschärft. Der Ost-West-Konflikt schien eine einheitliche Verkündigung der katholischen Botschaft über den ideologischen Graben hinweg auf lange Zeit unmöglich zu machen. Die Friedensfrage schob sich in den Vordergrund der theologischen Debatten. Der NordSüd-Konflikt forderte die Pastoral der Kirche heraus, da kirchliche Konzepte für die reichen Kirchen des Nordens nicht mehr auf die Kirchen anderer Kontinente angewandt werden konnten, zumal sich die Befreiungsbewegungen in Afrika und Asien teilweise mit Gewalt von der kolonialen Bevormundung durch europäische 1 H. M. Schmidinger, Art Neuscholastik, in: HWP, Bd. 6, 769–774; ders., Art. Neuthomismus, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 6, 779f; P. Walter, Art. Neuscholastik, in: LThK 3 1998, Bd. 7, 779–782. 2 Enzyklika „Aeterni Patris“ vom 4. August 1879: DH 3135–3140. 3 W. Kasper, Theologie und Kirche, Mainz 1987, 7.

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Völker zu lösen suchten. Die Gerechtigkeitsfrage stellte sich mit Macht ein. Die Ausrichtung der internationalen Politik nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs auf die Durchsetzung einer an Menschenrechten orientierten Friedenspolitik erforderte auch seitens der katholischen Kirche eine Neuausrichtung ihres Verhältnisses zu Welt, Staat und Gesellschaft. Die Kirche musste Stellung beziehen zu Fragen der Demokratie und der Freiheit der Völker und Nationen. Angesichts dieser weltpolitischen Entwicklungen war der Gegenwartsverlust des Christentums unübersehbar geworden. Als Symbol dieses Weltverlustes erschien der hinter den Mauern des Vatikans eingeschlossene Papst, abgeschottet von der Welt, aber auch weitgehend ohne die Möglichkeit, auf die Welt positiv zuzugehen. In diesem welthistorischen Kontext erwies sich das Zweite Vatikanische Konzil als Ausweg und als Neuanfang. Aggiornamento, der von Papst Johannes XXIII. eingebrachte Schlüsselbegriff wurde als Aufbruch in die Welt, als Sendung der Kirche in die Welt hinein verstanden und begeistert von den Gläubigen aufgenommen.4 Das Zweite Vatikanische Konzil ist dieser Herausforderung trotz andersartiger Vorgaben durch die römische Kurie erstaunlich schnell nachgekommen. Schon wenige Wochen nach Eröffnung des Konzils am 11. Oktober 1962 waren alle vorgefertigten kurialen Vorlagen vom Tisch.5 Das Konzil musste sich neu ausrichten. Es begann ein langer, mehrere Jahre dauernder, keineswegs spannungsfreier Weg in die Auseinandersetzung um die Neuausrichtung von Theologie und Kirche in der modernen Welt. Die wichtigsten theologischen Fragen des Konzils betrafen die Themen Offenbarung, Kirche, Welt, Religionsfreiheit, Ökumene und Religionen. Diese sind in den großen Dogmatischen Konstitutionen des Konzils entfaltet worden, dem sich wichtige Dekrete und Erklärungen anschließen. Das Konzil musste gleichsam Türen in neue Räume öffnen, in denen die Kirche ihre Sendung entfalten konnte. Die katholische Kirche konnte ihre Sendung allerdings nur entfalten, wenn es ihr gelang, das theologische Erbe des 19. Jahrhunderts und damit auch die Auswirkungen der Gegenreformation und des Konfessionalismus auf die sichtbare Gestalt der katholischen Kirche abzuschütteln. Das Konzil von Trient und die darauf folgende Konfessionalisierung hatten zwar zu einer inneren Festigung des katholischen Glaubens und des spirituell-sakramentalen Lebens der Kirche geführt. Die Gestalt einer auf sich selbst fixierten, nach innen und außen als geschlossene Gesellschaft durch Ju-

4 Vgl. zu diesen Zusammenhängen: W. Thönissen, Ein Konzil für ein ökumenisches Zeitalter. Schlüsselthemen des Zweiten Vaticanums, Paderborn/Leipzig 2013. 5 E. Fouilloux, Die Vor-Vorbereitende Phase (1959–1960). Der langsame Gang aus der Unbeweglichkeit, in: G. Alberigo / K. Wittstadt (Hg.), Geschichte des Zweiten Vatikanischen Konzils 1959–1965, Bd. 1: Die katholische Kirche auf dem Weg in ein neues Zeitalter, Mainz/Leuven 1997, 61–187.

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risdiktionsprimat und Unfehlbarkeitsdoktrin gestärkten Kirche hatte sich aber überlebt. Die rasch beginnenden theologischen Auseinandersetzungen richteten sich auf eine Gestalt der Theologie, die sich einseitig auf eine klare Unterscheidung von Natur- und Gnadenordnung festgelegt hatte.6 Damit war gemeint, das Verhältnis von Natur und Gnade als besonders locker bzw. eher negativ darzustellen, um der Gratuität und Freiheit der Gnade willen die Naturordnung möglichst in sich stehend ohne innere Bestimmung und Hinordnung auf die Gnadenordnung zu kennzeichnen.7 Diese Sicht hatte Papst Pius XII. der katholischen Theologie zu Beginn der Fünfzigerjahre in seiner Enzyklika „Humani generis“ nochmals zur Auflage gemacht. Die Konsequenz einer solchen katholischen Denkform war das Zwei-Stockwerk-Schema, nach dem Natur und Gnade als zwei voneinander unabhängige Schichten aufzufassen seien, die sich möglichst wenig durchdringen. Den Begriff der Gnade auf die Übernatur festzulegen, schränkte die Möglichkeiten der katholischen Theologie von vornherein ein; die Gnade erscheint darin als qualitas supernaturalis der Seele. Die Natur des Menschen wird nach dem scholastischen Axiom durch die Seele geformt; als unbedingt und frei verändert die Gnade die naturale Beschaffenheit des Menschen. Doch was ist darin noch die Gnade? Sie ist geschaffen. Der Begriff der geschaffenen Gnade markiert in dieser katholischen Denkform die letzte Konsequenz einer einseitig auf den Naturbegriff fixierten Gnadentheologie. Sie kann die Gnade nicht personal, sondern nur metaphysisch denken. Dieser Begriff war außerstande, die Gnade als personale Beziehung zwischen Gott und Mensch zu fassen. Diese einseitig aristotelischthomistische Darstellung der Natur-Gnade-Problematik bildete den Hintergrund für die Offenheit katholischer Theologen für die Fragestellungen evangelischer Theologie. Deren Widerstand gegen eine metaphysische Theologie, genauer eine natürliche Theologie, wie deren Kampfbegriff lautete, belebte die Erneuerungsversuche katholischer Theologen. Nicht ohne Grund hat Karl Barth viel später diese Versuche katholischer Theologen, sich von dem metaphysischen Konzept der Gnadenlehre abzuwenden, um ein theologisches Gesamtverständnis von der Gnädigkeit Gottes als Gottes freier Selbstmitteilung zurück zu gewinnen, gewürdigt.8 Die Rückbesinnung auf die ungeschaffene Gnade in der jüngeren

6 Vgl. H. Mühlen, Gnadenlehre, in: H. Vorgrimler / R. Vander Gucht (Hg.), Bilanz der Theologie im 20. Jahrhundert. Perspektiven, Strömungen, Motive in der christlichen und nichtchristlichen Welt, Bd. 3, Freiburg-Basel-Wien 1970, 148–192. 7 Enzyklika „Humani generis“ vom 12. Aug. 1950: DH 3891. 8 So in seinem berühmten Nachwort zu einer Auswahl von Schleiermacher-Texten: Schleiermacher-Auswahl. Mit einem Nachwort von Karl Barth, hg. v. Heinz Bolli, München-Hamburg 1968, 311.

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katholischen Theologie leitete eine entscheidende Überwindung der neuscholastischen Gnadenlehre ein.9

2.

Die Herausforderung durch den reformierten Theologen Karl Barth

Die katholisch-evangelische Kontroverse ist der Nährboden für die Erneuerung der katholischen Theologie im Umfeld des Zweiten Vatikanischen Konzils. Schon in den Dreißigerjahren begannen katholische Theologen das Gespräch mit der evangelischen Theologie.10 Hierzu gehörte auch der Schweizer Theologe Hans Urs von Balthasar. Worin lagen für ihn die Motive, sich mit der Theologie Karl Barths zu beschäftigen? Darüber gab Hans U. von Balthasar freimütig Auskunft. Schon Ende der Dreißigerjahre in seinem Buch „Apokalypse der deutschen Seele“11, dann erst recht in seinem Buch über Karl Barth aus dem Jahre 1951 führte er aus, dass sich das Gespräch mit Karl Barth deswegen lohnen könnte, weil es in seiner Theologie nicht um eine Repristination der Theologie der Reformatoren ginge, sondern wesentlicher um deren „Reinigung und Radikalisierung“12. Die Relativierung der Reformatoren lasse die großen Gestalten der Patristik und der scholastischen Theologen auftauchen, so dass die Theologie Karl Barths eine Breite und Tiefe erlange, die der katholischen koextensiv sei.13 Den zweiten Grund für das Gespräch mit Karl Barth sieht von Balthasar in dem Umstand begründet, dass Barth entschieden von der Offenbarung Gottes in Jesus Christus rede, wovon die Schrift Zeugnis gebe14. Barth gehe vom ewigen Prius Gottes aus, von dem er die ganze Heilsgeschichte neu durchdenke. Damit war eine Abkehr vom Neuprotestantismus des 19. Jahrhunderts eingeleitet.15 Karl Barth hat diesen Weg viel später noch einmal selbst beschrieben. Da gab er bemerkenswerterweise deutlich zu, dass er weder auf Schleiermacher noch auf 9 Diese Konstellation habe ich Mitte der Achtzigerjahre im Zusammenhang des Axioms „Gratia supponit naturam“ genauer beschrieben: W. Thönissen, Das Geschenk der Freiheit. Untersuchungen zum Verhältnis von Dogmatik und Ethik (TTS 31) Mainz 1988. 10 Vgl. hierzu B. Dahlke, Die katholische Rezeption Karl Barths. Theologische Erneuerung im Vorfeld des Zweiten Vatikanischen Konzils (BHTh, 152), Tübingen 2010. 11 Apokalypse der deutschen Seele. Studien zu einer Lehre von letzten Haltungen, SalzburgLeipzig 1937. 12 H. U. von Balthasar, Karl Barth. Darstellung und Deutung seiner Theologie, Einsiedeln 1951, 4 1976, 32. Vgl. dazu W. Thönissen, Calvinus oecumenicus? Eine katholische Perspektive, in: Cath (M) 63 (2009) 175–191. 13 H. U. von Balthasar, a. a. O., 31ff. 14 Ebd. 35. 15 Darüber hat K. Barth Ende der Sechzigerjahre noch einmal Auskunft gegeben, in: Nachwort in Schleiermacher-Auswahl, a. a. O., 294ff.

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die Reformatoren des 16. Jahrhundert glaubte zurückgreifen zu können. Das ist das Signal, dass die katholischen Theologen bei ihrer Barth-Lektüre verstanden hatten. Es ging Barth nicht um eine so oder so geartete Relecture der Reformatoren, sondern um einen echten Neubeginn seiner Theologie. Diesen korrektiven Impuls des neuen Protestantismus griffen die katholischen Theologen begierig auf. Die Abkehr vom Protestantismus des 19. Jahrhunderts machte die Faszination der Theologie Karl Barths auf katholischer Seite aus. Sie sahen sich dadurch bestärkt, ihren eigenen Weg der Loslösung von der Neuscholastik energisch voranzutreiben. Über diesen Vorgang der Ablösung der katholischen Theologie vom Erbe einer ultramontan ausgerichteten Theologie und seiner Deutung aus katholischer Sicht sind wir heute noch von einer ganz anderen Seite unterrichtet. Den Ausgangspunkt hierfür bildet die 1955 an der Münchener Katholisch-Theologischen Fakultät eingereichte Habilitationsschrift von Joseph Ratzinger. Sie belegt auf ihre Weise den Kampf um die katholische Theologie der damaligen Zeit. In seiner Autobiographie von 199816 gab Joseph Ratzinger bereitwillig über das „Drama der Habilitation“ Auskunft, in der er sich mit dem Offenbarungs- und Geschichtsverständnis des Bonaventura beschäftigt hatte. Darin stellte Ratzinger einen Zusammenhang zwischen seiner Habilitationsschrift von 1955 und seinen Kommentaren zur Offenbarungslehre des Zweiten Vatikanischen Konzils her. Hier hatte er den Durchbruch zu einem theozentrischen, trinitarischen und dialogischen Verständnis der Offenbarung, das in Kap. 1 der Offenbarungskonstitution „Dei Verbum“ aufbricht, mit den Anregungen in Verbindung gebracht, die von der Theologie Karl Barths ausgegangen waren.17 Dort weist er implizit auf seine 1955 gemachten Einsichten hin, die ihm später sehr wichtig geworden seien. Der bisher unveröffentlichte erste Teil seiner Habilitationsschrift erschien ungekürzt erst 2009 in der von Gerhard Ludwig Müller herausgegebenen Reihe der „Gesammelten Schriften“, so dass wir heute besser über die Umstände jenes Dramas informiert sind.18 Während der erste Teil seiner eingereichten Habilitationsschrift aufgrund des Einspruches des Zweitgutachters Michael Schmaus nicht erschien, konnte der zweite Teil über die Geschichtstheologie des Bonaventura 1959 veröffentlicht werden. Dem ersten Teil über das Offenbarungsverständnis des Bonaventura ist eine knapp zwanzig Seiten lange Einführung vorangestellt, in der Joseph Ratzinger über die Motive und Wege seiner Forschungen zu Bonaventura Auskunft gibt. Das Überraschende an diesem Text ist die von Ratzinger dargelegte evangelisch-katholische Kontroverse, in 16 J. Ratzinger, Aus meinem Leben. Erinnerungen (1927–1977), Stuttgart 1998, 77–91. 17 J. Ratzinger, Einleitung und Kommentar, in: LThK. Das Zweite Vatikanische Konzil. Dokumente und Kommentare, Bd, 2, Freiburg i. Br. 1967, 506. 18 J. Ratzinger, Gesammelte Schriften, hg. v. Gerhard Ludwig Müller, Bd. 2: Offenbarungsverständnis und Geschichtstheologie Bonaventuras (JRGS 2), Freiburg i. Br. 2009.

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die er seine eigenen Forschungen einzureihen gedachte. Sie schließt unmittelbar an Hans Urs von Balthasars Buch über Karl Barth an und greift auf die ökumenischen Versuche seines Lehrers Gottlieb Söhngen zurück.19 Der spätere Münchener Fundamentaltheologe Gottlieb Söhngen beteiligte sich seit den Dreißigerjahren des zwanzigsten Jahrhunderts an der auch innerevangelisch ausgetragenen Debatte zwischen Karl Barth und Emil Brunner um die sogenannte ”Natürliche Theologie”.20 In zahlreichen Aufsätzen, erschienen in der von Robert Grosche gegründeten Zeitschrift „Catholica“, beteiligte er sich an dem kontroverstheologischen Streit um die analogia entis. Pointiert führte er aus, dass eine recht verstandene analogia fidei kein Widerspruch zu einer recht verstandenen analogia entis sein müsse. Es gibt keine von der Heilsgeschichte losgelöste theologia naturalis. In der Aufnahme des augustinischen Erbes durch Vermittlung des Thomas von Aquin suchte Söhngen die Brücke für eine kontroverstheologisch-ökumenische Verständigung mit protestantischen Theologen. Söhngen arbeitete vorrangig an einer heilsgeschichtlich orientierten Theologie, die die Einseitigkeiten einer rationalistisch geprägten und ungeschichtlich verfahrenden neuscholastischen Schultheologie zu überwinden trachtete. In Bonaventura sah Söhngen einen Verfechter dieser analogia fidei.21 Auf diese Spur brachte er auch seinen Schüler Joseph Ratzinger. Ratzinger beginnt seine eigenen Überlegungen mit Bonaventura, und zwar deswegen, weil dieser als Klassiker der analogia fidei22 bezeichnet wurde und damit als Zeuge einer katholischen Theologie galt, die sich ihres evangelischen Erbes noch bewusst war, anders als manche katholische Theologie, die mehr gegenreformatorisch ausgerichtet war.23 Hier kommen zwei Hauptmotive dieser Suche zur Geltung, die klassische natürliche Theologie als Metaphysik in ihrer Einseitigkeit zu überwinden, und zugleich, der von Gottlieb Söhngen übermittelte ökumenische Impuls, die katholische Theologie von ihrer gegenreformatorischen und damit konfessionalistischen Gestalt zu befreien. Gleichzeitig tritt damit innerhalb der katholischen Theologie ein Zwiespalt auf. Gilt Bonaventura als Zeuge einer analogia fidei, so Thomas von Aquin als Verfechter einer analogia entis.24 In dieser Spur entfaltete Joseph Ratzinger 1955 seine Habilitationsschrift. So handelte er sich freilich zugleich den Einspruch des Zweitgutachters an der

19 Vgl. W. Thönissen, Art. Söhngen, Gottlieb Clemens, in: J. Ernesti / W. Thönissen (Hg.), Personenlexikon Ökumene, Freiburg i. Br. 2010, 213ff. 20 Benjamin Dahlke, a. a. O., 117–123. 21 Analogia entis oder analogia fidei?, in: G. Söhngen, Die Einheit in der Theologie. Gesammelte Abhandlungen, Aufsätze, Vorträge, München 1952, 235–247. 22 G. Söhngen, Bonaventura als Klassiker der analogia fidei, in: WiWei 2 (1935) 97–111. 23 JRGS 2, 58. 24 Analogia entis oder analogia fidei?, a. a. O., 235.

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Münchener Katholisch-Theologischen Fakultät, Michael Schmaus, ein.25 Dahinter steckte wohl offenbar der Protest des neuscholastisch geprägten Thomismus seiner Zeit.26

3.

Die fundamentaltheologische Skizze von 1955

Die Stoßrichtung der von Joseph Ratzinger in seiner Habilitationsschrift von 1955 entfalteten Argumentation in der von ihm verfassten Einführung (§1) zur Gesamtschrift liegt in der durch die katholische Blickverengung herbeigeführten und durch das Erste Vatikanische Konzil manifest gewordenen Konzentration auf die Offenbarung als sacra doctrina.27 Im Mittelpunkt steht also nicht der Begriff der Heilsgeschichte, sondern der der Offenbarung, aus der jener erst zu entwickeln ist. Die evangelische Theologie weist die katholische mit Nachdruck auf die Offenbarung als actio divina hin. Offenbarung ist also ein Tun Gottes, das sich von der Person Gottes nicht ablösen lässt, also sich auch nicht gänzlich 25 Dem zunächst J. Ratzinger selbst übermittelten Einspruch des Zweitgutachters Michael Schmaus, die Habilitationsschrift ganz abzulehnen, folgte die Fakultät nicht, machte aber eine Überarbeitung zur Auflage. J. Ratzinger veröffentlichte daraufhin nur den zweiten, mit dem ersten wohl verbundenen Teil seiner Habilitationsschrift, der gänzlich ohne Beanstandung des Zweitgutachters geblieben war, da ihm eine Umarbeitung des ersten Teils in der ihm gegebenen Zeit unmöglich erschien. Das hatte zur Folge, dass die für das Gesamtwerk konzipierte Einleitung zusammen mit dem ersten Teil über die Offenbarungskonzeption Bonaventuras zur damaligen Zeit nicht erschien. Vgl. J. Ratzinger, Aus meinem Leben, a. a. O., 85. 26 Ebd. 82ff. Ratzinger diagnostiziert selbst, dass die „von Schmaus vertretene Münchener Mediävistik fast ganz auf dem Stand der Vorkriegszeit stehengeblieben war und die großen neuen Erkenntnisse überhaupt nicht mehr wahrgenommen hatte… Mit einer für einen Anfänger wohl unangebrachten Schärfe kritisierte ich die überwundenen Positionen, und das war Schmaus ganz offensichtlich zu viel, zumal es ihm an sich gegen den Sinn ging, dass ich über ein mittelalterliches Thema gearbeitet hatte, ohne mich seiner Führung anzuvertrauen“ (a. a. O., 83). 27 Ich beziehe mich im Wesentlichen auf die Einführung (§1) der Habilitationsschrift, die die Probleme für ein katholisches Offenbarungsverständnis zu damaliger Zeit aus einem ökumenischen Problembewusstsein heraus umreißt. Ich bezeichne die Einführung als eine fundamentaltheologische Skizze, die für die weiteren ökumenischen Überlegungen von Joseph Ratzinger weitreichende Bedeutung hat (vgl. hierzu W. Thönissen, Katholizität als Strukturform des Glaubens. Joseph Ratzingers Vorschläge für die Wiedergewinnung der sichtbaren Einheit der Kirche, in: Ch. Schaller (Hg.), Kirche – Sakrament und Gemeinschaft. Zu Ekklesiologie und Ökumene bei Joseph Ratzinger , Regensburg 2011, 254–275). Im Unterschied zu Hansjürgen Verweyens Buch (Ein unbekannter Ratzinger. Die Habilitationsschrift von 1955 als Schlüssel zu seiner Theologie, Regensburg 2010) beschäftige ich mich mit der Einführung und nur am Rande mit der ganzen Habilitationsschrift, gerade weil sie ein für die damalige Zeit sensationelles ökumenisches Problembewusstsein markiert, die dem fast gleichzeitig erschienenen Buch von Balthasars über Karl Barth an die Seite gestellt werden muss.

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objektivieren lasse. „Gott redet, indem er handelt.“28 Offenbarung ist nicht Lehre, sondern geschichtliches Heilstun Gottes am Menschen. Offenbarung als Tat Gottes will somit eine Abgrenzung gegen eine lehrhafte Auffassung der Offenbarungswirklichkeit vornehmen.29 Offenbarung ist personaler Akt Gottes, indem er sich der Person des Menschen erschließt. Damit ist eine aktuale Relation des Menschen zu Gott eröffnet. Während die protestantische Theologie die Objektivierung des Heilsgeschehens ablehnt, stellt die katholische Theologie dagegen die metaphysische Frage, nämlich die, ob das geschichtliche Handeln Gottes tatsächlich in das Sein des Menschen eingreife und ihn in dieser Gott-Mensch-Relation auch wirklich verwandele. Wenn gilt, dass die Offenbarung Gottes kein metaphysischer, sondern ein geschichtlicher Vorgang ist, dann ist damit „das Problem der Heilsgeschichte in aller Schärfe gestellt.“30 Zieht man die weiteren, über die Einführung hinausgehenden Ausführungen mit heran, so zeigt sich vor dem Hintergrund der evangelisch-katholischen Kontroverse eine im wesentlichen innerkatholische Auseinandersetzung, nämlich die zwischen Heilsgeschichte und Metaphysik. „Der Ansatzpunkt der Theologie ist die konkrete heilsgeschichtliche Tat Jesu Christi; aber auf dem Antlitz Jesu Christi leuchtet für das im Glauben sehend gewordene Auge des Theologen die dahinterstehende metaphysische Wesensgestalt des Gottes auf, der sich in Christo kundgetan hat.“31 In Bonaventura vereinigen sich die beiden Denkweisen. Er habe schon zu seiner Zeit eine größere Freiheit gegenüber der Schultheologie entwickelt, ähnlich nun wie die jüngere katholische Theologie im Rückgriff über die jüngere protestantische Theologie, ohne der Hypothek einer völlig gegenstandslosen Subjektivierung der Heilsgeschichte erliegen zu müssen, wie dies im Neuprotestantismus nach Schleiermacher bis auf Harnack weithin der Fall gewesen war. Eine in sich stehende natürliche Philosophie ist widersinnig und eine natürliche Theologie ebenso, die sich nicht in die Heilsgeschichte hinein überschreitet. In dieser Konstellation arbeitet Joseph Ratzinger an der Überwindung des neuscholastischen ZweiStockwerk-Denkens und plädiert für eine dynamische Einheit von Natur- und Gnadenordnung. Das Aufregende an dieser Analyse scheint in der Konstellation auf, nach der mit Bonaventura das neothomistische Schema überwunden werden soll, wohingegen mit Thomas von Aquin die Engführung eines heilsgeschichtlichen Ablaufs korrigiert werden muss. Hier verschränken sich die beiden von Ratzinger aufgenommenen Unterscheidungen, die evangelisch-katholische und die innerkatholische. 28 29 30 31

JRGS 2, 60. JRGS 2, 61. JRGS 2, 63. JRGS 2, 414.

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Schließen sich Metaphysik und Heilsgeschichte aus? Wie löst Joseph Ratzinger dieses Problem der Heilsgeschichte? Die Lösung verortet er bei der Frage nach den Gegenwartsweisen des Wortes Gottes. Wie kommt das Wort Gottes beim Menschen an? Ist die Schrift als das geschriebene Gotteswort schlechthin Offenbarung? Dann hätte es der Mensch mit einem Buch als einem geschichtlichen Dokument einer vergangenen Zeit zu tun. Die katholische Theologie hatte hier seit Trient die Überzeugung vorgetragen, dass Schrift und Überlieferung die beiden Quellen der Offenbarungserkenntnis sind. Ratzinger schlägt an dieser Stelle vor, die Überlieferung nicht so sehr als ein inhaltliches Prinzip neben die Schrift zu stellen, sondern die Bindung des Wortes an die Kirche vorzunehmen, um so das seit Trient offene Problem der Tradition zu lösen. Über die Schrift hinaus gibt es nicht noch einen Vorrat an Offenbarungswahrheiten, die überliefert werden müssen, sondern die Auslegung der Schrift als Gottes Offenbarung vollzieht sich in der lebendigen Kirche Gottes. Damit liegt Offenbarung Gottes vor Schrift und Tradition, sie geht ihnen voraus. Damit hatte Ratzinger schon in den fünfziger Jahren die Öffnung des katholischen Offenbarungsverständnisses aus dem nachtridentinischen und neuscholastischen Korsett eingeleitet, zugleich aber auch seiner späteren Kritik an der historisch-kritischen Exegese der Schrift den Boden bereitet. In dieser Gestalt wandert seine fundamentaltheologische Konzeption in den Kommentar zur Offenbarungskonstitution „Dei Verbum“ ein. Schon 1955 leitet er diese Umwandlung von den revelata zur revelatio ein. Die Selbst-Offenbarung Gottes in Christus ist der einzige Angelpunkt der Theologie. Darin ist die Verschränkung von Metaphysik und Heilsgeschichte mitverhandelt. Diese Lösung enthält aber eine hermeneutische Grundentscheidung: Der Glaube ist dann nicht anders da als in der geschichtlichen Kontinuität der Glaubenden.32 So interpretiert er es selbst im Jahre 1966, im Kommentar zur Offenbarungskonstitution „Dei Verbum“.33 Allerdings mit weitreichenden Konsequenzen. In seiner fundamentaltheologischen Skizze von 1955 bleibt Ratzinger nicht bei dieser kritischen Analyse stehen. Je stärker er die metaphysische Fragestellung der Theologie in die hermeneutische hinein verwandelt, umso mehr muss er sich mit der drohenden Gefahr der Subjektivität des Glaubens auseinandersetzen. Von hier aus greift er das protestantische Schriftprinzip an – die auslegende Tätigkeit der Kirche gegen die Selbstauslegung der Schrift durch den Geist, das die Grundlage für Historismus und Liberalismus bildet, was letztlich zur Auflösung der Offenbarungsbindung überhaupt führt. Die Kritik am protestantischen Schriftprinzip bedeutet nun nicht auf der anderen Seite eine Problemlosigkeit des katholischen Verständnisses. Wenn er selbst die katholische Überwindung des klassischen Paradigmas vorbereitet und damit die katholische 32 J. Ratzinger, Einleitung und Kommentar, a. a. O., 517. 33 Im Blick auf Artikel 5 von „Dei Verbum“: ebd., 512ff.

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Konzeption der Offenbarungstheologie der protestantischen Sicht gegenüber öffnet, umso mehr muss er sich von den Folgewirkungen eines einseitig verstandenen sola-scriptura-Prinzips fernhalten. Seine scharfe Kritik am protestantischen Schriftprinzip ist der Veränderung innerhalb der katholischen Konzeption geschuldet. Je mehr also die Offenbarung als die Schrift und Tradition vorlaufende Wirklichkeit Gottes auf die Frage nach der Gegenwartsweise dieser Gottesoffenbarung zuläuft, umso mehr tritt der Glaube als der der Offenbarung verbundenen Weise auf Seiten des Menschen hervor. Hier kann es nun zu einem Missverständnis kommen, das Ratzinger vorrangig mit der liberalen protestantischen Theologie verbindet. Das „allein durch die Schrift“ kann dann so gedeutet werden, als wäre der Gläubige nur an die Schrift gebunden, so als hätte er dort die Gottesoffenbarung authentisch vor sich. Ratzinger erkennt daher folgerichtig, dass auch die katholische Theologie ein richtig verstandenes „sola scriptura“ vertritt, nur ist dieses Prinzip niemals ohne die Bindung an die die Schrift überliefernde Kirche. Anders gesagt: Die Schrift ist Gottes Offenbarung nie ohne die lebendige Kirche Gottes. Darin liegt dann der Fehler des protestantischen Liberalismus, wenn er die Verbindung von Offenbarung und Kirche löst, so dass nur noch das gläubige Subjekt der mit der Schrift verbundenen Offenbarung gegenübersteht. So entsteht „ein subjektivistischer Aktualismus“34. Zu einem heilsamen Mahnruf kann das „sola scriptura“ aber nur werden, wenn es in der Bindung an die die Offenbarung überliefernde Kirche verbleibt.35 Auf diesen eher verschlungenen Wegen erweist sich die so skizzierte evangelisch-katholische Kontroverse als äußerst hilfreich. Mehr noch als Hans U. von Balthasar empfindet Joseph Ratzinger die Bedeutung und Wirkung des protestantischen Mahnrufs, Gnade und Offenbarung wieder zusammendenken, nämlich Erkenntnis- und Seinsordnung nicht auseinanderfallen zu lassen, sondern zusammen zu denken.36 Die entscheidende Wende hierfür wurde durch die Begegnung mit der evangelischen Theologie herbeigeführt. Joseph Ratzingers Einführung in seine Habilitationsschrift von 1955 erweist sich in dieser Relecture 34 JRGS 2, 69. 35 Das hat das lutherische Bekenntnis schon früh gesehen, wenn es in der Konkordienformel, freilich in anderem Zusammenhang, heißt: „sola fide numquam sola“. So könnte man im Blick auf die Schrift formulieren: Die Schrift ist niemals allein ohne die Bindung an die Kirche. Diese Differenzierung wird von J. Ratzinger in seiner Skizze allerdings nicht gesehen. In der ökumenischen Debatte heute wird das „sola“ so interpretiert, dass es zwar die Vorrangstellung des Wortes Gottes meint, das aber nicht isoliert von der Gemeinschaft im Wort Gottes gelesen und gelebt werden kann. So hält es der Bericht der evangelisch-lutherischen/ römisch-katholischen Kommission für die Einheit zum Reformationsgedenken 2017 fest, in: Vom Konflikt zur Gemeinschaft. Gemeinsames lutherisch-katholisches Reformationsgedenken im Jahr 2017, Paderborn/Leipzig 2013, Nr. 199, 207f. Die Wirklichkeit der Schrift erweist sich in der Kirche als Ganzer. 36 JRGS 2, 63, Anm. 13.

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als Vorgriff auf eine protestantisch-katholische Kontroverse der beginnenden ökumenischen Auseisandersetzungen um das Verhältnis von Schrift und Tradition. Sie ist zugleich ein Dokument der katholischen Erneuerung, die ohne diese ökumenische Auseinandersetzung nicht zu denken gewesen wäre. Mit Karl Barth und Oscar Cullmann gegen eine verengte Auslegung des Trienter Schriftverständnisses, mit Bonaventura gegen eine neuscholastische Deutung eines instruktivistischen Offenbarungsverständnisses, mit einem neu gelesenen Thomas von Aquin wiederum gegen eine aktualistische protestantische Offenbarungskonzeption, die sich einseitig auf das Prinzip des sola scriptura festlegt. Diese von Ratzinger entwickelte Perspektive zeigt uns die verschlungenen theologischen Verständigungen des 20. Jahrhunderts auf, die sich von den überkommenen konfessionalistischen Wegen bereits gelöst hatten. Die Theologiegeschichte des zwanzigsten Jahrhunderts, mindestens auf katholischer Seite, ist ohne diese verschlungene Bezugnahme auf die evangelische Theologie nicht zu denken.

4.

Offenbarung und Heils-Geschichte. Innerkatholische Diskussionen

Zwischen der Habilitationsschrift Joseph Ratzingers von 1955 und seinem Kommentar zu „Dei Verbum“ von 1967 liegt die Programmschrift „Offenbarung als Geschichte“ von 1961. Im Kommentar zu „Dei Verbum“ fehlt ein Hinweis auf diese einige Jahre zuvor veröffentlichte Programmschrift. So findet sich denn auch kein Hinweis auf die Auseinandersetzung um das Verständnis von „Offenbarung als Geschichte“. Aber Ratzinger selbst führt seine Kernthesen von 1955 fort. Bemerkenswert bliebt freilich, dass er auch unabhängig von der Debatte im evangelischen Raum sein eigenes Konzept weiter verfolgt. Problem und Begriff der Heilsgeschichte folgen der Debatte um die Transformation des Offenbarungsbegriffs. Joseph Ratzinger befasste sich Ende der sechziger, Anfang der siebziger Jahre wieder mit dieser Thematik.37 Seine spezifischen Ausführungen geben Auskunft über die dem Offenbarungsverständnis folgenden Auseinandersetzungen um die Problematik der Heilsgeschichte. „Die Offenbarung Gottes ist kein metaphysischer, sondern ein geschichtlicher Vor37 Zwei bereits anderswo veröffentlichte Beiträge erschienen dann im Abschnitt „Glaube und Geschichte“ in der Theologischen Prinzipienlehre. Baustein zur Fundamentaltheologie, München 1982: Heil und Geschichte, in: Wort und Wahrheit 25 (1970) 3–14, dann in: Theologische Prinzipienlehre, 159–179, jetzt in: JRGS, 9/1, 522–550; Heilsgeschichte und Eschatologie. Zur Frage nach dem Ansatz des theologischen Denkens, in: Theologie im Wandel, hg. v. J. Neumann und J. Ratzinger, München-Freiburg 1967, 68–89, dann in: Theologische Prinzipienlehre, a. a. O., 180–199.

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gang.“38 Mit dieser Aussage stellte sich Ratzinger vordem das Problem der Heilsgeschichte. Von der protestantischen Theologie her gesehen tritt dann der Gegensatz zwischen Heilsgeschichte und Metaphysik mit aller Schärfe auf. Oscar Cullmann, Karl Barth und Emil Brunner identifizierten mit der Bindung der Theologie an die Metaphysik den Abfall vom Urchristentum, wie sie in der theologia naturalis der katholischen Theologie auftaucht. Damit wird der Gegensatz von Metaphysik und Heilsgeschichte zugleich als konfessioneller Gegensatz gelesen. In dem Augenblick, in dem die katholische Theologie, wie Ratzinger richtig gesehen hatte, als an die Schrift und damit an das Zeugnis von den geschichtlichen Taten Gottes gebundene Heilsgeschichte auftritt, stellt sich für die katholische Theologie insgesamt das Problem ihres metaphysischen Erbes. Gottlieb Söhngen hatte dieses Problem innerkatholisch so zu lösen versucht, indem er von unterschiedlichen Wegen des christlichen Denkens sprach, ja von Denkweisen und Denkformen, die sich komplementär zueinander verhalten. Diese Unterscheidung der Denkformen wird Söhngen zum Schlüssel für das evangelisch-katholische Gespräch. So hatte es auch Hans U. von Balthasar gesehen.39 „Aussagen, die vorher als unvereinbar erschienen, konnten nun als einander zugeordnet verstanden werden.“40 Das Konzept einer heilsgeschichtlichen Dogmatik, auf das sich insgesamt die katholische Theologie zuzubewegen schien, bedeutet dabei nicht allein den Vorrang der Geschichte vor der Metaphysik, sondern auch den Vorrang der Wirklichkeit des handelnden Gottes vor der Botschaft. Deshalb verfällt Ratzinger auf die einzig mögliche Lösung: Offenbarung vor Schrift und Tradition. Die Realitätstiefe des Offenbarungsereignisses reicht tiefer als das Verkündigungsereignis, das im menschlichen Wort die Tat Gottes auszulegen versucht. Und dies ist der Ausgangspunkt für das sakramentale Prinzip, der Grund also, weshalb das Tatwort Gottes vom Menschen in Worten und Zeichen aufgenommen werden muss.41

Das geschichtliche Denken ist nicht in einem äußeren Sinne dem metaphysischen Denkweg komplementär, sondern innerlich unauflösbar verbunden, weil es sakramental verstanden werden muss. Aber auch das wäre missverstanden, 38 JRGS, 2, 63. 39 Der Weg der abendländischen Theologie. Grundgedanken zu einer Theologie des „Weges“, München 1959. In der Beschreibung unterschiedlicher Denkwege, die sich komplementär zueinander verhalten, sieht G. Söhngen die Möglichkeit einer Verständigung zwischen morgenländischem und abendländischem Weg der Theologie. Solche Denkwege werden ihm zum Schlüssel für die evangelische-katholische Auseinandersetzung. Auch H. U. von Balthasar hielt bereits 1951 fest: Die Klärung der Denkformen ist die Voraussetzung des evangelisch-katholischen Gesprächs (vgl. dazu H.U. von Balthasar, Karl Barth, a. a. O., 20–30). Vgl. zur Komplementarität meinen diesbezüglichen Artikel in: W. Thönissen (Hg.), Lexikon der Ökumene und Konfessionskunde, Freiburg i. Br. 2007, 694ff. 40 Theologische Prinzipienlehre, a. a. O., 183. 41 Ebd., 195.

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wenn man nicht hinzufügte, dass das Sakrament eine Vermittlung darstellt, die von ihrer Erfüllung am Ende der Zeiten her lebt. Heilsgeschichte ist nach vorne nicht in irgendeiner Weise offen, sondern bestimmt. Eschatologisch fallen dann am Ende der Geschichte, nämlich im endgültigen Passah, Heilsgeschichte und metaphysische Existenz des Menschen zusammen. Gott ist des Menschen Zukunft in dem Sinne, dass er sich den Menschen geradezu einverleibt, er mit ihm eins ist. Heilsgeschichte und Eschatologie fallen ineinander, damit eben auch Heilsgeschichte und Metaphysik. Die Problematik der Heilsgeschichte trat für Joseph Ratzinger noch an einer weiteren Stelle auf. Sie stellte sich der katholischen Theologie in einer weit radikaleren Form in Auseinandersetzung mit Rahners These von der Koexistenz von Welt- und Heilsgeschichte.42 Wenn Geschichte Heilsgeschichte ist und sich von ihr nicht unterscheidet, dann ist Christus der absolute Heilsbringer und dann folgerichtig jeder Mensch wenigstens potentialiter anonymer Christ. Damit erscheinen Geschichte und Wesen des Menschen versöhnt, Metaphysik und Geschichte unlösbar miteinander verbunden. Der Christ ist dann, so folgert Ratzinger, der Mensch an sich. Der Christ macht dieses allgemeine Wesen des Menschen nur offenkundig. Hier bringt Ratzinger nun seine Kritik an. Die Konzeption Rahners habe etwas, wenn auch Großes, doch Schwindelerregendes an sich.43 Diese quasi metaphysische Konzeption der Geschichte, auch wenn sie in Gänze als Freiheit ausgelegt wird, hat etwas Zwingendes und Notwendiges an sich, was schließlich der Geschichtlichkeit selbst widerspricht. Das Unableitbare der Geschichte geht in dieser Konzeption verloren. Der Zwang zur Logik des Ganzen überwiegt. Ist damit aber nicht doch die Person Jesu als das Ereignis des Neuen und Unerwarteten verloren? Ratzinger legt mit diesen kritischen Anfragen die Finger in die Wunde der Rahnerschen Konzeption. Wer derart Geschichte und Wesen zusammenfallen lässt, hat den Offenbarungsbegriff zu einem Systembegriff gemacht. Dieses Konzept der Offenbarung in Heils-Geschichte, das Joseph Ratzinger in den Jahren nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil in einzelnen Fragestellungen weiter entwickelt, ohne es zu systematisieren, hält einen überraschenden Gesichtspunkt fest, den schon Hans U. von Balthasar gegen Karl Rahner zur Geltung gebracht hatte, nämlich den der absoluten Faktizität der Offenbarung. Balthasar nannte diese Faktizität eine „Gratuität von oben“ und brachte damit zum Ausdruck, dass Offenbarung und Freiheit Gottesprädikate und damit Wechselbegriffe sein müssen, denn nur so lässt sich das Unableitbare und Ereignishafte der 42 Vgl. hierzu K. Rahner, Grundkurs des Glaubens. Einführung in den Begriff des Christentums, in: K. Rahner, Sämtliche Werke, Bd. 26: Grundkurs des Glaubens. Studien zum Begriff des Christentums, bearb. von N. Schwerdtfeger / A. Raffelt, Zürich/Düsseldorf/Freiburg i. Br. 1999, 141–145. 43 JRGS, 9/1, 539.

218

Wolfgang Thönissen

Offenbarung als Geschichte denken.44 Zusammen mit Hans Urs von Balthasar bringt Joseph Ratzinger damit einen wesentlichen Aspekt aus der evangelischkatholischen Kontroverse über den Zusammenhang von Offenbarung, Heil und Geschichte zur Geltung, um den drohenden Systemschluss zwischen Geschichte und Metaphysik zu entgehen, der sich in Rahners Konzeption zu manifestieren schien.

5.

Implizite Auseinandersetzung mit Pannenbergs Konzept der Offenbarung als Geschichte

Den Zusammenhang von Gnade und Offenbarung hatte der Schweizer Theologe Karl Barth von Anfang an in radikaler Weise vorgedacht. Barth beginnt seinen theologischen Weg mit dem Römerbriefkommentar und verbindet darin die Gerechtigkeit Gottes mit seiner Offenbarung in Jesus Christus.45 Gerechtigkeit, Treue, Barmherzigkeit und Gnade, in Jesus Christus sind sie offenbar. Gott spricht uns seine Gerechtigkeit zu, indem er der ist, der handelt. Offenbarung und Gerechtigkeit fallen nachdem in radikaler Weise zusammen. Was Gott ist, das muss er selbst offenbaren.46 Insoweit ist Barths Theologie von Anfang an radikale Offenbarungstheologie.47 Offenbarung ist wesentlich Selbstoffenbarung Gottes. Im ersten Band der Kirchlichen Dogmatik findet sich dann der einprägsame Satz: „Die Offenbarung ist … das Ereignis, in dem der freie Gott seine freie Gnade walten und wirken läßt.“48 Wolfhart Pannenberg hat zu Beginn der 1960ziger Jahre diese von Barth favorisierte Radikalisierung im Verständnis der Offenbarung als Selbstoffenbarung Gottes, nachdem Offenbarung im strengen Sinn nicht vom Wesen Gottes zu unterscheiden ist, der jüngeren protestantischen Theologie zur Aufgabe gemacht.49 Darin sind ihm auch katholische Theologen wie Hans U. von Balthasar und Joseph Ratzinger gefolgt, ohne sich ausdrücklich

44 H.U. von Balthasar, Karl Barth, a. a. O., 311f. 45 Seine Römerbriefauslegung dient uns hier als Ausgangspunkt: Der Römerbrief (Zweite Fassung) 1922 (Karl Barth Gesamtausgabe. II. Akademische Werke) Zürich 2010, 129–149. Der Römerbrief ist der Auftakt zur Abrechnung mit der liberalen, historisch orientierten protestantischen Theologie des 19. Jahrhunderts und eröffnet den Horizont für die vom Gedanken der Offenbarung her durchzuführende Revision der westlichen Theologie des zwanzigsten Jahrhunderts (vgl. Vorwort, IX). Vgl. B. Dahlke, Die katholische Rezeption Karl Barths, a. a. O., 9–30. 46 Vgl. H. U. von Balthasar, a. a. O., 290. 47 W. Pannenberg, Einführung, in: OaG, hg. v. Wolfhart Pannenberg (Kerygma und Dogma. Beiheft 1) Göttingen 1961, 9. 48 KD I/1, 120. 49 W. Pannenberg, Einführung, a. a. O., 9ff.

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auf ihn zu beziehen. In analoger Weise beginnen katholische Theologen das Natur-Gnade-Verhältnis durch Dynamisierung neu zu buchstabieren. Ganz anders zeigten sich die Konstellationen auf evangelischer Seite. In einem sowohl resümierenden wie weiterführenden Kapitel über Offenbarung als Geschichte macht Wolfhart Pannenberg in seiner „Systematischen Theologie“ den Ausgangspunkt der innerprotestantischen Debatten um den Offenbarungsbegriff deutlich.50 Zentrale Bedeutung erlangte der Offenbarungsbegriff seit der Wende zum 19. Jahrhundert durch den Verfall des mit der Lehre der Schriftautorität verbundenen Gedankens der Verbalinspiration einerseits und der moralphilosophischen Begründung des Gottesgedankens bei Kant und Leibniz andererseits. Freilich nahm die weitere Entwicklung des Offenbarungsbegriffs eine entschiedene Wende hin zum Begriff des Wortes Gottes, dem sich schließlich auch Barth anschloss, indem er Wort Gottes nicht nur als „Rede“, sondern auch als „Tat Gottes“ fasste. Doch wird die Reduktion der Offenbarung Gottes auf den Gesichtspunkt des göttlichen Redens der Vielschichtigkeit des biblischen Offenbarungszeugnisses nicht gerecht, worauf die Programmschrift „Offenbarung als Geschichte“ 1961 mit aller Entschiedenheit hinweisen wird.51 Aus der Alternative „Wort Gottes oder Geschichte“ führt dann erst Pannenbergs Konzept des Offenbarungsbegriffs hinaus, das Handeln Gottes in der Geschichte sucht, und profiliert schließlich diesen Begriff mit der These von der Indirektheit der Selbstoffenbarung Gottes durch sein Handeln in der Geschichte, das sich erst am Ende der Geschichte wirklich klärt. Pannenberg fasst damit den Offenbarungsbegriff antizipatorisch. Das Geschichtshandeln Gottes zielt auf die eschatologische Vollendung, die mit Jesus Christus schon angebrochen ist.52 Die eschatologische Offenbarung Gottes in Jesus Christus ist „vorläufig nur proleptisch gegenwärtig“53 und bedarf daher keiner weiteren Manifestation. Pannenberg versteht daher diesen so gefassten Offenbarungsbegriff als „Präzisierung der Wortgottesvorstellung“ und nicht umgekehrt. Auch wenn Joseph Ratzinger nicht explizit auf dieses Konzept des Offenbarungsbegriffs repliziert hat, ist seine eigene Fassung ein nicht unbedeutendes Referenzmodell auf katholischer Seite. Dessen Implikationen lassen sich als Kehrseite der innerprotestantischen Debatte verstehen und bleiben damit gleichsam auf der Spur der fundamentaltheologischen Skizze von 1955. Dort hatte Ratzinger im Gefolge seines Lehrers Söhngen die evangelisch-katholische Kontroverse zur Folie für die innerkatholische Verständigung über den Offenbarungsbegriff genommen. Jahrzehnte später ist diese Bezugnahme wieder zu 50 51 52 53

Bd. 1, Göttingen 1988, 245. W. Pannenberg, Einführung, a. a. O., 11–16. W. Pannenberg, STh I, 270f. Ebd., 273.

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aufspüren, nunmehr führt sie aber in eine andere Richtung. Während Wolfhart Pannenberg den Offenbarungsbegriffs vom Gedanken als Wort Gottes unterscheidet, ohne jenen gänzlich von ihm abzugrenzen, führt Joseph Ratzinger sein Offenbarungskonzept gerade in eine neu zu konzipierende Wort-Gottes-Theologie hinein. Gleichzeitig scheint er auch Pannenbergs Fassung vom antizipatorischen Charakter der Offenbarung zu kritisieren, wenn er unterstreicht, dass das Tatwort Gottes als Wort und Zeichen aufgenommen werden muss. Ratzinger gibt seiner Offenbarungskonzeption eine sakramentaltheologische Fassung und unterscheidet sie damit deutlich von der proleptischen Gestalt bei Pannenberg. Darin darf man denn auch einen entscheidenden evangelisch-katholischen Unterscheid in der Prägung des Offenbarungsbegriffs ausmachen. Ratzinger spricht damit auch nicht von der „Offenbarung als Geschichte“, sondern von der Offenbarung in der Geschichte.

6.

Kirche unter dem Wort Gottes. Eine späte theologische Synthese

Die von Joseph Ratzinger 1955 konzipierte, aber erst 2009 in der Einleitung veröffentlichte Skizze ist über den 1967 veröffentlichten Kommentar zur Offenbarungskonstitution „Dei Verbum“ im „Lexikon für Theologie und Kirche“ ein erster, wichtiger Ausgangspunkt für die von ihm wesentlich entwickelte fundamentaltheologische Konzeption von Offenbarung, Schrift, Überlieferung unter der Dominanz des Wortes Gottes. Das 2010 veröffentlichte Nachsynodale Apostolische Schreiben Verbum Domini über das Wort Gottes im Leben der Kirche54 enthält eine Synthese des christlichen Glaubens unter dem Zeichen des Wortes Gottes und bringt die Zentralität dieses Wortes im christlichen Leben zur Geltung. Dieses Schreiben kann ohne Übertreibung als Summe des theologischen Denkens von Papst Benedikt XVI. verstanden werden. Ausgehend von den ersten Klärungen des Offenbarungsbegriffs über die Hermeneutik der Heiligen Schrift im Zusammenhang der kirchlichen Überlieferung in Liturgie und Verkündigung enthält dieses Schreiben eine Zusammenfassung der Stationen dieses Denkens ebenso wie eine zusammenfassende Synthese unter dem Primat des Wortes Gottes. Im Rückblick von heute auf seine theologischen Anfänge in den fünfziger Jahren offenbart sich so eine gewaltige Lebensleistung in der kirchlichen Verkündigung ebenso wie in der theologischen Forschung.

54 Nachsynodales Apostolisches Schreiben Verbum Domini von Papst Benedikt XVI. über das Wort Gottes im Leben und in der Sendung der Kirche (Verlautbarungen des Apostolischen Stuhles Nr. 187) 30. September 2010.

Offenbarung in der Geschichte

221

Das Verständnis der vor und durch das Zweite Vatikanische Konzil angeregten Theologie wird entschieden geprägt durch die in der katholischen Theologie schon lange zuvor wirksame Wiederentdeckung der Theologie des Wortes Gottes. Sie beginnt in den dreißiger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts in der evangelisch-theologischen Auseinandersetzung um die Wirkung und Bedeutung der Theologie des reformierten Theologen Karl Barth. Dazu hat in erster Linie die Dogmatische Konstitution über die göttliche Offenbarung „Dei Verbum“ beigetragen. Sie hat eine „Wiederentdeckung des Wortes Gottes“ in erheblichem Maße gefördert. Die Rezeption der Dogmatischen Konstitution fördert das Nachsynodale Schreiben „Verbum Domini“ von 2010 über das Wort Gottes im Leben und in der Sendung der Kirche. Diese neue Theologie des Wortes wird bereits Anfang der fünfziger Jahre entfaltet, wie uns die Habilitationsschrift Ratzingers von 1955 vorführt. Über mehr als ein halbes Jahrhundert arbeitet Joseph Ratzinger an der Konzeption einer Theologie des Wortes Gottes, zuerst als Habilitand, dann als Konzilsperitus und Konzils-Kommentator, dann als Theologieprofessor, schließlich als Benedikt XVI. Das nachapostolische Schreiben Verbum Domini stellt die Konzeption des Wortes Gottes im Leben der Kirche in den Mittelpunkt. Diese Konzeption ist heute der Angelpunkt einer katholischen Denkform, die an die Stelle der klassischen Denkform von Natur und Gnade getreten ist, wie Hans Urs von Balthasar sie Anfang der fünfziger Jahre beschrieben hat. Das Christentum ist danach eine Religion des Wortes Gottes. Diese Gestalt der Theologie ist nicht denkbar ohne die evangelisch-katholischen Auseinandersetzungen der letzten fünfzig Jahre über den Begriff der Offenbarung. Im Hintergrund steht dabei die nicht explizit erwähnte Programmschrift „Offenbarung als Geschichte“. Zieht man sie, wie von mir vorgetragen, zur Interpretation der fundamentaltheologischen Skizze heran, so spiegelt sich in der von Wolfhart Pannenberg entfalteten Offenbarungsvorstellung die katholische Erneuerungsbewegung in einer bestimmten Weise wider, die zu erkennen gibt, wo die gemeinsamen Ausgangspunkte, freilich auch die unterschiedlichen Entwicklungen liegen. Sie enthalten Potenzial für eine weitere ökumenische Verständigung.

Helge Siemers

Trutz Rendtorffs Beitrag „Das Offenbarungsproblem im Kirchenbegriff“

1.

Trutz Rendtorff und der „Kreis“

Der „Pannenberg-Kreis“ blickte bereits auf eine zehnjährige Geschichte zurück, als der 29–jährige Trutz Rendtorff im April 1960 im Berliner Johannesstift zum ersten Mal an einer seiner Arbeitstagungen teilnahm. Referenten waren Martin Elze, Klaus Koch, Wolfhart Pannenberg, Rolf Rendtorff, Dietrich Rössler, Ulrich Wilckens und eben Trutz Rendtorff, der über die Gegenwart Gottes in Kirche und Welt sprach. Trutz Rendtorff war der jüngste Teilnehmer und im Unterschied zu den meisten anderen noch nicht habilitiert. Warum und wie er zum „Kreis“ hinzustieß, lässt sich nur teilweise klären. Die Idee zur Gründung des Kreises entstand um 1950 zwischen den engen Freunden Rolf Rendtorff, dem älteren Bruder von Trutz Rendtorff, und Dietrich Rössler auf „einer langen gemeinsamen Eisenbahnfahrt von Kiel nach Heidelberg“1. Sie dachten über „weitere theologische Projekte“ nach und fassten den Entschluss, sich nach (studienmäßig und persönlich) gleichaltrigen Freunden umzusehen, mit denen wir versuchen könnten, die Grenzen zwischen den einzelnen theologischen Disziplinen zu überwinden, die wir für hinderlich und schädlich hielten.2

Dieses Vorhaben wurde erfolgreich verwirklicht, denn sie konnten einige junge – später durchaus namhafte – Theologen für eine langjährige Mitarbeit gewinnen.3 Über die spätere, nach fast zehn Jahren erfolgende Aufnahme seines jüngeren Bruders in den „Kreis“ schreibt Rolf Rendtorff in seinen Lebenserinnerungen

1 So Rolf Rendtorff, Kontinuität im Widerspruch. Autobiographische Reflexionen, Göttingen 2007, 62. 2 Ebd. 3 Zur Geschichte des Kreises vgl. Gunther Wenz, Pannenbergs Kreis. Genese und erste Kritik eines theologischen Programms, s. o. 17ff.

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Helge Siemers

nur knapp: „Später trat … schließlich auch mein jüngerer Bruder Trutz [hinzu], der den Aspekt der Systematischen Theologie aus seiner Sicht verstärkte.“4 Welche Sicht auf die damalige Theologie Trutz Rendtorff in den endfünfziger Jahren hatte, beschreibt er selber prägnant in seiner Selbstdarstellung: Ich selbst habe mich an der fälligen Revision des Verständnisses der neueren Theologiegeschichte beteiligt mit meiner Habilitationsschrift 1961 …, die am Leitfaden des Kirchenbegriffs einen in systematisch-theologischer Absicht konzipierten theologiegeschichtlichen Gegenentwurf zum herrschenden theologisch-kirchlichen Geschichtsbild darstellt … Im Kontext der Theologie hieß das, aus den dominierenden theologischen Fronten und Parteiungen der Barthianer und Bultmannianer herauszutreten … Die Intention dieser Auseinandersetzung mit den Antipoden der dialektischen Theologie war es, … sie auf dem Wege der Integration in eine neue Deutung der Theologie der Neuzeit kritisch ‚aufzuheben‘. Für diese innertheologische Reinterpretation der neuzeitlichen Theologiegeschichte bildete der ‚Kreis‘ eine entscheidende Kommunikationsform …, in den ich 1960 aufgenommen wurde.5

Rendtorff reichte seine Habilitationsschrift 1961 unter dem Titel „Kirche und Offenbarung“ in Münster ein.6 Ein Teilaspekt der Arbeit, die geschichtliche Herkunft der modernen Gesellschaft, findet sich bereits in seinem 1960 veröffentlichten Aufsatz „Geschichte und Gesellschaft“7. So kann davon ausgegangen werden, dass Rendtorff bereits in der zweiten Hälfte der fünfziger Jahre, also vor seiner Aufnahme in den „Kreis“, seine kritische Sicht der dialektischen Theologie in Grundzügen entwickelt hatte. In der kritischen Beurteilung der damals herrschenden Theologie und ihres Geschichtsverständnisses lag also wahrscheinlich der sachliche Grund für die Aufnahme des jungen Trutz Rendtorff in den „Kreis“. Wie es aber konkret zu dieser Aufnahme kam, lässt sich nur mutmaßen. Mit den beiden ursprünglichen Initiatoren des „Kreises“ war er persönlich eng verbunden. Beide, sowohl sein älterer Bruder Rolf als auch dessen Freund Dietrich Rössler, machten wie er selber ihren Schulabschluss in Kiel und begannen dort auch das Theologiestudium. Als Rössler, der auch Medizin studierte, seine klinische Weiterbildung als Arzt an der Universitätsnervenklinik in Münster fortsetzte, war Trutz Rendtorff dort Assistent am Institut für Christliche Gesellschaftswissenschaften, so dass sie ihren freundschaftlichen Kontakt direkt pflegen konnten. Es darf also insgesamt davon ausgegangen werden, dass zwischen allen dreien eine intensive langjährige 4 A. a. O.,62. 5 Trutz Rendtorff, in: Systematische Theologie der Gegenwart in Selbstdarstellungen, hg. von Christian Henning und Karsten Lehmkühler, Tübingen1998, 67. 6 Sie wurde dann in stark veränderter Fassung 1966 unter dem Titel „Kirche und Theologie“ veröffentlicht. 7 In: Friedrich Karrenberg, Wolfgang Schweitzer (Hg.), Spannungsfelder der evangelischen Soziallehre. FS Heinz-Dietrich Wendland, Hamburg 1960, 154–169.

Trutz Rendtorffs Beitrag „Das Offenbarungsproblem im Kirchenbegriff“

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persönliche Verbindung bestand8 und auf jeden Fall Rolf Rendtorff und Dietrich Rössler die Aufnahme von Trutz Rendtorff beförderten. Der inhaltliche Schwerpunkt der von Trutz Rendtorff bis zum Eintritt in den „Kreis“ vorgelegten Arbeiten war die Kirchensoziologie. Sein wissenschaftliches Lebenswerk geht thematisch aber weit darüber hinaus9 und umfasst neben der Kirchensoziologie die Theologiegeschichte, eine Theorie des Christentums und die Ethik, um nur die herausragenden Themen zu nennen.10 In ihm zeigt sich eine spannende Entwicklung, in der Themen, Motive und Fragestellungen im theologischen und interdisziplinären Kontext vertieft, präzisiert, kombiniert oder sogar revidiert und um neue Aspekte bereichert werden.11 Dies alles kann aber hier schon aus Platzgründen nicht berücksichtigt werden.12 Wir beschränken uns hier auf Rendtorffs Argumentation in seinem Beitrag zu OaG, „Das Offenbarungsproblem im Kirchenbegriff“. Bei seiner Lektüre fällt zunächst eine nicht immer leicht verständliche Diktion auf. Vermutlich ist sie darauf zurückzuführen, dass Rendtorff während seines Studiums in den USA das „soziologische Denken in Kategorien des Strukturfunktionalismus“ schätzen lernte, das ihn zu einem „methodisch reflektierten Blick auf das Christentum von ‚außen‘ im Vergleich zu dem von Frömmigkeit und normativen Ansprüchen der Theologie geleiteten Blick von ‚innen‘ „ anregte.13 Diese beiden Blickrichtungen werden in seinem Beitrag miteinander kombiniert, was die Lektüre stellenweise einigermaßen erschwert.

8 Zur Freundschaft zwischen Rolf Rendtorff und Dietrich Rössler vgl. Rolf Rendtorff, Kontinuität im Widerspruch (siehe Anm.1), 57–63. 9 Einen aufschlussreichen biografischen Abriss seines theologischen Schaffens gibt er selber in seiner Selbstdarstellung (siehe Anm.5), 59–77. 10 Zur Bibliographie (bis 2005) siehe: http://www.st.evtheol.uni-uenchen.de/personen/personen-ehemalige/rendtorff/publikationen-rendtorff/bib_rendtorff.pdf. 11 Einen kurzen verlässlichen Überblick über Rendtorffs Theologie bietet Hermann Fischer, Protestantische Theologie im 20. Jahrhundert, Stuttgart 2002, 209–223. 12 Dies hat zu einem großen Teil bereits Martin Laube in kenntnisreicher und subtiler Weise unternommen in: ders., Theologie und neuzeitliches Christentum. Studien zu Genese und Profil der Christentumstheorie Trutz Rendtorffs, Tübingen 2006. Darin wird Rendtorffs Denkweg bis zur ausgearbeiteten Christentumstheorie in den 1970er Jahren untersucht. Weiter, nämlich bis zu Rendtorffs Entwurf seiner Ethik, reicht Stefan Atze, Ethik als Steigerungsform von Theologie? Systematische Rekonstruktion und Kritik eines Strukturprozesses im neuzeitlichen Protestantismus, Berlin 2008. In seiner Darstellung geht er zurück zu Schleiermacher, Rothe, W.Herrmann und Troeltsch , die für ihn in gewisser Weise als Vorläufer einer „ethischen Theologie“ gelten könnten. Seine Darlegungen leiden jedoch unter der nicht hinreichend ausgeführten kritischen Annahme, dass bei Rendtorff der Theozentrismus zugunsten eines Anthropozentrismus aufgegeben werde und sein Offenbarungsbegriff defizitär sei. 13 So in seiner Selbstdarstellung ( siehe Anm.5), 61f.

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Helge Siemers

Nach der textnahen Darstellung des Rendtorffschen Argumentationsganges fragen wird dann nach dem Verhältnis zur Position Pannenbergs in dessen Beitrag zu OaG.

2.

„Der Kirchenbegriff als theologische Standortbestimmung“14

Für Rendtorff ist die zu seiner Zeit vorherrschende dialektische Theologie mit ihren Varianten gekennzeichnet durch das Bewusstsein „eines fundamentalen theologischen Neuanfangs“. Im Zentrum stehe dabei, dass dem Kirchenbegriff eine „epochale Bedeutung“ zugeschrieben werde und von einer „Wiederentdeckung der Kirche“15 die Rede sei. Wie ist diese Konzentration auf den Kirchenbegriff zu verstehen? Rendtorff meint, dass die intensiven Erörterungen nicht so sehr dem traditionellen dogmatischen Einzelproblem der Ekklesiologie dienen. Sie sollen vielmehr klären, „was Gegenstand der Theologie und Inhalt des Glaubens“16 sei, nämlich die „Offenbarung als gegenwärtiger Wirklichkeit“.17 Die Kirche werde von der dialektischen Theologie offenbarungstheologisch bestimmt, als Gegenwart Christi in der Gemeinde. Für Rendtorff macht diese Bestimmung deutlich, dass der theologische Kirchenbegriff durch den Offenbarungsbegriff „vorgängig und prinzipiell entschieden ist.“ Daraus folge notwendigerweise die allgemein geteilte Annahme, dass die Kirche als Kirche gegenüber der Wirklichkeit der Welt kategorial andersartig sei. Diese Annahme bilde die gemeinsame Grundlage der in der dialektischen Theologie geführten Diskussionen um den Kirchenbegriff. Die Behauptung der kategorialen Andersartigkeit der Kirche gegenüber der Welt werde auf diese Weise allerdings nicht im eigenen Zusammenhang der Kirche geführt, sondern ergebe sich durch ihre Bestimmung als Offenbarungswirklichkeit. Es handele sich gleichsam um eine „Neuschaffung“ der Kirche. Aus diesem offenbarungstheologischen Verständnis der Kirche ergibt sich für Rendtorff ein schwerwiegendes Problem. Es bestehe darin, dass die so verstandene Kirche „der natürlichen oder wissenschaftlichen Erkenntnis nicht zugänglich gemacht werden kann“.18 Darum könne die empirische Kirche auch nichts zu ihrem theologischen Verständnis beitragen.

14 115–118. Die Gliederung mit den entsprechenden Überschriften ist unverändert aus Rendtorffs Beitrag in OaG übernommen. Bei Zitaten aus OaG werden in der betreffenden Anmerkung nur die Seitenzahlen genannt. 15 115. Mehrere Zitate aus einer Seite werden beim letzten direkt folgenden Zitat nachgewiesen. 16 116. 17 115. 18 117.

Trutz Rendtorffs Beitrag „Das Offenbarungsproblem im Kirchenbegriff“

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Am Rande bemerkt könnte die in der damaligen Theologie vorherrschende Auffassung von der Belanglosigkeit empirischer Erkenntnisse über die Kirche für die theologische Lehre von der Kirche ein Grund für die äußerst schwache Resonanz auf Rendtorffs kirchensoziologische Dissertation19 in der Theologie gewesen sein. Und schließlich habe die Annahme einer kategorialen Differenz zwischen der theologisch verstandenen und der empirisch-historischen Kirche unvermeidlich die „Preisgabe eines einheitlichen Weltverständnisses“ zur Folge. Ein dichotomisches Weltverständnis stelle die Theologie allerdings vor erhebliche Probleme, wenn es um die Bezugnahme auf die faktische, historische Welt gehe. In der „sozialethischen und kirchensoziologischen Thematik“ führe es zu „schwerwiegenden Aporien“, sowie in Mission und Ethik dazu, dass die Einheit des Weltverständnisses „nur noch in der Gestalt des ethischen Appels als Aufgabe ihrer Hervorbringung in den Blick“ genommen werden könne.20 Angesichts dieser Problemlage plädiert Rendtorff dafür, die Grundlage der von der dialektischen Theologie behaupteten kategorialen Andersartigkeit der theologisch verstandenen gegenüber der empirisch-historischen Kirche zu hinterfragen.

3.

„Das dogmatische Problem des Kirchenbegriffs“21

Wie wir sahen, ist für Rendtorff die Behauptung der Andersartigkeit der Kirche gegenüber der Welt im Offenbarungsverständnis verankert, weil nach der damals herrschenden Überzeugung der theologische Kirchenbegriff „aus der engen und konsequenten Verbindung der Ekklesiologie mit der Christologie zu entwickeln“ sei.22 Wenn aber, so Rendtorff weiter, das Wesen der Kirche nur im „Zusammenhang mit dem Christusgeschehen“, mit „dessen Gegenwart in der Kirche selbst“, bestimmt werden könne, dann ist im Prinzip jenen ekklesiologischen Konzepten der Boden entzogen, die in der Analyse der Struktur der Kirche selbst, sei es in der Unterscheidung von Sichtbarkeit oder Unsichtbarkeit, Wesen und Erscheinung, Institution und Gemeinde oder Einzelner und Gemeinschaft ihren Ansatz nehmen.

19 Trutz Rendtorff, Die soziale Struktur der Gemeinde. Die kirchlichen Lebensformen im gesellschaftlichen Wandel der Gegenwart. Eine kirchensoziologische Untersuchung, Hamburg 1958, 2. Auflage 1959. Vgl. Martin Laube, a. a. O. (Anm. 10), 81. 20 118. 21 118–122. 22 118.

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Helge Siemers

Die tiefgreifenden Probleme, die sich aus der unmittelbaren Verbindung von Ekklesiologie und Christologie ergeben, lassen Rendtorff danach fragen, ob und wie der Zusammenhang der Kirche mit dem Christusgeschehen besser verstanden werden könne. Diese Frage ist für ihn, „wenn sie nicht im Sinne einer supranaturalen Relation beantwortet werden soll, ganz offensichtlich nur im Blick auf den geschichtlichen Zusammenhang der Kirche mit dem Christusgeschehen aufzunehmen.“23 Dafür gibt er zunächst einen kurzen historischen Rückblick auf die Lehre von der Kirche von den Vorreformatoren bis zum 19. Jahrhundert und kommt zu dem Ergebnis: Die Frage nach dem Zusammenhang der Kirche mit Christus wird … erst in ihrer grundsätzlichen Bedeutung ins Bewußtsein gehoben durch das neuzeitliche geschichtliche Denken; für dieses muß ja die Abgeschlossenheit der Gottesoffenbarung im historischen Sinne von entscheidender Bedeutung werden.24

In der Erkenntnis, dass die Geschichte „den Zusammenhang gegenwärtigen christlichen Daseins als Kirche mit dem sie begründenden Christusgeschehen“ darstelle, haben wir „die Wurzel der die Gegenwart bestimmenden und für ihr Selbstbewußtsein repräsentativen Frage nach der Kirche zu sehen.“ Allerdings sei damit „noch in keiner Weise festgelegt, wie diese Frage nach der Kirche als Geschichte ausgesagt wird.“ Denn die Kontinuität der nachchristlichen Gemeinde erscheint durch die Historizität der Offenbarung … grundsätzlich in Frage gestellt, so daß die Relation von Offenbarungsverständnis und Kirchenbegriff sich nunmehr ungleich komplizierter darstellt.25

Zu Beginn der dialektischen Theologie schien die theologische „Erfassung des Zusammenhangs gegenwärtiger Kirche mit Christus als Frage nach ihrer Geschichte … durch die Krise des Historismus in den Subjektivismus oder in die ethische Dimension abgewandert“. Angesichts „der Vorherrschaft des positivistischen Geschichtsbegriffs und seinem Korrelat, dem Individualitätsprinzip“, hätte die Theologie die „Differenz dieses Denkens zur theologischen Tradition“26 aufdecken können.

23 24 25 26

119 [Sperrung von mir, H.S.]. 120. 121. 122.

Trutz Rendtorffs Beitrag „Das Offenbarungsproblem im Kirchenbegriff“

4.

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„Das Verhältnis von Offenbarungsproblem und Kirchenbegriff in der dialektischen Theologie“27

In der dialektischen Theologie werde der Zusammenhang von Ekklesiologie und Christologie aber nicht geschichtlich begriffen, sondern „durch die Behauptung der prinzipiellen Andersartigkeit der Offenbarung von aller Welt“ einer historischen Betrachtung grundsätzlich entzogen. Stattdessen komme es zu einer „aufs höchste gesteigerte(n) Aktualisierung des Christusgeschehens“28, indem davon ausgegangen werde, „daß die Ekklesiologie nichts anderes ist als Christologie“. Die Einheit der Kirche mit Christus stelle „sich in der Gestalt ihrer sachlichen und strukturellen Entsprechung“ dar und wird auf die reine Gegenwärtigkeit von Kirche als die Aktualität der Christusoffenbarung reduziert.“29 Dieser Kirchenbegriff führe allerdings unvermeidbar zu Aporien, wenn es um die „Frage nach dem Verhältnis des Glaubens zur Welt“ gehe, in der die Christusoffenbarung verwirklicht werden solle. Denn in der selbstmächtigen, alle Geschichte überbietenden Aktualisierung der Christusoffenbarung wird der tatsächliche Boden der gegenwärtigen Kirche wesenlos. Die Ereignishaftigkeit der Offenbarung läßt … die Geschichte der Welt in ihrer faktischen Konkretion nicht mehr erkennen, so daß die Tendenz auf eine gewisse Willkürlichkeit ihres Welt- und Selbstverständnisses kaum vermieden werden kann.

Und damit sei eine verläßliche Orientierung des christlichen Handelns in der Welt nicht mehr möglich. Dies sei auch dann der Fall, wenn auf die Existentialität und Geschichtlichkeit des Menschen abgehoben werde. Denn dabei tritt der Kirchenbegriff überhaupt in den Hintergrund, weil der Zusammenhang des Glaubens mit Christus in der Aufdeckung der Struktur der Personalität sein Kontinuum hat, an dem die Kirche des Wortes nur eine aufschließende Funktion wahrnimmt, aber selbst ohne eine theologisch relevante historische, konkrete Realität bleiben muß, um den existentialen und aktualen Charakter dieser Personalität nicht durch eine Gestalt von Faktizität zu gefährden.30

Rendtorff beschließt die Darstellung der Verhältnisbestimmung von Offenbarung, Kirche und Geschichte durch die vorherrschende Theologie seiner Zeit mit der zusammenfassenden Feststellung, dass es hier zu offenkundigen Schwierigkeiten komme, und deshalb sei „der Rückgang auf die primäre Frage nach

27 28 29 30

122–126. 122. 123. 124.

230

Helge Siemers

dem Zusammenhang von Kirche und Offenbarung als Geschichte unumgänglich“.31

5.

„Das Offenbarungsproblem in der nachchristlichen Geschichte“32 Der sachliche Grund für die vorherrschende Reduktion des Kirchenbegriffs auf die Aktuosität des Christusgeschehens und den daraus folgenden rein gegenwärtigen supranaturalen Ereignischarakter von Kirche liegt … offensichtlich darin, daß die Theologie keinen hinreichenden Zugang zu der Abgeschlossenheit des Christusgeschehens im historischen und theologischen Sinne hat und so auch nicht zeigen kann, wie das Offenbarungsgeschehen in seiner so verstandenen Einmaligkeit den Fortgang der nachchristlichen Geschichte qualifiziert.33

Stattdessen müsse der Kirchenbegriff den faktischen Zusammenhang der nachchristlichen Geschichte mit dem Christusgeschehen im Ansatz theologisch als die Relation der Kirche zu Christus begreifen. Die Theologie der Kirche kann an einer systematischen Aufarbeitung der Geschichte der Kirche nicht vorübergehen, wobei zu beachten ist, daß es nicht um die Gewinnung einer Vielzahl einzelner, für die dogmatische Begriffsbildung besonders illustrativer Daten dieser Geschichte geht; vielmehr muß vorab eingesehen werden, daß die Geschichte der Kirche als solche der gesuchte Zusammenhang mit der damals geschehenen Offenbarung Gottes ist, die Theologie also kein besonderes, darüberliegendes Verhältnis zu konstruieren hat, sondern auch den systematischen Zugang zum Kirchenbegriff gewinnt, indem sie sich die Kirche als Geschichte in ihrem Zusammenhang, als Ganzheit, im vollen Bewußtsein ihrer Unabgeschlossenheit und darum Vorläufigkeit vor Augen führt, wobei die Einsicht unumgänglich ist, daß die Gesamtheit dieser Geschichte ohne das Christusgeschehen überhaupt nicht verständlich ist.34

Wenn der Kirchenbegriff die Kirche der Geschichte in den Blick nehmen müsse, dann aber „nicht in ihrer bloßen Faktizität“, sondern „mit einer dogmatischen Fragestellung…, die den theologischen Zusammenhang der Kirche mit der Geschichte Jesu betrifft.“35 Denn einerseits sei die Kirche an ihrer historisch-empirischen Struktur letztlich nicht erkennbar. Und andererseits würde eine Kirchengeschichte als eine „Geschichte unmittelbarer Heilserfahrung… zu der einmal geschehenen Offenbarung notwendig in Konkurrenz“36 treten. 31 32 33 34 35 36

126. 126–131. 126. 127. 127f. 128.

Trutz Rendtorffs Beitrag „Das Offenbarungsproblem im Kirchenbegriff“

231

Genauso wenig kann es richtig sein, von der Kirche der Geschichte auf eine wahre, ursprüngliche Grundstruktur abzuheben im Sinne eines normativen Begriffs einer offenbarten Kirche oder eines Urbildes der Kirche im Urchristentum oder in der Reformation. Die Spannung, die im Kirchenbegriff zum Tragen kommt und die sachlich in der unlöslichen Bezogenheit auf Christus ihren Grund hat, ist vielmehr dahin zu präzisieren, daß der Grund der Kirche nicht in ihr selbst liegt, sondern in einer ihr vorausgehenden Geschichtstatsache, dem Christusgeschehen. In diesem Zusammenhange ist auch der kontingente Charakter der Kirche verankert.37 Die Hinsicht auf die Abgeschlossenheit der Offenbarung bringt also erst das theologische Problem des Kirchenbegriffs positiv in den Blick. Der Rückgang in ihren geschichtlichen Grund ist deshalb die erste entscheidende Bestimmung des Lebenszusammenhanges der Kirche. Unter dieser Voraussetzung besteht dann auch die theologische Formel von der unlöslichen Verankerung der Ekklesiologie in der Christologie zu Recht.

Durch die geschichtlich verstandene christologische Verankerung der Ekklesiologie könne nun auch die Frage nach der Zukunft der Kirche beantwortet werden: Die eschatologische Bestimmtheit der Gemeinde durch die vorweggenommene Vollendung der Geschichte im Geschick Jesu … schärft den Blick dafür, daß der Zusammenhang der Kirche als Geschichte nicht mit immanenter Notwendigkeit abrollt, sondern durchaus Neues, Unvorhergesehenes enthält.

Und zugleich eröffnet die eschatologische Bestimmtheit die „Universalität der nachchristlichen Geschichte“. „In dieser Geschichte der Einheit der Kirche vollzieht sich konkret und gar nicht supranatural ihre eschatologische Existenz, wie sie vom Christusgeschehen her einsichtig wird.“38 Die Problematik des Verhältnisses der Kirche zur Welt [muß] unter dieser universalgeschichtlichen Perspektive aufgenommen werden …, nun aber wiederum nicht in spekulativem Zugriff, sondern durchaus orientiert an der auch historischer Einsicht zugänglichen Entdeckung, Bewahrung und Wandlung der Einheit der Kirche als weltgeschichtlicher Tatsache. Die theologische Neigung zur Aufrichtung einer strukturellen Relation von Kirche und Welt hat an der Wirklichkeit keinen Anhalt.39

Im Zusammenhang des Themas der Universalität der Kirche stellt Rendtorff noch einen besonderen Aspekt zur Erwägung, der auch die Einheit der Kirchen betrifft: Die Geschichte der nachreformatorischen Zeit hat in zunehmendem Maße bewußt werden lassen, daß die eschatologisch qualifizierte Universalität der nachchristlichen Geschichte nicht ein zeitloses Bild oder eine soziologisch einlinig fixierte Gegebenheit 37 128f. 38 129. 39 129f.

232

Helge Siemers

darstellt. Ihr geschichtlicher Charakter wird in ausgezeichneter Weise an dem Komplex der Einheit der Kirchen manifest. Die tiefgreifenden Wandlungen der Neuzeit können aus dem Verhältnis der Einheit der Kirche und der Einheit der Welt am genauesten und umfassendsten bestimmt werden. Sie fordern insofern die theologische Arbeit auf, bei aller Berücksichtigung der hier stattfindenden Friktionen, die Offenheit für die kontingente Neuartigkeit des Geschehens gegenüber einer Festlegung auf ein Bild von der Einheit der Kirche zu bewähren und zu fragen, in welcher Weise die neuen Dimensionen der Einheit der Welt, die sich mit der Umwälzung des Verhältnisses der Kirchen zueinander und zum politischen Gemeinwesen ergeben, auch in neuer Weise die Einheit der Geschichte begreifen lassen in ihrem Zusammenhang mit dem eschatologischen Charakter der Offenbarung. Eine Theologie der Kirche wird, gerade weil sie nur in strenger Verbindung mit dem Offenbarungsproblem vorgehen kann, auf diese weltgeschichtlichen Vorgänge jedenfalls Bezug nehmen müssen

, dies „nun aber wiederum nicht in spekulativem Zugriff, sondern durchaus orientiert an der auch historischer Einsicht zugänglichen Entdeckung, Bewahrung und Wandlung der Einheit der Kirche als weltgeschichtlicher Tatsache.“40 Rendtorff beendet seine Ausführungen mit dem Hinweis auf ihren fragmentarischen Charakter. Es ging uns bei dieser Erörterung … nur darum, die Richtung zu bestimmen, in der auch für das Verständnis der nachchristlichen Geschichte das Verhältnis von Offenbarung und Kirche maßgebend bleibt und sich selbst als ein durchaus geschichtliches erweisen läßt. Da wir es dabei noch in keiner Weise mit dem Kirchenbegriff selbst und im Einzelnen zu tun hatten, bleiben diese Bemerkungen notgedrungen besonders fragmentarisch.41

6.

Das Verhältnis von Rendtorff zu Pannenberg in OaG

Die Programmschrift OaG ist bekanntlich aus der Tagung des „PannenbergKreises“ im Oktober 1960 in Dassel hervorgegangen.42 Rendtorff stieß schon im April 1960 in Berlin zum „Kreis“ hinzu und präsentierte dort ein Papier über die Gegenwart Gottes in Kirche und Welt. Einen dem Titel dieses Papiers inhaltlich ähnlichen Beitrag, nämlich den, um den es hier geht, legte er dann auf der folgenden Tagung im Oktober 1960 vor: „Das Offenbarungsproblem im Kirchenbegriff“43. Daneben veröffentlichte Rendtorff im selben Jahr den Aufsatz

40 41 42 43

130. 130f. Vgl. dazu Gunther Wenz, a. a. O. (siehe Anm. 3). Vgl. Pannenberg in seinem Vorwort zu OaG, 3. Laube (a. a. O. 135f., siehe Anm. 12) konstatiert, dass Rendtorff in seinem Beitrag „die Grundthese seiner Habilitationsschrift pointiert zusammenfaßt“ (Trutz Rendtorff, Kirche und Offenbarung. Funktion und Stellung des

Trutz Rendtorffs Beitrag „Das Offenbarungsproblem im Kirchenbegriff“

233

„Geschichte und Gesellschaft“44, in dem er dankbar „die Übereinstimmung mit W. Pannenberg“45 vermerkt und auf dessen geschichtstheologisches Programm in „Heilsgeschehen und Geschichte“46 von 1959 verweist. So darf vermutet werden, dass die Beiträge Rendtorffs und Pannenbergs in OaG grundsätzlich weitgehend übereinstimmen. Ein Vergleich macht deutlich, dass dies tatsächlich der Fall ist. Für beide ist es „die in der Geschichte Jesu Christi proleptisch offenbar gewordene Einheit des geschichtlichen Handeln Gottes, welche den in der Differenz von Offenbarung und Kirche obwaltenden Zusammenhang konstituiert.“47 Vor dem Hintergrund dieser grundsätzlichen, geschichtstheologischen Übereinstimmung setzt Rendtorff allerdings einen besonderen eigenen Akzent in seinen ekklesiologischen Betrachtungen. Bei Pannenberg findet eine Bezugnahme auf die Kirche nur wenige Male statt, und dann meistens entweder in theologiegeschichtlichen Zusammenhängen oder wenn er die Kirche als „eschatologische Gemeinde“ bestimmt.48 Dagegen bleibt die faktische Kirche in Geschichte und Gegenwart weitgehend unbeachtet. Vielleicht kann ja die Ursache dafür darin gefunden werden, dass es Pannenberg in dieser frühen Phase seiner Theologie vor allem erst einmal um eine biblische Begründung seiner Geschichtstheologie ging. Rendtorff betont zwar auch wie Pannenberg den eschatologischen Charakter von Geschichte und Kirche, doch kann für ihn die „Einheit der Kirche mit Christus … kaum einleuchten, wenn sie mit dem Verlust eines theologischen Zuganges zur faktischen Kirche erkauft wird.“49 Stattdessen müsse sich die Theologie der faktischen Kirche zuwenden, die der „natürlichen oder wissenschaftlichen Erkenntnis … in soziologische[n], psychologische[n], aber auch

44 45 46 47

48 49

Kirchenbegriffs in der neueren Theologie, untersucht bei Schleiermacher, Hegel und Barth, Ms. Münster 1961. Trutz Rendtorff, Geschichte und Gesellschaft, a. a. O. (siehe Anm. 7). Zitiert nach Martin Laube, a. a. O. (Anm. 12), 220, Anm.22. Wolfhart Pannenberg, Heilsgeschehen und Geschichte, in: KuD 5 (1959), 218–237, 259–288. So die treffende Zusammenfassung von Martin Laube, in: a. a. O. 157 (siehe oben Anm. 12). Erste inhaltliche Differenzen von Rendtorffs Position zu derjenigen Pannenbergs deuten sich erst in einem späteren Aufsatz (ders., Überlieferungsgeschichte als Problem der Systematischen Theologie. Anmerkungen zu den Grenzen und Möglichkeiten der Theologie, in: ThLZ 90 (1965), 81–98) an. Das erhellt auch aus Rendtorffs Selbstdarstellung), in der er seinen eigenen Beitrag zu „Offenbarung und Geschichte“ merkwürdigerweise unerwähnt lässt und schreibt: „Meinen eigenen systematisch-historischen Beitrag zu dieser mit dem Titel der Programmschrift durchaus gewollten Provokation habe ich 1965 in einem Aufsatz in der ThLZ publiziert unter dem Stichwort ‚Überlieferungsgeschichte‘.“ (a. a. O.67f., siehe Anm. 5). Wie oben angekündigt, gehen wir auf diese Entwicklung aber nicht weiter ein. Ders., Dogmatische Thesen zur Lehre von der Offenbarung, 104, 105, 106, 109, 114. 125.

234

Helge Siemers

historische[n] Kategorien“ zugänglich sei.50 Theologiemethodisch gesprochen: „Der Kirchenbegriff nimmt die Kirche der Geschichte als erstes, sozusagen als ihren Text, in den Blick. Dies geschieht allerdings mit einer dogmatischen Fragestellung“.51 Die Ekklesiologie muss für Rendtorff also auf einer erfahrungswissenschaftlichen Betrachtung der Kirche in Geschichte und Gegenwart aufbauen.

7.

Fazit

Die von Rendtorff in seinem Beitrag zu OaG unter dem Titel „Das Offenbarungsproblem im Kirchenbegriff“ vorgetragene Kritik an der Ekklesiologie der damaligen dialektischen Theologie ist genauer betrachtet mehr als die Erörterung theologischer Teilfragen. Nur vordergründig geht es dabei um die Ekklesiologie. Im Hintergrund steht für Rendtorff die Frage, mit welcher Art von Wirklichkeit es die Theologie zu tun hat. Der dialektischen Theologie wirft er vor, ein dichotomisches Wirklichkeitsverständnis vorauszusetzen. Was er damit meint, könnte man als theologisch geprägten ontologischen Dualismus bezeichnen. Ihm zufolge gibt es zwei Wirklichkeiten, auf der einen Seite die empirisch-historische Wirklichkeit, die der natürlichen und wissenschaftlichen Erkenntnis zugänglich ist, auf der anderen Seite die durch die Offenbarung konstituierte supranaturale Wirklichkeit – wozu auch die Kirche zählt -, die nur durch den Glauben und die Theologie erfasst werden kann. Beide Wirklichkeiten sind kategorial voneinander unterschieden. Wird diese kategoriale Differenz vorausgesetzt, entstehen aber unlösbare fundamentale Probleme für die theologische Lehre von der Kirche, und nicht nur für die Ekklesiologie, sondern für die Theologie insgesamt: 1. Empirische Erkenntnisse über die Kirche können keinen Beitrag zur Theologie der Kirche leisten, und umgekehrt. Auch ist der traditionellen Lehre von der Kirche als corpus permixtum jegliche Grundlage entzogen. 2. Da Ethik, Mission, Religions- und Kirchensoziologie sowie Religionspsychologie sich wesentlich auf die empirisch-historische Wirklichkeit beziehen, kann die theologischen Lehre von der Kirche wie überhaupt die Theologie zu diesen Themen grundsätzlich nichts beitragen.

50 117. 51 127. Das Plädoyer Rendtorffs für eine interdisziplinäre Zusammenarbeit der Theologie ist also theologisch begründet.

Trutz Rendtorffs Beitrag „Das Offenbarungsproblem im Kirchenbegriff“

235

3. Auch die theologische Anthropologie kann auf der Grundlage der beschriebenen kategorialen Differenz zu den drängenden Fragen der Anthropologie wie etwa der medizinischen Anthropologie nichts beitragen. Seine alternative Konzeption von Theologie wird in Rendtorffs Beitrag zu OaG nur ansatzweise deutlich. Klar ist aber, dass er ein dualistisches Wirklichkeitsverständnis ablehnt und Kirche und Theologie nur im Kontext der einen empirisch-historischen Geschichte, der Christentumsgeschichte, verstehen kann. In Rendtorffs späteren Veröffentlichungen wird dann deutlich, dass die Überlieferungsgeschichte des Christentums die Kombination deskriptiver und normativer Zugänge ermöglicht und erfordert. Diese Aufgabe ist freilich nicht allein durch die etablierten theologischen Disziplinen zu leisten, vielmehr ist die Theologie notwendig auf den Austausch mit anderen Wissenschaften angewiesen. Nur in einem interdisziplinären Zugriff ist eine adäquate Erschließung der Gegenwart möglich. Gleichzeitig wird auch nur dadurch der Tatsache Rechnung getragen, dass das Christentum sich weder auf den Raum der Kirche beschränken lässt, noch allein in der Theologie seine wissenschaftliche Verortung hat. Vielmehr ist es gerade ein Charakteristikum des protestantischen Verständnisses von Christentum, dass dieses auch in anderen Bereichen der Gesellschaft und in anderen wissenschaftlichen Disziplinen seine Fortbildung erfährt.52

52 Reiner Anselm und Stephan Schleissing, in: Einführung. Zum Ort der ‚Ethik‘ im Werk Trutz Rendtorffs, in: Trutz Rendtorff, Ethik. 3., durchgesehene Auflage, Tübingen 2011, XIII.

Walter Dietz

Hermeneutik und Universalgeschichte bei W. Dilthey und W. Pannenberg

1.

Diltheys wissenschaftlicher Ansatz (die Prinzipien der Hermeneutik Schleiermachers)

Wilhelm Dilthey gehört neben Husserl und Nietzsche zu den bekanntesten deutschen Philosophen des ausgehenden 19. Jh. Seit dem II. Weltkrieg wird er auch international breit rezipiert, v. a. in der Philosophie, Germanistik, Geschichtswissenschaft und Pädagogik. Für Pannenberg spielt die Rezeption Diltheys eine entscheidende Rolle im Blick auf Hermeneutik, Wissenschaftstheorie, Geschichtsverständnis und Fragen der Verhältnisbestimmung von Individuum und Gesellschaft. Dilthey hatte in Berlin u. a. bei A. Trendelenburg studiert, einem scharfsinnigen Aristoteliker und Kritiker Hegels. Dilthey suchte seinerseits einen Weg zur Loslösung von der spekulativen Metaphysik Hegels1, dessen umfassendes Konzept einer enzyklopädischen, organischen Gesamtschau der Wissenschaften Pannenberg durchaus schätzte. Diltheys historisch-biographisches Interesse galt Friedrich Schleiermacher, insbes. seiner Hermeneutik. Dilthey hat sich trotz dieses Forschungsschwerpunktes, der ihn jahrzehntelang verfolgte, nie als Schleiermacherianer bekannt und verstanden, aber sein Ver1 Darin folgt ihm Pannenberg. Mit Dilthey und Kierkegaard kritisiert er die „Verkennung der Endlichkeit des philosophischen Denkens“ bei Hegel (MuG 1988, 67). Hegels absolute Logik des Begriffs hält Pannenberg ebenso wie Dilthey (und Heidegger) für „nicht mehr fortsetzbar“ (66). Sofern das „traditionelle metaphysische Denken“ durch „die Herrschaft des Begriffs und eines am Leitfaden logischer Notwendigkeit orientierten Denkens“ gekennzeichnet war, muss es überwunden werden. In dieser speziellen Hinsicht begrüßt auch Pannenberg die einschlägige Rede vom „Ende der Metaphysik“. Pannenberg teilt somit die Kritik Diltheys am „Logismus“ (66) der spekulativen Metaphysik Hegels (insbes. seiner Logik), allerdings ohne die philosophisch-theologische Frage nach den „letzten Gründen“ alles Seienden (66) damit beseitigen zu wollen. Mit Dilthey vertritt er die Auffassung, dass diese Frage allerdings nicht in einer abstrakt-begrifflichen, spekulativen Logik beantwortet werden kann, wollte man nicht den offenen Horizont der Geschichtlichkeit auf falsche Weise eliminieren. Hegels Grundaxiom, dass das sich erfassende Endliche über sich hinausweist auf das Unendliche (67; für den gesamten Ansatz von MuG ein elementarer Gedanke), wird dadurch für Pannenberg nicht außer Kraft gesetzt.

238

Walter Dietz

ständnis von Wirklichkeit, Geschichte und Hermeneutik hat unbestreitbare Affinitäten zu Schleiermacher.2 Diltheys in lateinischer Sprache abgefasste Dissertation befasste sich mit den „Principia Schleiermacheri“. Seinen Ruf nach Berlin verdankte er jedoch seiner „Einleitung“, deren I. Teil3 bereits fast ganz vollendet war. Wichtig ist hier nicht nur die Unterscheidung von Geistes- und Naturwissenschaften, sondern die eigenständige Begründung der Geisteswissenschaften4 (einschließlich der Kultur- und Sozialwissenschaften) im Horizont des Verstehens, nicht Erklärens.5 Die Natur in objektivierter Form steht für Dilthey unterhalb des Lebens6, dem das eigentliche Interesse des Menschen gilt. Dies bleibt ihm im Grunde geheimnisvoll und unentschlüsselbar. Pannenberg verfolgt diesen lebensphilosophischen Ansatz nicht, auch ist sein Begriff der Natur nicht derart veräußerlicht und depotenziert wie bei Dilthey. Die wissenschaftstheoretischen Anliegen beider sind auch nicht annähernd deckungsgleich: Dilthey geht es um eine eigenständige Begründung der Geisteswissenschaften, in klarer methodischer Abgrenzung von den Naturwissenschaften, um eine (von Letzteren her) übergriffige, positivistische Reduktion des Wissenschaftsbegriffs zu vermeiden. Pannenberg ist es hier weniger um eine Differenzbestimmung der Eigenständigkeit der Geisteswissenschaften zu tun, als vielmehr einen umfassenden Begriff von Wissenschaft, der an der Erforschung 2 So hat auch H.-G. Gadamer 1960 in Wahrheit und Methode Diltheys Ansatz als Fortsetzung der romantischen Hermeneutik Schleiermachers betrachtet. Gadamer konstatiert dabei das Unvermögen Diltheys, die „romantische Hermeneutik“ wirklich zu überwinden (WuM, 226). 3 Der II. Teil ist allerdings nie fertiggestellt und veröffentlicht worden. 4 Der Begriff Geisteswissenschaften ist irreführend und ungeschickt gewählt, sofern er das bezeichnen soll, was Dilthey darunter versteht. In seinem Sinne sollte man besser von „Lebenswissenschaften“ sprechen. Der Begriff Geisteswissenschaften nimmt jedenfalls nicht auf den Begriff des Geistes Bezug, wie er insbesondere durch Hegel (1807) und Kierkegaard (1849) geprägt wurde. Noch weniger geht es Dilthey bei Geisteswissenschaften um das, was engl. mind beinhaltet. 5 Nach Dilthey können naturwissenschaftliche Prozesse erklärt, die soziale Lebenswirklichkeit ‚nur‘ verstanden werden. Durch die auf Lebensmanifestationen gerichtete Hermeneutik „sollen wir den Zusammenhang des Lebens verstehen, der dem Erkennen niemals ganz zugänglich werden kann“ (GS VII,235). Diese scharfe Antithetik von Verstehen und Erklären vollzieht Pannenberg allerdings nicht mit, wie z. B. der Beginn seiner Ausführungen in dem Aufsatz über Teil und Ganzes (1978) deutlich macht. Er zeigt dabei zurecht auf, dass ein Verstehen des Unerklärten bzw. Unerklärlichen ebenso problematisch ist wie ein Erkennen, das sich nicht mit dem Verstehen von (in der Naturwissenschaft: kausalen) Zusammenhängen verbindet. 6 Leben wird zum Schlüsselbegriff für Dilthey. Auch wenn er keinen biologistischen oder vitalistischen Lebensbegriff vertritt, gehört er zur Lebensphilosophie, wie Dirk Sollies in seiner Habilitationsschrift (Wie das Leben in die Philosophie kam, Mainz 2007) herausstellt. – Pannenberg hält den Lebensbegriff von Dilthey durchaus für anschlussfähig, gerade auch im Blick auf die Einbeziehung seiner Geschichtlichkeit. Er kritisiert jedoch seine Begrenzung auf menschliches Leben, bei Abgrenzung von der „Naturwelt“ (deren Geschichtlichkeit nicht gleichsinnig von Dilthey wahrgenommen worden sei; MuG, 1988, 76).

Hermeneutik und Universalgeschichte bei W. Dilthey und W. Pannenberg

239

von Wahrheit orientiert ist, welche als eine ungeteilte, nicht eine doppelte begriffen wird. Gerade in seiner Wissenschaftstheorie von 19737 rekurriert Pannenberg sehr häufig auf Dilthey. Beide verbindet das Interesse, den Menschen in seiner geschichtlichen Verfasstheit zu denken. Das Wesen der Vernunft ist kein statisch-unveränderliches, sondern geschichtlich sich entwickelndes. Ebenso ist das religiöse Bewusstsein wie auch das ethische und juristische Wertebewusstsein ein historisch sich entwickelndes. Die Geschichtlichkeit des Menschen wird konsequent im Blick auf all seine Anlagen und Fertigkeiten gedacht. Das verbindet Dilthey mit Pannenberg, der ebenso wie Dilthey nicht von einer statisch sich gleich bleibenden, ewigen Vernunft ausgeht, und der ebenso wie er den spekulativen Überbau der Geschichtsmetaphysik Hegels vermeiden will, wonach in der endlichen Vernunft sich die absolute Vernunft bzw. das Absolute offenbart und verwirklicht. Der Gang der Geschichte ist für Dilthey wie Pannenberg ein offener Prozess, der sich nicht als geschlossenes System denken lässt.8 Beide sind keine Hegelianer. Von Trendelenburg her wird das Konzept einer spekulativen Geschichtsmetaphysik abgelehnt, bei Dilthey ebenso wie bei Pannenberg und z. B. auch Kierkegaard, der übrigens in Berlin nur Schelling und nicht auch Trendelenburg beachtet und gehört hat.9 Allerdings will Pannenberg den offenen Prozess der Geschichte zugleich offen denken für ein Wirken Gottes in ihm und durch ihn. An dieser Stelle ist Dilthey sehr zurückhaltend, skeptisch reserviert, obgleich sein Interesse für die Religion (verstanden als Ingredienz der Kultur) groß ist und seine letzte Schrift diese Frage hätte ausführlich behandeln sollen. Aber wirkt Gott in der Geschichte? Oder ist die Geschichte nicht eher eine Art ‚Selbstläufer‘, in der menschlich konfigurierte Kräfte sich ihren Weg bahnen? Pannenberg wäre das zu wenig, denn der Mensch wirkt nicht rein aus sich heraus und seinen immanenten Kräften. Für Dilthey beinhaltet die Geschichte die Option der Durchsetzung höherer Werte durch Moral, Recht, Religion und Kunst. Der Fortschrittsoptimismus der Aufklärung wirkt auch bei ihm noch kräftig nach, so dass ihm ein 7 WuTh ²1977; stw-Tb. 1987 8 Die Ablehnung des Systemgedankens bezieht sich bei Pannenberg auf ein geschlossenes System, indem sich die Notwendigkeit des Absoluten widerspiegelt. Bei Dilthey steht der Begriff des Lebens selbst gegen die Konzeption eines geschlossenen Systems. Vereinfacht könnte man sagen: Das Leben selbst in seiner Kontingenz und individuellen Ausprägung sprengt alle begrifflichen Systeme. Systeme sind einseitig, das Leben ist vielseitig und vielfältig, bzw. mit Diltheys eigenen Worten: „Leben ist Mehrseitigkeit.“ (GS VIII,68; vgl. hierzu H.-U. Lessing: Wilhelm Dilthey. Eine Einführung, Köln u. a. [UTB] 2011, p. 171). Dass sich das Leben und auch der „Weltgrund“ „mit den Mitteln des logischen Denkens nicht fassen“ lasse (VIII,118), ist eine Ansicht, die Diltheys größere Nähe zu Kant und Schopenhauer als zu Hegel und seiner Schule deutlich macht (Lessing 2011, 170). 9 Dies hat er später bedauert. Natürlich ging es ihm auch um eine Überwindung des Hegelianismus, wie Trendelenburg. Aber dieser hatte den (kaum zutreffenden) Ruf, Kantianer zu sein, was Kierkegaard offenbar nicht so interessant schien.

240

Walter Dietz

gewisser Geschichtsoptimismus nicht fremd ist. Dilthey stirbt 1911, noch vor der großen Katastrophe des I. Weltkriegs und einem nachhaltigen Irrewerden der Europäer an ihrer eigenen Kultur sowie an einem Fortschritt hin zu einem Reich der Freiheit als Ziel der Geschichte.

2.

Der „objektive Geist“: Gemeinsames Interesse an Sozialität, Objektivität und Allgemeingültigkeit

Was Pannenberg mit Dilthey besonders verbindet, ist sein Interesse am „objektiven Geist“. Dieser Begriff Hegels wird von Dilthey aufgegriffen, aber spekulativ entzaubert.10 Bei Hegel steht der „objektive“ Geist, also insbes. die Dimension der Sittlichkeit, nicht für sich, da sich in ihm der absolute Geist manifestiert, so dass der objektive Geist nicht rein (immanent) aus sich verstanden werden kann. Hier zeigt sich (vom Anliegen her, nicht von der Durchführung) eine gewisse Nähe zu Pannenberg. Dilthey hat keine Schwierigkeit damit, die Geschichte aus sich selbst heraus zu begreifen. Für Dilthey gibt es als im letzten Grund unbeantwortbares Rätsel die Frage nach dem Leben selbst, nicht nach Gott. Diese Kehre in der Fragerichtung verbindet ihn mit Nietzsche. Die Frage nach Gott gehört nach Dilthey in das Feld der religiösen Spekulation. Sie kann die Frage nach dem, was es mit dem Leben auf sich hat, letztlich nicht beantworten. Das sieht Pannenberg bekanntlich anders. Bei Dilthey ist die religiöse Option innerhalb des objektiven Geistes verortet und somit in ihrer Vorrangstellung depotenziert. Beide, Dilthey wie Pannenberg, halten jedoch an der herausragenden Bedeutung der Geschichte fest. Die Frage „Was ist der Mensch?“ kann nur im offenen Horizont der geschichtlichen Selbstentfaltung seines Wesens beantwortet werden. Was beide dabei interessiert, ist die Frage, ob und wie es ein allgemeingültiges Wissen um Geschichte und geschichtliche Vorgänge geben kann. Es geht für Pannenberg dabei um die Objektivität historischer Tatsachen, die sich dem unverstellten, unbefangenen Blick des Geschichtswissenschaftlers eröffnet, nicht bloß um eine subjektive Erfahrung und Deutung geschichtlicher Vorgänge. Das Werden des objektiven Geistes kann nur über eine Erkenntnis der Geschichte nachvollzogen werden. Trennend muss allerdings zwischen Diltheys und Pannenbergs Geschichtsverständnis wirken, dass Dilthey (anders als Ranke und Droysen) die Geschichte nicht explizit als offen für ein Wirken Gottes in ihr ansieht. Aber beiden geht es um das „objektive Wissen von der geschichtlichen Welt“ (GS 10 Vgl. Dirk Sollies: Wie das Leben in die Philosophie kam. Der Lebensbegriff im philosophischen Diskurs des 19. Jahrhunderts, Mainz (habil. philos.) 2007, p. 398ff, 401ff. Aus der Sicht Hegels wird dem Begriff „objektiver Geist“ durch diese Depotenzierung zugleich seine spezifische Bedeutung genommen.

Hermeneutik und Universalgeschichte bei W. Dilthey und W. Pannenberg

241

VII,8811). Das Geschichtliche ist dem Menschen nicht unmittelbar präsent, sondern nur aus Quellen. Die Aufgabe der Hermeneutik besteht nun darin, geschichtliche Vorgänge zu verstehen, wobei es nach ihm ganz legitim ist, die eigene Erfahrungswelt auf das Verstehen des Fremden zu übertragen.12 Wir verstehen somit Geschichte nach dem Prinzip der Analogie. Verstehen setzt voraus, dass wir „unser erlebtes Leben hineintragen in jede Art von Ausdruck eigenen und fremden Lebens“ (GS VII, 87). Insofern hat Hermeneutik sehr viel mit Psychologie zu tun, nachdem es bei Verstehen nicht nur um Worte geht, sondern z. B. auch um Mimik und Gestik. Wichtig ist dabei, dass die Bedeutung der Wirkungsgeschichte über das ursprünglich Gesagte, Gemeinte, Intendierte hinausgeht. Es gewinnt eine Bedeutung, die seine ursprüngliche Intention sprengt und transzendiert. Der Wirkungszusammenhang verselbständigt sich, während das Individuum gegenüber der Tat und seiner Geschichte zurücktritt. Die Idee und Forderung Schleiermachers, einen Autor besser zu verstehen als er sich selbst verstanden hat, verliert den Beigeschmack des Unangemessenen und Hybriden, wenn man seine ursprüngliche Intention eingebettet sieht in einen ihn übergreifenden Denkzusammenhang. Wo dieser präsent ist und vor Augen steht, kann und muss die Interpretation den subjektiven Interpretationsrahmen sprengen. Diesen Gedanken greift auch Dilthey auf, der ihn z. B. auch auf juristische Dokumente bezieht. Im Blick auf den geschichtlichen Zusammenhang des Verstehens verfolgen beide, Dilthey und Pannenberg, das gleiche Interesse.

3.

Individuum und soziale Wesensbestimmung; zur Dialektik von Teil und Ganzem

Die Dialektik von Teil und Ganzem spielt sowohl für das Denken Hegels als auch für Schleiermacher eine entscheidende Rolle. Schleiermachers Ansatz verläuft in großer Nähe zu Spinoza und Leibniz: Im Einzelnen (Teil) spiegelt sich facet11 Römische Ziffern mit Seitenzahl beziehen sich alle auf Diltheys GS (= Gesammelte Schriften, 1923ff). 12 H.-G. Gadamer hat 1960 in seinem Hauptwerk Wahrheit und Methode diesen Optimismus der klassischen Hermeneutik kritisiert und die Notwendigkeit einer Horizontverschmelzung herausgestellt, an die Pannenberg anknüpft. Anders als Hegel, Dilthey und Gadamer bleibt Pannenberg jedoch skeptisch im Blick auf die positive Beantwortung der Frage, ob eine derartige „Horizontverschmelzung“ (z. B. des geistigen Horizonts der Autoren des NTs einerseits und der heutigen Zeitgenossen andererseits) überhaupt möglich sei. In Verbund mit der Spannung zwischen protestantischem Schriftprinzip und historisch-kritischer Schriftauslegung (J. Lauster: zwischen „Prinzip“ und „Methode“; vgl. ders.: Prinzip und Methode. Zur Transformation des protestantischen Schriftprinzips durch die historische Kritik von Schleiermacher bis zur Gegenwart, Tü. 2004) führt dies, so Pannenberg, zur „Krise des Schriftprinzips“ (1962; vgl. GSTh 1, Gö. 1967, p. 11–21).

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Walter Dietz

tenartig das Ganze (das Universum) wider. Für Hegel ist das Verhältnis von Teil und Ganzem durch eine Dialektik bestimmt, die das Teil zwar über sich hinausweisen lässt, es aber stets nur als Moment einer Entwicklung zum absoluten Ganzen hin begreift. Das Teil in seiner Einzelheit und Besonderheit ist somit dazu bestimmt, aufgehoben zu werden. Kierkegaard hatte dagegen Einspruch erhoben, dass der Einzelne in seiner unaufhebbaren Besonderheit in diesem spekulativen System negiert oder nivelliert würde. Auch Pannenberg moniert die bleibende Bedeutung des Einzelnen in seiner unaufhebbaren Endlichkeit und Besonderheit.13 Deshalb kann er sich Hegel14 nicht anschließen, sondern verfolgt hier den Weg Schleiermachers, der das Endliche als individuellen Teil („Ausschnitt“) des Unendlichen begreift (Reden, 1799). Besonders Diltheys Anliegen kommt seinem Ansatz nahe, das Endliche als Teil eines Ganzen zu begreifen, das erst im Augenblick des Todes (individuell) bzw. des Endes der Geschichte (kollektiv) seine endgültige Bedeutung erlangt. Überhaupt geht es Pannenberg darum einen abstrakten Individualismus (wie man ihn seit Lukacs, Adorno u. a. insbesondere mit den Namen S. Kierkegaard und M. Stirner verbindet) zu vermeiden. Der Einzelne ist eingebettet in einen Geschichtszusammenhang, der über ihn hinausgeht. Die Hermeneutik zielt demnach nicht darauf, den Einzelnen in seinen Äußerungen und Handlungen rein aus sich selbst heraus zu verstehen. Der geschichtliche Kontext umgreift ihn. Pannenbergs Tendenz, diesen Kontext universalgeschichtlich zu verstehen, teilt Dilthey jedoch ebenso wenig15 wie sein Ansinnen, dieses Ganze noch einmal über sich hinaus auf Gott bezogen zu wissen. Allerdings ist der Gedanke, dass das Teil über sich hinausweist auf ein Ganzes, das in ihm antizipiert wird, ohne schon als Ganzes sichtbar zu werden, eine Vorstellung, die Pannenberg von Dilthey aufgreift16 und die sich auch schon bei Schleiermacher findet. Die Dialektik von Teil und Ganzem spielt sowohl bei Schleiermacher als auch bei Hegel eine markante Rolle. An Hegels Logik knüpft Pannenberg ausdrücklich an, verbindet dies aber zuletzt mit Einwänden, die ganz 13 Dazu muss nicht erst auf Kierkegaard verwiesen werden; vielmehr bringen schon die lk Gleichnisse vom Verlorenen (z. B. dem verlorenen Schaf) in Jesu Verkündigung zum Ausdruck, dass der Einzelne als solcher vor Gott zählt und von unendlichem Wert ist (was neben Pannenberg auch A. v. Harnack pointiert herausgestellt hat). 14 Wie Dilthey kritisiert Pannenberg die spekulative Vermittlungsdialektik Hegels. Hegels Hermeneutik ziele auf die „totale Vermittlung“ von Geschichte und Gegenwart (d. h. der absolute Geist gewährleistet die Einheit beider) und gehe mit diesem Programm – in problematischer Weise – über Schleiermacher hinaus. Mit Dilthey betont Pannenberg gegen Hegel zwei zentrale Prämissen: „Die Endlichkeit als Standpunkt des Denkens und die Offenheit der Zukunft.“ (ZThK 1963, 110). 15 Zu Dilthey Kritik des universalgeschichtlichen Konzepts Hegels vgl. Hans-Ulrich Lessing: Wilhelm Dilthey, Köln u. a. (UTB) 2011, 148. 16 Vgl. insbesondere GSTh 1,141ff (1964).

Hermeneutik und Universalgeschichte bei W. Dilthey und W. Pannenberg

243

auf der Linie Diltheys liegen (auch wenn dessen Name dabei nicht fällt). So wird in einem Aufsatz von 197817 zwar eine gewisse Sympathie für Hegels dialektische Bestimmung von Teil und Ganzem sichtbar; doch verweist Pannenberg mit seiner Bestimmung des Ganzen als ein „Sinnganzes“18 eher auf Diltheys als Hegels Denkfigur. Das Ganze oder Sinnganze ist für Pannenberg keine feststehende, absolute Größe, die als Verwirklichung des Begriffs in der Idee aus dieser (spekulativ) abgeleitet werden könnte. Im Unterschied zu Hegel und in Einklang mit Dilthey vertritt Pannenberg somit das Konzept einer zukunftsoffenen Geschichte, verbunden mit dem Bewusstsein, dass die Welt „noch nicht zum Ganzen vollendet und versöhnt ist“19. Daraus ergibt sich für Pannenberg die Notwendigkeit, die Antizipation20 des Ganzen nicht nur als intuitive und vorstellungsmäßige zu denken, sondern als tatsächliches Vorwegnehmen einer Totalität, die erst mit dem Ende der Geschichte abgeschlossen vorliegt. Hier orientiert sich Pannenberg unverkennbar an Dilthey. Von Hegel übernimmt Pannenberg allerdings die Vorstellung, dass das Ganze nicht vor und außer seinen Teilen als rein in sich selbst begründet gedacht werden kann. „Die Teile sind dem Ganzen wesentlich ebenso wie umgekehrt das Ganze den Teilen.“21 Das Ganze ist in diesem Sinn kein Absolutes und Autarkes, so dass es „nicht als selbstkonstitutiv gedacht werden“ kann. D. h. es genügt nicht, die Teile in ihrer Bedeutung vom Ganzen bestimmt zu sehen, sondern auch das Ganze ist es selbst nur durch seine Teile. Begreift man, wie Pannenberg es im Anschluss an Schleiermacher tut, die Teile gleichsam als herausgeschnitten aus dem Ganzen, so spiegeln sie bereits in sich facettenartig das Ganze wider. Insofern sind die Teile immer schon mehr als sie selbst, wenn sie sich auf das Ganze hin transzendieren; und das Ganze ist weniger als es selbst, wenn es sich rein aus sich selber statt elementar konstituiert durch seine Teile begreifen möchte. Naturwissenschaftlich stellt sich das für Pannenberg nicht grundsätzlich anders dar als im hermeneutisch zu erfassenden Geschichtsprozess.

17 W. Pannenberg: Die Bedeutung der Kategorien ‚Teil‘ und ‚Ganzes‘ für die Wissenschaftstheorie der Theologie (1978). 18 Die Bedeutung der Kategorien ‚Teil‘ und ‚Ganzes‘ für die Wissenschaftstheorie der Theologie, in: ThPh 53 (1978), 481–497; zit. 487. 19 A. a. O. 497 20 Vgl. L. Kugelmann: Antizipation. Eine begriffsgeschichtliche Untersuchung, Gö. 1986. Bei Kugelmann finden sich Analysen zum Vergleich Heideggers und Diltheys op.cit. 163ff. 21 A. a. O. 494

244

4.

Walter Dietz

Zu Diltheys Unterscheidung von Geistes- und Naturwissenschaften

Im Rahmen seiner Wissenschaftstheorie (1973; ²1977) kritisiert Pannenberg Diltheys strikte Entgegensetzung von Geistes- und Naturwissenschaften, da ihm an der Einheit des Wissenschaftsbegriffs gelegen ist. Die Einheit der Wissenschaften und des Wahrheitsbegriffs22 ist für ihn vorrangig gegenüber einer Begründung der Eigenständigkeit der Geisteswissenschaften. Dass Dilthey den Begriff der Geisteswissenschaften nicht idealistisch wie Hegel fasst (d. h. mündend in die Idee eines Absoluten, das sich in der Geschichte mit logischer Notwendigkeit offenbart), ist aus der Sicht Pannenbergs allerdings im Ansatz richtig, wobei der Begriff des Geistes bei Dilthey auf Sozialität und Kultur des Menschen bezogen ist. Auch ist es in Pannenbergs Sinne richtig und wichtig, nicht auf den abstrakten Einzelnen (Stirner; Kierkegaard; Existentialismus) zu rekurrieren, sondern den Menschen – wie bei Schleiermacher und Dilthey – als Kommunikations- und Gemeinschaftswesen in den Blick zu nehmen. Dennoch ist der Begriff der Geisteswissenschaften im Sinne Diltheys klärungsbedürftig. Inwiefern ist für ihn die Psychologie, nicht die Philosophie von tragender Bedeutung? Gehört die Psychologie überhaupt rein zu den Geisteswissenschaften?23 Wo steht hier die Theologie und wie verhält sie sich zur Religionswissenschaft? Bemerkenswert ist hier der Rekurs auf einen anderen Wirklichkeitszugang (verstehen statt erklären), der die Geisteswissenschaften nach Dilthey kennzeichnet. Seine Unterscheidung zielt nicht auf zwei Arten oder Sphären von Wahrheit, sondern zwei Zugangsweisen zur Wirklichkeit, wobei keine letztlich das Leben von seinem Grund her wirklich erschließen kann. Die Geisteswissenschaften kommen diesem Ziel jedoch weitaus näher als die Naturwissenschaften, welche die Natur in ihrer Abstraktheit nach allgemeinen Gesetzen in den Blick nehmen. Im Sinne Diltheys wäre es also ganz fatal24, 22 Zur Darstellung und Kritik des Wahrheitsbegriffs von Pannenberg vgl. die umfassende Studie von Thorsten Leppek: Wahrheit bei W. Pannenberg, Göttingen 2017. 23 Die Tiefenpsychologie C.G. Jungs und die Psychoanalyse S. Freuds tragen z. T. spekulative Züge. Von der neueren Psychologie gilt jedoch, dass sie deutlicher naturwissenschaftlichen Charakter hat, vor allem wo sie neuronale Prozesse mit einbezieht und gehirnphysiologisch argumentiert. Dass der Mensch Teil der Natur ist (was Dilthey ebenso wie später Pannenberg betont), eröffnet auch im Sinne Diltheys die Möglichkeit einer Zuordnung der Psychologie zu den Naturwissenschaften, wenngleich sie ursprünglich in den Geisteswissenschaften beheimatet ist. 24 In diesem Sinn ist auch S. Kierkegaards Tagebuchnotiz von 1846 aufschlussreich: „Alles Unheil wird letztlich von den Naturwissenschaften kommen“ (DSKE 4,69), bei der es nicht um eine mangelnde Risikofolgenabschätzung oder moralisch fragwürdige Technologien geht, sondern um eine Übergriffigkeit des spießbürgerlich-materialistischen Menschenbildes auf alle Wissenschaften und seine Dominanz im gesellschaftlichen Leben. Das Wesen des Geistes wird im Horizont dieser Übergriffigkeit in ein empirisch-materialistisches Weltbild

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würden die Naturwissenschaften das Paradigma von Wissenschaft überhaupt bestimmen, statt jene zwei komplementären Typen in ihrem je eigenen Recht bestehen zu lassen. Freilich wäre auch der andere Weg, nämlich der des Dt. Idealismus, falsch, die Materie nur als veräußerlichte Kehrseite des Geistes anzusehen und somit alles auf den Geist als letzte Wirklichkeit zurückzuführen.

5.

Pannenberg, Dilthey und Wissenschaftstheorie (nach WuTh)25

Pannenberg fasst Theologie unter die Geisteswissenschaften, versucht aber die qualitative Differenz beider Wissenschaftstypen nicht überzubetonen. Auch die Naturwissenschaften sind nicht ungeschichtlich oder übergeschichtlich in ihrem Wirklichkeitsverständnis; denn auch sie rekurrieren auf die Interpretation von Wirklichkeitserfahrung. Während die Geschichtswissenschaft das historisch Einmalige in den Blick nimmt, geht es der Naturwissenschaft um das Allgemeine (Gesetzmäßige). Pannenberg ist sich darüber im Klaren, dass Diltheys Begriff der Geisteswissenschaften weder den Hegelschen Begriff des Geistes noch das angelsächsische Konzept von „mind“ voraussetzt, sondern auf die kulturelle und soziale Dimension menschlicher Wirklichkeit abzielt. Die Theologie spielt für Dilthey dabei keine vorrangige Rolle. Auch Pannenberg geht es nicht darum, der Theologie einen Primat oder gar eine Sonderstellung im Reich der Wissenschaften einzuräumen. Mit Bezug auf Diltheys „Einleitung in die Geisteswissenschaften“ (Bd.I, 1883) rekurriert er auf dessen Begriff von Geisteswissenschaft in einem weiten Sinn. Er hat seine Wurzel in der behelfsmäßigen, unpräzisen Übersetzung des Begriffs von „moral sciences“ in J. St. Mills Logik der (dt.): „Geisteswissenschaften“26. Maßgeblich für Diltheys Begriff der Geisteswissenschaft ist der Rekurs auf innere Erfahrung, statt äußerer Erfahrung (Empirie) in den Naturwissenschaften. Pannenberg sieht den Begriff des Geistes insofern wirkmächtig über den cartesischen Begriff der res cogitans hinausgehend, als der Geist nach Dilthey in der Weise seiner selbstbezüglichen cogitatio selbst als geschichtlich bedingt und seinerseits geschichtsprägend zu denken ist.27 Pannenberg markiert an dieser eingepresst, das im Grunde daran verzweifelt, dass der Mensch sich nicht rein naturwissenschaftlich begreifen kann. Anders als Dilthey und Pannenberg geht es Kierkegaard in seiner Kritik an der Verabsolutierung des naturwissenschaftlichen Paradigmas um eine stärker am Einzelnen orientierte, d. h. keine auf Objektivität zielende, Geschichtshermeneutik. 25 Die folgenden Ausführungen beziehen sich insbesondere auf Pannenbergs Bezugnahmen auf Dilthey in WuTh (1973, ²77; als stw-Tb. 1987). 26 Vgl. WuTh 1973 (²1987) 27 WuTh, 77

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Stelle auch Diltheys Differenz zu Hegel: Wenngleich er nominell an Hegels Begriff des objektiven Geistes anknüpft, fehlt bei Dilthey der „absolute Geist“, den er ersetzt durch „die Einheit des (geistigen) Lebens“28. Aus Hegels Sicht besteht darin der entscheidende Rückfall Diltheys hinter ihn gerade auch dann, sofern er jene „Lebenseinheit“ primär auf das Individuum bezieht.29 Auch Pannenberg kritisiert die Tendenz Diltheys, „das Ganze“ einer Gesellschaft sowie der Geschichte überhaupt auszublenden. Das Individuum wird allerdings bei Dilthey durchaus nicht solipsistisch und nicht abstrakt, sondern in der Totalität seiner Außenbezüge gesehen. Dieser Sicht folgt auch Pannenberg, ebenso der Einsicht Diltheys in die geschichtlich offene Entwicklung des Individuums: Was und wer es in Wahrheit ist, steht nicht von Anbeginn an fest, sondern kristallisiert sich erst im geschichtlichen Prozess heraus. In diesem Prozess ändert sich zugleich „die Bedeutung der einzelnen Momente des Lebens“30. Was das einzelne Lebensmoment in Wahrheit bedeutet, kann sich also erst im Augenblick der Abgeschlossenheit des Lebensganzen definitiv zeigen. Dieses Ganze ist unterwegs zu sich, antizipiert auch stets (in aller Vorläufigkeit) ein Bild von dem, was es in Wahrheit sein und bedeuten soll. Diesen zentralen Gedanken übernimmt Pannenberg von Dilthey. Zur Offenheit der individuellen Lebensgeschichte gehört somit, dass sich das Bild des Ganzen immer wieder verschiebt, bis es dann erst im Tode vollendet vorliegt. Erst dann hat das Ganze seine vollendete Gestalt, von der aus dann die einzelnen Lebensmomente ihre endgültige Bedeutung erhalten.31 Diese endgültige Bedeutung kann vorweg immer nur in vorläufiger Gestalt antizipiert werden. Das Ganze des Lebens wird dabei stets nur aus seinen Teilen verständlich.32 In der Interpretation der einzelnen Teile und Momente des Lebens muss „zumindest implizit das Ganze schon vorausgesetzt werden“ (81). Pannenberg teilt diesen Ansatz, sieht ihn aber zugleich auch in seiner Problematik, dass nämlich Diltheys Hermeneutik der Lebenserfahrung den Umkreis der subjektiven Intuition nicht durchbrechen, nicht transzendieren kann33, weshalb es für ihn schwierig werde, eine „intersubjektiv gültige Hermeneutik zu entwickeln. Das fundamentale Problem sieht Pannenberg dabei in Diltheys Metaphysikkritik im Gefolge von J.St. Mill und A. Comte (81). Pannenbergs Kritik vollzieht dabei eine Gratwanderung: An Diltheys erweiterten Begriff der Geisteswissenschaften anzuknüpfen liegt ihm nicht fern, 28 29 30 31

Vgl. WuTh 77 WuTh 78 WuTh 80 Im Blick auf die Geschichte als Ganzes heißt dies, dass vom Ende der Geschichte her deren Sinn vollständig erschließbar sein kann (vgl. 167.162). 32 WuTh 81 cf. GS VII, 233 33 Auf diese Fokussierung der Intuition zielt auch Habermas’ Kritik an Diltheys, wie er sagt, „kontemplativen Wahrheitsbegriff“ cf. 109.

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ebenso bejaht er Dilthey Konzeption einer offenen Lebensgeschichte, die zu ihrer Ganzheit stets neu unterwegs ist. Wenn er aber das Metaphysikdefizit Diltheys kritisiert, dann nicht mit dem Ansinnen, Dilthey wieder (quasi hinter Trendelenburg zurück) in die Arme Hegels zu treiben, denn dessen Konzeption einer Realisierung des absoluten Geistes im Kontext der menschlichen Geschichte galt es ja gerade zu überwinden. Das monierte Metaphysikdefizit zielt also nicht auf die Wiederholung einer spekulativen Metaphysik des Absoluten im Sinne Hegels. Denn gerade Diltheys geerdetes Konzept der Geisteswissenschaften ist für Pannenberg ein wesentlicher Schritt über Hegel hinaus, hinter das es nicht zurückzufallen gilt.

6.

Stärken und Aporien von Diltheys Lebensbegriffs

Der Lebensbegriff ist philosophiegeschichtlich somit als Fluchtpunkt zu begreifen, der den Dualismus von Geist und Materie vermeidet bzw. unterläuft, indem er sich auf ein Drittes bezieht (das Leben), das per se diesen Gegensatz in ursprünglicher Einheit vereint.34 Aus der Sicht des reifen Hegel ist der Lebensbegriff nicht philosophisch aufschlussreich und präzise genug; er ist nicht dazu geeignet, aus ihm selbst die Entwicklung des Geistes abzuleiten. Daher ist er philosophisch, für sich allein genommen, keine ausreichende Basis der Argumentation (obwohl der Lebensbegriff in der Anfangsphase des Dt. Idealismus, bei Schelling, Hölderlin und Hegel eine herausragende Bedeutung hat). Der Rekurs auf ihn als „Schlüsselbegriff“ der Philosophie stellt somit aus der Sicht des reifen Hegel keinen echten Fortschritt dar, sondern eine vitalistische Regression, die (analog zur infantilen Regression) auf der Suche nach ursprünglicher Einheit von Geist und Materie eine urtümliche Einheit sucht, deren letzte Erhellungskraft und Erhellbarkeit allerdings begrenzt ist. An dieser Kritik aus der Sicht Hegels würde Dilthey immerhin zugestehen, dass der Lebensbegriff eine nicht mehr weiter aufhellbare und deduzierbare Grundbestimmung darstellt. Trotz dieser 34 Der Begriff des Lebens ist der Schlüsselbegriff von Diltheys Konzeption. Dabei gesteht er zu, dass dieser Begriff sich einer letzten Erhellung entzieht. Nur bestimmte Dimensionen, Aspekte und Manifestationen des Lebens lassen sich wissenschaftlich erfassen, nicht das Leben selbst. Auch die Hermeneutik ist in einer letzten Perspektive auf das Leben bezogen, nämlich als die Kunst, das Leben aus sich selbst zu erfassen. Die Frage, wie das überhaupt möglich sei (aufgrund der Unterschiedlichkeit menschlicher Naturen und ihres geschichtlichen Wandels), beantwortet Dilthey mit dem Hinweis auf die dem Menschen von Grund auf eigene Möglichkeit der Intuition. Im Sinne Pannenbergs wäre das (im Gefolge H. Plessners) die Möglichkeit, sich mit den Augen eines anderen sehen zu können. Dilthey geht davon aus, dass die Einheit der menschlichen Natur diese Option eröffnet (was Gadamer 1960 bestreitet und auf die Möglichkeit und Notwendigkeit einer Horizontverschmelzung verweist; daran knüpft auch Pannenberg an, allerdings kritisch).

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mangelnden Erhellbarkeit kommt ihr dennoch nach Dilthey eine umfassende Erhellungskraft zu. Auch die Hermeneutik ist letztlich für Dilthey eine Lebenswissenschaft, die darauf abzielt, das Leben aus sich selbst zu verstehen. Dies verbindet Dilthey mit der These, dass sich das Leben aus seinen Darstellungen und Manifestationen heraus entziffern, d. h. verstehen lässt.

7.

Hermeneutik, Geschichte und ‚objektiver Geist‘: Schleiermacher, Dilthey und Pannenberg

Schleiermachers Hermeneutik, die durch Dilthey und Gadamer über die Theologie hinaus ins moderne wissenschaftliche Bewusstsein gerufen wurde, bezieht das Verstehen auf sprachliche Kommunikationsprozesse, u.z. mündlicher wie schriftlicher Art. Aufgrund der Möglichkeit des Missverstehens35 ergibt sich für Schleiermacher die Berechtigung und Notwendigkeit einer „Kunstlehre“36 des Verstehens, deren Ziel darin liegt, herauszufinden was der Autor „im Sinn hatte“37, und zwar durch ein „divinatorisches und komparatives Verfahren“38. Schleiermachers Biographie und Hermeneutik beschäftigen Wilhelm Dilthey zeitlebens. Er knüpft positiv an Schleiermacher, insbes. im Blick auf eine Hermeneutik, die auf ein allgemeingültiges Verstehen im geschichtlichen Kontext zielt. Von Hegels spekulativer Geschichtsmetaphysik grenzt sich Dilthey damit dezidiert ab, wenngleich er von Hegel den Begriff des „objektiven Geistes“ übernimmt. Er füllt ihn jedoch anders, wobei er zugleich die spekulative Geschichtsmetaphysik und Hegels dialektische Methode ablehnt (besonders durch seinen Berliner Lehrer Trendelenburg wird er hier zum Anti-Hegelianer). Der Begriff des „objektiven Geistes“ umfasst für ihn „Sprache, Sitte, jede Art von Lebensform […] Familie, bürgerliche Gesellschaft, Staat und Recht […] Kunst und Religion und Philosophie“ (GS 7, 150f). Jeder individuelle Lebensausdruck ist nicht für sich verstehbar, sondern nur im überindividuellen Kontext des „objektiven Geistes“, der sich geschichtlich manifestiert. Der Verstehensprozess muss somit stets das Individuelle transzendieren und seine Einbettung in den „objektiven Geist“ berücksichtigen. Ein „allgemeingültiges“ Verstehen ist für Dilthey erst möglich, wenn das individuelle Leben abgeschlossen ist. Der Begriff des Ganzen verschiebt sich im Laufe des Lebens, denn erst im Augenblick des Todes ist das Leben „ganz“ vorstellig. Dabei ist wesentlich, dass erst vom (defi35 36 37 38

Schleiermacher (1977), 92 Schleiermacher (1959), 156 Schleiermacher (1959), 64 Schleiermacher (1959), 109. Dem folgt Dilthey weithin, weitet das hermeneutische Verfahren jedoch aus, im Blick auf nicht-sprachliche Äußerungen (z. B. Gestik und Mimik).

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nitiv) Ganzen her das einzelne Lebensmoment seine (endgültige) Bedeutung erhält. Diesen Gedanken übernimmt Pannenberg von Dilthey: Erst im und mit dem Tod des Einzelnen, gewinnen die Momente seines Lebens ihre eigentliche und definitive Bedeutung.39 Vorher bleiben sie gewissermaßen in der Schwebe, offen für eine künftige (Um-) Deutung und Umgewichtung. Anders als im Hegelschen Geschichtssystem gilt daher für beide, Dilthey wie Pannenberg, das Prinzip der Zukunftsoffenheit, und zwar in doppelter Hinsicht: einmal im Blick auf das individuelle Leben, zum andern im Blick auf die Menschheitsgeschichte. Der Gedanke eines „Endes der Geschichte“ ist für beide virulent, für Pannenberg aber zugleich eschatologisch (und christologisch) gefüllt, was ihn deutlich von Dilthey unterscheidet. Der Gedanke der Zukunftsoffenheit von Leben und Geschichte in seiner eschatologischen Zuspitzung unterscheidet Pannenberg zugleich von Hegel und Schleiermacher sowie von Dilthey. Gegenstand der hermeneutischen Interpretation ist nach Dilthey der ‚objektive Geist‘. Nach GS 5,208f (Aufbau) bezieht sich dieser Begriff bei Dilthey nicht im Sinn Hegels auf eine Manifestation von Sittlichkeit im Übergang zum absoluten Geist, sondern auf verobjektivierte, geschichtlich manifestierte Sinnstrukturen. Die eigentliche hermeneutische Kunst bezieht sich nach Dilthey auf die Fremdheit in dem, was es zu verstehen gilt. Durch die Erschließung des Erfahrungshorizontes (vgl. Schleiermachers divinatorisches Verfahren) wird diese Fremdheit überwunden (und sie kann stets überwunden werden, meint Dilthey, aufgrund der Identität der menschlichen Natur mit sich selbst). Die Kunst der Hermeneutik bezieht sich nicht nur auf einzelne Aussagen, sondern Gedankensysteme verschiedener Art, aber auch nichtsprachliche Ausdrücke (wie z. B. 39 Wichtig ist hier allerdings Pannenbergs Abgrenzung von Diltheys These (die auch bei Heidegger fortwirkt), im Tode werde das Leben zu seiner Ganzheit gebracht (vgl. STh III, 600f). Vielmehr bedeutet für Pannenberg der Tod (mit Sartre) eine Fragmentierung des Lebens. Damit bestreitet Dilthey „die These einer konstitutiven Bedeutung des Todes für die Zeiterfahrung“ (MuG 1988, 62). Der Grundgedanke, „daß das Dasein in der Weise der Antizipation existiert“, wird dabei jedoch nicht verworfen, sondern mit Plotin auf das Zur-GänzeKommen der Zeit in der Zukunft bezogen (MuG 63). Den dahinter liegenden Grundgedanken einer Seinskonstitution von der Zukunft her führt Pannenberg auf „Diltheys Analysen der Geschichtlichkeit des Erlebens“ zurück. Antizipation ist für Pannenberg jedoch nicht nur eine Angelegenheit des subjektiven Bewusstseins, sondern meint die „rückwirkende Konstitution des Wesens der Sache, die im Werden ist, von dessen Ende her“ (MuG 77). Die aristotelische Vorstellung einer Wesensverwirklichung im Werden kann nach Pannenberg mit Dilthey so modifiziert werden, dass auch das eidos geschichtlichen Charakter trägt, d. h. das substantielle Wesen einer Sache nicht unveränderlich feststeht, sondern als Resultat eines geschichtlichen Werdens zu begreifen ist (MuG 76f). Gegen Aristoteles bezieht Pannenberg das auch auf die Entstehung von qualitativ Neuem, gegen Dilthey auch auf die Naturgeschichte, und abgrenzend von Heidegger konzipiert er das Ende als eine über den Tod hinaus gehende Wirklichkeit. Heideggers Fehler bestünde darüber hinaus darin, die „Geschichtlichkeit des Daseins“ in der existenzphilosophischen Pointierung seiner Fundamentalontologie nicht so klar wie Dilthey erfasst zu haben (MuG 79).

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Gesten und Mimik). Das Verstehen ereignet sich im „Hineinversetzen“ in den Autor, u.z. im Blick auf seine Produktivität, die im Verstehen gewissermaßen nachvollzogen wird. Es geht in der hermeneutischen Kunst um ein „Nachbilden oder Nacherleben“40. Hermeneutik hat es mit der Erschließung der Bedeutung des Lebens zu tun, nicht nur mit dem verstehenden Rekonstruieren der Bedeutung von Wörtern oder Sätzen. Die Bedeutung liegt letztlich im Ganzen, von dem her die Teile ihren Sinn bekommen. Dass bei Dilthey der Begriff der Bedeutung auf den des Sinns verweist, und dieser Sinn zugleich die sprachliche Dimension transzendiert, macht ihn religiös anwendbar, wenn man wie z. B. Bultmann, Tillich und Pannenberg, davon ausgeht, dass Religion elementar mit der Frage nach dem Sinn zu tun hat.41 Nach Dilthey erschließt sich der Sinn des menschlichen Daseins den Menschen nur aus der Geschichte selbst, er kommt ihm nicht ‚von außen‘ zu. Die Hermeneutik Diltheys ist somit nicht auf eine religiöse Sinnstiftungsoption angelegt. Der Mensch selber ist das sinnstiftende Subjekt (anders als bei Hegel, wo sich der letzte Sinn des Ganzen nur als der absolute Geist offenbart). Eine religiöse Deutung oder Vereinnahmung der Hermeneutik Diltheys ist also keineswegs ohne weiteres angezeigt (aus der Sicht Diltheys; aber aus der Sicht Pannenbergs ist sie nun anderseits auch nicht gerade abwegig).

8.

Dilthey und Habermas: Hermeneutik, Dialektik und der hermeneutische Zirkel

In dem Kapitel „Hermeneutik und Dialektik“ (in WuTh42) setzt Pannenberg sich kritisch mit der Dilthey-Rezeption von Jürgen Habermas auseinander. Die Streitfrage, um die es dabei geht, ist nicht nur die Zirkularität von Teil und Ganzem43, sondern zugleich die Frage nach dem wissenschaftstheoretischen Status der Hermeneutik (vgl. Habermas’ Rede von einer „zirkulären Begriffsbildung“44). Pannenberg sieht ähnlich wie Habermas die Zirkularität der Ver40 GS 5,213f (Aufbau) 41 Was nach Tillich nicht von jeher so gewesen ist, sondern die spezifisch neuzeitliche Dimension des Christentums kennzeichnet. In der Alten Kirche ging es um eine Hermeneutik der Unsterblichkeit, im Mittelalter um eine Hermeneutik der Rechtfertigung und Vergebung, nämlich durch Erlösung von Schuld und Sünde (im Kontext der Buße), und erst in der Neuzeit um die Sinnfrage (P. Tillich: Der Mut zum Sein, 1953). 42 WuTh , stw (1987=77²), 185–206 43 Wobei das Teil das Ganze voraussetzt, aber zugleich das Ganze nicht gedacht werden kann ohne vorweg die Existenz seiner Teile vorauszusetzen. 44 WuTh (stw) 199

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stehensbedingungen als mit ihrem Wissenschaftsanspruch unvereinbar. Er hält allerdings die „Annahme der Zirkelhaftigkeit des Verstehens“ durchaus für entkräftbar45, auch ohne auf eine Handlungstheorie im Sinne von Habermas auszuweichen. Denn der Rekurs auf eine „Sinntotalität“46 ist für Pannenberg keine Angelegenheit der gläubigen Subjektivität, sondern die „subjektive Sinnerfahrung“ ist immer schon bezogen auf das „objektive Sinnverstehen der Geschichte“47, das keine Angelegenheit nur des Einzelnen ist.48 Erst und nur durch den Rekurs auf dieses „objektive Sinnverstehen der Geschichte“ (s. o.) ist die Wissenschaftlichkeit der Hermeneutik gewährleistet, die nicht nur auf die subjektive Sphäre des individuellen Lebens bezogen ist. Dabei obliegt dem Einzelnen die antizipative Erschließung jenes übergreifenden Sinns. Antizipation ist für Pannenberg dabei ein real sich vollziehender Prozess, keine Angelegenheit nur des subjektiven Fühlens. Mit Habermas verbindet ihn dabei die Kritik an einem rein oder primär „kontemplativen“ Verständnis des Sinnverstehens. Indem Pannenberg das Objektivitätsinteresse Diltheys grundsätzlich teilt, wendet er es an dieser Stelle auch gegen Dilthey selbst, verbunden im Grundanliegen einer Überwindung der „romantischen Hermeneutik“ (so Schleiermachers Grundkonzept, nach Gadamer). An die Stelle der Kontemplation muss nach Pannenberg ein Verstehen der geschichtlichen Lebensmanifestationen treten, das ein Erkennen der objektiven geschichtlichen Vorgänge in sich schließt.

45 WuTh (stw) 202 46 Vgl. auch STh III (1993) 193. Dort verweist Pannenberg auf seinen von G. Ebeling abweichenden Sprachgebrauch (Anm. 212). Die Rede von Sinntotalität impliziert, dass jedes „einzelne Erlebnis … seine Bedeutung nur im Zusammenhang des vorgreifend gegenwärtigen Lebensganzen“ hat. „Jeder Lebensmoment, jedes Erlebnis stellt sich von daher dar als eine vorgreifende Artikulation des Lebensganzen im einzelnen Ereignis. Das ist der Grundgedanke der hermeneutischen Philosophie Wilhelm Diltheys gewesen.“ (STh III, 193 cf. 636f) 47 WuTh (stw) 205. Dies verbindet ihn mit Dilthey, der auch davon ausgeht, „die Vergangenheit objektiv darstellen zu können“ (Christofer Zöckler: Dilthey und die Hermeneutik, Stuttgart 1975, 123 – eine von Zöckler selbst nicht geteilte Position; zu Gadamers Dilthey-Kritik vgl. dort 124ff). 48 Überhaupt ist festzuhalten, dass zwar die Einheit des individuellen Lebens auf ein Subjekt bezogen werden kann, nicht aber die Menschheitsgeschichte als ganze; A. Dunkel kritisiert die von Dilthey vorausgesetzte „Symmetrie zwischen dem überindividuell-geschichtlichen Lebensablauf einerseits und der individuellen Lebensgeschichte andererseits“ (Achim Dunkel: Christlicher Glaube und historische Vernunft, Göttingen 1989, 169).

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9.

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Hermeneutik und Universalgeschichte (Hegel, Dilthey und Pannenberg) – die fundamentale Geschichtlichkeit des Verstehens

Pannenbergs Interesse ist ein Doppeltes: einmal an den universalgeschichtlichen Ansatz Hegels anzuknüpfen, ohne dessen Aporien zu teilen (Ausblendung der Endlichkeit menschlicher Erfahrung; Bestreitung der Zukunftsoffenheit; Vernachlässigung der Bedeutung des Individuellen); zum andern, die moderne hermeneutische Diskussion aufzunehmen, in Anknüpfung an Schleiermacher, Dilthey und Gadamer (1960), der die Diskussion durch sein Spätwerk Wahrheit und Methode befruchtet und die Aufmerksamkeit neu auf Dilthey gelenkt hatte. Die Vorrangstellung der hermeneutischen Fragestellung vor der historischen verband im Übrigen seinerzeit namhafte Theologen wie R. Bultmann, Ernst Fuchs und Gerhard Ebeling. Die Tendenz der neueren Hermeneutik bestand darin, Verstehen nicht auf einen gesamtgeschichtlichen Kontext zu beziehen, sondern auf eine Sprachphilosophie, die ihre Wurzeln im Denken M. Heideggers hat. Tendenziell geht es dabei um eine Aufhebung der Historie in Hermeneutik. Pannenbergs Anliegen geht nun nicht dahin, das Recht der hermeneutischen Fragestellung zu relativieren, auch nicht dahin, Hermeneutik gänzlich in Universalgeschichte aufzuheben und aufzulösen, jedoch die Dimension der Geschichtlichkeit des Verstehens herauszustellen. Indem wir den Sinn von etwas verstehen, verstehen wir es stets im übergreifenden Kontext seiner Geschichtlichkeit. Der Sinn eines Ereignisses erschließt sich erst im Ganzen der Geschichte. Da die Geschichte noch unabgeschlossen ist, kann dieser Sinn nur vorgriffsweise (antizipatorisch, proleptisch) erfasst und erfahren werden. Ohne jene Letztperspektive einer vollendeten Geschichte müssten Sinn und Bedeutung einzelner Ereignisse ganz im Dunkeln bleiben. Deshalb ist der Gedanke der Universalgeschichte für Pannenberg ganz unverzichtbar, wenngleich er sie nicht spekulativ fassen will, sondern als zukunftsoffenen Prozess. In den Augen Hegels ist Pannenbergs Konzept der Universalgeschichte allerdings ein Etikettenschwindel, weil sie nicht aus einer Offenbarung konzipiert wird, deren Wesen begrifflich-spekulativ erfasst werden kann. Übrigens ist auch Diltheys begriffliche Anknüpfung an Hegel in der Idee des „objektiven Geistes“ eine Art Etikettenschwindel, da Hegel auch hier eine notwendige dialektische Beziehung in Richtung auf das Absolute annimmt (die bei Dilthey fehlt). Was der „objektive Geist“ ist, das ist er nach Hegel nicht in seinem Für-sich-Sein, sondern in seiner Richtung auf das Absolute, das er in gewisser Weise schon antizipiert. Dilthey und Pannenberg tendieren dazu, das spekulative Moment der Philosophie Hegels und ihrer Konzeption eines abgeschlossenen Systems strikt zu vermeiden. Beide betonen die Kontingenz und Zukunftsoffenheit von indivi-

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duellem Leben und Geschichte. Beide sind in diesem Sinn Anti-Hegelianer, obwohl Pannenberg doch auch die positive Seite der Hegelschen Philosophie zu schätzen weiß: als einer umfassenden philosophischen Konzeption, die Gott, Welt (Menschheit) und Geschichte radikal zusammen denkt, und zwar auf der Basis eines trinitarischen Gottesbegriffs. Das Moment der Zukunftsoffenheit und Kontingenz der Geschichte (die die Entstehung von Neuem im Geschichtsverlauf zu denken ermöglicht) wird bei Hegel allerdings geopfert, während Dilthey dafür aufgeschlossen ist. Pannenberg geht in seiner Anknüpfung an Dilthey allerdings deutlich über ihn hinaus, sofern er ein eschatologisch ausgerichtetes Konzept von Universalgeschichte voraussetzt. Aus Diltheys Sicht wäre das abzulehnen, sofern es den Gedanken der Kontingenz und Offenheit der Geschichte ebenfalls (nur weniger begrifflich-spekulativ wie Hegel) unterläuft.

10.

Hermeneutik, Universalgeschichte und Horizontverschmelzung49

Pannenberg betont, dass durch die historische Bibelkritik die Ineinssetzung von sensus literalis und sensus historicus zerbrochen ist, wodurch die Rückfrage hinter den Text in ihrem Eigenrecht erscheint, verbunden zugleich mit der Frage „über den Text hinaus“ auf das geschichtliche Ereignis und seine Bedeutung „im Kontext der Universalgeschichte“ (91)50. Der historische Kontext verbindet sich so mit der Rückfrage „hinter die Texte“ zurück. Als geschichtlicher Kontext erscheint zunächst der unmittelbare Lebenskreis, dann die jeweilige Epoche und zuletzt die Universalgeschichte (91). Pannenberg geht davon aus, dass biblische Texte nicht unmittelbar zu uns sprechen, sondern einen konkreten Sachbezug in einem historischen Kontext haben (92). Die hermeneutische Fragestellung befindet sich dabei in einer gewissen Konkurrenz zur historischen. Der Historiker fragt, „wie es wirklich gewesen ist“ und klammert dabei (in einer Art Abstraktion) seinen wirkungsgeschichtlichen Zusammenhang mit dem Ereignis zunächst aus (93). Auch wenn er weiß, dass eine letzte Objektivität nicht zu erlangen sein wird, tendiert er jedoch nach einem Maximum an sachbezogener Objektivität. Allerdings ist jenes Objektivitätsstreben nicht interesselos, sondern durchaus durch ein „Gegenwartsinteresse geleitet“ (95). Verstehen ist demnach immer schon geschichtlich vermittelt. Zu den klassischen Begründern der modernen Hermeneutik zählt Pannenberg (mit Gadamer) Schleiermacher und 49 Vgl. Pannenbergs Aufsatz Hermeneutik und Universalgeschichte, in: ZThK 60 (1963), 90–121 50 Seitenzahlen hier und im Folgenden nach Pannenberg (ZThK 1963), s. Anm. 49. – Vgl. dazu auch: Gottfried Böhm / H.-G. Gadamer (Hg.): Seminar: Die Hermeneutik u. d. Wissenschaften, Frankfurt/M. (stw) 1985.

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Dilthey (95f), denen beiden die Vermittlung von Historie und Hermeneutik noch nicht gelungen war. Bei Schleiermacher und Dilthey überwiegt das psychologische Interpretationsinteresse, das die nachbildende Funktion des Verstehens leitet. Wir verstehen, indem wir schöpferisch nachvollziehen (97). D. h. der Text erschließt sich nicht von selbst, und auch nicht allein von seinem historischen Sachbezug her, der eher nur den Hintergrund bildet. Grundlage des Verstehens ist vielmehr das sich Hineinversetzen und Einfühlen in die seelische Natur des Autors.51 Pannenberg bestreitet allerdings Diltheys These, dass aufgrund der Einheit (Identität) der menschlichen Natur („kraft gleicher seelischer Natur“) die hermeneutische Grundvoraussetzung gewissermaßen von Natur aus (nämlich: menschlicher Natur aus), gleichsam automatisch, gegeben sei (98). Die Fremdheit des Überlieferten werde dabei ausgeklammert und übersprungen, wobei die eigene Erfahrungswelt und das eigene Erfahrungspotential dann unter der Hand zum Kriterium des Verstehens werde. In diesem Sinn begrenze das „Vorverständnis“ vorweg die Auslegung (98). Immerhin betone auch Dilthey die Geschichtlichkeit der Erschließung unserer Lebensmöglichkeiten (99). Damit geht sein Ansatz über die psychologische Fragestellung Schleiermachers und die existentiale Interpretation Bultmanns klar hinaus (100). Das Defizit Schleiermachers und Bultmanns besteht in ihrer anthropologisch-existentialen Hermeneutik. So wird es ihnen unmöglich, „Aussagen über Gott, die Welt und die Geschichte“ objektiv und d. h. nicht nur als „Ausdruck“ eines spezifischen Existenzverständnisses in den Blick zu nehmen (101). Anders als Schleiermacher und Bultmann geht Pannenberg davon aus, dass das Gottesverständnis dem Selbstverständnis „logisch“ vorausgeht (101 Anm.). Diese logische Vorrangstellung führt zu einer Ausweitung seines Verständnisses von Hermeneutik, verbunden mit einer Kritik der psychologischen Engführung bei Schleiermacher und Dilthey sowie einer „existentialen Engführung“ bei Bultmann (101). Die Gottesfrage erschließt sich für Pannenberg (anders als für Schleiermacher oder Bultmann) über das „Weltverhältnis“ des Menschen (102 Anm. 18). Hier berührt sich Pannenbergs Ansatz stärker mit Thomas von Aquin, Hegel und K. Barth als mit der subjektivitätstheoretisch-existentialistischen Ausrichtung (seinerzeit) moderner Theologie. Anders als z. B. Bultmann will Pannenberg das historische Ereignis „als solches“ (102; kursiv!) hermeneutisch mit der Gegenwart des Auslegers verbunden wissen.52 Bultmann transzendiert – seiner eigenen Auskunft nach – den „ästhetischen Standpunkt“ Diltheys durch Rekurs auf die 51 Im Kontext dieses Ansatzes hat Hermeneutik demnach elementar mit Psychologie zu tun, insbesondere mit Empathie. 52 Für einen existenzdialektischen Ansatz wäre das eine Unterbietung der hermeneutischen Aufgabe, in der gerade über das historische Ereignis „als solches“ hinausgegangen werden muss. Für Pannenberg stellt diese Beschränkung allerdings deshalb kein Problem dar, weil die Bedeutung im Ereignis selbst beschlossen liegt.

Hermeneutik und Universalgeschichte bei W. Dilthey und W. Pannenberg

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existentiale Analyse der Fraglichkeit der Existenz (103 Anm. 21). Pannenberg wirft ihm vor, dabei die Vermittlung der hermeneutischen Fragestellung mit der historischen noch nicht geleistet zu haben (105). Anders als R. Bultmann, E. Fuchs und G. Ebeling möchte Pannenberg den Glauben auch keineswegs primär oder exklusiv als „Sprachereignis“ auffassen. Das Verdienst von Wahrheit und Methode (1960) sieht Pannenberg darin, dass Gadamer die hermeneutische mit der historischen Fragestellung verknüpft habe, insofern er die Differenz der Horizonte feststellt und damit das Fremdheitspotential historischer Texte53 einräumt, von dem auch Pannenberg ausgeht. Nach Gadamer besteht die Aufgabe des Verstehens in einer Horizontverschmelzung von Ausleger und Text. Diese setzt auch Pannenberg als grundsätzlich möglich voraus, allerdings unter Vorrang einer historischen Fragestellung.54 Damit wird von Pannenberg der Vorrang einer „Sprachlichkeit des Verstehens“ in Frage gestellt, eine Konzeption, die Gadamer auch mit Bultmann, Fuchs und Ebeling verbindet. Die Ausweitung des eigenen Verstehenshorizontes setzt den Blick auf die Geschichte im Ganzen (und d. h.: die Universalgeschichte) voraus. Es geht für Pannenberg also nicht darum, die historische Fragestellung mit Bultmann und

53 Evangelistische oder biblizistische Verkündigungsstrategien, die davon ausgehen, dass z. B. ein bestimmter Prophet durch das Wort der Hl. Schrift unmittelbar zu uns spricht oder sprechen will, klammern die hermeneutische Aufgabe im Interesse einer Betroffenheitsunmittelbarkeit aus. Demgegenüber ruft Pannenberg – völlig zurecht – nicht nur die Distanz von Text und heutigem Leser bzw. Hörer ins Bewusstsein, sondern macht darüber hinaus auch darauf aufmerksam, dass der Text als solcher zunächst einmal gar nicht zu uns spricht. Es ist daher die Frage, ob er in unmittelbarer Weise überhaupt zum Sprechen gebracht werden kann oder soll. – Die Verbindung der systematischen mit der hermeneutischen Fragestellung ist angesichts der fundamentalen Schriftbezogenheit des Protestantismus daher auch von grundlegend homiletischem Interesse. 54 Pannenberg hebt positiv hervor, dass nach Gadamer zum hermeneutischen Verstehensprozess der Entwurf eines „historischen Horizontes“ gehöre, da er zurecht von der primären Fremdheit historischer Zeugnisse ausgehe (ZThK 1963, 107). Hier stellt sich für ihn dann allerdings die Frage, inwiefern dieser historische Horizont nicht übergreifend gefasst werden müsse (d. h. universalgeschichtlich), so dass das hermeneutische Verfahren „gesprengt und aufgehoben werde in ein universalgeschichtliches Denken“ (ebd.). Damit verbindet sich für ihn die weitergehende Frage nach dem Wesen der Hermeneutik. Ist sie eine Kunst, eine Technik oder eine vollwertige Wissenschaft? Sie ist nach Pannenberg jedenfalls keine selbständige Wissenschaft, die unabhängig von der historischen ihr Recht hätte. Dabei stellt sich für ihn die Frage, inwieweit der Verstehensprozess zum Gelingen prädestiniert ist, oder zum Scheitern verurteilt. Für Gadamer hängt die Möglichkeit der Horizontverschmelzung wesentlich an der der Horizonterweiterung des Verstehenden. Aufgrund der Einheit der menschlichen Natur war für Schleiermacher und Dilthey dieser Vorgang eigentlich überflüssig; Gadamer stellt seine Notwendigkeit voraus, betrachtet ihn jedoch zugleich als „Wunder“. Der Verstehensprozess ist demnach nichts Machbares, kein berechenbarer Prozess. Für Pannenberg hängt die Wissenschaftlichkeit der Hermeneutik daran, ob sie im Verbund mit dem universalgeschichtlichen Denken offen ist für die „Grundaufgabe des Menschen, die Wirklichkeit als ein Ganzes zu verstehen“ (ZThK 1963, 109).

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seiner Schule in die hermeneutische zu überführen und aufzulösen, sondern umgekehrt die hermeneutische auf die historische Frage zurückzubeziehen.

11.

Hermeneutik und Schriftprinzip – Vorrang der Fundamentaltheologie vor der Hermeneutik

Während Pannenberg zeitnah in seinem Aufsatz über die Krise des Schriftprinzips (1961) die Unmöglichkeit einer Horizontverschmelzung als einen Grund jener Krise des Schriftprinzips herausgestellt hatte, geht er 1963 davon aus, dass sie möglich ist, allerdings nur, wenn die Theorie einer Sprachlichkeit des Verstehens gesprengt wird (106). Wichtig für den Verstehensprozess ist die „Erhebung“ zu einem umfassenderen Horizont (106f). Anders als Gadamer geht Pannenberg nicht davon aus, dass der (antike) Text von sich aus zu uns spricht, so dass Hermeneutik ein „Gespräch mit dem Text“ (107) führen könnte oder müsste. Korrekterweise setzt Gadamer aber den „Entwurf eines historischen Horizontes“ voraus, der zum hermeneutischen Verfahren gehöre (107). Pannenberg stimmt dem zu, betont aber, dass damit die hermeneutische Fragestellung gesprengt und in die historische überführt werde, u.z. in Richtung auf ein „universalgeschichtliches Denken“ (107). D. h. im Klartext: Gadamers Entwurf führt konsequent zu Ende gedacht (zurück) in die Arme der spekulativen Geschichtsphilosophie Hegels, denen er entrinnen wollte.55 Doch sowohl Gadamer als auch Pannenberg lehnen die spekulative Geschichtsmetaphysik Hegels einstimmig ab. Die Voraussetzung eines Verstehenkönnens ist für Pannenberg nicht nur die Öffnung des eigenen Horizontes, sondern zugleich das Bewusstsein eines „Sichverstehens im Ganzen“, das implizit (unthematisch) mit zur Sprache kommt (108). Dieses Ganze ist aber nur als Geschichtliches präsent, weshalb die hermeneutische Fragestellung die historische weder überspielen noch ersetzen kann. Wenn Gadamer und Ebeling scharf zwischen Mitteilung und Aussage unterscheiden (und letztere abwerten), trifft dies auf scharfe Kritik vonseiten Pannenbergs (112f), da hier die Aussage nur ganz abstrakt verstanden werde (114). Verstehen und Verständigung haben stets auch einen Sachbezug, nicht nur einen existentialen Auslegungscharakter. Im Verstehen geht es um die Sache in ihrem Kontext. Der Kontext ist ein Ganzes. Diltheys Gedanke, dass das Lebensganze nur im Vorgriff präsent ist, wirklich erst im Augenblick des Todes, wird für die Geschichtskonzeption Pannenbergs wesentlich, auch in Abwehr einer spekulativen Geschichtsmetaphysik im Stile Hegels. Von Diltheys Hermeneutik gilt in der Auslegung Pannenbergs, dass das 55 Zum Vergleich Gadamers mit Hegel siehe die interessante Fußnote 31 (ZThK 1963, 109); zur scharfen Hegelkritik Pannenbergs vgl. p. 110.

Hermeneutik und Universalgeschichte bei W. Dilthey und W. Pannenberg

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Ganze erst von seinen Teilen her verstanden werden kann, aber auch umgekehrt die Teile erst vom Ganzen her ihren endgültigen Sinn bekommen. Dass der Begriff des Ganzen nicht spekulativ erschlossen werden kann, sondern aufgrund der Zukunftsoffenheit der Geschichte nicht festgelegt ist, unterscheidet Pannenbergs Hermeneutik radikal von der Hegels. Für Hegels Dialektik ist das Teil ein Moment des Ganzen, worin es seine Bedeutung gerade dadurch erlangt, aufgehoben zu werden. Pannenberg orientiert sich hier stärker an Dilthey, dessen Konzeption einem Hegelschen Systemkonzept nicht affin ist. Auch Gadamer wendet sich gegen die spekulative Geschichtsmetaphysik Hegels, allerdings von Heidegger herkommend – nicht von Schleiermacher und Trendelenburg, wie das bei Dilthey der Fall ist. Die Frage nach der Wahrheit von Sachverhalten ist für Pannenberg vorrangig, oder anders formuliert: Die fundamentaltheologische Fragestellung56 kommt vor der hermeneutischen und kann auch nicht in diese überführt werden. Die fundamentaltheologische Frage ist dabei allerdings keine abstrakte, nach einer zeitlosen, ewigen Wahrheit. Vielmehr geht Pannenberg davon aus, dass der „Begriff der Wahrheit selber als Geschichte zu fassen“ ist (117). Damit ist bei Pannenberg nicht nur die fundamentaltheologische Frage vorrangig vor der hermeneutischen, sondern die fundamentaltheologische ihrerseits nochmals bezogen auf die historische Fragestellung. Um hier das Ganze in den Blick zu bekommen, ist nach Pannenberg die Ausweitung auf die universalgeschichtliche Fragestellung notwendig.57 Festzuhalten ist allerdings, dass sein Konzept von Universalgeschichte stark theologisch und eschatologisch geprägt ist, und somit weder mit dem Hegels noch dem entgegengesetzten Diltheys identisch ist.

56 Pannenberg lehrte in München an einem Institut, das daher bewusst nicht „Hermeneutik“, sondern „Fundamentaltheologie“ im Titel getragen hat (Institut für Fundamentaltheologie und Ökumene; dort 1968–94). 57 An diesem Aufsatz von 1963 fällt auf, dass er die Hegelsche Ideenwelt aufgreift (das Ganze – die Universalgeschichte – der Vorrang des Ganzen vor den Teilen), aber zugleich sie von ihrem Kontext, d. h. der Dynamik der Hegelschen Spekulation, befreien will. Diese Tendenz ist auch bei Dilthey nachweisbar: Das Konzept des „objektiven Geistes“ ist materialiter von Hegel entlehnt, wird aber so aufgefasst, dass es von der spekulativen Dialektik Hegels (die ihre Pointe bekanntlich im absoluten Geist hat) befreit wird, zugunsten einer durchgängig historischen Auffassung des Geistes.

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12.

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Fazit: Die Bedeutung des geschichtshermeneutischen Denkansatzes von Dilthey für die Theologie Pannenbergs

Deutliche Bezugnahmen finden sich seit etwa 1960, am stärksten fällt der Rekurs auf Dilthey dann in WuTh (1973/²77)58 aus. Mit Gadamers Wahrheit und Methode war nicht nur die hermeneutische Fragestellung philosophisch und theologisch bestimmend geworden, sondern der Blick – auch für Pannenberg – wieder stärker auf Dilthey gerichtet. In der Abgrenzung von Hegel und dem Hegelianismus kommt Dilthey als Schüler Trendelenburgs eine besondere Bedeutung zu. Wie später in MuG 1988 deutlich wird, geht es aber nicht nur um ein Abwehrprogramm gegen eine Metaphysik des spekulativen Begriffs, sondern auch positiv um eine Bestimmung von Ganzem und Teil, die das Ganze nicht spekulativ im Begriff erfasst, sondern antizipativ. Der Begriff der Antizipation wird dabei in MuG 1988 auch ganz entscheidend auf Dilthey zurückgeführt, um die Bestimmung des Werdens nicht aristotelisch (apriorisch) von der Entelechie her zu fassen, sondern proleptisch von ihrem Ende her. Gerade die lebensgeschichtliche Interpretation dieses Sachverhalts wird für Pannenberg zu einer Schlüsselerkenntnis. Sie impliziert den Gedanken, dass die wahre Bedeutung der Lebensgeschichte nur von ihr als ganzer her erfasst werden kann, was dann auch für alle ihre einzelnen Momente und Begebenheiten gilt. Die Hegelsche Einsicht, dass die Wahrheit im Ganzen liegt, wird von Pannenberg durchaus geteilt. Mit Dilthey grenzt er sich von der Hegelschen Option ab, wonach dieses Ganze spekulativ im Begriff erfasst werden könne. Vielmehr gibt es für Pannenberg hier nur die Option einer intuitiven Erfassung des Ganzen, die sich jedoch laufend verändert und verschiebt, so dass der Gang der Geschichte auch die Antizipation des Ganzen verändert und nicht in einem absoluten Wissen präsent werden kann. Die Bedeutung und Lukrativität von Diltheys Denkansatz liegt für Pannenberg vor allem 1. in der geschichtlichen Hermeneutik, 2. in der Vorordnung des Ganzen vor seine Teile, 3. in der Zukunftsoffenheit des Lebens und der Geschichte, 4. und damit verbunden in Diltheys Ablehnung der spekulativen Geschichtsmetaphysik Hegels (hier rekurriert Pannenberg auf L. v. Ranke, Droysen und Dilthey), 5. ferner in der Konzentration der Hermeneutik auf geschichtlich objektivierbare Verstehenszusammenhänge und eine Sphäre von Sinn (Bedeutung), die die individuelle Lebenssphäre transzendiert. 58 Allein schon das Namenregister von WuTh weist Dilthey sehr häufig auf (cf. 444), etwa doppelt so häufig wie Heidegger oder Troeltsch und rund fünfzehnmal so oft wie Luther.

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Natürlich gibt es auch scharfe Abgrenzungslinien von Pannenberg gegenüber Dilthey. Schon allein die theologische (insbes. eschatologische) „Unterbelichtung“ des Ansatzes von Dilthey gibt Anlass zur Distanznahme. In WuTh (1973) kommt zudem zum Ausdruck, dass Pannenberg Habermas’ Kritik an Dilthey streckenweise teilt. Habermas kritisiere zu Recht die unausgewiesene These Diltheys einer „Einheit des ‚Lebens‘ in den Individuen“59. Ferner kritisiert er mit Habermas den „kontemplativen Wahrheitsbegriff“ Diltheys (WuTh 109 cf. 203 bei Anm. 400; gemeint ist damit eine auf Einfühlung beruhende Hermeneutik, die auf der Konzeption einer „Pluralität von gesellschaftlichen Zwecksystemen“ beruht). Im Vergleich zu Troeltsch eröffne sich von Dilthey her auch nicht die Konzeption einer „eschatologisch orientierten Theologie“ (110). Unkommentiert, aber jedenfalls nicht ablehnend, zitiert Pannenberg Troeltschs Kritik an Dilthey, wonach Diltheys Begründung der Geisteswissenschaften auf Psychologie die Selbständigkeit der Geisteswissenschaften „wissenschaftstheoretisch“ gefährde (WuTh 1977², 113 Anm.226). Pannenberg zeigt hier eine nicht nur gefühlte größere Nähe zu Troeltsch als zu Dilthey; wie er ja überhaupt schon im Ansatz die Disparation in Geistes- und Naturwissenschaften für überholt hält (wenngleich sie ihr historisches Recht im Blick auf A. Comte behält, die Selbständigkeit der Geisteswissenschaften so zu begründen, dass eine Übergriffigkeit der Naturwissenschaften ausgeschlossen werden kann). Pannenbergs eigene Befürchtung geht in der seinerzeit bestimmten Ausrichtung der Theologie60 nicht auf jene Übergriffigkeit, sondern auf eine falsche Abschottung der Theologie in einer rein subjektivitätstheoretisch begründeten ‚splendid isolation‘, die jeden Dialog mit einer naturwissenschaftlichen Weltsicht erschwert oder apriori obsolet macht. Indem Theologie als Geisteswissenschaft zu betrachten ist, und Geisteswissenschaft mit Dilthey im Vollsinn Wissenschaftlichkeit zu repräsentieren beanspruchen kann, relativiert sich jedoch jene Kritik an einer sphärischen Gegenüberstellung von Geistes- und Naturwissenschaften. Denn beide sind nach Dilthey bezogen auf die Einheit der Wirklichkeit. Anders als Dilthey kann Pannenberg aber den letzten Grund dieser Einheit nicht im Lebensbegriff fassen.

Literaturverzeichnis W. Dilthey: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte (Gesammelte Schriften, 1. Band), Leipzig und Berlin 1923² 59 WuTh (stw) 98 60 Bestimmt vor allem durch K. Barth und R. Bultmann und deren Schüler.

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– Die geistige Welt. Einleitung in die Philosophie des Lebens. Erste Hälfte. Abhandlungen zur Grundlegung der Geisteswissenschaften (Gesammelte Schriften, 5. Band), Leipzig und Berlin 1924. Darin: Ideen über eine beschreibende und zergliedernde Psychologie (1894) (S. 139–240). Ferner: Die Entstehung der Hermeneutik (1900) (S. 317–338). – Die geistige Welt. Einleitung in die Philosophie des Lebens. Zweite Hälfte. Abhandlungen zur Poetik, Ethik und Pädagogik (Gesammelte Schriften, 6. Band), Leipzig und Berlin 1924. – Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften (Gesammelte Schriften, 7. Band), Leipzig 1927. – Grundlegung der Wissenschaften vom Menschen, der Gesellschaft und der Geschichte (Ausarbeitungen und Entwürfe zum zweiten Band der Einleitung in die Geisteswissenschaften), hg. von H. Johach u. F. Rodi, Göttingen 1982. F. Schleiermacher: Dialektik, Berlin 1839 (Sämtliche Werke hg. von L. Jonas, Dritte Abteilung, Zur Philosophie, Vierten Bandes zweiter Teil). – Hermeneutik, hg. v. H. Kimmerle, Heidelberg 1959. – Hermeneutik und Kritik, hg. v. M. Frank, Frankfurt/M. 1977. – Dialektik, hg. v. R. Odebrecht, Darmstadt 1988 (unveränderter Nachdruck der Ausgabe Leipzig 1942).

Vorrangige Quellen bei W. Pannenberg: W. Pannenberg: Hermeneutik und Universalgeschichte, in: ZThK 60 (1963), 90–121 (wieder in: H.-G. Gadamer / G. Boehm (HG.): Seminar: Die Hermeneutik und die Wissenschaften, Frankfurt/M. [stw] 1978, S.283–319; zudem in GSTh 1, 1967, 91–122). W. Pannenberg: Über historische und theologische Hermeneutik (1964), in GSTh 1, 1967, 123–158. – [WuTh] Wissenschaftstheorie und Theologie (1973), 1977² (stw-Tb., 1987). W. Pannenberg: [MuG] Metaphysik und Gottesgedanke, Gö. 1988, v. a. Kp. 5 Begriff und Antizipation (S. 66ff.).

Georgios Zigriadis

Eine philosophische und systematische Konstellation Nicolai Hartmann und Wolfhart Pannenberg

1. Die von Dieter Henrich in mühevoller Kärrnerarbeit zur Disziplin erhobene Konstellationenforschung1 hat die Bedeutung der vielschichtigen und mehrdimensionalen Voraussetzungen in der Entstehung und Ausbildung von philosophischen Theorien, einzelnen Werken und ganzen Systemen sowie Lebenswegen im Denken in den Mittelpunkt philosophischen Arbeitens, das dem Verstehen verpflichtet ist, gerückt. Dies hat Henrich im sogenannten „Projekt Jena“ als „Erschließung eines Denkraums“2 modellhaft vorgestellt. Der an sich triviale Gedanke der Bedeutung von Konstellationen für die Entstehung und den Fortgang geistiger Prozesse verliert seine Trivialität sehr schnell, wenn es darum geht, diese Konstellationen genau zu benennen und zu beschreiben. Nicht alle Epochen, in denen sich Denken vollzogen hat, sind im Sinne Henrichs maßgeblich, dass es sich lohnen würde, deren Formationsbedingungen3 genauer nachzugehen, so wie es im Fall der deutschen idealistischen Philosophie im ausgehenden 18. Jahrhundert, wie Henrich hat nachweisen können, der Fall gewesen ist. Diese Konstellationen im Sinne Dieter Henrichs schaffen diejenigen Orientierungen und eröffnen diejenigen Horizonte und Potentiale im Denken, die notwendig sind, um dasjenige Kraftfeld zu eröffnen, aus dem heraus der einzelne Denker seinen Weg im Denken und ein philosophisches Werk von Bedeutung grundlegen, beginnen und fortführen kann. 2. Nicolai Hartmann ist 1882 im baltischen Riga geboren.4 Die Familie väterlicherseits stammt ursprünglich aus Thüringen, die Familie der Mutter aus

1 Dieter Henrich, Konstellationen. Probleme und Debatten am Ursprung der idealistischen Philosophie (1789–1795), Stuttgart 1991, für das Folgende: 7–46. 2 A.a.O., 215–263. 3 A.a.O. 46. 4 Zum Lebenslauf Nicolai Hartmanns siehe die biografische Notiz in: Nicolai Hartmann und Heinz Heimsoeth im Briefwechsel, hrsgg. von Frida Hartmann und Renate Heimsoeth, Bonn 1978, 317–321 sowie den luziden Aufsatz von Wolfgang Harich über die frühe philosophische

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Westfalen. Nicolai besucht zunächst die russische Schule, wechselt aber mit 15 Jahren in eine der beiden deutschsprachigen Kirchenschulen in St. Petersburg. Er studiert nach dem Schulabschluss zunächst zwei Semester Medizin, wechselt aber zu Philosophie und Klassischer Philologie. Nach Schließung der St. Petersburger Universität aufgrund vorrevolutionärer Unruhen im Jahr 1905 verlässt Nicolai mit 24 Jahren Russland und geht nach Marburg. Er wird dort 1907 bei Hermann Cohen und Paul Natorp im Fach Philosophie mit einer Arbeit „Über das Seinsproblem in der griechischen Philosophie vor Plato“ promoviert und habilitiert sich im Jahr 1909 mit der Schrift: „Des Proclus Diadochus Anfangsgründe der Mathematik“. 1919 wird Nicolai Hartmann Privatdozent in Marburg, tritt 1922 die Nachfolge von Paul Natorp an, geht 1925 nach Köln, folgt 1931 einem Ruf nach Berlin und lehrt seit 1945 bis zu seinem Tod 1950 in Göttingen. Im vorletzten Jahr seines Wirkens als Philosophie-Professor in Göttingen, Nicolai Hartmann stirbt 1950, begegnet ihm der junge Wolfhart Pannenberg, der das akademische Jahr 1948/49 an der Georg-August-Universität verbringt. Es kreuzen sich für kurze Zeit das Ende eines langen philosophischen Lebensweges mit dem Beginn der Suche eines jungen Theologie-Studenten nach tragfähigen Ansätzen im Denken für die Theologie. Es lässt sich in Pannenbergs Werk zwar kein direkte auf den Einfluss Nicolai Hartmanns zurückgehende Wirkung belegen, doch hat Pannenberg Nicolai Hartmann zeitlebens zu seinen bedeutendsten philosophischen Lehrern gerechnet. Die auf Nikolai Hartmann sich beziehende Passage in seiner in englischer Sprache verfassten autobiographischen Skizze „An intellectual Pilgrimage“ stellt Hartmann als den kenntnisreichsten deutschen Philosophen der Zeit heraus, der den Eindruck machte, die gesamte Geschichte der Philosophie mit sich herumzutragen. In der Behandlung eines Themas würde Hartmann zunächst die vorgeschlagenen Lösungen aus der gesamten Geschichte der Philosophie vor ihm diskutieren. Diese Vorgehensweise habe auf ihn, den jungen Pannenberg, einen derartigen Eindruck gemacht, dass er sich vornahm, später selbst die theologischen Themen im Lichte ihrer Geschichte zu behandeln.5 Zu den Grundlagen und Voraussetzungen von Nicolai Hartmanns philosophischem Weg gehört die „Konstellation“ Marburg. Auf philosophischem Gebiet dominiert dort der sogenannte Marburger Neukantianismus, repräsentiert durch Hermann Cohen und Paul Natorp. Insbesondere Hermann Cohen war durch seine 1871 erschienene Dissertation „Kants Theorie der Erfahrung“ zum Entwicklung Nicolai Hartmanns in Russland: Nicolai Hartmann und seine russischen Lehrer, in: Sinn und Form 6 (1983) 1303–1322, für den Lebenslauf Hartmanns 1303f. 5 Siehe dazu Gunther Wenz, Vorschein des Künftigen. Wolfhart Pannenbergs akademische Anfänge und sein Weg zur Ekklesiologie, in: ders. (Hg.), Kirche und Reich Gottes. Zur Ekklesiologie Wolfhart Pannenbergs (Pannenberg-Stdudien Bd. 3), Göttingen 2017, 13–47, hier: 17f.

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Mittelpunkt einer reformerisch-innovativen Wiedergewinnung der Kantischen Philosophie geworden und hatte den philosophischen Lehrstuhl seit 1876 inne. Allerdings war zu der Zeit, als Hartmann nach Marburg kommt, der Stern des Marburger Neukantianismus und seiner Vertreter schon im Sinken begriffen. Der ursprüngliche Impetus Cohens, die These von der historischen Überwindung der Philosophie Kants durch Rückgang auf die historischen Bedingungen ihrer systematischen Fragestellungen, folglich in der Methode historisch-systematisch zu überwinden6, hatte eine große Resonanz und begründete die Berühmtheit Cohens und seiner Schule. Allerdings enthielten die sehr selbstbewussten interpretatorischen Entwürfe Cohens zu Kants Philosophie eine Reihe von Grundabweichungen von Kant7, die später zum Ausgangspunkt erneuter Auseinandersetzungen um das rechte Verständnis von Kants Werk geworden sind. Der Marburger Neukantianismus von Cohen und Natorp bewegte sich schließlich hin zu einer logischen Begründung der (Natur-) Wissenschaften, die auf eine Verengung des Begriffs der Erfahrung bei Kant im Sinne eines Inbegriffs der Erkenntnisse der mathematisch verfahrenden Naturwissenschaften beruhte.8 Daher erklärt sich die herausragende Bedeutung der Logik bei Cohen und bei Natorp, die schließlich der Marburger Schule den Ruf einer Überlast an Methode und Logik einbrachte.9 In direkter Abgrenzung zur Reduzierung der Philosophie Kants auf eine wissenschaftliche Erkenntnistheorie im Marburger Neukantianismus haben später der zusammen mit Nicolai Hartmann aus der Marburger Schule kommende Heinz Heimsoeth sowie u. a. Julius Ebbinghaus die historischen und systematischen Voraussetzungen des kantischen Werkes sowie seine Entstehung aus den klassischen Fragestellungen der Metaphysik ausgearbeitet und den Weg geebnet, um die ursprünglichen metaphysischen Motive Kants in der Ausbildung seiner Philosophie, die sich während seiner gesamten Schaffensperiode über nicht verändert haben, offen zu legen. Der zunehmende Verlust an Bedeutung der Marburger Schule schlägt sich nieder in den Absetzungsbewegungen Nicolai Hartmanns von dieser und von Cohen, wie sie sich schon sehr früh in dem zwischen 1907 und 1918 sich entfaltenden Briefwechsel mit Heinz Heimsoeth niederschlagen. Sehr bezeichnend dafür ist eine Bemerkung Hartmanns an seinen Freund Heinz Heimsoeth wegen 6 Hermann Cohen, Kants Theorie der Erfahrung, Berlin 1871, IV. 7 Julius Ebbinghaus, Artikel: Hermann Cohen, in: Neue deutsche Biographie 3 (1957), 312. 8 Siehe die Kritik daran von Julius Ebbinghaus, Kantinterpretation und Kantkritik, in: ders., Gesammelte Aufsätze, Vorträge, Reden, Darmstadt 1968, 19f. (Erstveröffentlichung 1924). 9 So Hans-Georg Gadamer (Philosophische Lehrjahre. Eine Rückschau, Frankfurt a. M. 1977, 62), der zeitweise in Marburg studiert hatte, dort 1922 von Paul Natorp und Nicolai Hartmann promoviert wurde und sich am gleichen Ort 1929, allerdings unter ganz anderen Umständen, nämlich bei Martin Heidegger, habilitierte.

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dessen auswärtigen Habilitationsansinnens. Paul Natorp wollte, dass Heimsoeth sich auswärtig habilitiert, um einen Vertreter „der Schule“ auch außerhalb Marburgs zu positionieren. Hartmann rät in einem Brief aus dem Jahr 1913 Heimsoeth unbedingt dazu, Paul Natorp in Marburg für die Habilitation zu gewinnen, da, so sind Hartmanns Ausführungen zu interpretieren, für einen Philosophen, der in Marburg promoviert wurde, eine auswärtige Habilitation nach Lage der Dinge annähernd unmöglich sei: „Der gute Natorp, der immer noch von der Marburger Schule als einer Weltmacht mit Eroberungspolitik träumt!“10 3. Trotz dieser Distanzierung von Hermann Cohen und der Marburger Schule insgesamt, die eher ihrer späteren Entwicklung zum geschlossenen System und ihrer Schulbildung galt, hat Nicolai Hartmann den ursprünglichen, innovativreformerischen Ansatz Cohens für seinen eigenen philosophischen Werdegang aufgegriffen und fruchtbar gemacht. Cohen hat nach eigener Auskunft sein erstes Kant-Buch aus dem Jahr 1871 geschrieben, um „der Philosophie aus der genauen Kenntnis ihrer Geschichte“ wieder Geltung zu verschaffen und durch „die Fragen der alten Philosophie die constructive Anmaßung“11 zu bändigen, die nach seiner Auffassung in der Behandlung des Kantischen Werkes seinerzeit allenthalben zu beobachten war. Es wurde nichts weniger als der wissenschaftliche Wert der Philosophie Kants bestritten. Cohens Ziel ist es daher gewesen, der Autorität und dem Genius Kants zu ihrem Recht zu verhelfen, indem er „den historischen Kant … in seiner eigenen Gestalt“12 wieder aufrichtet. Mit der Erfahrung des Systems „Marburger Neukantianismus“ im Hintergrund wendet sich Hartmann in einem als „Systematische Selbstdarstellung“ im Sinne einer Selbstverständigung überschriebenen Aufsatz zunächst gegen alle Formen „konstruktiven Systemdenkens“13, die im Verlauf der Philosophiegeschichte geschlossene philosophische Systeme hervorgebracht haben. Diese Systeme kranken daran, dass sie „ein antizipiertes Schema des Weltzusammenhangs“14 zugrunde legen. Sie suchen nicht nach einem solchen auf der Grundlage der Erfassung der Phänomene – der Realität. Die Folge davon ist, dass Probleme und Schwierigkeiten, die eigentlich unabweisbar sind, ausgeblendet werden. So macht sich das System im Laufe der Zeit selbst belanglos und wird zum bloßen geschichtlichen Kuriosum. Gerade Kant hat nach Hartmann, wie es sich aus der 10 Brief Nicolai Hartmanns an Heinz Heimsoeth vom 4. April 1913, in: Nicolai Hartmann und Heinz Heimsoeth im Briefwechsel, a.a.O, 158. 11 Hermann Cohen, Kants Theorie der Erfahrung, Berlin 1871, VI. 12 A.a.O., IV. 13 Nicolai Hartmann, Systematische Selbstdarstellung, in: ders., Kleinere Schriften, Bd. I, Berlin 1955, 1–51, hier: 3 (Erstveröffentlichung 1933). 14 A.a.O., 2.

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Konzeption des „Dinges an sich“ ergibt, ein solches geschlossenes System nicht entworfen und in seinem Werk vorgelegt, denn, so Hartmann: Kant folgt „nicht der Konsequenz des Systems, sondern der Konsequenz des Problems“15. Hartmann stellt dem als Ideal philosophischen Denkens, im Grunde als einzig gangbaren Weg, das forschende Problemdenken gegenüber. Er nennt dieses auch systematisches Denken. Dieses systematische Denken in der Philosophie hat eine dreistufige Struktur: Erfassung und Beschreibung der Phänomene, Herausarbeitung der unabweisbaren Probleme und Fragen – auf dem jeweiligen Stand der Forschung – und schließlich im Lichte der Antworten, die im Laufe der Geschichte der Philosophie gegeben wurden, die Erarbeitung von Lösungen für die Aporien in Form von Theorien. Nun überrascht es auf den ersten Blick, dass Nicolai Hartmann dieses philosophische Grundlagenprogramm in bewusster Abgrenzung zum Neukantianismus Hermann Cohens als Fortsetzung eines Kerngebietes der Philosophie versteht – als Metaphysik. Doch was versteht Hartmann nun in diesem Zusammenhang unter Metaphysik? Sie ist nicht eigenes Inhaltsgebiet transzendenter Gegenstände (Gott, Freiheit, Seele), nicht Kampfplatz spekulativer Systeme, Lehrgebäude und Weltbilder. Sein Verständnis von Metaphysik leitet sich ab von zwei Beobachtungen: In den sich dem Denken bietenden Problemlagen stellen sich Fragen und bilden sich Aporien, die einerseits perennierend sind, sich also immer wieder in den Problemlagen unterschiedlicher Zeit dem Denken in den Weg stellen. Das heißt wiederum, dass es sich um Fragen handelt, dich nicht ohne weiteres lösbar sind, und die daher immer wieder, wenn auch in unterschiedlicher äußerer Form, aufkommen – es bleibt in ihnen immer ein unlösbarer, der Rationalisierung sich entziehender Rest. Andererseits sind diese Fragen unabweisbarer. Diese beiden Charakterisierungen philosophischer Problemlagen machen den „Einschlag des Metaphysischen in den Problemen“ aus. Insofern ist nach Hartmann systematisches Denken metaphysisches Denken als Ausdruck des Bewusstseins um diese Sachlage, der „dauernden Grundsituation der Philosophie“. Systematisch-philosophische Forschung als metaphysische Forschung ist demnach in „den alten, ewigen Aporien mit irrationalem Einschlag, vor die sich der Mensch dauernd gestellt sieht“, langsames Fortschreiten aufgrund neuer Forschungsergebnisse in den Wissenschaften auf der Grundlage der bisherigen Fragen und Antworten in der Geschichte der Philosophie.16

15 Nicolai Hartmann, Diesseits von Idealismus und Realismus, in: ders., Kleinere Schriften, Bd. II, 278–322, hier: 306f. (zuerst veröffentlicht 1924 in den Kant-Studien mit dem Untertitel: Ein Beitrag zur Scheidung des Geschichtlichen und Übergeschichtlichen in der Kantischen Philosophie). 16 Nicolai Hartmann, Systematische Selbstdarstellung, a. a. O., 10f.

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Diese Position markiert den Bruch mit dem Marburger Neukantianismus, dem Hartmann vorwirft, die Erkenntniskritik Kants ihrer metaphysischen Dimension beraubt und im von ihm geschaffenen Kritizismus das Vorurteil etabliert zu haben, „Philosophie müsse unmetaphysisch sein“. Gerade Kant wusste um den irrationalen Rest in der Behandlung philosophischer Fragen und erkannte ihn an.17 Hartmann hatte schon sehr früh gesehen, dass diese grundlegende Erkenntnis Kants von den Grenzen der Erkennbarkeit und möglicher Erfahrung in der Konzeption des „Dinges an sich“ sich niedergeschlagen hat. Hartmann resümiert: „Das ist der Grund, warum ich die Irrationalität des ‚Dinges an sich‘ als das Kriterium des ‚Kritischen‘ in Kant ansehe; worin er mir durchaus einzig dazustehen scheint.“18 4. Nicolai Hartmann hat selbst keine eigene „Geschichte der Philosophie“ veröffentlicht. Es liegt aber eine „Einführung in die Philosophie“ in Form einer von ihm genehmigten Vorlesungsnachschrift vor.19 Es handelt sich konkret um eine Vorlesung, die Hartmann im Sommersemester 1949 in Göttingen gehalten hat, in dem Jahr also, in dem auch Wolfhart Pannenberg in Göttingen war. Pannenberg wird die Vorlesung gehört haben. Dass die gedruckte Form „nicht alle Feinheiten des nun einmal einzigartigen Vortrages Nicolai Hartmanns“20 zur Geltung bringen kann, leuchtet unmittelbar ein, die Vorlesung, die wohl auch Pannenberg gehört hat, selbst war weitaus umfangreicher und differenzierter. Gleich zu Beginn legt Hartmann eine Formaldefinition von Philosophie vor: Die wichtigsten Fragen der Philosophie, die im Kern vorwiegend metaphysische Fragen sind, sind im wesentlichen solche, die von Anfang an bis heute immer wieder neue Lösungen gefordert haben. Die Unlösbarkeit ihrer Probleme ist ein wesentliches, charakteristisches Moment der Philosophie. Die Antwort auf die Frage: Was ist Philosophie? kann also lauten: Philosophie ist die Behandlung derjenigen Fragen, die nicht bis zu Ende gelöst werden können und die deswegen perennieren.21

Es ist leicht einzusehen, dass die Begegnung mit Nicolai Hartmann in Göttingen gerade auf dem Gebiet der Philosophie für Pannenberg ein Initial bedeutet, weil er in Begriff und Methode des Systematischen bei Hartmann einen überzeugenden Weg gesehen hat, der eigenen wissenschaftliche Arbeit eine methodische Richtung zu geben. Wenn auch Pannenberg als Theologe Philosophie nur unter 17 A.a.O., 12. 18 Brief Nicolai Hartmanns an Heinz Heimsoeth vom 30. Juni 1911, in: Nicolai Hartmann und Heinz Heimsoeth im Briefwechsel, a.a.O, 64. 19 Diese „Einführung in die Philosophie“ Nicolai Hartmanns ist in erster Auflage 1949 in einem Eigenverlag in Hannover erschienen und erlebte im Verlauf der 1950er Jahre weitere Auflagen. 20 So die Herausgeber im Vorwort. 21 Nicolai Hartmann, Einführung in die Philosophie, a.a.O, 7.

Eine philosophische und systematische Konstellation

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einem gänzlich anderen Vorzeichen betreiben konnte, spiegelt sich die „Schule“ Hartmanns in Pannenberg Werk wieder sowohl im problemorientiert Systematischen der „Systematischen Theologie“ wie auch in der durchgehenden Beschäftigung mit der Geschichte der Philosophie. Bereits der Titel des Philosophie-Buches von Pannenberg zeigt den für den Theologen selbstverständlichen Primat der theologischen Fragestellung. Dennoch handelt es sich um eine „gemeinsame Geschichte“. Pannenbergs Grundüberzeugung ist hier, dass alle theologische Reflexion auf etwas im menschlichen Denken bereits Vorhandenes trifft: der Frage nach der wahren Gestalt der göttlichen Wirklichkeit als des schöpferischen Ursprungs alles Wirklichen.22 Die denkerischen Bedingungen, unter denen überhaupt diese Wahrheit und diese Wirklichkeit sinnvoll thematisiert werden können, entspringen zunächst der menschlichen Vernunft und damit den Fragen und Antworten, die in der Geschichte der Philosophie gegeben wurden.23 Denn ist Offenbarung im christlichen Sinn die Manifestation der Wirklichkeit und Wahrheit des einen Gottes in der Welt und im menschlichen Leben und ist diese Offenbarung für den Menschen nicht etwas rein Numinoses oder reines Gefühl und Empfinden, dann entspricht der Offenbarung auch, wenn auch nicht nur, etwas für den Menschen Sachhaltiges, das wiederum nur über das Denken fassbar wird und somit auf den Bereich des für den Menschen unhintergehbaren Existentials der Sprache. Innerhalb der der Bedingungen und Gesetzmäßigkeiten dieses Existentials überhaupt, die die Gesetzmäßigkeiten und Bedingungen des Denkens und der Vernunft sind, kann eine Verständigung über Geltung, Wirklichkeit und Wahrheit dieses „von oben“ kommenden Sachhaltigen gesprochen werden. Hier ist das Petitum Pannenbergs nach der Intelligibilität24 theologischer Rede verankert. Theologie ist aber nur dann sinnvoll möglich, wenn sie so durchgeführt wird, dass sie nicht nur die rein von der Vernunft her sich stellenden Fragen und Themen kennt, das Feld des dem Denken Möglichen, sondern auch die Antworten, die in der Geschichte des Denkens gegeben wurden und werden. Derart verfahrend genügt die Theologie dem Kriterium Nicolai Hartmanns, systematisch zu sein. Der junge Pannenberg war in der „Konstellation“ Göttingen der Jahre 1948/49 ganz offenbar schon mit der derjenigen „wirkliche[n] Konzeptionskraft und der Kraft zur Selbständigkeit“25 ausgestattet, dass er das für sein Thema der Theologie und für seine Person Wegbahnende in der Geschichte und im Vortrag der Person Nicolai Hartmanns erkannte und in seinem weiteren eigenen Lebensweg 22 Wolfhart Pannenberg, Theologie und Philosophie. Ihr Verhältnis im Lichte ihrer gemeinsamen Geschichte, Göttingen 1996, 12. 23 A.a.O., 23. 24 Wolfhart Pannenberg, Systematische Theologie I, Göttingen 2015, 106. 25 Dieter Henrich, Konstellationen, a. a. O., 38.

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Georgios Zigriadis

fruchtbar machen konnte. Dabei ist das Merkmal der Selbstständigkeit von entscheidender Bedeutung, denn wie schon Nicolai Hartmann die Selbständigkeit besessen hat, sich von der „Marburger Schule“ und seinen akademischen Lehrern zu emanzipieren, hat auch Pannenberg die Konzeptionskraft und die Selbständigkeit besessen, ein Jahrzehnt später der bereits schulmäßig gewordenen Wort-Gottes-Theologie eines Karl Barth die Konzeption einer Offenbarung als Geschichte gegenüberzustellen.

Gunther Wenz

Geschichte versus Geschichtlichkeit. Pannenberg und der frühe Heidegger

„Deciens repetita placebit.“ (Horaz, Ars poetica, 365)

1.

Todtnauberger Prolog

Am „Freitag, den 23. September 1966, 9.52 Uhr“1 klingelte Rudolf Augstein in Begleitung seines Teams an der Tür des Hauses auf dem Rötebuck Nr. 47 in Freiburg, um von Martin Heidegger (1889–1976) zum Gespräch empfangen zu werden. Der Philosoph gab dem Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“ das gewünschte Interview unter der Auflage, dass die Veröffentlichung erst nach seinem Tode erfolge. 1976 erschien das Gespräch. Heidegger räumte darin ein, er sei 1933 des Glaubens gewesen, „daß in der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus“, wie er es formulierte, „ein neuer und der allein noch mögliche Weg zu einer Erneuerung sich öffnen könnte“2; ansonsten schwieg er sich über seine Rolle in der „Bewegung“ und über die verheerenden Folgen, die sie zeitigte, geflissentlich aus. Dafür gab er seiner angesichts menschlicher Erfahrung gewachsenen Gewissheit Ausdruck, „daß alles Wesentliche und Große nur daraus entstanden ist, daß der Mensch eine Heimat hatte und in einer Überlieferung verwurzelt war“3. Im Anschluss an das Gespräch fuhr man – ohne Stenographen und Techniker, versteht sich – auf Heideggers Einladung hin in Augsteins Wagen zur Hütte nach Todtnauberg, die für den Philosophen „ebenso wichtig geworden ist wie die Klause beim Bruder in Meßkirch“4. Trachtenjacke und Bundhose als 1 G. Wolff, Haus und Hütte. Eindrücke bei einem SPIEGEL-Gespräch, in: G. Neske (Hg.), Erinnerung an Martin Heidegger, Pfullingen 1977, 289–291, hier: 289. 2 Spiegel-Gespräch mit Martin Heidegger, in: G. Neske/E. Kettering (Hg.), Antwort. Martin Heidegger im Gespräch, Pfullingen 1988, 81–111, hier: 87. 3 A. a. O., 99. 4 Vgl. H. W. Petzet, Nachdenkliches zum Spiegel-Gespräch, in: G. Neske/E. Kettering (Hg.), a. a. O., 115–126, hier: 125. „Was, am Morgen schon Bier?“ (W. Schulz, „… als ob Heraklit daneben steht.“, in: G. Neske [Hg.], Erinnerung an Martin Heidegger, Pfullingen 1977, 223– 228, hier: 227) Nicht von Anlass und Umständen dieser Frage Heideggers an Walter Schulz,

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Insignien urwüchsiger Ortsverbundenheit hatte Heidegger diesmal nicht angelegt. Seine „Kleidung sagt nichts, außer, daß sie nichts sagen will. … Ein Pensionär aus der Stadt, könnte man denken, der auf dem Weg zu seinen Pilzplätzen ist.“5 Der Stimmungsbericht des Spiegelreporters endet mit dem Satz: „Seine Hütte am Wiesenhang – wenn sie etwas verrät, so, paradox genug, seine Heimatlosigkeit.“6 Gut 14 Jahre vor Augsteins Todtnauberger Besuch kehrten am Samstag, den 16. August 1952, 16.00 Uhr Wolfhart Pannenberg und einige seiner Mitstreiter aus dem Theologenkreis, den man später nach ihm benannte, in Heideggers Hütte ein. Die Crew war mit ihren Motorrädern unterwegs und verspätete sich um eine geschlagene Stunde, wurde aber dennoch in der im südlichen Schwarzwald in einer Höhe von 1150 m am Steilhang eines weiten Hochtales gelegenen Behausung sehr freundlich empfangen. Im Grundriß mißt sie (sc. Heideggers Hütte) 6 zu 7 Meter. Das niedere Dach überdeckt 3 Räume: die Wohnküche, den Schlafraum und eine Studierzelle. In der engen Talsohle verstreut und am gleich steilen Gegenhang liegen breit hingelagert die Bauernhöfe mit dem großen überhängenden Dach. Den Hang hinauf ziehen die Matten und Weidflächen bis zum Wald mit seinen alten, hochragenden, dunklen Tannen. Über allem steht ein klarer Sommerhimmel, in dessen strahlenden Raum sich zwei Habichte in weiten Kreisen hinaufschrauben.7

sondern von einem Ausflug des ein Jahr später zum Ordinarius für Philosophie an der Universität Tübingen Berufenen nach Todtnauberg im Herbst 1954 sei kurz berichtet. Schulz hatte sich tags zuvor bei Eugen Fink in Freiburg Rat geholt, wie er Heidegger gegenübertreten solle. Fink sprach ihm Mut zu und zeichnete „den Weg zur Hütte in Todtnauberg auf einer Papierserviette genau auf. Das war jedoch umsonst. Am Nachmittag bin ich im Schwarzwald herumgeirrt, weil ich den richtigen Weg verfehlt hatte. Es regnete in Strömen. Schließlich traf ich eine alte Frau, die Holz sammelte. Ich klagte ihr mein Irren, und sie konnte mir helfen, denn sie wußte genau, wo die Hütte ‚vom Heidegger‘ sei. Mit ziemlicher Verspätung kam ich dort an und klopfte.“ (225) 5 G. Wolff, a. a. O., 290. 6 A. a. O., 291. In seiner „Erinnerung an ein spätes Gespräch“, in: G. Neske (Hg.), a. a. O., 249– 252, hier: 250, das er mit Heidegger wenige Wochen vor dessen Tod geführt hat, berichtet Bernhart Welte, der am 28. Mai 1976 die Ansprache zur Beisetzung des Philosophen in Meßkirch hielt (vgl. B. Welte, Suchen und Finden, in: G. Neske [Hg.], a. a. O., 253–256), von der zu äußerster Wehmut verdichteten Bedeutung, welches das Wort Heimat in Anbetracht des bevorstehenden Ablebens für den Denker gewann. „Das Heimatliche der Heimat lag Heidegger immer sehr am Herzen. Er wußte, daß das Menschenwesen seinen gehörigen Ort braucht, der ihm gewährt ist und von dem her sich ihm alles gewährt, was zu ihm gehört.“ 7 M. Heidegger, Schöpferische Landschaft: Warum bleiben wir in der Provinz, in: ders., Gesamtausgabe (= GA). Bd. 13: Aus der Erfahrung des Denkens. 1910–1976, Frankfurt a. M. 1983, 9–13, hier: 9. Vgl. M. Riedel, Aufenthaltsdeutung. Heideggers Feldweg-Gespräche im geschichtlichen Zusammenhang seines Denkwegs, in: HSt 19 (2003), 95–108. Wie das ursprüngliche Zeitempfinden der Uhrzeit und ihren chronologischen Bemessungen vorangeht, so kommt die Wahrnehmung von Lokalitäten, in denen sich das Dasein als genuin verortet erfährt, Heidegger zufolge dem mathematisch-naturwissenschaftlichen Raumverständnis

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So oder so ähnlich mochte sich die Örtlichkeit, der man zustrebte, und die umgebende Landschaft dem „betrachtenden Auge des Gastes“ (ebd.), im gegebenen Fall Pannenberg und seinen Freunden, dargestellt haben. Dann öffnete sich die Hüttentür und in Gestalt eines „kleinen, etwas beleibten Bauern“, wie Pannenberg in einem Lagebericht an seine spätere Frau Hilke schrieb, erschien Heidegger, der Hirte des Seins.8 Nach erfolgter Bewirtung „mit Tee und vorstetig zuvor, da im Vergleich zum leibhaften Empfinden der eigenen Körpermaße alles sonstige Bemessen abkünftig ist (vgl. dazu G. Neumann, Die Ursprungsordnung von Orten und mathematischen Räumen in Heideggers Vortrag „Bauen Wohnen Denken“, in: HSt 21 [2005], 35–56). Heideggers Vorliebe für Cézanne, dem er unter den bildenden Künstlern „eine Schlüsselstellung“ zuerkannte, erklärt sich u. a. von daher. Vgl. R. M. Marafioti, Heidegger und Cézanne. Der denkend-dichtende Pfad durch und über die technische Welt, in: HSt 32 [2016], 183–235, hier: 183; zu Cézannes „phänomenologischem“ Sehen vgl. 214ff.: „Die Entbergung des Anwesenden in der Lichtung des Anwesens“. – Dem Substantiv zu dem Verb „anwesen“, das im Deutschen seit langem in der Bedeutung „da sein, zugegen sein“ belegt ist, hat Heidegger zeitlebens intensive Aufmerksamkeit zugewandt. Sein Satz „‚Sein‘ heißt ‚Anwesen‘“ ist breit entfaltet in: H. Mörchen, Denken – Glauben – Dichten – Deuten. Aufsätze und Vorträge aus den Jahren 1953 bis 1990. Hg. v. U. Mörchen u. W. Hartig, Münster 2006, 44–69; dazu auch: G. Neumann, Denken – Glauben – Dichten – Dialogisches Deuten. Sein als Anwesen und Poiesis, in: HSt 25 (2009), 255–265, hier: 259ff. Näher bestimmt wird das Anwesen von Heidegger als bleibendes Weilen (vgl. A. Novák, „Bleibendes Weilen“ als Bestimmung des Anwesens bei Heidegger, in: HSt 30 [2014], 159–176). Anwesend sein heißt ursprünglich, eine Bleibe haben. Die Bedeutung von Anwesen als Haus, Hof oder Hütte mit Grundstück ergibt sich daraus ebenso umstandslos wie Heideggers dezidierte Globalisierungsgegnerschaft und seine Aversion gegen „die ‚planetarische Herrschaft‘ der Wissenschaft und Technik“ (L. Messinese, Heideggers Kritik an der abendländischen Logik und Metaphysik. Ein kritischer Dialog, Berlin 2015, 16. Vgl. die Rez. v. K. Neugebauer, in: HSt 32 (2016), 311–315. – Zu Heideggers Auseinandersetzung mit der „machinalen Existenzform“ des modernen Menschen, wie Ernst Jünger sie in Texten wie „Die totale Mobilmachung“ (1930) oder „Der Arbeiter“ (1932) literarisch beschrieben hat, vgl. F. Balke, Ernst Jünger. Kontroversen über den Nihilismus, in: D. Thomä (Hg.), Heidegger-Handbuch. Leben-Werk-Wirkung, Stuttgart/Weimar 22013, 381–388. Jüngers genannte Schriften repräsentieren für Heidegger „die Einsicht in das alles umfassende und alles radikal neu bestimmende technische Gepräge der modernen Welt“, also das, was der Philosoph als das Ge-Stell bezeichnet hat (G. Figal, Am Rande der Philosophie. Martin Heidegger liest Ernst Jünger, in: ders./U. Raulff [Hg.], Heidegger und die Literatur, Frankfurt a. M. 2012, 93–105, hier: 93f.) Philosophiegeschichtlich exemplifizieren ließe sich Heideggers Kritik einer technisch-szientifischen Welt- und Daseinsauffassung an seiner Auseinandersetzung mit dem frühen Wittgenstein oder mit Rudolf Carnap (vgl. U. Tietz, Ludwig Wittgenstein. Diesseits des Pragmatismus – jenseits des Pragmatismus, in: D. Thomä [Hg.], Heidegger-Handbuch, 356–365; S. Critchley, Rudolf Carnap. Kommt nichts aus nichts?, in: a. a. O., 369–374. Zum späten Wittgenstein als möglicher Vermittlungsinstanz zwischen Heidegger und Carnap vgl. 373f.) 8 Der Mensch ist Heidegger zufolge seinem Wesen nach dazu bestimmt, Hirte, nicht Herr des Seins zu sein. Er soll das Sein nicht beherrschen, sondern hüten. Als Hüter des Seins ist der Mensch einsam wie Hirten es sind. Doch waltet zwischen Einsamkeit und Gemeinsamkeit nicht nur eine terminologische Verbindung. „Im Einsamen ‚west‘ … ein ausgezeichneter Bezug zum Gemeinsamen.“ (P. David, Der Hirt des Seins, in: HSt 9 [1993], 53–62, hier: 59) Analoges gilt für die Armut, die zum Wesen des Hirten gehört: sie macht „seinen Reichtum aus“ (61); denn allein der Verzicht trägt die Verheißung der Seinsentbergung in sich. Vgl. dazu die

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Gunther Wenz

züglichem Gebäck“, so Pannenberg weiter, unternahm man zum Zwecke peripatetischen Philosophierens, wie der Meister scherzhaft bemerkt haben soll, einen ausgedehnten Spaziergang in der umgebenden Landschaft.9 Hauptthema der Unterredung der Schwarzwaldperipatetiker war das Verhältnis von Philosophie und Theologie. Heidegger erklärte letztere nur unter der Voraussetzung für philosophisch akzeptabel, dass sie ihren Gegenstand auf das existentielle Glaubensgeschehen beschränke und sich als Glaubenslehre ohne ontotheologische Ansprüche begreife. Andernfalls sei sie als verkehrte Metaphysik zu kritisieren. Als Glaubenslehre könne die Theologie möglicherweise Erhellendes zum Verhältnis der gläubigen zur un- bzw. vorgläubigen Existenz beitragen. Auch sei ihr der Hinweis unbenommen, dass der Glaube nicht in sich selbst, sondern in einem ihn fundierenden Grund gründe. Doch könne der Grund des Glaubens nicht im Sinne einer metaphysischen Ontotheologie, sondern nur vom Glauben her und unter seiner Voraussetzung, also nur im Sinne einer theologischen Glaubenslehre auf philosophisch berechtigte Weise in den Blick genommen werden. Näher ausgeführt hat Heidegger seine Sicht der Dinge in dem Vortrag „Phänomenologie und Theologie“ von 1927/28, wo er die Theologie ausdrücklich zu einer „positiven“ Glaubenswissenschaft erklärte, um sie dezidiert von jeder metaphysischen Ontotheologie abzuheben, ja ihr den Anspruch, Gotteslehre mit philosophischen Geltungsansprüchen zu sein, generell und grundsätzlich bestritt. Pannenberg fand an dieser Auffassung kein Gefallen, was er mündlich bereits bei seinem Todtnauberger Besuch und später wiederholt auch in schriftlicher Form bekundet hat. Für ihn ist Heideggers Verständnis weder für die christliche Theologie noch für den christlichen Glauben hinnehmbar, da beide sich nicht in sich selbst, sondern in göttlicher Offenbarungswahrheit begründet wüssten und daher auf gedankliche Bewährung und Bewahrheitung dieser Heideggergedichte „Hirtentum des Fehls“ in GA 81, 179 („Erwarten nicht, einfältig Warten nur / im Seyn, ist Hirtenart des Denkens.“), oder „Hütte am Abend“ in GA 81, 241 („Unbewandert im Eigenen, verkennt / der Mensch den Glanz des Bescheidens.“) oder auch das Vorwort zum Gedicht „Todtnauberg“ in GA 81, 346: „Doch / Hütte und Höhe, / zum Brunnen den Blick / aus gesammeltem Denken, / das Buch auf den Tisch, / bezeugend die Freude der Gäste – / hast Du mir gefunden, / vordenkend in die Bestimmung. / Hütte – den Kindern das Frohe der Jugend, / später der Heimruf gefangener Sehnsucht, / uns Wohnen und Wandern, / Zuflucht erneuten Vertrauens – / Hütte – durch Dich gestiftete Stille und Welt.“ Die Reihe einschlägiger Poeme ließe sich unschwer fortsetzen. 9 Näheres zu dem denkwürdigen Besuch und seinen Nachwirkungen findet sich bei G. Wenz, Ausfahrt Todtnauberg. Begegnungen Wolfhart Pannenbergs mit Martin Heidegger, in: ders. (Hg.), Vom wahrhaft Unendlichen. Metaphysik und Theologie bei Wolfhart Pannenberg, Göttingen 2016, 71–87 sowie ders., Vom wahrhaft Unendlichen. Metaphysik und Theologie bei Wolfhart Pannenberg, in: ders. (Hg.), a. a. O., 15–70, hier: 15–24. Die Zitate im Text sind dem erwähnten Brief vom 18. 8. 1952 entnommen, von dem mir Frau Pannenberg dankenswerterweise eine Kopie überlassen hat.

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Wahrheit ausgerichtet seien, während unter den Bedingungen des Heideggerschen Theologiebegriffs die Frage der Glaubensbegründung im Prinzip entfalle, weil nur am daseinsanalytisch zu erhellenden Selbstverständnis gläubiger Existenz Interesse genommen werde.10 Dagegen macht Pannenberg mit Entschiedenheit Folgendes geltend: Wenn … der Glaube im Ernst von Gott und seiner Offenbarung her zu verstehen ist, dann ist Gott und sein Offenbarungshandeln der eigentliche Gegenstand der Theologie, und das bedeutet, daß die Theologie Gott als den Grund alles Seienden und als Quelle seines Seins zu denken hat. Heideggers Bemühen, das Thema der Ontologie vom Gottesgedanken abzukoppeln und ihm gegenüber ganz zu verselbständigen, stellt sich im Gegensatz dazu als nun doch wesentlich atheistisch dar, bedingt durch die anthropologische Wende der nachhegelschen Philosophie in der Form der neukantischen Erkenntnistheorie und der Husserlschen Phänomenologie.11

Inwieweit sich Heidegger durch Pannenbergs Kritik beeindrucken ließ, muss offenbleiben. Bei dem Todtnauberger Hüttenbesuch der Jungtheologen im August 1952 jedenfalls soll sich der berühmte Philosoph, wie man hört, versöhnlich gezeigt haben. Mag sein, dass er wirklich aufgeschlossen, mag sein auch, dass er in Gedanken bereits abgeschweift und im Geiste bei seinen Bergbauern war, mit denen er sich zeitlebens verbunden und eins wähnte. Wiederholt stellte er fest, dass seine philosophische Arbeit in der Bergwelt des Schwarzwaldes „nicht als abseitige Beschäftigung eines Sonderlings“ (GA 13, 10) verlaufe, sondern mitten hineingehöre in die Bauernarbeit. Die Denkarbeit sei „von derselben Art“ (ebd.) wie diese: Darin wurzelt die unmittelbare Zugehörigkeit zu den Bauern. Der Städter meint, er ginge ‚unter das Volk‘, sobald er sich mit einem Bauern zu einem langen Gespräch herabläßt. Wenn ich zur Zeit der Arbeitspause abends mit den Bauern auf der Ofenbank sitze oder am Tisch im Herrgottswinkel, dann reden wir meist gar nicht. Wir rauchen schweigend unsere Pfeifen. Zwischendurch vielleicht fällt ein Wort, daß die Holzarbeit im Wald jetzt zu Ende geht, daß in der vorigen Nacht der Marder in den Hühnerstall einbrach, daß morgen vermutlich die eine Kuh kalben wird, daß den Oehmibauer der Schlag getroffen, daß das Wetter bald ‚umkehrt‘. (Ebd.)

10 Vgl. dazu etwa W. Pannenberg, Wissenschaftstheorie und Theologie, Frankfurt 1973, 264f. 11 Ders., Theologie und Philosophie. Ihr Verhältnis im Lichte ihrer gemeinsamen Geschichte, Göttingen 1996, 336f. Nach Pannenbergs Urteil ist Heideggers Verhältnisbestimmung von Theologie und Philosophie nicht nur theologisch inakzeptabel, sondern auch philosophisch in hohem Maße problematisch, da sie den „Tod Gottes“ zur mehr oder minder selbstverständlichen Prämisse habe. Weil sie entgegen eigener Ursprungsintention „das ontologische Thema in das Seinsverständnis des menschlichen Existenzvollzuges“ (a. a. O., 337) zurücknehme, könne Heideggers phänomenologischer Daseinsanalyse keine kriteriologische Funktion für die Theologie zuerkannt werden; sie sei vielmehr konstruktiv zu kritisieren und zwar auch unter fundamentaltheologischen Gesichtspunkten.

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Damit, so Heidegger, ist im Grunde alles gesagt; der Rest sei bodenständiges Schweigen gemäß der Devise: Im „Ruf der Stille“12 bringt sich zu Gehör, was im lauten Alltagsleben überhört wird. „Das bergend-verhüllende Verbergen ist die Weise, wie der Unterschied selber (sc. der im Sein als Sein von Seiendem ruht) west als Beginn der Lichtung von Seiendem als solchem, d. h. in dessen Sein.“13 Dem Städter und insbesondere dem modernen Großstadtmenschen wird, so steht zu vermuten, das dörfliche Leben am abgelegenen Bergort auf die Dauer als langweilig, nichtssagend, hinterwäldlerisch erscheinen. Für Heidegger führte es gemäß eigenem Bekunden nach Talfahrten, zu denen ihn „Verhandlungen, Vortragsreisen, Besprechungen und die Lehrtätigkeit“ (GA 13, 11) zwangen, „die hohe Zeit der Philosophie“ (GA 13, 10) herbei: Die Städter wundern sich oft über das lange, eintönige Alleinsein unter den Bauern zwischen den Bergen. Doch es ist kein Alleinsein, wohl aber Einsamkeit. In den großen Städten kann der Mensch zwar mit Leichtigkeit so allein sein, wie kaum i r g e n d w o s o n s t . Aber er kann dort nie einsam sein. Denn die Einsamkeit hat die ureigene Macht, daß sie uns nicht vereinzelt, sondern das ganze Dasein loswirft in die weite Nähe des Wesens aller Dinge. (GA 13, 11)

Es folgt ein Loblied auf die „einfache, sichere und unnachläßliche Treue“ (ebd.), die bäuerlichem Gedenken im Unterschied zu treuloser Vergesslichkeit im Dickicht der Städte eigne. Heidegger erinnert an eine 83jährige Bäuerin, die, wenn er lange Wochen allein in seiner Schwarzwaldhütte zubrachte, des Öfteren den Steilhang zu ihm hinaufstieg, um nachzusehen, ob er noch da oder nicht am Ende schon von „Einem“, wie sie sagte, gestohlen sei. Noch anderthalb Stunden vor ihrem Ende habe sie Angehörigen einen letzten Gruß an den „Herrn Professor“ aufgetragen, der diesem nach eigenem Bekunden „unvergleichlich mehr“ (GA 13, 12) bedeutete „als die geschickteste ‚Reportage‘ eines Weltblattes über meine angebliche Philosophie“ (ebd.). Zuletzt werden nach bemerkenswerten Absagen an „herablassende Anbiederung und unechte Volkstümelei“ (ebd.) der Entstehungsanlass des zitierten Textes und ein männlicher Dorfbewohner in Erinnerung gebracht. „Neulich“, schreibt Heidegger, 12 M. Heidegger, Seinsvergessenheit, in: HSt 20 (2004), 9–14, hier: 10. 13 A. a. O., 12. Schweigen kann, wie man hinzufügen darf, unter Umständen sogar den juristischen Tatbestand einer Willenserklärung erfüllen. Das Recht kennt die Figur des konkludenden, schlüssigen Schweigens. Zwar gilt in der Regel der Grundsatz, dass Stillschweigen ohne rechtliche Wirkung bleibt. Doch gibt es gesetzlich geregelte Ausnahmen, in denen dieses entweder als Zustimmung oder als Ablehnung gewertet wird. Untätigkeit in Form von Nichtwiderspruch kann in bestimmten Fällen als Vertragszustimmung, das kommentarlose Versäumen einer gesetzten Bejahungsfrist hingegen als Ablehnung gewertet werden. Für nicht rechtlich geregelte Verhältnisse gilt generell, dass man sich in ihnen und zu ihnen nicht nicht verhalten kann.

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bekam ich den zweiten Ruf an die Universität Berlin. Bei einer solchen Gelegenheit ziehe ich mich aus der Stadt auf die Hütte zurück. Ich höre, was die Berge und die Wälder und die Bauernhöfe sagen. Ich komme dabei zu meinem alten Freund, einem 75jährigen Bauern. Er hat von dem Berliner Ruf in der Zeitung gelesen. Was wird er sagen? Er schiebt langsam den sicheren Blick seiner klaren Augen in den meinen, hält den Mund straff geschlossen, legt mir seine treu-bedächtige Hand auf die Schulter und – schüttelt kaum merklich den Kopf. Das will sagen: unerbittlich Nein! (GA 13, 12f.)

Unnötig zu betonen, dass Heidegger den Berliner Ruf ablehnte und in Freiburg blieb, um sein Hüttendasein weiter pflegen zu können.14 Heideggers Beitrag „Warum bleiben wir in der Provinz?“ wurde im Herbst 1933 nach erfolgter Rufablehnung geschrieben und zunächst vom Berliner Rundfunk, später auch vom Südfunk und einem Freiburger Sender ausgestrahlt. Vollständig abgedruckt wurde der Text im März 1934 in dem Kampfblatt der Nationalsozialisten Oberbadens (vgl. GA 13, 246). Heidegger hatte damals seit knapp einem Jahr das Amt des Rektors der Universität Freiburg inne. Berühmtberüchtigt ist seine Rektoratsrede vom 27. Mai 1933 über „Die Selbstbehauptung der Deutschen Universität“.15 Um die Deutsche Universität zu befördern und auf seine Weise zur Umwälzung des Hochschulwesens im Sinne der „Bewegung“ beizutragen, veranstaltet er für Dozenten und Assistenten ein Ferienlager in Todtnauberg. Was hinwiederum Berlin betrifft, so plante er dort eine zentrale philosophische Schulungsstätte für künftige deutsche Hochschullehrer. Dieser hochschulpolitische Plan scheiterte wie eine Reihe anderer auch. Am 27. April 1934 trat der Philosoph von seinem Freiburger Rektorenamt zurück.

2.

Sein und Zeit. Fundamentalontologische Existenzanalytik und universalgeschichtliche Theologie

Heideggers philosophischer Weltruhm ist im Wesentlichen durch ein Werk begründet, dem kein früheres und kein späteres von ihm an Wirkung auch nur annähernd gleichkam. Im Kreis um Pannenberg wurde es Anfang der 50er Jahre intensiv studiert: „Sein und Zeit“16. Das druckfertige Manuskript lag 1926 vor, die 14 Während Heidegger den Ruf nach Berlin ablehnte, wechselte Carl Schmitt zum WS 1933/34 an die dortige Universität. Zu beider Verhältnis vgl. R. Mehring, Carl Schmitt. Verschärfer und Neutralisierer des Nationalsozialismus, in: D. Thomä (Hg.), Heidegger-Handbuch, 352–355, hier: 354: Heideggers „Kritik an Schmitt ist völkisch-nationalistisch“. 15 Über Heideggers Freiburger Rektorat vom 21. April 1933 bis zum 27. April 1934 und über seine „Rektoratsrede“ (GA 16,107–117) informiert zusammenfassend D. Thomä, Heidegger und der Nationalsozialismus. In der Dunkelkammer der Seinsgeschichte, in: ders. (Hg.), Heidegger-Handbuch, 108–133. 16 Die nachfolgenden Seiten- oder Paragraphenverweise im Text und in den Anmerkungen, denen keine weiteren Angaben beigegeben sind, beziehen sich auf das Jahrhundertwerk.

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Publikation erfolgte im April des darauffolgenden Jahres. Die philosophische Grundfrage des Jahrhundertbuches, wie man es nannte, ist Heidegger zufolge diejenige nach dem Sinn von Sein (vgl. GA 14, 125f.: Selbstanzeige). Ihre Notwendigkeit, formale Struktur sowie ihr ontologischer und ontischer Vorrang vor anderen philosophischen Fragen werden im ersten Kapitel der Einleitung dargelegt (§§ 1–4). Das zweite Einleitungskapitel (§§ 5–8) benennt sodann die Doppelaufgabe der Ausarbeitung der Seinsfrage, nämlich die Aufgabe einer Destruktion der Geschichte der Ontologie17 sowie diejenige einer ontologischen Analytik des Daseins. Letztere bildet das Zentrum des Werkes, das in der 1927 publizierten Form lediglich den ersten Teil einer Philosophie des Seins und seines Sinnes darstellen sollte. Später (1953) wurde die Bezeichnung „Erster Teil“ von Heidegger gestrichen. Der Plan einer Interpretation des Sinnes von Sein überhaupt, deren Horizont durch die ontologische Daseinsanalytik freigelegt werden sollte, blieb unausgeführt und kam erst in späteren Texten ansatzweise zur Durchführung. Zitiert wird es durchweg nach der von Pannenberg benutzten 5. Auflage: M. Heidegger, Sein und Zeit. Unveränderte 5. Auflage, Halle 1941 (Pannenberg-Bibliothek 02950); Sperrungen werden durch Kursivierung wiedergegeben. Vgl. ders., Gesamtausgabe, I. Abteilung: Veröffentlichte Schriften 1914–1970. Bd. 2: Sein und Zeit, Frankfurt/M. 1977. GA 2 „enthält den unveränderten Text der Einzelausgabe von ‚Sein und Zeit‘ nur mit dem Unterschied, daß der Text der Gesamtausgabe mit den Randbemerkungen aus dem Handexemplar des Autors versehen ist“ (GA 2, 579). Die Korrespondenz zur Paginierung aller bisherigen Auflagen der Einzelausgabe ist durch Seitenmarginalien hergestellt. Zur Streichung der Kennzeichnung „Erste Hälfte“ in der siebten Auflage von 1953 vgl. Heideggers Vorbemerkung GA 2, VII: „Die zweite Hälfte läßt sich nach einem Vierteljahrhundert nicht mehr anschließen, ohne daß die erste neu dargestellt würde. Deren Weg bleibt indessen auch heute noch ein notwendiger, wenn die Frage nach dem Sein unser Dasein bewegen soll.“ – Zur Krisenliteratur der Weimarer Ära, in deren Kontext „Sein und Zeit“ steht, vgl. G. Wenz, Eschatologie als Zeitdiagnostik. Paul Tillichs Studie zur religiösen Lage der Gegenwart von 1926 im Kontext ausgewählter Krisenliteratur der Weimarer Ära, in: ders., Tillich im Kontext. Theologiegeschichtliche Perspektiven, Münster 2000, 45–103 sowie ders., Offenbarung. Problemhorizonte moderner evangelischer Theologie, Göttingen 2005, 171ff.: Historismus und Antihistorismus. Zum eschatologisch gespannten Zeitgeist der Jahre nach der Katastrophe des Ersten Weltkriegs, der in Heideggers Daseinsanalyse „klassischen Ausdruck“ gefunden hat, und insbesondere zur Eschatologie Karl Barths vgl. ferner W. Pannenberg, Systematische Theologie. Bd. 3, Göttingen 1993, 578f., hier: 578. 17 Die Destruktion der Geschichte der Ontologie (vgl. 19ff.) verfolgt die „positive Absicht“ (23), einen umfassenderen Horizont für die Seinsphilosophie zu eröffnen, als das bisher der Fall war. Ihr kritisches Geschäft dient dem konstruktiven Ziel einer Phänomenologie, welche dem Dasein auf denjenigen Grund geht, von dem her es sich ursprünglich zeigt. Heideggers Seinsphilosophie und fundamentalontologische Daseinsanalytik ist phänomenologisch und als Phänomenologie hermeneutisch verfasst, nämlich auf ein deskriptives Verständnis der Selbstauslegung des Daseins angelegt. „In dieser Hermeneutik ist dann, sofern sie die Geschichtlichkeit des Daseins ontologisch ausarbeitet als die ontische Bedingung der Möglichkeit der Historie, das verwurzelt, was nur abgeleiteterweise ‚Hermeneutik‘ genannt werden kann: die Methodologie der historischen Geisteswissenschaften.“ (38)

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Nach einleitenden Bemerkungen zur phänomenologischen Untersuchungsmethode und einem Aufriss der Abhandlung wird, wie es in der Überschrift des ersten und ohne Fortsetzung gebliebenen Teils von „Sein und Zeit“ heißt, eine Auslegung des Daseins auf die Zeitlichkeit und die Explikation der Zeit als des transzendentalen Horizonts der Seinsfrage geboten. Der Aufriss sieht dafür drei Abschnitte vor: „1. Die vorbereitende Fundamentalanalyse des Daseins. 2. Dasein und Zeitlichkeit. 3. Zeit und Sein.“ (39) Ausgeführt wurden allerdings nur die beiden ersten Abschnitte. Die vorbereitende Fundamentalanalyse des Daseins hatte nach einer einleitenden Exposition ihrer Aufgabe (§§ 9–11) das In-derWelt-sein überhaupt als Grundverfassung des Daseins zu erweisen (§§ 12 u. 13), um dann von der Weltlichkeit der Welt (§§ 14–24), vom In-der-Welt-sein als Mitund Selbstsein und vom „Man“ (§§ 25–27) sowie vom In-Sein als solchem (§§ 28– 38) zu handeln, aus der Orientierung an welchem die, wie es in der Überschrift von § 12 heißt, „Vorzeichnung des In-der-Welt-seins“ erfolgte. In § 13 wurde das In-Sein sodann an einem fundierten Modus, nämlich dem Welterkennen exemplifiziert. Die Analyse des In-Seins als solchem, wie sie nach vorbereitenden Bemerkungen (§ 28) in den §§ 29–38 vollzogen ist, thematisiert zum einen die existentiale Konstitution des Da (§§ 29–34), zum andern das alltägliche Sein des Da und das Verfallen des Daseins (§§ 35–38). Die anfängliche Fundamentalanalyse des Daseins im ersten Abschnitt von „Sein und Zeit“, der faktisch seine erste Hälfte ausmacht, schließt mit der Kennzeichnung des Seins des Daseins als Sorge. Der den Rest von „Sein und Zeit“ umfassende zweite, mit Dasein und Zeitlichkeit überschriebene Abschnitt behandelt nach einer Sicherung des Ergebnisses der vorbereitenden Fundamentalanalyse des Daseins und einer Bestimmung der Aufgabe einer ursprünglichen existentialen Interpretation dieses Seienden (§ 45) das mögliche Ganzsein des Daseins und das Sein zum Tode (§§ 46–53). Die daseinsmäßige Bezeugung eines eigentlichen Seinkönnens und die Entschlossenheit (§§ 54–60) sowie das eigentliche Ganzseinkönnen des Daseins und die Zeitlichkeit als der ontologische Sinn der Sorge (§§ 61–66) werden im zweiten und dritten Kapitel des zweiten Abschnitts erörtert. Damit ist das Fundament für die beiden Folgekapitel gelegt, welche die Zeitlichkeit des Daseins in seiner Alltäglichkeit (§§ 67–71) und seine Geschichtlichkeit (§§ 72–77) analysieren. Das Werk endet mit einer Rekonstruktion der Genese des vulgären Zeitbegriffs, der seinen Ursprung in demjenigen hat, was Heidegger Innerzeitigkeit nennt (§§ 78–82). Der Schlussparagraph (§ 83) bezieht die existentialzeitliche Analytik auf die fundamentalontologische Frage nach dem Sinn von Sein überhaupt zurück, deren Exposition am Anfang des Werkes stand. Um einen Zugang zum Werk zu finden, mag eine Erinnerung an die traditionelle Lehre vom lumen naturale und ein Blick auf die existential-ontologische Bestimmung nützlich sein, die Heidegger ihr gibt. Unter dem Seienden, welchem

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das Sein selbst je und je sein Sein gibt, nimmt das menschliche Dasein eine ausgezeichnete Stellung im Wesentlichen deshalb ein, weil es in sich selbst gelichtet ist, wie Heidegger sagt. „Gelichtetheit bzw. Helligkeit kennzeichnen das Sein dieses Seienden, das wir selbst sind.“18 Licht und Tageshelle der Natur erscheinen dem Menschen so, wie sie ihm erscheinen, weil er vom lumen naturale erleuchtet ist. Diese Erleuchtung ist natürlicher, nicht übernatürlicher Art, ohne aus der extrahumanen Natur abgeleitet werden zu können. Sie kennzeichnet in einer durchaus unvergleichlich zu nennenden Art und Weise die Natur des Menschen und zwar nicht nur in Teilen, sondern dem Wesen nach. Heidegger greift die ontologische Tradition der Lichtspekulation wiederholt auf und wendet sie „ins Existenzialontologische“19. Das lumen naturale gehört zur Natur des Menschen. Menschliches Dasein ist in sich selbst gelichtet und hell. Phänomenologisch exemplifiziert wird dies nicht nur am menschlichen Sehen, das Heidegger zufolge lichtvolle Selbstdurchsichtigkeit zur Voraussetzung hat, sondern auch an den sonstigen Sinnesvollzügen des Menschen, namentlich am Hören. Nur weil das Gehör des Menschen aus sich selbst heraus erhellt ist, stößt der Hall der Töne auf Verständnis. Die Welt erklingt mit hellem Hall und lichtem Ton und erschließt ihre Anschauung für den Menschen, weil dessen Dasein seiner Natur nach in und für sich selbst erschlossen, erleuchtet und erhellt sowie zu ebenso umsichtiger und einsichtiger wie gehöriger, d. h. daseinsgehorsamer Wahrnehmung bestimmt ist. Dass dabei zum Hall das Verhallen und zur Helle das Dunkel gehört, versteht sich, sofern ohne profilierende Abschattungen und ohne Abfolge von Verlautbarung und Stille etc. keine sinnliche Orientierung möglich wäre. Das lichte und helle Dasein des Menschen ist Offenheit für An- und Abwesendes. Hinzuzufügen ist, dass derjenige, der nur das Sichtbare sieht und nur das Hörbare hört, überhört und übersieht, dass im gesehenen und gehörten Seienden das Sein selbst nur im Modus der Verborgenheit da ist.20 Wie auch immer: Der Sinn von Sein erschließt sich nicht gleichermaßen allem, was ist, sondern wesentlich jenem Seienden, das in sich selbst gelichtet und vom lumen naturale erleuchtet ist. Heidegger nennt es das Dasein. Durch funda18 C. Strube, Die existential-ontologische Bestimmung des lumen naturale, in: HSt 12 (1996), 109–119. 19 A. a. O., 111. 20 Entbergen und Verbergen gehören für Heidegger nachgerade in jenen seinsgeschichtlichen Erkundungen zusammen, denen er nach der sog. Kehre seine philosophische Aufmerksamkeit widmete. Soll über die Betrachtung des Seienden das Sein selbst nicht vergessen werden, müssen in bestimmter Weise Hören und Sehen vergehen, weil nur bei schwindenden Sinnen das Sein als solches sich offenbart und Visionen und Auditionen eröffnet, die alle Theorie transzendieren. Dass eine Differenz zwischen Sein selbst und Seiendem besteht, ist theoretisch leicht zu erfassen; die Differenz als Differenz zu erkennen stellt nach Heidegger dagegen das Schwerste und bislang weithin unerledigte Geschäft der Philosophie dar.

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mentalontologische Daseinsanalyse soll der Horizont der Seinsfrage erschlossen werden, welcher der Vorrang in der Philosophie allem Sonstigen, auch dem Dasein gegenüber gebühre. Weil aber, wie gesagt, „das Seiende vom Charakter des Daseins … zur Seinsfrage selbst einen – vielleicht sogar ausgezeichneten – Bezug“ (8) habe, müsse die Beantwortung der Seinsfrage bei ihm seinen vorläufigen Ausgang nehmen. Dasein ist Heidegger zufolge ein Seiendes, dem es in seinem Sein ursprünglich um das Sein selbst und um das Verständnis von dessen Sinn geht. Dasein existiert, wenn man so will, ekstatisch auf das Sein selbst hin, das ihm indes nicht als ein Transzendentes vorgegeben, sondern allein im Geschehensvollzug jener Selbsttranszendierung erschlossen ist, welches sein Wesen ausmacht. Existierendes Dasein, welches je sein Sein als seiniges zu sein hat, transzendiert sich selbst und weiß sich im Verständnis seines selbsttranszendierenden Vollzugs vor die Möglichkeit gestellt, welche keine andere als die seiner eigenen Existenz ist, nämlich entweder eigentlich es selbst oder nicht eigentlich es selbst zu sein. Das existierende Dasein entscheidet so in seiner Jemeinigkeit21 jeweils selbst über seine Existenz, um sie entweder exzentrisch oder in sich verkehrt zu leben. Das existentielle Verständnis der Existenz bildet die Basis von Heideggers philosophischer Daseinsanalyse, über die sie sich gleichwohl erhebt, ohne sie freilich zu verlassen, sondern um sie im Gegenteil als die Grundlage ihres eigenen Verfahrens zur Kenntnis zu bringen. Zwar ist die philosophische Daseinsanalyse nicht existentiell, sondern existential zu nennen, weil sie sich auf den strukturellen Konstitutionszusammenhang, auf die, wie gesagt wird, Existentialität der Existenz und nicht unmittelbar auf diese selbst richtet. Es geht der philosophischen Daseinsanalyse um existentiales Verstehen nicht um ein existentielles Verständnis. Doch ist die existentiale Analytik des Daseins ihrer Möglichkeit und Notwendigkeit nach in der existentiellen Daseinsverfassung vorgezeichnet.

21 Die Seinsart des Daseins wird seit der Ontologievorlesung vom SS 1923 als Jeweiligkeit, in „Sein und Zeit“ als Jemeinigkeit, wenig später vorzugsweise als Selbstheit beschrieben. Im Dasein west das Sein jeweils als ein Selbst an, das sich selbst eigen ist. (Vgl. M. Michalski, Terminologische Neubildungen beim frühen Heidegger, in: HSt 18 [2002], 181–191, hier: 188f. Zu den Begriffen der Sorge, des Besorgens und der Fürsorge vgl. 182ff., zu demjenigen der Zuhandenheit 189f. Zusammenfassend ist zu sagen: „Heidegger bildet Neologismen, indem er zuvor von ihm selbst für dieselben Phänomene gebrauchte Begriffe so abwandelt, daß sie in einer neuen und dabei verfremdenden Weise auf das natürlich-alltägliche Sichaussprechen des Daseins über sich selbst und seine Welt verweisen; diese verfremdende Abwandlung kennzeichnet eine zu eng an das natürlich-alltägliche Sichaussprechen des Daseins sich anschließende und ihm erliegende philosophische Tradition als den Adressaten einer phänomenologischen Destruktion oder gibt der zu sehr abgeschliffenen Bedeutung eines bisher gebrauchten Begriffes schärfere Konturen. Weitere Beispiele für diese Art der Bildung von Neologismen sind die für die ‚Selbständigkeit‘ eintretende ‚Selbst-ständigkeit‘ und die für die ‚Faktizität‘ eintretende ‚Geworfenheit‘ des Daseins.“ [190])

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Als die Seinsverfassung des Seienden, das existiert, ist Existentialität von Existenz zwar zu unterscheiden, nicht aber zu trennen. Ohne existierendes Dasein ergibt weder dessen Analyse, noch die durch sie erschlossene philosophische Ontologie einen Sinn. Zwar geht das Ontologische nicht im Ontischen auf, aber es hat ohne dieses und abgesehen von dem Existenzvollzug desjenigen Seienden, dem es in seinem Sein um das Sein selbst geht, keinen Bestand. So ist und bleibt die existentiale Analytik samt der Fundamentalontologie, die sie zu erschließen sucht, existentiell verwurzelt. Nur wenn das philosophisch-forschende Fragen selbst als Seinsmöglichkeit des je existierenden Daseins existenziell ergriffen ist, besteht die Möglichkeit einer Erschließung der Existenzialität der Existenz und damit die Möglichkeit der Inangriffnahme einer zureichend fundierten ontologischen Problematik überhaupt. (13)

Die Philosophie, die „Sein und Zeit“ kennzeichnet, ist, um das vorläufige Ergebnis zusammenzufassen, nach Inhalt und Behandlungsart durch einen differenzierten Zusammenhang von Ontologie und Phänomenologie bestimmt. Ihren Ausgang nimmt sie „von der Hermeneutik des Daseins, die als Analytik der Existenz das Ende des Leitfadens alles philosophischen Fragens dort festmacht, woraus es entspringt und wohin es zurückschlägt“ (38). Die existenzanalytische Daseinshermeneutik, die in fundamentalontologischer Absicht verfolgt wird, ist auf den Aufweis von Existentialien ausgerichtet, welche das Dasein in seiner Existenz strukturieren und die Seiendheit des Seins in seiner Jemeinigkeit charakteristisch prägen. Nach Heidegger sind Existentialien „scharf zu trennen von den Seinsbestimmungen des nicht daseinsmäßigen Seienden, die wir Kategorien nennen“ (44). Kategorien geben die denkbaren Bestimmtheitsweisen von Entitäten an, die gegenständlich vorhanden sind. Dasein aber ist wesenhaft kein vorhandener Gegenstand. Wo man es im Sinne des Vorhandenseins von Dingen begreift, wird es zwangsläufig verkannt. Heidegger sieht sich daher veranlasst, die Daseinsanalytik, die er verfolgt, deutlich gegen Anthropologie, Psychologie und Biologie abzugrenzen (vgl. 45ff.), die sich nach seinem Urteil je auf ihre Weise der Objektivierung dessen schuldig machen, was nicht zu objektivieren ist. Pannenberg hat die Trennlinie registriert, durch die Heidegger das Konzept von „Sein und Zeit“ nachgerade gegenüber zeitgenössischen Entwürfen der sog. Philosophischen Anthropologie abgegrenzt sehen wollte.22 Ihm ist aber auch die 22 Zu den Vertretern der sog. Philosophischen Anthropologie wollte Heidegger nicht gerechnet werden, wie seine kritische Auseinandersetzungen mit Max Scheler, Helmuth Plessner und Arnold Gehlen belegen. Diese hätten den Menschen als ein „welthaftes Vorkommnis“ (GA 62, 367) und „etwas allgemein zu Fassendes“ (M. Großheim, Philosophische Anthropologie. Von der Abwehr der anthropologischen Subsumption zur Kulturkritik des Anthropozentrismus: Scheler, Plessner, Gehlen, in: D. Thomä [Hg.], Heidegger-Handbuch, 341–345, hier: 341) begriffen, statt sein Wesen aus dem Dasein seiner existentiellen Jeweilig- bzw. Jemeinigkeit heraus zu erfassen. Zu Heideggers Abgrenzung gegenüber dem „Existentialismus“ Jean-Paul

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Distanzierung nicht entgangen, mit welcher der Autor später vom methodischen Verfahren seines Jahrhundertwerkes erklärtermaßen Abstand nahm, nachdem er die Überzeugung gewonnen hatte, dass der Sinn von Sein auf die ursprünglich vorgesehene existentialontologische Weise nicht zu erheben sei. Diese Distanzierung von einer gleichsam transzendentalen Daseinsanalyse, die schließlich auch die Durchführung des geplanten zweiten Werkteiles verhinderte, habe, so Pannenberg, erhebliche rezeptionsgeschichtliche Folgen gezeitigt. Sie habe dazu beigetragen, dass „Sein und Zeit“ entgegen seiner genuinen Intention „als eine philosophische Anthropologie aufgenommen“23 worden sei, um „gerade als solche eine außerordentliche Wirkung“24 zu entfalten. Unter den Theologen habe Sartres und zu seinem Verhältnis zu Karl Jaspers, der an dem „Gegenüber der Existenz zur Transzendenz“ im Unterschied zum Ansatz von „Sein und Zeit“ ausdrücklich festgehalten habe, vgl. W. Pannenberg, Theologie und Philosophie, 331ff., hier: 334; ferner: R. Mehring, Karl Jaspers, Zerfall einer „Kampfgemeinschaft“, in: D. Thomä (Hg.), Heidegger-Handbuch, 345–349. Nach Karl Jaspers ist Heideggers Nähe zum Nationalsozialismus nicht zufällig, sondern in der Art und Weise seines Philosophierens begründet. Zur Rezeption von „Sein und Zeit“ in Existentialismus und Existenzphilosophie, Hermeneutik und Phänomenologie, Psychoanalyse, Strukturalismus und Poststrukturalismus vgl. Th. Rentsch, „Sein und Zeit“. Fundamentalontologie als Hermeneutik der Endlichkeit, in: D. Thomä (Hg.), HeideggerHandbuch, 48–74, hier: 69f. 23 W. Pannenberg, a. a. O., 329. 24 Ebd. Näher ausgeführt hat Pannenberg die knappen Bemerkungen, die er in „Theologie und Philosophie“ über Bultmanns Heideggerrezeption vortrug (vgl. a. a. O., 330), in seiner „Problemgeschichte der neueren evangelischen Theologie in Deutschland“. Nach einer Skizze des Gegensatzes der Bultmannschen Bibelexegese zur derjenigen Barths wird erörtert, wie Bultmann „den theozentrischen Ansatz der dialektischen Theologie weiterentwickelt zur existentialen Interpretation“ (W. Pannenberg, Problemgeschichte der neueren evangelischen Theologie in Deutschland. Von Schleiermacher bis zu Barth und Tillich, Göttingen 1997, 209. Die nachfolgenden Seitenverweise beziehen sich hierauf.). Die theologiegeschichtliche Bedeutung dieser Wendung sieht Pannenberg „vor allem darin, daß er die von Barth verdrängten Implikationen des Ansatzes der Theologie bei Gott selbst, von der Gottesgewißheit des Glaubens her, als Problem wieder ins Bewußtsein gehoben hat“ (211). Problematisch an Bultmanns begrüßenswerter Wahrnehmung der „Problematik des Vorverständnisses“ (vgl. 211ff.) sei allerdings die „anthropologische Reduktion“ (vgl. 214ff.), die er mit ihr in einseitiger Kritik gegenständlicher Erkenntnis im Anschluss an Heidegger verbinde. Nach Pannenberg läuft Bultmanns existentiale Interpretation wegen tendenzieller Ausblendung der objektiven Gehalte der christlichen Ursprungsüberlieferung auf „eine sachlich unzulässige hermeneutische Verengung“ (216) hinaus mit der Folge einer Aufhebung der Geschichte ins Kerygma. Mit dem Weltverhältnis werde zuletzt auch das Gottesverhältnis in das Selbstverhältnis des Glaubens zurückgenommen, sofern dessen Geschichtlichkeit mit einem enthistorisierten Offenbarungsgeschehen tendenziell in eins gesetzt werde. Indem die historische Faktizität der biblischen Geschichte in das Kerygma aufgehoben werde, degeneriere dieses zum Entscheidungsruf und zur autoritären Gehorsamsforderung (vgl. 222f.). So ergebe sich „dieselbe Verbindung von Dezisionismus und Autoritätsprinzip“ (223), die sich „in den Grundlagen der Dogmatik Barths“ (ebd.) gezeigt habe, bis schließlich in der Spätphase Bultmanns und in Teilen seiner Schule generell fraglich werde, warum der kerygmatische „Aufruf zur Preisgabe der Selbstverfügung überhaupt mit dem Wort ‚Gott‘ verbunden werden“ (224) müsse. Pannenberg kommt zu dem Schluss: „Indem Bultmann die von Barth

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namentlich Rudolf Bultmann Heideggers Daseinsanalytik als philosophische Anthropologie rezipiert und als exemplarisch für das Seins- und Selbstverständnis der vorgläubigen Existenz behandelt, die nur vom Glauben, den das Kerygma hervorruft, davon bewahrt werden könne, dass aus ihrer Vorgläubigkeit in sich verhärtete Ungläubigkeit werde. Heideggers Jahrhundertbuch wurde anders rezipiert als es von ihm ursprünglich intendiert war. Indes, so Pannenberg weiter, sei dieses Missverständnis nicht einseitig der Rezeption, sondern dem Werk selbst zuzurechnen, das seiner Ursprungsintention in Anlage und Durchführung nicht wirklich gerecht geworden sei. Pannenberg sucht diese kritische These vorzugsweise an der nach Maßgabe bereits des Titels von „Sein und Zeit“ fundamentalsten aller fundamentalontologischen Aufgaben zu erläutern, nämlich vom Dasein her und auf das Dasein hin die Temporalität des Seins zu erheben. Wie löst Heidegger die seinem Werk gestellte Zentralaufgabe? Nach Pannenberg durch tendenzielle Reduktion von Zeit auf Zeitlichkeit, von Geschichte auf Geschichtlichkeit. Um mit der Zeit zu beginnen: Sie chronologisch zu berechnen und beispielsweise als Uhrzeit zu erfassen, ist nach Heidegger nur unter der Voraussetzung einer ursprünglichen Zeitigung der Zeitlichkeit des Daseins möglich. Auch die Wahrnehmung jenes unumkehrbaren Nacheinanders, als das uns der Zeitverlauf in der Regel erscheint, hat seinen Grund in der Zeitlichkeit des endlichen Daseins. Die Irreversibilität der Zeit kommt von der „Vorläufigkeit“, mit welcher das Dasein auf sein künftiges Ende ausgerichtet ist. „Die Unmöglichkeit der Umkehr hat ihren Grund in der Herkunft der öffentlichen Zeit aus der Zeitlichkeit, deren Zeitigung, primär zukünftig, ekstatisch zu ihrem Ende ‚geht‘, so zwar, daß sie schon zum Ende ‚ist‘.“ (426)25 unterdrückte und bewußt abgeschnittene Relativität der Gottesgewißheit auf das Selbstverständnis des Menschen thematisierte, aber nun im Sinne einer Reduktion auf das Existenzverständnis, mußte er in der Konsequenz zur Auflösung der Entgegensetzung der Wirklichkeit Gottes gegen die des Menschen gelangen.“ (226) Vgl. ferner ders., Anthropologie in theologischer Perspektive, Göttingen 1983, 19 Anm. 8, wo Pannenberg urteilt, Bultmann sei zu keiner „kritischen Aneignung der existenzphilosophischen Anthropologie (gelangt), die er als maßgebend betrachtete, sondern habe die vortheologische Deutung des Menschen, wie sie in der Daseinsanalyse Heideggers vorlag, ohne kritische Diskussion ihrer Einzelbehauptungen gelten (lassen). Er qualifizierte sie nur im ganzen negativ als Beschreibung des Daseinsverständnisses des Sünders und benutzte sie gerade so als negative Folie für die Theologie.“ 25 Zeitigt sich die eigentliche Zeitlichkeit des Daseins primär aus der Zukunft, so findet das vulgäre Zeitverständnis das Grundphänomen der Zeit Heidegger zufolge im gegenwärtigen Jetzt vor (vgl. 427). Auch Hegels Begriff der Zeit, der direkt aus der „Physik“ des Aristoteles stamme, weise in diese Richtung. Als Veränderung sei die Zeit formale Einheit von Einheit und Andersheit und darin strukturell dem Geist vergleichbar, dessen im Werden begriffenes Sein Negation der Negation sei. Näheres hierzu ist dem vorletzten Paragraphen von „Sein und Zeit“ zu entnehmen. Im Unterschied zu Hegels angeblicher Abstraktheit will Heidegger beim

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Vom proleptischen Vorgriff des Daseins auf sein eigenes Ende und von der Vollendung, die es gemäß „Sein und Zeit“ in der Todesantizipation erlangen soll, wird noch eigens und ausführlich zu handeln sei. Einstweilen muss die thetische Feststellung genügen, dass sich die Zeit nach Heidegger ursprünglich und in ihrer genuinen Phänomenalität im Modus der „Vorläufigkeit“ der Existenz und im existentialen Entwurf eines eigentlichen Ganzseinkönnens des Daseins erschließt, wie es sich im „Vorlauf“ zum je eigenen Tod zu konkretisieren habe. „Eigentlich und ganz durchsichtig wird das eigene Seinkönnen im verstehenden Sein zum Tode als der eigensten Möglichkeit.“ (307) Eine höhere Instanz des Seinkönnens als den Tod in seiner Jemeinigkeit sieht Heidegger nicht vor. Entsprechend gilt ihm Zeitlichkeit nicht etwa als ein Derivat von Ewigkeit, sondern als der ontologische Sinn der Sorge des Daseins um die Zukunft als des Woraufhin seiner selbst. Zur eigenen wird die Zukunft, um die sich das Dasein sorgt, wenn es den Tod als definitives Ende vorlaufend antizipiert und so die eigene Endlichkeit entschlossen affirmiert. Dann ist das Dasein eigentlich und die Zukunft das Entgegenkommen des Daseins in seiner ureigensten Seinspotenz auf sich. Um das Skizzierte mit Heideggers eigenen Worten zusammenzufassen: Das die ausgezeichnete Möglichkeit aushaltende, in ihr sich auf sich Zukommen lassen ist das ursprüngliche Phänomen der Zu-kunft. Wenn zum Sein des Daseins das eigentliche bzw. uneigentliche Sein zum Tode gehört, dann ist dieses nur möglich als zukünftiges in dem jetzt angezeigten und noch näher zu bestimmenden Sinn. ‚Zukunft‘ meint hier nicht ein Jetzt, das noch nicht ‚wirklich‘ geworden, einmal erst sein wird, sondern die Kunft, in der das Dasein in seinem eigensten Seinkönnen auf sich zukommt. (325)

Das auf Zukunft hin existierende Dasein ergreift dieses im Vorlaufen zum Tode und macht es dadurch „eigentlich zukünftig“ (ebd.) und zwar, wie Heidegger hinzufügt, „in dem, wie es je schon war“ (ebd.): „Das Vorlaufen in die äußerste und eigenste Möglichkeit ist das verstehende Zurückkommen auf das eigenste Gewesen. Dasein kann nur eigentlich gewesen sein, sofern es zukünftig ist. Die Gewesenheit entspringt in gewisser Weise der Zukunft.“ (326) Die existentielle Antizipation des Endes des Daseins wirkt zurück auf dessen Beginnen, das von Anfang an dazu bestimmt war, durch entschiedene Annahme der eigenen Endlichkeit für sich erschlossen zu sein. Das protologische Wesen des Daseins ist darauf angelegt, seine eschatologische Zukunft proleptisch zu ergreifen, um so zu eigentlicher Geistesgegenwart zu gelangen, in der existentielle Erwartung und Erinnerung koinzidieren.

konkreten Dasein einsetzen, um die Zeitlichkeit als die ursprüngliche Ermöglichung der faktisch geworfenen Existenz zu enthüllen, bei der die Existentialanalytik ihren Anfang nahm.

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Die Gewesenheit entspringt der Zukunft, so zwar, daß die gewesene (besser gewesende) Zukunft die Gegenwart aus sich entläßt. Dies dergestalt als gewesend-gegenwärtigende Zukunft einheitliche Phänomen nennen wir die Zeitlichkeit. (Ebd.)

Zukunft, Gewesenheit und Gegenwart heißen die „Ekstasen der Zeitlichkeit“ (329), deren Wesen „Zeitigung in der Einheit der Ekstasen“ (ebd.) ist. Gleichwohl soll der Zukunft der Primat bezüglich der sich zeitigenden Zeit insofern zukommen, als das Dasein als Existentes auf etwas und nicht nur auf etwas, sondern auf das Ganze seiner selbst und seiner Welt aus ist, wie es am Ende manifest werden wird. Auf dieses Ende hin und von ihm her ist das zeitliche Dasein und zwar als ein nach Maßgabe seiner existentiellen Wesensbestimmung endliches. So ergibt sich folgendes Resultat: Zeit ist ursprünglich die Zeitigung der Zeitlichkeit, als welche sie die Konstitution der Sorgestruktur ermöglicht. Die Zeitlichkeit ist wesenhaft ekstatisch. Zeitlichkeit zeitigt sich ursprünglich aus der Zukunft. Die ursprüngliche Zeit ist endlich. (331)

In der Zeitigung der ekstatischen Zeitlichkeit als des „ursprüngliche(n) ‚Außersich‘ an und für sich selbst“ (329) ist die Geschichtlichkeit des Daseins offenbar. Diese ist nach Heidegger „der Grund eines möglichen historischen Verstehens, das seinerseits wiederum die Möglichkeit zu einer eigens ergriffenen Ausbildung der Historie als Wissenschaft bei sich trägt“ (332). Geschichte basiert auf Geschichtlichkeit und nicht umgekehrt. Die historischen Zeiten und ihr Verlauf verstehen sich allein von der Zeitlichkeit des Daseins und seinem Vorlaufen zum Tode her, wohingegen eine Herleitung existentieller Temporalität aus den Tempora der Welthistorie auf Abwege und in die Irre führt. Die eigentliche Gegenwart geschichtlichen Daseins vollzieht sich im „Augenblick“ (338), indem sie sich allererst vergegenwärtigt, was präsent wird; dieser Augenblick ist kein Moment in der Zeit, sondern phänomenale Selbstpräsentation von Zeitlichkeit überhaupt. Das „Wiederholung“ (339) genannte Gewesen-sein ist seinerseits kein bloß Vergangenes, sondern die durch den Vorgriff auf das künftige Todesende reaktivierte Ursprungsanlage des Daseins, dessen Wesen Existenz ist. Existierend ist das Dasein essentiell auf das Ganze seiner selbst und seiner Welt ausgerichtet, das ihm von seinem Ende her und als sein Ende zukommt. Indem es dieses Ende durch Vorlaufen zum Tode antizipiert, kommt ihm eigentliches Sein zu, wohingegen es ansonsten der Seinsvergessenheit anheimfällt, welche die Zeitlichkeit des Verfallens (vgl. 346ff.) in den formwidrigen Gestalten der Zerstreuung, der Langeweile, der Rastlosigkeit etc. bestimmt. In der Zeitlichkeit des Verfallens vergeht die Zeit. In ihrer Eigentlichkeit zeitigt sie sich stetig und zwar, wie Heidegger sagt, in jeder ihrer Ekstasen ganz und nicht in der Weise eines „Nacheinanders“: „Die Zukunft ist nicht später als die Gewesenheit und diese nicht früher als die Gegenwart. Zeitlichkeit zeitigt sich als gewesende-gegenwärtige Zukunft.“ (350) Sie ist ekstatische Einheit, „Einheit des

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‚Außer-sich‘ in den Entrückungen von Zukunft, Gewesenheit und Gegenwart“ (ebd.) und darin die „Bedingung der Möglichkeit dafür, daß ein Seiendes sein kann, das als sein ‚Da‘ existiert“ (ebd.): „Die ekstatische Zeitlichkeit lichtet das Da ursprünglich.“ (351) Als in seinem Da durch ekstatische Zeitlichkeit ursprünglich gelichtet existiert Dasein in der Welt. Auch seine spezifische Räumlichkeit und alle sonstigen Befindlichkeiten seines In-der-Welt-seins sollen nach Heidegger in der Zeitlichkeit des Daseins gründen, der mithin eine transzendentale Funktion zukommt. Doch sei diese Transzendentalität nicht mit derjenigen vergleichbar, die Kant dem Ich-denke zuerkenne, weil sich Existenz nicht egologisch begründen lasse. Sosehr Pannenberg die Priorisierung der Zukunft in Heideggers Zeitkonzept und die Absicht zu würdigen weiß, es nicht egologisch auf eine Theorie transzendentaler Subjektivität zu gründen, sowenig kann er sich vom Gesamtgelingen der Unternehmung überzeugen. Heidegger habe nicht verwirklicht, was er zu realisieren bestrebt gewesen sei. Letztlich sei auch sein Zeitverständnis wie das Kantsche reduktionistisch und durch Rückführung von, wenn man so will, Weltzeit auf existentielle Zeitlichkeit bestimmt. In einem signifikanter Weise „Sein und Zeit“ überschriebenen Abschnitt seines Buches „Metaphysik und Gottesgedanke“ hat Pannenberg dieses Urteil im Einzelnen zu plausibilisieren und zugleich zu begründen versucht, warum den traditionellen Zeitanalysen Plotins und Augustins denjenigen Kants und Heideggers gegenüber der Vorzug zu geben sei. Wenngleich die Einheit der Zeit auch bei ihm noch zur Bedingung der Verstehensmöglichkeit begrenzter Zeiteinheiten erklärt werde, habe Kant sie nicht mehr durch den Bezug alles Zeitlichen zur Ewigkeit und ihrer unendlichen Einheit, sondern durch Rekurs auf ein transzendentales Ich begründet, das alle Zeitvorstellungen begleiten und ihre Einheit gewährleisten können muss. „Ähnliches gilt für Heideggers Zeitanalyse in ‚Sein und Zeit‘: Wie bei Kant die Ewigkeit als Horizont der Zeit ersetzt ist durch die Subjektivität des Ich, so bei Heidegger durch das Dasein.“26 Zwar setze, so Pannenberg, Heidegger nicht wie Kant ein immer schon mit sich identisches Ich als den Ort des Zeitbewußtseins voraus. Die Identität des Daseins soll vielmehr von der Zukunft her allererst konstituiert werden und zwar derart, daß von der Zukunft des eigenen Todes her das Dasein im Ganzen in seiner Endlichkeit erschlossen wird und als ‚eigenstes Gewesensein‘ übernommen werden kann. Andererseits hat die Ganzheit des Daseins ihren Ort nicht in der Ewigkeit oder als Teilhabe an der Ewigkeit wie bei Plotin und Augustin, sondern in der Endlichkeit des Daseins als solcher, und zwar nur im Vorlaufen, also im Akt der An-

26 W. Pannenberg, Metaphysik und Gottesgedanke, Göttingen 1988, 61.

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tizipation des eigenen Todes als Siegel dieser Endlichkeit, deren Kehrseite die Geworfenheit, die Kontingenz des Da ist.27

Statt ihn in Relation zur Ewigkeit zu begründen, wie das bei Plotin und Augustin der Fall gewesen sei, laufe der zeitliche Selbstvollzug des Daseins bei Heidegger auf einen Akt der Selbstkonstitution hinaus, der außer dezidierter Entschlossenheit keinen Grund aufzuweisen habe, die Aporie wiederhole, in welche bereits vormalige Selbstsetzungstheorien geraten seien, und überdies die Zeit um ihre welthafte Verfassung bringe und tendenziell ins rein Subjektive auflöse. Analoges müsse in Bezug auf das Verhältnis von Geschichtlichkeit und Geschichte geltend gemacht werden. Nach Heidegger existiert das Dasein geschichtlich und nur deshalb kann es Geschichte geben, nicht umgekehrt. Die chronologisch zu bemessende Weltzeit der Geschichte ist ein abkünftiger Modus der Geschichtlichkeit des Daseins, dessen Anfang und Ende sich nicht an äußeren Maßstäben bemessen lässt. Das faktische Dasein existiert gebürtig, und gebürtig stirbt es auch schon im Sinne des Seins zum Tode. Beide ‚Enden‘ und ihr ‚Zwischen‘ sind, solange das Dasein faktisch existiert, und sie sind, wie es auf dem Grunde des Seins des Daseins als Sorge einzig möglich ist. In der Einheit von Geworfenheit und flüchtigem, bzw. vorlaufendem Sein zum Tode ‚hängen‘ Geburt und Tod daseinsmäßig ‚zusammen‘. Als Sorge ist das Dasein das ‚Zwischen‘.(374)

Um sich und ihre Welt besorgt fristet das Dasein seine Interimsexistenz und erstreckt sich auf Zukunft hin, welches Sicherstrecken ihre Geschichtlichkeit ausmacht.

27 Ebd. Nach Pannenberg hat die Auseinandersetzung mit Heideggers Zeitanalyse bei der Frage zu beginnen, ob die Prolepse des Endes des Dasein tatsächlich, wie behauptet, den Sinn- und Einheitsgrund von Zeitlichkeit und Zeit zu erschließen vermag. Müsse dies verneint werden, was Pannenberg zufolge eindeutig der Fall ist, dann könne die mögliche Ganzheit zeitlichen Daseins, ja die Totalität des Seienden in der Einheit seines Seins und seiner Zeit nur mittels Teilhabe an der Ewigkeit bestimmt werden. Trotz seines grundsätzlichen Einwands gegen die Heideggersche Zeitlehre erkennt Pannenberg ihrer Priorisierung der Zukunft ein unaufgebbares Wahrheitsrecht zu: „Auch wenn der Primat der Zukunft für die Zeitlichkeit des Daseins – und des Seienden überhaupt – nicht vom Tode (oder allgemein vom Nichts) aus angemessen gedacht werden kann, weil vielmehr die Ganzheit jedes Seienden unbeschadet seiner Endlichkeit als Teilhabe an der Ewigkeit zu denken ist, so bleibt doch bestehen, daß die Zukunft als Ursprung der Ganzheit des endlichen Seienden und dessen Sein als Antizipation seiner Zukunft zu denken ist.“ (A. a. O., 64) Dem Zusammenhang von Begriff und Antizipation ist der Schlussabschnitt von „Metaphysik und Gottesgedanke“ gewidmet. (Vgl. a. a. O., 66ff.; vgl. dazu auch die bei Pannenberg angefertigte Doktorarbeit von L. Kugelmann, Antizipation. Eine begriffsgeschichtliche Untersuchung, Göttingen 1986, wo u. a. vom Problem der temporalen Antizipation in Kants transzendentaler Analytik [89ff.] und von der Zukunftsprolepse des Daseins in Form des Vorlaufens zum Tode bei Heidegger [155ff.] gehandelt wird.)

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Die Geschehensstruktur von Geschichtlichkeit ist Heidegger zufolge dem Geschehen und der Verlaufsform dessen vorgeordnet, was man landläufig Geschichte nennt. Dem geschichtlichen Dasein kommt Priorität gegenüber demjenigen zu, was üblicherweise Weltgeschichte heißt. Auch das Dasein hat eine Geschichte, durch welche sie an der Weltgeschichte partizipiert. Aber die Daseinsgeschichte wie die Weltgeschichte sind durch existentielle Geschichtlichkeit als der Bedingung ihrer Möglichkeit konstituiert. Was hinwiederum den transzendentalen Status von Geschichtlichkeit als Bedingung der Möglichkeit von Geschichte betrifft, so markiert er ein Daseinsgeschick insofern, als er die Existenz dazu bestimmt, in Antizipation des Endes die Zukunft ihrer selbst und so vollendete Endlichkeit zu sein. Nur im uneigentlichen Dasein steht vollendete Endlichkeit aus; im eigentlichen erschließen sich aus ihrer Zukunft Präsenz und ursprüngliches Wesen der Existenz. Ist das Sein zum Tode als Affirmation des Endes und der Endlichkeit des Daseins der Grund seiner eigentlichen Zeitlichkeit und Geschichtlichkeit, so bilden diese die Basis dessen, was man Weltgeschichte nennt. Historie, so Heidegger, ist von Geschichtlichkeit abgeleitet, in der sie ihren existentialen Ursprung findet. Entsprechend setzt historische Geschichtsforschung die Geschichtlichkeit der Existenz des Historikers konstitutiv voraus, der in seiner Individualität zwar nicht das Subjekt der Geschichte ist, ohne dessen existentiale Verfasstheit aber von dieser mit keinem Wort die Rede sein könnte. Die Story von Historie ist ohne Geschichtlichkeit des Daseins nicht zu gewinnen.28 Karl Löwith, bei dem Pannenberg in Heidelberg Student war, hat bei Gelegenheit die These vertreten, dass Geschichtsphilosophie konsequent auf Anthropologie zu reduzieren sei, weil Geschichte im Wesentlichen nicht anderes offenbare als die Selbigkeit der menschlichen Natur.29 Bei Heidegger, dem vormaligen Lehrer seines einstigen Lehrers, findet Pannenberg diese Tendenz dadurch vorgezeichnet, dass historische Geschichte auf die Geschichtlichkeit des 28 Ausdrücklich weist Heidegger auf den Zusammenhang seiner Exposition des Problems des daseinsgeschichtlichen Grundes von Geschichte mit Forschungen W. Diltheys und Ideen des Grafen Yorck hin; zugleich sieht er sich genötigt, beider Fragestellungen grundsätzlich zu radikalisieren. Der Unterschied des Seins der Natur und desjenigen der Geschichte, zwischen „Ontischem“ einerseits und „Historischem“ andererseits, um den es Dilthey und Graf Yorck zu tun gewesen sei, lasse sich philosophisch nur durch Rückführung auf eine ursprüngliche Einheit begreifen, von der her und auf die hin sich sowohl beider Unterschied als auch beider Vergleichbarkeit erschließe. Auf diese ursprüngliche Einsicht sei die ontologische Idee des Seins ausgerichtet, welche die Differenz zwischen der Seinsverfassung eines daseinsmäßigen Seienden und derjenigen eines nicht daseinsmäßigen Seienden umfasse und generisch aus sich hervorgehen lasse. Ontologie erschöpfe sich mithin nicht in einer Lehre vom Ontischen, welches „nur ein Bezirk des Seienden“ (403) sei, sondern habe darüber hinaus das Dasein zu bedenken, ohne welches weder ontisch Vorhandenes noch die Differenz von ontischem und geschichtlichem Sein wahrgenommen und begriffen werden könnte. 29 Siehe unten 381ff.

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Daseins zurückgeführt wird, deren abkünftiger Modus sie sei. Weil das Dasein geschichtlich konstituiert sei, deshalb und nur deshalb könne es Geschichte geben. Pannenberg anerkennt diese These nicht nur nicht, sondern plädiert ausdrücklich für ihre „Umkehrung … im Sinne einer Abhängigkeit der Geschichtlichkeit des Menschen von der Erfahrung der Geschichte“30. Das geschichtliche Dasein ist nicht der primäre Wirkgrund der Geschichte, weil es selbst erst durch einen historischen Prozess gebildet wird und zwar sowohl der Weltgeschichte als auch der Geschichte seiner selbst. Geschichte als Bildungsprozeß ist der Weg zur Zukunft der eigenen Bestimmung. Solange dieser Weg unabgeschlossen ist, kann er nur von einer Antizipation seines Zieles her beschrieben werden. Von ihr her begreift der Mensch Sinn und Aufgabe seines Lebens. Freilich müssen sich Weg und Ziel so zueinander verhalten, daß der bisher zurückgelegte Weg als Weg zu diesem Ziel gedeutet werden kann, so wie die tatsächliche Lebensgeschichte eines Menschen integrierbar sein muß in den Entwurf seiner Identität. Denn der Mensch als geschichtliches Wesen ist nicht nur das Ziel, sondern die Bewegung der auf das Ziel hinführenden Geschichte. Diese aber gewinnt ihre Einheit von der Zukunft ihrer Vollendung her. Daher kann der Mensch nur durch Antizipation dieser Zukunft gegenwärtig als er selbst existieren.31

Geschichte versus Geschichtlichkeit: Für Heideggers fundamentalontologische Existentialanalytik bildet die Geschichtlichkeit des Daseins den Ursprung aller Geschichte, wohingegen nach Pannenbergs universalgeschichtlicher Theologie die Geschichtlichkeit der Existenz „in der Erfahrung der Wirklichkeit als Geschichte gründet, wie sie in der Verheißungsgeschichte Gottes mit Israel auf die in Jesus Christus vorweggenommene Erfüllung hin erschlossen ist“32. Der zitierte Aufsatz, in dem Pannenberg den Gegensatz seiner Konzeption zu derjenigen des frühen Heidegger erstmals öffentlich darlegte, entstand 1958 und wurde im darauffolgenden Jahr publiziert. 1961 folgte die Programmschrift „Offenbarung als Geschichte“, in der die eingeschlagene Linie konsequent weiterverfolgt und thetisch ausgearbeitet wurde. Abgezeichnet hatte sich der Antagonismus zwischen Pannenbergs Geschichtstheologie und Heideggers Philosophie existentialer Geschichtlichkeit 30 W. Pannenberg, Anthropologie in theologischer Perspektive, Göttingen 1983, 478 Anm. 18. 31 A. a. O., 512. Auch nach Pannenberg vermag das Dasein nur durch Prolepse jener Zukunft zu existieren, auf die seine Existenz ausgerichtet ist. Doch sei diese Antizipation nicht, wie Heidegger es darstelle, „ursprünglich von der Sorge her zu verstehen. Der ekstatische Sinn des Seins beim andern als einem andern und der Vorrang der Zukunft für die temporale Struktur dieses ekstatischen Lebensvollzugs wird vielmehr durch die Sorge schon zurückgenommen auf das gegenwärtige Dasein, um das die Sorge besorgt ist. Der Zukunftsbezug der Sorge weist daher seinerseits auf eine ursprünglichere Form des ekstatischen Daseinsvollzuges und des damit verbundenen Vorrangs der Zukunft zurück.“ (A. a. O., 511 Anm. 129) 32 Ders., Heilsgeschehen und Geschichte, in: ders., Grundfragen systematischer Theologie. Gesammelte Aufsätze, Göttingen 21971, 22–78, hier: 38.

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bereits in den frühen 50er Jahren und davor, als man im „Kreis“ intensiv „Sein und Zeit“ zu studieren begann. Schon damals bildete sich zur Gewissheit aus: Die Emanzipation der Geschichtlichkeit von der Geschichte, die Umkehrung des zwischen beiden waltenden Verhältnisses zu einer Begründung der Geschichte aus der Geschichtlichkeit des Menschen erscheint als die letzte Spitze des Weges, der damit begann, daß man in der Neuzeit an Stelle Gottes den Menschen zum Träger der Geschichte machte. Daß die Geschichtlichkeit des Menschen der Kontinuität des Geschichtslaufes entgegengestellt wird, ist der letzte Schritt, der auf diesem Wege möglich ist, bevor mit der Erfahrung der Geschichte auch die der Geschichtlichkeit versinken müsste.33

3.

Eschatologische Existenz. Religionsphänomenologie als Grundparadigma einer Hermeneutik faktischen Lebens

Nachdem er den vorbildlichen Glaubens der Gemeinde gelobt sowie an ihre Gründung und die erfolgte Aufnahme des Evangeliums in Bedrängnis erinnert hat, kommt Paulus im 1. Thessalonicherbrief kurz auf die Sendung des Timotheus, des Bruders im Herrn und Mitarbeiters im Apostolat, zu sprechen, um dann von der Auferstehung der Toten und vom bevorstehenden Tag des Herrn zu handeln. Dieser werde – die Gemeinde wisse es – „wie ein Dieb in der Nacht“ (1. Thess 5,2) kommen, unerwartet und unberechenbar. Nicht nötig sei es daher, von Zeiten und Stunden zu schreiben; denn die Ankunft des Herrn entziehe sich jeder chronologischen Bemessung. Statt sich in falscher Sicherheit zu wiegen, gelte es wachsam und nüchtern zu sein, „angetan mit dem Panzer des Glaubens und der Liebe und mit dem Helm der Hoffnung auf das Heil“ (1. Thess 5,8). Ermahnungen und Grüße beschließen das Schreiben. Bevor sich Paulus von der Gemeinde „mit dem heiligen Kuss“ (1. Thess 5,25) und einem förmlichen Gnadensegen verabschiedet, fasst der den Skopus seines apostolischen Schreibens in dem Zuspruch zusammen: „Er aber, der Gott des Friedens, heilige euch durch und durch und bewahre euren Geist samt Seele und Leib unversehrt, untadelig für das Kommen unsres Herrn Jesus Christus.“ (1. Thess 5,23) Die Schlusspassage im 5. Kapitel des 1. Thessalonicherbriefes und die Aussagen des Apostels über die parousia tou kyriou haben seit alters besondere 33 A. a. O., 39. Zu den Gründen, warum „Heidegger in seiner Analyse der Geschichtlichkeit die Frage nach einer das einzelne Dasein übergreifenden Geschichtsganzheit vorerst nicht mehr gestellt hat“, äußerte sich Pannenberg u. a. in dem Text „Über historische und theologische Hermeneutik“ (1964), in: a. a. O., 123–158, bes. 144ff., hier: 144. Dort finden sich in Grundzügen bereits die Zentralargumente gegen die These eines durch aktuelles Vorlaufen zum Tode vermittelten Ganzseinkönnens des Dasein entwickelt, die Pannenberg später wiederholt vorgetragen und weiter präzisiert hat. Vgl. im Einzelnen unten 17ff., bes. 23ff.

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Aufmerksamkeit der Exegeten auf sich gezogen. Heidegger bildet in dieser Hinsicht keine Ausnahme. Auch seine phänomenologische Explikation des 1. Thessalonicherbriefs, wie er sie in seiner Freiburger Vorlesung vom WS 1920/ 21 „Einleitung in die Phänomenologie der Religion“ (GA 60, 1–125)34 vornahm, ist hingeordnet auf die Erwartung der Parusie bzw. die Annahmen, die Paulus mit ihr für sich und seine Gemeinde verbindet. Die Parusiethematik berührt nach Heidegger „das Zentrum des christlichen Lebens: das eschatologische Problem“ (GA 60, 104), das sich nach apostolischem Urteil dadurch auszeichnet, jede Möglichkeit eines distanzierten Verhältnisses zu entziehen. Die Antwort des Paulus auf die Frage nach dem Wann der parousia ist … die Aufforderung, zu wachen und nüchtern zu sein. Hierin liegt eine Spitze gegen den Enthusiasmus, die Grübelsucht derer, die solchen Fragen, wie der nach dem ‚Wann‘ der parousia, nachspüren und darüber spekulieren. Sie kümmern sich nur um das ‚Wann‘, das ‚Was‘, die objektive Bestimmung; sie haben kein eigentliches persönliches Interesse daran. Sie bleiben im Weltlichen stecken. (GA 60, 105)

Die eschatologische Existenz rechter Christen hingegen reißt diese aus der Welt und ihren objektgeschichtlichen Zusammenhängen heraus, um sie in eine Stellung zu bringen, die einen Zuschauerstatus unmöglich macht. Der 1. Thessalonicherbrief ist „das früheste Dokument des Neuen Testaments“ (GA 60, 87). Will man ihn als paradigmatisches Zeugnis der Urchristenheit ernst nehmen, dann gilt es nach Heidegger aus der distanziert beobachtenden exegetischen Zuschauerrolle herauszutreten und sich just in jene Situation zu begeben, „daß wir mit Paulus den Brief schreiben“ (ebd.). Genau dies 34 Das Manuskript der Vorlesung, die Heidegger als Freiburger Privatdozent gehalten hat, ist „verschollen“ (GA 60, 339) und nur auf Grund von fünf Nachschriften „annäherungsweise zu rekonstruieren“ (ebd.): „Der auf diese Weise erstellte Text kann, was seine Authentizität angeht, nicht mit Editionen verglichen werden, die auf Originalmanuskripten basieren.“ (GA 60, 341) Im Wesentlichen authentisch dürfte die Gliederung des Kollegs sein. Nach einer methodischen Einleitung zum Thema Philosophie, faktische Lebenserfahrung und Religionsphänomenologie, die mit einem Kapitel über Formalisierung und formale Anzeige endet, bietet ein zweiter Teil eine Explikation konkreter religiöser Phänomene im Anschluss an paulinische Briefe, nämlich den Galaterbrief sowie den 1. und den 2. Brief des Apostels Paulus an die Thessalonicher, die Heidegger beide für echt hält. Beschlossen wird die Vorlesung mit einer Charakteristik der urchristlichen Lebenserfahrung. Aufzeichnungen und Entwürfe zur Vorlesung sind in GA 60, 127–156 beigegeben. Zum Thema „Religiöse Erfahrung in der Phänomenologie des frühen Heidegger“ vgl. das gleichnamige Buch von M. Fischer (Göttingen 2013), das u. a. interessante Aufschlüsse vermittelt in Bezug auf die fortschreitende Distanzierung des Philosophen von der christlichen Theologie, der er anfangs eng verbunden war, und bezüglich der Hinwendung zu den vorsokratischen Griechen wie etwa Heraklit, von deren Andenken er mehr erleuchtende Seinslichtung erwartete als von dem Gedächtnis der Gottesoffenbarung, auf welche der christliche Glaube sein Vertrauen und seine Hoffnung setzt. (Vgl. die Rez. des Buches von M. Fischer durch H. Vetter, in: HSt 32 [2016], 239–243, sowie J. Brejdak, Philosophia crucis. Heideggers Beschäftigung mit dem Apostel Paulus, in: PhJ 105 [1998], 21–44.)

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ist Heideggers Absicht: „Wir vollziehen mit ihm (sc. dem Apostel) selbst das Briefschreiben bzw. -diktieren.“ (GA 60, 87) Nur vermöge dieses Verfahrens lasse sich ein Verständnis eschatologischer Existenz im urchristlichen Sinne gewinnen, das sich nicht durch äußere Kenntnisnahme, sondern allein durch aktuellen Nachvollzug in der Jetztzeit erschließe. Die methodischen Schwierigkeiten der zu vollziehenden Wendung von der objektgeschichtlichen Betrachtung zur vollzugsgeschichtlichen Situierung sind nach Heideggers Urteil erheblich. Nachdem er sie ansatzweise bedacht und für „eine immanente Explikation mit ursprünglicherer Begrifflichkeit“ (GA 60, 89) als der gewohnten plädiert hat, sucht er den situativen Vollzugssinn paulinischer Rede mit deren, wie es heißt, Gehalts- und Bezugssinn zu verbinden, um aus der faktischen Situation des apostolischen Lebens heraus zu erschließen, „als was Paulus die Gemeinde in Thessaloniki hat und wie er sie hat“ (GA 60, 93). Er hat sie so, wie und als was er sich selbst hat. Denn das Gewordensein der Christen von Thessaloniki weg von sündiger Selbstverkehrtheit hin zum gläubigen Sein in Christus entspricht, so der Apostel, seiner eigenen Bekehrung. „Das Wissen um das eigene Gewordensein ist der Ansatz und Ursprung der Theologie.“ (GA 60, 95) Als „den Zusammenhang klärende Hauptstelle“ (ebd.) führt Heidegger 1. Thess 1,9f. an, wo die das aktuelle Dasein des Christen bestimmende Umkehr als absolute Umwendung im Sinne radikaler Wegwendung von der Verfehlung, die vergangen ist, und als vollkommene Hinwendung zur Zukunft Gottes in der Parusie Jesu Christi gekennzeichnet wird. Ausgelegt werde besagter eschatologischer Vollzug, der das faktische Christenleben in seinen Sinngehalten und Bezügen zu Mitmensch und Welt charakterisiere, von Paulus vorzugsweise unter den Gesichtspunkten von douleuein und anamenein, als dienstbarer Wandel vor dem lebendigen und wahren Gott und Erharren der himmlischen Ankunft des Menschensohnes, „den er auferweckt hat von den Toten, Jesus, der uns errettet von dem zukünftigen Zorn“ (1. Thess 1,10). Man studiere dazu das formale Schema, das Heidegger skizziert (vgl. GA 60, 96), um die bestimmende Funktion der beiden Grundrichtungen christlichen Lebens, „Wandeln vor Gott und … Erharren“ (GA 60, 95) und ihre Bedeutung für „jeden anderen Bezug“ (GA 60, 97) anschaulich herauszustellen. Entscheidend für die eschatologische Christenexistenz sei „das Durchhalten der Schwachheit des Lebens“ (GA 60, 100) und seiner Bekümmernisse in einer beharrlichen Haltung der Hoffnung, deren Bedeutung nicht objektgeschichtlich zu fassen sei, sondern in ihrem Vollzugssinn begründet liege. Wer die Erwartungshaltung vergegenständliche und auf einen chronologisch bemessbaren Zeitpunkt ausrichte, verfehle ihren paulinischen Sinn, demzufolge die christliche Hoffnung keineswegs als ein spezieller Fall allgemein üblicher Erwartung zu gelten habe; ihre Struktur sei vielmehr „radikal anders als alle

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Erwartung“ (GA 60, 102) und von einer Gewissheit getragen, welche die Differenz von Wissen und Nichtwissen transzendiere. Sicherheit vermittle sie nicht nur nicht, sondern entziehe sie radikal, um gerade so die christliche Zeitlichkeit, die durch keinen objektiven Begriff der Zeit gefasst werden könne, im Ewigen zu gründen. Um die bisherigen exegetischen Ergebnisse zu bewähren, wird von Heidegger im Anschluss an den 1. auch noch der 2. Thessalonicherbrief herangezogen, den er trotz und unbeschadet „verschiedener vorstellungsmäßiger Ansichten“ (GA 60, 106) für authentisch und echt paulinisch hält. Vorstellungsdifferenzen würden nicht ins Gewicht fallen, weil Paulus hier wie dort gar nicht daran denke, „die Frage nach dem Wann der Parusie zu beantworten. Das Wann ist bestimmt durch das Wie des Sich-Verhaltens, dies ist bestimmt durch den Vollzug der faktischen Lebenserfahrung in jedem ihrer Momente.“ (Ebd.) Beachte man dies, dann spreche nichts gegen die Authentizität des Schreibens. „Nur Unverständnis kann den zweiten Thessalonicherbrief dem Paulus absprechen.“ (Ebd.) Die auffallende Plerophonie des Ausdrucks, die häufig als Argument gegen die Authentizität des Briefes vorgebracht werde, habe ihre ganz bestimmte, gegen Fixierung auf gegenständliche Vorstellungen gerichtete Motivierung und sei „Zeichen der Echtheit“ (GA 60, 107). Nach Heidegger geht es der paulinischen Eschatologie nicht um eschatologische Vorstellungen, jedenfalls nicht primär. Der Vorstellungsgehalt könne und dürfe zwar „nicht ausgeschaltet werden, aber er muß in seinem eigenen (Bezugs-) Sinn gehabt werden“ (GA 60, 111). Im Bezug auf all seine Briefe, denjenigen an die Römer eingeschlossen, falle auf, „wie wenig Paulus theoretisch-dogmatisch vorgibt“ (GA 60, 112). Nachgerade in eschatologischer Hinsicht gehe es ihm in erster Linie nicht um Theorie und Dogma, sondern um ein auf existentialen Vollzug ausgerichtetes Kerygma. Das Dogma als abgelöster Lehrgehalt in objektiv-erkenntnismäßiger Abhebung kann niemals leitend für die christliche Religiosität gewesen sein, sondern umgekehrt, die Genesis des Dogmas ist nur verständlich aus dem Vollzug der christlichen Lebenserfahrung. (GA 60, 112)

Diese sei nur aus der Stetigkeit eines Wandels heraus zu begreifen, der im Jetzt statthabe und durch Abkehr vom Bisherigen und durch Hinkehr zur Parusie des wiederkehrenden Herrn gekennzeichnet sei, dessen Kommen wie dasjenige des Reiches Gottes wesentlich nicht auf gegenständliche Weise, sondern vollzugsgeschichtlich zu erwarten stehe. Nur aus dieser vollzugsgeschichtlichen Erwartung heraus erschließt sich dem Christen, was Glauben heißt und mit dem Glauben das Vertrauen, welches ihn unbekümmert um den weiteren Verlauf der Weltgeschichte das Zeitliche segnen lässt. Um noch einmal Heidegger zu zitieren: „Dem Christen darf entscheidend nur sein to nyn des Vollzugszusammenhanges,

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in dem er eigentlich steht, nicht aber die Erwartung eines als zukünftig in der Zeitlichkeit stehenden abgehobenen Ereignisses.“ (GA 60, 114) Die phänomenologisch-existentiale Interpretation der beiden neutestamentlichen Thessalonicherbriefe, der eine entsprechende Auslegung des Galaterbriefes vorangegangen war (vgl. GA 60, 67–74)35, dient der Absicht, „in die Grundphänomene des urchristlichen Lebens vorzudringen“ (GA 60, 68) und mittels ihrer eine Anleitung zum Verstehen religiösen Lebens, ja des menschlichen Lebens überhaupt zu geben. Heideggers Auslegung ausgewählter Paulusbriefe verfolgt die Intention, die christliche Ursprungserfahrung des Apostels und mittels dieser das genuine Leben der Urchristenheit zu erheben, damit auf diese Weise seine Phänomenologie religiösen Lebens konkrete Gestalt annehme. Die religiöse Grunderfahrung und Grundhaltung des Paulus, die er seinen Gemeinden zu vermitteln sucht, sei durch das Vollzugsereignis einer Umkehr weg vom alten, in sich selbst verkehrten Adam hin zum neuen Menschen bestimmt, wie er in Jesus Christus von Gott her eschatologisch offenbar werde. Die philosophische Charakteristik der urchristlichen Lebenserfahrung schließt daran an (vgl. GA 60, 116ff.). Wie die paulinische sei auch die urchristliche Religiosität allein von ihrem faktischen Vollzug her zu erschließen, ohne welchen die Begrifflichkeiten, in der sie sich zum Ausdruck bringe, unverständlich bleiben müssen. Dieser Vollzug sei analog zu demjenigen des Apostels durch ein Werden bestimmt, eine Genesis der Neu- bzw. Wiedergeburt, in der das Alte vergangen und alles neu geworden sei (vgl. 2. Kor 5,17). Hieraus ergebe sich die eigentümliche Zeitlichkeit urchristlicher Religiosität. Der Grundsatz laute, „daß christliche Religiosität die Zeitlichkeit lebt“ (GA 60, 116): Der Sinn der Zeitlichkeit bestimmt sich aus dem Grundverhältnis zu Gott, so allerdings, daß die Ewigkeit nur versteht, wer die Zeitlichkeit vollzugsmäßig lebt. Erst aus diesen Vollzugszusammenhängen kann der Sinn des Seins Gottes bestimmt werden. (GA 60, 117)

Ohne sie und den lebendigen Vollzug der Zeitlichkeit des Daseins hingegen hat es keinen, jedenfalls keinen religiösen Sinn, von Gott zu reden. Urchristliche Religiosität lebt die Zeitlichkeit und zwar „nicht geradlinig, sondern … gebrochen“ (GA 60, 120), nicht nach einem chronologischen Maß, 35 Nach Einzelbemerkungen zum Text sucht Heidegger „die Grundhaltung des Paulus“ (GA 60, 72–74) zu erschließen. Erst aus ihr heraus und durch beständigen Verbleib in ihr und nicht durch „einen Katalog nichtssagender Grundbegriffe“ (GA 60, 73) oder den „Gedanke(n) eines theologischen Systems“ (ebd.) werde ein Verständnis des paulinischen Kerygmas ermöglicht. Vgl. dazu auch die Aufzeichnungen und Entwürfe zur Vorlesung GA 60, 127ff. Die apostolische Haltung des Paulus, zu der er seine Gemeinde anhält, ist eschatologisch auf ein „im christlichen faktischen Leben gegründetes gläubiges Durchhalten“ (GA 60, 151) und auf eine Hoffnung ausgerichtet, die nicht zuschanden werden lässt (vgl. Röm 5,5).

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sondern nach Maßgabe des Einbruches der Ewigkeit in die Zeit, wie sie sich nach dem Bekenntnis des Glaubens im Kairos Jesu Christi vollzogen hat. Nachvollzogen werden kann das Kairosgeschehen, von dem und in dem die christliche Religiosität die Zeitlichkeit lebt, nach Heidegger nicht objektgeschichtlich, sondern mittels des konkreten Ereignisses des Glaubens im Hier und Jetzt. „Es gibt nur eine Geschichte aus einer Gegenwart heraus. Nur so ist die Möglichkeit einer Religionsphilosophie anzufassen.“ (GA 60, 125) Ihr primäres Erschließungsmedium ist nicht die Objektgeschichte, sondern die Vollzugsgeschichte zeitlichen Daseins in seiner Geschichtlichkeit. Entsprechend gilt: „Die echte Religionsphilosophie entspricht nicht vorgefaßten Begriffen von Philosophie und Religion. Sondern aus einer bestimmten Religiosität – für uns der christlichen – ergibt sich die Möglichkeit ihrer philosophischen Erfassung.“ (GA 60, 124) Mit dieser Feststellung ist zugleich der Theologie ihre Stellung angewiesen. Was Religion ist, lässt sich nach Heidegger nur aus dem Vollzugssinn konkreter Religiosität und nicht aus einem vorgefassten Allgemeinbegriff heraus erschließen. Das Wesen der Religion ist, mit Schleiermacher zu reden, stets positiv, niemals abstrakt. Gleichwohl ist es möglich, vom faktischen religiösen Leben her Schlüsse zu ziehen auf das Leben der Religion überhaupt. Durch den Vollzug bzw. Nachvollzug paulinisch-urchristlicher Religiosität lässt sich erkennen, was Religion als Religion immer und durchgängig bewegt. Konkrete Religiosität fungiert in diesem Sinne nicht als bloßes Exempel für Religion im Allgemeinen, sondern als ihr manifestes Paradigma und, wenn man so will, sakramentales Zeichen, welches zugleich bewirkt, was es bezeichnet. Weil aber im religiösen Leben der Zeitlichkeit sich das Leben in gleichsam emphatischer Weise erlebt, kommt dem Erlebnis von Religiosität erschließende Bedeutung für das Lebenserleben überhaupt zu. Hieraus erhellt die grundlegende Relevanz einer Phänomenologie des religiösen Lebens für das gesamte Gebiet der phänomenologischen Philosophie. Faktische Lebenserfahrung, Religionsphänomenologie und phänomenologische Philosophie überhaupt stehen in einem differenzierten Zusammenhang. Die faktische Lebenserfahrung kommt im Vollzug religiöser Erfahrung, welche, wie Heidegger sagt, die Zeitlichkeit als Zeitlichkeit lebt, zur Erfahrung ihrer selbst, welche Erfahrung von Lebenserfahrung in ihrem Vollzugssinn zu erschließen die vornehmste Aufgabe der Religionsphänomenologie darstellt. Indem sie das religiöse Leben in seiner Ursprünglichkeit zu erfassen sucht, leistet die Phänomenologie der Religion einen fundamentalen Beitrag in Bezug auf phänomenologisches Verstehen überhaupt, welches dahin tendiert, „den Gegenstand selbst in seiner Ursprünglichkeit zu erfahren“ (GA 60, 76). Ausführlich hervorgehoben und zur Darstellung gebracht hatte Heidegger die fundamental-philosophische Bedeutung der Religionsphilosophie bereits im ersten Teil seines Kollegs vom WS 1920/21. Er handelt dort von philosophischer Begriffsbildung

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und faktischer Lebenserfahrung, von religionsphilosophischen Tendenzen der Gegenwart und vom Phänomen des Historischen, um mit Ausführungen zur Formalisierung und formalen Anzeige zu enden. Nach Heideggers Urteil besteht „ein prinzipieller Unterschied zwischen Wissenschaft und Philosophie“ (GA 60, 3). Demgemäß muss als erstes eingesehen werden, „daß das Verstehen philosophischer Begriffe ein anderes ist als das der wissenschaftlichen Begriffe“ (GA 60, 4). Philosophische Begriffe unterbieten wissenschaftliche, was, wie Heidegger sagt (vgl. GA 60, 5), ihre Not ausmache, die aber als Tugend erkannt werde, sobald man ihre Notwendigkeit eingesehen habe. Daraus ergebe sich die Einsicht in den abkünftigen Modus wissenschaftlicher Begriffe, deren Bedeutung sich erst von Sinnprämissen her erschließe, die nicht zu ihrer Disposition stünden, sondern vorausgesetzt werden müssten. Für die Philosophie selbst bedeute dies, dass ihr Wesen nicht von einem theoretischen Allgemeinbegriff her zu erfassen sei. Die Philosophie hat Heidegger zufolge am ursprünglichen Vollzugssinn dessen, was sie zu begreifen hat, selbst zu partizipieren. Ein adäquates Selbstverständnis der Philosophie lässt sich sonach „(n)ur durch Philosophieren selbst, nicht durch wissenschaftliche Beweise und Definitionen, d. h. nicht durch Einordnung in einen allgemeinen, objektiv geformten Sachzusammenhang“ (GA 60, 8) erreichen: „Faßt man dies Problem radikal, so findet man, daß die Philosophie der faktischen Lebenserfahrung entspringt.“ (Ebd.) In der faktischen Lebenserfahrung, die den Ausgangs- und bleibenden Bezugspunkt phänomenologischen Philosophierens bildet, sind Subjekt und Objekt, erfahrendes Selbst und erfahrene Welt nicht getrennt, sondern auf differenzierte Weise eins. Ichliches und Nicht-Ichliches gehören situativ zusammen mit dem einzigen Unterschied, dass das Ichliche ist und das Nicht-Ichliche hat, wohingegen das Nicht-Ichliche bloß ist und nicht hat (vgl. GA 60, 92). Kein Ich besteht realiter ohne Bezug zu Nicht-Ich; seine Selbsterfahrung lässt sich von der Erfahrung von Weltlichem nicht absondern, welches für das Verständnis faktischer Lebenserfahrung und für einen ihr gemäßen Erfahrungsbegriff grundlegend ist. „‚Erfahren‘ heißt nicht ‚zur Kenntnis nehmen‘, sondern das Sich-Auseinander-Setzen mit, das Sich-Behaupten der Gestalten des Erfahrenen.“ (GA 60, 9) Die Faktizität von lebendiger Erfahrung hinwiederum lässt sich „nicht naturwirklich, nicht kausalbestimmt, und nicht dingwirklich“ (ebd.) fassen, sondern nur von dem her, was Heidegger „historisch“ nennt, freilich nicht in einem objektgeschichtlichen Sinne, sondern im Vollzugssinn gelebter Geschichtlichkeit. Der geschichtliche Lebensvollzug geht in seiner Faktizität aller objektbegrifflichen Theoriebildung voran und lässt sich in seiner Ursprünglichkeit auf keinen gegenständlichen Begriff bringen und zwar nicht zuletzt deshalb nicht, weil es zu den Eigentümlichkeiten faktischer Lebenserfahrung gehört, dass die

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Art und Weise des Erfahrens im Sinne der Stellung des Erfahrenden zu dem in Erfahrung Gebrachten „nicht mit erfahren wird“ (GA 60, 12). Erkennen des Erfahrenden im Sinne von gegenständlicher Kenntnisnahme ergibt sich erst aus einer Distanzierung gegenüber faktischer Lebenserfahrung in ihrer Ursprünglichkeit. Diese selbst „zeigt eine Indifferenz in Bezug auf die Weise des Erfahrens“ (ebd.), welche Indifferenz wiederum „die Selbstgenügsamkeit der faktischen Lebenserfahrung“ (ebd.) begründet: „Sie kommt gar nicht auf den Gedanken, ihr könne etwas nicht zugänglich werden.“ (Ebd.) Ihre suisuffiziente Indifferenz bezüglich ihres Erfahrungsmodus bringt es mit sich, dass die Welt des Lebens nicht in distanzierter Gegenständlichkeit bzw. Objektivität36, sondern als Lebensumwelt präsent ist, die „als das, was uns begegnet“ (GA 60, 11), die Mitwelt begegnender Menschen und auch die Selbstwelt des Ich umfasst. In der differenzierten Einheit von Umwelt, Mitwelt und Selbstwelt hat die ursprüngliche Lebenserfahrung faktisch statt. Insofern aber das Wie ursprünglicher Lebenserfahrung in ihr nicht eigens erfahren wird, kann es in Folge selbstvergessener Hingabe an das Was der Erfahrung dazu kommen, dass objektivierte Gegenständlichkeit als das Wesen der Erfahrung erfahren wird mit der Folge einer Vergegenständlichung der Lebenserfahrung selbst, die zum bloßen Objekt theoretischer Betrachtung wird. Heidegger ist es nicht darum zu tun, Theorie und wissenschaftliches Erkennen grundsätzlich zu delegitimieren. Aufgewiesen werden soll lediglich, dass es sich bei ihnen um, wie der Philosoph zu sagen pflegt, abkünftige Modi ursprünglicher Lebenserfahrung handelt, deren Eigentümlichkeit verkannt wird, wenn man ihr im Modus bloßer Kenntnisnahme begegnet. Dass bloße Kenntnisnahme gerade in Bezug auf religiöse Phänomene nicht nur keine Erschließungskraft hat, sondern verkennt, was es zu erkennen gilt, macht Heidegger anhand religionsphilosophischer Tendenzen seiner aktuellen Gegenwart deutlich, wobei die kritische Aufmerksamkeit insbesondere auf die Religionsphilosophie von Ernst Troeltsch ausgerichtet ist (vgl. GA 60, 19ff.). Der entscheidende Vorwurf, der Troeltsch gemacht wird, geht dahin, dass sich seine Religionsphilosophie „nicht nach der Religion selbst, sondern nach einem bestimmten Begriff der Philosophie, und zwar nach einem wissenschaftlichen“ (GA 60, 28), bestimme. Statt sie aus sich selbst heraus zu erschließen, werde Religion bei Troeltsch „sogleich gegenständlich gefaßt“ (GA 60, 27) und „als Objekt“ (GA 60, 29) angesetzt. Zwar leugnet Heidegger nicht, dass theoretische Verobjektivierungen sowohl von religiöser als auch von Lebenserfahrung überhaupt nicht nur unvermeidlich, 36 Gelegentlich differenziert Heidegger terminologisch zwischen Objekt und Gegenstand, etwa wenn er sagt: „Alle Objekte sind Gegenstände, aber nicht umkehrt alle Gegenstände Objekte.“ (GA 60, 35) Nennt man Gegenstand „ein Etwas überhaupt“ (GA 60, 36), dann muss dies nicht notwendig ein vergegenständlichtes Objekt, sondern kann auch ein nichtobjektivierter Gegenstand im umweltlichen Ursprungssinn sein.

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sondern auch unverzichtbar seien. Doch könnten sie nur den Status von Durchgangsmomenten behaupten, da die faktische Lebenserfahrung nicht nur Ausgangspunkt, sondern auch Zielbestimmung der Philosophie (vgl. GA 60, 15) sei. Wissenschaftliche Konzepte wie übrigens auch moralische Praxistheorien entspringen ihr nach Heidegger nicht nur, sondern sind seinem Urteil zufolge zugleich dazu bestimmt, in sie zurückzukehren. Dazu aber bedarf es eines philosophischen Wandels und Neuansatzes im Sinne phänomenologischen Philosophierens. Waren doch, wie es heißt, die Philosophen bisher „bemüht, gerade die faktische Lebenserfahrung als selbstverständliche Nebensächlichkeit abzutun, obwohl doch aus ihr gerade das Philosophieren entspringt, und in einer – allerdings ganz wesentlichen – Umkehr wieder in sie zurückspringt“ (ebd.). Man könnte meinen, die phänomenologische Philosophie, für welche Heidegger plädiert, stehe ganz im Bunde mit dem sog. gesunden Menschenverstand, weil sie durchweg auf faktische Lebenserfahrung bezogen sein will. Das gerade Gegenteil ist richtig: „(D)ie Philosophie ist nichts als ein Kampf gegen den gesunden Menschenverstand“ (GA 60, 36), da dieser keineswegs als ein ursprüngliches, sondern als ein defizitäres Phänomen sowie als Indiz selbstvergessener Versunkenheit in eine verobjektivierte Alltagswelt zu gelten habe, aus deren Uneigentlichkeit zu eigentlichem Dasein hinzuführen die wesentliche Bestimmung alles Philosophierens sei. Was damit gemeint ist, verdeutlicht Heidegger, wie so oft, am Kernphänomen des Historische, das er, wie gesagt, nicht im objektgeschichtlichen Sinne, sondern nach Maßgabe des Vollzugssinnes faktischen Daseins in der Zeit zu verstehen sucht, welches in seiner um sich bekümmerten Geschichtlichkeit auf ein Künftiges ausgespannt ist, das alle Chronologie sprengt. Da die Explikation des faktischen Daseins in seinem ursprünglichen Lebensvollzug auch „das gesamte traditionelle Kategoriensystem“ (GA 60, 54) über den Haufen wirft, sieht sich die phänomenologische Philosophie vor elementare Verfahrensprobleme gestellt. Heidegger ist bemüht, sie durch die Methode der sog. formalen Anzeige zu beheben (vgl. GA 60, 55ff.). Diese hat die Funktion, die Subsumtion von Phänomenen unter vorgefasste Theoriezusammenhänge strikt zu vermeiden: „Man hält sich bei ihr fern von jeder Einordnung, man lässt gerade Alles dahingestellt.“ (GA 60, 64) Die breit dargestellten Inhalte des Freiburger Kollegs vom WS 1920/21 können einen ersten Eindruck vermitteln vom innovativen Grundansatz des Heideggerschen Denkens, wie er sich seit Ende des Ersten Weltkriegs herausgebildet hat37, und anfangsweise verdeutlichen, was unter Hermeneutik faktischen Lebens 37 Die neue Stellung zur Geschichte der Philosophie, die sich aus Heideggers Entwicklung einer Hermeneutik der Faktizität heraus ergab, hat I. M. Fehér detailliert untersucht in dem Beitrag „Die Hermeneutik der Faktizität als Destruktion der Philosophiegeschichte als Problemgeschichte. Zu Heideggers und Gadamers Kritik des Problembegriffes“, in: HSt 13 (1997), 47–68.

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zu verstehen und warum die Religionsphänomenologie als ihr Grundparadigma anzusetzen ist. Dies eröffnet zugleich die Möglichkeit, Einsicht zu nehmen in die gedankliche Genese von „Sein und Zeit“. Zwar steht das Werk, das den Weltruhm seines Autors begründete, „für sich“38 und beansprucht, aus sich selbst heraus verstanden zu werden. Nichtsdestoweniger können die frühen Freiburger39 und Die Analyse nimmt ihren Ausgang bei der Feststellung, „daß in den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg in Heideggers philosophischer Entwicklung eine völlige Wende erfolgte, wodurch Heidegger eigentlich erst er selbst wurde, zu sich selbst, d. h. zu seiner eigentümlichen Thematik, Sprache und Begrifflichkeit fand. Der Anschluß an die neukantianisch-phänomenologisch gefärbte, vorwiegend platonisierend-logisch-antipsychologistische Sehweise, die Heideggers akademische Schriften bis hin zur Habilitationsschrift im wesentlichen geprägt hatte, wird in den Nachkriegsjahren plötzlich abgebrochen, ja von Grund auf erschüttert: an ihre Stelle tritt eine radikale Um- bzw. Neuorientierung, durch die gerade auch die Wurzel desjenigen Philosophierens mitbetroffen sind, an das er bis dahin anknüpfte. Es findet eine angestrengte Bemühung um eine radikale Neuaneignung der Philosophie bzw. (was damit gleichbedeutend ist) um eine radikale Auseinandersetzung mit ihr statt, und zwar in einer eigentümlich doppelten Verzweigung: erstens, als Neuaneignung der Sache oder, traditionell ausgedrückt, des Gegenstandes der Philosophie, von Heidegger nun als (sic!) Leben, faktisches Leben genannt; und zweitens, als Neuaneignung ihrer Geschichte. Diese Zweiteilung lässt sich von der Überlegung zusammenhalten, daß erstens, das, was eigentlich Philosophie bzw. deren Gegenstand sei, uns zunächst zwar von ihrer Geschichte überkommt, der Zugang zu ihr jedoch jeweils ursprünglich in je eigener faktischer Lebenserfahrung erschlossen werden muß; und daß, zweitens, das gegenwärtige Philosophieren, unser gegenwärtiger Zugang zum Gegenstand zum Philosophie wesentlich durch geschichtlich überlieferte Zugangs- und Einstellungsweisen (Sprach- und Denkgewohnheiten) bedingt bzw. durchdrungen bleibt, welche Zugangsweisen, wie unbewußt sie auch immer sein mögen, deshalb schon nicht weniger wirksam sind.“ (48) Die im Sinne einer Selbstauslegung menschlichen Daseins als Sein in der Zeit verstandene Hermeneutik der Faktizität hat ein neues Verständnis der Philosophiegeschichte und der Methodik ihrer Historiographie zur notwendigen Folge; kritisch setzt sich Heidegger insbesondere gegen den neukantianischen Begriff der philosophischen Problemgeschichte ab, wie er beispielsweise W. Windelbands bekanntes Lehrbuch bestimmt. 38 Th. Rentsch, „Sein und Zeit“. Fundamentalontologie als Hermeneutik der Endlichkeit, in: D. Thomä (Hg.), Heidegger-Handbuch, 48–74, hier: 49. 39 Die frühen Freiburger Vorlesungen der Jahre 1919–1923 sind in den Bänden 56–63 der Gesamtausgabe veröffentlicht. Nach Kollegs zur Idee der Philosophie in Abgrenzung zu gegenläufigen Ansätzen im Nachkriegsjahr 1919 (vgl. GA 56/57) entfaltete Heidegger im WS 1919/20 Grundprobleme der Phänomenologie, als deren Ursprungsgebiet das Leben ausgewiesen wird, um sie sodann als Urwissenschaft des faktischen Lebens an sich zu bestimmen. Um den Erfahrungsboden der Wissenschaft in Erfahrung zu bringen, müsse dieser „gleichsam – um im Bilde zu bleiben – der Teppich weggezogen werden“ (GA 58, 69), weil nur so der tatsächliche Erfahrungszusammenhang eines faktischen Lebens zutage trete und phänomenologisch erfasst werden könne. Als Urwissenschaft des faktischen Lebens in seiner Faktizität sei Phänomenologie nicht theoretisch, sondern prätheoretisch verfasst. Welche Konsequenzen dies für die „Theorie der philosophischen Begriffsbildung“ zeitigt, erörterte Heidegger in einer Vorlesung zur „Phänomenologie der Anschauung und des Ausdrucks“ im SS 1920. Als „Grundstück phänomenologischen Philosophierens“ (GA 59, 35) wird dabei die sog. phänomenologische Destruktion benannt. Sie sei nötig, um vorbegriffliche Sinnbezüge, deren Wahrnehmung durch die Vordergründigkeit des Alltags- sowie des üblichen Wissen-

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die Marburger Vorlesungen zu diesem Verständnis und zur Erkenntnis beitragen, wie in ihm existentiell-religiöse, phänomenologische, lebensphilosophischhermeneutische, transzendentalphilosophische und ontologisch-metaphysische Perspektiven zu einer Sicht vereint werden.40 Weniger ergiebig für die Rekonstruktion der Genese von „Sein und Zeit“, aber in anderer Hinsicht aufschlussreich sind die Zeugnisse vor 1918, also vor dem Jahr, in welchem Heidegger in Freiburg als Privatdozent und Assistent Edmund Husserls zu wirken begann. In jedem Fall zeigen sie, dass auch Große einmal relativ klein angefangen haben, wie man an Heideggers akademischen Qualifikationsschriften ersehen kann: Sie zeugen zwar von Scharfsinn und intellektueller Begabung, lassen aber noch nichts oder nur wenig von derjenigen Philosophie erkennen, die für den Meister kennzeichnend werden sollte. „Die ersten Texte, aus denen unverstellt, unverwechselbar Heidegger selbst herauszuhören ist, sind im Grunde erst die Vorlesungen, die er nach Ende des Ersten Weltkriegs,

schaftsbetriebs verstellt werde, auf hintergründige Weise zu erfassen. Der erste Teil der Vorlesung handelt von der Destruktion des Aprioriproblems, der zweite von derjenigen des Erlebnisproblems, wobei es näherhin um die, wie es heißt, destruierende Betrachtung der Natorpschen sowie der Diltheyschen Position geht. Im WS 1920/21 trug Heidegger dann seine Einleitung in die Phänomenologie der Religion vor, woran sich im SS 1921 ein Kolleg über „Augustinus und der Neuplatonismus“ anschloss. Nach einer kritischen Auseinandersetzung mit den Augustinauffassungen von Ernst Troeltsch, Adolf von Harnack und Wilhelm Dilthey wird eine phänomenologische Interpretation des 10. Buches der „Confessiones“ geboten, in der u. a. das curare (Bekümmertsein) als Grundstruktur des faktischen Lebens aufgewiesen wird (vgl. GA 60, 205ff.). 40 Th. Rentsch, a. a. O., 50ff. „Sein und Zeit“ ist das Ergebnis der philosophischen Arbeit der frühen Freiburger und der Marburger Jahre, die ihren Fluchtpunkt in dem Projekt einer fundamentaltheologischen Daseinsanalyse haben, von der sich Heidegger die Beantwortung der Frage nach dem Sein selbst und seinem Sinn versprach. Zwar erfolgte der Fortschritt seines Denkens in den 20er Jahren nicht einlinig, weil es multiperspektivisch angelegt und von einer Vielzahl von Aspekten bestimmt war, die wechselnde Blickrichtungen zur Folge hatten. Kontinuitätszusammenhänge lassen sich dennoch unschwer erkennen. (Vgl. T. Keiling, Einleitung, in: ders. [Hg.], Heideggers Marburger Zeit. Themen, Argumente, Konstellationen, Frankfurt a. M. 2013, 11–38. Die Einzelbeiträge des Sammelbandes sind auf, wie es heißt, „Bruchstellen der Marburger Zeit“ [13] fokussiert, nämlich auf die Unterscheidung von Eigentlichkeit und Uneigentlichkeit sowie auf folgende Themenkreise: Rede, Gerede und Logos; Sein, Zeit, Natur; Phänomenologie, Verstehen und Wahrheit; Geschichte und Freiheit. Besonderes Interesse verdient aus theologischer Sicht das anhangsweise beigegebene Protokoll eines Referats, das Heidegger am 10. Januar 1924 in einem Seminar Rudolf Bultmanns zu Röm 6 gehalten hat [Protokoll von Heideggers Referat im Bultmann-Seminar [Martin Stallmann], in: a. a. O., 383f.]. Die Grundthese lautet: „Glauben ist nicht ein Akt, sondern eine Weise des Seins des Menschen vor Gott. Glaube ist nicht eine Eigenschaft, sondern es ist das, was der Christ als Seiender besorgt. [Für den Menschen steht jede Seinsmöglichkeit in der Sorge.] Für den Christen ist der Glaube das, was in der Sorge steht.“ [383] Verstehen könne man dies – wie „die ganze Haltung im Kapitel 6 (sc. des Römerbriefes des Apostels Paulus) – nur als gläubiger Leser“ [384].)

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also als Dreißigjähriger hielt (GA 56/57).“41 Unter den Schriften aus der Zeit, „bevor Heidegger ‚Heidegger‘ wurde“42, lässt in der Retrospektive am ehesten die Habilitationsarbeit über „Die Kategorien- und Bedeutungslehre des Duns Scotus“, die 1916 veröffentlicht wurde, Züge der späteren Entwicklung erkennen. Im Zentrum der Erörterungen steht der Traktat „De modis significandi“, der damals noch Duns zugeschrieben wurde, obwohl er von Thomas von Erfurt stammt. Namentlich im Schlusskapitel lassen sich einige Denkmotive antizipiert finden, die später entscheidend werden sollten, „so etwa die Einsicht in die Irreduzibilität des Individuums oder erste Spuren von Überlegungen zur Zeitlichkeit und Geschichtlichkeit“43. Proleptische Hinweise auf „die späteren Zeitanalysen mit ihrer Differenzierung chronologischer und kairologischer Aspekte“44 kann, wer will, auch in dem Habilitationsvortrag „Der Zeitbegriff in der Geschichtswissenschaft“ finden, wo scharf zwischen einem quantitativen, an mathematisch-physikalischer Messbarkeit orientierten und einem geschichtlichen Begriff qualitativer Zeit unterschieden wird. Doch wirken trotz zukunftsweisender Züge die Grundsätze der katholischen Neuscholastik weiter, die Heideggers Dissertation über „Die Lehre vom Urteil im Psychologismus“ von 1913 und sein vormaliges Denken bestimmt hatten, bis es in der Folgezeit zum dezidierten Bruch mit dem, wie es in einem Brief Heideggers an Engelbert Krebs vom 9. 1. 1919 heißt, „System des Katholizismus“ kommt. Indes bedeutet die erklärte Distanzierung vom neuscholastischen Systemdenken keineswegs die Absage an Religion und Christentum. Es ist im Gegenteil so, dass religionsphilosophische Studien zum frühen Christentum den Schlüssel für das auszuarbeitende Programm einer Hermeneutik des faktischen Lebens bilden. 41 D. Thomä, Die frühesten Texte. Kampf gegen die „Diesseitsauffassung“ des Lebens, in: ders. (Hg.), Heidegger-Handbuch, 1–4, hier: 1. 42 A. a. O., 2. Über Heideggers frühe Biographie und Werkgeschichte informieren ausführlich die Beiträge im Heidegger-Jahrbuch 1: Heidegger und die Anfänge seines Denkens, Freiburg/ München 2004, 97ff.; zu „Heideggers Luther-Lektüre im Freiburger Theologenkonvikt“ vgl. den Aufsatz von O. Pöggeler, a. a. O., 185–196. Der Dokumentationsteil (13–94) enthält Texte zur Studentenzeit, zwei frühe Veröffentlichungen (Allerseelenstimmungen; Kriegs-Triduum in Meßkirch), Briefe von und an Heidegger aus den Jahren 1914–1919 (darunter denjenigen an Engelbert Krebs vom 9. 1. 1919) sowie wissenschaftliche Rezensionen der Habilitationsschrift. In dem erwähnten Schreiben an Krebs heißt es: „Erkenntnistheoretische Einsichten, übergreifend auf die Theorie geschichtlichen Erkennens haben mir das System des Katholizismus problematisch und unannehmbar gemacht – nicht aber das Christentum und die Metaphysik (diese allerdings in einem neuen Sinne).“ (67) Ein Verzeichnis der Schriften Heideggers (423–598) samt Kommentar und Register ist dem Sammelband beigegeben. 43 M. Jung/H. Zaborowski, Die ersten akademischen Schritte (1912–1916). Zwischen Neuscholastik, Neukantianismus und Phänomenologie, in: D. Thomä (Hg.), Heidegger-Handbuch, 4–8, hier: 7. 44 A. a. O., 8.

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Vorangegangen war der „Einleitung in die Phänomenologie der Religion“ vom WS 1920/21 im Kriegsnotsemester 191945 ein Kolleg über „Die Idee der Philosophie und das Weltanschauungsproblem“, die eine Schlüsselszene zum Verständnis der Phänomenologie als einer vortheoretischen Urwissenschaft enthält, wie Heidegger sie vorschwebte. Der junge Dozent betritt den Hörsaal und sieht das Katheder. Abstand davon nehmend, das Erlebnis sprachlich zu formulieren, gibt er sich ganz phänomenaler Schau hin: Was sehe ‚ich‘? Braune Flächen, die sich rechtwinklig schneiden? Nein, ich sehe etwas anderes: eine Kiste, und zwar eine größere, mit einer kleineren daraufgebaut. Keineswegs, ich sehe das Katheder, an dem ich sprechen soll, Sie sehen das Katheder, von dem aus zu Ihnen gesprochen wird, an dem ich schon gesprochen habe. Es liegt im reinen Erlebnis auch kein – wie man sagt – Fundierungszusammenhang, als sähe ich zuerst braune, sich schneidende Flächen, die sich mir dann als Kiste, dann als Pult, weiterhin als akademisches Sprechpult, als Katheder gäben, so daß ich das Kathederhafte gleichsam der Kiste aufklebte wie ein Etikett. All das ist schlechte, mißdeutete Interpretation, Abbiegung vom reinen Hinschauen in das Erlebnis. Ich sehe das Katheder gleichsam in einem Schlag; ich sehe es nicht nur isoliert, ich sehe das Pult als für mich zu hoch gestellt. Ich sehe ein Buch darauf liegend, unmittelbar als mich störend (ein Buch, nicht etwa eine Anzahl geschichteter Blätter mit schwarzen Flecken bestreut), ich sehe das Katheder in einer Orientierung, Beleuchtung, einem Hintergrund. (GA 56/57, 71)

Am Erlebnis des Kathedersehens illustriert Heidegger, dass Bedeutsamkeit sich nicht erst über den gedanklichen Umweg eines sachlichen Erfassens, sondern unmittelbar erschließt: „das Bedeutsame ist das Primäre“ (GA 56/57, 73), nicht erst das von einem Erfahrungssubjekt dem in Erfahrung gebrachten Gegenstand Zugewiesene. Die Differenz von Faktizität und Bedeutung ist erlebnismäßig sekundär; ja es verhält sich so, dass mit der Vergegenständlichung des Erlebten und der reflexiven Bezugnahme des Erlebenden auf sich selbst das Erlebnis im Grunde bereits vergangen ist. Was für die ursprüngliche Anschauung eines Katheders zutrifft, gilt umso mehr für die Selbstwahrnehmung des Menschen in der Lebensfaktizität seines Daseins: Der Unmittelbarkeit lebensweltlicher Erfahrung ist der eindeutige 45 In den fragmentarischen Ausarbeitungen und Entwürfen zu Heideggers nicht gehaltener Vorlesung vom WS 1918/19 über „Die philosophischen Grundlagen der mittelalterlichen Mystik“ finden sich neben knappen Notizen zu Hegels „Grundansetzung der Religion als Mittel“ (GA 60, 328) auch zwei Aufzeichnungen zu Schleiermacher, nämlich zur zweiten von dessen fünf Reden über die Religion (vgl. GA 60, 319–322), in welcher deren Wesen weder als Denken noch als Handeln, sondern als Anschauung des Universums und als Gefühl bestimmt wird, sowie zur Charakteristik der Frömmigkeit als Bestimmtheit des Gefühls oder des unmittelbaren Selbstbewusstseins in der Glaubenslehre (vgl. GA 60, 330–332) im Unterschied zu ihrer Bestimmung als Denkungsart oder Handlungsweise. Heidegger teilt mit Schleiermacher die Auffassung, dass die Religion primär weder als „ein theoretisches Gebilde“ (GA 60, 319) noch als „ein praktisches Phänomen“ (ebd.), sondern als das „von Seele zu absolutem Geist und umgekehrt schwingend(e)“ (GA 60, 331) Urverhältnis des Lebens zu deuten sei.

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Vorrang vor aller Theorie und theoretisch vermittelten Erkenntnis zuzubilligen. In dieser Überzeugung stimmt Heidegger vorbehaltlos mit seinem Lehrer Edmund Husserl überein, auch wenn er bald schon meinte, das Urphänomen faktischen Lebens müsse ursprünglicher wahrgenommen werden als von diesem. Die transzendental-egologische Fassung, die Husserl der Phänomenologie zu geben trachtete, stieß auf Heideggers entschiedene Ablehnung. Um Urphilosophie des Vortheoretischen sein zu können, das sich nicht in Theorie überführen lasse, weil es deren theoretisch uneinholbare Voraussetzung bilde, müsse die Phänomenologie dem traditionellen Transzendentalismus definitiv den Abschied geben bzw. ihn in eine Hermeneutik „transzendentaler“ Lebensfaktizität überführen, welche keinerlei Separation von Ideal- und Real-Ich zulasse und die ursprüngliche Selbst-Welt-Relation zur Bedingung der Möglichkeit einer Philosophie des Lebens und des Erlebens zu erklären habe.46 46 Der transzendentalphilosophischen Wende Husserls, deren Anfänge bereits seit etwa 1913 erkennbar sind, ist Heidegger nicht gefolgt. Er hat die These einer den Welthorizont transzendental konstituierenden Subjektivität mit dem Hinweis auf die unhintergehbare Faktizität leibhaften Situiertseins des Ich in der Welt entschieden abgelehnt. Nach seinem Urteil kann dem phänomenologisch erschlossenen Prozess intentionalen Gegenstandsbewusstseins kein Ego zugrundegelegt werden, das seinen Verlauf beständig begleitet und so als Bedingung seiner möglichen Einheit fungiert. Denn das Sein des Ich ist immer schon und auf unhintergehbare Weise Dasein in der Welt. Die phänomenologische Schau der Bewusstseinserscheinungen ist entsprechend nie reines Zusehen im Sinne transzendentaler Reflexion, sondern selbst von wesenhaft weltbezogener Intentionalität. (Vgl. insgesamt H. Schmitz, Husserl und Heidegger, Bonn 1996) – Einen genauen Einblick in „Heideggers Auseinandersetzung mit Husserl (1916–1928)“ bietet R. Cristin in dem Beitrag „Phänomenologische Ontologie“, in: Heidegger-Jahrbuch 6: Heidegger und Husserl, Freiburg/München 2012, 43– 68. Von einem reinen Ego ohne Welt und einer Abhebung eines transzendentalen von einem faktischen Ich will Heidegger beizeiten nichts wissen; Dasein heißt für ihn In-der-Welt-Sein. Die Differenzen bezüglich der „Phänomenologie der Zeit und der Zeitlichkeit bei Husserl und Heidegger“, von denen G. Neumann, a. a. O., 153–186 handelt, ergeben sich hieraus. Zu Husserls Randbemerkungen und Kommentaren zu „Sein und Zeit“ vgl. Chr. Jamme, Eine Urlaubslektüre und ihre Folgen. Husserl liest Heidegger, a. a. O., 218–232. Obwohl er das fast vollständige Manuskript bereits am 6. April 1927 aus Anlass seines 67. Geburtstags von Heidegger überreicht bekommen hatte, studierte Husserl das Buch „ernsthaft erst im Juli und August 1929 während eines Urlaubs am Comer See“ (219). – Bei seinem Bestreben, das Leben aus sich heraus zu verstehen, suchte der frühe Heidegger gelegentlich Anhalt an Dilthey, dessen Hermeneutik er allerdings über die Kunst des Textverstehens und alle sonstigen geisteswissenschaftlichen Beschränkungen hinaus auf das Verstehen des Daseins und seiner Selbstverständigungsvollzüge überhaupt auszuweiten suchte. Der Heideggerschen Fundamentalhermeneutik ist die Aufgabe zugewiesen, das Dasein in seiner Jeweiligkeit bzw. Jemeinigkeit über sich selbst zu verständigen und zwar in kritischer und in konstruktiver Hinsicht. Sie hat Fehlauffassungen des Daseins von sich aufzudecken und seine Entfremdung durch verständnisvolle Einweisung in das rechte Selbstverständnis zu beheben, damit es, religiös zu reden, aus dem Schlaf des Todes und der höllischen Finsternis abgründiger Verkehrtheit zu lichtem und hellem Leben erwache. – Im Vollzug von mortificatio und vivificatio ereignet sich hermeneutische Selbstverständigung des Daseins in seiner geschichtlichen Existenz. Genau auf dieses Geschehen richtet Heidegger die phänomenologischen Erkun-

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Heidegger schickte sich bereits in seinen frühen Freiburger Jahren an, eigene Wege zu gehen. Akademisch hat er die Zeit vor der Marburger Rufannahme mit einer „Ontologie“ betitelten Vorlesung zur „Hermeneutik der Faktizität“ beschlossen, deren Entstehungsgeschichte im Vorwort wie folgt beschrieben wird: „Begleiter im Studium war der junge Luther und Vorbild Aristoteles, den jener haßte. Stöße gab Kierkegaard, und die Augen hat mir Husserl eingesetzt.“ (GA 63, 5)47 Bedeuten will dieser Hinweis indes nicht viel bzw. gar nichts; gleich im nächsten Satz wird er mit dem Verdikt versehen, er sei nur für diejenigen gegeben worden, „die etwas nur ‚verstehen‘, wenn sie es in geschichtliche Einflüsse aufdungen aus, wohingegen ihm Diltheys „Methodologie der historischen Wissenschaften“ lediglich als ein beschränkter Modus von Daseinshermeneutik gilt, der in Gefahr steht, ein vollzugsgeschichtliches durch ein objektgeschichtliches Vorgehen zu ersetzen. (Vgl. dazu im Einzelnen: Chr. Jamme, Phänomenologie. Das Gespräch mit Husserl von den Freiburger Vorlesungen bis zum „Encyklopedia Britannica“-Artikel, in: D. Thomä [Hg.], HeideggerHandbuch, 35–44; J. Grondin, Hermeneutik. Das Gespräch mit Dilthey in der Vorlesung „Hermeneutik der Faktizität“ und in nachfolgenden Schriften, in: ders. [Hg.], a. a. O., 44–48.) 47 Während die Vorsokratiker für Heidegger erst nach erfolgter Abkehr von der Metaphysik in den Fokus der Aufmerksamkeit traten, war die Beschäftigung mit Aristoteles und Platon bereits in den 20er Jahren sehr intensiv (vgl. F. Volpi, Der Rückgang auf die Griechen in den 1920er Jahren. Eine hermeneutische Perspektive auf Aristoteles, Platon und die Vorsokratiker im Dienst der Seinsfrage, in: D. Thomä [Hg.], Heidegger-Handbuch, 25–35). Obwohl er dem Stagiriten eindeutig den Vorzug gibt, hat Heidegger auch ihn mit scharfer Kritik belegt, wie beispielsweise seine Auseinandersetzung mit dem aristotelischen Begriff der Zeit als arithmos kineseos kata to proteron kai hysteron (Phys. IV/11, 219 b 12) belegt. Dieser bleibe dem vulgären chronologisch-chronometrischen Zeitverständnis verhaftet und dringe nicht zu jenem kairologischen Verständnis der Zeit vor, wie es sich beispielsweise im eschatisch ausgerichteten Urchristentum finde. Genaueres zur Differenz von Kairos und Chronos findet sich in dem Vortrag „Der Begriff Zeit“ von 1924 (vgl. hierzu: R. Marten, „Der Begriff der Zeit“. Eine Philosophie in der Nussschale, in: D. Thomä [Hg.], Heidegger-Handbuch, 21–25); zu Umfang und Bedeutung der Auseinandersetzung mit Aristoteles für das Denken des frühen Heideggers vgl. im Einzelnen D. Yfantis, Die Auseinandersetzung des frühen Heidegger mit Aristoteles. Ihre Entstehung und Entfaltung sowie ihre Bedeutung für die Entwicklung der frühen Philosophie Martin Heideggers (1919–1927), Berlin 2009. Zum Thema „Heidegger und Luther“ vgl. M. Fischer, Religiöse Erfahrung in der Phänomenologie des frühen Heidegger, 410ff. Heideggers Freiburger Vorlesungen vom WS 1921/22 und SS 1922 sollten der Aristotelesinterpretation zum Zwecke der Einführung in die phänomenologische Forschung gewidmet sein. Das erste Kolleg setzt mit Erwägungen zur Philosophiegeschichte im Allgemeinen und zur Geschichte der Aristotelesrezeption im Besonderen ein. Die Hochschätzung des Stagiriten im Mittelalter habe die bereits erfolgte „Gräzisierung des christlichen Lebensbewußtseins“ (GA 61, 6) zur Voraussetzung gehabt. Gegen sie und gegen die aristotelisch geprägte Scholastik sei der religiöse und theologische „Gegenstoß Luthers“ (GA 61, 7) erfolgt, der sich aber selbst in den eigenen Reihen als nur bedingt wirkkräftig erwiesen habe, da der sich ausgestaltenden Dogmatik der altlutherischen Orthodoxie „gleich durch Melanchthon bestimmt interpretierte aristotelische Motive zugeführt wurden. Diese Dogmatik mit wesentlich aristotelischen Direktionen ist“, so Heidegger, „der Wurzelboden des deutschen Idealismus.“ (GA 61, 7; „Fichte, Schelling und Hegel waren Theologen, und Kant ist nur, wenn man aus ihm nicht das klappernde Gerippe eines sogenannten Erkenntnistheoretikers machen will, theologisch zu verstehen.“ [Ebd.])

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gerechnet haben“ (ebd.): „Solchen“, fährt Heidegger fort, „muß man ihre ‚Verstehenstendenz‘ möglichst erleichtern, damit sie an sich selbst zugrunde gehen. Zu erwarten ist von ihnen nichts. Sie sorgen sich nur um das – Pseudos.“ (GA 63, 5f.) Nach erfolgter Marscherleichterung durch Abstoßung dessen, was nach seinem philosophischen Urteil als geisteswissenschaftlicher Ballast einzuschätzen ist, sucht Heidegger im ersten Teil seiner Vorlesung nach Wegen der Auslegung des Daseins in seiner Jeweiligkeit. Das eigene Dasein in seinem jeweiligen – im Hier und Heute zugänglichen – „Da“ aus seinem Selbstverständnis heraus zu verstehen, sei Thema und Aufgabe einer Hermeneutik der Faktizität. Sie intendiere grundsätzlich anderes als die klassische Anthropologie, weshalb Begriffe vom Menschen als animal rationale oder als Person, Persönlichkeit, etc., wie sie in der traditionellen Theologie und Metaphysik begegneten, gemieden würden. Der Tendenz zur anthropologischen Selbstobjektivierung des Daseins müsse widerstanden werden, um seiner als eines Seins in der Welt ursprünglich gewahr zu werden. Das Subjekt-Objekt-Schema ist ebenso „(f)ernzuhalten“ (GA 63, 81) wie das Vorurteil eines standpunktfreien Betrachtens (vgl. GA 63, 82f.): „Standpunktfreiheit ist, wenn das Wort überhaupt etwas besagen soll, nichts anderes als ausdrückliche Aneignung des Blickstandes“ (GA 63, 83), der selbst „etwas Historisches, d. h. dem Dasein verhaftet“ (ebd.) ist. Nach den weite Teile seiner Vorlesung in Anspruch nehmenden „abweisenden Vorkehrungen“ (GA 63, 85) macht sich Heidegger in den beiden Schlusskapiteln daran, „die Vorhabe selbst und die Blickbahn daraufzu in Blick und Vollzug zu bringen“ (ebd.). Entscheidend für die Ausbildung einer Vorhabe sei die Sicht des Daseins in der seine Zeitlichkeit charakterisierenden Alltäglichkeit, zu der eine gewisse Daseinsdurchschnittlichkeit gehöre, „das ‚Man‘, worin die Eigenheit und die mögliche Eigentlichkeit des Daseins sich verdeckt hält“ (ebd.). Beschreibungen der alltäglichen Daseinswelt als einer Welt der Sorge und des Besorgens schließen sich an und werden von Fehldeskriptionen abgehoben. Das Phänomen der Sorge, sagt Heidegger am Ende seiner Vorlesung im Rahmen einer Analyse des Begegnischarakters der Welt, „muß als ein Grundphänomen des Daseins gesehen werden. Es kann nicht aus theoretischen, praktischen, emotionalen Bestandteilen zusammengesetzt werden. Erst aus ihm muß verständlich gemacht werden, wie im Dasein des Sorgens selbst, gefaßt in seiner Ursprünglichkeit vor jeder Auseinanderlegung, die Sorge des bloßen Sehens und des bloßen Fragens im Sein der menschlichen Existenz gegründet ist.“ (GA 63, 103f.; zu den besonderen Sorgenswelten von Um-, Mit- und Selbstwelt vgl. GA 61, 94ff., zur Steigerung der Sorge zur Besorgnis vgl. GA 61, 135ff.) Bezüge zu dem, was in „Sein und Zeit“ zu lesen sein wird, sind offenkundig. Seine Marburger Vorlesungstätigkeit begann Heidegger im WS 1923/24 mit einer „Einführung in die phänomenologische Forschung“ (GA 17), in der er den

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Ausdruck „Phänomenologie“ in Rückgang auf Aristoteles und unter Bezug auf das Verständnis, das Husserl mit dem Terminus verband, zu erläutern suchte, um dann in eine intensive Auseinandersetzung mit Descartes und insbesondere mit seiner Bestimmung des Seinscharakters der res cogitans einzutreten. Die Kollegs der beiden Folgesemester waren Grundbegriffen der aristotelischen Philosophie und der Interpretation des platonischen „Sophistes“ gewidmet (GA 18/19). Es folgten im SS 1925 Prolegomena zur Geschichte des Zeitbegriffs, die aus der Verfassung des Daseins als In-der Welt-sein den Sorgecharakter und im Anschluss an eine Phänomenologie des Todes die Zeit als dasjenige Sein zu erweisen suchen, in welchem das Dasein seine Ganzheit leben und erleben kann: „Mit dem Tode, der jeweils nur als mein Sterben ist, steht mir mein eigenstes Sein“, so Heidegger, „bevor.“ (GA 20, 433) Indem das Dasein in seiner Jemeinigkeit im Vorlaufen zu seinem Tod seiner eigenen Zeitlichkeit gewahr wird und diese entschlossen ergreift, gelangt es in seine Ganzheit. Während die äußerste Möglichkeit des Todes in der Seinsart der Alltäglichkeit verdeckt bleibt (GA 20, 435: „Das Dasein sagt: ‚Man stirbt‘, weil darin gesagt ist: ‚Niemand stirbt‘, d. h. je nicht gerade ich selbst.“), tritt sie im eigentlichen Seinsverhältnis meiner Existenz zum bevorstehenden Nichts zutage, um mich schlechthin auf mich selbst zurückzuwerfen dergestalt, dass ich nun erst mit Gewissheit sagen kann, dass ich Ich selbst bin. Wer das Zurückgeworfensein auf sich affirmiert und sich im Bewusstsein des eigenen Todes entschlossen selbst wählt, gelangt nach Heidegger aus der Verfallenheit ans Man heraus zu unvergleichlicher Eigentlichkeit: „Das Vorlaufen zum Tode in jedem Augenblick des Daseins bedeutet das Sich-zurückholen des Daseins aus dem Man im Sinne des Sich-selbst-wählens.“ (GA 20, 440; bei H. kursiv) So ist es das Vorlaufen „in die eigenste Seinsmöglichkeit“ (GA 20, 441), in die Möglichkeit tatsächlichen Seins in der Zeit. „Das Sein, in dem Dasein seine Gänze eigentlich sein kann als Sichvorweg-Sein ist die Zeit“ (GA 20, 442) – nicht eine Zeit, welche nie vergeht, sondern die endlich-vergehende „Zeit, die wir selbst sind“ (ebd.). Nach den im SS 1925 zum Zwecke der Gewinnung eines fundamentalontologischen Zeitbegriffes erfolgten phänomenologischen Analysen zum zeitlichen Dasein, wendet sich Heidegger im Marburger Kolleg vom WS 1925/26 unter dem Titel „Logik“ dem Wahrheitsproblem zu, das er ebenfalls von der Temporalitätsproblematik her in Angriff nimmt, um mit Ausführungen zur „Zeit als Existenzial des Daseins“ (GA 21, 409) zu schließen. Was aber die Logik als „die unvollkommenste aller philosophischen Disziplinen“ (GA 21, 415) betreffe, so sei sie und mit ihr die Theorie von Aussagen mit Wahrheitsanspruch nur dann „vorwärts zu bringen, wenn sie sich besinnt auf die Grundstrukturen ihrer thematischen Phänomene, auf die primären Seinsstrukturen des Logischen als eines Verhaltens des Daseins, auf die Zeitlichkeit des Daseins selbst“ (ebd.). Nur wenn erkannt werde, dass eine bestimmte Zeitlichkeit – nämlich die primär am Ge-

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genwärtigen orientierte – „die unausdrückliche Grundlage der traditionellen Logik“ (ebd.) sei, könne diese zusammen mit der Onto-Logik über ihre Schranken hinaus- und zu einer Wahrheit hingeführt werden, die fundamentaler und höher sei als alle theoretische Vernunft, welche sich im Anschauen des Gegenwärtigen ergehe und lediglich seiner, des Gegenwärtigen, gewärtig sei. Das letzte Marburger Kolleg vom SS 1928 über die „Metaphysischen Anfangsgründe der Logik im Ausgang von Leibniz“ (GA 26) schließt an diese Überlegungen an, um sie in Konzentration auf den Satz vom Grund als Grundsatz der traditionellen Logik und aller Satzwahrheiten, die sich in Aussagen geltend machen, fortzuführen. Vorangegangen waren Vorlesungen zu den Grundbegriffen der antiken Philosophie im SS 1926 (GA 22), zur Geschichte der Philosophie von Thomas bis Kant im WS 1926/27 (GA 23), in der neben dem Aquinaten vor allem Descartes, Spinoza und das Leibniz-Wolffsche System Berücksichtigung fanden, sowie zu Grundproblemen der Phänomenologie im SS 1927 (GA 24) und zur phänomenologischen Interpretation von Kants Kritik der reinen Vernunft im WS 1927/28 (GA 25). Die Absicht der letztgenannten Vorlesung „geht dahin, ein philosophisches Verständnis von Kants Kritik der reinen Vernunft zu gewinnen, und das heißt philosophieren zu lernen“ (GA 25, 1) – und zwar, wie man hinzufügen darf, im Sinne jener phänomenologischen Philosophie, deren Grundprobleme Heidegger im Semester zuvor aufgewiesen hatte. Das einschlägige Kolleg ist das erste nach Erscheinen von „Sein und Zeit“ und deshalb besonderer Aufmerksamkeit wert. Thema der Vorlesung vom SS 1927 ist nicht die Phänomenologie als historische Bewegung innerhalb der Philosophie, sondern phänomenologisches Philosophieren, das es mitwirkend zu erlernen gilt. Die Anleitung hierzu gibt die phänomenologische Vorgehensweise, die Heidegger zur „Methode der wissenschaftlichen Philosophie überhaupt“ (GA 24, 3) erklärt. Sie prozediert nicht nach Maßgabe eines dogmatisch festgelegten Begriffs von Phänomenologie, sondern sucht zu erheben, wie das Sein sich im Dasein mitsamt allem, was ist, selbst erschließt und zu verstehen gibt. Während nichtphilosophische Wissenschaften Entitäten zum Thema haben, die ihnen vorgegeben sind, handelt wissenschaftliche Philosophie nicht von Seiendem, sondern vom Sein selbst und seinem Verständnis. Im umfangreichen ersten Teil des vierstündigen Kollegs (GA 24, 35– 320) werden vier traditionelle philosophische Annahmen über das Sein phänomenologisch-kritisch diskutiert, nämlich erstens Kants These, Sein sei kein reales Prädikat, zweitens die auf Aristoteles zurückgehende Unterscheidung der scholastischen Ontologie des Mittelalters, der zufolge zur Seinsverfassung eines Seienden essentia und existentia, Was-sein und Vorhandensein gehörten, drittens der Grundsatz neuzeitlicher Philosophie vom Sein der Natur (res extensa) und dem Sein des Geistes (res cogitans) als den Grundweisen des Seins und schließlich viertens die logische Voraussetzung bezüglich des Seins der Kopula:

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„Alles Seiende läßt sich unbeschadet seiner jeweiligen Seinsweise aussprechen durch das ‚ist‘ …“ (GA 24, 20) Aus der Diskussion der vier überkommenen Thesen zum Sein ergibt sich das Grundproblem der Phänomenologie als philosophischer Seinswissenschaft, nämlich die Unterscheidung von Sein und Seiendem eindeutig zu vollziehen. Diese Unterscheidung „ist keine beliebige, sondern diejenige, durch die allererst das Thema der Ontologie und damit der Philosophie selbst gewonnen wird. Wir bezeichnen sie als die ontologische Differenz, d. h. als die Scheidung zwischen Sein und Seiendem.“ (GA 24, 22) Recht zu vollziehen ist die hier erstmals so genannte (vgl. GA 24, 473) ontologische Differenz nach Heidegger nur, „wenn der Sinn von Sein überhaupt ausdrücklich ans Licht gebracht ist, d. h. gezeigt wird, wie Zeitlichkeit die Unterscheidbarkeit von Sein und Seiendem ermöglicht“ (GA 24, 23). Auf diesen Ausweis sollte die weitere Untersuchung konzentriert werden und zwar in ständigem Rückbezug auf die im ersten behandelten traditionellen Thesen über das Sein. Vier Gruppen von Problemen waren entsprechend für den zweiten Teil der Vorlesung vorgesehen, der allerdings Fragment blieb (vgl. GA 24, 321–469): erstens das Problem der ontologischen Differenz, der Unterschied von Sein und Seiendem; zweitens das Problem der Grundartikulation des Seins, Sachhaltigkeit eines Seienden und Seinsart des Seienden; drittens das Problem der möglichen Modifikationen des Seins und der Einheit des Seinsbegriffs in seiner Vieldeutigkeit; viertens das Problem des Wahrheitscharakters des Seins. (GA 24, 321)

Geplant war, durch Rückbezug der vier ontologischen Grundprobleme des zweiten Vorlesungsteils auf die Seinsthesen im ersten zu erweisen, dass diese „nicht zufällig sind, sondern der inneren Systematik des Seinsproblems überhaupt entwachsen“ (GA 24, 25). Einem abschließenden dritten Teil der Vorlesung wurde erneut eine vierfache Aufgabe zugewiesen, nämlich erstens das ontische Fundament der Ontologie durch eine Analytik des Daseins freizulegen und zweitens die apriorische Erkenntnisweise zur kennzeichnen, die sich in der Wissenschaft vom Sein vollzieht. Als drittes Kapitel sollte eine Charakteristik der drei Grundstücke der phänomenologischen Methode vorgetragen werden, nämlich der Reduktion, der Konstruktion und der Destruktion; die phänomenologische Reduktion führt das Seiende zurück auf sein Sein, die phänomenologische Konstruktion entwirft es von diesem her und die phänomenologische Destruktion bereitet den Boden der reduktiven Konstruktion, deren sich die Phänomenologie befleißigt, und zwar durch kritischen „Abbau der überkommenen und zunächst notwendig zu verwendenden Begriffe auf die Quellen, aus denen sie geschöpft sind. Erst durch die Destruktion kann sich die Ontologie phänomenologisch der Echtheit ihrer Begriffe voll versichern.“ (GA 24, 31)

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Der Unterschied von Sein und Seiendem kann nicht unmittelbar ontologisch bestimmt werden, weil die sog. ontologische Differenz Heidegger zufolge vorontologischer Natur ist. Sie sei in der Existenz des Daseins implizit mitgesetzt, aber auf eine latente Weise. Um explizit und „zur ausdrücklich verstandenen Differenz“ (GA 24, 454) zu werden, müsse ihr im Dasein gegebenes Da erhoben und zu Bewusstsein gebracht werden. Dies zu leisten, sei eine der Grundaufgaben der Phänomenologie als philosophischer Seinswissenschaft, die ihren eigenen Sitz im Leben im Dasein selbst habe und eines seiner möglichen Grundverhältnisse zu sich darstelle. Ihre Bestimmung könne sie entsprechend nur erfüllen, wenn sie sich selbst als in und durch die Existenz des Daseins konstituiert begreife. Mit der Konstitution phänomenologischer Philosophie im Dasein und seiner Existenz ist die Eigentümlichkeit verbunden, dass philosophisches Verstehen nicht auf Anhieb mit Verständnis rechnen kann, sondern im Gegenteil auf Unverständnis stoßen muss. Seinen Erklärgrund findet dieses Nicht- bzw. Missverstehen darin, dass sich das Dasein in der Regel seiner faktischen Alltäglichkeit primär nicht aus sich selbst, sondern aus den umgebenden Dingen und dem situativen Umfeld heraus versteht. So versteht es sich nicht eigentlich, sondern uneigentlich. „‚Uneigentlich‘ heißt hier nicht, es sei kein wirkliches Verstehen, sondern es meint ein solches Verstehen, worin das existierende Dasein primär sich nicht aus der eigensten selbstergreifenden Möglichkeit versteht.“ (GA 24, 395) Erst wenn es sich aus der Freiheit des eigenen Daseins heraus verstehe und sich entsprechend in seine freie Existenz vertiefe, gelange das Verstehen zur Eigentlichkeit und zu seinem eigentlichen Selbstverständnis. Mit dem Kolleg vom SS 1927 ist der Zeitpunkt des Erscheinens von „Sein und Zeit“ bereits überschritten und daher Anlass zu einer Rückschau sowie dafür gegeben, auf eine die Entwicklung Heideggers betreffende Bewertung Pannenbergs aufmerksam zu machen. Was den Weg zu „Sein und Zeit“ betrifft, so hat ihn der ungarische Philosoph I. M. Fehér in Grundzügen treffend zusammengefasst: Heidegger löst sich aus seiner bisherigen Bindung an die metaphysische Tradition und kritisiert die Metaphysik im Zuge der Ausbildung einer Hermeneutik der Faktizität, welche „die Problematik des faktischen Lebens zum Ausgangspunkt einer Ausarbeitung der Seinsfrage“48 macht. Von seiner metaphysikkritischen Hermeneutik faktischen Lebens bzw. je eigenen Erlebens her radikalisiert er nicht nur die phänomenologische Problematisierung der wissenschaftlicherkenntnistheoretischen Philosophie beispielsweise des Neukantianismus, wie bereits Edmund Husserl sie intendierte, sondern den Ansatz der Husserlschen 48 I. M. Fehér, Religion, Theologie und Philosophie auf Heideggers Weg zu Sein und Zeit. Das Phänomenologische, das Hermeneutische, das Faktische und das Historische mit Blick auf Dilthey und das Urchristentum, in: HSt 24 (2008), 103–144, hier: 112; die nachfolgenden Seitenverweise im Text beziehen sich hierauf.

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Phänomenologie selbst, die er als dogmatistisch und im Grund unphänomenologisch bezeichnet (vgl. GA 20, 178). Statt ihre Sache aus den Sachen selbst zu bestimmen, hintergehe sie diese durch Rückbindung intentionaler Gegenstandsbezüge auf ein vermeintlich reines Bewusstsein bzw. auf ein transzendentales Ego als angebliche Möglichkeitsbedingung jedweder Sachlichkeit. Diesen nach seinem Urteil ungeprüften und unhaltbaren Anschluss der Phänomenologie an die neuzeitliche Subjektphilosophie will Heidegger kappen, um der phänomenologischen Maxime „Zu den Sachen selbst“ konsequenter Rechnung zu tragen. Als paradigmatisch für „eine Urhaltung des Erlebens und Lebens als solchen“ (114), welche dem Unterschied von Ich und Gegenstandswelt jenseitig ist, gilt Heidegger das religiöse Verhältnis, wie u. a. sein im WS 1920/21 gehaltenes Kolleg „Einführung in die Phänomenologie der Religion“ belegt. Nicht an der theologischen Theorie, die dem religiösen Leben von Hause aus fremd sei, wohl aber am religiösen Leben selbst habe sich die Phänomenologie „als (vor-theoretische) Urwissenschaft oder Ursprungswissenschaft“ (119) primär zu orientieren. Religiöses Leben sei ein „Urphänomen“ (ebd.) insofern, als sich in ihm das Leben gleichsam selbst erlebt und sich seiner Lebendigkeit versichert. Im religiösen Verhältnis verhält sich das Leben zu sich, zum Leben des Lebens und zwar nicht in theoretisch vermittelter, sondern in der Weise unmittelbaren Erlebens. Irrational ist religiöses Erleben nach Heidegger insofern nicht zu nennen, als es keinen Gegensatz zur Rationalität, sondern deren sinnerschließende Tiefendimension bezeichnet. Erst „(a)us der Umstellung vom unmittelbaren Erleben ins Theoretische entsteht – als ohnmächtiger Rückblick des Theoretischen auf die eigene Geburtsstätte – ‚der bequeme Titel des Irrationalen‘“ (121 unter Verweis auf GA 56/57, 117). Phänomenologischer Betrachtung hingegen erschließe sich religiöses Leben als ein Ursprungsphänomen jenseits der Alternative von Rationalität und Irrationalität, als ein Erleben, in dem das Leben der Lebendigkeit all seiner Lebensvollzüge gewahr wird. Religion ist in diesem Sinne nicht nur eine spezifische Lebensform neben anderen, sondern die Weise des Lebens, in der dieses sich selbst erlebt. Mit Fehér zu reden: Wenn gesagt wird, ‚Leben‘ sei für Heidegger vor allem und eigentlich ‚religiöses Leben‘, dann ist damit gemeint, daß religiöses Leben für ihn ganz besonders markant die Charaktere des Lebens aufzuweisen vermag, daß es als eine Art Paradigma für das Leben schlechthin dient. (126)

Religiöses Leben ist Leben par excellence, Selbstvergewisserung des Lebens in seiner Lebendigkeit, Erlebnis des Lebenserlebens, nicht aber, jedenfalls nicht primär, theoretische Doktrin oder Morallehre. Wie menschliches Leben überhaupt gegebenenfalls auch ohne wissenschaftliche Philosophie auskommt, so ist das religiöse Leben nicht notwendigerweise auf Theologie angewiesen, jedenfalls

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dann nicht, wenn man unter dieser die Onto- bzw. Ethikotheologie der traditionellen Metaphysik zu verstehen hat. An dieser Stelle ist auf die angekündigte Bemerkung Pannenbergs zu Heideggers früher Entwicklung Bezug zu nehmen. Zwar hatte er, wie es scheint, Heideggersche Zeugnisse vor „Sein und Zeit“ nur bedingt bzw. indirekt zur Kenntnis genommen, ohne sich genauer mit ihnen auseinanderzusetzen; doch bezeichnet er zielgenau den Punkt, an dem eine Weichenstellung erfolgt sei, die nach seinem Urteil Heideggers Entwicklung in eine falsche Richtung geführt habe. Schon früh, meint Pannenberg, seien für Heideggers Denken der „Tod Gottes“ und in seinem Gefolge der Nihilismus virulent geworden, jedenfalls „lange bevor dieser sich dafür auf Nietzsche bezog“49. Nachdem er sich unter dem Einfluss des Neukantianers Heinrich Rickert davon habe überzeugen lassen, „daß die Ontologie einer erkenntnistheoretischen Grundlegung bedürfe“50, „entfiel für ihn auch die Möglichkeit, im Sinne der (neu)scholastischen Ontologie von Gott als höchstem Seienden sprechen zu können“51. In dieser Form, so Pannenberg, ist der Tod Gottes in Heideggers Denken eingetreten. Seine frühe Absage gegenüber Ontotheologie und theistischer Metaphysik habe ihn zwar anfangs nicht gehindert, an einer inneren Beziehung seiner Philosophie zu Religion und Christentum festzuhalten. Aber der philosophische Bezug sei auf eine phänomenologische Analyse der Binnenverfassung des christlichen Glaubens unter Ausblendung der für sein Selbstverständnis konstitutiven Externfaktoren beschränkt worden. Von Interesse seien im Wesentlichen der Christ und seine Christlichkeit, nicht aber Christus und der nach dem Bekenntnis des christlichen Glaubens in ihm kraft des Heiligen Geistes offenbare Gott. Indem er die urchristliche Erfahrung philosophisch nur als Paradigma für Geschichtlichkeit behandelte, formalisierte er sie so stark, daß ihre spezifischen Züge, besonders der für sie konstitutive Bezug auf Gott und Christus, zurücktraten. Auch in der Folgezeit hat Heidegger den christlichen Glauben immer nur als eine spezielle Form existentieller Erfahrung gewürdigt, unter Ausblendung des für den Glauben selber konstitutiven Gegenstandsbezuges.52

49 W. Pannenberg, Theologie und Philosophie, 326. Zu der von Heidegger aufgedeckten Wurzel des Atheismus bei Nietzsche vgl. W. Pannenberg, Typen des Atheismus und ihre theologische Bedeutung (1963), in: ders., Grundfragen systematischer Theologie. Gesammelte Aufsätze, Göttingen 21971, 347–360, hier: 354ff. 50 Ders., Theologie und Philosophie, 326. 51 Ebd. Infolge seiner Radikalkritik an Ontotheologie und theistischer Metaphysik, die sich bereits in dessen philosophischen Anfängen abzeichne, sieht Pannenberg Heideggers Denken früh in den Bannkreis des Nihilismus geraten, „so sehr er fortan – innerhalb dieses Bannkreises – um Überwindung des Nihilismus bemüht gewesen ist“ (ebd.). 52 A. a. O., 327 unter Bezug auf K. Lehmann, Christliche Geschichtserfahrung und ontologische Frage beim jungen Heidegger, in: O. Pöggeler (Hg.), Heidegger. Perspektiven zur Deutung seines Werkes, Köln/Berlin 1984, 140–168.

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Die Richtung der Pannenbergschen Heideggerkritik ist damit vorgezeichnet.

4.

In-der-Welt-sein. Die Grundverfassung des Daseins und seine Sorgestruktur

Unter den 1151 Fragmenten des sog. Allgemeinen Brouillons, die Friedrich von Hardenberg alias Novalis (1772–1801) zwischen September 1798 und Anfang März 1799 in einem heftartigen Manuskript zwecks Vorbereitung eines enzyklopädischen Werkes zur Grundlegung aller Wissenschaften aufgezeichnet hat, findet sich folgende Notiz: „Die Philosophie ist eigentlich Heimweh – Trieb überall zu Hause zu seyn.“53 Am Leitfaden dieses Novaliswortes hat Heidegger in einer Vorlesung, die er ein gutes Jahr nach seiner Freiburger Berufung hielt, das Wesen der Philosophie aus ihr selber heraus zu bestimmen versucht. „Wo gehen wir denn hin? Immer nach Hause.“ So heißt es im „Lied des Pilgers“ im zweiten Teil des „Heinrich von Ofterdingen“. Heideggers Antwort auf die besagte Frage könnte ähnlich lauten, doch mit dem Vorbehalt, der ja auch für Novalis gilt, dass in der Welt keine dauerhafte Heimstatt zu finden sei. Philosophie hat es entsprechend weniger mit Heimat als mit Heimweh zu tun. Anfang 1928 wurde Heidegger als Nachfolger Husserls, der dort seit 1916 gelehrt hatte, von Marburg nach Freiburg berufen, wo er bereits zuvor als Assistent und Dozent tätig gewesen war. Seine Antrittsvorlesung vom 24. Juli 1929 53 Novalis, Schriften. Die Werke Friedrich von Hardenbergs. Dritter Band: Das philosophische Werk II. Hg. v. R. Samuel, Stuttgart 21968, 434 (Dritte Gruppe. Nr. 857). Zur Anordnung und Datierung des Stoffs, zur Textgestaltung und zu den Lektürenachweisen sowie zum Hardenbergschen Enzyklopädieprojekt vgl. a. a. O., 207–241, zu abweichenden Lesarten und zur Quellenbibliographie vgl. a. a. O., 869–1010. Heidegger benützte eine ältere, die von Jacob Minor edierte Novalis-Ausgabe (Jena 1923. Bd. 2, 179, Fragment 21). Näheres zum biographischen Kontext der Notizensammlung in der Zeit des Freiberger Studiums findet sich bei F. Roder, Novalis. Die Verwandlung des Menschen. Leben und Werk Friedrich von Hardenbergs, Stuttgart 1992, 341ff. Direkten Bezug auf das besagte Fragment nimmt Roder in seinem Werk: Menschwerdung des Menschen. Der magische Idealismus im Werk des Novalis, Stuttgart/ Berlin 1997, 278; zur Antwort der kleinen Cyane auf Heinrichs (von Offerdingen) Frage nach dem Wohin und zu dem Blauassoziationen, die sich mit ihrem Namen verbinden vgl. a. a. O., 522. Novalis dichtet und philosophiert, wenn man so will, ins Blaue hinein. Vgl. dazu Th. Haering, Novalis als Philosoph, Stuttgart 1954. Der von Heimweh motivierte Trieb, überall zu Hause zu sein, ist bei Novalis auf ein goldenes Zeitalter ausgerichtet, dessen Idee im Zentrum seines dichterischen und philosophischen Schaffens steht. Es wird durch Ursprungsanamnese protologisch erinnert, aber zugleich in eschatologischer Erwartung als ein Künftiges ersehnt (vgl. H.-J. Mähl, Die Idee des goldenen Zeitalters im Werk des Novalis. Studien zur Wahrnehmung der frühromantischen Utopie und zu ihren ideengeschichtlichen Voraussetzungen, Tübingen 21994, bes. 305ff.). Zur poetischen Herstellung einer märchenhaften Welt als Zielbild des goldenen Zeitalters im „Heinrich von Ofterdingen“ vgl. a. a. O., 397ff.

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war dem Problem gewidmet, was Metaphysik sei.54 Wenig später, im WS 1929/30, hat er die Frage erneut aufgegriffen und in dem erwähnten Kolleg über „Die Grundbegriffe der Metaphysik. Welt – Endlichkeit – Einsamkeit“ (GA 29/30) in gebotener Ausführlichkeit zu beantworten versucht.55 Man hat diese Vorlesung mit vollem Recht als „(e)in heimliches Hauptwerk“56 neben „Sein und Zeit“ bezeichnet. Ob oder inwiefern sich in ihr bereits eine kommende „Kehre“ abzeichnet, kann dahingestellt bleiben. Aufschlussreich ist das Kolleg in jedem Fall, da es den Heideggerschen Weltbegriff ausdifferenziert und in großer Ausführlichkeit entwickelt. Was ist Welt? Um sich einer Antwort auf diese Frage anzunähern, vergleicht Heidegger Stein, Tier und Mensch, wobei er zu folgenden Leitthesen gelangt: „1. der Stein (das Materielle) ist weltlos; 2. das Tier ist weltarm; 3. Der Mensch ist weltbildend.“ (GA 29/30, 263) Der Stein ist zwar, aber er ist nicht für sich. Sein Sein ist von demjenigen des Tieres elementar unterschieden. Er kann im Unterschied zu diesem nicht sterben, da er nie lebte. Sein mögliches Enden ist demgemäß mit dem Verenden des Tieres nur sehr bedingt zu vergleichen. Heidegger kennzeichnet die Weltlosigkeit des Steins als Zugangslosigkeit zum Seienden (vgl. GA 29/30, 289). Während das Seiende für Mensch und Tier dergestalt zugänglich ist, dass Umgang mit ihm möglich wird etwa in Form von Berührung, bleibt dem Stein dasjenige, was er selbst ist, und dasjenige, was er selbst nicht ist, also alles von ihm Unterschiedene, unzugänglich. Er bleibt von allem gänzlich unberührt und zwar unbeschadet dessen, dass er, wenn er auf dem Boden liegt, einen Druck auf diesen ausübt, und, wie man sagt, die Erde berührt. 54 Vgl. H. Heidegger, Bemerkungen zu Rüdiger Safranskis Buch „Ein Meister aus Deutschland – Heidegger und seine Zeit“, in: HSt 11 (1995), 227–235, hier: 230. Zu „Heideggers Begriff der Metaphysik“ vgl. zusammenfassend G. Haeffners gleichnamige Untersuchung, München (1974) 21981. Heidegger glaubte, das Denken vor eine noch nie gestellte Frage gebracht zu haben. 55 Zu Titel und Überlieferungslage vgl. das Nachwort des Herausgebers GA 29/30, 537–542. Heidegger hat seine Vorlesungen „stets wörtlich genau geschrieben und vorgelesen; nur selten gestattete er sich ein kurzes Improvisieren.“ (J. B. Lotz, Im Gespräch, in: G. Neske [Hg.], a. a. O., 154–161, hier: 157) 56 R. Safranski, Ein Meister aus Deutschland. Heidegger und seine Zeit, Frankfurt a. M. 92015, 217. Zum Kontext der „besonder(s) umfangreiche(n)“ Vorlesung vgl. J. Greisch, Der philosophische Umbruch in den Jahren 1928–1932. Von der Fundamentalontologie zur Metaphysik des Daseins, in: D. Thomä (Hg.), Heidegger-Handbuch, 91–102, hier: 97. Zur Eigentümlichkeit des Sprachkonzepts, das sich im Kolleg von 1929/30 anbahnt, vgl. M. Siegfried, Abkehr vom Subjekt. Zum Sprachdenken bei Heidegger und Buber, Freiburg/München 2010, bes. 396ff; zur Naturthematik M. Riedel, Das Natürliche in der Natur. Heideggers Schritt zum „anderen Anfang“ der Philosophie, in: H.-H. Gander, Von Heidegger her. Wirkungen in Philosophie – Kunst – Medizin, Frankfurt a. M. 1991, 51–72, bes. 64ff. Ferner: ders., Naturhermeneutik und Ethik im Denken Heideggers, in: D. Papenfuss/O. Pöggeler (Hg.), Zur philosophischen Aktualität Heideggers. Bd. 1: Philosophie und Politik, Frankfurt a. M. 1991, 75–100.

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Aber was wir da ‚berühren‘ nennen, ist kein Betasten. Es ist nicht die Beziehung, die eine Eidechse zu einem Stein hat, wenn sie auf ihm in der Sonne liegt. Dieses Berühren des Steins und Bodens ist erst recht nicht das Berühren, das wir erfahren, wenn unsere Hand auf dem Haupt eines andern Menschen ruht. (GA 29/30, 290)

Der Stein ist weltlos, aber deshalb nicht ohne Sein. Auch einen Mangel an Sein attestiert Heidegger ihm nicht. Es gehöre vielmehr wesentlich zum Sein des Steines, ohne Welt zu sein. Weltlosigkeit mache seine Seinsart aus, für welche charakteristisch sei, keinen Zugang zum Seienden als einem Seienden, auch nicht zum eigenen Sein zu haben. Steine sind Entitäten, die sind, ohne zu existieren, will heißen: Ohne aus sich herauszugehen und in ein Verhältnis zu sich und zu anderem zu treten. Ein Empfinden für sich zu haben, ist Lebewesen vorbehalten. Lebendige Wesen sind fühlende Wesen. Heidegger leugnet nicht, dass Leben die Leblosigkeit der anorganischen Sphären zur Voraussetzung und zur bleibenden Basis hat. Auch stellt er nicht in Abrede, dass der Übergang vom Anorganischen zum Organischen in kontinuierlichem Fluss und ohne Sprünge erfolgt, wobei vegetabilische Entitäten gleichsam eine Mittlerfunktion ausüben. Doch wie immer man die Pflanzlichkeit von Pflanzen in ihrem Verhältnis zur Tierheit der Tiere einerseits und zur Seiendheit beispielsweise von Steinen andererseits zu bestimmen hat: Die Tatsache, dass Seiendes in beständigem Übergang begriffen ist, ändert nichts an der phänomenalen Differenz zwischen den Seinsarten, denen die einzelnen Entitäten zugehören. Man nehme erneut das Beispiel von Stein und Eidechse: Während dieser von der Tatsache, dass jene auf ihm liegt, unberührt bleibt, lässt sich jene von ihm berühren, wärmen oder in welcher Weise auch immer angehen. Zwar ist der Stein der Eidechse nicht als Stein präsent, da sie keinen Begriff von ihm hat. Er ist, wie Heidegger sagt, für die Eidechse ein „Eidechsending“ (vgl. GA 29/30, 291), das mit der Dingheit von Dingen, die Menschen zuhanden sind, nicht unmittelbar vergleichbar ist. Dies ändert indes nichts daran, dass die Seinsart der Eidechse von anderer Art zu sein scheint als diejenige von Steinen. Die zurückhaltende Formulierung des letzten Satzes findet ihre Erklärung in der Tatsache, dass für denjenigen, der über Steine und Eidechsen spricht oder schreibt, beider Seinsart nicht unmittelbar zugänglich ist, weil er weder ein Stein noch eine Eidechse ist. Gleichwohl gibt es für ihn gute Gründe anzunehmen, dass zwischen beiden ein Wesensunterschied waltet. Auf ihn deuten zum einen Wahrnehmungen hin, die sich externer Beobachtung erschließen, zum anderen aber auch solche, die aus der Selbstwahrnehmung und einer von innen her kommenden Sympathie hervorgehen, die alles Lebendige eint und gemeinsam vom Leblosen abhebt. Weil er – und zwar noch bevor er zu explizitem Wissen und zum Bewusstsein seiner selbst kommt – fühlt, hat der Mensch einen ursprünglichen Zugang zu allem Lebendigen, welcher ihm die genuine Bedeutung dessen zu erschließen vermag, was dem Begriff der Tierheit wesentlich ist. Es bedarf Heidegger zufolge

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philosophischer Phänomenologie, um Zoologie und Biologie einen nicht nur äußerlichen, sondern realen Begriff dessen zu verschaffen, was Gegenstand und Inhalt ihrer Wissenschaft ist (vgl. GA 29/30, 277ff.).57 Dies gilt mehr noch und in anderer Weise für die Anthropologie.58 Ein Tier ist kein Stein, aber ebenso wenig ein Mensch. Mensch und Tier sind Lebewesen, aber von kategorial verschiedener Art. Die menschliche Art zu sein ist durch Sichverhalten zu etwas einschließlich seiner selbst, die tierische Seinsart durch ein Benehmen charakterisiert, das, wie Heidegger sagt, von sich selbst benommen ist. „In der Benommenheit ist für das Benehmen des Tieres Seiendes nicht offenbar“ (GA 29/30, 361): „Weder seine sogenannte Umgebung noch es selbst sind als Seiendes offenbar.“ (Ebd.) Damit ist noch einmal umschrieben, warum das Tier einer offenen Welt entbehrt und als weltarm zu bezeichnen ist. Aufgrund seiner Weltarmut hat das Tier „grundsätzlich nicht die Möglichkeit, auf das Seiende, das es nicht ist, sowie auf das Seiende, das es selbst ist, sich einzulassen“ (ebd.). Ganz anders stellt sich dies im Falle des Menschen dar, dessen Da-sein exzentrisch, selbsttranszendent und weltoffen verfasst und daher befähigt ist, sich in sich selbst und in anderes hineinzuversetzen, was die Grundvoraussetzung jeder Wissenschaft und aller Philosophie ist. Die Sachfrage nach der Seinsart eines Seienden wird bei Heidegger methodisch erschlossen durch die Frage nach der Möglichkeit, sich in ein anderes Seiendes zu versetzen (vgl. GA 29/30, 295ff.). Diese Möglichkeit ist im Falle des Steines nicht, im Falle des Tieres nur begrenzt, im Falle des Menschen hingegen in einer Weise gegeben, die durch keine äußere Schranke grundsätzlich begrenzt ist. Deshalb nennt Heidegger den Menschen im Unterschied zum weltlosen Stein und zum weltarmen Tier weltbildend. Auf den weltbildenden Menschen und sein 57 Das Entscheidende in der Wissenschaft ist nach Heidegger immer der „Wandel des Sehens und Fragens“ (GA 29/30, 379). Dies gelte auch für die Wissenschaft der Natur und insbesondere für die Biologie als die Wissenschaft vom natürlichen Leben. Solange sie sich nicht von der „Herrschaft der mechanisch-physikalischen Naturbetrachtung“ (GA 29/30, 378) befreie, könne sie ihrem Begriff als Lebenswissenschaft nicht entsprechen, weil sie nicht wisse, was Leben sei. Zum Wissen um das Wesen des Lebens gehöre vor allem die „Erkenntnis des Ganzheitscharakters des Organismus“ (GA 29/30, 380). Durch ein maschinell-werkzeugliches Verständnis werde er zwangsläufig verkannt; gerade die organischen Fertigkeiten, die zu diesem und jenem befähigten, seien nur aus jenem ganzheitlichen Sichzueigensein heraus zu begreifen, wie es Lebewesen kennzeichne. 58 Heideggers Analyse menschlichen Daseins greift Ergebnisse der zeitgenössischen Philosophischen Anthropologie auf, grenzt sich aber, wie schon vermerkt, gegen ihre Zugangsweise ebenso deutlich ab wie gegenüber der Zoologie und der Biologie seiner Zeit. Weder mit Max Schelers 1928 erschienenem Werk „Die Stellung des Menschen im Kosmos“ noch mit Forschungen wie etwa denen von J. v. Uexküll will Heidegger in direkte Verbindung gebracht werden. Bezüge lassen sich dennoch unschwer erkennen: Wenn Heidegger Tieren Weltarmut attestiert, ist dies mit der Feststellung beispielsweise ihrer Umweltgebundenheit durchaus vergleichbar. Entsprechendes gilt für die konstatierten anthropologischen Phänomene der Weltoffenheit, der Selbsttranszendenz und der Exzentrizität.

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Dasein kommt alles an, auf sein Offenbarwerden wartet, wie Heidegger unter Bezug auf Röm 8,19 ausführt (vgl. GA 29/30, 396), alles, was ist, mit süchtigem Sehnen. Denn erst mit dem menschlichen Dasein wird das Seiende als Seiendes offenbar. Die Menschwerdung ist die conditio sine qua non des Werdens der Welt: Ohne Mensch keine Welt, jedenfalls keine, die als Welt in Erfahrung zu bringen und zu begreifen wäre! Denn „(z)u Welt gehört Offenbarkeit von Seiendem als solchem, von Seiendem als Seiendem“ (GA 29/30, 397). Der Mensch ist nicht nur in der Welt, er hat Welt, was die Voraussetzung dafür ist, dass überhaupt Welt- und Selbstbetrachtungen getätigt werden können. Gleichwohl wäre es nach Heidegger grundfalsch, den Menschen, die Menschenseele oder ein egologisch zu fassendes Ich in transmundane Sphären zu erheben. Menschliches Dasein ist seinem Urteil zufolge stets In-der-Welt-Sein, wobei Welt im gegebenen Zusammenhang weder ein Seiendes noch die Summe alles Seienden im Sinne eines universalen Alls, sondern den unhintergehbaren und unüberschreitbaren Daseinshorizont von Menschsein bezeichnet. Als Schlüssel zum Verständnis kann der Lebensweltbegriff dienen, wenn man von seinem inflationären Gebrauch, wie er seit den 80er Jahren des vergangenen Jahrhunderts üblich wurde, Abstand nimmt und sich an seine phänomenologische Ursprungsbedeutung hält, wonach jede Lebensperspektive Teil eines Ganzen ist, das sich der Vergegenständlichung entzieht und zugleich die Voraussetzung jeder Gegenstandswahrnehmung darstellt. Die gegebenen Gegenstände sind immer schon an einen bestimmten Gesichtskreis innerhalb des umfassenden Welthorizonts gebunden, ohne welchen sie nicht vorhanden sind. Die Gegebenheitsweise der Gegenstände ist lebensweltlich bestimmt. In seiner natürlichen Alltagseinstellung ist dem Bewusstsein die lebensweltliche Perspektive seiner Gegenstandswahrnehmung nicht eigens bewusst: Das Alltagsbewusstsein ist ganz dem Sein hingegeben und hat kein Bewusstsein von sich als Bewusstsein. Die Gegenstände können ihm daher als gleichsam bewusstlos gegeben erscheinen. Dieser Schein wird durchschaut, wenn die Gegebenheitsweise von Gegenständen im Gegenstandsbewusstsein eigens zu Bewusstsein gebracht wird. Dies zu leisten ist eine der wesentlichen Aufgaben der phänomenologischen Philosophie. Sie thematisiert die Weise, in der Gegenstände dem Bewusstsein gegeben sind, und macht daher die Subjektrelativität der Gegenstände ebenso bewusst wie die intentionale Elementarausrichtung des Bewusstseins auf sie. Indem die phänomenologische Wesensschau die Perspektivität der Erfahrungshorizonte erfasst, wehrt sie der Lebensweltvergessenheit, wie sie das konventionelle Alltagsbewusstsein ebenso kennzeichnet wie eine am Abstraktionsideal subjektloser Wirklichkeitswahrnehmung orientierte Wissenschaft, welche die Welt im Interesse ihrer objektiven Betrachtung radikal entperspektiviert, um sie insgesamt auf rein gegenständliche Weise erscheinen zu lassen. Diese Ent-

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perspektivierung der Erfahrungswelt ist eine produktive wissenschaftliche Abstraktion, solange sie sich auf einen Aspekt von Weltwahrnehmung beschränkt und damit der Perspektive bewusst bleibt, innerhalb deren sich die Entperspektivierung vollzieht: Ein solcher Gesichtspunkt ist etwa derjenige der Effektivität methodischen Operierens, wie er für technische Formen des Weltumgangs unentbehrlich ist. Gerät die Perspektivität wissenschaftlicher Entperspektivierung indes in Vergessenheit, droht sich der Gesichtspunkt formalen Funktionierens zu entschränken und zu totalisieren, was zwangsläufig zu einer, mit Jürgen Habermas zu reden, „innere(n) Kolonialisierung der Lebenswelt“59 führen muss. Indem sie die moderne Wissenschaft reperspektiviert und die lebensweltliche Perspektivität aller Gegenstandswahrnehmung zu Bewusstsein bringt, gebietet die Phänomenologie solcher Kolonialisierung Einhalt und erweist damit ihrem Selbstverständnis gemäß die gerade unter wissenschaftlichen Bedingungen unverzichtbare Notwendigkeit philosophischer Besinnung. Heideggers Analysen des Daseins als eines elementaren In-der-Welt-Seins, wie er sie in „Sein und Zeit“ (vgl. Anm. 16) und in einer Reihe von Vorlesungen vorgenommen hat60, schließt an den phänomenologischen Lebensbegriff seines Lehrers Husserl an, wenngleich unter strikter Absage an alle etwaigen egologischen Implikationen. Dasein ist Sein in der Welt; Weltlichkeit gehört ihm unveräußerlich zu. Heidegger erklärt sie entsprechend zu einem Existential. Auf kategoriale Weise, etwa durch den Terminus der Natur als des strukturellen Inbegriffs der Seiendheit alles Seienden, lasse sich die Weltlichkeit der Welt nicht 59 J. Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns. Bd. 2: Zur Kritik der funktionalistischen Vernunft, Frankfurt a. M. 1981, 523. 60 In-der-Welt-sein überhaupt als Grundverfassung des Daseins ist gemäß „Sein und Zeit“ „ein einheitliches Phänomen“ (53), aber in dreifacher Hinsicht in den Blick zu nehmen, um in seiner Einheitlichkeit wahrgenommen zu werden. Als erstes ist die Idee der Weltlichkeit der Welt, in der das Dasein existiert, phänomenologisch zu erheben, sodann das In-der-Welt-sein des Daseins als Mit- und Selbstsein auszuweisen und zu bestimmen, wer „im Modus der durchschnittlichen Alltäglichkeit des Daseins ist“ (ebd.). Schließlich ist „die ontologische Konstitution der Inheit selbst“ (ebd.), das „In-Sein als solches“ (ebd.) herauszustellen, das anderes ist als ein Sein in etwas und daher nicht kategorial, sondern allein existential erfasst werden kann. Im Existential des In-Seins hinwiederum ist dasjenige des „Seins bei“ der Welt fundiert, das seinerseits ein Beieinander begründet, das von bloßem Neben- und Nacheinander elementar verschieden ist. Durch Welterkennen oder gar durch dasjenige, was man gewöhnlich Weltanschauung nennt, lässt sich die Idee der Weltlichkeit der Welt Heidegger zufolge nicht erfassen. Denn das Erkennen von Weltlichem, welches dem Dasein eignet, gründet selbst „vorgängig … in einem Schon-sein-bei-der Welt“ (61). Zwar gewinnt das Dasein im Welterkennen einen neuen Stand in seinem „In-der-Welt-sein“; aber das Erkennen von Welt setzt konstitutiv voraus, dass die Weltlichkeit der Welt im Dasein je schon und vorgängig zu jeder Differenzierung von Subjekt und Objekt, Ich und Nicht-Ich entdeckt ist. „Erkennen ist ein im In-der-Welt-sein fundierter Modus des Daseins“ (62f.); die Grundverfassung des Daseins als In-der-Welt-sein verlangt daher eine dem Erkennen vorhergehende Interpretation, die mit der Idee der Weltlichkeit der Welt überhaupt ihren Anfang zu nehmen hat.

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verständlich machen. Auch ihre Bestimmung als res extensa im Unterschied zur res cogitans, wie Descartes sie vorgenommen habe, verkennt nach Heideggers Urteil ihren existentialen Charakter, der das Dasein aller Entgegensetzung von Ich und Nicht-Ich zuvor prägt. Schon bevor es ihm eigens zu Bewusstsein kommt, ist Dasein in der Welt und im Umgang mit Weltlichem begriffen, das ihm begegnet. Um dies zur Einsicht zu bringen, hebt Heidegger mit einer Analyse des Sinns von Entitäten an, die, noch bevor sie verdinglicht und gegenständlich erkannt werden, die Umwelt des Daseins in der Weise der Zuhandenheit bilden. Weltlich zuhanden ist Heidegger zufolge, womit das Dasein ursprünglich und immer schon Umgang pflegt: Er spricht von Zeug. Zeughaftes ist zuhanden, Zuhandenheit die Seinsart von Zeug, an dem sich gegebenenfalls „pure Vorhandenheit meldet“ (73), aber nur als defizienter, untauglicher Modus von Zeugzuhandenheit. Das bloß Vorhandene ist unbrauchbares Zeug, dessen Ursprungsbedeutung abhanden gekommen ist. Es taugt für das Dasein im Grunde zu nichts, wohingegen im zuhandenen Zeug das Seiende so da ist, wie es an sich selbst ist. Zuhandenem eignet An-sich-Sein und Bedeutsamkeit für das Dasein, wohingegen bloß Vorhandenes einen unbedeutsamen Seinsmodus des Weltlichen der Welt darstellt, in der es, das Dasein, existiert. Der mit ursprünglicher Bedeutung versehene Zeugzusammenhang, der die unmittelbare Lebenswelt des Daseins bildet, verweist als Daseinsumwelt auf die Weltlichkeit der Welt überhaupt, die sich im Umweltlichen als das Ganze der Verweisungszusammenhänge von Zuhandenem zum Vorschein bringt. Von der am innerweltlichen Seienden sich meldenden Weltmäßigkeit der Umwelt (vgl. 72ff.) gelangt Heidegger über die Interpretation von Verweisung und Zeigen (vgl. 76ff.), Bewandtnis und Bedeutsamkeit (vgl. 83ff.) zum Verständnis der Weltlichkeit der Welt überhaupt, um am Ende des ihrer Idee gewidmeten Kapitels wieder zur Umwelt als der konkreten Welt des Daseins zurückzukehren, damit das, wie es in der Überschrift heißt, Umhafte der Umwelt und die „Räumlichkeit“ des Daseins bestimmt werde (vgl. 102ff.). Die Räumlichkeit des innerweltlich Zuhandenen ist diesem nicht vorgegeben wie ein Behälter, in dem sich das Dasein einzurichten hätte, sondern als dasjenige manifest, was beispielsweise Platz oder Gegend heißt. „Der Raum … gehört je als dessen Platz zum Seienden selbst.“ (104) Gegenden hinwiederum „werden nicht erst durch zusammen vorhandene Dinge gebildet, sondern sind je schon in den einzelnen Plätzen zuhanden“ (103). Als Seinsart des Daseins ist Räumlichkeit wesentlich durch Nähe, Entfernung und Ausrichtung gekennzeichnet, deren je charakteristische Eigenart mit Mitteln der Geometrie nicht zu bemessen ist, weil sie selbst deren Ursprungsmaß bilden. Auch hier gilt: Räumlichkeit ist primär nicht kategorial, sondern existential zu verstehen, also vom Ereignis des Einge-

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räumtseins und vom Vollzug des Einräumens her, welcher das Dasein als In-derWelt-sein kennzeichnet. „Der Raum ist weder im Subjekt, noch ist die Welt im Raum. Der Raum ist vielmehr ‚in‘ der Welt, sofern das für das Dasein konstitutive In-der-Welt-sein Raum erschlossen hat.“ (111) Um Heideggers Analyse des Daseins als elementaren Seins in der Welt in Grundzügen zu verstehen, bedarf es keiner weitergehenden Ausführungen außer einer abschließenden Bemerkung zu den Motiven seiner strikten Weigerung, die Lebensweltphilosophie mit einer egologischen Epistemologie zu versehen. Sowenig Heidegger den Unterschied von Stein, Tier und Mensch leugnet, sondern gerade in Bezug auf den Weltbegriff geltend macht (weltlos; weltarm; weltbildend), sowenig bestreitet er die Ichförmigkeit des Daseins, dem Selbstsein eignet. Doch könne dem Ich weder eine welttranszendente, noch eine transzendentale Stellung im Sinne einer egologischen Erkenntnistheorie zugewiesen werden, da es als es selbst immer schon dadurch bestimmt sei, in der Welt zu sein. Ich bin, der ich bin, nicht als ein transmundanes Subjekt, dem die Welt des Objektiven gegenüberstehen würde, freilich auch nicht im Sinne eines Weltgegenstandes unter anderen Weltgegenständen, sondern im Geschehen eines Selbstvollzugs, der sich vom Walten bzw., wie Heidegger sagen kann, Welten der Welt nicht ablösen lässt. Im ursprünglichen Erleben erlebt sich das Menschenleben unmittelbar in seinem In-der-Welt-Sein, zwar nicht in vermittlungsloser Unmittelbarkeit, aber doch so, dass sein Sein in der Welt nicht eigens Gegenstand reflexiver Bezugnahme wird. Zwar ist menschliches Leben Sich-Erleben; doch geht dieses Erleben der Differenz von Selbst und Welt voraus bzw. umgreift diese, was Heidegger zufolge eine egologisch angelegte Transzendentalphilosophie ebenso verkennt wie ein Naturalismus, der Subjektivität zu einem Epiphänomen von Weltlichkeit herabsetzt. Wohl vermag sich das bewusste und um sich wissende Ich allem, was es nicht ist, entgegenzustellen und Weltliches zu vergegenständlichen. Doch ist die Differenz von Subjekt und Objekt kein Urphänomen, sondern ein Phänomen abkünftiger Art, welches die ursprüngliche Einheit des Unterschiedenen zur Voraussetzung hat. Diese Voraussetzung ist nicht gesetzt, auch nicht als nichtgesetzt gesetzt, sondern eine sich selbst voraussetzende Voraussetzung mit Selbstverständlichkeitsanspruch, welcher aber nur aus sich heraus und im Vollzugsmodus verstanden werden kann, wohingegen er in Form verobjektivierenden Zugriffs unverstanden bleibt, ja zwangsläufig missverstanden wird. Ein Missverständnis wäre es freilich auch, die Faktizität faktischen Lebens in der Welt als ein äußeres Faktum festschreiben und Reflexivität perhorreszieren zu wollen. Leben muss im Gegenteil reflexiv werden, um seine ursprüngliche Lebendigkeit zu erhalten und zu erleben, was es mit dem Leben auf sich hat. Die Phänomenologie trägt Heidegger zufolge zu diesem Lebenserlebnis bei, indem sie zu erfahren sucht, was ursprüngliche Lebenserfahrung bedeutet.

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„Wer Erfahrungen macht, macht nicht auch die Erfahrung, Erfahrungen zu machen.“61 Er ist ganz bei der Sache. Diese Sachlichkeit kann eine Vergegenständlichungstendenz nach sich ziehen, die zu der Annahme einer subjektlosen Objektivität führt, was indes nichts anderes ist als ein Indiz von Selbstvergessenheit. Selbstvergessenheit ist nach Heidegger nicht dadurch zu beheben, dass man der Gegenstandswelt ein ungegenständliches Ich entgegenstellt, sondern nur durch phänomenologische Erhebung des ursprünglichen Zusammenhangs von Selbst und Welt in jener Differenzeinheit, die den menschlichen Lebensvollzug ursprünglich bestimmt. Ich und Nicht-Ich stehen in einem lebensweltlichen Korrelationsverhältnis, das sich nach keiner Seite hin auflösen lässt. Selbsterleben hat nur im Verein mit Welterleben statt und umgekehrt. Wird dies verkannt, dann gibt entweder das Selbst der Welt sich dergestalt hin, dass es in Gegenständlichkeit aufgeht, oder es zieht sich so auf sich zurück, dass es in innerer Leere vergeht. Beide Alternativen sind im Grunde Varianten ein- und derselben verkehrten Haltung, die nur vermieden werden kann, wenn in Bezug auf die Lebenserfahrung in Erfahrung gebracht wird, dass Welterfahrung ohne Selbsterfahrung ebenso wenig möglich ist wie Selbsterfahrung ohne Welterfahrung. Dasein ist In-der-Welt-Sein. Ohne Welt ist Dasein nie da. Dass es aber da ist, ist ein Faktum, das es nicht selbst gemacht hat. Dasein ist da, ohne das Da seiner selbst unmittelbar hervorgebracht zu haben. Es ist nicht aus und durch sich da, sondern mittels anderer, deren Dasein seinerseits vermittelt und nicht unmittelbar gegeben ist. Die Frage, warum Dasein überhaupt da ist, lässt sich sonach weder auf unmittelbare noch auf mittelbare Weise beantworten, sondern nur als eine unhintergehbare Ursprungsgegebenheit registrieren. Dasein ist in sein Sein in der Welt geworfen. Mit einem Steinwurf oder mit dem Wurf eines Muttertiers hat das Geworfensein des Daseins indes nur bedingt etwas gemein, da sein Gegebensein Sich-Gegebensein, sein Geworfensein zugleich Entwurf zu nennen ist. Dasein ist nicht nur da wie alles, was ist, da ist; es existiert vielmehr in der Faktizität seines Daseins und ist nur im Vollzug seiner Existenz als dasjenige, was es ist, zu verstehen. Faktizität und Existentialität, Geworfensein und Entwurf lassen sich daseinsanalytisch zwar unterscheiden, nicht aber trennen. „Das Dasein existiert faktisch.“ (181) Darin liegt nach Heidegger seine wesenhafte Sorgestruktur als Inder-Welt-sein begründet. Existierend sich selbst stets schon vorweg und über sein schieres Sein hinaus bleibt das Dasein doch durchweg rückbezogen auf die Faktizität seines Gegebenseins in der Welt, um deren Bestand und Erhalt es sich 61 M. Jung, Die frühen Freiburger Vorlesungen und andere Schriften 1919–1923. Aufbau einer eigenen Philosophie im historischen Kontext, in: D. Thomä (Hg.), Heidegger-Handbuch, 13– 21, hier: 16.

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zu sorgen hat. In diesem Sinn ist es in steter Sorge um sich und sein Sein in der Welt begriffen. Die Sorgestruktur liegt Heidegger zufolge allem Hang und Drang, allem Wollen und Wünschen zugrunde. Alles Sinnen und Trachten des Daseins ist in der Sorge fundiert, als die sich die Seinsganzheit des Daseins enthüllt. Besorgt zu sein ist keine Eigenschaft des Daseins von ontisch-aposteriorischer Spezifizität, sondern seine ontologisch-apriorische Grundverfassung als geworfener Entwurf. „Cura prima finxit: Dieses Seieinde hat den ‚Ursprung‘ seines Seins in der Sorge. Cura teneat, quamdiu vixerit: Das Seiende wird von diesem Ursprung nicht entlassen, sondern festgehalten, von ihm durchherrscht, solange dieses Seieinde ‚in der Welt ist‘. Das ‚In-der-Welt-Sein‘ hat die seinsmäßige Prägung der ‚Sorge‘.“ (198)62 Sorge ist das Sein des Daseins als In-der-Welt-Sein, ihre ursprüngliche und elementare Konkretion hinwiederum ist die Angst. Wovor ängstigt sich die Angst? Vor nichts Bestimmtem, sondern vor einem Unbestimmten, das nirgendwo und überall zugleich ist. Die Daseinsangst ängstigt sich um nichts und um alles in der Welt, um die Welt als solche, in der zu sein die Grundverfassung des Daseins ausmacht: „wovor die Angst sich ängstigt, ist das In-der-Welt-sein selbst.“ (187) Fühlt sich das Dasein von der Welt, in der zu sein seine Grundverfassung ausmacht, in die Enge getrieben, dann eng-stigt bzw. ängstigt es sich, weil es sich als gänzlich auf sich und sein Eigenvermögen zurückgeworfen und aller Möglichkeiten beraubt empfindet, sich aus der Welt und 62 Nach dem Versuch einer „Bewährung der existenzialen Interpretation des Daseins als Sorge aus der vorontologischen Selbstauslegung des Daseins“ (§ 42) und der Versicherung, dass der existentiale Begriff der Sorge, wie er aus der vorontologischen Selbstauslegung des Daseins zu erheben sei, nicht auf eine Grundlegung der Anthropologie ziele, sondern in fundamentalontologischer Weise erfolge, fokussiert Heidegger das daseinsanalytische Thema der Sorge auf das Realitäts- und Wahrheitsproblem. Dazu nur Folgendes: Was die Beweisbarkeit der Realität der sog. Außenwelt anbelangt, so besteht das Problem Heidegger zufolge nicht darin, dass „dieser Beweis bislang noch aussteht, sondern darin, daß solche Beweise immer wieder erwartet und versucht werden“ (205). Findet sich doch das Dasein in der Wirklichkeit der Welt immer schon und zwar in fragloser Evidenz vor, insofern es faktisch und im Unterschied bzw. Gegensatz zu demjenigen ist, was es nicht ist und von dem es gleichwohl voraussetzt, dass es sei. Die Realität der Welt, in der das Dasein ist, ist weder auf hintergründige Weise beweisbar, noch überhaupt beweisbedürftig, weil sie mit dem Dasein als In-der-Welt-sein immer schon erschlossen ist. – Realität gründet ursprünglich im Sein des Daseins. Damit soll nicht gesagt sein, dass das Sein des Seienden, die Wirklichkeit des Wirklichen in der Daseinsrealität aufgeht. Zwischen dem Sein des Daseins und dem Sein des Seienden, welches das Dasein nicht unmittelbar selbst ist, muss unterschieden werden. Doch hängt nach Heidegger auch dieser Unterschied daran, dass Dasein ist. Denn wenn Dasein nicht existieren würde, dann könnte vom Sein auch desjenigen Seienden, das vom Sein des Daseins tatsächlich unterschieden und unabhängig ist, nicht mehr die Rede sein. Dann könnte „weder gesagt werden, daß Seiendes sei, noch daß es nicht sei“ (212). Das Sein oder Nichtsein des Seienden, welches das Dasein nicht ist, kann ohne dessen Seinsverständnis ebenso wenig gedacht werden, wie das Sein des Daseins selbst, zu dessen Wesen verständiges Erschlossensein unveräußerlich hinzugehört: „nur wenn Seinsverständnis ist, wird Seiendes als Seiendes zugänglich; nur wenn Seiendes ist von der Seinsart des Daseins, ist Seinsverständnis als Seiendes möglich.“ (Ebd.)

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ihrem üblichen Alltag heraus zu begreifen. „Die Angst vereinzelt das Dasein auf sein eigenstes In-der-Welt-sein, das als verstehendes wesenhaft auf Möglichkeiten sich entwirft. Mit dem Worum des Sichängstens erschließt daher“, so Heidegger weiter, „die Angst das Dasein als Möglichsein und zwar als das, das es einzig von ihm selbst her als vereinzeltes in der Vereinzelung sein kann.“(187f.) In der Angst ist das Dasein ganz allein, „solus ipse“ (188). Egologisch lässt sich dieser Solipsismus Heidegger zufolge nicht fassen; wo ihm ein transmundanes Subjekt bzw. ein transzendentales Ich unterstellt wird, ist seine Existentialität schon verkannt. Denn solipsistisch und ganz allein ist das Dasein nachgerade darin, alternativlos in der Welt sein zu müssen, aber in ihr keinerlei festen Bestand und keine Bleibe zu haben. Die Möglichkeit, in der Welt aufzugehen, ist dem Dasein in der Angst entzogen, die Aussicht auf eine andere Welt hingegen nicht erschlossen, sondern im Gegenteil verschlossen. So stellt die Angst das Dasein ganz auf sich selbst. „Die alltägliche Vertrautheit bricht in sich zusammen, das Dasein ist vereinzelt, das jedoch als In-der-Welt-sein. Das In-sein kommt in den existenzialen ‚Modus‘ des Un-zuhause. Nichts anderes meint die Rede von der ‚Unheimlichkeit‘.“ (189) Das um sich und seine Welt besorgte Dasein ängstigt sich, wenn es mit der Frage nach dem Grund seiner selbst und seines Seinkönnens konfrontiert wird. Angst ist nach Heidegger paradigmatisch für die Sorgestruktur menschlichen Daseins und seiner Lebensvollzüge in der Welt. Welchen Status innerhalb seiner fundamentalontologischen Daseinsanalyse erkennt er ihr zu? Denjenigen eines Existentials, so viel ist klar. Doch was besagt es für die existentielle Verfassung des Daseins konkret, dass es sich aus elementarer Sorge um seinen Bestand und Erhalt heraus ängstigt? Gehört die Angst, theologisch zu reden, dem status integritatis oder dem status corruptionis an? Gehört sie zum urständischen Dasein oder ist sie ein Verfallssymptom? Letzteres wird man unabhängig von der Frage kriteriologischer Angemessenheit der traditionellen Unterscheidung von Urstand und Fall in Bezug auf Heidegger nicht sagen können. Ihm zufolge ist die Grundbefindlichkeit der Angst eine ausgezeichnete Erschlossenheit des Daseins, weil es dieses vereinzelt. Diese Vereinzelung holt das Dasein aus seinem Verfallen zurück und macht ihm Eigentlichkeit und Uneigentlichkeit als Möglichkeiten seines Seins offenbar. Diese Grundmöglichkeiten des Daseins, das je meines ist, zeigen sich in der Angst wie an ihnen selbst, unverstellt durch innerweltliches Seiendes, daran sich das Dasein zunächst und zumeist klammert. (191)

Indem sie das Dasein seiner Weltverfallenheit entnimmt und ihm die Möglichkeit einer Wahl zwischen Eigentlichkeit und Uneigentlichkeit seiner selbst erschließt, eröffnet ihm die Angst das „Freisein für das eigenste Seinkönnen“ (ebd.), jedoch, wie man hinzufügen muss, in der Weise lediglich formaler, nicht schon reali-

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sierter Freiheit.63 Bleibt sonach die Angst als Angst noch mit einem Indifferenzmoment versehen, das sie, wie noch zu zeigen sein wird, zumindest momentan mit der durchschnittlichen Daseinsalltäglichkeit verbindet, aus der sie heraustreibt, so gilt sie Heidegger gleichwohl nicht als ein manifestes Indiz des Falls bzw. der Verfallenheit des Daseins. Genau als solches dagegen wertet es Pannenberg im Verein mit der Sorge. Das strukturelle Kennzeichen des Daseins nämlich können beide nach Pannenberg nur dann sein, wenn das Ich sich selbst als Inbegriff seines Daseins will, nur da also, wo der amor sui das Zentrum der menschlichen Existenz ist. Sofern wir von der Sorge um uns selbst, im Sinne der besorgenden Umsicht Heideggers beherrscht werden, leben wir schon nicht mehr aus einem unser Verhalten tragenden Vertrauen, sondern im Streben nach Sicherung. Wo solches Streben nach Sicherung und Verfügung über die Bedingungen unseres Lebens uns ganz beherrscht, da wird unser Leben vom amor sui, von der Sünde regiert.64

Zwar ist das Streben nach Selbsterhaltung eines endlichen Wesens nach Pannenberg keineswegs per se verkehrt, sondern vom schöpferischen Grund des Seins her geboten. Sofern sie im Vertrauen auf diesen geschehe, könne die Sorge des Daseins um sich und seine Welt als bestimmungsgemäß und lebensförderlich gelten. Verbinde sich die Sorge hingegen mit Angst, dann werde sie zum Ausdruck jener Verkehrung des menschlichen Verhaltens, die daraus resultiert, daß Liebe zum eigenen Ich, die nur noch um sich selber besorgt ist, das Zentrum der Existenz besetzt hält. Diese Verkehrung der menschlichen Verhaltensstruktur äußert sich in der Angst, wenn anders Heidegger recht hatte, daß sich in der Angst die Grundstruktur des menschlichen Daseins als Sorge bekundet. Seine Analyse bestätigt also, daß Angst bereits selber als Ausdruck der Sünde zu verstehen ist und nicht, wie Kierkegaard wollte, eine ‚Zwischenbestimmung‘ im Übergang von einer ursprünglichen Unschuld zur Sünde bilden kann.65

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Uneigentliches und eigentliches Dasein. Vom Man und vom wahren Selbstsein

Heidegger wollte kein Ontotheologe sein, sondern Philosophie ohne theistische Prämissen betreiben. Insoweit bekannte er sich zu einem philosophischen ATheismus. Gleichwohl meinten Interpreten, in seinem Werk „Züge einer gott63 Strukturell bestimmt wird das angsterschlossene (Frei-)Sein zum eigensten Seinkönnen von Heidegger als „Sich-vorweg-sein des Daseins“ (192). In diesem soll „die existenzial-ontologische Bedingung der Möglichkeit des Freiseins für eigentliche existentielle Möglichkeiten“ (193) begründet liegen. 64 W. Pannenberg, Anthropologie in theologischer Perspektive, 99f. 65 A. a. O., 100.

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losen Theologie“66 entdecken zu können, und haben „der inhaltlichen Grundstruktur der Analysen von ‚Sein und Zeit‘ die klassische Gestalt einer christlichen Standard-Dogmatik“67 gegenübergestellt, um zu belegen, dass die Momente der Heideggerschen Daseinsanalyse „jeweils als profanierte, säkularisierte Schritte des christlichen Heils- und Erlösungsdramas lesbar sind“68. Der klassischen Protologie entspreche die Lehre faktischen In-der-Welt-Seins, der Hamartiologie diejenige vom Verfallensein des Daseins ans Man, der Soteriologie die Phänomenologie der durch Todesprolepse erschlossenen Eigentlichkeit, der Pneumatologie und der Eschatologie die Thematik einer durch entschlossenes Vorlaufen zum Ende vollendeten Ganzheit, auf die Heideggers philosophisches Denken angelegt sei. Sieht man genauer zu, dann erweisen sich die Übergänge allerdings im Einzelnen als fließend und lassen sich nicht ohne Weiteres in eine vorgefertigte Systematik einzeichnen.69 Die Analyse der Angst hatte bereits Anlass zu dieser Vermutung gegeben; eine weitere Bestätigung für sie liefert die Betrachtung durchschnittlicher Daseinsalltäglichkeit, wie Heidegger sie mit dem Kürzel „Man“ pointiert und einprägsam umschrieben hat. Dasein als In-der-Welt-Sein existiert nach Heidegger im Modus der Uneigentlichkeit, der Eigentlichkeit oder „in der modalen Indifferenz“ (53). Mit dem indifferenten Existenzmodus wird in „Sein und Zeit“ die Weise alltäglichen Daseins verbunden. Im durchschnittlichen Alltag existiert man gewissermaßen jenseits von gut und böse; man ist da, wie man eben gewohnheitsmäßig und üblicherweise da ist, nämlich in gleichsam präreflexiver Selbstverständlichkeit und ohne das Dasein selbst eigens zum Thema zu machen. Heidegger hat das Dasein im Indifferenzmodus als die Existenzweise des „Man“ charakterisiert. Man ist geneigt, damit vorweg Pejoratives zu assoziieren. Doch ist Vorsicht geboten. Immer wieder hat Heidegger in seinen Vorlesungen davor gewarnt, den Begriff des „Man“ generalisierend mit abschätziger Bedeutung zu gebrauchen. Er ist nicht eindeutig der Uneigentlichkeit zuzuweisen, sondern durch Uneindeutigkeit, Unentschiedenheit, Indifferenz gekennzeichnet. Sucht man einen Vergleich, so legt sich derjenige mit der träumenden Unschuld nahe, wie sie den Naturburschen und die Schönheit vom Lande charakterisiert, deren unbedarftes Verhältnis zueinander noch von keiner Reflexion und keiner Art von Differenzierung getrübt ist. Dass es dabei nicht bleiben kann, ist freilich klar. Indifferenz kann nichts anderes sein als ein transitorisches Moment. Sucht das Dasein am

66 Th. Rentsch, „Sein und Zeit“. Fundamentalontologie als Hermeneutik der Endlichkeit, in: D. Thomä (Hg.), Heidegger-Handbuch, 48–74, hier: 67. 67 Ders., Martin Heidegger. Das Sein und der Tod. Eine kritische Einführung, München/Zürich 1989, 149. 68 A. a. O., 150. 69 Vgl. ebd.

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„Man“ festzuhalten, dann verfällt es ihm zwangsläufig und die Unschuld durchschnittlicher Alltagsexistenz ist dahin. Das Dasein, so wurde gesagt, ist in seiner Jemeinigkeit seiner Grundverfassung nach In-der-Welt-sein überhaupt. Diese Verfassung bringt es mit sich, dass das Dasein von der Welt gewöhnlich dergestalt „benommen“ (113) ist, dass es recht eigentlich nicht zu sich kommt. Zwar ist es auch in seiner Alltäglichkeit es selbst; aber sein Selbstsein tritt nicht offen zutage, sondern bleibt in die Welt versenkt und unter ihr verborgen. Von daher kann Heidegger sagen, „daß das Dasein zunächst und zumeist nicht es selbst ist“ (115). Dies gilt auch hinsichtlich des alltäglichen und durchschnittlichen Miteinanderseins des Daseins. Wohl ist Dasein wesentlich Mitsein und ohne das Mitdasein anderer nicht zu denken: „Auch das Alleinsein des Daseins ist Mitsein in der Welt.“ (120) Doch begegnet das Mitdasein anderer „vielfach aus dem innerweltlich Zuhandenen her“ (ebd.) und „im Modus der Gleichgültigkeit und Fremdheit“ (121). Wie das Selbstsein ist dann auch das Mitsein in der Welt verborgen, benommen von ihr. Im durchschnittlichen Alltag geht das eigene Dasein als Selbstsein und Mitsein mit anderen, die mit mir nach Art des Daseins da sind, in demjenigen auf, was „Man“ heißt. Wir genießen und vergnügen uns, wie man genießt; wir lesen, sehen und urteilen über Literatur und Musik, wie man sieht und urteilt; wir ziehen uns aber auch vom ‚großen Haufen‘ zurück, wie man sich zurückzieht; wir finden ‚empörend‘, was man empörend findet. Das Man, das kein bestimmtes ist und das Alle, obzwar nicht als Summe, sind, schreibt die Seinsart der Alltäglichkeit vor. (126f.)

Durchschnittlichkeit „ist ein existenzialer Charakter des Man“ (127). Im „Man“ ist man zwar man selbst und so mit anderen wie man miteinander nun einmal ist; aber es handelt sich um ein indifferentes Selbstsein und Mitsein des Daseins. In seiner Indifferenz, so wurde gesagt, ist das „Man“ nicht eindeutig der uneigentlichen Existenz zuzurechnen. Dennoch kann sein gleichsam neutraler Charakter nicht mehr und nichts anderes sein als ein Durchgangsstadium, auf dem zu insistieren Daseinsverkehrung zwangsläufig nach sich zieht. Wird seine Uneindeutigkeit nicht eindeutig identifiziert, dann wird das „Man“ nicht nur zweideutig, sondern eindeutig verkehrt und zu einer Verfallenheitsform des Daseins. Entsprechendes gilt für die Unentschiedenheit des Alltagsdaseins. Sich grundsätzlich für sie zu entscheiden, stellt bereits einen Entscheid für dasjenige dar, was Heidegger uneigentliche Existenz nennt. Eigentlichkeit ist nur unter der Voraussetzung zu erlangen, dass das Dasein nicht auf seinem Indifferenzmodus beharrt, sondern ihn und mit ihm das „Man“ transzendiert, ohne dass deshalb die anfängliche Herkunft aus ihm, die eine durchaus bleibende Verbundenheit begründet, geleugnet werden müsste.

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Das Alltagsdasein in seiner Durchschnittlichkeit ist keineswegs per se schlecht. Wird es nicht zum Maß aller Dinge erklärt, kann ihm eine Bestandserhaltungs- und Entlastungsfunktion durchaus zugebilligt werden. In ihr besteht die existentielle Bestimmung der Alltäglichkeit als Existential, das nach Heidegger „als ursprüngliches Phänomen zur positiven Verfassung des Daseins“ (129) gehört, obwohl es das Dasein von seinem eigentlichen Selbstsein abhalten kann. „Das Selbst des alltäglichen Daseins ist das Man-selbst, das wir von dem eigentlichen, d. h. eigens ergriffenen Selbst unterscheiden. Als Man-selbst ist das jeweilige Dasein in das Man zerstreut und muß sich erst finden.“ (Ebd.) Um zu sich und zu eigentlichem Selbstsein zu finden, muss das Dasein seine Alltäglichkeit und die Durchschnittlichkeit des Miteinanders, in der es sich bewegt, hinter sich lassen. Dies kann nicht durch einen Alternativentwurf zum Man, sondern nur durch eine Abänderung von innen heraus erfolgen. „Das eigentliche Selbstsein beruht nicht auf einem vom Man abgelösten Ausnahmezustand des Subjekts, sondern ist eine existentielle Modifikation des Man als eines wesenhaften Existenzials.“ (130) Die existentielle Modifikation des Man als eines wesenhaften Existentials erfolgt im Sinne eigentlicher Existenz, wenn die durchschnittliche Alltäglichkeit zu einem transitorischen Moment wahren Selbstseins herabgesetzt wird. Andernfalls verfällt das Dasein dem „Man“ und verkommt zu uneigentlicher Existenz. Das Dasein kann sich zur Alternative von Eigentlichkeit und Uneigentlichkeit nicht nicht verhalten, weil das Verhältnis zu ihr Implikat seines Selbstverhältnisses ist. Das Sein des Seienden, welches die Analytik des Daseins thematisiert, ist „je meines“ (41) und in seiner Jemeinigkeit wesentlich existierendes Sein, Zu-sein, wie Heidegger sagt. Sein Was-sein muss aus seinem Zu-sein, seine essentia aus seiner existentia heraus begriffen werden. Als Jemeiniges ist das Dasein, dessen Wesen in seiner Existenz begründet liegt, sonach immer schon durch eine Seinsweise bestimmt, für die es „irgendwie entschieden“ (42) ist. Es verhält sich zu sich und dem Sein, das sein eigenes ist, entweder eigentlich oder uneigentlich. Eigentlich existiert es, wenn es sein Sein entschlossen als das seine ergreift statt sich dem anonymen „Man“ hinzugeben, uneigentlich, wenn es in der Alltagsdurchschnittlichkeit aufgeht und sich an die gegenständliche Welt veräußert. Als Beispiele uneigentlichen Existierens führt Heidegger das Gerede und die ständige Gier nach Neuem aus. Im Gerede zersetzt sich der Sinn der Sprache: Man spricht, was man so sagt und „weil man es sagt“ (168). Die Neugier hinwiederum kommt nicht zur Sache, weil sie nicht bei ihr verweilt, sondern sich beständig der Zerstreuung hingibt.70 Als dritte im unseligen Bunde tritt die Zweideutigkeit auf; „sie 70 Begleitet wird die ständige Gier nach Neuem von jener grenzenlosen Langeweile, die Heidegger in der Freiburger Metaphysikvorlesung von 1929/30 in großer Ausführlichkeit be-

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spielt der Neugier immer das zu, was sie sucht, und gibt dem Gerede den Schein, als würde in ihm alles entschieden“ (174). Im durchschnittlichen Gerede und der alltäglichen Neugier samt den Zweideutigkeiten, die sie mit sich führen, geht das Dasein im äußeren Miteinander auf, ohne eigentlich zu sich selbst zu gelangen. Es ist der Welt verfallen, in der es ist und „die selbst zu seinem Sein gehört“ (176), sodass Weltverfallenheit zugleich als Selbstverfallenheit zu charakterisieren ist. Selbstverfallenheit geht in der Regel mit gesteigerter Selbstgewissheit, Weltverfallenheit mit einer Entschiedenheit einher, die keiner Entscheidungen mehr bedarf, weil sie beruhigt dem folgt, was gerade „läuft“ und im Betrieb ist. So verbreitet das Man „eine wachsende Unbedürftigkeit hinsichtlich des eigentlichen befindlichen Verstehens“ (177). Gerade in solcher Unbedarftheit ist die Versuchung begründet, der das Dasein faktisch immer schon erlegen ist. Seine Verfallenheit mit dem Sündenfall zu assoziieren liegt nahe, auch wenn Heidegger zu bedenken gibt: „Die Verfallenheit des Daseins darf … nicht als ‚Fall‘ aus einem reineren und höheren ‚Urstand‘ aufgefasst werden. Davon haben wir ontisch nicht nur keine Erfahrung, sondern auch ontologisch keine Möglichkeiten und Leitfaden der Interpretation.“ (176) Obwohl sie von einem protologischen status integritatis weder ontisch noch ontologisch etwas weiß bzw. wissen will, kennt Heideggers Existentialanalytik gleichwohl einen Urstand des Daseins, in dem sich dieses „an ihm selbst und von ihm selbst her“ (16) in, wie es heißt, vorontologischer Ursprünglichkeit zeigt, nämlich „in seiner durchschnittlichen Alltäglichkeit“ (ebd.), die das „Zunächst und Zumeist“ (43) des Daseins ausmacht.71 Sie stellt die Normalität des Daseins

schrieben hat. Drei Grundformen werden dabei unterschieden: das Gelangweiltwerden von etwas, das Sichlangweilen bei etwas und die tiefe Langeweile als das „es ist einem langweilig“. Ein abschließendes Kapitel ist der Frage nach einer bestimmten tiefen Langeweile als der Grundstimmung unseres heutigen Daseins gewidmet, die sich durch keinen Zeitvertreib beseitigen lässt. Sie ist Heidegger zufolge durch eine spezifische Leergelassenheit, die in der Weise des Ausbleibens bzw. Sichversagens der wesenhaften Daseinsbedrängnis eine wesentliche Not im Ganzen indiziere, sowie durch eine entsprechende Hingehaltenheit gekennzeichnet, die als im Ausbleiben der Bedrängnis mitangesagte Zumutung des Daseins als solchen umschrieben wird (vgl. GA 29/30, 242ff.). Die durch Leergelassen- und Hingehaltenheit charakterisierte tiefe Langeweile enthalte die Aufforderung des Daseins zu dem Entschluss, sich erneut echtes Wissen um dasjenige zu verschaffen, „worin das eigentlich Ermöglichende seiner selbst besteht. Und was ist das? Daß dem Dasein als solchem immer wieder der Augenblick bevorstehen muß, in dem es sich vor sich selbst als das eigentlich Verbindliche bringt.“ (GA 29/30, 247) Um seine Not zu wenden, hat das Dasein sich nicht zu diesem oder jenem, sondern notwendigerweise für und zu sich selbst zu entschließen und sich dezidiert dazu zu entscheiden, entschieden zu sein. 71 Daseinsalltäglichkeit darf Heidegger zufolge nicht mit einer primitiven Entwicklungsstufe des Menschengeschlechts verwechselt werden, da ihr Seinsmodus die Durchschnittsexistenz an allen Orten und zu allen Zeiten und zwar auch in sog. Hochkulturen kennzeichnet. In ihrer Durchschnittlichkeit lässt sie sich daher nicht durch anthropologisch-ethnologische oder

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dar, ohne doch dessen Norm zu sein. Das wird spätestens dann manifest, wenn mit Ausnahmen von der Regel zu rechnen ist, die sie nicht bestätigen, und mit Fällen, die als Unfälle zu qualifizieren sind und das Dasein an seine Grenzen führen. Dann werden seine Endlichkeit und sein mögliches Enden offenbar und Angst stellt sich ein, der das Dasein als grund- und bodenlos erscheint. Die Angst ängstigt sich nicht vor diesem oder jenem, sondern vor nichts, dem Nichts, das alles in seine Nichtigkeit zu ziehen und zu vernichten droht. In der Angst ist der alltägliche Schein vergangen72, und die Durchschnittsnorm bietet keinen Halt mehr. Das „Man“ überlässt das Dasein sich selbst, das allein und ganz auf sich gestellt zurückbleibt. Man ist nicht mehr „Man-selbst“ (181), wenn man sich ängstigt. Die Angst vor dem Nichts mortifiziert; sie tötet, wenn man so will, den alten Adam. Darin ist sie der Funktion vergleichbar, welche reformatorische Theologie dem usus elenchticus legis und der Anklage des Gewissens zuerkannt hat. Tatsächlich bringt Heidegger die Nichtigkeitsangst, die das Dasein aus der alltäglichen Durchschnittsexistenz des Man herausreißt und mit sich selbst in seiner Jemeinigkeit konfrontiert, mit dem Ruf des Gewissens in Verbindung. Im Gewissensruf, der sich Heidegger zufolge in der Angst äußert, wird dem Dasein ein Zweifaches bewusst, nämlich, zum einen, was es sich selbst schuldig ist, und zum andern, was es sich selbst schuldig blieb. Das Gewissen bringt dem Dasein im Modus der Angst auf nicht falsifizierbare Weise zur Gewissheit, was es sich selbst schuldig ist und schuldig blieb. Was es in Wahrheit schuldig ist, schuldet es nicht diesem oder jenem, sondern sich selbst; auch ist das Dasein nicht irgendetwas, sondern allein dies schuldig, sich selbst gemäß und seiner eigenen Bestimmung entsprechend, will heißen: eigentlich zu sein. Eigentlich existiert das Dasein in Entsprechung, uneigentlich im Widerspruch zu sich selbst. Im Gewissen ruft das Dasein sich selbst dazu auf, eigentlich zu sein. Gewissenhaftes Dasein entspricht diesem Ruf, gewissenloses versagt sich ihm. Der Gewissenhafte existiert selbstentsprechend, der Gewissenlose selbstwidersprechend. Alle Verfehlungen sind nach Heidegger Folgen von Selbstverfehlung. Schuld heißt das Schuldigbleiben bzw. -gebliebensein dessen, was das Dasein sich selbst schuldet. Damit hat Heidegger dem Schuldbegriff eine Dimension wiedergewonnen, die umgangsprachlich noch in Wendungen wie ‚jemandem (oder sich selbst) etwas schuldig sein‘ erhalten ist: Zur Schuld gehört nicht nur der auf eine Verfehlung bezogene Schuldanderweitige Erforschungen von Primitivität erfassen, sondern nur durch ontologische Erhebung ihrer Grundstruktur. 72 Die durch den Alltagsschein bewirkte Verblendung führt u. a. dazu, dass man das Unscheinbare übersieht. Es wird wesentlich, wenn die in ihm verborgene Wahrheit entdeckt wird (vgl. S. Ziegler, Matter Schein. Zu Heideggers Phänomenologie des Unscheinbaren, in: HSt 30 [2014], 97–108).

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vorwurf (reatus), sondern schon die Verpflichtung (debitum). Und nur von der Verpflichtung her wird die Verfehlung als Schuld verständlich.73

Erst wer im Bewusstsein verpflichtenden Schuldigseins Verantwortung übernimmt, wird sich das Schuldiggebliebene und das pflichtwidrig Verursachte als Schuld zurechnen lassen. Pannenberg zählt es zu den größten Verdiensten Heideggers, den Begriff der Schuld von der Selbstverantwortung bzw. von demjenigen her entwickelt zu haben, was das Dasein sich selbst schuldig ist. Eine Verantwortung, die nicht Selbstverantwortung wäre, könnte nur auf Heteronomie beruhen, auf einer dem Menschen aufgenötigten Norm, die keinen Bezug zu seinem Selbstsein hätte. Und einer in Wahrheit heteronomen Norm gegenüber kann sich der Handelnde nur so lange verantwortlich fühlen, wie er diese Norm (irrtümlich) für eine Bedingung seines wahrhaften Selbstseins hält.74

Dies erkannt und neu erschlossen zu haben, müsse Heidegger als Leistung angerechnet werden. Doch sei diese erkauft worden durch eine Verdeckung des eigentlichen Gewissensphänomens, das vom Bewußtsein der Schuld im Sinne der schon gebrochenen Verpflichtung und des nicht mehr ungeschehen zu machenden Unrechts ausgeht. Seine Analyse verfehlt die Tiefe der im Schuldbewußtsein sich bekundenden Nichtidentität, die nicht nur in der Inauthentizität der Verlorenheit in das anonyme Man besteht75,

sondern im Verfehlen der allgemein verbindlichen Gemeinschaftsordnung. Indem Heidegger vom gemeinschaftlichen Ethos abstrahiere und auch in ethischer Hinsicht alles auf die Einzelexistenz abstelle, verkenne er zuletzt auch „die Überwindung der im Gewissen erfahrenen Nichtidentität als im Lebensvollzug der verletzten Gemeinschaft zu vollziehenden Sühne“76. 73 W. Pannenberg, Anthropologie in theologischer Perspektive, 294. 74 Ders., a. a. O., 111. Zum Beleg verweist Pannenberg auf Heideggers Charakteristik des Phänomens des Verantwortlichseins als eines ursprünglichen Schuldigseins des Daseins sowie auf Wilhelm Weischedels – bei Heidegger kurz vor der nationalsozialistischen Machtergreifung angefertigte – Dissertation über „Das Wesen der Verantwortung. Ein Versuch“ (Frankfurt a. M. [1933] 31972). „Der Mensch ist es sich selber schuldig, – nämlich dem wahrhaften Selbst seiner noch nicht voll realisierten Bestimmung, – dieser seiner Bestimmung und so sich selbst zu entsprechen. Insofern ist alle Verantwortung Selbstverantwortung.“ (W. Pannenberg, ebd.) 75 A. a. O., 294f. 76 A. a. O., 295. Das schlechte Gewissen zeigt die Nicht-Identität, ja den Widerspruch an, in dem das Dasein faktisch zu seiner Bestimmung zu eigenem und eigentlichem Selbstsein steht. „Insofern in allen konkreten Verfehlungen gegen andere zugleich das eigene Selbstsein verwirkt wird, kann das Urteil der Nichtidentität als die allgemeine Form aller Gewissensurteile gelten. Doch nur als ihre subjektive Form, weil von allen Bezügen auf die soziale Weltordnung abgesehen wird. Darüber hinaus trifft Heideggers Beschreibung auch eine spezifisch moderne Erfahrung, nämlich das Aufkommen des Bewußtseins einer faktischen

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Pannenbergs Kritik am Gewissensbegriff Heideggers, die sich in seinen Vorbehalten gegenüber dessen Deutung der Angst bereits abgezeichnet hatte, findet ihre Fortsetzung und Zuspitzung in der Auseinandersetzung mit dem Konzept einer durch Todesprolepse zu erreichenden Daseinsvollendung.77 Welche Bewandnis hat es mit der Heideggerschen Todesantizipation, zu der das in der Angst sich unüberhörbar meldende Gewissen aufruft? Keiner hat den Tod je erlebt, jeder ihn nur in Bezug auf das Sterben anderer erfahren, das ihn nicht unmittelbar selbst betrifft. Zwar ist die Betroffenheit umso größer, je näher einem der sterbende bzw. gestorbene Andere steht oder stand. Der Tod der Nächsten rührt das Dasein am tiefsten und trifft es ins Herz. Dennoch bleibt der Hinterbliebene auch unter diesen Bedingungen hinter dem erfolgten Ende zurück, da es nicht sein Ende ist und seines nicht sein kann. Stellvertretung hat im Tode nicht statt. Während Vertretbarkeit zum Miteinanderdasein in der Welt unzweifelhaft hinzugehört, hört das Miteinander nach Heidegger am letzten Ende auf, eine realisierbare Möglichkeit zu sein. Auch wenn einer für einen anderen in den Tod zu gehen vermag, so kann er ihm doch dadurch sein persönliches Sterben nicht abnehmen, das als das unvertretbar eigene bevorsteht. Im Tod als dem Ende des endlichen Daseins wird mithin dessen Unvertretbarkeit manifest, jedenfalls dann, wenn das Enden des Daseins nicht lediglich als das äußerliche Faktum eines Zu-Ende-Seins registriert, sondern aus vollzogener Innenkehr heraus vom Zu-Ende-Gehen der Eigenexistenz her begriffen wird. Dasein ist von Anfang an ein Sein zum Ende; Enden bestimmt das gesamte Beginnen des Lebens. Wie es in einem Sinnspruch des Ackermanns von Böhmen heißt: „Sobald ein Mensch zum Leben kommt, sogleich ist er alt genug zu sterben.“ (245) Dabei sind Sterben und Tod wesensmäßig jemeinig und manifeste Indizien der tatsächlichen Unvertretbarkeit des Daseins. Integriert das Dasein durch Vorlauf zum Tode und durch Antizipation seines Endes die Unmöglichkeit, vertreten zu werden, in sein Selbstverständnis und steht entschlossen zu seiner Unvertretbarkeit, dann wird es Heidegger zufolge ganz und gelangt zu seiner Eigentlichkeit. Zwar steht das antizipierte Ende chronologisch noch aus; aber proleptisch ist es im Dasein bereits hier und jetzt präsent, um dieses kairologisch zum Werden dessen zu bestimmen, was es noch nicht ist. Die Zukunft des Daseins ist so gesehen kein Ausständiges in Form eines Nichtzuhandenen, sondern da als die offene Möglichkeit, existentiell zu sich zu stehen. Solange das Entfremdung. Dabei hält aber die Isolierung des Selbstverhältnisses in Heideggers Gewissensruf das Bewußtsein in seiner Entfremdung fest. Die Gewaltsamkeit der ‚Wahl‘ führt nicht aus ihr heraus, sondern allenfalls (mit Kierkegaard) in die Verzweiflung.“ (A. a. O., 301. Zu Reue und Sühne als Modi der Schuldbewältigung vgl. 301ff.) 77 Zur Todesfaszination der 1920er Jahre und zu Heideggers Umgang mit ihr vgl. H. U. Gumbrecht, Tod im Kontext. Heideggers Umgang mit einer Faszination der 1920er Jahre, in: D. Thomä (Hg.), Heidegger-Handbuch, 75–80.

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Dasein existiert, bleibt diese Möglichkeit gegeben; ist das Dasein aber nicht mehr da, dann besteht auch keine Notwendigkeit mehr zu ihr und zwar prinzipiell nicht. Das unaufhörliche Sein von Existenzmöglichkeiten stellt nach Heidegger insofern keinen Widerspruch dar zum faktischen Aufhören von Dasein. Nimmt man nämlich den Tod als ein Lebensphänomen, genauer: als die Zukunft des eigenen Lebens wahr, dann gehört das Ende, für welches er steht, konstitutiv zu dessen Bestand dergestalt, dass Zu-Ende-Gehen der eigenen Existenz phänomenologisch zusammenzuschauen ist mit seiner durch nichts in der Welt abzugeltenden Unendlichkeitsdimension. Der in den Existenzvollzug integrierte Tod macht das Dasein nicht fertig, sondern eröffnet ihm Eigentlichkeit und Ganzheit sowie jenen Mut zum Sein, der alle Angst überwindet, indem er sie in sich birgt. Wie kommt es zu diesem Mut? Nach Heidegger durch nichts als durch einen entschlossenen Entscheid, dessen Entschiedenheit allein in ihm selbst gründet. Während das Dasein, welches sich einreden lässt bzw. selbst einredet, dass es im Grunde kein Ende mit ihm haben werde, der Uneigentlichkeit verfällt, existiert es eigentlich, wenn es sein Ende in sich fasst und die Todesangst als die Angst vor dem eigensten Seinkönnen durch entschiedenes Ergreifen der Daseinsmöglichkeiten überwindet. Zum eigentlichen Dasein gehört im Unterschied zum uneigentlichen Dasein Mut zur Angst, ohne welchen diese nicht durch Aufhebung in den entschiedenen Daseinsvollzug überwunden werden kann. Angst lässt sich nicht durch vermeintliche Gleichgültigkeit beherrschen, die kein Datum der Überlegenheit, sondern einen Beleg jener Verdrängung darstellt, die das Alltagsbewusstsein beherrscht. Herr werden kann man der Angst nicht auf man-, sondern nur auf mannhafte Weise dergestalt, dass man ihr in sich gefasst standhält, ohne ihr zu erliegen. Dasein als Sein zum Tode weicht, wenn es eigentlich ist, seinem Ende nicht aus und flieht dieses nicht, sondern nimmt es auf sich und lässt es sich als seine eigene Bestimmung auf Vollendung hin gefallen. Vollendetes Dasein ist kein endloses, sondern ein sein Ende umfassendes und in sich begreifendes Dasein. Dass das Dasein der vollendete Inbegriff seiner Endlichkeit zu sein vermag, wird nach Heidegger durch die Tatsache nicht falsifiziert, dass es dasjenige, was zu sein es bestimmt ist, stets nur in vorläufiger Weise sein kann. Denn Vorläufigkeit entspricht seinem Existenzcharakter, der sich nur im proleptischen Aus-sein-auf und in Antizipation künftigen Endens realisieren lässt. In seinem Vorlauf zum Tode ist das Dasein unüberholbar, sein Sein in Gänze, eigentlich es selbst. Vollendet ist das Dasein, wenn es sein eigenes Ende in sich zu bergen vermag. Wird es chronologisch distanziert und auf ein berechnet erwartbares Ende verschoben, bleibt das Ende dem Dasein äußerlich. Zur eigenen wird die Daseinsendlichkeit nach Heidegger erst, wenn sie im Durchgang durch abgründige Angst und im Vorgriff auf den Tod entschieden affirmiert wird. Dann wird die Zeitlichkeit des Daseins Ereignis, und die Existenz, die je die meine ist, hebt an,

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eigent- und ganzheitlich zu existieren. Chronologisch und damit äußerlich betrachtet scheint sich die Eigentlichkeit und Ganzheit des Daseins in einem bloßen Augenblick zu erschöpfen, welcher in dem Moment, in dem er beginnt, faktisch schon der Vergangenheit anheimfällt. Der phänomenologischen Innenschau dagegen gibt sich die Prolepse, in welcher das Dasein sein eigenes Ende antizipiert, als jener Kairos zu erkennen, welcher das Dasein seiner eigentlichen Bestimmung zuführt und es ganz und integer sein lässt. Im eschatologischen Vorgriff auf seinen Tod und auf das Ende seiner Welt gelangt das Dasein in jenen Integritätsstatus, zu dem es in protologischer Ursprünglichkeit bestimmt ist. Es ist entschlossenes und erschlossenes Sein in der Zeit und in der Geschichte, deren Zeitlichkeit und Geschichtlichkeit wesentlich diejenige des Daseins selbst ist mit der Folge, dass dieses im Grunde unbesorgt und fürsorglich zu leben, ja zu gegebener Zeit auch das Zeitliche zu segnen vermag. Heideggers existentialer Entwurf eines eigentlichen Seins zum Tode, wie er in den §§ 46–53 von „Sein und Zeit“ ausgeführt ist, hat immer wieder Pannenbergs konzentriertes Interesse und seine dezidierte Kritik auf sich gezogen. Wiederholt und mit Nachdruck hat er den Gedanken bestritten, daß das menschliche Leben durch den Tod seine Ganzheit gewinne. Diese Voraussetzung erscheint als zweifelhaft: Der Tod bringt das Leben nicht in seine Ganzheit, sondern bricht es ab, zerstört seine Ganzheit. Darum ist die erhoffte Auferstehung für den christlichen Glauben der Sieg über den Tod, den Paulus den ‚letzten Feind‘ nennt (1 Kor 15,26), nicht nur Offenbarung dessen, was der eigentliche Sinn schon des Todes selbst ist. Wenn der Tod das Leben nicht zur Ganzheit vollendet, sondern abbricht, dann besteht wenig Anlaß, den lebensfeindlichen Charakter des Todes zu bezweifeln, der auch in den biblischen Aussagen über den Tod ganz überwiegend zum Ausdruck kommt.78

Kommt der Tod als denkbarer Kandidat des Ganzheitsstrebens des Daseins nicht infrage, weil dieses, gerade wenn es nach Ganzheit strebt, über ihn und die eigene Endlichkeit immer schon hinausgreift, so wird der Bezugspunkt des proleptischen Vorgriffs anders aufgefasst werden müssen als dies bei Heidegger der Fall ist. Unter dem Gesichtspunkt der „Transzendenz des Personseins“79 hat Pan78 W. Pannenberg, Anthropologie in theologischer Perspektive, 136. 79 A. a. O., 232. Zur Rezeption und Modifikation des Heideggerschen Gedankens, die bewusste Antizipation seines Endes begründe das Ganzseinkönnen des Daseins, in Karl Rahners Thanatologie vgl. W. Pannenberg, Systematische Theologie. Bd. 2, Göttingen 1991, 312f. Die Annahme, der Tod bringe das Dasein in seine Ganzheit, bleibt Pannenberg zufolge auch unter der Voraussetzung kritikbedürftig, dass das Daseinsverhältnis zum Tode mit dem Gottesverhältnis verbunden wird. Diese Verbindung sei zwar theologisch angemessen, aber nur, wenn eine weitere Prämisse in Geltung stehe, nämlich dass von Gott die österliche Überwindung des Todes und die Auferstehung der Toten zu erwarten sei. Vgl. zur Gesamtthematik ferner W. Pannenberg, Systematische Theologie. Bd. 3, Göttingen 1993, 600ff., insbesondere die Überlegungen zum Verhältnis von Endlichkeit und Tod 603ff.: „Das endliche Leben der Geschöpfe ist ein Dasein in der Zeit. Aber es brauchte sich deswegen noch nicht in der

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nenberg dieses Problem in seiner „Anthropologie in theologischer Perspektive“ eingehend thematisiert und dabei die für Personalität unveräußerliche religiöse Dimension herausgestellt. Personales Dasein steht, wenn es sich zu sich und zu der Zukunft verhält, die über seine Totalität und Eigentlichkeit entscheidet, immer schon in einem religiösen Verhältnis. Mit dieser Feststellung ist über die Richtigkeit oder Verkehrtheit dieses Verhältnisses längst nicht befunden, wohl aber gesagt, dass es durch andere Verhältnisse nicht substituiert werden kann, weil diese sich in ihrer Funktion als möglicher Religionsersatz selbst als manifest religiös erweisen. Daraus ergibt sich das Urteil, dass Heideggers Analyse zwar die temporale Verfasstheit des Daseins und die Zukünftigkeit seiner existentiellen Wesensbestimmung zurecht herausgestellt, zu unrecht aber von der Antizipation des Todes als des Daseinsendes die Erschließung der Eigentlichkeit der Existenz und die Vollendung ihrer Endlichkeit erwartet habe.

6.

Vollendete Endlichkeit. Unvordenkliches Innewerden des Ganzen

Aus dem Jahr 1918 und 1919 sind zwei handschriftliche Notizen Heideggers zu F. D. E. Schleiermachers Analysen des religiösen Erfahrens erhalten, die konzeptionelle Aufschlüsse geben können bezüglich der Anlage des Frühwerks bis zu „Sein und Zeit“ und darüber hinaus.80 Das Zeugnis von 1919 ist der Wesensbestimmung der Religion als Anschauung des Universums und Gefühl in der zweiten der Schleiermacherschen Reden über die Religion an die Gebildeten unter ihren Verächtern, dasjenige aus dem Vorjahr den einschlägigen Passagen zum Wesen der Frömmigkeit in Schleiermachers Werk „Der christliche Glaube“ gewidmet (vgl. GA 60, 319–322; 330–332). Beide Aufzeichnungen gehören in den Kontext einer Phänomenologie des religiösen Lebens namentlich im Urchristentum. Wie Schleiermacher in seinen Reden will Heidegger das ursprüngliche Gebrochenheit unserer Zeiterfahrung zu vollziehen, für die das Ganze des Lebens zerrissen ist durch das Auseinanderfallen von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. In der Gegenwart unseres Lebens ist das Vergangene nicht mehr, und seine Zukunft ist noch nicht. Durch diese Zerrissenheit entzieht sich uns immer wieder das Ganze unseres Lebens. Darum ist die Zeit ebensowenig eine theologisch neutrale Größe wie der Tod. Vielmehr ist in der Zerrissenheit unserer Zeiterfahrung die Zeitlichkeit mit der strukturellen Sündhaftigkeit unseres Lebens verwachsen.“ (605) Der Tod ist der Sold ichzentrierter amor sui. Könnten wir bestimmungsgemäß „als wir selbst, als das endliche Ganze unseres Daseins existieren, dann wäre das Ende als Moment in die Identität unseres Daseins integriert und würde ihm darum kein Ende setzen“ (607), jedenfalls kein tödliches. 80 „Zu Schleiermachers Einfluss“ auf den frühen Heidegger vgl. zusammenfassend M. Fischer, Religiöse Erfahrung in der Phänomenologie des frühen Heidegger, 62ff. sowie unten 301 Anm. 45.

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Leben der Religion jenseits von Metaphysik und Moral verorten. Religion ist zwar auf Theorie und Praxis bezogen, aber weder durch Denken noch durch Handeln, weder durch Wissen noch durch Tun zu substituieren. Dieser Einsicht sei methodisch dadurch Rechnung zu tragen, dass man Versuche dogmatischer oder sonstiger Systematisierung, die das religiöse Leben devitalisierten, strikt meide und dieses aus sich selbst heraus zu verstehen suche, ohne zu Formen theoretischen und praktischen Wissens zu greifen, die dem Glauben ursprünglich fremd seien. Gefordert sei ein konsequentes Einfühlen in das religiöse Grundgefühl als eines unmittelbaren Empfindens des Lebens in seiner ungeteilten Gänze und der Totalität menschlicher Existenz in der Welt. Religion ist Schleiermacher zufolge als Gefühl nie bloße affektive Emotion, sondern Innesein eines Selbst und Welt umfassenden und in sich bergenden Sinnganzen und zwar im Modus dessen, was die „Glaubenslehre“ unmittelbares Selbstbewusstsein nennt, um dadurch sowohl auf den aller Theorie und Praxis zuvorkommenden Charakter religiösen Erlebens, als auch darauf zu verweisen, dass dieses Erleben Denken und Handeln gegenüber nicht verschlossen, sondern offen ist, ja sinnvolles Wissen und Tun überhaupt erst erschließt. Dieses Erschließungsgeschehen hat je und je auf eigentümliche Weise statt wie denn die Religion nach Schleiermacher stets „positiv“, d. h. geschichtlich-individuell und damit so verfasst ist, dass sich ein gleichschaltender Vergleich der Religionen und ihre Subsumtion unter einen abstrakten Allgemeinbegriff verbietet. Auch in dieser Hinsicht folgt Heidegger Schleiermacher: Dasein in seiner Denken und Handeln, Wissen und Tun fundierenden Ursprünglichkeit ist Sein in der Zeit. Im religiösen Verhältnis ist diese Wahrnehmung unmittelbar, um nicht zu sagen: gefühlsmäßig mitgesetzt. Aufgabe einer Phänomenologie der Religion muss es sein, sie von innen heraus zu erschließen: Jeder Versuch, die ursprüngliche Geschichtlichkeit des Bewusstseins von Formen theoretisch-reflexiver Distanzierung her zu begreifen, ist hingegen zum Scheitern verurteilt, weil das Bewußtsein ‚nie in der einfachen reinen-Reflexion-des-Ich‘ historisch ist.81

Menschliches Leben ist nicht durch wissenschaftliche Theorie oder durch Tathandlungen zu begründen, sondern sich gegeben und vorausgesetzt dergestalt, dass alle theoretischen und praktischen Setzungen besagte Voraussetzung zur Bedingung ihrer Möglichkeit haben. Heideggers These von der unhintergehbaren 81 S. Patriarca, Heidegger und Schleiermacher. Die Freiburger Aufzeichnungen zur Phänomenologie des religiösen Lebens (1918–1919), in: HSt 18 (2002), 129–156, hier: 143 (vgl. GA 60, 331). Vgl. auch 143f.: „(d)as Bewußtsein erfährt die Welt historisch (und folglich zeitlich). Dieses zeitliche, originell ursprüngliche Erfahren, von dem das Ich sich in keiner Weise distanzieren kann, ist die wirkliche und primäre Manifestation des historischen Bewußtseins.“

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Geschichtlichkeit des Daseins des Menschen in der Welt verweist auf dieses Faktum, dessen Faktizität nach seinem Urteil ursprünglicher anzusetzen ist als alle historisch zu erhebenden Tatsachen. Als Sein in der Zeit ist das Menschendasein geschichtlich verfasst. Diese geschichtliche Verfassung sei die Grundlage alles historischen Geschehens und nicht etwa ein Epiphänomen, welches sich aus dem Verlauf der Historie ableiten lasse. Im religiösen Verhältnis, wie Schleiermacher es verstanden habe, werde dies stimmig erfasst, von der Theologie hingegen notorisch verkannt, jedenfalls dann, wenn sich diese als Wissenschaft (von Gott) verstehe. Jede Theoretisierung und Doktrinalisierung von Religion sei für diese und mit ihr für eine am Urphänomen des Lebens orientierte Philosophie kontraproduktiv. Im Übrigen gelte, was Schleiermacher sagt, dass nämlich eine Religion ohne Gott religiöser sein könne als eine mit Gott. Eine theistische Theologie verkenne das Wesen der Religion nicht weniger als ein theoretischer Atheismus, dessen Wahrheitsmoment lediglich in der Opposition zum Theismus bestehe. Wahre Religiosität transzendiere den Gegensatz von Theismus und Atheismus, den zu beheben mithin auch eine glaubensdienliche Religionslehre zur Aufgabe habe.82 Der Innsbrucker Philosoph Rainer Thurnher hat die These vertreten, dass das Fehlen einer expliziten Erörterung der Gottesfrage bei Heidegger „keineswegs gegen die … wesenhafte Bezogenheit seines Denkens auf das (spreche), was man herkömmlicherweise das Gottesproblem nennt, sondern für diese“83. Schweigen 82 Ähnlich wie Schleiermacher bestimmt Heidegger Theologie nicht von Metaphysik und Moral her, nicht als Onto- oder Ethikotheologie, sonders als Deskription des Glaubens, aus dem heraus sie entstehen und zu dem sie zurückkehren muss. Dieses Verständnis begegnet seit dem Seminar, das Heidegger im August 1917 im privaten Kreis über das Religionsverständnis Schleiermachers gehalten hat (vgl. D. Thomä/R. Mehring, Leben und Werk Martin Heideggers im Kontext, in: D. Thomä [Hg.], Heidegger-Handbuch, 541–468, hier: 545), immer wieder. 83 R. Thurnher, Gott und Ereignis – Heideggers Gegenparadigma zur Onto-Theologie, in: HSt 8 (1992), 81–102, hier: 83. Die nachfolgenden Seitenverweise im Text beziehen sich hierauf. In den „Unbenutzte(n) Vorarbeiten zur Vorlesung vom Wintersemester 1929/30: ‚Die Grundbegriffe der Metaphysik. Welt – Endlichkeit – Einsamkeit‘“ (in: HSt 7 [1991], 5–12) findet sich unter der Überschrift „Transzendenz und ursprüngliche Wahrheit (das ‚Im Ganzen‘)“ folgende Notiz: „In der Transzendenz ein Überstieg – aber das Übersteigende muß bewahrt werden vor dem Übergriff (Hegel), gemäß dem es in seinem absoluten Gehalt (Logik) die Wirklichkeit selbst wird. Das Zurückholen aus diesem Übergriff (Motiv und Weg desselben gesondert erörtern) aber bedeutet nicht die Ausrufung der ‚Ohnmacht‘ der Idee, sondern führt nur zur eigentlichen Aufgabe des Geschehenlassens des Eingriffes in das Seiende. Einbruch und Befreiung – wirkliches Philosophieren.“ (7) Wenig später wird unter der Rubrik „Transzendenz und das Un-bedingte“ die Frage erörtert: „Haben wir das Recht, diese Ganzheit ‚Gott‘ zu nennen? Zunächst – was ist dieses ‚Im Ganzen‘ – ‚Welt‘ – nur eine ‚Form‘? Wie kommen wir hier von der Transzendenz zu der Unterscheidung von Form und Inhalt – determinans und determinatum; welche determinatio! Doch eine logisch-ontische Charakteristik, aber keine transzendentale. Wie steht es um dieses ‚Im Ganzen‘ für die Stimmung! Ohne dieses wäre keine Transzendenz – kein Philosophieren! Dieses hebt selbst diese Voraus‚setzung‘ (?) ins Licht.“ (9) Dazu ist zu vergleichen, was Pannenberg in einem 1978 verfassten,

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könne „eine eigene, eindringliche Form der Behauptung und zugleich eine wirksame Abwehr unangemessenen Sprechens“ (82) sein: „Indem das Denken von Gott schweigt, hebt es sich von der Metaphysik ab, zu der eine explizite Theologie notwendig gehört, insofern diese ihrem Wesen nach Onto-Theologie ist.“ (83) Die Verabschiedung der klassischen Metaphysik schließt die Destruktion ihrer traditionellen ontotheologischen Gestalt notwendigerweise ein. Daraus folgert Thurnher, „dass Heideggers Äußerungen im Umkreis der Gottesfrage nur dann in befriedigender Weise deutbar werden, wenn man sie als integrale Bestandteile eines Gegenparadigmas zur Onto-Theologie auffasst“ (84). Einen Schlüssel zum Verständnis dieses Gegenparadigmas biete der Begriff der Grundstimmung bzw. Grundgestimmtheit, der auf eine vortheoretische und allen bewussten Handlungsvollzügen vorangehende Daseinsbefindlichkeit verweise, die mit demjenigen vergleichbar sei, was Schleiermacher Gefühl bzw. unmittelbares Selbstbewusstsein nenne. Zur Sprache gebracht werden könne die „das Seiende im Ganzen entbergende Gestimmtheit“ (86) nur bedingt, weil sie sich in der Logizität von Aussagen nicht an sich selbst erfassen lasse. Im Schweigen werde dem Unaussprechlichen, das sich in der Grundgestimmtheit des Gefühls des ganzen, ungeteilten Weltdaseins ankündigt, die gebotene Reverenz erwiesen. Seinem Wesen nach sei es Heidegger zufolge alles andere als nichtssagend, indem es zum einen kritisch zum Ausdruck bringe, dass die in entsprechenden Sätzen artikulierte Aussage analog zur religiösen Abkünftigkeit von Metaphysik und Ontotheologie lediglich ein abkünftiger Modus der Rede sei, und zum anderen konstruktiv auf „eine gewandelte Gelichtetheit alles Seienden und einen gewandelten Bezugs alles Seienden zum Menschen und des Menschen zu allem Seienden“ (89) vorausweise. Indem Heidegger von dem als summum ens, ens realissimum, ens necessarium, prima causa etc. bestimmten metaphysischen Gott schweige, wolle er dem kommenden, wahrhaft göttlichen Gott die Bahn bereiten. Heidegger ist Thurnher zufolge kein bzw. ein Atheist nur insofern, als er den ontotheologischen Theismus negiert. Ansonsten habe für ihn die Alternative von Theismus und Atheismus „keine Bedeutung“ (98). Seine Religionstheologie verweise auf ein Jenseits, in dem dieser Gegensatz behoben sei. Sie tue dies im Wesentlichen schweigend, im Modus des Entzugs, wobei zu gelten habe: „Entzug als negativ empfundene Absenz ist immer gepaart mit den Empfindungen wehmütiger Erinnerung (‚Heimweh‘) einerseits und Hoffnung bzw. Erwartung

in den ersten Band der „Beiträge zur Systematischen Theologie“ (Philosophie, Religion, Offenbarung, Göttingen 1999, 85–100) aufgenommenen Text über „Die Bedeutung der Kategorien ‚Teil‘ und ‚Ganzes‘ für die Wissenschaftstheorie der Theologie“ geäußert hat; zum Verhältnis der Ausführungen zu Hegels Logik vgl. 97ff.

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oder Sehnsucht andererseits.“ (Ebd.) Heidegger sei ein Theologe „der Gottferne und des Entzugs des Göttlichen“ (99), kein Theist, aber auch kein Atheist. Der Atheismus verhält sich zur Theologie der Gottferne wie das Nein zum Nicht. Jener gehört in die Theologik und verneint die Existenz Gottes. Diese hingegen hat die Hermeneutik eines bestimmten Entzugs, nämlich des Sich-Entzogen-Habens des Göttlichen zum Ausgangspunkt, von dem aus sie sowohl zurück auf ein Da-Gewesensein, hin auf ein Fehlen in der Gegenwart und voraus auf eine mögliche Ankunft blickt. (Ebd.)

Wie immer es um des frühen und des späten Heidegger Gegenparadigma zur Onto-Theologie im Einzelnen bestellt sein mag: Die Gründe seiner Metaphysikabstinenz sind mit denjenigen, die Schleiermacher für seine Reserve anführt, durchaus vergleichbar, auch wenn Heidegger daran gelegen, seinen Ansatz als völlig unvergleichlich erscheinen zu lassen. Zunächst, so wird schlicht registriert, ist Metaphysik der bibliothekarische „Sammelname für diejenigen Abhandlungen des Aristoteles, die den zur ‚Physik‘ gehörigen nachgeordnet sind“ (GA 3,6), sodann die Bezeichnung derjenigen Philosophie, die das über die Natur Hinausgehende, sie Transzendierende thematisiert sowie nach den ersten und letzten Gründen all dessen fragt, was ist. Als allgemeine Ontologie forscht die traditionelle Metaphysik nach dem Sein des Seienden als solchem; im Besonderen hinwiederum war ihr Thema das Sein selbst, welches allem Seienden sein Sein gibt; die Metaphysik nahm so ontotheologische Verfassung an. Nach Heidegger kann die traditionelle metaphysische Ontotheologie und mit ihr die Metaphysik insgesamt keine berechtigte Fortsetzung finden. Beide seien an ihr Ende gelangt bzw., wie es heißt, definitiv zu verwinden. Das Grundgebrechen einer ontotheologisch verfassten Metaphysik habe seit ihren griechischen Anfängen darin bestanden, die Frage nach dem Sein des Seienden durch Verweis auf einen alles bedingenden Grund, also ursprungslogisch beantwortet zu haben. Die Differenz von Sein selbst und Seiendem werde dabei stillschweigend vorausgesetzt, ohne als Differenz bedacht zu werden. Seinsvergessenheit sei die zwangsläufige Folge dieses unbedachten Vorgehens. Heideggers ganzes denkerisches Dichten und Trachten ist nach eigenem Bekunden darauf angelegt, die Onto-theo-Logik der Metaphysik und mit ihr die Seinsvergessenheit zu überwinden, welche sie bedingt. Diese kritische Intention, die er zur Voraussetzung konstruktiver philosophischer Arbeit erklärte, tritt schon in der Vorlesung vom WS 1929/30 über „Die Grundbegriffe der Metaphysik: Welt – Endlichkeit – Einsamkeit“ (GA 29/30), „die in eine Denkphase zwischen dem fundamentalontologischen Ansatz (bis 1927/1928) und dem seinsgeschichtlichen Denken (um 1936) hineingehört“84, deutlich zutage, um

84 J. U. Barrón, Metaphysik als Ontotheologie: Zur Rekonstruktion der Heideggerschen Auffassung der Geschichte der Philosophie, in: HSt 26 (2010), 165–182, hier: 171f.

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dann immer schärfer zur Geltung gebracht zu werden. In der seinsgeschichtlichen Denkphase wird schließlich die Ontotheologie „als Signatur der ganzen Geschichte der Metaphysik angesehen, die es zu ‚überwinden‘ gilt“85. Alle Metaphysik, meint Heidegger, sei seinsvergessen, weil sie das Sein ontologisch nur als Seiendheit, also als das Allgemeinste im Seienden, bzw. theonto-logisch nur als dasjenige gedacht habe, was allem Seienden sein Sein gebe, ohne des Seins als des Seyns selbst und der unausdenklichen Differenz gewahr zu werden, die zwischen diesem und dem logisch-begrifflich zu erfassenden Sein des Seienden walte. Als ein Indiz des überwundenen metaphysischen und des beginnenden postmetaphysischen Zeitalters wertete Heidegger – und zwar desto mehr je älter er wurde – die Vereinigung des Denkens mit dem Dichten als einer poiesis, welche im Unterschied zu wissenschaftlich-technischem Handeln und Begreifen auf die Entbergung des Unvordenklichen und dessen ausgerichtet ist, was aller zweckrationalen Praxis vorausliegt. Die Dichtung und namentlich die Gedichte desjenigen Dichters, der nach Urteil des Philosophen das Wesen aller Kunst und der Dichtkunst zumal am dichtesten zum Ausdruck gebracht hat, Friedrich Hölderlin, tragen Heidegger zufolge die Verheißung in sich, dass sich durch sie für denjenigen, der Ohren hat, zu hören, das Seyn als solches ausspricht und zu Gehör bringt. Geschieht dies, dann setzt sich die Wahrheit selbst ins Werk, wie Heidegger in seiner 1936 in den „Holzwegen“ erschienenen Abhandlung „Der Ursprung des Kunstwerks“ sagt (vgl. etwa GA 5, 65; dazu 67ff.). Dichter, die ihren Namen verdienen, sprechen Heidegger zufolge Urworte aus, in denen sich eine wesentliche und ursprüngliche Menschheitserfahrung artikuliert. „Das Wort ‚Metaphysik‘ ist … kein Urwort“ (GA 29/30, 37)86, sondern 85 A. a. O., 182; nach Heidegger, so Barrón, ist der theologische Charakter der Metaphysik „nicht etwas, was der Ontologie später angefügt worden ist, sondern vielmehr ein Grundzug der Ontologie, der Metaphysik selbst. Damit wird der Einwand vorab abgewehrt, die Metaphysik habe erst wegen ihrer Inanspruchnahme durch die christliche Theologie diese Wendung zu Theologie und Gott vollbracht.“ (167) Barrón zufolge bleibt der Gang durch die Geschichte der Metaphysik als Ontotheologie bei Heidegger sehr exkursartig. So biete er beispielsweise im ganzen Werk „weder einen Überblick über die Geschichte der mittelalterlichen Philosophie, die er vor allem auf Thomas von Aquin reduziert, noch eine Analyse des ontotheologischen Gefüges der Metaphysik im Mittelalter“ (174). Auch die Geschichte der neuzeitlichen Metaphysik, deren Novität allein darin bestehe, „daß in beiden Fragen der Metaphysik: nach dem Seiendem als solchem und nach dem Seieinden im Ganzen, der metaphysisch Fragende, der Mensch selbst, mit einbegriffen wird“ (176), werde von Heidegger sehr selektiv wahrgenommen. 86 Dem Terminus physis hingegen kann gemäß Heidegger bei gründlichem Bedenken der Charakter eines Urwortes zuerkannt werden, sofern der Begriff – wie das dem Lateinischen entlehnten deutsche Wort Natur – ein allumfassendes Wachsen und Walten zu bezeichnen vermag, von dem der Mensch selbst durchwaltet und, wenn man so will, durchwachsen ist, aber auf eine Weise, welche die üblich gewordene Differenzierung von Natur und Geschichte umgreift. Das, wie Heidegger sagt, „sich selbst bildende Walten des Seienden im Ganzen“ (GA 29/30, 38) vollzieht sich seinem Wesen nach im Verborgenen; doch gehöre es zur Lo-

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nach Urteil des Philosophen und dichtenden Denkers Indiz einer Verlegenheit, in welche der Sammler der Schriften des Aristoteles geriet, als er die vom Meister sog. erste Philosophie nicht den drei Schuldisziplinen Logik, Physik und Ethik zuordnen konnte. Er entschloss sich, sie der Physik nachzuordnen, woraus der Name Meta-Physik entstand: „Was wir, ‚Metaphysik‘ nennen, ist ein Ausdruck, der einer Ratlosigkeit entsprang, ein Titel für eine Verlegenheit, ein rein technischer Titel, der inhaltlich noch gar nichts sagt.“ (GA 29/30, 58) Inhaltlich bedeutsam ist der technische Titel erst insofern geworden, als man mittels seiner die Metaphysik den anderen philosophischen Fächern als eine eigene Disziplin zugeordnet hat, um sie, wie Heidegger meint, als Wissenschaft vom Übersinnlichen zu bestimmen. Von dem Verständnis der Metaphysik als der „Erkenntnis des über das Sinnliche Hinausliegende“ (GA 29/30, 59) sieht Heidegger die gesamte abendländische Philosophie einschließlich ihrer Ontotheologie bestimmt. Entsprechendes gelte für die ganze mit Rationalitätsanspruch auftretende Gotteslehre des Christentums, wie Heidegger u. a. an Thomas von Aquin und dem Jesuitentheologen Franz Suarez87 zu belegen sucht. In ihr trete analog zur überkomgosnatur des Menschen, es der Verborgenheit zu entnehmen, zu entbergen und zur Sprache zu bringen. Logos ist „Sagen des Unverborgenen“ (GA 29/30, 41), wofür das griechische Wort für Wahrheit (a-letheia) als eines Raubes steht, „der der Verborgenheit entrissen werden muß“ (ebd.). Zur Doppeldeutigkeit der Grundbedeutung von physis im Sinne des Waltenden in seinem Walten und des Waltens als solchem im Sinne des Wesens und inneren Gesetzes der Sache vgl. GA 29/30, 46ff.; zu Aristoteles, der in seiner prima philosophia beide Bedeutungsaspekte „in eins“ (GA 29/30, 52) gefasst, in ihrem inneren Zusammenhang aber „nicht weiter erörtert“ (ebd.) habe, vgl. GA 29/30, 48ff. Zum griechischen Wort aletheia, zu seiner Wiedergabe mit Unverborgenheit statt mit Wahrheit, wie sie schon bei Nicolai Hartmann begegnet, vgl.: Von der Unverborgenheit. Fridolin Wiplingers Bericht von einem Gespräch mit Martin Heidegger, Pfaffenweiler 1987, hier: 5. Nach Heideggers Urteil war Hartmann trotz seiner bemerkenswerten Übersetzung „weit entfernt“, ihre Bedeutung zu ermessen. (Vgl. H. Helting, a-letheia-Etymologie vor Heidegger im Vergleich mit einigen Phasen der a-letheiaAuslegung bei Heidegger, in: HSt 13 [1997], 93–107) 87 Zu „Martin Heidegger und Thomas von Aquin“ vgl. die gleichnamigen Studien von H. Meyer (München/Paderborn/Wien 1964) und J. B. Lotz (Pfullingen 1975). Im Vergleich zu anderen Denkern spielt „Thomas von Aquin für Heidegger eine nur untergeordnete, um nicht zu sagen marginale Rolle“ (G. Pöltner, Heideggers Umgang mit Thomas von Aquin, in: HSt 27 [2011], 177–195, hier: 177). Ob seine gelegentlichen Bezugnahmen auf den Aquinaten hinreichend differenziert sind, darf bezweifelt werden: Zwar dürfte es „wohl keine Frage sein, daß Thomas auf weite Strecken hin ein metaphysischer Denker im Sinne des Heideggerschen Metaphysikverständnisses ist. Die andere Frage, ob sich sein Seinsverständnis auf das (im Heideggerschen Sinn) metaphysische reduzieren läßt (Sein bloß als Seiendheit, Sein das Leerstes und Allgemeinste, Sein unterschiedslos als Vorhandenheit, Sein scholastisch als Existenz, Schöpfung als göttliche Herstellung) muß jedoch verneint werden. Weder versteht Thomas Sein (esse) als Existenz noch liegt der bedeutungsgebende Ursprung seiner ontologischen Grundbegriffe im herstellenden Verhalten zu Seiendem.“ (190) Weit mehr als Thomas verehrte Heidegger den Jesuitenphilosophen und Theologen Francisco Suarez (1548–1617). Zwar lehnte er dessen Versuch einer Erneuerung scholastischer Metaphysik

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menen philosophischen Theologie, an die sie anschließe, Gott als „ein vorhandenes, wenn auch höheres Seiendes“ (GA 29/30, 63) auf, also als eine übersinnliche Entität, die man, auch wenn es sich um ein ens supremum handle, in eine Zusammenhang mit anderen Entitäten stelle, wodurch die ontologische Differenz von Sein und Seiendem notorisch verkannt werde. Man mag zweifeln, ob diese Beschreibung dem Selbstverständnis einer christlichen Theologie der Vernunft entspricht, die Heidegger als rationale Theologie dezidiert der Theologie des Glaubens kontrastiert. Unzweifelhaft ist, dass aus den zweifelhaften Befunden Konsequenzen gezogen werden, die extrem zu nennen nicht abwegig ist. Die durch ihren förmlichen Begriff nahegelegte inhaltliche Fehlbestimmung der Metaphysik und ihres vornehmsten Gegenstands ist Heidegger zufolge der ganzen abendländischen Philosophie seit Platon und Aristoteles zum Verhängnis geworden, indem sie zu einer fatalen Seinsvergessenheit in Folge der Missachtung der sog. ontologischen Differenz geführt habe. Bei der Annahme, dass das „Metaphysische ein Gebiet des Seienden unter anderen“ (GA 29/30, 66) sei, handle es sich um eine grundverkehrte Auffassung, die eine jahrhundertelange Philosophietradition einschließlich der Philosophie des Deutschen Idealismus in die Irre geleitet habe „und deren Unwahrheit wir erst heute langsam zu begreifen beginnen. Der erste vielleicht war Nietzsche.“ (GA 29/30, 64) In Anschluss an ihn unter frühneuzeitlichen Bedingungen entschieden ab; doch hinderte ihn dies nicht, an seiner Bewunderung für den spanischen Jesuiten festzuhalten: „Die Bedeutung dieses Theologen und Philosophen ist noch längst nicht in dem Maße gewürdigt, wie es dieser Denker verdient, der an Scharfsinn und Selbstständigkeit des Fragens noch über Thomas gestellt werden muß.“ (GA 29/30, 78) Genauere Untersuchungen bedürfe insbesondere sein Einfluss auf Formation und inhaltliche Gestaltung der Metaphysik in der Moderne, deren Grundcharakter durch Verwissenschaftlichung und Konzentration auf das Problem absoluter Gewissheit gekennzeichnet sei (vgl. GA 29/30, 82f.), wie dies exemplarisch an am cartesianischen Cogito und am selbstsetzenden Ich der Fichteschen Wissenschaftslehre hervortrete. Bei Fichte, zumindest beim frühen, werde das Ich bzw. das gewisse Bewusstsein, welches dieses von sich selbst habe, zum „sicherste(n) und fraglose(n) Fundament“ (GA 29/30, 84; bei H. gesperrt) der als Wissenschaft der Wissenschaften konzipierten Metaphysik. Ohne selbst in Frage gestellt zu werden, avanciere das Ich zur absolut gewissen Grundlage für alle weiteren Fragen. Dies war nach Heidegger zu Zeiten von Franz Suarez noch anders; bei ihm habe sich der metaphysisch Fragende durch sein Fragen selbst infrage gestellt und kritisch in den konstruktiven Inbegriff des Ganzen einbegriffen gewusst, den metaphysisches Denken bedenke. Zwar habe das Festhalten am überkommenen Metaphysikbegriff auch bei ihm die ursprüngliche Einsicht in eine unvordenkliche Differenz von Sein bzw. Seyn und allem Seiendem verstellt. Doch die Erinnerung, dass ihr Titel lediglich der Ausdruck des Problems sei, für dessen Lösung sich die traditionelle Metaphysik halte, werde durch Suarez eher wachgehalten als durch die neuzeitliche Philosophie, die auf ihn gefolgt sei. Möglicherweise hat Heideggers Suarezverehrung in einem Stadium seiner Denkentwicklung, als der Begriff der Metaphysik noch nicht zum bloßen Titel für das „metaphysische“ Grundproblem seiner entwickelten Philosophie geworden war, zu dem – allerdings nur sehr kurzfristig währenden – Wunsch beigetragen, Mitglied der Gesellschaft Jesu zu werden.

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und in Abwendung von so ziemlich allem, was ihm philosophisch vorherging und auf die Vorsokratiker folgte, plädiert Heidegger entschieden für ein grundlegend verändertes Verständnis von Metaphysik, an deren Begriff ihm nichts liegt und deren traditionelle Bestimmung er als veräußerlicht, verworren und unbekümmert kennzeichnet (vgl. GA 29/30, 62ff.), da durch sie, so der wiederholt vorgetragene Hauptvorwurf, der Gegenstand der Ersten Philosophie zu einem bestimmten übersinnlichen Seienden erklärt worden sei (vgl. GA 29/30, 66). In dieser Bedeutung, konstatiert Heidegger, wolle er den Titel der Metaphysik „nicht aufnehmen“ (GA 29/30, 60), wie er es denn generell und prinzipiell ablehne, deren traditionelles Thema in Form einer speziellen philosophischen Disziplin fortzuführen. Metaphysik sei entweder Philosophie überhaupt und die Philosophie als Ganze oder ein Verfallsprodukt. Als sachlich gerechtfertigt könne ihr Begriff ungeachtet seines terminologischen Behelfscharakters dann, aber auch nur dann gelten, wenn er jenes inbegriffliche Fragen kennzeichne, welches auf ein Ganzes gehe, das alles einschließlich des Fragenden selbst umfasse. In diesem Sinne konnte Heidegger den Metaphysikbegriff unter Abkehr von seinen ontotheologischen Prämissen und Implikationen beibehalten.88 Philosophie, die ihren Namen verdient, geht aufs Ganze, wie Heidegger nicht nur nicht in Abrede stellt, sondern ausdrücklich bestätigt. Sie ist in ihrem – den Philosophen er- und umgreifenden – Vollzug auf eine Sinntotalität ausgerichtet, die Selbst und Welt sowohl fundiert als auch transzendiert. Durch wissenschaftliches Theoretisieren allein ist diese Sinntotalität nicht zu fassen, weil sie die Voraussetzung allen Wissens bildet. Entsprechendes gilt für das Tun. Philosophie erschöpft sich nach Heidegger weder in Theorie noch in einer mit dem 88 Nachdem er seine Hermeneutik faktischen Lebens in „Sein und Zeit“ zu einer fundamentalontologischen Existenzanalyse ausgearbeitet hatte, bildete Heidegger diese in den Folgejahren zu einer Metaphysik des Daseins fort, wobei kontrovers beurteilt wird, ob dieser Prozess als Fortschreibung oder als „Umbruch“ (Vgl. J. Greisch, Der philosophische Umbruch in den Jahren 1928–1932. Von der Fundamentalontologie zur Metapyhsik des Daseins, in: D. Thomä [Hg.], Heidegger-Handbuch, 91–102, hier: 91) zu bestimmen sei. Selbst wer für letzteres plädiert, setzt in der Regel den damals vollzogenen Wandel nicht mit der seinsgeschichtlichen Kehre gleich, die meist später – um die Mitte der 30er Jahre – angesetzt wird. Doch bleiben auch in dieser Hinsicht Unsicherheiten, nicht nur was die Datierung, sondern was Art und Weise der Umstellung und schließlich die Frage betrifft: „Was wäre, wenn es sie (sc. die Kehre) nicht gäbe?“ (D. Thomä, Die Kehre. Was wäre, wenn es sie nicht gäbe?, in: ders. (Hg.), a. a. O., 102–108) Wie immer man in diesem Zusammenhang urteilen mag: Tatsache ist, dass das thematische Leitwort der Jahre 1928–1932 „der Ausdruck ‚Metaphysik des Daseins‘ bildet“ (J. Greisch, a. a. O., 92). Als Grundgeschehen der Metaphysik wird der geschichtliche Vollzug des Daseins verstanden, von dessen Zeit- und Endlichkeit abstrahiert zu haben als der Grundschaden traditioneller Metaphysik, der idealistischen Philosophie zumal und namentlich des absoluten Idealismus Hegels angesehen wird, wie ein Kolleg zur „Phänomenologie des Geistes“ vom WS 1930/31 im Einzelnen bestätigt (vgl. GA 32). (Vgl. A. Sell, Martin Heideggers Gang durch Hegels „Phänomenologie des Geistes“, Bonn 1998 [Hegel-Studien 39].)

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Anspruch allgemeiner Wertsetzung auftretenden moralischen Praxis. Sie ist auf ein Jenseits von Denken und Handeln angelegt, worin man eine weitere Parallele zu Schleiermacher entdecken kann.89 Was es mit der ebenso vielbeschworenen wie ominösen „ontologischen Differenz“ auf sich hat, erschließt sich am ehesten aus diesem Kontext. Heidegger hat bekanntlich wiederholt behauptet, „die Metaphysik habe von ihren griechischen Anfängen bis zu Nietzsche das Sein in seiner Differenz vom Seienden verdeckt, indem sie vom Sein des Seienden, nicht aber vom Sein als solchem gesprochen habe“90. Nach Pannenberg handelt es sich bei dieser Behauptung um ein undifferenziertes Pauschalurteil. Dies gelte umso mehr, als die Kritik an der von der philosophischen Tradition angeblich durchweg schuldig gebliebenen Unterscheidung des Seins selbst vom Sein des Seienden durch keinen entsprechenden konstruktiven Gegenentwurf legitimiert worden sei. „Der späte Heidegger redete vom Sein wie von einem geheimnisvollen Subjekt, das sich verbirgt oder entbirgt, und er tat das, ohne sich hinreichend gegen den Verdacht zu schützen, daß es sich dabei um eine hypostasierte Abstraktion handeln möchte.“91 Ob nun ontologische Differenz, différance92 oder wie auch immer: Es bedarf ihrer Dekonstruktion, um begriffliche Wendungen wie diese in einem kon89 Ethik leitet Heidegger vom Ursprungssinn von ethos ab. Das Wort „bedeutet das Sichaufhalten an einem gewohnten Ort, dem Wohnort, der für Heidegger auf das Wohnen des Menschen inmitten des Seienden verweist; genauer und der Gebärde des Ethos gemäß: auf die alles Verhalten durchwaltende Haltung.“ (M. Riedel, Naturhermeneutik und Ethik im Denken Heideggers, in: HSt 5 [1989], 153–172, hier: 170 unter Verweis auf GA 55, 206 u. 217. Ethik ist entsprechend „Wissen der alles Verhalten durchwaltenden Haltung“ [171].) 90 W. Pannenberg, Theologie und Philosophie, 328. 91 A. a. O., 329. Dass die ontologische Differenz nicht gleichzusetzen ist mit der Unterscheidung, die das Denken zwischen Sein und Seiendem trifft, hat Heidegger früh zu erkennen gegeben, wie Hans-Georg Gadamer in seinen „Erinnerungen an Heideggers Anfänge“ bezeugt. Gadamer wertet diese Tatsache als Beleg dafür, „dass Heideggers sogenannte ‚Kehre‘ eigentlich nur die Rückkehr zu seiner eigentlichen Intention war, die er manchmal schon in der jugendlichen inneren Auseinandersetzung mit Husserl antizipiert hat“ (H.-G. Gadamer, Erinnerungen an Heideggers Anfänge [1986], in: ders., Gesammelte Werke. Bd. 10: Hermeneutik im Rückblick, Tübingen 1995, 3–13, hier: 10f.). In seinem unerbittlichen Kampf gegen „die Letztbegründung im transzendentalen Ego, die Husserl lehrte“ (a. a. O., 9), deute sich bereits das Anliegen an, das Sein nicht vom Dasein, sondern das Dasein vom Sein her zu erschließen. Sucht man nach theologiegeschichtlichen Parallelen, so ließe sich Heideggers sog. Kehre mit der Wendung von Schleiermacher zu Karl Barth vergleichen, die beide ebenfalls mehr verbindet als trennt. Zu Funktion und Bedeutung des Ausdrucks „ontologische Differenz“, den „Heidegger wie einen symbolhaltigen Terminus immer wieder gebraucht“ hat, und zum Sinn der Unterscheidung zwischen ontologisch und ontisch etc. in seinem späteren Denken vgl. ders., Hermeneutik und ontologische Differenz (1989), in: ders., a. a. O., 58–70, hier: 58. Der Unterschied von Sein und Seiendem werde nicht gemacht, er tue sich auf, um alles, was ist, in einen ursprünglichen Zwiespalt zu stellen (vgl. 60). Zur These, dass die „Kehre Heideggers … in Wahrheit eine Rückkehr“ gewesen sei, vgl. ders., Die Kehre des Weges (1985), in: ders., a. a. O., 71–75, hier: 74. 92 Différance ist eine Wortschöpfung des Dekonstruktionstheoretikers Jacques Derrida, mit der

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struktiven Sinn verwenden zu können. Dass sie auf ein Jenseits von Wissen und Tun, Denken und Handeln, Theorie und Praxis ausgerichtet sind, scheint klar. Doch wie man des allem Sinnen und Trachten zuvorkommenden Unvordenklichen gewahr werden soll, bedarf genauer Erläuterung. Nach Heidegger erschließt sich Sinntotalität wesentlich durch Todesprolepse als einer Antizipation des eigenen Endes, vermittels deren das Dasein in seine Ganzheit und zur Vollendung seiner Endlichkeit gelangen soll. Doch wie wird das Dasein des besagten Erschließungsgeschehens inne? Primär nicht, wie sich vermuten lässt, in Form eines theoretischen Wissens, auch nicht eines praktischen Tuns, sondern in Form dessen, was Heidegger in einer dem Schleiermacherschen Begriff des Gefühls bzw. des unmittelbaren Selbstbewusstseins vergleichbaren Weise Stimmung nennt. Das Dasein befindet sich Heidegger zufolge immer schon und vor allem Denken und Handeln in der einen oder anderen Weise gestimmt. Seine Grundbefindlichkeiten sind durch Stimmungen charakterisiert, die in ihrer elementarsten Form durch die präreflexive Differenz von Lust und Unlust geprägt sind. Stimmungen und Befindlichkeiten dieser Art teilt der Mensch mit allen fühlenden Wesen. Indes gehört es zur eigentümlichen Besonderheit menschlichen Daseins, nicht nur dieses oder jenes zu empfinden, sondern eine Empfindung des möglichen Endes seiner selbst zu haben. Der Mensch ist das Lebewesen, das seiner Endlichkeit gewahr und dessen inne zu werden vermag, dass es ein Ende mit ihm haben muss. In der Sorgestruktur des Daseins ist diese Wahrnehmung implizit enthalten, in der Angst wird sie nach Heidegger konkret manifest. In ihr steht das Ganze des Daseins zur Disposition, aber eben nicht, jedenfalls nicht primär in Form eines Wissens oder Tuns, sondern in gefühlsförmiger, stimmungsmäßiger Weise. Trotz momentanen Fehlens theoretischer und praktischer Bestimmungen ist das Gefühl der Angst nicht unbestimmt, sondern eine Stimmung, in der das Dasein seiner selbst und seiner Welt gänzlich inne wird und zwar dergestalt, dass es im Grunde nichts mit ihm sei. Nihilismus ist primär keine Theorie; seine Abgründigkeit wird als Gefühl, als nihilistische Gestimmtheit des Daseins, als Nichtigkeitsangst manifest. Für das Problem der Ganzheit des Daseins und seine von Heidegger dargebotene Lösung kommt dem Empfinden der Nichtigkeitsangst eine Schlüsselfunktion zu. Denn am Daseinsverhältnis zu ihr scheiden sich nach seinem Urteil, wie mehrfach vernommen, eigentliche und uneigentliche Existenz. Flieht das Dasein die Angst, um sogleich wieder ins gewohnte Man einzutauchen und sich von ihr schnellstmöglich mittels durchschnittlicher Alltäglichkeit kurieren zu er in logzentrismuskritischer Absicht auf den wesentlichen Unterschied von Text und Lektüre, Schreiben und Lesen etc. sowie auf die Unabschließbarkeit jeder sprachlich vermittelten Sinnfindung verweist (vgl. J. Derrida, Grammatologie [1967], Frankfurt a. M. 1974; ders., Die Schrift und die Differenz [1967], Frankfurt a. M. 1976).

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lassen, dann verfällt es, wie Heidegger sagt, einer Diesigkeit, welche die ganze Existenz vernebelt. Im Falle authentischen Existierens, welches Angst ins Dasein zu integrieren und durch Integration in Mut zu transformieren vermag, kommt hingegen helle Freude auf, welche das Dasein durchwaltet und sich in allen Wechselfällen der Existenz durch Höhen und Tiefen durchhält. „Sie ist“, mit Pannenberg zu reden, „die Stimmung, in der sich die Freiheit des Daseins ausdrückt, und es heißt von der Freude sogar, dass sie selbst befreiend wirkt.“93 Zu erlangen ist die Hochstimmung einer das ganze Dasein durchwirkenden Freiheitsfreude nach Heidegger durch Todesprolepse und Antizipation des Daseinsendes, wodurch die eigene Endlichkeit affirmiert und die Angst vor dem Ende auf eine Weise verwandelt wird, die vollendet genannt werden darf. Bleibt zu fragen, woher das Dasein den Mut zur Angst nehmen bzw. das Vermögen haben soll, das bevorstehende Ende als Nichts seiner selbst in seine Existenz zu integrieren. Heideggers Antwort: aus sich selbst und seiner eigenen Entschlossenheit heraus, kraft eigener Wahl und Entschiedenheit und durch sonst nichts. Den Letztentscheid über das Dasein trifft allein das Dasein selbst. Auch in seinem proleptischen Zukunftsbezug ist es auf kein externes Künftiges, sondern allein auf sein Sein in der Zeit bezogen. Ein Unendlichkeits- und Ewigkeitsbezug des endlichen, zeitlich verfassten Daseins ist nicht vorgesehen. Sowohl in der Angst als auch in der Antizipation seines Endes ist das Dasein nur auf seine Endlichkeit und Zeitlichkeit bezogen. Christliche Theologie wird dem nicht folgen können. Der theologischen und in weiten Teilen auch der philosophischen Tradition galt die Ewigkeit als Konstitutionsgrund der Zeit.94 In dieser Funktion ist sie Pannenberg zufolge bei Kant durch Subjektivität ersetzt worden; Heidegger schließe an diese Entwicklung an und treibe sie in die Konsequenz.95 Eine ins 93 W. Pannenberg, Anthropologie in theologischer Perspektive, 248 unter Verweis auf § 62 von „Sein und Zeit“. Vgl. die Bemerkung a. a. O., 238: „Das Verhältnis von Gefühl und Stimmung zueinander ebenso wie zur Empfindung, zu Emotion und Affekt kann bis heute nicht als geklärt gelten. Dem uneinheitlichen Sprachgebrauch entsprechen stark differierende Zugangsweisen zu den Phänomenen selber.“ 94 Zum Thema „Zeit und Ewigkeit in der religiösen Erfahrung Israels und des Christentums“ (1975) vgl. den gleichnamigen Beitrag Pannenbergs in: ders., Grundfragen systematischer Theologie. Gesammelte Aufsätze. Bd. 2, Göttingen 1980, 188–206. 95 Zwei Jahre nach „Sein und Zeit“ veröffentlichte Heidegger 1929 seine Monographie „Kant und das Problem der Metaphysik“ (vgl. GA 3). Vorangegangen war eine Vorlesung zur phänomenologischen Interpretation der Kritik der reinen Vernunft vom WS 1927/28 sowie die Kantkritik im Jahrhundertbuch selbst. Von der professionellen Forschung wurde Heideggers Kantdeutung „durchgängig verworfen“ (D. Sturma, „Kant und das Problem der Metaphysik“. Die Endlichkeit menschlicher Erkenntnis, in: D. Thomä [Hg.], HeideggerHandbuch, 80–86, hier: 85). Zu den schärfsten Kritikern zählte Ernst Cassirer, mit dem Heidegger im Rahmen der zweiten Davoser Hochschulwochen vom 17. März bis zum 6. April 1929 zu einer legendären Disputation zusammengetroffen war. Im Mittelpunkt stand schon damals „die Frage nach dem angemessenen Umgang mit Kants Philosophie“ (ders., Die Davoser Disputation zwischen Ernst Cassirer und Martin Heidegger. Kontroverse Tran-

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Einzelne gehende Begründung für diese Einschätzung hat Pannenberg im dritten Band seiner „Systematischen Theologie“ im Zusammenhang von Erwägungen zum eschatologischen „Eintritt der Ewigkeit in die Zeit“96 vorgelegt. Kant habe „in seiner Lehre von der Zeit als Erzeugnis der Selbstaffektion des Subjekts an die Stelle der Ewigkeit das ‚stehende und bleibende Ich‘ gesetzt zur Begründung der Kontinuität und Einheit der Zeit“97, Heidegger hinwiederum in „Sein und Zeit“ die von Kant vollzogene „Herauslösung der Zeit aus ihrer Fundierung durch die Ewigkeit vollendet, indem er die Zeit nicht nur auf eine allgemeine Struktur transzendentaler Subjektivität, sondern auf den konkreten Vollzug des sich selber ‚zeitigenden‘ Daseins begründete. Christliche Theologie“, so Pannenberg, wird darin eine Beschreibung der Verkehrung der Konstitution der Zeit erblicken, wie sie im Lebensvollzug des Sünders tatsächlich stattfindet. Aber noch diese Verkehrung setzt die Fundierung der Kontinuität und Einheit der Zeit auf die göttliche Ewigkeit immer schon voraus.98

Zeit muss nach Pannenberg im Horizont der Ewigkeit gedacht werden. Dem entspricht die Notwendigkeit, in Bezug auf ihren Verlauf der Zukunft die theologische Priorität zuzuerkennen.

szendenz, in: D. Thomä [Hg.], a. a. O., 86–91, hier: 87). Heidegger verwarf die Interpretation Cassirers und mit ihr den Neukantianismus, den dieser vertrat, und deutete Kant im Sinne seiner fundamentalontologischen Analyse endlicher Zeitexistenz. – Nach Cassirer trägt Heideggers Kant-Buch unleugbar „den Stempel echt-philosophischer Gesinnung und echtphilosophischer Gedankenarbeit“ (E. Cassirer, Kant und das Problem der Metaphysik. Bemerkungen zu Martin Heideggers Kant-Interpretation, in: Kant-Studien 36 [1931], 1–26, hier: 25); das Problem sei lediglich, dass diese Gedankenarbeit mit derjenigen Kants nur bedingt etwas zu tun habe und allenfalls einen Teilaspekt des Werkes des Königsbergers berücksichtige. Cassirer schließt mit den Worten: „Ich habe schon in meinen Gesprächen mit Heidegger in Davos betont, daß ich nicht den Wunsch und die Hoffnung hege, ihn zu meinem ‚Standpunkt‘ zu bekehren und ihn auf ihn herüberzuziehen. Aber was in aller philosophischen Auseinandersetzung erstrebt werden sollte und was in irgendeinem Sinne erreichbar sein muß, ist dies, daß auch die Gegensätze sich richtig sehen lernen und daß sie sich in eben dieser Gegensätzlichkeit selbst zu verstehen suchen.“ (26) 96 Vgl. W. Pannenberg, Systematische Theologie. Bd. 3, 641ff., hier: 641. 97 A. a. O., 645. 98 A. a. O., 645f. Vgl. fernerhin die unter Anleitung Pannenbergs angefertigte Dissertation von K. H. Manzke, Ewigkeit und Zeitlichkeit. Aspekte für eine theologische Deutung der Zeit, Göttingen 1992. In Teil I der Arbeit wird unter der Überschrift „Die von der Relation zur Ewigkeit ‚befreite‘ Zeit“ zunächst die Zeitlehre Immanuel Kants analysiert, der „(d)as zeitlos gedachte Ich der Apperzeption als Garant der Einheit der Zeit“ (128) eingeführt habe. Es folgt die Erörterung der Zeitlehre Heideggers (161ff.) unter Berücksichtigung ihrer Kantinterpretation (204ff.) und ihrer Rezeption durch Bultmann. Teil II bietet sodann einen Rückblick auf die Anfänge einer christlichen Lehre von der Zeit bei Augustin, dessen Entdeckung der Dauer als einer zeitübergreifenden Gegenwart von Pannenberg stets große Bedeutung zuerkannt worden sei. Teil III enthält drei Fallstudien zu Entwürfen theologischer Zeitinterpretation im 20. Jahrhundert, nämlich zu Karl Heim, Paul Tillich und Karl Barth.

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Im Fortgang der Zeit kann, wie schon Plotin wußte, die Ganzheit des Lebens nur von einer die Vielheit der Lebensmomente zur Einheit integrierenden Zukunft erstrebt und erhofft werden. Uns Menschen aber und allen Geschöpfen ist die Ganzheit unseres Lebens noch verborgen, weil seine Zukunft noch aussteht. Nur eine Zukunft der Vollendung unseres Lebens – im Unterschied zur Zukunft des Todes, die das Leben abbricht, daher eine Zukunft über den Tod hinaus – kann jene Ganzheit realisieren, die die Identität unseres Daseins in voller Entsprechung zum Schöpferwillen Gottes zur Erscheinung bringt in ungebrochener Teilnahme am ewigen Leben Gottes, soweit solche Teilnahme mit der geschöpflichen Endlichkeit überhaupt vereinbar ist. Umgekehrt kann nur durch die Teilhabe an der Ewigkeit Gottes die Zerstreuung des menschlichen Lebens in seine durch den Fortgang der Zeit auseinanderfallenden Lebensmomente überwunden und zur Einheit und Ganzheit integriert werden.99

„Ein jegliches hat seine Zeit, und alles Vorhaben unter dem Himmel hat seine Stunde.“ (Koh 3,1) Gott aber lebt und herrscht von Ewigkeit zu Ewigkeit und seine Wahrheit währet „für und für“ (Ps 100,5). Er hat keine Zukunft vor sich, die von seiner Gegenwart unterschieden wäre. Eben darum bleibt ihm auch das Gewesene gegenwärtig. Gott ist ewig, weil er keine Zukunft außer sich hat, sondern die Zukunft seiner selbst und alles von ihm Verschiedenen ist. Keine Zukunft außer sich zu haben, sondern selber die Zukunft seiner selbst zu sein, das ist aber eine Umschreibung vollkommener Freiheit. Insofern ist der ewige Gott als absolute Zukunft – in der Gemeinschaft von Vater, Sohn und Geist – der freie Ursprung seiner selbst und seiner Geschöpfe.100

99 W. Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 647. „Die Endlichkeit geschöpflichen Seins schließt zwar die Grenzenlosigkeit des Daseins aus, aber nicht die Gegenwart des ganzen so begrenzten Daseins in der Form reiner Dauer als vollendeter Teilhabe an der Ewigkeit. Umgekehrt widerstreitet es der Endlichkeit des geschöpflichen Daseins auch nicht, daß solche Teilhabe an der Ewigkeit von dieser her als ein Moment ihrer selbst festgehalten und damit selber als unvergänglich bewahrt wird.“ (Ebd., Anm. 244) 100 W. Pannenberg, Systematische Theologie, Bd. 1, 443.

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Von der Kunst, Hermeneutik zu verstehen. Zur Frage nach dem Sinn des Ganzen beim Heideggerschüler Gadamer und bei Pannenberg

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Alte Meister

Generationen seien ihm hinterhergelaufen, um den Kitschphilosophen, wie er genannt wird, schon zu Lebzeiten „mit widerwärtigen und stupiden Doktorarbeiten“1 zu überhäufen, klagt ein gewisser Reger in Thomas Bernhards Komödie „Alte Meister“ (1985). Selbst heute sei er noch immer nicht ganz durchschaut, die Heideggerkuh ist zwar abgemagert, die Heideggermilch wird aber noch immer gemolken. Heidegger in seiner verfilzten Pumphose vor dem verlogenen Blockhaus in Todtnauberg ist mir ja nurmehr noch als Entlarvungsfoto übriggeblieben, der Denkspießer mit der schwarzen Schwarzwaldhaube auf dem Kopf, in welchem ja doch nur immer wieder der deutsche Schwachsinn aufgekocht worden ist, so Reger. Wenn wir alt sind, haben wir ja schon sehr viele mörderische Moden mitgemacht, alle diese mörderischen Kunstmoden und Philosophiemoden und Gebrauchsartikelmoden. Heidegger ist ein gutes Beispiel dafür, wie von einer Philosophiemode, die einmal ganz Deutschland erfaßt gehabt hat, nichts übrigbleibt, als eine Anzahl lächerlicher Fotos und eine Anzahl noch viel lächerlicherer Schriften. (56f.)

Martin Heidegger (1889–1976): der Kleinbürger der deutschen Philosophie, der der deutschen Philosophie seine kitschige Schlafhaube aufgesetzt hat, die kitschige schwarze Schlafhaube, die Heidegger ja immer getragen hat, bei jeder Gelegenheit. Heidegger ist der Pantoffel- und Schlafhaubenphilosoph der Deutschen, nichts weiter. (57)2 1 Th. Bernhard, Werke. Bd. 8: Alte Meister (1985), Frankfurt a. M. 2008, 55f.; die nachfolgenden Seitenverweise im Text beziehen sich hierauf. Vgl. L. V. Szabo, „… aber in der Kunst kann alles lächerlich gemacht werden“. Ikonoklasmen in Thomas Bernhards Alte Meister, in: J. G. Lughofer (Hg.), Thomas Bernhard. Gesellschaftliche und politische Bedeutung der Literatur, Wien/Köln/Weimar 2012, 87–101. 2 Wem dies nicht reicht, der lasse sich von den noch längst nicht an ihr Ende gelangten Wortschwällen Regers weitertreiben, bis er es satt hat, oder er greife stattdessen zu dem 1963 erschienenen Roman „Hundejahre“ von Günter Grass, der ebenfalls vor Heideggerparodien und -verdikten strotzt. Während man bei Bernhard liest, der alte Philosoph habe auf Fotografien immer ausgesehen „wie ein pensionierter feister Stabsoffizier“ (59), gibt bei Grass ein

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Das Motto hatte, wenngleich in gemäßigterer Tonlage, bereits Theodor W. Adorno vorgegeben, Haupt der „Kritische Theorie“ genannten Frankfurter Schule. In seiner in den Jahren 1962 bis 1964 verfassten Polemik „Jargon der Eigentlichkeit. Zur deutschen Ideologie“ suchte er eine Affinität zwischen Heideggers Denken (sowie einer Reihe weiterer Entwürfe deutscher Philosophie insbesondere aus der zweiten Hälfte der 20er Jahre des 20. Jahrhunderts) und dem Nationalsozialismus nachzuweisen, die nicht lediglich in zeitweiliger persönlicher Verirrung, sondern in der Gesamtanlage des philosophischen Werkes begründet sei. „Der Faschismus war nicht bloß die Verschwörung, die er auch war, sondern entsprang in einer mächtigen gesellschaftlichen Entwicklungstendenz. Die Sprache gewährt ihm Asyl; in ihr äußert das fortschwelende Unheil sich so, als wäre es das Heil.“3 durchgeknallter Feldwebel Mensch und Tier gegenüber den Heideggerianer und zwar etwa wie folgt: „Du ontischer Hund! Alemannischer Hund! Du Hund mit Zipfelmütze und Schnallenschuhen! Was hast du mit dem kleinen Husserl gemacht? … Du vorsokratischer Nazihund.“ (G. Grass, Hundejahre. Roman, in: ders., Werkausgabe in zehn Bänden. Bd. 3, hg. v. V. Neuhaus, Darmstadt/Neuwied 1987, 141–835, hier: 540) Zu den Zerwürfnissen, die Grassens gezielte Angriffe auf Heidegger mit sich brachten, vgl. im Einzelnen H. Zimmermann, Günter Grass und die Deutschen. Chronik eines Verhältnisses, Göttingen 2010, 117ff. Zu Heideggerbezügen in anderen literarischen Werken etwa von Ilse Aichinger, Jean Amery, Ingeborg Bachmann, Peter Handke, Botho Strauß, Elfriede Jellinek oder Martin Walser vgl. im Einzelnen G. Figal/U. Raulff (Hg.), Heidegger und die Literatur, Frankfurt a. M. 2012. Eine Sonderstellung nimmt neben Arnold Stadler, der wie Heidegger aus Meßkirch stammt und sich einen „Heimatlosigkeitsschriftsteller“ nannte, Paul Celan ein. Zum Treffen zwischen ihm und Heidegger am 24./25. Juli 1967 in Freiburg und Todtnauberg vgl. D. di Cesare, Übersetzen aus dem Schweigen. Celan für Heidegger, in: G. Figal/U. Raulff (Hg.), a. a. O., 17–34. Celan hatte anlässlich seines Besuchs in das Gästebuch der Todtnauberger Hütte ein Gedicht geschrieben („ARNIKA, AUGENTROST, der / Trunk aus dem Brunnen mit dem / Sternwürfel drauf“), in dem er seine „Hoffnung, heute, / auf eines Denkenden / Kommendes (ungesäumt kommendes) Wort“ zu 1933ff. beschwörend zum Ausdruck brachte. Er hoffte vergebens. Heidegger hüllte sich wie zuvor auch danach in Schweigen. Zu weiteren Kontakten und Begegnungen Celans mit Heidegger und zur Geschichte des Gedichts „Todtnauberg“ vgl. Chr. Jamme, Martin Heidegger, in: M. May/P. Goßens/J. Lehmann (Hg.), Celan-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart/Weimar 2008, 254–258. Varianten sind verzeichnet in: P. Celan, Werke. Historisch-kritische Ausgabe 9.1, Frankfurt a.M. 1997, 33f.; 127f. und 9.2 (id.), 104ff. 3 Th. W. Adorno, Jargon der Eigentlichkeit. Zur deutschen Ideologie, in: ders., Gesammelte Schriften. Hg. v. R. Tiedemann. Bd. 6, Darmstadt 1998, 413–526, hier: 416. Die nachfolgenden Seitenverweise im Text beziehen sich hierauf. Konzipiert war der Beitrag als Teil des großen Werkes „Negative Dialektik“, aus dem ihn Adorno ausschied „nicht nur weil sein Umfang in Mißverhältnis zum übrigen geriet“ (524); veröffentlicht wurde er „als eine Art Propädeutik“ (ebd.) zum Hauptwerk. Das Heilsversprechen eines unheilsschwangeren Jargons, der in antiintellektueller Intellektualität vom Unsagbaren raunte, blendete, so Adorno, – wie alle Ideologien – mit dem Schein des Religiösen, obwohl ihm deren Sinngehalt längst abhanden gekommen war: „Die Autorität des Absoluten wird gestützt von verabsolutierter Autorität“ (416), die an die Stelle argumentativ begründeter Entscheidung die Entschiedenheit bloßer Dezision setze. Zur Heideggerkritik anderer Repräsentanten der sog. Frankfurter Schule vgl. Chr. Demmerling, Frankfurter Schule. Faszinierte Distanz: Benjamin, Horkheimer, Adorno,

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In Heideggers „Sein und Zeit“ hat nach Adorno der faschistische Trend, der in der Weimarer Republik der 20er Jahre allenthalben wirksam gewesen sei, paradigmatischen Ausdruck gefunden. Das „Buch erlangte seinen Nimbus, weil es als einmalig beschrieb, als gediegen verpflichtend vor Augen stellte, wohin es den dunklen Drang der intelingentsia vor 1933 trieb“ (ebd.). Auch nach 1945 ist Adorno zufolge der dumpfe Ton, auf den Heideggers Frühwerk gestimmt sei, nicht verklungen. Im Gegenteil: „(E)rst nach dem Krieg, als die NS-Sprache unerwünscht ward, (ist) der Jargon allgegenwärtig geworden“ (425). Illustriert wird dies an einem Bändchen mit Gnomen, die Heidegger 1954 unter dem Titel „Aus der Erfahrung des Denkens“ publiziert hat. „Ihre Form hält die Mitte zwischen dem Gedicht und dem vorsokratischen Fragment, dessen sibyllinischer Charakter freilich, wenigstens in manchem, vom Zufall brüchiger Überlieferung, nicht von Geheimniskrämerei herrührt.“ (446) Geprägt ist der archaische Trieb, der denen, die ihm verfallen waren, als Zeichen des Echten galt, Adorno zufolge durch Regression und Rückzug aus dem reflektierten Bewusstseinsleben in die chtonischen Es-Sphären von Blut und Boden, die als das Ursprüngliche und Urtümliche verklärt werden. Der Gegensatz, den Heidegger zwischen der vermeintlich unverdorbenen Schlichtheit einer dürftigen Bergwelt und den Niederungen urbaner Alltagsgeschäftigkeit in Szene setzte, gilt Adorno dafür als Beispiel: Während der Philosoph an anderen Blubo-Freunden die Reklame für den Blubo beanstandet, die sein Monopol beeinträchtigen könnte, artet seine reflektierte Unreflektiertheit zum anbiedernden Geschwätz aus angesichts der landwirtschaftlichen Umgebung, mit der er auf vertrautem Fuß stehen will. (449)

Habermas, in: D. Thomä (Hg.), Heidegger-Handbuch, Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart/ Weimar 22013, 374–381. Nach Jürgen Habermas, der zu den einflussreichsten Kritikern der Heideggerschen Philosophie in der jüngsten Gegenwart gehört, bleibt diese, indem sie „die bloße Umkehrung der philosophischen Denkmuster“ (J. Habermas, Der philosophische Diskurs der Moderne. Zwölf Vorlesungen, Frankfurt a. M. 1985, 158–190, hier: 190) propagiert, „den Problemstellungen der Subjektphilosophie verhaftet“ (ebd.): „Heidegger löst sich so wenig von den Problemvorgaben des transzendentalen Bewußtseins, daß er das grundbegriffliche Gehäuse der Bewußtseinsphilosophie nicht anders sprengen kann als auf dem Wege abstrakter Negation.“ (165) Die Folge sei eine temporalisierte Ursprungsphilosophie, die in die Theorieentwicklung der Faschismus nicht nur äußerlich „hineingespielt“ (185) habe: „Die Sprache von ‚Sein und Zeit‘ hatte den Dezisionismus leerer Entschiedenheit suggeriert. Die Spätphilosophie legt die Submissivität einer ebenso leeren Unterwerfungsbereitschaft nahe.“ (168) Vergleichbare Einwände begegnen häufig und finden sich analog beispielsweise bei H. Jonas, der die völlige Inhaltslosigkeit von Heideggerschen Schlüsselbegriffen wie Entschluss bzw. Entschlossenheit moniert. Die begrifflichen Bestimmungen bleiben rein formal und dezisionistisch: „Ihre Wirksamkeit sollte nach der puren Menge oder dem Grad an Einsatz für eine vorgegebene Sache ungeachtet der Ziele beurteilt werden.“ (R. Wolin/D. Thomä, Hans Jonas. Verantwortung im technologischen Zeitalter, in: D. Thomä [Hg.], Heidegger-Handbuch, 408–412, hier: 411)

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Vor „ausgelaugtesten Clichés von Schollenromanen“ (449f.) scheue er dabei nicht zurück. Als exemplarische Belege werden der Aufsatz „Warum bleiben wir in der Provinz?“4 angeführt, mit der Heidegger die Ablehnung eines Rufes nach Berlin rechtfertigte, und die spätere Reminiszenz an seine Meßkirchner Heimat „Der Feldweg“5: „Philosophie, die verschmäht, es zu sein, braucht, um den anders nicht vorhandenen Unterschied von Philosophie überhaupt zu markieren, das Bauernsymbol aus sechster Hand als Beweisstück ihrer Ursprünglichkeit.“ (450f.) Das Ursprüngliche erweist sich nach Adorno bei Heidegger als weit hergeholt, das gewollt Bodenständige als Indiz der Entwurzelung, die Totalintegration beschwörende Ganzheit (507: „im vorfaschistischen Deutschland die Devise aller Eiferer gegen das summarisch als veraltet abgetane neunzehnte Jahrhundert“) als Indiz nihilistischer Leere. Der Heideggerschen Philosophie schloß sich, was einmal die Pforte zum ewigen Leben war, zu; sie betet statt dessen Wucht und Größe des Tores an. Das Leere wird zum Arcanum permanenter Ergriffenheit von einem verschwiegenen Numinosen. (521)

Hin- und hergerissen zwischen Weltschmerz und verlockendem Nichts sei Heideggers Denken ein dem Jargon verfallenes Zeugnis der Herkunftshörigkeit und der Heimatlosigkeit zugleich.

4 S. o. 270, Anm. 7. 5 „In Meßkirch war Heidegger zu Hause wie nirgends sonst.“ (G. Neske, Nachwort des Herausgebers, in: ders. [Hg.], Erinnerung an Martin Heidegger, Pfullingen 1977, 293–302, hier: 295) Die Stadtpfarrkirche von Meßkirch, an der Heideggers Vater lange Jahre als Mesner diente, ist dem Frankenheiligen Martin von Tours (Patrozinium 11. November) geweiht, dem der Philosoph seinen Vor- und Taufnamen verdankt. Die Ursprünge des Gotteshauses reichen in die Merowingerzeit zurück; 1526 ließ einer der Grafen von Zimmern anstelle des romanischen Baus eine fast doppelt so große dreischiffige Hallenkirche errichten, die im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts barockisiert wurde. Der knapp 50 Meter hohe Glockenturm von St. Martin gilt neben dem benachbarten Stadtschloss derer von Zimmern als Wahrzeichen von Meßkirch. In der berühmten, von Graf Froben Christoph verfassten Zimmer’schen Chronik ist die Grundsteinlegung des Renaissanceneubaus im Mai 1557 eigens erwähnt, der als regelmäßige Vierturmanlage geplant war und mit einer Reihe von stattlichen Portalen sowie einem prächtigen Festsaal ausgestattet wurde. Nachdem die Linie der Grafen von Zimmern und des nachfolgenden Herrschergeschlechts erloschen war, erlebte das Ackerbürgerstädtchen unter dem kunstsinnigen Fürsten Froben Ferdinand zu Fürstenberg-Meßkirch noch einmal eine kulturelle Blüte, woran der von den Münchener Gebrüdern Asam mit ausgestaltete kleine Zentralbau der Nepomukkapelle erinnert. Das Schloss wurde erweitert und modernisiert, hörte aber bald auf, Fürstenresidenz zu sein mit der Folge, dass die Ortschaft zur Provinz wurde, bis Heidegger kam, der seiner provinziellen Heimat Weltbedeutung zumaß. Ein ihm gewidmetes Archiv samt Fachbibliothek ist heute in den Erdgeschossräumen eines Schlosstrakts untergebracht. „Der Feldweg“, den der Philosoph in einer kleinen Abhandlung von 1949 beschrieb und zum Gleichnis für den Gang eines seiner Herkunft eingedenken Denkens erhob, nimmt am Schlosspark Richtung Bichtlingen seinen Ausgang.

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Ob Adornos harsche Kritik Heidegger gerecht wird oder nicht: eine mehr als ambivalente Figur war der Philosoph in jedem Fall. Einen Nachruf, den er auf den 1976 gestorbenen Meister in der Berliner Akademie der Künste hielt, hat Walter Jens entsprechend auf die Formel „(E)in Mensch in seinem Widerspruch“6 gebracht, die er in vielfältigen Variationen unter Beibehaltung des Grundmotivs vortrug und zwar in der Absicht, „den unter politischen Aspekten Vielgeschmähten“ (152) wegen seiner „Unbeirrbarkeit“ (ebd.) zu verteidigen und zuletzt auf Freispruch zu plädieren. Jenseits der Frage, ob Apologie und Absolution zurecht erfolgten, bleibt der Verweis von Jens auf tatsächliche und vermeintliche Widersprüche, die Heidegger in Person und Werk vereinte, signifikant und erhellend: Einerseits wissenschaftliche Gelehrsamkeit in subtilster Form, andererseits Verachtung der Wissenschaften, die für ihn „nicht Philosophie, geschweige denn Dichten und Denken“ (149) sind; auf der einen Seite Heideggers philologische Präzision, auf der anderen ein an der Grenze von Bild und Begriff angesiedeltes Deutsch, mit dessen Hilfe er, in der Mitte von Dichtung und Theologie, ein Sein zu benennen versuchte, das nicht mehr mit einer Formel erfaßt, sondern nur noch, in immer neuen Anläufen, umschrieben und andeutungsweise evoziert werden konnte (ebd.).

Heidegger war nach Jens ein weltläufiger Philosoph mit internationaler Wirkung, „der in Habit, Geste und Sprache die Provinz niemals verleugnete – den Dialekt sowenig wie jenen Heimatbezug, den Ernst Bloch mit der Chiffre ‚gotische Stube‘ umschreibt“ (ebd.); als Denker zugleich Dichter, bei dem sich Gedichtetes und Gedachtes zwar unterscheiden, nicht aber trennen und auf zwei Werkteile verteilen ließen: „Strengste Begrifflichkeit steht bei ihm, nahezu unvermittelt, neben dem Vag-Assotiativen, eher Geraunten als Formulierten.“ (150) 7 Die Reihe der Widersprüche, die der Philosoph gemäß Jens in Personalunion vereinte, ließe sich unschwer fortsetzen. Die Antagonismen bilden in sich und untereinander einen Zusammenhang, der sich begrifflich nicht auflösen oder synthetisieren, sondern am ehesten aus der Beziehung heraus erschließen lässt, die zwischen Gedachtem und Gedichtetem waltet. Denken und Dichten sind bei Heidegger auf differenzierte Weise eins. Immer wieder hat er von „dichtendem Denken“ oder „denkendem Dichten“ gesprochen 6 W. Jens, Nachruf der Akademie der Künste Berlin, in: G. Neske (Hg.), Erinnerung an Martin Heidegger, 149–153, hier: 149. Die nachfolgenden Seitenverweise im Text beziehen sich hierauf. 7 „Wann werden Wörter / wieder Wort? / Wann weilt der Wind weisender Wende?“ (GA 81, 289; vgl. G. Neske (Hg.), a. a. O., 177; dazu: B. Strauß, Heideggers Gedichte. Eine Feuerprobe unserer kommunikativen Intelligenz: Zum einundachtzigsten Band der Gesamtausgabe, in: G. Figal/U. Raulff (Hg.), a. a. O., 9–15, hier: 12: Hier „entführte gar der Stabreim vom vorsokratischen zum altgermanischen Zauberspruch. … So etwas geschieht, ähnlich wie bei Richard Wagner, wenn man von der Sprache eine Suggestion erzwingt, die man in einem anderen Medium souveräner beherrscht, der Musik oder Philosophie. Poesie ist das nicht.“

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und die „Gleichursprünglichkeit“8 beider betont. Ob er nun eher als Dichter denn als Denker zu würdigen ist, bleibe dahingestellt. Ihm selbst galt beider Sendung recht verstanden ohnehin als eins, nämlich die Sage auszurichten, die von einem Ursprünglichen zu reden weiß, das jedem Begriff und namentlich einem Denken spottet, welches von der Vernunft nur mehr einen verstandesmäßig-instrumentellen, also recht eigentlich keinen Gebrauch mehr zu machen vermag. Als Ursprungsdenker par excellence will Heidegger die Philosophie indes nicht nur hinter ihre modernistischen Depravationsgestalten, sondern bis dorthin zurückführen, wo sie ihren Ausgang nahm, zu den Griechen, näherhin zu jenen, die noch nicht, wie die auf sie folgenden, an der durch Sokrates und Platon initiierten Seinsvergessenheit litten, welche die Metaphysik seither bestimmen sollte. Statt nur nach dem Sein des Seienden hätten die sog. Vorsokratiker noch nach dem Sein selbst, also nach dem Sein als Sein gefragt, welche Frage allein die wahrhaft philosophische sei.9 Philosophisches Denken und poetisches Dichten sind vereint, indem sie gemeinsam gegen die Verdinglichung des Seins „zum Gegenstand bloßer Verrechnung und Vernutzung in Dienst und Gefolge der technisch gewordenen Wissenschaften“10, zum Zeugnis „des einen und selben Ursprungsgeschehens der Wahrheit des Seins“11 berufen sind. Heidegger hat das dichterische Wort, namentlich wenn es um die Dichtung Hölderlins ging, 8 R. M. Marafioti, Heidegger und Cézanne. Der denkend-dichtende Pfad durch und über die technische Welt, in: HSt 32 (2016), 183–235, 220 Anm. 161 unter Verweis auf B. E. Babich, Heideggers Stil. Philosophie und Dichtung, in: A. Denker u. a. (Hg.), Heidegger und die Dichtung, Freiburg i. Br./München 2014 (Heidegger-Jahrbuch Bd. 8), 54–73. 9 Der Anfang der Philosophie gilt Heidegger als ihr eigentlicher Ursprung und Grund, freilich nicht im historischen, sondern eher im Sinne jener Archaik, wie sie für sein eigenes Denken kennzeichnend ist, das, wenn man so will, Logos und Mythos zu urtümlicher Gemeinschaft wiederzuvereinigen strebt. Die griechischen Ursprünge der Philosophie müssen daher, so die Grundforderung, noch griechischer und noch ursprünglicher gedacht werden als im historischen Fall. Vgl. W. Beierwaltes, Heideggers Rückgang zu den Griechen. Sitzungsberichte der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Philosophisch-historische Klasse. Jahrgang 1995. Heft 1, München 1995. Dagegen kritisch I. D. Gennaro, Heidegger und die Griechen, in: HSt 16 (2000), 87–113. 10 W. v. Kempski, Martin Heidegger und Erhart Kästner. Anmerkungen zu einem Gespräch im Wegfeld von Dichten und Denken, in: HSt 3/4 (1987/1988), 75–88, hier: 77. 11 A. a. O., 80. Unbeschadet der Nähe zueinander sind Dichten und Denken nach Heideggers Urteil nicht zu verwechseln und voneinander unterschieden, wie vor allem in der Vortragstrilogie über „Das Wesen der Sprache“ von 1957/58 dargelegt wird. Ihr Verhältnis gleicht nach v. Kempski dem zweier Parallelen, „die nach ihrer Bestimmung hin einander zugekehrt sind durch und im Beieinander ihres Gegen-einander-über. Als solche im Endlichen sich nicht schneidende Parallelen verweisen sie als Parallelen in sich doch zugleich über sich hinaus in ihren Ursprung als dem Schnitt im Unendlichen.“ (Ebd.) Nachgerade durch Wahrung ihres Unterschieds achten sie das Geheimnis des Unendlichen und die Differenz, die zwischen dem Sein des Seienden und dem Sein selbst waltet. Heideggers Philosophie will als Denken nicht gleichgesetzt werden mit Dichtung. Ihr Begriff soll ein anderer sein als derjenige der Poesie.

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nicht als ein poetisches Bild begriffen, nicht als Metapher, nicht als Symbol, nicht als eine irgendwie ‚uneigentliche‘ Rede, sondern immer als das unmittelbare Sagen des Gemeinten selbst – wobei dieses Gemeinte freilich in ungekannten Dimensionen zu Hause ist12.

Seine gedanklichen Beiträge zum Verständnis von Dichtung setzen nicht voraus, dass diese eines „außerdichterischen Bezugrahmens“13 bedürfe, um verstanden zu werden, sondern lehnen eine solche Voraussetzung im Gegenteil als irreführend ab. „Heideggers Grundeinsicht besagt, daß das dichterische Wort, wenn wir es nur ernstnehmen und es sich zu seinem eigentlichen Wesensreichtum entfalten lassen, alles mit sich führt, dessen es bedarf.“14 Der Denker bescheidet sich daher damit, lediglich Erläuterungen zum Werk des Dichters zu geben, die nicht erklären wollen, weil jede Erklärung vom Verständnis des Unerklärbaren ablenkt, auf welches wahrhaft dichterische Sage gerichtet ist. „Das erläuternde Denken erklärt nichts“15 und wahrt gerade so die unantastbare „Würde des dichterischen Wortes“16 sowie dessen, was es besagt.

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Zwar meinten viele, „in Heideggers Denken, zumal dem seiner Spätzeit, nur halbpoetisches Geraune sehen zu können, weshalb man Heidegger dann auch aus dem Bereich streng philosophischen Fragens meint(e) ausgrenzen zu müssen“ (85). Doch widerspricht dieses Verfahren Heideggers Selbstverständnis. Halte man sich daran, dann werde man seine Philosophie in dem Anspruch eines ursprünglichen Wandels im Denken selbst ernst nehmen müssen. „Dieser Wandel aber ist keine Wandlung hin zu einem Dichten, sondern als Wandel ist er ein Wandel des Denkens im Denken selbst, hin nämlich zu einem ursprünglich nichtmetaphysischen Denken, das sich seinem Wesen nach bestimmt hält, in der Nachbarschaft zum Dichten seine Wege zu gehen. In ihrer Nachbarschaft aber sind entsprechend dem phänomenologisch-hermeneutischen Aufweis Denken und Dichten auseinandergehalten durch eine zarte aber helle Differenz innerhalb des gleichursprünglichen und gleichwesentlichen Bezuges zum Wesen der Sprache als ihres gemeinsamen Ursprungsbezugs zum Wesen des Seins.“ (86) D. Lüders, „Das abendländische Gespräch“. Zu Heideggers Hölderlin-Erläuterungen, in: HSt 20 (2004), 35–62, hier: 37. A. a. O., 38. Ebd. Rechte gedankliche Erläuterung eines Textes der Dichtung beansprucht diesen nie besser zu verstehen als sein Autor, „wohl aber anders“ (41): „Allein dieses Andere muß so sein, daß es das Selbe trifft, dem der erläuternde Text nachdenkt.“ (Ebd.) Worum es Heidegger geht, ist ein „denkendes Gespräch“ (ebd.) mit der Dichtung zu führen, damit auf zweisame Weise das Eine in seiner Unvordenklichkeit zur Sprache komme: das Sein selbst! A. a. O., 39. Ebd. Obwohl nach Heidegger Kunst ihrem Wesen nach Dichtung ist, hat er nicht nur die Poesie ästhetisch bedacht. Kunsttheoretisch am wenigsten scheint von ihm die Musik beachtet worden zu sein; doch täuscht dieser Eindruck, wie u. a. folgende Studie beweist: R. M. Marafioti, Das stille Spiel der Wahrheit: Die Fragwürdigkeit der Musik bei Heidegger, in: HSt 29 (2013), 133–161. Nähere Aufschlüsse zum Thema „Heidegger und die Literatur“ gibt der erwähnte Dokumentationsband einer Tagung, die im Jahr 2009 von der Martin-HeideggerGesellschaft und dem Deutschen Literaturarchiv in Marburg gemeinsam veranstaltet wurde. An erster Stelle wird eine Rezension von Botho Strauß über Heideggers Gedichte dargeboten, die erstmals in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 19. September 2008 anlässlich der

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Heidegger als Denker und Dichter

„Man nennet aber diesen den Ister.“ Und weiter: „Umsonst nicht gehn / Im Troknen die Ströme. Aber wie? Sie sollen nemlich / Zur Sprache seyn.“ Zuletzt: „Was aber jener thuet der Strom / Weis niemand.“ Dem Tal der oberen Donau zwischen Beuron und Gutenstein waren Hölderlin und Heidegger gleichermaßen heimatlich verbunden. Nicht von ungefähr wurde für den Philosophen die IsterHymne des Dichters zu einem paradigmatischen Text, seine Gedanken über Heimat und Heimatlosigkeit zu explizieren. Primäres Thema ist dabei nicht die Beschreibung von Naturphänomenen, „sondern das Heimischwerden des Menschen im Eignen“17. Um zum Eignen zu finden, bedarf es des Wegs in die Fremde: Nur wer Heimweh kennt, weiß, was Heimat ist. Der Ortschaft, deren Vorstellung der Heimatbegriff hervorruft, ist Wanderschaft eingezeichnet, wobei auch dieser Zusammenhang kein bloßes Natur-, sondern ein Daseinsphänomen betrifft, nämlich „das Sein des Menschen selbst“ (ebd.) und seinen Ursprung, in dem es gründet. Publikation des 81. Bandes der Gesamtausgabe erschienen ist. Der Band „enthält in vier Abteilungen Texte, die die Nähe und die gegenseitige Abhängigkeit von Dichten und Denken nicht erörtern, sondern selbst erproben“ (B. Strauß, Heideggers Gedichte. Eine Feuerprobe unserer kommunikativen Intelligenz: Zum einundachzigsten Band der Gesamtausgabe, in: G. Figal/U. Raulff [Hg.], a.a.O., 9–15, hier: 9). Gemäß Strauß begegnet man ihnen am besten mit der hermeneutischen Devise: „Ich verstehe nicht, doch ich lasse mir sagen …“ (A. a. O., 12). Wer Gehorsam bzw. Hörigkeit dieser Art nicht aufzubringen vermag oder nicht aufzubringen gewillt ist, wird sich an den vorhergehenden Satz halten, wo es heißt: „Unvermeidlich sind die Kommentatoren, die Mitgeister und Vermittler, die diese zurückgenommenen, verwahrten Worte, die dem Reden entsagten, wieder in Aussagesätze und zum Aussprechen bereiten.“ (Ebd.) Strauß betont ausdrücklich, dass Heideggers „Texten die Wollust, ausgelegt zu werden, eingeschrieben“ (ebd.) ist, hebt dann aber sofort das Problem der Authentizität und Autorität ihrer Explikation hervor: „Wer aber kann sie auslegen? … Es muss wohl ein Künftiger sein, der ganz anders sprechend endlich versteht.“ (Ebd.) Als Hinweis auf einen eschatologischen Vorbehalt, unter dem jeder Verstehensanspruch steht, hat dieser Satz seine Richtigkeit; ansonsten muss es bei dem bewährten Grundsatz bleiben, dass Worte und Texte auf Verständlichkeit hin anzulegen sind, wenn sie nicht als grundsätzlich unverständlich gelten sollen. Wie der Apostel Paulus an die Korinther schreibt: Wenn ihr in Zungen redet, aber kein verständliches Wort hervorbringt, wer soll dann das Gesprochene verstehen? „Ihr redet nur in den Wind.“ (1. Kor 14,9) 17 W. Biemel, Zu Heideggers Deutung der Ister-Hymne. Vorlesung SS 1942, GA 53, in: HSt 3/4 (1987/88), 41–60, hier: 49. „Danuvius molli et clementer edito montis Abnobae iugo effusus“, heißt es im ersten Kapitel von Tacitus’ Germania: „die Donau entströmt einem sanften und gemächlich ansteigenden Rücken des Abnobagebirges“, das heute der Schwarzwald heißt. Für Quellgebiet und Verlauf des langen, vom Schwarzwald zum Schwarzmeer fließenden Stromes trifft kaum zu, was der um 55 n. Chr. geborene und ca. 120 n. Chr. gestorbene Dichter generalisierend von Germanien gesagt hat: landschaftlich ohne Reiz, rau im Klima, trostlos für den Bebauer wie für den Beschauer, „nisi si patria sit“, es müsste denn seine Heimat sein. (P. Cornelius Tacitus, De origine et situ Germanorum liber. Lateinisch/Deutsch. Übersetzt, erläutert und mit einem Nachwort hg. v. M. Fuhrmann, Stuttgart 1972, 5.)

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„Ister“ war der griechisch-römische Name für die untere Donau, während die obere bei den Römern Danuvius bzw. Danubius hieß. Hölderlin versieht dagegen die obere Donau mit dem Isternamen, als wollte er den Stromlauf umkehren und ihn in seinen Quellgrund zurückführen, wie Heidegger vermutet. Seine 1984 in GW 53 erstmals publizierte Vorlesung vom SS 1942 über Hölderlins Hymne „Der Ister“ ist nicht weniger enigmatisch als das Gedicht selbst, dessen Sprachereignis als Seinsgeschehen gedeutet wird. Als solches und damit auf eine entsprechende Weise wird es nach Heideggers Urteil nur verstanden, wenn man es primär von der Mitteilungs- und nicht von der Aussagefunktion der Sprache her begreift. Sprache – und namentlich diejenige der Dichtung – ist Heidegger zufolge wesentlich Mitteilung und erst sekundär objektivierende Aussage. Behauptungssätze gelten ihm lediglich als abkünftige Modi eines Sprachgeschehens, das sich prototypisch im personalen Kommunikationsvollzügen ereignet, in denen nicht nur dieser oder jener Sachverhalt, sondern reflexe Selbst- und Weltverhältnisse sowie der Grund zur Sprache kommen, in dem sie gründen. Der Formen menschlicher Rede sind viele, und auch Schweigen kann auf seine Weise beredt sein. Traditionell wird unter den Redeformen die Königsstellung der Aussage zuerkannt und zwar auch im Kontext der Philosophie. Dem widerspricht Heidegger: Als Aussage sei die Rede am Vorhandenen orientiert; durch diese Orientierung werde ihre gegenständliche Logik geprägt, von welcher die Sprache und ihre Grammatik zu befreien eine der dringlichsten philosophischen Aufgaben darstelle. Denn nur unter Voraussetzung dieser Befreiung könne sprachlich erschlossen und entborgen werden, was wahrhaft Wahrheit zu nennen sei. Wahrheit kann nach Heidegger auf genuine Weise nicht als adäquatio intellectus et rei gefasst werden, wie dies seit alters geschehen sei, sondern müsse vom ursprünglichen Entdecken als einer elementaren Seinsweise des Daseins her begriffen werden: Die entdeckte Welt ist als seine Entdeckung dasjenige, was dem Dasein je und je als wahr erscheint. Wie Realität so „gibt es“ nach Heidegger auch Wahrheit „nur, sofern und solange Dasein ist. Seiendes ist nur dann entdeckt und nur solange erschlossen, als überhaupt Dasein ist.“18 Alle Wahrheit ist mithin wesenhaft daseinsrelativ, ohne durch seine Daseinsrelativität relativiert oder dem bloß Subjektiven preisgegeben zu werden. Auch über das Wahrsein oder Unwahrsein des Daseins ist mit dem Hinweis auf die Daseinsrelativität der Wahrheit keine Entscheidung getroffen. Es ist im Gegenteil so, dass die in der Erschlossenheit des Daseins gründende Wahrheit das Urteil über dessen Wahrsein oder Unwahrsein allererst ermöglicht. Daseinserschlossenheit setzt Wahrheit voraus und zwar so, dass von ihr her über das Wahrsein oder Unwahrsein von Dasein zu befinden ist. Obwohl in der Wahrheit und für sie erschlossen, ist das 18 M. Heidegger, Sein und Zeit, Tübingen 121976, 226.

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Dasein nicht unmittelbar die Wahrheit selbst, sondern nimmt diese als sich vorausgesetzt wahr, wie denn zum Sein des Daseins überhaupt und wesentlich Sich-voraussetzen gehört. Das Dasein setzt sich wie die Wahrheit, als die es erschlossen ist, als sich selbst vorausgesetzt voraus. Bedenkt man dies recht, dann ergibt sich die sog. Kehre Heideggers durchaus stimmig aus der konzeptionellen Anlage von „Sein und Zeit“ und zwar auch in sprachphilosophischer Hinsicht. Um zu verstehen, was Heidegger unter Verstehen versteht, muss hinter Theorie und theoriegeleitete Praxis auf ein Vortheoretisches zurückgegangen werden, das in unvordenklicher Faktizität jeden wirklichen Verstehensvollzug allererst ermöglicht. Die Möglichkeit von Verstehen lässt sich nicht erklären, weil sie für Erklärungen jedweder Art schon die Voraussetzung bildet. Verstehen ist primär keine Weise des Erkennens, sondern „ein Modus des Seins, ein Seinsbezug zum Seienden“19, der die Differenz von Ich und Bewusstseinswelt immer schon umfasst. Aussagen erklärender Art setzen ein ursprünglich erschlossenes Welt- und Daseinsverständnis voraus, wobei das Ereignis ursprünglicher Welt- und Daseinserschließung nach Maßgabe der Heideggerschen Spätphilosophie primär im Vollzug hörenden Achtens auf die seinsentbergende Sprache der Dichtung statthat. Hatte Heidegger im Frühwerk die Sprache noch als „Ausdruck eines vorgängigen Verstehens“20 gedeutet, so lässt der späte Heidegger das Denken aus der Sprache hervorgehen, welche allererst ermögliche, dass gedacht werde. Eine radikale Umkehrung der Verhältnisse von Denken und Sprache wird man freilich in dieser Wendung nicht zu sehen haben, weil Heidegger immer schon den 19 C. Uzondu, Heideggers Versuch, das „Verstehen“ zu verstehen, in: HSt 26 (2010), 209–217, hier: 214. 20 W. Pannenberg, Anthropologie in theologischer Perspektive, Göttingen 1983, 330. Die Worte folgen den Bedeutungen und Bedeutungszusammenhängen, die verstanden sein müssten, um artikuliert zu werden. Pannenberg teilt diese Auffassung und konstatiert, „daß die Sprache selber, zumal in ihrer Entstehung, nur von einer schon vorausgegangenen Ausbildung des Denkens her verstanden werden kann. Allerdings ist die Sprache das ‚bildende Organ‘ (W. v. Humboldt), dessen der Gedanke bedarf, um zu dauerhafter Gestalt und zu differenzierter Entwicklung zu gelangen. Da die Verfügbarkeit und Abrufbarkeit der Gedächtnisinhalte weitgehend durch die Beherrschung der Sprache bedingt ist, ist alle höher differenzierte Ausbildung des Denkens erst auf dem Boden der Sprache möglich. Andererseits gewinnen die in jeder sprachlichen Äußerung angelegten Möglichkeiten ihrer Fortsetzung erst durch Vermittlung des auswählenden Gedankens in der einen oder anderen Richtung Gestalt.“ (A. a. O., 350) Ein Wahrheitsmoment erkennt Pannenberg der „Umkehrung des Verhältnisses von Denken und Sprache“ (ebd.) in Heideggers Spätphilosophie gleichwohl zu, insofern sie gegen die grundlegende Funktion des Subjektbegriffs in der neuzeitlichen Metaphysik und gegen die Annahme gerichtet sei, Sprache lasse sich gemäß der selbstbewusstseinstheoretischen Logik eines gedankensetzenden Denkens als Hervorbringung menschlichen Handelns bestimmen. Dem widerspricht auch Pannenberg. Weder Denken noch Sprechen können gemäß seinem Urteil angemessen als Tun eines selbsttätigen Subjekts verstanden werden.

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Verstehensvorgang der Vernunft in einem unvordenklichen Erschließungsgeschehen und die Sprache in einem Mitteilungsereignis gründete, das allen erklärenden Aussagen und ihrem jeweiligen Verständnis vorhergeht. Man kann sich dies beispielhaft an der Art und Weise verdeutlichen, wie Heidegger im 70. Paragraphen seines Kollegs über „Die Grundbegriffe der Metaphysik“ vom WS 1929/30 Struktur und Charakter philosophischer Begriffe bestimmt. Er tut dies wie zuvor schon und auch danach wiederholt unter dem Stichwort der formalen Anzeige. Philosophische Begrifflichkeit zeigt die Verwandlung des Daseins, auf welche sie gerichtet ist, lediglich an. Denn von sich aus zu bewirken vermag Philosophie diese Wandlung nicht; sie würde ihre Mission vielmehr verfehlen, wenn sie sich selbst als die Wirkursache des Daseinswandels ausgäbe, den sie intendiert. Philosophie ist Wegweiser, nicht der Weg selbst, der zum Leben führt. Ihre Begriffe haben die Struktur und den Charakter einer Anzeige und zwar einer formalen, insofern sie „je in eine Konkretion des einzelnen Daseins im Menschen hineinzeigen, diese aber nie in ihrem Gehalt schon mitbringen“ (GA 29/30, 429)21. Ohne ihre prohibitive Funktion (vgl. bes. GA 61, 141ff.) ist der konstruktive Sinn der formalen Anzeige nicht zu erlangen. Ist die sog. formale Anzeige im fundamentalontologischen Denken des frühen Heidegger in erster Linie gegen logische Sprachregulierung und die Prädominanz der Aussage im Sprachgeschehen gerichtet22, so bleibt im seinsgeschichtlichen Denken die Struktur der abwehrenden Hinzeige unter anderen Vorzeichen beibehalten. Indem die Geschichtlichkeit des Seins selbst nunmehr das primär zu Denkende ist, geht die durchbrechende Valenz seinsgeschichtlicher Begrifflichkeit dahin, die Sprache des auslaufenden ‚ersten Anfangs‘ in ihren Ursprung zurückzugründen und so in das Andere des ‚anderen Anfangs‘ hineinzuhalten. Ab-wehrend die Geschichte der Metaphysik birgt das Ereignis-Denken diese selbst in ihr gewesenes Eigene und zeigt so hin in das zu-kommende Eigene des ‚anderen Anfangs‘. Die seinsgeschichtliche Umwandlung der ‚formalen Anzeige‘ hat ihre klarste Konkretion im Begriff des ‚ab- und hinwinkenden Winks‘ des sichzuwerfenden Ereignisses, dem der denkerische Entwurf im

21 Dazu im Einzelnen: R. J. A. van Dijk, Grundbegriffe der Metaphysik. Zur formalanzeigenden Struktur der philosophischen Begriffe bei Heidegger, in: HSt 7 (1991), 89–109. Zur Entwicklung des Begriffs der formalen Anzeige vgl. auch Th. C. W. Oudemans, Heideggers „logische Untersuchungen“, in: HSt 6 (1990), 85–105; seine Modifikation im Zuge von Heideggers seins- bzw. ereignisgeschichtlichem Denken wurde von P.-L. Coriando untersucht: Die „formale Anzeige“ und das Ereignis. Vorbereitende Überlegungen zum Eigencharakter seinsgeschichtlicher Begrifflichkeit mit einem Ausblick auf den Unterschied von Denken und Dichten, in: HSt 14 (1998), 27–43. 22 Oudemans hat den Status der Formalanzeige anhand der frühen Freiburger Vorlesungen, des Aufsatzes über Phänomenologie und Theologie und von „Sein und Zeit“ untersucht, wo es ausdrücklich heißt, „daß die Grammatik aus der Macht der Logik befreit werden müsse“ (Th. C. W. Oudemans, a. a. O., 97).

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springend-gründenden Sagen des Ab-grundes des Seins, selbst ab- und hinwinkend, jeweils ent-spricht.23

Gepriesen sei, wer Sätze wie diese zu verstehen vermag! „Man vergilt einem Lehrer schlecht, wenn man immer nur der Schüler bleibt“24, sprach Nietzsches Zarathustra zu seinen Jüngern. Martin Heidegger hat zu diesem Wort in einem Brief anlässlich des 60. Geburtstags von Eugen Fink, dessen Andenken er die Publikation seiner großen Vorlesung vom WS 1929/30 gewidmet hat, angemerkt: „Wir bringen das Schülerhafte, falls es besteht, nur hinter uns, wenn es glückt, dieselbe Sache des Denkens von neuem zu erfahren und zwar als die alte, die Ältestes in sich birgt.“ (GA 29/30, 534) Ob PaolaLudovica Coriandos Interpretation der formalen Anzeige in Heideggers Spätphilosophie als geglückt oder als schülerhaft zu beurteilen ist, kann dahingestellt bleiben. In jedem Fall lässt sie an einen Ausspruch denken, mit dem Carl Friedrich von Weizsäcker nach eigenem Bekunden auf eine Vorlesungsstunde Heideggers reagierte, die er in den späten 30er Jahren in Freiburg gehört hatte: „‚Das ist Philosophie. Ich verstehe kein Wort. Aber das ist Philosophie.‘“25 Dazu passt die in Kollegs wiederholt geäußerte Vermutung Heideggers, dass seine Hörer wahrscheinlich nicht nur nichts verstehen, sondern „die ganze Betrachtung von Anfang bis zum Ende mißverstehen“ (GA 60, 65) werden.

23 P.-L. Coriando, a. a. O., 40. Heideggers Denken steht Coriando zufolge „in einer einzigartigen Nähe zum Dichten“ (41). Beide kommen im Selben überein, doch dieses Selbe gebe sich dem Dichten anders als dem Denken, nämlich im Falle der Dichtung in bildhafter, im Falle des Denkens in begrifflicher Form, wenngleich in Form von Begriffen, die auf das Unvordenkliche in seiner Unbegreiflichkeit ausgerichtet seien. Vornehmste Bestimmung von Denken und Dichten ist es Coriando zufolge, dass im Seiende verborgene Sein entbergend anzuzeigen und zur Sprache zu bringen, wenngleich, wie gesagt, auf unterschiedliche Weise: „Denken und Dichten unterscheiden sich in der Valenz ihres Sprechens so sehr, daß selbst ‚gleichlautende‘ Worte, denkerisch oder dichterisch gesprochen, nie bloß ‚das Gleiche sagen‘, sondern nur auf ganz anderem Wege das Selbe anzeigen.“ (42) 24 F. Nietzsche, Also sprach Zarathustra. Ein Buch für Alle und Keinen (1883–1885). Kritische Gesamtausgabe VI/1, Berlin 1968, 97 (Von der schenkenden Tugend 3). 25 C. F. v. Weizsäcker, Begegnungen in vier Jahrzehnten, in: G. Neske (Hg.), Erinnerung an Martin Heidegger, 239–247, hier: 241. Unnötig zu betonen, dass das Unverständnis des gelehrten Physikers nicht durch den „südschwäbischen Tonfall“ (ebd.) bedingt war, in dem der Philosoph seine Sinnsprüche nach der Väter Sitte vorgetragen haben soll. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang des Weiteren die Beobachtung eines, wie es heißt, klugen Jüngeren, der mit Blick auf Heidegger gesagt haben soll: „‚Eigentlich ist er nicht intelligenter als mancher Andere. Aber er ist ein Augenzeuge.‘“ (244)

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Begriffliches Denken vermag nach Heideggers Urteil der notorischen Seinsvergessenheit, welche insbesondere die Neuzeit kennzeichne, nicht zu begegnen, da das Sein oder besser: das Seyn, welches allem Seienden sein Sein gebe, unvordenklich und nicht auf den Begriff zu bringen sei. Wo man es denkend zu begreifen suche, entziehe es sich in die Verborgenheit nihilistischer Leere hinein. Zur Selbsterschließung des Seins selbst könne es nur in einem verdichteten Sprachereignis kommen, welches die Unbegreiflichkeit des Gesagten (und damit zugleich ein Moment der Nichtbegrifflichkeit seiner selbst) wahre. In wahrer Dichtung hat dies der Möglichkeit nach statt. Als Sage vom Seyn kann sie anders als rein begriffliches Denken zum Medium der Offenbarung des abgründigen Grundes alles Seienden werden. Folgt man Heidegger, dann ist neben der griechischen die deutsche Sprache und innerhalb dieser der mundartliche Dialekt namentlich des SchwäbischAlemannischen am besten geeignet, dem begrifflich Unsagbaren sagenhaften Ausdruck zu verleihen. Der philosophische Grund von Heideggers Affinität zur Provinz ist damit benannt. Sein dezidierter Provinzialismus liegt im Wesen seiner Philosophie begründet und umgekehrt. Wäre das Sein selbst einem Gott zu vergleichen, dann spräche dieser wohl so, wie man unter den sog. kleinen Leuten von Meßkirch oder von Todtnauberg spricht; aus der wiederholt beanspruchten Zugehörigkeit zu ihnen hat Heidegger einen Großteil seines elitären Bewusstseins bezogen, das er mit Vorliebe gegen die etablierten akademischen Wissenschaften ausspielte. Es störte ihn nicht im Geringsten, im universitären Kontext von vielen für einen Narren im höheren Chor gehalten zu werden. Im Gegenteil: Er empfand dies als Beleg seines ursprünglichen Geistesadels, der keiner akademischen Nobilitierung bedurfte. Den Universitätswissenschaften wusste sich der Seinsphilosoph gleichsam von Hause aus überlegen.26 Von Jürgen Habermas stammt das Wort, Hans-Georg Gadamer (1900–2002) habe die Heideggersche Provinz urbanisiert27, indem er ihre Hermetik in eine Hermeneutik universalen Sinnverstehens überführt und damit behoben habe. Faktum ist, dass Gadamer, ein Heideggerschüler der ersten Stunde, nicht in einem Schülerverhältnis zum Meister verharrte, sondern sich von dessen Ursprungsdenken zu emanzipieren trachtete, ohne deshalb seine Wurzeln zu ver26 Zum Sitz im Leben der Universitätsphilosophie und zur Frage, wie sich die universitäre Zugangssituation nach Heidegger auf das philosophische Selbstverständnis auswirkt, vgl. GA 61, 62ff. 27 J. Habermas, Philosophisch-politische Profile. Erweiterte Ausgabe, Frankfurt a. M. 1981, 392ff. Zum Verhältnis von Habermas und Gadamer vgl. im Einzelnen St. Müller-Drohm, Jürgen Habermas. Eine Biographie, Berlin 2014, 129ff., bes. 136ff.

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leugnen.28 Seinen Weltruhm als Philosoph verdankt Gadamer im Grunde einem einzigen Buch, das im Jahr 1960 erschien, also kurz bevor Habermas sein junger Heidelberger Kollege wurde; der Titel der Monographie sollte zunächst „Verstehen und Geschehen“ lauten, wurde dann aber in „Wahrheit und Methode“ geändert.29 Dass Gadamer

28 Gadamer war ein früher Heideggerianer. Seit 1923 besuchte er Lehrveranstaltungen des jungen Freiburger Dozenten und suchte ihn zum Zwecke höherer Belehrung in dessen Hütte oberhalb von Todtnauberg auf. In seinen „Erinnerungen an Heideggers Anfänge“ hat HansGeorg Gadamer später die „vor-Marburger Epoche“( H.-G. Gadamer, Erinnerungen an Heideggers Anfänge [1986], in: ders., Gesammelte Werke. Bd. 10: Hermeneutik im Rückblick, Tübingen 1995, 3–13, hier: 3) seines Lehrers als eine Zeit charakterisiert, in der dieser „als Theologe und als Denker noch ganz auf der Suche war“ (ebd.). Zum Leitstern seiner zukunftsweisenden Wegerkundungen sollten religionsphänomenologische Studien werden. In ihnen habe sich der Ansatz seiner „Hermeneutik der Faktizität“ am deutlichsten zur Geltung gebracht. Indem sie die Selbstauslegung faktischen Daseins in der Konkretion seiner Lebenswelt vollzugsgeschichtlich verfolge, werde die Existenzhermeneutik einer „unauflösbaren Zweideutigkeit“ (a. a. O., 11) gewahr, „die das Wesen der Lebensbewegung als solche ausmacht“ (ebd.): das lebendige Dasein in seiner Faktizität ist ambivalent und zwiespältig in sich selbst, was zutage trete, wenn es sich in sich selbst vertiefe und in Beziehung gelange zu seinem fundierenden Lebensgrund, wie das im religiösen Verhältnis der Fall sei. Die konstruktive Bedeutung des religiösen Verhältnisses für Heideggers Denken hat Gadamer auch in Bezug auf dessen Marburger Zeit herausgestellt und daran erinnert, dass die „Urform von ‚Sein und Zeit‘ … ein Vortrag vor der Marburger Theologenschaft (1924)“ (H.-G. Gadamer, Die Marburger Theologie [1964], in: ders., Gesammelte Werke. Bd. 3: Neuere Philosophie I. Hegel-Husserl-Heidegger, Tübingen 1987, 197–208, hier: 197) war. 29 H.-G. Gadamer, Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, Tübingen 1960. Die nachfolgenden Seitenverweise im Text beziehen sich auf dieses Werk, das in vielen Auflagen erschienen und in Band 1 der Gesammelten Werke Gadamers (Tübingen 1986) aufgenommen ist. Bevor er sie im zweiten Teil auf das Verstehen in den Geisteswissenschaften ausweitet, sucht Gadamer die Wahrheitsfrage an der Erfahrung der Kunst freizulegen (vgl. 1ff.). Gegen die Subjektivierung der Ästhetik durch die kantische Kritik (vgl. 39ff.) soll die Seinsvalenz des Kunstwerks ontologisch geltend gemacht und hermeneutisch erschlossen werden. Philosophisch zu fragen sei, „was das Sein des Sichverstehens ist“ (95), wie es sich ästhetisch ereignet. Als Leitfaden der ontologischen Explikation dienen insbesondere Spiel (vgl. 97ff.) und Bild (vgl. 128ff.), die mit anderen Darstellungskünsten den Wahrnehmungshorizont einer nach ästhetischer Wahrheit fragenden Hermeneutik bestimmen. Paradigmatische Bedeutung kommt der hermeneutischen Ästhetik für die Kunst des Verstehens deshalb zu, weil durch sie Gadamer zufolge Wahrheitsbedingungen aufgedeckt werden sollen und tatsächlich werden, die allen wissenschaftlichen Theoriebildungen vorangehen. Wissenschaftliches Forschen verfolgt Zwecke, der Sinn der Kunst dagegen liegt in ihrer Zwecklosigkeit begründet. Kunstsinn durch hermeneutische Reflexion zu erschließen dient den Wissenschaften auf exemplarisch Weise insofern, als sie dadurch der transzendentalen Prämissen gewahr werden, die nicht in ihrer Eigenlogik liegen, für deren Sinn und Bedeutsamkeit aber grundlegend sind. Vgl. dazu das Nachwort des Autors zur Drittauflage (1972) von „Wahrheit und Methode“ (513–541; vgl. GW 2, 449–478), wo Gadamer sich auch mit den Kritikern seines Werkes auseinandersetzt, wobei er seiner hermeneutischen Maxime gemäß nicht das letzte Wort behalten, sondern in beständigem Gespräch bleiben will.

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heute als einer der wichtigsten Philosophen des zwanzigsten Jahrhunderts gilt und nicht nur als kundiger Erforscher der antiken Philosophie, nicht nur als umfassend gebildeter Gelehrter mit deutlichem Hang zur Gelegenheitsarbeit, geht allein auf Wahrheit und Methode zurück30.

Schüler des Heidelberger Meisters haben „das klassisch gewordene Grundwerk der philosophischen Hermeneutik“31 „familiär nach seinen Initialen einfach mit der Interjektion ‚Wum‘ getauft“32. Indes stellt der Titel des opus magnum eher eine verlegerisch motivierte Verlegenheitslösung dar, die „nicht wenige Mißverständnisse provozieren sollte“33. Die Annahme lag nahe, Gadamer wolle Regeln und Verfahrensweisen des Verstehens erkunden wie die alte Hermeneutik seit Schleiermachers Zeiten. Seine Intention war indes viel weitreichender: Er beabsichtigte, wie die Überschrift des dritten und letzten Werkteiles ausdrücklich vermerkt, der Hermeneutik eine ontologische Wendung zu geben und zwar am Leitfaden der Sprache, „die alles Seiende in seinem Sein bestimme“34. Verständlich erschließt sich das Sein des Seienden sprachlich, nämlich dadurch, dass es zur Sprache kommt bzw. zur Sprache gebracht wird. Zwar leugnet Gadamer nicht, dass Seiendes besteht, auch wenn man es aktualiter nicht versteht. Doch auch dieser Sachverhalt und mithin die Differenz zwischen Begriff und Sache wird verständlich nur im sprachlichen Zusammenhang. Um zur Sache zu kommen und sie in ihrer Sach- und Gegenständlichkeit zu erfassen, bedarf es der Sprache. Ohne diese bleibt das Sein des Seienden verborgen und unzugänglich. „Erst indem etwas zu Wort kommt, ist es wirklich, was es ist.“35 Zwar geht die Sache im Wort nicht auf. Doch gilt zugleich, dass das, was sachlich der Fall ist, nur sprachlich verständlich werden kann. Was Sache ist, zeigt sich allein in der Sprache. Ohne sie wird nichts verständlich, und alles, was ist, stellt sich in 30 G. Figal, Wahrheit und Methode zur Einführung, in: ders. (Hg.), Hans-Georg Gadamer Wahrheit und Methode, Berlin 22011, 1–6, hier: 1. 31 J. Grondin, Hans-Georg Gadamer. Eine Biographie, Tübingen 22013, 321. 32 Ebd. 33 D. di Cesare, Gadamer – Ein philosophisches Porträt, Tübingen 2009, 38. 34 G. Figal, Wahrheit und Methode als ontologischer Entwurf. Der universale Aspekt der Hermeneutik, in: ders. (Hg.), a. a. O., 195–208, hier: 196. Vgl. ders., Wahrheit und Methode zur Einführung, 3: „Gadamer will mehr als eine ins Allgemeine ausgreifende Reflexion der Auslegungskunst, die die Hermeneutik noch für Schleiermacher gewesen ist. Er will nicht nur, wie Dilthey, einen Beitrag zur Selbstbesinnung der Geisteswissenschaften leisten. Sein philosophischer Entwurf ist vielmehr durch die Überzeugung getragen, daß das wissenschaftliche Selbstverständnis der Geisteswissenschaften verfehlt sei.“ Ihnen müsse eine neue Basis in Form einer hermeneutischen Ontologie gegeben werden. 35 G. Figal, Wahrheit und Methode als ontologischer Entwurf, 197. Figal fügt erläuternd an: „Wort und Sache sind demnach Eines und dennoch in ihrer Einheit zu unterscheiden; die Einheit ist nicht einförmig und undifferenziert, sondern in sich gegliedert – wie eine Bewegung einheitlich ist und dennoch unterscheidbare Phasenmomente hat, die wiederum nicht aus der Einheit der Bewegung herauszulösen sind.“ (Ebd.)

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ihr dar. Unter diesen Prämissen fragt Gadamer in „Wahrheit und Methode“, ob bzw. inwiefern von Heidegger her etwas für den Aufbau einer sachhaltigen Hermeneutik von Sprachverstehen gewonnen werden kann (vgl. 240ff. sowie 250ff.). Verstehen, so Gadamer, ist nach Heidegger keine Spezialform des Daseins, sondern seine „ursprüngliche Vollzugsform“ (245). Verstehen ohne Sich-Verstehen ist daher nicht möglich. Heißt dies, dass Verstehen im Selbstverständnis aufgeht und Interpretation sich in Selbstauslegung erfüllt? Tatsache ist, dass Heidegger das Verstehen von Geschichte von geschichtlicher Selbstverständigung abhängig macht und objektgeschichtliches Verstehen zu den Weisen uneigentlichen Verstehens rechnet, wodurch das Dasein seine Geschichtlichkeit historistisch zu veräußern in Gefahr steht. In Anbetracht dessen drängt sich die Frage auf, ob von Heidegger her überhaupt „etwas für den Aufbau einer historischen Hermeneutik gewonnen werden kann“ (248). Gadamer bejaht die von ihm selbst gestellte Frage und betont, dass durch die Hermeneutik des faktischen Lebens bzw. des Daseins im Vollzug seiner Existenz, wie sein Lehrer sie entworfen habe, dem Verständnis von Verstehen eine neue Dimension zugewachsen sei: Die Zugehörigkeit des Interpreten zu seinem Gegenstande, die in der Reflexion der historischen Schule keine rechte Legitimation zu finden vermochte, erhält nun einen konkret aufweisbaren Sinn, und es ist die Aufgabe der Hermeneutik, die Aufweisung dieses Sinnes zu leisten. Daß die Struktur des Daseins geworfener Entwurf ist, daß das Dasein seinem eigenen Seinsvollzug nach Verstehen ist, das muß auch für den Verstehensvollzug gelten, der in den Geisteswissenschaften geschieht. (249)

Trifft nach Gadamer Heideggers Verstehensverständnis in Bezug auf die Integration existentiellen Selbstverständnisses zu, so müsse doch zugleich verstanden werden, dass sich das Selbstverständnis des Daseins in seiner Geschichtlichkeit stets im universalen Traditionszusammenhang überlieferter Geschichte ereignet. Diese Grundannahme sowie die Prämisse, dass die allgemeine, daseinsanalytisch aufzuweisende Struktur des Verstehens „im historischen Verstehen ihre Konkretion“ (ebd.) erlange, weil dem geschichtlichen Dasein Geschichte als uneinholbare und unüberholbare Bedingung seiner Verstehensmöglichkeit „voraus“ (250) liege, sind weichenstellend und bestimmend für Gadamers philosophische Hermeneutik, wie er sie in „Wahrheit und Methode“ entworfen hat. Sie sind zugleich kennzeichnend für die Art und Weise seiner Heidegger-Rezeption bzw. seiner kritischen Absetzung vom Lehrer, die sich keineswegs auf Vorbehalte gegenüber philologischen Gewaltsamkeiten von dessen „produktive(r) Anverwandlung der Überlieferung“ (473) beschränkt, sondern viel grundsätzlicher gefasst ist: Das Geschehen existentieller Selbstverständigung des Daseins in seiner Geschichtlichkeit lässt sich nur im Vollzug des Verstehens von Geschichte verstehen.

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Geschichte bzw. der traditionsgeschichtliche Überlieferungsprozess, der sie ausmacht, bildet den umfassenden Horizont aller Verstehensvorgänge. Zwar kann Überlieferungsgeschichte ohne existentielle Selbstverständigung und entsprechende konstruktive Anverwandlung der Tradition nicht verstanden werden; aber ebenso wenig kann das Verständnis, welches das Dasein von sich selbst hat, zur unmittelbaren Grundlage einer Geschichtshermeneutik erklärt werden, weil der Gesichtskreis phänomenologischer Daseinsschau bereits selbst traditionsgeschichtlich vermittelt ist. Wenn Gadamer die Geschichtlichkeit des Verstehens zum hermeneutischen Prinzip erhebt (vgl. 250ff.), dann meint er genau dies: Geschichte bildet den universalen Horizont allen Verstehens einschließlich existentieller Selbstverständigung des Daseins, welches zwar geschichtliche Neugestaltungen zu bewirken, nicht aber aus der Geschichte herauszutreten vermag. Um Missverständnisse zu vermeiden, ist deutlich zu machen, dass Gadamer unter Geschichte stets Überlieferungsgeschichte versteht. Am Anfang aller historischen Hermeneutik muss daher seinem Urteil zufolge „die Auflösung des abstrakten Gegensatzes zwischen Tradition und Historie, zwischen Geschichte und Wissen von ihr stehen“ (267). Hermeneutik hat zwischen Tradition und Historie, zwischen Geschichte und dem Wissen von ihr und entsprechend zwischen eigener Geschichtlichkeit und geschichtlichem Anderen, zwischen der Zeitlichkeit des Daseins in seiner Jemeinigkeit und anderen – gegebenenfalls fremden und befremdlichen – Zeiten zu vermitteln. Die Stellung zwischen Fremdheit und Vertrautheit, die die Überlieferung für uns hat, ist das Zwischen zwischen der historisch gemeinten, abständigen Gegenständlichkeit und der Zugehörigkeit zu einer Tradition. In diesem Zwischen ist der wahre Ort der Hermeneutik. (279)

Nimmt sie ihn ein, dann wird sie im Unterschied zur „Naivität des sogenannten Historismus“ (283), dessen Aporien Gadamer noch bei Dilthey nachwirken sieht (vgl. 162ff., bes. 205ff.), ihre eigene Geschichtlichkeit nie vergessen, sondern stets mitbedenken, um im historischen Objekt, ohne dessen Objektivität subjektivistisch aufzulösen, das Andere des Eigenen und damit das Eine wie das Anderer erkennen (zu) lernen. Der wahre historische Gegenstand ist kein Gegenstand, sondern die Einheit dieses Einen und Andren, ein Verhältnis, in dem die Wirklichkeit der Geschichte ebenso wie die Wirklichkeit des geschichtlichen Verstehens besteht. Eine sachangemessene Hermeneutik hätte im Verstehen selbst die Wirklichkeit der Geschichte aufzuweisen. (285)

Gadamer nennt die von ihm postulierte hermeneutische Methodik wirkungsgeschichtlich und erhebt die Wirkungsgeschichte zum Prinzip geschichtlichen Verstehens. Weil geschichtliches Verstehen „seinem Wesen nach ein wirkungsgeschichtlicher Vorgang“ (283) ist, bildet die Wirkungsgeschichte den

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Horizont von Historie und historischem Verstehen. Dieser Horizont umschließt alles, „was das geschichtliche Bewußtsein in sich enthält“ (288). Er ist einer und einzig, weil außerhalb seines Gesichtskreises nichts zu stehen kommt, was geschichtlich zu nennen wäre. Aber in seiner Universalität und Einzigkeit ist er nicht fixierbar, sondern beweglich und selbst geschichtlich verfasst, weil in ihm die je besonderen Perspektiven einen jeweils eigenen Horizont bilden. Gadamers zentrale These setzt an dieser Stelle an: Geschichtliches Verstehen, so wird gesagt, vollzieht sich immer als wirkungsgeschichtlicher „Vorgang der Verschmelzung … vermeintlich für sich seiender Horizonte“ (289); „(i)m Walten der Tradition findet ständig solche Verschmelzung statt.“ (Ebd.) Der in beständiger Bewegung begriffene Horizontverschmelzungsprozess, in dem sich jeder Verstehensvollzug vollzieht, was zu verstehen geschichtlicher Hermeneutik aufgegeben ist, bringt es mit sich, dass Geschichte und geschichtliches Verstehen sich nicht anders ereignen als in einem fortwährenden Hinausschreiten über sich selbst. Ziel des Transzendierungsprozesses ist ein Sinnganzes, welches indes nie abschließend auf den Begriff zu bringen, sondern stets nur im Vorgriff zu erfassen ist, um so den vorläufigen Gesamthorizont des Vorgangs wirkungsgeschichtlichen Verstehens zu bilden. Geschichtliches Verstehen ist Gadamer zufolge selbst geschichtlich bewegt, weil es nicht außerhalb, sondern innerhalb des Überlieferungsgeschehens stattfindet, an dem es wirkungsgeschichtlich teil hat. Wie von Geschichte ohne ihr Verstehen nicht die Rede sein kann, so erweist sich dieses selbst als ein Geschehen, welches den traditionsgeschichtlichen Prozess vorantreibt, in dessen Zusammenhang es steht. Anhand einer genauen Analyse des wirkungsgeschichtlichen Bewusstseins versichert sich Gadamer der Tragfähigkeit seines hermeneutischen Ansatzes. Dabei wendet er sich einerseits dezidiert gegen den Anspruch einer Totalvermittlung der ganzen Überlieferungsgeschichte mit der Gegenwart eines absoluten Sichwissens, wie ihn nach seinem Urteil Hegel systematisch erhoben habe; auf der anderen Seite kritisiert er, ohne Heidegger direkt zu attackieren, nicht minder entschieden die Aufhebung des traditionsgeschichtlichen Prozesses in den Geschehensvollzug existentieller Selbstverständigung des Daseins in seiner Jemeinigkeit. Zwar müsse sich der endliche Mensch im Bewusstsein seiner Endlichkeit „eine totale Vermittlung von Geschichte und Gegenwart“ (328) hermeneutisch versagen; der Hermeneutik komme die Aufgabe zu, Dialektik zu relativieren und die Vorläufigkeit ihres Prozesses zu erweisen. Doch bewahre sie ihr zugleich ein Eigenrecht, indem sie den Geschichtsverlauf gedanklich zu durchdringen und seine Überführung in einen existentiellen Selbstverständigungsprozess zu verhindern suche. Das wirkungsgeschichtliche Bewusstsein weiß um seine Endlichkeit und zugleich um seine Bestimmung, diese zu transzendieren. Es ist demzufolge nach

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Gadamer zugleich hermeneutisch und dialektisch verfasst. Geschichtliches Verstehen vollzieht sich in hermeneutischer Dialektik bzw. dialektischer Hermeneutik. Das wesentliche Medium, in welchem dies geschieht, ist Gadamer zufolge die Sprache und zwar primär in Form des Gesprächs, das der Logik von Frage und Antwort folgt (vgl. 351ff.) und die Logizität des Begriffs vor Abstraktionen bewahrt. Jeder, der zu verstehen sucht, nicht zuletzt der um methodisch geregeltes Verständnis bemühte Hermeneut, muss, sei er Philologe, Jurist, Historiker, Philosoph oder Theologe, „mit der grundsätzlichen Unabschließbarkeit des Sinnhorizontes rechnen …, in dem er sich verstehend bewegt“ (355). Gewahrt wird diese Unabschließbarkeit am zuverlässigsten mittels eines andauernden Gesprächs, das in beständigem Fragen und Antworten begriffen ist und jene Verschmelzung der Horizonte vollzieht, ohne die sich keine Verständigung und kein Verständnis ereignet. Im abschließenden dritten Teil seines Werkes ist Gadamer darum bemüht, vom Gespräch aus das Wesen der Sprache zu erschließen, um an ihrem Leitfaden der Hermeneutik eine, wie es heißt, ontologische Wendung zu geben (vgl. 361ff.). Zunächst wird gesprächsoffene Sprachlichkeit als dasjenige hermeneutische Medium charakterisiert, welches sowohl den Gegenstand als auch den Vollzug verständigen Verstehens bestimmt. Sodann geht es um die Erkundung der eigentümlichen Prägung des Begriffs „Sprache“ durch die Denkgeschichte des Abendlands (vgl. 383ff.) und zwar unter den Aspekten Sprache und Logos, Sprache und Verbum, Sprache und Begriffsbildung. Eine Exposition der Sprache als Horizont hermeneutischer Ontologie schließt sich an. In diesem Zusammenhang kritisiert Gadamer im Anschluss an Heidegger die griechische Philosophie und eine gräzisierte christliche Theologie wegen ihrer Tendenz, das Wesen der Sprache von der Aussage her zu denken und ihren Sinngehalt unter Abstraktion vom sprachlichen Vollzug, wie er sich im Gespräch paradigmatisch ereigne, primär gegenständlich zu fassen. Demgegenüber wird geltend gemacht, dass das Seiende bzw. das als seiend zu Denkende in erster Linie nicht Gegenstand von Aussagen ist, sondern in Mitteilungen gesprächsweise zur Sprache kommt (vgl. 422). Werde dies nicht beachtet und die Sprache der Aussagenlogik unterworfen, dann drohe das Sein des Seienden und das Unvordenkliche, welches ihm eignet, missverstanden zu werden, wie dies in der Begriffsdialektik von Platon bis Hegel notorisch der Fall gewesen sei. Die überkommene Begriffsdialektik verschließt nach Gadamer das Ohr vor dem Unerhörten, das in jedem Sprachvollzug mitschwingt, und überhört es. Indem das Gespräch durch Reduktion auf seine Aussagen auf den Begriff gebracht und in reines Denken überführt werden solle, werde der Verstehensvorgang objektiviert und um seinen Vollzugscharakter gebracht. Gadamer ist der Auffassung, die er offen ausspricht, dass in der Aussage „der Sinnhorizont dessen, was eigentlich zu sagen ist, mit methodischer Exaktheit verdeckt“ (444)

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wird. Echte Verständigung hingegen halte „das Gesagte mit einer Unendlichkeit des Ungesagten in der Einheit eines Sinnes zusammen und läßt es so verstanden werden“ (ebd.).36 Man hat mit Recht konstatiert, „daß Wahrheit und Methode bei aller Berufung auf Heidegger in mancher Hinsicht zu einem Gegenentwurf“37 geraten sei: Gadamer nimmt Heideggers Einsicht in die konstitutive Bedeutung des Verstehens für das Leben auf, entwickelt aber die Bestimmungen des Verstehens zu einem zwar verschwiegenen, darum jedoch nicht weniger radikalen Einspruch. Während Heidegger das Verstehen erörtert, um die Selbstdurchsichtigkeit des menschlichen Daseins gegen die verdunkelnde und verdeckende Prägung des Lebens durch die Tradition zu stellen, will Gadamer die notwendige Eingebundenheit des verstehenden Lebens in die Tradition erweisen. Heidegger begreift das Verstehen vor allem als Selbstverstehen, für Gadamer ist es das Bewußtsein eines jede Individualität umgreifenden und übergreifenden geschichtlichen Seins. Statt auf einen ‚Abbau‘, eine ‚Destruktion‘ der traditionellen Bindungen hinzuarbeiten, will Gadamer die Tradition rehabilitieren.38

Noch deutlicheres Profil gewinnt der konstatierte Unterschied seines Ansatzes zum Denken des Lehrers, in dessen übermächtigen Schatten er sich lange gestellt sah, wenn man Gadamers Verhältnis zu Hegel in Betracht zieht, das durchaus anders gestaltet war als dasjenige Heideggers zum Theoretiker des Absoluten. Gadamers „Hermeneutik der Endlichkeit“39 wollte auf ihre Weise „(d)as Unendliche zurückgewinnen“40, auf das Hegels Philosophie des Absoluten ausgerichtet war. Zwar lehnte er die Idee absoluten Wissens ab, in der sich der als 36 Pannenberg bestreitet, wie Randnotizen in seinem Handexemplar (Pannenberg-Bibliothek Nr. 03107) von „Wahrheit und Methode“ zur angegebenen Stelle belegen, die Richtigkeit von Gadamers zitierten Thesen nicht grundsätzlich, macht aber geltend, dass der Sinnzusammenhang von Sätzen nur von der Aussage her und nicht ohne sie zum Vorschein komme. Sprachgeschehen und Gespräch gegen die „Aussage“ in Stellung zu bringen, lehnt er daher ab. Verständlich und verständnisfördernd seien Sprache und Gespräch gerade wegen ihrer Sachhaltigkeit. „Was verstanden werden kann, ist Sprache“ (450), sagt Gadamer; „(e)s kann auch ‚Sache‘ sein, die durch Sprache – aber von ihr unterschieden – verstanden wird“, hält Pannenberg entgegen. 37 G. Figal, Wahrheit und Methode zur Einführung, 2. 38 A. a. O., 2f. Zur Rehabilitierung des Traditionsbegriffs bei Gadamer und zu seiner prinzipiellen Abkehr vom Szientismus in den Geisteswissenschaften vgl. im Einzelnen: H.-H. Gander, Erhebung der Geschichtlichkeit des Verstehens zum hermeneutischen Prinzip, in: G. Figal (Hg.), Hans-Georg Gadamer. Wahrheit und Methode, 93–111. Gegen den Grundsatz, dass Neuerungen der Tradition gegenüber rechenschaftspflichtig und schuldig seien, in ein konstruktives Verantwortungsverhältnis zur Überlieferung zu treten, war die „ideologiekritische Kanonade“ (vgl. J. Grondin, a. a. O., 339ff.) gerichtet, der sich Gadamer im Zuge der sog. Studentenrevolution ausgesetzt sah. Auch J. Habermas nahm ihn zeitweilig unter Beschuss, obwohl er ihm bei späterer Gelegenheit eine „Urbanisierung der Heideggerschen Provinz“ (a. a. O., 335) attestierte. Zum Verhältnis von Gadamer und Habermas vgl. näherhin 224ff. 39 Vgl. D. di Cesare, a. a. O., 227ff. 40 Vgl. a. a. O., 229ff.

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Einheit von Geschehens- und Bewusstseinsgeschichte konzipierte Entwicklungsprozess des Geistes nach Hegel vollende. Gegen diese Idee und gegen die These einer dialektischen Aufhebung des Seins, wie sie nicht nur den Anfang der Logik Hegels, sondern dessen gesamtes philosophisches Beginnen kennzeichne, „macht er sich die von Schelling ausgehende Hegelkritik zu eigen“41, um „die ‚Unvordenklichkeit‘ der hermeneutischen Erfahrung deutlich (zu) machen“42. Das Seinsgeschehen, das sich in der Sprache erschließt, lässt sich nicht abschließend auf den Begriff bringen, was hermeneutisch zu bedenken ist, wenn Geschichtsereignisse verstanden werden sollen. Doch wird ihr Verständnis nach Gadamer auch dann verfehlt, wenn man Geschichte in der Geschichtlichkeit des Daseins aufgehen lässt, wie dies, ohne ihn direkt zu attackieren, der Tendenz nach in Bezug auf und gegen Heidegger geltend gemacht wird. Gemäß Gadamers eigenem Ansatz ist vor allem „auf den Wechselbezug von Geschichte und Selbstsein als einer grundlegenden Struktur aller Verstehensleistungen zu achten“43. Um dies konzeptionell zu gewährleisten, bringt Gadamer Heidegger und Hegel gegeneinander in Stellung und weist sich selbst einen Vermittlungsstatus zwischen beiden zu. Ob damit eine haltbare Position besetzt ist, dürfte die entscheidende hermeneutisch-dialektische Frage an Gadamers Systemkonzept sein. Die Wirklichkeit geschichtlichen Geschehens geht dem Wissen um sie voraus und lässt sich nicht in vollendeter Form zu Bewusstsein bringen und in ihrer Totalität in ein Wissen überführen, das absolut und in seiner Absolutheit nichts ist als Wissen. Umgekehrt ist die Geschehens- von der Bewusstseinsgeschichte nicht ablösbar, weil sie nicht anders denn in überlieferungs- und wirkungsgeschichtlichen Zusammenhängen gegeben ist. Beide Aspekte gleichermaßen und in einem zur Geltung zu bringen, ist die Funktion des Postulats einer Horizontverschmelzung, das Gadamers Hermeneutik ebenso programmatisch wie pragmatisch bestimmt und ihr die schwebende Mitte zwischen Hegels Dialektik der Unendlichkeit und Heideggers Philosophie endlichen Daseins in der Zeit zuweist.44 41 G. Figal, a. a. O., 4. Zur Bedeutung Schellings für die Hegelkritik Pannenbergs vgl. G. Wenz, Vom wahrhaft Unendlichen. Metaphysik und Theologie bei Wolfhart Pannenberg, in: ders. (Hg.), Vom wahrhaft Unendlichen. Metaphysik und Theologie bei Wolfhart Pannenberg, Göttingen 2016, 15–70, hier: 65ff. Ferner: M. D. Krüger, Schellings Spätphilosophie und Pannenbergs Geschichtstheologie. Thesen zu ihrem Verhältnis, in: a. a. O., 141–161 sowie Th. Oehl, Die theologische Insuffizienz des Begriffs. Zur Systemkonzeption Wolfhart Pannenbergs, in: a. a. O., 233–263. 42 G. Figal, ebd. 43 H.-H. Gander, a. a. O., 105. 44 Vgl. dazu im Einzelnen R. Dottori, Die Reflexion des Wirklichen. Zwischen Hegels absoluter Dialektik und der Philosophie der Endlichkeit von M. Heidegger und H. G. Gadamer, Tübingen 2006, bes. 20ff.: Gadamers Entschärfung von Fundamentalontologie und Dialektik. Aufschlussreich ist ferner die Dokumentation der Sitzung vom 11. Februar 1970 eines Hei-

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Hermeneutik und Universalgeschichte

Drei Jahre nach Erscheinen von „Wahrheit und Methode“ publizierte W. Pannenberg in der „Zeitschrift für Theologie und Kirche“ eine eingehende Auseinandersetzung mit Gadamers hermeneutischem Werk, das nach seiner Auffassung einen bedeutenden Beitrag zum Verständnis des Zusammenhangs historischer und systematischer Arbeit geleistet habe, wie er nachgerade für die Theologie grundlegend sei. Um den Fortschritt zu ermessen, der durch Gadamers Konzept trotz verbleibender offener Fragen erbracht werde, führt Pannenberg zunächst Grundzüge der Entwicklung der hermeneutischen Disziplin in ihrem Bezug zu jener Thematik vor Augen, auf die sich seine Studie konzentriert: Wie können Vergangenheitsereignisse, die durch historische Kritik anhand von Texten oder anderen Quellen erhoben werden, in ihrem Bedeutungszusammenhang mit der aktuellen Gegenwart dessen erfasst werden, der sie erhebt? Um eine angemessene Antwort auf diese Frage geben zu können, müsse als erstes eingesehen werden, dass „historische Arbeit immer das Problem der Universalgeschichte impliziert“45. Diese Einsicht, auf die der Titel „Hermeneutik und Universalgeschichte“ delberger Seminars Gadamers über „Hermeneutik und Dialektik“. Heidegger war anlässlich des 70. Geburtstags seines Schülers persönlich präsent und ließ es sich nicht nehmen, in gewohnter Manier ein wenig zu schulmeistern. Nach Diskussionen zu Hegel und insbesondere zur Frage, „wie das Wesen des Logischen und das Wesen des Selbstbewußsteins (sc. bei ihm) zusammenhängen“ (425), wandte sich Heidegger gegen Ende „vertraulich an Gadamer: ‚Jetzt muß ich etwas sagen, was Ihre hermeneutische Position betrifft; sie scheint mir ein Rückfall in den Bewußtseinsbegriff des Neukantianismus, den Sie von Ihren Anfängen bei Natorp her festgehalten haben‘. Gadamer schüttelte den Kopf, unschlüssig, als ob er etwas gehört hätte, worüber er noch länger nachdenken müßte.“ (427) Zur abermals das Verhältnis zu Hegel betreffenden Ansprache Heideggers bei der Heidelberger Abschiedsvorlesung Gadamers am 14. Februar 1969 vgl. J. Grondin, a. a. O., 331f. Zur eigenen Religionsphilosophie des Gadamerbiographen vgl. ders., Die Philosophie der Religion. Eine Skizze. Übers. v. V. Heisen, Tübingen 2012. Religion ist durch Ritus und Glauben „symbolisch vermittelter Sinn für das Leben“ (36) und darin universal: „Deswegen kann man ein Ende der Religion nur dann verkünden, wenn man an etwas anderes glaubt.“ (40) An den modernen Kritikern der Religion findet Grondin diesen Befund bestätigt (vgl. 126ff.). Er kommt zu dem Schluss, dass alle Wissenschaften einschließlich der Philosophie von Sinnvoraussetzungen leben, die sie nicht unmittelbar aus sich heraus zu generieren vermögen. Religion „erinnert somit die Philosophie an ihre eigenen Grundvoraussetzungen, die des Sinns der Welt“ (142). 45 W. Pannenberg, Hermeneutik und Universalgeschichte, in: ZThK 60 (1963), 90–121; wiederabgedruckt in: ders., Grundfragen systematischer Theologie. Gesammelte Aufsätze, Göttingen (1967) 21971, 91–122, hier: 94. Die nachfolgenden Seitenverweise im Text beziehen sich hierauf. In Jean Grondins Gadamerbiographie wird Wolfhart Pannenberg denjenigen Kritikern von „Wahrheit und Methode“ zugeordnet, welche „die hegelianisierende Seite des Werkes“ (J. Grondin, a. a. O., 327) gegen seinen Autor „selbst kehrten, indem sie in seinem wirkungsgeschichtlichen Bewußtsein eine neue Spielart des absoluten Bewußtseins vermuteten“ (ebd.). Eine Begründung für diese Zuordnung wird nicht geliefert. Sie dürfte auch nicht wirklich zu leisten sein. Zutreffender als anhand eines pauschalen Hegelianismusverdikts ist der Ansatz von Pannenbergs Bedenken gegenüber Gadamer von dessen „sehr kritische(n)

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abhebt, ist nach Pannenbergs Urteil selbst bei so bedeutenden Theoretikern der Hermeneutik wie Schleiermacher und Dilthey noch nicht hinreichend gegeben. „Es blieb bei einem Nebeneinander von Historie und Hermeneutik.“ (96) Erst, wenn auch nur in Ansätzen, bei Bultmann und dann in der „bei Fuchs – und ähnlich bei Ebeling – angebahnten Hermeneutik des Sprachgeschehens“ (106) sei die Analyse des Verstehensvorgangs der Tendenz nach universalgeschichtlich angelegt worden. Gadamer sei auf diesem Weg konsequent vorangeschritten und zu einem Ziel gelangt, hinter das kein hermeneutisches Konzept von Rang und Belang mehr zurückfallen dürfe. Unter den Vorzügen der Gadamerschen Hermeneutik hebt Pannenberg besonders hervor, dass in ihr die „Ansätze zur Aufnahme der historischen Differenz zwischen Text und Ausleger in das hermeneutische Denken … konsequent ausgebaut“ (ebd.) und zur Theorie der sog. Horizontverschmelzung fortentwickelt worden seien: in der „meisterhaften Beschreibung des Verstehens als Horizontverschmelzung ist in der Tat das historische Denken in den hermeneutischen Vollzug aufgenommen“ (107f.). Angesichts der Fortschritte, die seine Auffassung vom Verstehen gegenüber vorhergehenden hermeneutischen Konzeptionen erzielt habe (vgl. im Einzelnen 108f.), dränge sich die Frage auf, ob Gadamers Hermeneutik nicht deren traditionellen Rahmen überhaupt sprenge, um ihn auf ein universalgeschichtliches Denken hin zu überschreiten. Die „teils offenen, teils stillen“ (110 Anm. 31) Bezugnahmen auf Hegel und seine spekulative Theorie des alles umfassenden Absoluten, die Gadamers ganzes Werk durchzögen, scheinen, so Pannenberg, für diese Tendenz zu sprechen. Doch scheue der Hermeneut und zwar, wie eigens vermerkt wird, „mit gutem Grund“ (ebd.) vor dem Versuch zurück, Geschichte in absolutes philosophisches Wissen zu überführen, weil der Anspruch auf Totalvermittlung im „Widerspruch zur Endlichkeit der menschlichen Erfahrung“ (ebd.) stehe. Gadamers Vorbehalt Hegel gegenüber teilt Pannenberg: Die „Endlichkeit als Standpunkt des Denkens und die Offenheit der Zukunft“ (110) trenne, wie es heißt, „in der Tat alles heute mögliche Denken von Hegel“ (ebd.) und mache „eine einfache Wiederholung der Systematik Hegels unmöglich“ (ebd.). Ist damit der universalgeschichtliche Bezug der Hermeneutik und ihre Ausrichtung auf ein Gesamtverständnis der Wirklichkeit insgesamt obsolet geworden? Gemäß Pannenberg versucht Gadamer die hermeneutische Aufgabe „denkende(r) Vermittlung der Geschichte mit dem gegenwärtigen Leben“ (111) dadurch einer

Stellung zur Herrschaft der ‚Aussage‘ in der abendländischen Logik“ (a. a. O., 326) und Gesamtphilosophie her zu bestimmen. Aussagesätze stehen bei Gadamer unter generellem Abstraktionsverdacht. „Sprache“, so heißt es, „vollzieht sich nicht in Aussagen, sondern im Gespräch, wo Worte für das unendlich zu Sagende gesucht werden.“ (Ebd.) Sätzen wie diesem begegnete Pannenberg mit einem Vorbehalt, der durchaus grundsätzlich zu nennen ist.

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Lösung zuzuführen, dass „er statt einer Totalvermittlung der Gegenwart mit der Geschichte auf die Sprachlichkeit der hermeneutischen Erfahrung reflektiert“ (ebd.). In der Tat, so wird konstatiert, sei der Vollzug des Verstehens wesentlich ein Sprachvorgang. Problematisch indes sei Gadamers These, wonach die Sprachlichkeit des Verstehens ihrem Wesen nach als Gespräch aufgefasst werden müsse. Gegen diese Annahme macht Pannenberg zunächst den Unterschied von Textauslegung und Gespräch geltend, der offenkundig, aber bei Gadamer vielfach verdeckt sei, um sodann die Unterbestimmung des Aussagecharakters der Sprache als den Grundschaden der Gesprächshermeneutik von „Wahrheit und Methode“ namhaft zu machen. Der tendenziellen Ablösung des „Sprachgeschehen(s) des Verstehens von der Aussagefunktion der Sprache“ (112), wie sie sich bei Gadamer finde, widerspricht Pannenberg entschieden. Weder durch den Hinweis auf den persönlichen Mitteilungscharakter konkreten Sprechens noch durch den zutreffenden Vermerk, wonach jedes gesprochene Wort in einen ungesagten Sinnhorizont eingefügt sei, könne die Bedeutung der Aussageform im Vorgang sprachlichen Verstehens relativiert bzw. problematisiert werden. Auch die durch sie statthabende Vergegenständlichung stelle ihre Relevanz nicht infrage, weil die Form der Aussage die Bedingung möglicher Sachhaltigkeit von Sprache und Gespräch sei: „(O)hne Aussage, ohne die in der Aussage immer schon geschehende Objektivierung kommt es gar nicht zur Verständigung zwischen Menschen über etwas.“ (115) Auf der „Priorität der Aussage für die Hermeneutik“ (ebd.) müsse daher insistiert werden; schließlich sei auch das von Gadamer hermeneutisch favorisierte Gespräch, wenn es denn überhaupt etwas besagen und zur Verständigung beitragen soll, an die in der Form der Aussage sich ausdrückende Sachlichkeit der Sprache gebunden. Lässt sich nach Pannenberg Gadamers programmatische „Abwertung der Aussagestruktur der Sprache“ (118) nicht halten, was u. a. daraus erhelle, dass er sie „selbst anderwärts als ein primäres Phänomen anerkennen muß“ (ebd.), dann erweist sich seinem Urteil zufolge universalgeschichtliches Denken für die Hermeneutik sprachlicher Verstehensvollzüge als alternativlos, weil nur im hermeneutischen Ausgriff auf Sinnganzheit und im Horizont eines entsprechenden Entwurfs „die durch den historischen Ort bedingte Sachperspektive des Textes und die gegenwärtige Sachperspektive des Auslegers sachgerecht aufeinander bezogen werden können“ (ebd.). Allein unter der Prämisse einer „die wechselnden Zusammenhänge aller verschiedenen Sachbereiche“ (ebd.) umfassenden universalgeschichtlichen Perspektive lasse sich die von Gadamer beschworene Verschmelzung der Verstehenshorizonte von Interpret und Interpretandum stimmig vollziehen und zwar so, dass die Revidierbarkeit und die Möglichkeit einer Falsifikation der Interpretations- und Verständigungsergebnisse erhalten bleibe.

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Jeder Verstehensvorgang bedarf nach Pannenberg der Antizipation eines universalgeschichtlichen Sinnganzen, ohne welche er nicht zustande komme und nicht zielführend sei. Zugleich bewahre der proleptische Charakter des Ausgriffs auf Sinntotalität, der den Vorgang sachhaltigen Verstehens präge, das erlangte Sachverständnis davor, sich zu totalisieren und sich in sich selbst zu verschließen. Um noch einmal zu verdeutlichen, wie sich der Zusammenhang von Hermeneutik und Universalgeschichte in seiner Sicht darstellt, kommt Pannenberg am Schluss seiner Studie auf Hegel und auf die Hegelsche Geschichts- und Absolutheitsphilosophie zu sprechen. Die von Gadamer zurecht markierte Schranke des Systems sei durch eine Verkennung der unaufhebbaren Endlichkeit menschlicher Erfahrung und ihrer Ausrichtung auf eine offene und unabgeschlossene Zukunft sowie durch „die Verkennung der Unverrechenbarkeit des Zufälligen und damit auch des Individuellen unter das Allgemeine“ (120) gekennzeichnet. Doch dürfe die Aufgabe einer philosophischen bzw. theologischen Konzeption von Universalgeschichte „wegen des Scheiterns der Hegelschen Lösung nicht überhaupt preisgegeben werden, wie Gadamer es tut zugunsten einer hermeneutischen Ontologie im Horizont der Sprache“ (120f.). Werde deren tendenzielle Abstraktion vom Aussagecharakter der Sprache als abwegig erwiesen, dann zeige sich, daß die Sprache durch ihren Aussagecharakter auf die universalgeschichtliche Problematik zurückführt. Statt dieser Problematik auszuweichen, muß gefragt werden, wie heute eine Konzeption der Universalgeschichte möglich ist, die im Gegensatz zu der Hegels die Endlichkeit der menschlichen Erfahrung und damit die Offenheit der Zukunft, sowie das Eigenrecht des Individuellen, wahrt. (121)

Dieser Frage widmete Pannenberg sein gesamtes philosophisches und theologisches Werk. In ihrer Beantwortung orientierte er sich an dem „Verständnis der Geschichte als eines von einem vorläufig, antizipierend zugänglich gewordenen Ende her gegebenen Ganzen“ (ebd.), welches kein anderes als dasjenige Verständnis sei, welches „an der Geschichte Jesu in ihrer Beziehung auf die israelitisch-jüdische Überlieferung abzulesen ist“ (ebd.). Die biblische Überlieferung bildet gemäß Pannenberg nicht nur „den Ursprung des universalgeschichtlichen Denkens überhaupt“ (ebd.), sondern könne durch die von ihr eröffnete eschatologische Aussicht und namentlich durch die Überlieferung von der in der Geschichte Jesu Christi erfolgten Vorwegnahme des Endzeitgeschehens für eine universalgeschichtliche Hermeneutik jene Impulse geben, die diese aus Gründen rechten Verstehens und rechten Selbstverständnisses nötig habe.46

46 Vgl. zur Thematik ferner den Vortrag „Über historische und theologische Hermeneutik“, den Pannenberg Anfang Mai 1964 bei einer Heidelberger Tagung des Engeren Kreises der Allgemeinen Gesellschaft für Philosophie in Deutschland gehalten hat und der im ersten Band

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Eine erste, ins Einzelne gehende Explikation seines Programms einer universalgeschichtlichen Hermeneutik, wie es in „Offenbarung als Geschichte“ von 1961 grundgelegt und in der behandelten Studie von 1963 skizziert wurde, hat Pannenberg in seinen „Grundzügen der Christologie“ von 1964 gegeben. Knapp zehn Jahre später folgte eine breite Entfaltung des Ansatzes in Bezug auf das Verhältnis von „Wissenschaftstheorie und Theologie“. An dem 1973 im Suhrkamp-Verlag Frankfurt a. M. erschienenen Werk lässt sich nicht nur der Zusammenhang von Hermeneutik und Universalgeschichte im Denken Pannenbergs erheben, sondern auch die Bedeutung ermessen, die er, Pannenberg, diesbezüglich Gadamers „Wahrheit und Methode“ zuerkennt. Der erste Teil von „Wissenschaftstheorie und Theologie“ ist hingeordnet auf ein umfangreiches Kapitel zum Thema „Hermeneutik als Methodik des Sinnverstehens“. Zuvor erörterte Pannenberg die Entwicklung vom Positivismus zum kritischen Rationalismus und die Emanzipation der Geisteswissenschaften von den Naturwissenschaften. Bereits in diesem Zusammenhang begegneten Erwägungen zum hermeneutischen Thema, die Sinnverstehen als Ziel der Hermeneutik erwiesen und zeigten, dass es in ihrem Vollzug stets „um das Verhältnis von Teilen und Ganzem im Spannungsfeld eines Lebens- und Erlebenszusammenhangs geht“47. Lebens- und Erlebenszusammenhänge sind charakteristisch für Entitäten, die sich selbst gegeben und ihrer selbst inne sind wie individuelle Subjekte. Dennoch erscheint es Pannenberg als nicht gerechtfertigt, den Begriff des Sinnes auf Systeme menschlicher Subjektivität und auf einen ausschließlich geisteswissenschaftlichen Gebrauch zu beschränken, da auch in Theoriebildungen, welche die Natur zum Gegenstand hätten, in Form diverser Beziehungen von Teil und Ganzem die Sinnthematik präsent sei. Auch nicht selbstreferenzielle Systeme sind auf Sinn angelegt und mit dem Anspruch versehen, in sich sinnvoll und stimmig zu sein. Von daher ergeben sich Pannenberg zwischen Hermeneutik und naturwissenschaftlicher Theoriebildung mannigfache Verbindungen. Beide seien zwar zu unterscheiden, nicht aber zu trennen. Entsprechendes gelte in Bezug auf das Verhältnis von Verstehen und Erklären. Der „häufig behauptete Gegensatz des Verstehens als Verstehens von Sinn gegen das Erklären durch Gesetzeshypothesen“ (157) lasse sich ebenso wenig aufrechterhalten wie die verbreitete Annahme eines Dualismus von Natur- und Geisteswissenschaften. Damit ist Pannenberg zufolge nicht gesagt, dass zwischen beiden keine Differenz bestehe und ihr Verhältnis der gesammelten Aufsätze zu „Grundfragen systematischer Theologie“ (123–158) gedruckt vorliegt. 47 W. Pannenberg, Wissenschaftstheorie und Theologie, Frankfurt 1973, 157. Die nachfolgenden Seitenverweise im Text beziehen sich hierauf.

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ein sinntheoretisch symmetrisches sei. Setze doch Erklären „stets schon ein Verstehen“ (139) und analog die Naturwissenschaft ein wissenschaftliches Selbstverständnis voraus, das grundsätzlich geistiger Natur und Thema der Geisteswissenschaften sei. Naturwissenschaftliches Erklären und geisteswissenschaftliches Verstehen bilden Pannenberg zufolge einen differenzierten Zusammenhang, der – recht verstanden – nicht auf die Naturalisierung des Geistes, sondern auf die Vergeistigung der Natur ausgerichtet ist. Verstehen ist in diesem Sinne keine Vorform von Erklären, sondern für dieses von konstitutiver Bedeutung. Zielt doch jede Erklärung auf die Einordnung von Einzelsachverhalten in ein Sinnganzes, also auf Verstehen. Analog lässt sich sagen, dass Naturwissenschaft unveräußerlich auf Wissen, das um sich weiß, also auf Geist und Geisteswissenschaften bezogen ist, wenn sie ist, was sie sein soll, nämlich Wissenschaft. Naturwissenschaft, die um sich als Wissenschaft weiß, ist in ihrem Erklären auf Verstehen angelegt. Umgekehrt bedarf geistiges Sinnverstehen des Erklärens, weil ihm ohne dieses sein Gegenstandsbezug abhanden käme. Verstehen erschöpft sich mithin nicht in subjektiver Selbstverständigung, sondern intendiert objektiv begründete Einsicht. Auf der Basis seiner Vorüberlegungen zur Verhältnisbestimmung von naturwissenschaftlicher und hermeneutischer Theoriebildung entwickelt Pannenberg im Schlusskapitel des ersten Teils von „Wissenschaftstheorie und Theologie“ Grundzüge einer hermeneutischen Methodologie des Sinnverstehens. Eine Skizze der Geschichte der Disziplin geht voran. Sei Hermeneutik für Schleiermacher „die Lehre vom Verstehen überhaupt in allen Formen der Kommunikation zwischen Menschen“ (159) und insbesondere die Kunst der Interpretation von Texten, die der Hermeneut durch kongenialen Nachvollzug der Autorenintentionen zu erschließen habe, so werde sie von Dilthey nach anfänglichen Versuchen, sie auf eine allgemeine Psychologie zu gründen, zu einer Theorie geschichtlichen Sinnverstehens überhaupt ausgeweitet mit dem Ergebnis, dass sich analog zum Lebenslauf des Einzelmenschen die Bedeutung der Menschheits- und Weltgeschichte erst von ihrem Ende her erschließen lasse. Heidegger habe an diese Einsicht angeknüpft, sie aber zugleich restringiert, indem er die das Ganze von Selbst und Welt betreffende Bedeutungsanalyse Diltheys wieder in einen Strukturbegriff des Daseins eingeholt habe, der, so Pannenberg, „als existenziale Struktur an die Stelle der beschreibenden Psychologie tritt, die der frühe Dilthey als Grundlegung der Hermeneutik erstrebte“ (163). Offen blieben sowohl die „Frage nach der übersubjektiven Wahrheit menschlicher Sinnerfahrung“ (ebd.) als auch das Problem, welche Relevanz die „Geschichtsbedingtheit des Verstehens für die Struktur des Erlebens und seiner Möglichkeiten selbst“ (ebd.) habe. In beiden Hinsichten habe Gadamer über den Ansatz Heideggers hinausgeführt.

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Nach Pannenberg stellt „Wahrheit und Methode“ unstrittig einen Höhepunkt in der Entwicklungsgeschichte moderner Hermeneutik dar. Dennoch wird mit Grundsatzkritik nicht gespart. Diese richtet sich insbesondere gegen die tendenzielle Reduzierung von Geschichte auf Geschichtlichkeit, die auch noch bei Gadamer wirksam sei. So habe dieser zwar im Unterschied zu Heideggers Daseinsanalyse die traditionsgeschichtliche Bestimmtheit aller existentieller Selbstverständigungsformen deutlich hervorgehoben; er habe aber dabei der konstitutiven Objektbindung aller denkbaren Subjektivitätskonstellationen nicht hinreichend Rechnung getragen. Als ein entscheidendes Indiz dieses Mangels gilt Pannenberg Gadamers problematische Beurteilung des Aussagecharakters der Sprache und der sprachlichen Verständigungsvollzüge, die durch eine Fehleinschätzung der spezifischen Gegenständlichkeit und Sachorientierung geschichtlicher Daseinserfahrung bedingt sei. In der Aussage unterscheidet der Sprechende den ausgesagten Inhalt von seiner eigenen Subjektivität als einen in sich selbst identischen, daher auch anderen mitteilbaren und von ihnen als identisch auffaßbaren Inhalt. Es ist charakteristisch, daß Gadamer diese konstitutive Bedeutung der Aussage als Ausdruck der Darstellungsfunktion der Sprache für das spezifische Weltverhältnis des Menschen nicht gelten läßt, obwohl er selbst die Bedeutung des anthropologischen Grundphänomens der Sachlichkeit der Welterfahrung hervorheben kann … (168)

Zwar wende sich Gadamer mit Recht dagegen, daß das Gesagte von seinen ungesagten Sinnzusammenhängen abgeschnitten und isoliert wird. Doch scheint (er) darüber zu versäumen, dem Moment der Objektivierung in der Aussage sein prinzipielles Recht einzuräumen, in ihm ein fundamentales Strukturelement der Sprache selbst anzuerkennen. (168f.).

Dieses Versäumnis beklagt Pannenberg auch im Bezug auf eine Reihe von Entwürfen einer theologiespezifischen Hermeneutik, etwa bezüglich des hermeneutischen Konzepts von Rudolf Bultmann, dessen Einfluss auf Gadamers „Wahrheit und Methode“ sich „in einigen Punkten“ (169) erkennen lasse, oder bezüglich der Konzeptionen von E. Fuchs und G. Ebeling, bei denen die hermeneutische Engführung der Interpretationsaufgabe auf die Thematik der Selbstverständigung nachwirke, wie sie seit Heidegger üblich geworden sei. Zentraler Gegenstand der Pannenbergschen Kritik an der Hermeneutik Heideggers und derjenigen seiner philosophischen und theologischen Nachfolger ist die Verengung des Verständnisses von Sprache durch Abwertung ihrer Aussagefunktion. Es sei irrig und abwegig, „die Aussage als ‚abkünftigen Modus‘ der Artikulation verstehenden In-der-Welt-seins zu disqualifizieren“ (177). Zwar stellt für Pannenbergs Denken die Sprachdeutung der analytischen Philosophie im Sinne des frühen Wittgensteins keine echte Alternativoption gegenüber der

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existentialhermeneutischen dar48, aber ihr Ausgang bei der Darstellungsfunktion der Sprache, wie sie sich in der Aussage am reinsten auspräge, sei insofern berechtigt, als sich in dieser die spezifische Sachlichkeit bekunde, die das Weltverhältnis und auch das Selbstverhältnis des Menschen kennzeichne, sofern dieses ohne Weltverhältnis nicht zu denken sei. Daher erscheint es als fraglich, ob man die Darstellungsfunktion der Sprache als für das Sichverstehen des Menschen in seinem Weltverhältnis sekundär ansehen darf. Auch das Gespräch, auf das sich Gadamer als Paradigma des hermeneutischen Geschehens bezieht, bewegt sich immer schon in Aussagen und Aussagezusammenhängen, und ohne dieses Moment könnte gar keine Verständigung über dieselbe Sache zwischen den Partnern des Gespräches stattfinden. (178)

Nach Pannenberg bilden den Stoff der von den Naturwissenschaften zu unterscheidenden, nicht aber zu trennenden Geisteswissenschaften nicht bloß Phänomene, die sich allein einer Binnenperspektive erschließen, sondern geschichtliche Objektivationen menschlicher Sinnerfahrungen, die, auch wenn sie nur für um sich wissende Subjektivität als Ausdruck von Sinnerfahrung verständlich sind, nicht in subjektiver Innerlichkeit aufgehen, sondern – wie weltliche Sachverhalte überhaupt – der Außenbeobachtung zugänglich sind (vgl. 206ff.). Hermeneutik als geisteswissenschaftliche Methodik des Sinnverstehens darf daher die Darstellungsfunktion der Sprache als Zentralmedium der Bedeutungsvermittlung und ihre Aussagefunktion nicht ausblenden bzw. zu einem abkünftigen Modus der Verständigung herabsetzen. Ebenso wenig kann sie der Reflexion auf die umfassende Totalität aller Sinnerfahrungen entbehren, die das traditionelle Geschäft der sog. Dialektik ist. Der Dialektik ist mit der Hermeneutik gemeinsam, daß beide durch die Reflexion auf die Wechselbeziehungen von Teil und Ganzem bestimmt sind. Während aber die Hermeneutik das Ganze nur in Gestalt des Horizontes, der die Bedeutung aller Einzelheiten konstituiert und dessen Wandlungen den fortgehenden Prozeß der Interpretation veranlassen, in den Blick nimmt, die endgültige Gestalt dieses Ganzen aber dahingestellt sein lassen kann, reflektiert Dialektik auf die Totalität als solche, ohne die das einzelne gar keine definitive Bedeutung haben könnte. Weil die Dialektik die Gedankenbestimmungen selbst reflektiert, mit denen Hermeneutik in konkreter Anwendung arbeitet, muß sie die letztumfassende Totalität, die jene implizit voraussetzt und eben deshalb dahingestellt sein lassen kann, thematisieren. (189f.)

Den Vorwurf, sie überginge mit ihrem gedanklichen Streben nach Totalität die Endlichkeit menschlichen Erfahrungswissens, lässt Pannenberg nur unter der Voraussetzung gelten, dass sich der dialektische Gedanke des absoluten Ganzen 48 Zur eigentümlichen Konvergenz der „ordinary language“–Theorie des späten Wittgenstein zur Verstehensanalyse, die Heidegger in „Sein und Zeit“ gegeben hat, vgl. 185.

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zum absoluten Begriff totalisiere und mit dem Anspruch verbinde, den Prozess des Verstehens zum definitiven Abschluss gebracht zu haben. Bleibe sich Dialektik hingegen in ihrem gedanklichen Vorgehen des Vorgriffscharakters ihres auf Totalität gerichteten Begreifens bewusst, falle besagter Ideologievorwurf dahin und mit ihm jeder vernünftige Grund, den unveräußerlichen Zusammenhang von Hermeneutik und Dialektik zu bestreiten.49

5.

Epilog: Schwarze Hefte

Vor kurzem, 2014/15, wurden in der IV. Abteilung der Gesamtausgabe der Werke Martin Heideggers (= GA) die sog. Schwarzen Hefte des Philosophen der Jahre 1931–1938 (GA 94), 1938/39 (GA 95), 1939–1941 (GA 96) und 1942–1948 (GA 97) herausgegeben. Das nicht unerhebliche Medieninteresse50 am Erscheinen der vier Bände wurde u. a. dadurch befördert, dass der Editor ihre Herausgabe mit einer eigenen Publikation zum Thema „Heidegger und der Mythos der jüdischen Weltverschwörung“51 verband. Im Zentrum des Buches, das binnen Jahresfrist drei Auflagen erlebte, steht die These eines seinsgeschichtlichen Antisemitismus, 49 Der unveräußerliche Zusammenhang von Hermeneutik und Dialektik ist Thema eines eigenen Abschnitts im 3. Kapitel von „Wissenschaftstheorie und Theologie“, zu dessen Abschluss Pannenberg noch einmal zusammenfassend den Bezug von Sinnerfahrung und Wissenschaft erörtert. Nach typisierender Unterscheidung eines referentiellen, intentionalen und kontextuellen Verständnisses von Sinn wird klargestellt, dass zwar nicht jede Wissenschaft mit expliziten Reflexionen auf Sinntotalität verbunden sein müsse, was ihrer Spezialisierung abträglich wäre, dass aber alle Wissenschaften den gedanklichen Ausgriff auf einen umfassenden Sinnhorizont zur impliziten Voraussetzung ihrer Wissenschaftlichkeit hätten. In diesem Sinne bedürften sie der Philosophie und zwar in Gestalt der Metaphysik, die ihrerseits für die Theologie als Wissenschaft von Gott unverzichtbar sei, ohne dass deshalb eine unmittelbare Koinzidenz von Theologie und metaphysischer Philosophie behauptet werden könnte. Wie auch immer: Wissenschaft bedarf um ihrer Wissenschaftlichkeit willen einer Wissenschaft der Wissenschaft, nämlich der Philosophie, und der für sie charakteristischen Bedeutungsanalyse: Diese hinwiederum kann sich nach Pannenbergs Urteil „nur bewegen in einer systematischen Explikation der ihre Reflexionsbewegung schon leitenden Sinntotalität, aber solche systematische Darstellung bleibt ihrerseits eine Antizipation der impliziten und nur teilweise bestimmten Sinntotalität aller Erfahrung, auf die sie sich bezieht und in der sie ihre Wahrheit hat. Bewahrheiten kann sie sich nur in dem Maße, in welchem sie tatsächlich erlebte Bedeutung zu integrieren und so zu erhellen vermag.“ (W. Pannenberg, Wissenschaftstheorie und Theologie, 223) 50 Vgl. beispielsweise E. Blum, Die Marke Heidegger, in: Die Zeit 47/2014 (15./16. November). 51 P. Trawny, Heidegger und der Mythos der jüdischen Weltverschwörung, Frankfurt a.M. 2014, 3 2015. Die These, dass Heidegger dem nationalsozialistischen Antisemitismus philosophisch das Feld bereitet habe, ist nicht neu, sondern vor Trawny schon häufig vertreten worden. Vgl. im Einzelnen D. Thomä, Heidegger und der Nationalsozialismus. In der Dunkelkammer der Seinsgeschichte, in: ders. (Hg.), Heidegger-Handbuch, 108–133; im Anhang (129ff.) wird ein knapper Überblick über die Forschungskontroverse unter Angabe der einschlägigen Literatur geboten.

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mit dem Heidegger dem Nationalsozialismus in Deutschland den Weg bereitet und eine auf Judenvernichtung ausgerichtete Ideologie mit philosophischen Weihen versehen habe. Während seine Apologeten den Philosophen unter Verweis auf die vergleichsweise seltenen Bezugnahmen auf das Judentum in den „Schwarzen Heften“ und auf die zeitig vollzogene Abkehr vom Nationalsozialismus gegen den Antisemitismusvorwurf zu verteidigen suchten52, haben andere das Verdikt Trawnys wiederholt bzw. variiert, indem sie etwa statt eines seinsgeschichtlichen einen metaphysischen Antisemitismus bzw. Nationalsozialismus attestierten.53 Die Heidegger-Debatte hält an, wenngleich sie bei weitem nicht mehr in der Intensität geführt wird wie in den sechziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts, als Adornos „Jargon der Eigentlichkeit“ erschien, oder zu Zeiten von Thomas Bernhards „Alten Meistern“. Dies hat wesentlich damit zu tun, dass Heideggers Philosophie der Geschichtlichkeit mittlerweile in die Geschichte eingegangen ist, in der sie ihre Bedeutung zwar behält, jedoch nicht mehr in jener 52 Vgl. etwa F. Alfieri, Martin Heidegger und die kontroverse Auslegung seiner „Schwarzen Hefte“. Eine Geschichte, die noch völlig umzuschreiben ist, in: HSt 32 (2016), 53–63. Die wenigen Abschnitte, in denen sich Heidegger in den „Schwarzen Heften“ zur Judenfrage geäußert habe, seien durch „Trawnys unverantwortliche Feder“ (54) gezielt aufgebauscht und missbräuchlich zum „unwiderrufliche(n) Beweis für Heideggers Antisemitismus“ (ebd.) hochstilisiert worden. Differenzierter, doch mit dem gleichen Ergebnis: T. Kunnas, Heideggers Schwarze Hefte – ein wissenschaftlicher Skandal oder: Viel Lärm um nichts?, in: HSt 32 (2016), 65–89. Die „Schwarzen Hefte“, deren von Heidegger selbst stammender Namen sich zunächst lediglich „auf die schwarze Farbe des Wachstucheinbandes“ (65) bezogen, aber „in der letzten Zeit sicher auch einen symbolischen Gehalt angenommen“ (ebd.) habe, belegten eine „nationalsozialistische Verzückung“ (79) Heideggers in den Jahren 1930–1934, nicht aber die These, dass er „ein kruder Antisemit“ (81) gewesen sei. Kunnas beschließt seinen Artikel mit der Feststellung: „(D)er eigentliche Skandal ist die Verleumdungskampagne, die gegen Heidegger wegen seiner politischen Dummheiten noch siebzig Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges angestrengt worden ist.“ (88) 53 Vgl. etwa D. di Cesare, Heidegger e gli ebrei. I „Quaderni neri“, Turin 2014. Vgl. ferner: V. Hösle, Eine kurze Geschichte der deutschen Philosophie. Rückblick auf den deutschen Geist, München 2013. Hösle hat Friedrich Nietzsche einen „philosophische(n) Terroristen“ (186) genannt. Kein anderer habe „insbesondere so sehr zur Entfremdung Deutschlands von seiner klassischen Ära beigetragen“ (ebd.) wie er. Als Philosoph und Philosophiehistoriker sei er gleichermaßen ein Dilettant gewesen, „auch wenn sein erst 1878 gefundener einzigartiger Stil von verführerischer Schönheit den Mangel an Argumenten und Evidenzen meist verdeckt“ (185f.). Bei Martin Heidegger verhalte sich die Sache insofern anders, als er keineswegs ein philosophischer Dilettant, sondern im Gegenteil ein überragender Vertreter seiner Profession gewesen sei. Dennoch fällt Hösles Urteil über ihn ähnlich vernichtend aus wie über Nietzsche. Auch Heidegger habe sehr viel mehr zerstört als konstruktiv erbaut. Namentlich in ethischer Hinsicht sei die Wirkung seines Werkes verheerend gewesen. So werde in „Sein und Zeit“ durch Umdefinition von Begriffen wie Gewissen und Schuld deren traditioneller moralischer Sinn untergraben: „Entschlossenheit, wofür auch immer, sei das einzige, worauf es ankomme.“ (263) Ihrer selbst nur als Entschluss sicher gründe Entschlossenheit in nichts Bestimmtem, sondern einzig und allein im gänzlich Unbestimmten, in bodenloser Leere, im reinen Nichts.

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Unmittelbarkeit, die sie beanspruchte. Der Heideggerschüler Gadamer hat zu dieser Entwicklung nicht unerheblich beigetragen, indem er gemäß seiner hermeneutischen Devise das Werk des Meisters in einen traditionsgeschichtlichen Vermittlungszusammenhang einordnete und damit dessen unmittelbaren Geltungsanspruch unterlief. Heidegger ging aufs Ganze; Gadamer und Pannenberg zeigten, dass dies nur auf proleptisch-antizipatorische Weise sinnvoll ist. Darin besteht die konstruktive Pointe der kritischen Kontrastierung von Geschichte und Geschichtlichkeit. Seine aus Anlass des IX. Kolloquiums der Forschergruppe „Poetik und Hermeneutik“54 aufgeworfene „Frage nach der Frage, auf die die Hermeneutik die Antwort ist“55, beantwortete Odo Marquard unter Verweis auf die durch die menschliche Endlichkeit und Historizität sowie durch die erfahrene Tödlichkeit der Rechthaberei absoluter Texte gestellte: Hermeneutik helfe, die Folgelast der menschlichen Sterblichkeit zu tragen, nämlich die Notwendigkeit der Übernahme geschichtlicher Herkunft, sie kompensiere den in der Moderne rasant zunehmenden Verlust an Selbstverständlichkeit durch die wissenschaftliche Kunst des Wiederverstehens und sie neutralisiere den konfliktträchtigen Absolutheitsanspruch von Texten durch relativierende Interpretation und plurali54 In dem von M. Fuhrmann, H. R. Jauß und W. Pannenberg verfassten Exposé zum IX. Kolloquium von „Poetik und Hermeneutik“, das Ende Mai 1978 in der Werner-Reimers-Stiftung/ Bad Homburg stattfand und dem „Problem der Applikation in der theologischen, juristischen und literarischen Hermeneutik“ gewidmet war, wurde es zum Ziel der geplanten Unternehmung erklärt, „hermeneutische Theoriebildung selbst unter das Postulat der Praxis zu stellen und die subtilitas intelligendi et explicandi mit der subtilitas applicandi zu verknüpfen“ (M. Fuhrmann, H. R. Jauß, W. Pannenberg, Das Problem der Applikation in der theologischen, juristischen und literarischen Hermeneutik. Exposé zum IX. Kolloquium, in: P. Boden/R. Zill [Hg.], Poetik und Hermeneutik im Überblick. Interviews mit Beteiligten, Paderborn 2017, 493–495, hier: 493). Anwendung sollte einer Forderung gemäß, die Gadamer bereits in „Wahrheit und Methode“ erhoben hatte, als integraler Bestandteil der Hermeneutik zum Zuge gebracht werden; als theologischer Text hermeneutischer Applikation war die biblische Geschichte von Sündenfall und Austreibung aus dem Paradies in Gen 3 vorgesehen. Die Ergebnisse der Tagung sind in dem von den Verfassern des Exposé herausgegebenen Sammelband dokumentiert: M. Fuhrmann, H. R. Jauß, W. Pannenberg (Hg.), Text und Applikation. Theologie, Jurisprudenz und Literaturwissenschaft im hermeneutischen Gespräch, München 1981. Pannenberg selbst steuerte zum theologischen Themenblock neben einer Einleitung (15–23), in der er die Wahl von Gen 3 als Textgrundlage der Diskussion über theologische Hermeneutik kritisch kommentierte, lediglich eine Replik auf Odo Marquard bei (125–127). Zur juristischen und literarischen Hermeneutik äußerte er sich in jeweils einem Beitrag: Über Menschenwürde, persönliche Freiheit und Freiheit der Kunst – theologische Erwägungen aus Anlass des Falles „Mephisto“ (137–148); Der Cimetière marin als religiöse Dichtung (269–272). Sehr aufschlussreich für die theologische Thematik der Dogmenhermeneutik ist eine Studie zum Problem des Normativen und der Applikation: Frage und Antwort – Das Normative in christlicher Überlieferung und Theologie (413–420). 55 O. Marquard, Frage nach der Frage, auf die die Hermeneutik die Antwort ist, in: M. Fuhrmann u. a. (Hg.), a. a. O., 581–589.

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sierende Auslegung. Man muss kein Skeptiker sein, um Marquards Hinweis als einen Beitrag zu der Kunst zu würdigen, Hermeneutik zu verstehen.

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Karl Löwith Heideggerschüler und philosophischer Lehrer Pannenbergs

1.

Geschichte und Natur

Als den dritten unter seinen philosophischen Lehrern hat Wolfhart Pannenberg nach Nicolai Hartmann und Karl Jaspers wiederholt Karl Löwith (1897–1973) benannt.1 Insbesondere von dessen Thesen über die theologischen Voraussetzungen der Geschichtsphilosophie sei er als Heidelberger Student „tief und nachhaltig“2 beeindruckt worden, „wenn auch“, wie hinzugefügt wird, „nicht 1 Einen knappen Überblick über Biographie und Werkgeschichte Löwiths bietet W. Ries, Karl Löwith, Stuttgart 1992. Hans-Georg Gadamer hatte sich zwar für die Berufung Löwiths nach Heidelberg eingesetzt, dessen philosophische Position aber mehr oder minder scharf abgelehnt. In einer Sammelrezension unter dem Titel „Hermeneutik und Historismus“ in: PhR 9 (1961), 241–276, hier: 267 hat er Löwiths Ablehnung der Geschichte bzw. der Geschichtsphilosophie als „eine Spiegelung des Fatalismus, d. h. der Verzweiflung an einem Sinn (des menschlichen) Daseins (bezeichnet). Sie ist keine Verneinung der Bedeutung der Geschichte, sondern ihrer Deutbarkeit überhaupt.“ Zurückhaltender formulierte Dieter Henrich in einer Rede vom 9. Januar 1967 anlässlich des 70. Geburtstages von Löwith: „Seine Kritik der Geschichte als Horizont sinnvoller Humanität endet gelegentlich in der verhaltenen Aufforderung, Sinn nur im eigenen, kurzen Leben zu suchen.“ (D. Henrich, Sceptico Sereno, in: Natur und Geschichte. Karl Löwith zum 70. Geburtstag, Stuttgart/Berlin/Köln/Mainz 1967, 458–462, hier: 458) In seiner Rede hat Henrich den philosophischen Entwicklungsgang des Jubilars prägnant skizziert: „Er begann, Feuerbachs Lehre einleuchtend zu finden, daß sich alles Menschliche aus dem vielfältigen Miteinander von Personen herleiten läßt. Dann aber verstand er mit Marx, daß diese dialogische Welt Voraussetzungen durchherrschen, die zwar eine bestimmte geschichtliche Epoche ausbilden, in ihr aber nicht begriffen werden können. So geriet die Suche nach dem Unmittelbaren vor das Problem der Welt der Geschichte. Doch in ihr kann, wer ein Verläßlich-Gründendes erreichen will, weder Gedanken noch Leben festmachen. Deshalb war das Problem der Geschichte nur durch seine Kritik zu lösen – eine Kritik, die geführt wurde in Gestalt des Nachweises seiner überweltlichen Herkunft. Und so ergab sich im konsequenten Gang, als das eigentliche Thema von Löwiths Nachdenken, die natürliche Welt als eine Welt der Natur.“ (459) Henrich kommt zu dem Schluss, dass sich der moderne Stoiker Löwith unter den Philosophen mit Seneca wohl „am besten verstanden hätte“ (462). 2 W. Pannenberg, Das Nahen des Lichts und die Finsternis der Welt, in: E. Angehrn u. a. (Hg.),

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immer in dem von ihm (sc. Löwith) intendierten Sinne“3. Nach Ausweis seines Studienbuches besuchte Pannenberg im SS 1952 in Heidelberg neben einem zweistündigen Descartes-Seminar4 Löwiths dessen dreistündige Vorlesung über Geschichtsphilosophie und -theologie, deren Thematik im Jahr darauf unter dem Titel „Weltgeschichte und Heilsgeschehen“ in monographischer Ausarbeitung auf Deutsch erschienen ist. Das Original („Meaning in History“) des aus dem Englischen übersetzten (vom Verfasser neu durchgesehenen) Buches war bereits 1949 bei The University of Chicago Press publiziert worden. Es ist nicht auszuschließen, dass Pannenberg bereits die englische Version des Werkes kannte, wie einige briefliche Bemerkungen vermuten lassen.5 Intensiv studiert worden ist von ihm in jedem Fall die deutsche Ausgabe, wie das Handexemplar in der Pannenberg-Bibliothek (00014) belegt. 1952 war das erste Jahr Löwiths an der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg, wohin er durch Vermittlung Gadamers berufen wurde und wo er bis zu seiner Emeritierung 1964 lehrte. Nach Wehrdienst im Ersten Weltkrieg und italienischer Kriegsgefangenschaft begann Löwith in seiner Heimatstadt München das Studium der Biologie und der Philosophie und wechselte 1919 nach Freiburg, wo Husserl und Heidegger sowie der Zoologe Hans Spemann, der 1935 den Nobelpreis erhielt, seine wichtigsten Lehrer wurden. Löwiths Dissertation bei dem Phänomenologen Moritz Geiger in München war Nietzsche gewidmet, seine bei Heidegger in Marburg angefertigte Habilitationsschrift thematisierte „Das Individuum in der Rolle des Mitmenschen“ und zwar unter drei Fragestellungen: Dialektischer Negativismus. Michael Theunissen zum 60. Geburtstag, Frankfurt a. M. 1992, 237–251, hier: 237. (Der Text ist wiederabgedruckt in: ders., Natur und Mensch – und die Zukunft der Schöpfung. Beiträge zur Systematischen Theologie Bd. 2, Göttingen 2000, 283– 294.) 3 Ebd. 4 Anlässlich dieses Seminars schrieb Pannenberg eine Arbeit über Anselm ontologischen Gottesbeweis und seine cartesianische Rezeption. Er setzte sich dabei, wie aus brieflichen Mitteilungen an seine spätere Frau Hilke hervorgeht, intensiv mit Ernst Haenchens Aufsatz „Anselm, Glaube und Vernunft“ in: ZThK 48 (1951), 312–342, sowie mit der im Hintergrund stehenden Diskussion auseinander, an der auch Edmund Schlink beteiligt war. 5 Für diesen Hinweis und die Informationen zum Studienbuch danke ich Frau Hilke Pannenberg. Zu Studium und akademischen Qualifikationsschriften Pannenbergs vgl. neben meinen Ausführungen im 3. Band der Pannenberg-Studien W. Pannenberg, An Autobiographical Sketch, in: C. E. Braaten/Ph. Clayton (Ed.), The Theology of Wolfhart Pannenberg. Twelve American Critiques, with an Autobiographical Essay and Response, Minneapolis 1988, 11–18; zur Genese und frühen Wirkung der Programmschrift „Offenbarung als Geschichte“ vgl. ders., An Intellectual Pilgrimage, in: D. R. Nelson/J. M. Moritz/T. Peters (Ed.), Theologians in Their Own Words, Minnealpolis 2013, 151–161, hier: 158: „There was a passionate fight against our new heresy from both sides, Barthians and Bultmannians. That fight continued for years, until finally the attempts at silencing this new voice failed. Anyway, this was the situation during my years at Mainz from 1961 to 1967, and I had to defend myself against the vigorous attacks, as did other members of our group. In this situation I decided to choose for my next book the subject of Christology, on the basis of a lecture course I had first offered in Wuppertal.“

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„I. Wie begegnet einem ein ‚Du‘ unter den Andern? II. Bist ‚Du‘ wirklich nur Du eines Ich? III. Bin ‚Ich‘ wirklich nur Ich eines Du?“6 Der erste Teil bietet entsprechend eine Strukturanalyse des Miteinanderdaseins, der zweite erörtert den einen und den anderen in ihrer gegenseitigen Selbstständigkeit, der dritte handelt vom „Ich selbst“ in seiner Einzigkeit. Im Vorwort zum 1962 realisierten Nachdruck der Erstausgabe von 1928 sah sich der Autor zu der Bemerkung veranlasst, „(w)ürde er das Thema heute von neuem bedenken, so geschähe es nicht mehr in der Vereinzelung auf die formale Struktur des Verhältnisses von ‚Ich‘ und ‚Du‘, sondern in dem weiteren Zusammenhang mit der umfassenden Frage nach dem Verhältnis von Mensch und Welt, innerhalb dessen Mitwelt und Umwelt nur relative Welten sind“7. Hinzugefügt wird der programmatisch zu deutende Satz: „Die von Natur aus bestehende eine und ganze Welt ist nicht eine Welt für den Menschen und der vergängliche Mensch ist nicht das Ziel der gesamten, immerwährenden Schöpfung.“8 Nach seiner Privatdozentenzeit in Marburg, wohin er Heidegger gefolgt war, musste Löwith aufgrund seiner jüdischen Herkunft emigrieren; er ging zunächst nach Italien, wo er u. a. eine Monographie über „Nietzsches Philosophie der ewigen Wiederkehr des Gleichen“ schrieb. Der Rekurs auf die griechischen Ursprünge der Philosophie, so die Grundthese, habe im Wesentlichen die Funktion, mit dem seinem Ende zugehenden Christentum zugleich der geschichtsphilosophischen Fortschrittsidee den Abschied zu geben und des Zeitinvarianten und Immerseienden in allem Wandel eingedenk zu werden. Nietzsche könne dabei als Vorbild dienen, da er eine „antichristliche Wiederholung der Antike auf der Spitze der Modernität“9 intendiert habe. Nach der Zeit in Italien lehrte Löwith sodann fünf Jahre in Japan, bis er auch dort nicht mehr geduldet wurde. Auf Empfehlung von Paul Tillich und Reinhold Niebuhr kam er ans theologische Seminar in Hartford, Conneticut/USA, um 1949 an die School of Social Research in New York zu wechseln.

6 K. Löwith, Das Individuum in der Rolle des Mitmenschen (1928), Darmstadt 1962 (Pannenberg-Bibliothek 03671), 13. Differenzen zu Heidegger deuten sich bereits in dieser Arbeit an; vgl. dazu K. Löwith, Zu Heideggers Seinsfrage: Die Natur des Menschen und die Welt der Natur (1969), in: ders., Sämtliche Schriften. Bd. 8: Heidegger – Denker in dürftiger Zeit. Zur Stellung der Philosophie im 20. Jahrhundert, Stuttgart 1984, 276–289, hier: 278f. Nach D. Henrich ist „klar, dass Löwith keinen Schritt getan hat, zumindest keinen für die Öffentlichkeit sichtbaren, der nicht auch eine Kritik an Heidegger einschloss“ (D. Henrich, a. a. O., 460); nichtsdestoweniger sei er „seinem Lehrer dankbar verbunden (geblieben), den er doch unerbittlich bekämpft(e)“ (461). 7 K. Löwith, Das Individuum in der Rolle des Mitmenschen, IX. 8 Ebd. 9 K. Löwith, Nietzsches Philosophie der ewigen Wiederkehr des Gleichen (1935), Stuttgart 1956 (Pannenberg-Bibliothek 02208), 113; zu Heideggers Nietzschedeutung vgl. 222ff.

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In der amerikanischen Zeit entstanden die bekannten Löwithschriften „Von Hegel zu Nietzsche“ und „Meaning in History“ bzw. „Weltgeschichte und Heilsgeschehen“, in der anschließenden Zeit in Heidelberg u. a. die kritische Würdigung „Heidegger – Denker in dürftiger Zeit“10, deren Untertitel eine Wendung aus der siebten Strophe von Hölderlins Elegie „Brod und Wein“ variiert: „Wozu Dichter in dürftiger Zeit?“ Vorangegangen waren dem aus einzelnen Publikationen zusammengefügten Buch bereits eine Reihe von Einzelveröffentlichungen, die sich kritisch mit der Analyse geschichtlichen Daseins in „Sein und Zeit“ auseinandersetzten und sie als Konzentrat der, mit Heidegger zu reden, Objektgeschichte des Geistes der damaligen Zeit deuteten, der, wenn auch nicht durchweg willentlich, konsequent auf das Jahr 1933 und die Katastrophe zusteuerte, die es zur Folge hatte. Besondere Bedeutung kommt dabei der um einen Heideggerteil ergänzten Schrift „Der okkasionelle Dezisionismus von Carl Schmitt“ aus dem Jahr 1935 zu.11 Löwith bewunderte an Heidegger, wie er in einem Beitrag aus Anlass des 80. Geburtstags des Meisters schrieb, die „Einmaligkeit und Einsamkeit eines Einzelgängers“12; philosophische Gefolgschaft leisten wollte er ihm nicht: Er gehörte, wie er bereits in der ersten Zeile des erwähnten Textes betonte, entschiedenermaßen „nicht zu den Schülern …, die in der von Ihnen (sc. Heidegger) eingeschlagenen Richtung weitergedacht haben“13. Sein Wegziel war, wie HansGeorg Gadamer in einer Rede „Karl Löwith zum 70. Geburtstag“ ausführte, eine philosophische Haltung, „die die Natürlichkeit der Natur gegen die Beliebigkeit und Willkür des menschlichen Handelns und Denkens kehrt“14: Die Sache, der er seine Stimme und die Stimme seiner Helden leiht, ist die der nüchternen und illusionslosen Skepsis. Sie ist gleich fern von allem Pathos wie von aller Lehrhaftigkeit. Sie wendet sich gegen alle verbliebenen Ideale politischer und sentimentaler, humanistischer und christlicher Prägung und besteht mit stoischem Gleichmut darauf, den Lauf der menschlichen Dinge in den teilnahmslosen Lauf der Natur münden zu sehen.15

Was schließlich Pannenberg angeht, so teilte er die Heideggerkritik Löwiths auf weite Strecken, schlug aber, was das Verhältnis von Natur und Geschichte betrifft, einen völlig gegenläufigen Weg ein, der nicht zur Naturalisierung der Geschichte, 10 Zu Karl Löwiths Stellung zu Heidegger vgl. zusammenfassend W. Ries, a. a. O., bes. 20ff., 120ff. sowie R. Mehring, Karl Löwith. Destruktion einer Überlieferungskritik, in: D. Thomä (Hg.), Heidegger-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart/Weimar 22013, 388–390. 11 K. Löwith, Der okkasionelle Dezisionismus von C. Schmitt, in: ders., Sämtliche Schriften Bd. 8, 32–71. 12 Ders., Zu Heideggers Seinsfrage, 277. 13 A. a. O., 276. 14 H.-G. Gadamer, Karl Löwith zum 70. Geburtstag, in: Natur und Geschichte, 455–457, hier: 457. 15 A. a. O., 456.

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sondern im Gegenteil zur Vergeschichtlichung der Natur führen sollte. Löwith hinwiederum stellte seine Kritik an Heideggers existentialontologischer Daseinsanalyse in den alleinigen Dienst einer Revitalisierung antiker Kosmosfrömmigkeit bzw. dessen, was er dafür hielt.16 An der Erneuerung moderner Geschichtsphilosophie dagegen hatte er nicht nur kein Interesse; er suchte ihr entschieden entgegenzuarbeiten, wobei der Aufweis ihrer theologischen Genealogie dazu diente, hinter Moderne und Mittelalter in die gründende Urzeit der Antike zurückzuleiten. Schon Nietzsche, dessen Philosophie der ewigen Wiederkehr des Gleichen Löwith eine Mitte der 30er Jahre des 20. Jahrhunderts erstmals erschienene Monographie gewidmet hat, suchte dem nihilistischen Niedergang des abendländischen Denkens durch endgültige Verabschiedung des nach verbreitetem Urteil ohnehin definitiv zu Ende gehenden Christentums und durch die „Rückkehr zu den Anfängen der griechischen Philosophie“17 entgegenzuwirken. Durch ein entschiedenes „Ja zum ewigen Kreislauf der Dinge“ (28), wie es seit dem Zarathustra für Nietzsches Philosophieren grundlegend sei, sollte die „Selbstüberwindung des extremen Nihilismus“ (ebd.) geleistet und die Frage nach dem Sinn menschlichen Daseins im Ganzen des Seins (vgl. 10) einer Ant16 In seinem Beitrag zum 80. Geburtstag von Heidegger hat Löwith deutlich ausgesprochen, was er in dessen existential-ontologischer Philosophie vermisste: „die Natur – um uns herum und in uns selbst.“ (K. Löwith, Zu Heideggers Seinsfrage, 280; vgl. die ebenfalls anlässlich des 80. Geburtstags von Heidegger geschriebene Erinnerung a. a. O., 294f.) Diese sei „absolut selbständig, (id quod substat) von sich her bestehend und ständig bewegt“ (ebd.). Von ihr her sei auch das Wesen des Menschen, seine Natur zu begreifen, sofern das bewusste und selbstbewusste Menschenleben in natürliche Vollzüge eingebettet sei. Löwith suchte dies am Phänomen des Schlafes zu illustrieren: „Wenn man nicht mit der traditionellen Ontologie des selbst-bewußten Seins, des Fürsichseins und des sich zu sich selbst verhaltenden Daseins voraussetzt, daß der Mensch so ist, wie er sich weiß und bewußtermaßen verhält, sondern sich einmal klarmacht, was es bedeutet, daß er auch Mensch ist, wenn er nicht für sich da ist und sich nicht zu sich und zur Welt verhält, nämlich im Schlaf, dann verändert sich die ganze Blickrichtung für das, was und wie wir im Ganzen des von Natur aus Seienden sind.“ (283) Zwar ist, so Löwith, alles Unbewusste „als ein Nichtbewußtes vom Bewußtsein her interpretiert, und wenn man wissen will, was Schlaf und Traum und Unbewußtes sind, darf man nicht schlafen und träumen und bewußtlos dahinleben. Trotz dieses methodischen Vorrangs des Bewußtseins und des selbstbewußten Geistes für das Verständnis derjenigen Vorgänge, die sich ihrem Wesen nach ohne Bewußtsein vollziehen, ist aber doch einzusehen, daß der im wörtliche Sinn ursprüngliche Zustand des Menschen vor der Geburt der unbewußt-schlafende ist, in den wir alltäglich zurückkehren, weil auch der erwachsene, wache Mensch nicht rein als bewußtes Selbst leben kann. Könnte er es, so wäre er kein leibhaftiger Mensch, sondern ein naturloser Geist oder ein Gespenst.“ (285f.) Löwith kommt zu dem Schluss, dass im Grunde die Natur nicht dem Menschen, sondern dieser der Natur und einer kosmischen Welt gehört, deren natürlicher Ordnung er sich zu fügen hat, wenn sein Leben nicht aus den Fugen geraten und im Unfug enden soll. 17 K. Löwith, Nietzsches Philosophie der ewigen Wiederkehr des Gleichen, 43; bei K. kursiv. Die nachfolgenden Seitenverweise im Text beziehen sich hierauf.

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wort zugeführt werden. Nietzsche habe, wie schon gesagt, „(d)ie antichristliche Wiederholung der Antike auf der Spitze der Modernität“ (113) erstrebt. Doch sei auch er dem Christentum, welches er überwunden glaubte, noch zu sehr verbunden geblieben, als dass er den antiken Geist in seiner paganen Reinheit hätte wiederherzustellen vermocht. Löwith registriert bei Nietzsche eine Tendenz zu einer verhängnisvollen Modernisierung der uralten Idee der ewigen Wiederkehr und bringt sie mit der ungebrochenen Sucht nach der Zukunft und dem Willen in Verbindung, „sie zu schaffen, um die Entfremdung der Welt rückgängig zu machen. … Kein griechischer Philosoph dachte so ausschließlich im Horizonte der Zukunft und keiner hat sich als ein geschichtliches Schicksal genommen.“ (125) Im Unterschied hierzu will Löwith dem Zukunftsstreben und dem Streben nach Verewigung des Einzelnen strikt Einhalt gebieten, sich mit einer Wiederkehr des immer Gleichen bescheiden und sich in gelassener Resignation dem Walten der Kosmosnatur ergeben, die in einem fort erzeugt und vernichtet.18

2.

Denker in dürftiger Zeit. Zur Heideggerkritik Löwiths

In einer „Selbstanzeige“ zu „Sein und Zeit“19 hat Martin Heidegger das Verständnis des Seins des Seienden und die kategoriale Auslegung des Seinsverständnisses als universale Ontologie zum Grundanliegen der Philosophie seit der Antike erklärt. Um diesem Anliegen auf sinnvolle Weise Rechnung zu tragen, habe die philosophische Untersuchung beim Dasein als demjenigen Seienden anzusetzen, das wir selbst sind. Denn zum Dasein in seiner Jemeinigkeit gehöre das Seinsverständnis elementar und immer schon hinzu, wenngleich gewöhnlich auf unbestimmte und unausdrückliche Weise. Um das im Dasein selbstverständlich mitgesetzte Verständnis von Sein konsistent zu bestimmen und zum Ausdruck zu bringen, muss nach Heidegger im Zuge einer fundamentalontologischen Daseinsanalyse als erstes der Horizont für jedes Verständnis von Sein 18 Näher umschrieben hat Löwith seinen philosophischen Begriff vom physischen Kosmos und dem ihm eigenen Logos, wie er für die griechischen physikoi bestimmend gewesen sei, in Kontrast zum Weltbegriff der neuzeitlichen Philosophie bei Descartes oder Kant sowie im Unterschied zum „gottlos gewordene(n) Universum der modernen Naturwissenschaft“ in einem Vortrag vor der Philosophisch-historischen Klasse der Heidelberger Akademie der Wissenschaften aus dem Jahr 1960 (K. Löwith, Der Weltbegriff der neuzeitlichen Philosophie, Heidelberg 1960, hier: 8). Während das Christentum im Verein mit der Naturwissenschaft „den Kosmos entheiligt“ (21), die Natur vergeschichtlicht und damit um ihre zeitinvariante Geltung als Ordnung aller Ordnungen gebracht habe, erklärt es Löwith zum Ziel seines Philosophierens, die Einsicht in die Heiligkeit der kosmischen Ordnung und den antiken Anblick der ewigen Welt als einer anfangs- und endlosen Ganzheit wiederzugewinnen. 19 M. Heidegger, Selbstanzeige: Sein und Zeit. I. Hälfte, in: ders., Gesamtausgabe I/14: Zur Sache des Denkens, Frankfurt a. M. 2007, 123–126. Die nachfolgenden Seitenverweise im Text beziehen sich hierauf.

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freigelegt werden. Als solchen umfassenden Horizont des Seinsverständnisses sucht die Abhandlung über „Sein und Zeit“ ihrem Titel gemäß „die ‚Zeit‘ zu erweisen“ (GA 14, 125). Zeitlichkeit stellt nach Heidegger die „ontologische Bedingung der Möglichkeit der existenzialen Verfassung des Daseins“ (ebd.) dar, deren Struktur durch Analyse wesentlicher Existenzphänomene zu erheben Ziel des ersten – und ohne zweiten gebliebenen – Teils von „Sein und Zeit“ sei. Ohne diese Erhebung könne das im Dasein als Dasein implizit gegebene Verständnis des allem Seienden sein Sein gebenden Seins nicht erhellt werden. Der Anfang sei dabei mit einer Explikation der Zeitlichkeit („in der zugleich die Geschichtlichkeit des Daseins verwurzelt ist“ [ebd.]) zu machen und zwar mit dem Ziel, einen ursprünglicheren Begriff der Zeit zu gewinnen als den vulgären, der abkünftig zu nennen sei. Erst von jenem ursprünglicheren Zeitbegriff her, „aus dem der vulgäre und traditionelle als ein notwendiger Ableger entspringt“ (ebd.), lässt sich Heidegger zufolge das existentielle Wesen des Daseins und dessen Verständnis von Sein so erfassen, dass die Frage nach dem Sinn von Sein als die „Grundfrage aller Ontologie“ (ebd.) beantwortbar sowie die Grenze bisheriger Antwortversuche erkennbar wird. Die konstruktive und kritische Absicht des ersten Teils von „Sein und Zeit“, dem entgegen ursprünglicher Planung kein weiterer folgte, ist damit bündig umschrieben. Die kritische Rekonstruktion der traditionellen Metaphysik, in der nach Heideggers Urteil die „in der Zeitlichkeit des Daseins liegende… Zeit“ (GA 14, 126) als Horizont des Seinsverständnisses bislang verdeckt wurde, dient dem Anliegen, das Sein und seinen Sinn aus der Zeit heraus zu verstehen und zu interpretieren. Was das Problem des Seins des Daseins anbelangt, von dem die Frage nach einem grundlegenden Seinssinn ihren Ausgang zu nehmen hat, so bezieht es sich vor allem auf die existentielle Möglichkeit von Ganzsein. In seinem In-der-Welt-Sein, welches seine Grundverfassung ausmacht und sowohl sein Selbstsein als auch sein Mitsein mit anderen umfasst, ist das Dasein von der Sorge um sich bestimmt, weil es weder seinen Konstitutions- noch seinen Erhaltungsgrund unmittelbar in sich trägt. Dasein existiert faktisch, ohne das Faktum seiner Existenz begründend hervorgebracht zu haben. Es ist in die Welt geworfen und dazu bestimmt, sich auf sich und seine Welt hin zu entwerfen. Der Entwurfscharakter des Daseins in seinem Geworfensein hat seinen wesentlichen Grund darin, dass es nicht auf dinghafte, sondern in einer für Selbst und Welt erschlossenen Weise da ist. Es findet sich vor dergestalt, dass es in Befindlichkeiten existiert, die von Stimmungen durchzogen sowie auf Verstehen und auf stimmige Daseinsgestaltung angelegt sind. Heidegger unterscheidet in diesem Zusammenhang zwischen eigentlichem und uneigentlichem Existieren. Was ist das Kriterium dieser Unterscheidung? Die Antwort des Heideggerschülers Löwith lautet: Nichts als reine Dezision; in seine Eigentlichkeit gelange das

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Dasein Heidegger zufolge durch den Entscheid für Entschiedenheit und den Entschluss, entschlossen zu sich und seiner Endlichkeit zu stehen, deren vollendeter Möglichkeiten es sich durch Antizipation des eigenen Todes versichere. Habe es dergestalt Haltung angenommen, dann sei das Dasein gemäß dem in „Sein und Zeit“ entwickelten Verständnis äußerlich und innerlich ungebunden und frei, sich zu verhalten, wie immer es will. Heideggers nationalsozialistisches Engagement entspringe, so Löwith, besagter dezisionistischer Willkür und sei darin dem okkasionellen Dezisionismus Carl Schmitts vergleichbar. „Der okkasionelle Dezisionismus von Carl Schmitt“ ist in einem gleichnamigen Text thematisiert, den Löwith unter dem von ihm gelegentlich verwendeten Pseudonym „Hugo Fiala“ zwei Jahre nach der nationalsozialistischen Machtergreifung veröffentlicht und später um Ausführungen zu Martin Heidegger (und Friedrich Gogarten20) ergänzt hat; in erweiterter Form ist er in die „Gesammelte(n) Abhandlungen. Zur Kritik der geschichtlichen Existenz“ und schließlich in den achten Band der „Sämtlichen Schriften“ aufgenommen worden. Den Dezisionismus Schmitts belegt Löwith vor allem mit Bezug auf dessen im Jahr 1927 in Erst-, 1932 und 1933 in Zweit- und Drittauflage erschienenen Schrift „Der Begriff des Politischen“: Wenn man wie Schmitt zur Bestimmung des Politischen durch den Begriff einer souveränen Entscheidung von jedem zentralen Sachgebiet abstrahiert, bleibt als Wesen der Entscheidung folgerichtig nur übrig der jedes Sachgebiet übersteigende und es in Frage stellende Krieg, d. h. die Bereitschaft zum Nichts, welches der Tod ist, verstanden als Opfer des Lebens an einen Staat, dessen eigene ‚Voraussetzung‘ schon das Entscheidend-Politische ist.21

Es verwundere daher nicht, dass sich Schmitt von seinem dezisionistischen Begriff des Politischen her bei sich bietender Gelegenheit dem Nationalsozialismus und seinen Kriegsbestrebungen andienen konnte. Die radikale Gleichgültigkeit reiner Entschiedenheit gegen jeden Inhalt, für die er in seiner Theorie des Politischen plädierte, habe ihm eine opportunistische Haltung ohne jede Verbindlichkeit ermöglicht. Der Nihilismus einer im Grunde durch nichts als ihre Entschiedenheit gebundene Entscheidung, der nach seinem Urteil den okkasionellen Charakter von Schmitts politischem Denken bestimmt, entdeckt Löwith auch in Heideggers „Philosophie der entschlossenen Existenz“ (61), wie sie in „Sein und Zeit“ ent-

20 Einen Ahnherren des theologischen „Dezisionismus der zwanziger Jahre“ des 20. Jahrhunderts fand Löwith in Kierkegaard (vgl. K. Löwith, Kierkegaards Sprung in den Glauben, in: ders., Wissen, Glaube und Skepsis, Göttingen 31962, 49–67, hier: 50. [Pannenberg-Bibliothek 03112]). 21 Ders., Der okkasionelle Dezisionismus von C. Schmitt, in: ders., Sämtliche Schriften, Bd. 8, 32–71, hier: 44. Die nachfolgenden Seitenverweise im Text beziehen sich hierauf.

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wickelt worden sei. Der epochale Erfolg des Jahrhundertbuches sei wesentlich durch seine Zeitgemäßheit bedingt. „Das Pathos der Entscheidung für die nackte Entschiedenheit hatte zwischen den beiden Weltkriegen einen allgemeinen Anklang gefunden. Es hat die Entscheidung für Hitlers Entschiedenheit vorbereitet und den politischen Umsturz als ‚Revolution des Nihilismus‘ möglich gemacht.“ (Ebd.) Das gelte für Carl Schmitt und auf vergleichbare Weise für Martin Heidegger: Der in Sein und Zeit (§ 53) doppelt unterstrichenen ‚Freiheit zum Tode‘, durch die das je eigene und auf sich vereinzelte Dasein sein ‚Ganz-sein-Können‘ erreicht, entspricht im politischen Dezisionismus das Opfer des Lebens für den totalen Staat im Ernstfall des Krieges. (62)

Wessen Entscheidung nur auf Entschiedenheit aus ist, der ist im Grunde für nichts entschieden; wer sich allein zur Entschlossenheit entschließt, erweist sich zuletzt als zu allem entschlossen. Löwith erinnert in diesem Zusammenhang an den „treffliche(n) Witz, den ein Hörer von Heideggers Vorlesungen eines Tages erfand: ‚Ich bin entschlossen – ich weiß nur nicht wozu‘“ (64); dieser Witz habe einen unerwarteten Ernst (bekommen), indem der energische Leerlauf der Existenzialien (‚sich zu sich selbst entschließen‘, ‚vor dem Nichts auf sich selbst stehen‘, ‚sein Schicksal wollen‘, ‚sich selbst übernehmen‘) eine Erfüllung bekam und in die allgemeine, politische ‚Bewegung‘ einging. (Ebd.)

Wie sich das zu sich selbst entschlossene Dasein von „Sein und Zeit“ zu dem Seinsgeschick verhält, dem der späte Heidegger nachdenkt, hat Löwith im ersten Beitrag seines Buches „Heidegger – Denker in dürftiger Zeit“ erörtert, das er, wie erwähnt, aus Einzelveröffentlichungen zusammengestellt und erstmals 1953 und dann erneut 1960 und 1963 veröffentlicht hat. Gefragt wird, „ob Heideggers spätere Rede vom ‚Sein‘ und schließlich vom ‚Ereignis‘ die Konsequenz seiner Ausgangsstellung ist oder die Folge einer Umkehr“22. Nach Löwith ergibt sich die sog. Kehre aus einem konsequent verfolgten Denkweg, dessen Beginnen stets auf den Umschlag von Daseinsanalyse zu Seinsexplikation angelegt gewesen sei. Nicht die systematische Wende sei zu kritisieren, die Heidegger stimmig vollzogen habe, sondern die Tatsache, dass er sie dazu benutzt habe, Irrwege der Vergangenheit notorisch zu verschleiern. Dass diese Irrwege in der Ausgangsstellung seines Denkens und in der Fassung, die er diesem in „Sein und Zeit“ gegeben habe, begründet gewesen seien, sucht Löwith in den Folgebeiträgen seines Heideggerbuches zu verdeutlichen und zwar unter Konzentration auf die Rezeption des Nietzschewortes vom Tode Gottes und die Verhältnisbestimmung von „Geschichte, Geschichtlichkeit und Seinsgeschick“ (vgl. 44ff.). 22 K. Löwith, Heidegger – Denker in dürftiger Zeit, Göttingen 21960, 7. Die nachfolgenden Seitenverweise im Text beziehen sich auf diese Ausgabe (Pannenberg-Bibliothek 03113).

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In diesem Zusammenhang ergeben sich nicht nur vielfältige Sachbezüge zu den Studien in „Weltgeschichte und Heilsgeschehen“; es zeigen sich auch bemerkenswerte Parallelen zu der Kritik, die Pannenberg an Heideggers Reduktion von Geschichte auf Geschichtlichkeit üben wird. Heideggers Frage nach dem Sein habe „nicht nur mit der ‚Zeit‘ überhaupt, sondern auch mit der bestimmten Zeit zu tun …, in der er die universale Seinsfrage gestellt hat, nämlich in den zwanziger Jahren, nach dem ersten Weltkrieg“ (108), als man von dezisionistischer Entschiedenheit vielfach mehr hielt als von konkret zu verantwortenden Entscheidungen. Indem er die historische Zeit und ihre Geschichte durchgängig zu abkünftigen Modi von existentieller Zeitlichkeit und Geschichtlichkeit erklärte, habe Heidegger anderen und möglicherweise auch sich selbst die Einsicht in die Tatsache verstellt, wie elementar die bis in vermeintliche Urgründe reichende Daseinsanalyse vom Geist ihrer Zeit geprägt gewesen sei (vgl. bes. 106ff.).

3.

Weltgeschichte und Heilsgeschehen. Zu Löwiths Genealogie und Kritik moderner Geschichtsphilosophie

Das leere Pathos einer Entscheidung für reine Entschiedenheit, das in der Zeit zwischen den Weltkriegen weite Teile des öffentlichen Bewusstseins bestimmt und nicht zuletzt das sog. Jahrhundertbuch „Sein und Zeit“ gekennzeichnet habe, hat nach Löwith erheblich zur Vorbereitung des nationalsozialistischen Umbruches beigetragen, den er als dezisionistische Revolution des Nihilismus charakterisiert. Heidegger habe diese Entwicklung nach Kräften befördert und zwar gerade durch seine entschiedene Reduktion von Zeit auf Zeitlichkeit, Geschichte auf Geschichtlichkeit sowie durch seine katastrophisch gestimmte Theorie eines freien Seins zum Tode, von der es zur Praxis des Lebensopfers für den totalitären Staat nicht mehr weit gewesen sei. Ohne direkt auf Heideggers nationalsozialistische Aberrationen einzugehen, hat Pannenberg die Konzeption von „Sein und Zeit“ mit ähnlichen Gründen kritisiert wie Löwith, beispielsweise in seinen Studien zum Verhältnis von „Theologie und Philosophie“. Der Selbstvollzug des Daseins, wie Heidegger ihn „unter Rückgriff auf Gedanken Kierkegaards und Diltheys“23 beschrieben habe, sei „als Selbstkonstitution des Daseins in seiner Freiheit zu verstehen, wobei sich das Dasein angesichts der Zukunft des eigenen Todes herausholt aus dem ‚Verfallensein‘ an die Selbstverständlichkeiten seiner Umgebung (das ‚Man‘)“ (330). Durch den Entschluss, seine Endlichkeit in Prolepse des Todesendes in defini23 W. Pannenberg, Theologie und Philosophie. Ihr Verhältnis im Lichte ihrer gemeinsamen Geschichte, Göttingen 1996, 330. Die nachfolgenden Seitenverweise im Text beziehen sich hierauf.

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tiver Entschiedenheit zu wählen, begründe und verfasse sich das Dasein Heidegger zufolge selbst als endliche Freiheit und gelange zu existentieller Eigentlichkeit. Angst bzw. dem Umgang mit ihr kommt eine Schlüsselfunktion zu, „den Menschen aus der Uneigentlichkeit seines alltäglichen Lebens zu lösen“ (ebd.): Wird sie verdrängt, bleibt alles beim Alten; integriert das Dasein hingegen die Angst in entschiedener Antizipation und Affirmation seines künftigen Endes, dann wird dadurch alles neu und der „Zugang zur Freiheit eigentlicher Existenz“ (ebd.) erschlossen. Seine Sinnganzheit eröffnet sich dem Dasein gemäß seiner temporal strukturierten Verfassung erst von seinem künftigen Ende her; doch kraft seines aktuellen Bewusstseins der Endlichkeit, wie es sich in der Angst in existentieller Form manifestiert, ist es ihm schon gegenwärtig möglich, sich zu seinem Ende antizipativ zu verhalten. Nach Heidegger erschließt sich durch das vorlaufende Wissen von der Zukunft des eigenen Todes schon auf dem Wege dahin die mögliche Ganzheit des Daseins in seiner Endlichkeit. Dabei bleibt allerdings die Frage offen, wie denn der Mensch fähig wird, angesichts der Zukunft des eigenen Todes sein Dasein als endliches zu übernehmen. (331)

Die Antwort, die Heidegger in „Sein und Zeit“ unter Verweis auf die Stimme des zu eigentlicher Existenz rufenden Gewissens gibt, überzeugt Pannenberg nicht. Denn da im Ruf des Gewissens das Dasein sich selbst rufe, bewege sich die Argumentation im Kreis und gelange über die Figur unmittelbarer Selbstkonstitution nicht hinaus. Trifft dieser Einwand Heideggers Gewissensverständnis? Jedenfalls insofern, als der kategorische Imperativ, der sich im Gewissensruf des Daseins meldet, um Gehorsam zu erheischen, bei ihm zwar unbedingt, aber nicht auf Allgemeinverbindlichkeit und universale Geltung angelegt ist. Im Gewissen ruft das Dasein sich selbst, um von sich aus jene Eigentlichkeit zu realisieren, zu der es von seinem Eigenen her bestimmt ist. Das Dasein in seiner Jemeinigkeit ist im Gewissen gewiss, sich selbst und niemand sonst verpflichtet zu sein. Was es schuldig ist, ist es dem Eigenen schuldig, und die Schuld des Daseins besteht ausschließlich darin, schuldig geblieben zu sein, was es sich schuldet. Das Dasein ist es sich selbst schuldig, sich aus dem Grund seiner selbst heraus zu verstehen und sich in seinem faktischen Geworfensein so zu entwerfen, dass es seine Faktizität wählt und entschlossen zu sich steht, seine Schuld eingeschlossen. Aus dieser Entschlossenheit erwächst Heidegger zufolge die Haltung, auf die seine Ethik abgestellt ist. Wie immer sich das Dasein entscheiden mag: Wenn es nur Haltung bewahrt und entschieden zu sich steht, existiert es eigentlich. Löwith hat Heideggers Verständnis existentieller Eigentlichkeit als dezisionistisch und den Gewissensbegriff seines philosophischen Lehrers als ebenso

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unhaltbar kritisiert wie die Reduktion von Geschichte auf Geschichtlichkeit; gerade weil er historische Zeit in existentieller Zeitlichkeit habe aufgehen lassen, sei er dem Geist seiner Zeit umso bedenkenloser aufgesessen. Pannenberg ist der Heideggerkritik Löwiths in weiten Teilen gefolgt und hat sie fortgeschrieben, wenngleich in der Regel ohne direkte Bezugnahmen. Direkt und sehr häufig hat er sich dagegen auf Löwiths Studien zur theologischen Genese der modernen Geschichtsphilosophie bezogen, wobei allerdings die Schlussfolgerungen aus den erreichten Ergebnissen auch nicht ansatzweise denjenigen vergleichbar sind, die Löwith aus ihnen zog. Dieser hatte seine Philosophie im Allgemeinen und seine Anthropologie im Besonderen ausdrücklich gegen modernes Geschichtsdenken positioniert, das er als Säkularisierungsprodukt theologischer Vorgaben deutete.24 Pannenberg hingegen rezipierte Löwiths theologische Genealogie neuzeitlicher Geschichtsphilosophie mit dem Ziel, diese erneut mit ihren Wurzeln und mit einer erneuerten Theologie der Geschichte zu verbinden. In seinem auf Sommer 1952 datierten Vorwort zu „Weltgeschichte und Heilsgeschehen“ greift Löwith eine Frage auf, die er bereits zu Beginn seiner Studien zur Geschichte des deutschen Geistes im 19. Jahrhundert und der bürgerlich-christlichen Welt „Von Hegel zu Nietzsche“ 1939 gestellt hatte: „bestimmt sich das Sein und der ‚Sinn‘ der Geschichte überhaupt aus ihr selbst, und wenn nicht, woraus dann?“25 Wie die Antwort nach Löwiths Urteil auszufallen hat, wird 24 Vgl. im Einzelnen: M. Dabag, Löwiths Kritik der Geschichtsphilosophie und sein Entwurf einer Anthropologie, Bochum 1989. Deutlich Stellung bezogen gegen Löwiths „These, das Geschichtsbewusstsein der Neuzeit sei aus der Säkularisierung der christlichen Idee der Heilsgeschichte … hervorgegangen“, hat Hans Blumenberg in seinem Buch „Die Legitimität der Neuzeit“ (Frankfurt a. M. 21988, hier: 35). Zugleich hat er seine Kritik mit der Feststellung verbunden, die Löwithsche Säkularisierungsthese sei darauf angelegt, die „Entzweiung von Mittelalter und Neuzeit zu der einen Episode der Unterbrechung der menschlichen Kosmosbindung“ (37) zu depotenzieren. Ihre wesentliche Funktion bestehe darin, „die Renaissance der zyklischen Kosmologie … gegen die Dominanz des linearen Geschichtsbewusstseins zu setzen“ (36). Vgl. dazu die Rezension der Erstauflage des Werkes „Die Legitimität der Neuzeit“, in: PhR 15 (1968), 195–201, in der Löwith sich zum einen gegen die Annahme verwahrt, er habe behauptet, „daß die moderne Welt nichts weiter wäre als eine christliche Häresie“ (198), zum anderen aber erhebliche Vorbehalte erkennen lässt gegen Blumenbergs „apologetische(s) Interesse an der ursprünglichen Autonomie der humanen Selbstbehauptung der Neuzeit“ (195), durch die „seine Kritik an der Illegitimität des Säkularisationsbegriffs positiv“ (ebd.) motiviert sei. Die Neuzeit sei nicht so neu, wir ihr Begriff dies nahelege, und keine unmittelbare, sondern eine geschichtlich vermittelte Größe; um diesen Sachverhalt zu plausibilisieren, bedürfe es keiner „substanziellen Geschichtsontologie“ (197), deren Kritik durch Blumenberg Löwith „in gewissen Grenzen“ (ebd.) zustimmt. 25 K. Löwith, Von Hegel zu Nietzsche. Der revolutionäre Bruch im Denken des 19. Jahrhunderts, in: ders., Sämtliche Schriften 4: Von Hegel zu Nietzsche, Stuttgart 1988, 1–490, hier: 4 (Vorwort zur ersten Auflage: Sendai [Japan], im Frühjahr 1939). In der Zweitausgabe (New York, 1949) sind einige Korrekturen und Veränderungen vorgenommen. Das eigentliche Thema hingegen bleibt unverändert: „die Umbildung und Verkehrung der Hegelschen Philosophie des absoluten Geistes durch Marx und Kierkegaard in Marxismus und Existentialismus“ (6).

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rasch klar: Der Sinn der Geschichte bestimmt sich nicht aus dieser selbst und aus ihrem historisch-empirischen Sein heraus, sondern aus theologischen Annahmen, die weit „über alles bloß geschichtliche Denken“26 hinausweisen. Anhand einer Reihe von Detailstudien sucht Löwith zu belegen, dass alle Geschichtsphilosophien in der biblischen Überlieferung gründen; ohne die jüdisch-christliche Tradition hätten sie keinen Bestand. Der versuchte Nachweis erfolgt dabei nicht in affirmativer Absicht, sondern um vor nach seinem Urteil abwegigen Sinnerwartungen der Geschichte gegenüber zu warnen und in die Bahnen einer antiken Natur- und Kosmosfrömmigkeit zurückzulenken, von der Löwith Heilung von geschichtlichen Illusionen und ihren Gebrechen erwartet. Im Gefolge Nietzsches und seiner Idee ewiger Wiederkehr des Gleichen gemäß wird eine Restauration der, wenn man so will, paganen Antike unter modernen Bedingungen intendiert. Mit Hans Blumenberg war sich Löwith, wie Odo Marquard in einer Diskussionsrunde von „Poetik und Hermeneutik“ zu Problemen der Mythosrezeption zutreffend geäußert hat, völlig einig in der „Frontstellung gegen die dogmatische Tradition biblischer Provenienz und in (dem) Verdacht gegen die Geschichtsphilosophie“27. Unter Philosophie der Geschichte versteht Löwith, wie er in der Einleitung zu „Weltgeschichte und Heilsgeschehen“ vermerkt, „die systematische Ausdeutung der Weltgeschichte am Leitfaden eines Prinzips, durch welches historische Geschehnisse und Folgen in Zusammenhang gebracht und auf einen letzten Sinn bezogen werden“ (11). Gemäß diesem Verständnis sei die Geschichtsphilosophie „ganz und gar abhängig von der Theologie, d. h. von der theologischen Ausdeutung der Geschichte als eines Heilsgeschehens“ (ebd.), und könne daher „keine ‚Wissenschaft‘ sein“ (ebd.). Theologisch fundierte Philosophie der Geschichte und wissenschaftliche Historik schließen sich nach Löwiths Urteil wechselseitig aus. Letztere könne heilsgeschichtliche Sinnbedürfnisse niemals befriedigen; denn aus einer historisch verstandenen Weltgeschichte heraus lasse sich deren Sinn nicht bestimmen, was Löwith philosophisch dazu veranlasst, 26 Ders., Weltgeschichte und Heilsgeschehen. Die theologischen Voraussetzungen der Geschichtsphilosophie, Stuttgart 1953 (Pannenberg-Bibliothek 00014), 7. Die nachfolgenden Seitenverweise im Text beziehen sich hierauf. In den Sämtlichen Schriften Löwiths findet sich die Monographie in Band 2 (Stuttgart 1983), 7–239; zum Vorwort der englischsprachigen Ausgabe vgl. 608–610. 27 H. Fuhrmann (Hg.), Terror und Spiel. Probleme der Mythenrezeption, München 1971, 530. Über die „Wende zur Natur durch Abkehr von der Geschichtsphilosophie“ (125) sowie über die „Mäßigung der Geschichtsphilosophie zur Historie“ (81; vgl. 115) äußert sich Marquard ausführlich in dem Sammelband: Schwierigkeiten mit der Geschichtsphilosophie, Frankfurt a. M. 1973. Nach dem leitenden Begriff, den Marquard von ihr hat, ist Geschichtsphilosophie der „Mythos der Aufklärung“ (14): „Wenn die Neuzeit – nach einer möglichen Definition – die Neutralisierung der biblischen Eschatologie ist, so ist die Geschichtsphilosophie die Rache der neutralisierten Eschatologie an dieser Neutralisierung.“ (16)

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Sinngründe nicht in ihr, sondern in der Sphäre geschichtsloser bzw. geschichtstranszendenter Natur zu suchen. Eine konstruktive Explikation seiner Naturphilosophie hat Löwith in „Weltgeschichte und Heilsgeschehen“ nicht bzw. nur andeutungsweise vorgenommen. Das Hauptziel des Werkes ist die Kritik neuzeitlicher Geschichtsphilosophie durch Aufweis ihrer theologischen Voraussetzungen, die er für wissenschaftlich unhaltbar und philosophisch überholt hält. Gezeigt werden soll, „daß die moderne Geschichtsphilosophie dem biblischen Glauben an eine Erfüllung entspringt und daß sie mit der Säkularisierung ihres eschatologischen Vorbildes endet“ (11f.). Nach Löwith versteht es sich nicht von selbst, „die Geschichte im ganzen auf Sinn und Unsinn hin (zu) befragen“ (13), da dies „selbst schon geschichtlich bedingt“ (ebd.) sei: „jüdisches und christliches Denken haben diese maßlose Frage ins Leben gerufen.“ (Ebd.) Maßlos ist die Frage nach dem Sinnganzen der Geschichte Löwith zufolge deshalb, weil sie „alles Wissenkönnen“ (14) überschreitet. „Die Griechen waren bescheidener.“ (Ebd.) Damit zu griechischer Selbstbescheidung und zu natürlichem Maß zurückgefunden werde, gelte es Abschied zu nehmen von der Geschichtsphilosophie. Ihren, wie er meint, „verhängnisvollen Einfluß“ (ebd.) verfolgt Löwith von der biblischen Auslegung der Geschichte bis hin zu Hegel und Marx, um von eschatologisch und „prinzipiell futuristisch“ (15) perspektivierten Illusionen den Blick zurückzulenken auf die protologische Ursprungsverfassung der Natur und den Zyklus ihrer periodischen Bewegungen. Die Form von Löwiths Darstellung entspricht ihrem inhaltlichen Ziel: der historische Fortgang philosophisch-theologischer Geschichtsdeutungen wird „rückläufig“ (12) entwickelt, also in „umgekehrte(r) Reihenfolge“ (ebd.) seines tatsächlichen Verlaufs, weil genau dies der intendierten Kehre gemäß sei. Der eingelegte Rückwärtsgang soll anzeigen, dass das permanente Vorwärts geschichtlichen Fortschrittsdenkens an sein prinzipielles Ende gelangt sei, wofür J. Burckhardt als Kronzeuge aufgerufen wird: sein im Gefolge Nietzsches vollzogener „philosophischer Verzicht auf Geschichtsphilosophie“ (27) initiierte die Löwith’sche Untersuchung, um ihr gesamtes Beginnen zu kennzeichnen.28 Spätestens mit Burckhardts „Weltgeschichtlichen Betrachtungen“ sei die Philosophie der Geschichte im Grundsatz philosophisch erledigt und das Potenzial jüdisch-christlicher Geschichtsauslegung erschöpft, das „von Jesaja bis Marx“ (26) wirksam gewesen sei. Während griechische Historiographen, wie sich an Herodot, Thukydides und Polybios unschwer belegen ließe (vgl. 16ff.), davon überzeugt gewesen seien, „daß was immer sich künftig ereignen wird, nach dem gleichen logos ablaufen und von gleicher Art sein wird wie vergangenes und 28 Zu Burckhardt vgl. im Einzelnen Bd. 7 (Stuttgart 1984), zu Nietzsche Bd. 6 (Stuttgart 1987) von Löwiths Sämtlichen Schriften.

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gegenwärtiges Geschehen“ (15), hätten „(d)ie Verfasser des Alten Testaments (geglaubt), daß allein der Herr durch seine Propheten die Zukunft enthüllen könne“ (18), weil diese unerwartet Neues und nie Dagewesenes erschließe. Jesus und die Autoren des Neuen Testaments seien dieser – auf eschatologische Zukunft und auf endzeitliche Offenbarung des in Gottes Ratschluss Verborgenen – ausgerichteten prophetisch-prophetistischen Sicht gefolgt, deren Folgegeschichte bis in den Marxismus hineinreiche. Um die von Löwith namhaft gemachten Entwicklungsmomente im Unterschied zu seiner gegenläufigen Darstellung in zeitlicher Reihenfolge zu benennen: Grundlegende und weichenstellende Relevanz für die abendländische Wirkungsgeschichte jüdisch-christlicher bzw. bibelspezifischer Geschichtsauslegung werden Augustin (vgl. 148–159) und seinem Schüler Orosius (vgl. 160– 167) zuerkannt. Augustins entscheidendes Argument, mit welchem er die Weltanschauung der paganen Antike und ihren „klassischen Zeitbegriff“ (151) ewiger Wiederkehr des Gleichen, wie Nietzsche ihn wiederholt habe (vgl. 196– 205), zu widerlegen suchte, habe darin bestanden, dass die heidnische Lehre ohne Zukunft und daher hoffnungslos sei. Hoffnung könne es nur in eschatologischer Erwartung eines Futurs geben, das alle geschichtlichen Zeiten transzendiere und diese zu einem Interim relativiere. In der mittelalterlichen Lehre des Joachim von Fiore (vgl. 136–147), deren Verwandlungen er einen gesonderten Exkurs widmet (vgl. 190–195), wird nach Löwiths Urteil Augustins Bestimmung der Geschichte als Zwischenzeit zu einem geschichtlichen Fortschrittschema fortgebildet, das in säkularisierter Form bis in die Neuzeit hin weitergewirkt habe. So stehe und falle beispielsweise J. B. Bossuets Geschichtsauffassung, die im Vorspann der joachimitischen in Betracht kommt (vgl. 129–135), „mit der These, daß der ganze Gang der menschlichen Geschichte von der Vorsehung gelenkt wird“ (129). Dagegen hätten beizeiten Freidenker angekämpft. Trotz ihrer Krise, die Löwith an Vico (vgl. 109–128)29 und insbesondere an Voltaire (vgl. 99–108) illustriert, habe die Annahme einer providenziellen Progression zu einem geschichtlichen Eschaton hin in transformierter Gestalt auch unter Aufklärungsbedingungen fortgewirkt. Zwar sei, wie bei Proudhon, Comte, Condorcet und Turgot der Fall (vgl. 62–98), der Fortschrittsgedanke von demjenigen der Vorsehung abgekoppelt worden, nicht hingegen um verabschiedet zu werden, sondern um in säkularisierter Form weiterhin virulent zu sein: „Das Naturgesetz des Fortschritts tritt an die Stelle des übernatürlichen Willens der Vorsehung.“ (97) Bei Hegel (vgl. 55–61)30 schließlich 29 Zu „Vicos Grundsatz: verum et factum convertuntur. Seine theologische Prämisse und deren säkulare Konsequenzen“ (1968) vgl. Bd. 9 der Sämtlichen Schriften Löwiths: Gott, Mensch und Welt in der Philosophie der Neuzeit – G. B. Vico – Paul Valéry, Stuttgart 1986, 195–227. 30 Zu „Hegels Aufhebung der christlichen Religion“ (1962) und zur Frage „Philosophische

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werde es das Gesetz spekulativer Vernunft, bei Marx (vgl. 38–54) das Gesetz des dialektischen Materialismus sein, welches als Substitut der providentia Dei walte. Damit sei der Glaube der jüdisch-christlichen Tradition zwar verweltlicht worden, im Modus der Verweltlichung aber nichtsdestoweniger solange wirksam geblieben, bis ihm Nietzsche und Burckhardt zumindest im Prinzip den Abschied gegeben und ihn durch die ursprüngliche Einsicht griechischer Naturphilosophie ersetzt hätten. Die biblische Tradition bildet nach Löwith den „notwendigen Horizont für die eschatologische Konzeption einer Universalgeschichte“ (26). Diese Auffassung wird von Pannenberg geteilt; doch in entschiedener Opposition zu seinem Lehrer will er diesen Horizont und die durch ihn erschlossenen Perspektiven beibehalten, statt sie zugunsten einer naturhaften Kosmosphilosophie preiszugeben, deren Unterfangen er als rückschrittlich und regressiv beurteilt. Auch von manchen impliziten Prämissen der Löwith’schen Sicht setzt sich Pannenberg dezidiert ab, wie einige große Fragezeichen an den Seitenrändern seines Handexemplars von „Weltgeschichte und Heilsgeschehen“ signalisieren. Kritisch beurteilt wird insbesondere Löwiths mehr oder minder stillschweigend in Anschlag gebrachte These, dass ein „theologisches Verständnis der Menschheitsgeschichte … weder in weltgeschichtliche Begriffe übersetzt, noch philosophisch entfaltet werden“ (173) könne. Diese Annahme und die mit ihr verbundene Trennung von Geschichte und Übergeschichte bzw. profaner und religiöser Geschichte (vgl. 170) verstehe sich ebenso wenig von selbst wie die Generalprämisse, wonach geschichtliche Ereignisse bei historischer Betrachtung „nicht den mindesten Hinweis auf einen umfassenden, letzten Sinn“ (175) enthielten. Um einige weitere Sätze aus Löwiths Untersuchung zu zitieren, die Pannenberg in seinem Handexemplar eigens mit Fragezeichen versehen hat: Nach dem Neuen Testament ist das Auftreten Christi keine besondere, obschon außerordentliche Tatsache innerhalb der Kontinuität der Weltgeschichte, sondern das einzigartige Ereignis, das den ganzen Verlauf der Geschichte und den Gang der Natur ein für allemal in Frage stellt, indem es in ihren natürlichen Ablauf, die Verkettung von Sünde und Tod, hereinbricht. (176)

Pannenberg bestreitet die Richtigkeit dieser Aussage und will das Christusereignis als historisches Geschehen inmitten der Weltgeschichte verstehen, das dessen kontinuierlichen Verlauf nicht supranatural-übergeschichtlich durchbricht, sondern antizipativ-proleptisch vollendet. Löwiths Annahme, dass der Ablauf der Geschichte unter christlichen Bedingungen „nicht als entscheidend erfahren werden“ (177) könne, weil die Sphäre des Historischen für den Gläu-

Weltgeschichte?“ (1970) vgl. Bd. 5 von Löwiths Sämtlichen Schriften: Hegel und die Aufhebung der Philosophie im 19. Jahrhundert – Max Weber, Stuttgart 1988, 116–166 bzw. 249–276.

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bigen „ein Reich der Sünde und des Todes (sei), das der Erlösung bedarf“ (ebd.), lehnt Pannenberg folgerichtig als ebenso undifferenziert ab, wie diejenige, wonach die Weltgeschichte „an Bedeutung im genauen Verhältnis zu der Intensität (verliere), mit welcher der Mensch auf Gott und sich selbst bezogen ist“ (176). Weitere Beispiele kritischer Infragestellungen, wie etwa diejenige des Satzes, wonach gläubige Hoffnung „durch eine tatsächliche Erfahrung weder gesichert noch erschüttert werden“ (188) könne, ließen sich unschwer anführen. Sie würden nur erneut belegen, dass Pannenberg Löwiths Aufweis der theologischen Voraussetzungen der Geschichtsphilosophie einerseits für höchst bedeutsam erachtet, andererseits aber nicht nur als modifizierungsbedürftig, sondern als grundsätzlich ungeeignet beurteilt, die Notwendigkeit eines Abschieds von der Geschichte zugunsten einer kosmischen und menschlichen Natur zu begründen, die angeblich im Unterschied zur historischen Welt allen geschichtlichen Wandel überdaure (vgl. 183).31

31 Knapp und konzentriert dargestellt hat Löwith seine eigene Denkungsart u. a. in einem kritischen Beitrag „Zu Heideggers Seinsfrage: Die Natur des Menschen und die Welt der Natur“, den er 1969 anlässlich des 80. Geburtstags seines philosophischen Lehrers konzipiert hat: „Wenn“, so Löwith, „die Natur fehlt, dann fehlt nicht ein Seiendes oder ein Seinsbereich unter anderen, sondern das Ganze des Seienden in seiner Seiendheit ist verfehlt und läßt sich nicht nachträglich zur Ergänzung hereinholen. Denn was sollte die Natur sein, wenn sie nicht die eine Natur alles Seienden ist, deren Hervorbringungskraft alles, was überhaupt ist, also auch den Menschen, aus sich hervorgehen und wieder vergehen läßt.“ (K. Löwith, Zu Heideggers Seinsfrage, 280) Während nach Heidegger der Tod vorlaufend zu antizipieren ist, damit das menschliche Dasein zu individueller Eigentlichkeit gelangt, belehrt er Löwith zufolge „in unwiderleglicher Weise, daß Mensch gleich Mensch ist“ (282). Die Lebensbedeutung dieser Einsicht wird am Schlaf als dem Bruder des Todes illustriert. Gerade wegen ihrer Zeitlosigkeit bleibe die natürliche Ordnung in steter Geltung, woraus sich mit den alten Griechen schließen lasse, dass der Kosmos der Natur es sei, welcher „das Viele zur Einheit eines Ganzen“ (287) zusammenschließe. Einen Bezug auf den Menschen habe der Kosmos „nur insofern, als auch die gerechte Ordnung der Menschenwelt auf die vorbildliche Weltordnung im großen und ganzen verweist“ (289). In diesem Sinne sei gegenüber der Frage nach dem Sein, wie Heidegger sie stelle, „die an ihr selber fraglos und sprachlos bestehende Welt der Natur zur Geltung zu bringen“ (ebd.). Vgl. ferner Bd. 3 von Löwiths Sämtlichen Schriften: Wissen, Glaube und Skepsis. Zur Kritik von Religion und Theologie, Stuttgart 1985 sowie Bd. 1: Menschen und Menschenwelt. Beiträge zur Anthropologie, Stuttgart 1981. Nicht nur unter autobiographischen Aspekten interessant ist die Antrittsrede Löwiths vor der Heidelberger Akademie der Wissenschaften vom 9. Januar 1959 „Curriculum vitae“, a. a. O., 450–462, wo er u. a. auf die Intention zu sprechen kommt, die er mit „Meaning in History“ (1949) verfolgte. Die Absicht des Buches, „das später (1953) unter dem passenderen Titel Weltgeschichte und Heilsgeschehen übersetzt erschien, war eine kritische: es sollte daraus die Unmöglichkeit einer Philosophie der Geschichte hervorgehen. Diese Absicht wurde oft positiv-christlich mißverstanden, weil sie bestimmten Tendenzen der protestantischen Theologie konform zu sein schien. Ich hoffe, dieses Mißverständnis durch die kleine Schrift über Wissen, Glaube und Skepsis (1956) behoben zu haben und mit den Theologen darin einig zu sein, daß die Weisheit dieser Welt eine Torheit vor Gott ist.“ (457)

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4.

Gunther Wenz

Das Nahen des Lichts und die Finsternis der Welt. Zu Pannenbergs Löwithrezeption

Seinem am 18. Dezember 1937 entstandenen Gedicht „Die Nacht ist vorgedrungen, / der Tag ist nicht mehr fern“, das in der Vertonung des Thüringer Kirchenmusikers Johannes Petzold als Adventslied in das Evangelische Gesangbuch (EG 16), das Gotteslob (GL 220) und zahlreiche andere kirchliche Liederbücher aufgenommen wurde, hat Jochen Klepper (1903–1942) einen Abschnitt aus dem Römerbrief des Apostels Paulus vorangestellt, der als poetisches Leitmotiv fungiert. Es handelt sich um die Stelle Röm 13,11f., wo es heißt: Und das tut, weil ihr die Zeit erkennt, nämlich dass die Stunde da ist, aufzustehen vom Schlaf, denn unser Heil ist jetzt näher als zu der Zeit, da wir gläubig wurden. Die Nacht ist vorgerückt, der Tag aber nahe herbeigekommen. So lasst uns ablegen die Werke der Finsternis und anlegen die Waffen des Lichts.

In der revidierten Lutherbibel von 2017 ist der Passus bei Fettdruck des zweiten Verses mit der Überschrift „Leben im Licht des anbrechenden Tages“ versehen. Seinen Kontext bilden Weisungen und Mahnungen für das Gemeindeleben der Christen, deren „vernünftiger Gottesdienst“ (Röm 12,1) darin bestehe, ihre Leiber als lebendige, heilige und Gott wohlgefällige Opfer darzubringen, sich nicht der Welt gleichzustellen, sondern eine grundlegende Erneuerung durch Sinneswandel und entsprechendes Tun herbeizuführen. Verglichen wird die christliche Kehre weg vom alten, vergehenden Äon hin zu der in Christus angebrochenen Zukunft Gottes mit einem Erweckungs- bzw. Aufwachvorgang. Die Metaphorik erinnert an das Osterereignis und ruft eschatologische Erwartungen hervor. Die Nacht ist bereits im Übergang zum Tage, der Tag im Anbruch begriffen; es ist Zeit, bei Anbrechen der Sonne aus dem Schlafe zu erwachen, aufzustehen, die Werke der Finsternis abzulegen und die Waffen des Lichts anzulegen, um gerüstet zu sein für die Ankunft des Herrn. Näher sei jetzt das Heil, sagt Paulus, als noch zu der Zeit, da wir gläubig wurden, wozu Paul Althaus kommentierend bemerkt: „Die Geschichte ist dem Tage des Herrn nicht in jeder Zeit gleich nahe, sondern sie nähert sich ihm in der Zeit. Das zu bedenken gehört zum christlichen Geschichtsbewusstsein wesentlich hinzu.“32 In einem Aufsatz mit dem bezeichnenden Titel „Das Nahen des Lichts und die Finsternis der Welt“ hat W. Pannenberg die erwähnte Passage aus dem 13. Kapitel des Briefes des Apostels Paulus an die römische Gemeinde eigens zitiert und auf Zentralaussagen des Buches seines Heidelberger Lehrer Löwith über „Weltgeschichte und Heilsgeschehen“ bezogen.

32 Der Brief an die Römer übersetzt und erklärt von Paul Althaus, Göttingen 51946 (NTD 6), 114.

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Der Kontrast zwischen dem Licht der Zukunft Gottes und der Finsternis der Welt, den das Pauluswort aus dem Brief an die Römer formuliert, bestätigt weitgehend die Beschreibung des eschatologischen Bewußtseins der frühen Christenheit, die Löwith gegeben hat. Zwar heißt es bei Paulus, die Nacht sei ‚vorgerückt‘, und der Apostel verwendete an dieser Stelle ganz explizit das Wort, das auch terminologisch für ‚fortschreiten‘ steht. Aber damit ist kein innerweltlicher Fortschritt der Welt aus ihrer Finsternis heraus gemeint. Die Wendung besagt nur, daß die Zeit der Nacht und ihre Herrschaft abgelaufen ist.33

Löwith hatte in seinen Studien zum Thema „Weltgeschichte und Heilsgeschehen“ die Entwicklung der exemplarisch im Deutschen Idealismus und im Marxismus ausgeprägten modernen Geschichtsphilosophie als Prozess der Säkularisierung der christlichen Geschichtstheologie beschrieben und zugleich mit Nachdruck den antichristlichen Charakter der Fortschrittsidee behauptet, die für sie, die Geschichtsphilosophie der Moderne, von grundlegender Bedeutung sei. Der Fortschrittsglaube sei lediglich ein schwächlicher Ersatz für das geschichtstheologische Erbe christlicher Eschatologieerwartung, von deren Gehalt er zehre. Wirkungsgeschichtlich geurteilt sei er zwar christlicher Herkunft und von der Geschichtstheologie des Christentums verursacht. Seiner eigenen Entwicklungstendenz nach müsse er hingegen als unchristlich beurteilt werden, jedenfalls in seiner über die unleugbare Tatsache wissenschaftlich-technischen Fortschritts hinaus generalisierten Form. Geschichtsphilosophisch verallgemeinert ist die Idee des Fortschritts nach Löwith trotz ihrer christlich bestimmten Entstehungsgeschichte nicht christlich, sondern un-, ja antichristchristlich zu nennen. Pannenberg stimmt der Löwithschen Analyse trotz bleibender Vorbehalte im Prinzip zu. Grundsätzlich zutreffend sei zum einen die These, „daß die Ausbildung der modernen Fortschrittsidee sich in Auseinandersetzung mit der christlichen Geschichtstheologie sowie in Ablösung von ihr vollzog“ (240). Zwar finde sich der Fortschrittsgedanke in Ansätzen bereits in der paganen Geschichtsschreibung der griechisch-römischen Antike; doch blieben ihre Rahmenbedingungen „durch die kosmischen Kreisläufe bestimmt“ (ebd.). Erst das Christentum habe dieser Grundannahme „die Vorstellung eines auch in kosmischen Dimensionen einmaligen und unumkehrbaren Verlaufs der Geschichte entgegen(gesetzt)“ (ebd.). Insofern habe Löwiths Behauptung einer christlichen Genetisierung der Fortschrittsidee und 33 W. Pannenberg, Das Nahen des Lichts und die Finsternis der Welt, 242. Die nachfolgenden Seitenverweise im Text beziehen sich hierauf (vgl. oben Anm. 2). Zu Löwiths „Weltgeschichte und Heilsgeschehen“ und zur Frage, warum ihm der Aufweis der theologischen Herkunft des modernen Geschichtsbewusstseins keine geschichtstheologische Option eröffnet hat, vgl. auch ders., Der Gott der Geschichte. Der trinitarische Gott und die Wahrheit der Geschichte (1977), in: ders., Grundfragen systematischer Theologie. Gesammelte Aufsätze Bd. 2, Göttingen 1980, 112–128, hier: 112f.

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der für sie bestimmenden Idee einer unumkehrbaren Gerichtetheit der Zeit seine Richtigkeit, ohne dass deshalb auch schon die Erwartung einer ständigen Aufwärtsbewegung des Zeitverlaufs hin zum immer Besseren als christlich indiziert zu behaupten sei. Zwar sei die christliche Geschichtstheologie zielbestimmt; aber die Erwartung des Endziels der Geschichte richte sich im Christentum nicht auf den Schlusspunkt einer innerweltlichen Fortschrittsentwicklung, sondern auf den eschatologischen Anbruch des Reiches Gottes. Insoweit habe Löwith, um ein zweites Positivum zu vermerken, auch den prinzipiellen Gegensatz zwischen Christentum und Fortschrittsglauben klar und zutreffend charakterisiert. Er hätte sich darin nur bestärkt fühlen können, hätte er die Verschmelzung von Evolutionismus und Fortschrittsglauben seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts mit in seine Betrachtungen einbezogen. Erst durch den Evolutionismus hat die Fortschrittsidee ein kosmologisches Fundament gewonnen. (241)

Christlicher, so Pannenberg, sei sie dadurch allerdings nicht geworden, sofern, um es zu wiederholen, die Erwartung des christlichen Glaubens und seine Geschichtstheologie nicht auf einen innerweltlichen Endpunkt kosmisch-evolutionär-menschheitsgeschichtlicher Entwicklung, sondern auf die Menschheits-, Natur- und Weltgeschichte transzendierende eschatologische Zukunft des Reiches Gottes gerichtet sei. Der christliche Zukunftsglaube „hängt ganz und gar an der Zukunft Gottes und seines Kommens zur Verwandlung dieser Welt“ (ebd.), nicht an der Idee eines innerweltlichen Fortschritts hin zu einer Vollendung, die unmittelbar aus Menschheit, Natur und Welt heraus zu gewinnen sei. Diese Idee sei vielmehr unchristlich, ja antichristlich, wie Löwith nach Pannenbergs Urteil richtig gesehen habe. Was er hingegen übersehen bzw. nicht hinreichend wahrgenommen habe, sei die Tatsache, dass die Zukunft Gottes für den Christen „nicht nur im Kommen, sondern … auch schon angekommen (ist). Die Christen gehen zu auf eben diejenige Zukunft Gottes, die in Jesus Christus schon angekommen ist.“ (242) Christliche Zukunftserwartung steht unter der Prämisse des Perfekts „der Inkarnation des Gottessohnes in der Welt“ (ebd.), der Antizipation des eschatologischen Gottesreiches im Leben, Sterben und Auferstehen Jesu Christi. Diese Voraussetzung, die auch den Hintergrund der Worte des Apostels Paulus in Röm 13,11f. bilde, habe Löwith nicht hinreichend bedacht; sie problematisiere zugleich die von ihm gegebene Beschreibung des Verhältnisses von Heilsgeschehen und Geschichte, deren dualistische Bestimmung dem christlichen Glauben nicht gemäß, sondern fremd sei. Zwar bringt Löwith nach Pannenberg gelegentlich die Zukunftshoffnung des Glaubens mit der Gewissheit der schon geschehenen Ankunft des Herrn in Verbindung. Aber in der Regel blende er das Perfekt des christlichen Heilsge-

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schehens aus und mit ihm die christliche Annahme, dass dieses durchaus einen Ort in der Weltgeschichte habe und daß es alle vorhergehende und nachfolgende Geschichte strukturiert als Geschehen ante Christum natum oder post Christum natum. Das ist der Punkt, an dem Löwith dem christlichen Glaubensverständnis nicht voll gerecht geworden ist. Er konnte nur mit Vorbehalten davon sprechen, daß in Jesus Christus der Gottessohn in diese unsere Welt eingegangen ist. Letzten Endes blieb ihm das Heilsgeschehen durch eine Diastase von der profanen Geschichte getrennt, in klarem Gegensatz zum christlichen Inkarnationsglauben. (242f.)

Schuld an diesem Missstand ist nach Pannenbergs Urteil nicht Löwith allein oder auch nur in erster Linie, sondern im Grund die christliche Theologie seiner Zeit selbst, die in der irrigen Meinung, „den Kern der christlichen Glaubensaussagen auf diese Weise gegen die Zudringlichkeit historischer Kritik schützen zu können“ (243), den Anspruch auf Historizität des inkarnatorisch-österlichen Perfekts und mit ihm die historische Wissenschaft jenem Unglauben preisgegeben hat, dem die Behauptung einer geschichtlichen Prolepse der Endzeit vorweg und unbesehen als Unmöglichkeit erscheint. Statt diese Preisgabe wie Löwith nachzuvollziehen, plädiert Pannenberg für eine Revision der üblichen, vom Prinzip der Analogie und universalen Vergleichbarkeit beherrschten historischen Methodik mit dem Ziel, Unvergleichliches, Singuläres, Einmaliges nicht ohne weitere Prüfung als historisch grundsätzlich unmöglich zu erklären, sondern die Möglichkeit objektiver Prüfung offenzuhalten.34 Gemäß christlichem Glauben ist das Heilsgeschehen in Jesus Christus ein weltgeschichtliches Datum mit dem Anspruch auf Historizität und Objektivität. Diese Feststellung hat nach Pannenberg „unmittelbare Relevanz für die Frage nach dem Verhältnis von Christentum und Fortschrittsthematik“ (243f.). Zwar handele es sich, wie Löwith zurecht konstatiere, um kein Verhältnis der Konvergenz; es sei aber auch nicht derart konträr zu bestimmen, wie er dies nahelege. Man dürfe, so Pannenberg, nicht zu schnell jedes Fortschrittsmotiv aus dem christlichen Bewußtsein verbannen. Jedenfalls gilt das für den Gang der Offenbarungsgeschichte Gottes bis hin zu Jesus Christus. Einen Fortschritt über Jesus Christus hinaus aber kennt der christliche Glaube nicht, weil in Jesus Christus die endgültige Zukunft Gottes schon Gegenwart geworden ist, die Zukunft, der alle andern Menschen, Glaubende wie Nichtglaubende, noch

34 Vgl. dazu die Bemerkung von Pannenberg, Das Nahen des Lichts, 246: „Die christliche Theologie hat ja selbst zur Entwicklung der historischen Methode beigetragen, und deren Ausbildung und Anwendung gehört ohne Zweifel zu den wichtigsten Fortschritten in der Geschichte der Theologie – vorausgesetzt, historische Methode und Interpretation werden nicht selber als säkularistisches Dogma gehandhabt, dessen Adepten schon vor aller Einzeluntersuchung der Befunde wissen, was nicht sein kann, weil es nicht sein darf.“

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entgegengehen. Darum ist für den christlichen Glauben Jesus Christus nicht überholbar. (244f.)

Die Unüberholbarkeit der Selbstoffenbarung Gottes in Jesus Christus, zu der sich der christliche Glaube generell und insbesondere gegenüber Behauptungen eines religiösen Progresses über die Erscheinung des auferstandenen Gekreuzigten hinaus bekennt, schließt nicht aus, dass es Fortschritte im Verständnis des perfekten Offenbarungsgeschehens und seiner Bedeutungszusammenhänge gibt, die der Zukunft des Gekommenen nachfolgend entgegengehen, ohne über ihn hinauszuführen. Ein solcher religiös-theologischer Erkenntnisfortschritt hat sich nach Pannenberg in der Christentumsgeschichte nicht in Form einer stetigen Aufwärtsbewegung, sondern in der Weise eines Auf und Ab vollzogen, bei der es wiederholt auch zu Rückschritten, gelegentlich auch zur Verkennung des gründenden Ursprungsereignisses kam. Die Christentumsgeschichte kenne nicht nur Zeiten des Aufstiegs, sondern auch solche des Niedergangs und des Verfalls, was Pannenberg zufolge daran hindern sollte, den Geist der eigenen Zeit und denjenigen des gegenwärtigen Christentums hierzulande oder anderswo in unkritischer Selbstverständlichkeit an die Spitze des Fortschritts zu stellen. Interessant ist, dass Pannenberg in diesem Zusammenhang die „Frage nach dem Klassischen“ (249) in der Kultur- und Christentumsgeschichte stellt. Klassisch nennt er Zeiten, in denen die Wirklichkeit menschlicher Bestimmung exemplarisch zum Vorschein kam und Humanität und Christlichkeit konvergierten. Das Kriterium der Klassik könne kein lediglich chronologisches sein, da spätere Zeiten kulturell und in christlicher Hinsicht keineswegs per se hochwertiger seien als frühere; es müsse vielmehr sachlich und nach christlichem Glaubensbekenntnis so gefasst werden, dass der zweite Adam als Norm und Richtschnur der adamitischen Menschheit und ihrer Welt fungiere. Damit sei keine äußere Bemessungsgrundlage an den Begriff der Klassik herangetragen, da es in der klassischen Phase der Kultur stets um die rechte Bestimmung des Menschen gehe, auf die auch der christliche Glaube fokussiert sei. Im Thema der Humanität sei demnach eine inhaltliche Konvergenz von Christentum und Kultur angelegt. In einer Vorbemerkung zu seinen 1960 erschienenen Gesammelten Abhandlungen zur Kritik der geschichtlichen Existenz erklärte Wolfhart Pannenbergs philosophischer Lehrer Karl Löwith, der sachliche Zusammenhang der im Laufe von fast drei Jahrzehnten entstandenen Arbeiten ergeben sich „aus der Konsequenz ihres Ausgangs: von der gesellschaftlich-geschichtlichen Welt des Menschen über die Kritik der ‚geschichtliche Existenz‘ zur Frage nach der Natur des Menschen innerhalb der natürlichen Welt.“35 Entwicklungsziel der Löwithschen 35 K. Löwith, Gesammelte Abhandlungen. Zur Kritik der geschichtlichen Existenz, Stuttgart 1960, Vorbemerkung.

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Philosophie insgesamt und vor allem seiner Anthropologie war der stoische Rückzug vom historischen Bewußtsein36, dem nicht zuletzt seine philosophiegeschichtlichen Arbeiten einschließlich seiner genealogischen Studien zur modernen Geschichtsphilosophie dienen sollten. Ganz andere Schlüsse zog Pannenberg aus „Weltgeschichte und Heilsgeschehen“; 1961, ein Jahr nach Erscheinen der Gesammelten Abhandlungen Löwiths zur Kritik der geschichtlichen Existenz, plädierte er programmatisch für eine Erneuerung der Geschichtstheologie.

36 „Karl Löwiths stoischer Rückzug vom historischen Bewußtsein“ ist eingehend kommentiert in dem gleichnamigen Aufsatz von Jürgen Habermas, der in dem Sammelwerk „Theorie und Praxis. Sozialphilosophische Studien“, Frankfurt a. M. 31969, 352–370, erschienen ist. Löwiths Bestreben, so Habermas, sei von Anbeginn an darauf angelegt, „einen Kulissenwechsel von der Moderne zur Antike (zu) inszenieren“ (352): „Er möchte den griechischen Anblick des Kosmos als eines anfangs- und endlosen, ewigen Ganzen, er möchte die Erfahrung der Physis als des Einen und Ganzen von Natur aus Seienden wieder zur Geltung bringen.“ (354) Bei aller vornehmen Zurückhaltung lässt Habermas keinen Zweifel daran, dass er Löwiths Streben als regressiv und dessen genealogisch angelegte Kritik der Geschichtsphilosophie selbst als geschichtsphilosophisch bedingt beurteilt. Löwiths versuchter Absprung „von den Klippen des historischen Bewußtseins“ (353) sei missglückt und ende in einem Rückfall in einen konservativen Neohumanismus, der mit dem antiken Stoizismus nur bedingt etwas zu tun habe. Habermas zieht daraus den über den speziellen Fall hinausreichenden Schluss, dass man sich aus der Geschichte grundsätzlich nicht verabschieden könne. Löwiths Idee einer zeitinvariant-geschichtslosen Natur, deren Ordnung sich alles Seiende einschließlich des Menschen zu fügen habe, sei selbst geschichtlich vermittelt und zwar gerade dort, wo sie sich ein ursprungsmythisches Ansehen gebe. Nach Habermas müsste der historisch versierte Philosoph „seinem eigenen Unternehmen misstrauen, soweit es darin besteht, den Bannkreis des historischen Bewußtseins mit Zaubersprüchen zu sprengen, die er von diesem selbst gelernt hat“ (359). Die geschichtliche Welt des Menschen lasse sich nicht auf eine immer gleiche Ursprungsnatur hin hintergehen, weil jede Ansicht vom Kosmos einschließlich derjenigen, welche die zeitinvariante Geltung seiner Ordnung annehme, durch sie bedingt sei. Dies eingesehen zu haben, wird als ein Vorzug von „Sein und Zeit“ dem Löwithschen Ansatz gegenüber gewürdigt, so kritisch Habermas dem Heideggerschen Denken ansonsten gegenübersteht.

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Die Glaubwürdigkeit des Christentums Zu Wolfgang Greives gleichnamigem Pannenbergbuch

Es gehört zu den Maximen eines an Schleiermacher geschulten Protestantismus, dass jeder einzelne Christ im Ausbilden einer eigenen Denkungsart und eines individuellen Verständnisses des christlichen Glaubens begriffen zu sein habe. Diese Forderung wurde gelegentlich in dem Sinne missverstanden, als müsse das Christentum vom je Einzelnen wenn nicht neu erfunden, so doch in einer derart innovativen Weise verstanden werden, die alles Bisherige in den Schatten stellt. Insbesondere unter Theologen war dieses Missverständnis weit verbreitet. Das Erbe der theologischen Väter wurde entsprechend selten hoch gehalten, sondern überwiegend gering geschätzt. Man neigte dazu, die Aktualität der eigenen Position durch den Gegensatz zur überkommenen zu profilieren und sich seiner Unvergleichlichkeit durch den Anspruch auf konkurrenzlose Originalität zu versichern. Mittlerweile scheint dieses eigentümliche Verfahren aus guten Gründen aus der Mode gekommen zu sein. Ein Beispiel dafür gibt Wolfgang Greive (geb. 31. 3. 1943 in Wiesbaden) mit seiner Monographie „Die Glaubwürdigkeit des Christentums. Die Theologie Wolfhart Pannenbergs als Herausforderung”1. Hier stellt ein kundiger Theologe, der längst ausgelernt hat, seine Gelehrsamkeit ganz in den Dienst des Werkes eines Meisters, bei dem er vor Jahren in die Schule gegangen ist. Er tut dies keineswegs in einer bloß reproduktiven Form, die nichts als Paraphrasen und umschreibende Nacherzählungen hervorzubringen vermöchte, sondern in selbständiger Produktivität, um so das Erbe für sich und andere als geistiges Eigentum zu erwerben. Dr. theol. habil. Wolfgang Greive hat unter Anleitung Wolfhart Pannenbergs eine Dissertation zum Thema „Der Grund des Glaubens. Die Christologie W. Herrmanns und ihre Auswirkung auf G. Ebeling“ verfasst.2 Das Rigorosum fand im Herbst 1972 statt. Die Habilitation erfolgte im WS 1988/89 in Hamburg mit 1 W. Greive, Die Glaubwürdigkeit des Christentums. Die Theologie Wolfhart Pannenbergs als Herausforderung, Göttingen 2017 (Forschungen zur systematischen und ökumenischen Theologie. Hg. v. Chr. Axt-Piscalar, D. Fergusson u. Chr. Tietz. Bd. 160). Die nachfolgenden Seitenverweise im Text beziehen sich hierauf. 2 Vgl. ders., Der Grund des Glaubens. Die Christologie Wilhelm Hermanns, Göttingen 1976.

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einer Arbeit über „Die Kirche als Ort der Wahrheit. Das Verständnis der Kirche in der Theologie Karl Barths“3; die Gutachten schrieben damals Traugott Koch und Hermann Fischer. Wie er die Theologie Pannenbergs für sich persönlich entdeckte, hat Greive in einem eigenen Abschnitt seiner Arbeit dargestellt (vgl. 104ff.). Die Entdeckung reicht zurück in seine Zeit als Oberprimaner in Wiesbaden im Winter 1962/63, als sein Deutschlehrer ihn auf einen Vortrag Pannenbergs über die Gotteslehre im hohen Mittelalter aufmerksam machte, der ihn nachhaltig beeindrucken sollte.4 Vom Wintersemester 1965/66 bis Wintersemester 1967/68 studierte Greive dann bei Pannenberg in Mainz und hörte im Sommersemester 1967 die legendäre Vorlesung über „Theologie der Vernunft“, die für ihn, wie er schreibt, „zum Schlüsselerlebnis für eine der zentralsten Aufgaben der Theologie (wurde): das Denken der geschichtlichen Wahrheit des Christentums, das den Glauben und die Vernunft über sich selbst aufklärt“ (105f.). Im fünften Abschnitt des zweiten Teils der Arbeit (vgl. 203ff.) werden die Kolleginhalte u. a. auf der Basis einer eigenen Mitschrift analysiert und zwar unter besonderer Berücksichtigung der Pannenberg’schen Vernunfttypologie und der Entdeckung der geschichtlichen Offenheit der Vernunft. Das Pannenbergbuch Greives ist in vier Hauptteile gegliedert. Der erste (45– 135) ist der Programmatik des Pannenbergschen Denkens und ihrer Relevanz in der gegenwärtigen Geisteslage gewidmet, die eingangs unter den Gesichtspunkten eines neuen Atheismus, naturalistischer Weltdeutungen, einer Krise des Ethischen und dessen in Betracht kommt, was Greive im Anschluss an Terry Eagelton Sinnverfinsterung bzw. Sinnfinsternis nennt. Auf diesem Hintergrund und den Streitigkeiten ums „Ganze“, die in der Gegenwart geführt werden, wird sodann im Kontext von Grundfragen der Philosophie und von Antworten des Christentums der Ansatz von Pannenbergs Theologie skizziert, als deren Grundmotiv Greive die Erlangung jener Glaubwürdigkeit identifiziert, die den Gesamttitel des Werkes abgibt. Eine Zwischenbetrachtung (121–135) stellt Pannenbergs Grundkonzeption im Kontext dar. In einem außerordentlich inhaltsreichen zweiten Teil (137–329) wird des Weiteren der Weg zur Systematischen Theologie als dem opus magnum Pannenbergs nachgezeichnet und zwar in siebenfacher Perspektive: Die Konzeption der Wirklichkeit als Geschichte und die Neufassung des Offenbarungsbegriffs. − Die Gottesfrage und die Herausforderung des Atheismus. − Neubegründung der Ethik. − Das der Wahrheit verpflichtete Denken. − Theologie der Vernunft. − Theologie als Wissenschaft. − Anthropologie als Beitrag zur 3 Vgl. ders., Die Kirche als Ort der Wahrheit. Das Verständnis der Kirche in der Theologie Karl Barths, Göttingen 1991. 4 Vgl. W. Pannenberg, Die Gottesidee des hohen Mittelalters, in: A. Schaefer (Hg.), Der Gottesgedanke im Abendland, Stuttgart 1964, 21–34.

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Grundlegung der Theologie. − Christologie als Kernstück der Theologie. Das Ziel der Untersuchung ist im dritten Teil (333–566) mit der Darstellung und Analyse des Hauptwerks der dreibändigen Systematischen Theologie erreicht, deren Neuauflage im Frühjahr 2015 erscheinen konnte, nachdem die deutsche Erstauflage der Jahre 1988, 1991 und 1993 längere Zeit vergriffen war. Förmliche Prolegomena sind in Pannenbergs Systematischer Theologie aus inhaltlichen Gründen nicht vorgesehen, was selbstverständlich auch Greive weiß. Sein Prolog zur Sache, den er in den vier Anfangskapiteln des dritten Untersuchungsteils darbietet, will entsprechend, wenn man so sagen darf, proleptischantizipatorisch, also im Sinne eines Vorgriffs verstanden sein, der einen vorläufigen Eindruck von dem in seinen einzelnen Bestimmungsmomenten zu entfaltenden Ganzen zu geben versucht und zwar aus wohlerwogenen Gründen unter der Leitperspektive der Sinnthematik. Im Anschluss daran werden die zentralen Themenbestände der Systematischen Theologie entfaltet und zwar in kosmologischer und anthropologischer, hamartiologischer und soteriologischer sowie in eschatologischer Perspektive, also im Hinblick auf die Vollendung der Schöpfung im Reiche Gottes. Der Schlussteil variiert mit den beigegebenen Epilegomena in zusammenfassender Absicht Titelmotiv und Leitthema der gesamten Theologie Pannenbergs und ihrer vielfältigen Bemühungen um die Glaubwürdigkeit des Christentums. Greives Monographie gibt Einblicke in alle Aspekte des Pannenberg’schen Werkes, informiert über dessen Genese und erschließt eine systematische Grundstruktur. Verzeichnungen werden überzeugend korrigiert. Zum Verhältnis der Theologie Pannenbergs zur Philosophie und insbesondere zur Metaphysik, zur Religionsphilosophie und zur Anthropologie etc. ist schon in der Einleitung (15–20) Entscheidendes gesagt. Im Fokus steht die eschatologische Ausrichtung Pannenbergschen Denkens, woraus die hermeneutische Leitannahme folgt, dass man diese Theologie nicht für sich versteht, wenn sie fertig ist, sondern wenn man sie in ihrem Entstehen begreift und so ihren Abschluss in seiner Bestimmtheit und Vorläufigkeit als Lösung eines Grundproblems erkennt. (17).

Durch ihren proleptischen, antizipatorischen und hypothetischen Charakter entspricht die Untersuchung, wenn man so will, ihrem Gegenstand an sich selbst. Konkretisiert wird das einleitend Angezeigte in einer Einführung zu Biographie und Werkgeschichte (21–43), die geistesgeschichtlich interessante Bezüge herstellt etwa zu Pannenbergs Lehrer Karl Löwith oder zu Wilhelm Dilthey, dessen Bedeutung für Konzept und Durchführung des Programms von „Offenbarung als Geschichte“ auf der Hand liegt. Unter den Theologen werden Edmund Schlink, Gerhard von Rad u. v. a., von den Altersgenossen etwa Jürgen Moltmann und Gerhard Sauter samt dem Verhältnis gebührend berücksichtigt, in das sich

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Pannenberg in Kritik und Konstruktion zu ihnen gesetzt hat. Auch der sog. Pannenberg-Kreis wird selbstverständlich ins Auge gefasst. Spannend zu lesen, wie sich der theologische Neuansatz im Laufe der fünfziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts ausbildet, um am Ende des Jahrzehnts und zu Beginn des nächsten schon klares Profil zu zeigen. Auf die Programmschrift von 1961 kommt Greive immer wieder zu sprechen, nicht zuletzt, damit das Neue gegenüber den Konzeptionen Karl Barths oder Rudolf Bultmann deutlich werde. Eingehend ist fernerhin die gegenwärtige Geisteslage in den Blick genommen, um die aktuelle Relevanz des Pannenberg’schen Denkens herauszustellen. Exemplarisch erhoben wird die Debattenlage unter Bezug auf Jürgen Habermas, Reinhart Koselleck, Richard Rorty etc. bis hin zu Günter Grass. Wahrheitsfähig und glaubwürdig wird die Theologie, wenn sie ihre Sache mit plausiblen Gründen vertritt. Mit diesem Grundsatz ist die entscheidende Devise für die Ausführungen im dritten Unterabschnitt des ersten Teils vorgegeben, der auch den bereits erwähnten Passus zu Greives persönlicher Entdeckung der Theologie Pannenbergs enthält. Zu bewähren hat sich die theologische Glaubwürdigkeit im Kontext einer säkularen Welt, der, mit Paul Tillich zu reden, die Dimension der Tiefe verloren zu gehen droht. Dass Pannenberg die problematische Verfassung des Säkularismus nicht nur von außen, sondern gewissermaßen von innen heraus kennt, zeigt der, wie Greive ihn nennt, kleine biographische Exkurs in systematischer Absicht (109ff.), der auf mannigfache Aspekte der häuslichen, schulischen und akademischen Entwicklung des zu internationaler Bedeutung gelangten Theologen unter besonderer Berücksichtigung seiner religiösen Sozialisation Bezug nimmt. Hat die religiöse Gottergriffenheit den Charakter einer die Schranken des Raumes und der Zeit transzendierenden Erleuchtung, so bildet sich die Theologie Pannenbergs an einem bestimmten Ort, nämlich in den Jahren an der Universität Heidelberg und dann an der kirchlichen Hochschule in Wuppertal aus. Der Kontext des darzustellenden Geschehens bleibt dabei in Form einer ausführlichen Zwischenbetrachtung im Blick. Es ist die auch bei anderen zeitgenössischen Theologen zu beobachtende Wende zur eschatologischen Zukunft als dem kommenden Advent Gottes und seines Reiches, die den Weg zur Systematischen Theologie weist, den das zweite Kapitel multiperspektivisch nachzeichnet. Einen problematischen Ausgangspunkt des Weges, auf dem sich die Theologie in der Moderne zu bewähren hat, bildet die Krise des Schriftprinzips, die nach Pannenbergs Urteil die Notwendigkeit historisch-kritischer Arbeit bedingt und zwar auf alternativlose Weise. Theologie kann unter neuzeitlichen Bedingungen nur in der differenzierten Einheit von systematischer und historischer Arbeit betrieben werden. Historiographie und Systematik sind im gegebenen Falle vor allem auf den Nachweis ausgerichtet, dass sich im Geschick Jesu von Nazareth und namentlich in seiner österlichen Auferweckung vom Kreuzestod das Ende

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der Geschichte vorwegereignet hat. Diesen Nachweis gilt es in assertorisch-hypothetischer Weise in Anbetracht des Geistes einer säkularisierten Zeit und angesichts der vielfältigen Herausforderungen durch den Atheismus um der Beantwortung der Gottesfrage willen zu erbringen und zwar durch ein Denken, das sich ausschließlich der Wahrheit verpflichtet weiß, wie im vierten Abschnitt des zweiten Teils der Greive’schen Arbeit dargelegt wird. Der Beantwortung der Frage, in welcher Weise dies zu geschehen hat, sind alle Folgeabschnitte des Kapitels gewidmet. Sie handeln, wie bereits vermerkt, von der Theologie der Vernunft, der Theologie als Wissenschaft, dem anthropologischen Beitrag zur Grundlegung der Theologie, um schließlich auf die Christologie als Kernstück der Theologie zurückzukommen. Erst im Glauben an Jesus Christus, in dem Gott in der Kraft seines Heiligen Geistes als er selbst offenbar ist, kommt, so wird gesagt, die Vernunft ganz zu sich und zum vollkommen entwickelten Bewusstsein ihrer selbst. − Auf Einzelheiten des reichhaltigen zweiten Teils der Monographie kann, wie sich von selbst versteht, nicht eingegangen sein. Besonders aufschlussreich sind nach meinem Urteil beispielsweise die Ausführungen zu Vernunft und Gefühl. Um hierzu nur dieses zu vermerken: Offenbar ist es für Pannenbergs Verständnis der Vernunft kennzeichnend, dass diesem das Gefühl für die Unvordenklichkeit ihres Grundes nicht abhanden kommen darf, sondern stets präsent zu bleiben hat. Auch in wissenschaftstheoretischer Hinsicht ist diese Annahme von grundlegender Bedeutung. Dass Pannenbergs erste große Monographie der Christologie gewidmet war, kommt nicht von ungefähr, sondern liegt in der Tatsache begründet, „(d)ass die Christologie die Hauptlast der theologischen Argumentation trägt“ (303). Dies gilt auch für die Systematische Theologie, welcher der dritte Teil der Untersuchungen Greives gewidmet ist. Das in den Jahren 1988 bis 1993 erschienene opus magnum ist zwar nicht christomonistisch, aber eindeutig christozentrisch angelegt. Greive skizziert die Programmatik von Pannenbergs dogmatischer Gesamtdarstellung und expliziert ihre Inhalte in überzeugender Weise. Er verweist auf die konzeptionelle Bedeutung und Grenze der Metaphysik für Pannenbergs Systematik, klärt das vorausgesetzte Verhältnis von Religionsphilosophie und Offenbarungstheologie und gibt erhellende Einblicke in Genese und Gehalt der trinitarisch verfassten Gotteslehre, durch die der christologische Ansatz erweitert und vertieft wird. Affirmativer Bezug und Widerspruch zum Barth’schen Denken sind präzise markiert. Vor der detaillierten Entfaltung der Gotteslehre sind die Strittigkeit der Wahrheit des Christentums und insbesondere diejenige ihres Gottesgedankens problembewusst erläutert. Hilfreich ist fernerhin, dass Greive die einzelnen Bände der „Beiträge zur Systematischen Theologie“ (Göttingen 1999f.) in die Würdigung des dogmatischen Hauptwerkes einbezieht. Besonders die Themen des ersten Bandes sind für das Verständnis der Gesamtkonzeption grundlegend.

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Eine weitere Zwischenbetrachtung (429–442) hält das vorläufige Resultat der Erwägungen zum ersten Band der theologischen Summe Pannenbergs fest, wobei die Sinnfrage als hermeneutischer Schlüssel fungiert. Was zur Theologie als Auslegung des religiösen Wortes Advent im Sinne vollendeter Sinnerschließung im Eschaton gesagt wird (vgl. 441ff.), ergibt sich hieraus und bildet zugleich den cantus firmus der breit angelegten Darlegung zur Lehre von der Welt mit ihrem Fokus auf die Theodizeefrage und dem neuen, an die Naturwissenschaften anschlussfähigen Verständnis des Schöpfergeistes als dynamischem Feld. Eingeflochten sind hier wie auch in den Folgeausführungen zahlreiche und gehaltvolle Auseinandersetzungen mit einschlägiger aktueller Literatur. Greive ist sehr belesen. Das kommt seiner Lektüre der Pannenberg’schen Theologie und ihrer Interpretation zugute. Auf die Lehre von der Welt folgt diejenige von der Menschheit, in der Pannenberg seine anthropologischen Grundaussagen beibehält, aber gelegentlich präzisiert. Besonderes Interesse verdienen in diesem Zusammenhang Greives Ausführungen zur Hamartiologie und zur Kontroverse Pannenbergs mit dem katholischen Theologen Thomas Pröpper. Zurecht wird die Sündenthematik zu einem der Brennpunkte der Systematischen Theologie neben der Suche nach dem wahren Selbst und der Begründung der Menschenrechte erklärt. Die angemessene Wahrnehmung der mit den angezeigten Themen verbundenen Probleme ist nach Pannenberg möglich nur in theanthropologischer, also christologischer Konzentration. Christologie ist Theanthropologie. Unter diesen Vorzeichen wird die Lehre von der Versöhnung und der Erlösung entfaltet, wobei das soteriologische Amt Jesu Christi in Kreuz und Auferstehung zu jener Wirkung kommt, wie sie, wenn man so sagen darf, in der Inkarnation vorgesehen war. Dass die endgültige Versöhnung und Erlösung ohne die Kraft des göttlichen Geistes nicht denkbar ist, wird gebührend herausgestellt. Doch ergänzt der Heilige Geist das Werk Jesu Christi nicht; er ratifiziert es vielmehr und bringt es definitiv zur Geltung. Welche Rolle in diesem Zusammenhang die Kirche spielt, wird angesprochen, wenngleich anfangs eher knapp. Ohne die Ekklesiologie, deren Grundlinien gegen Ende des achten Unterabschnittes des dritten Teils (535ff.) nachgezeichnet werden, an Ort und Stelle im Einzelnen auszulegen, strebt die Darstellung umgehend der Lehre von der Vollendung der Schöpfung im Reiche Gottes zu (539ff.), die den Inbegriff christlicher Hoffnung theoretisch zu bedenken hat. „Nach den Grundzügen der Christologie hat die Systematische Theologie den Weg zur Begründung eschatologischer Aussagen noch einmal kritisch durchdacht.“ (541) Das Thema der Eschatologie, wie nämlich unter zeitlichen Bedingungen vom Ewigen her und auf das Ewige hin gedacht werden kann, erweist sich, so konstatiert Greive mit Recht, als das Schlüsselproblem der ganzen Theologie Pannenbergs (vgl. 549ff.), deren zusammenfassender Würdigung nach Analyse der Durchführung der eschato-

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logischen Einzelthemen unter erneuter Berücksichtigung der Theodizeefrage der Schlussabschnitt des dritten Buchteils gewidmet ist. Leitmotiv und Leitthema der Gesamttheologie Pannenbergs erschließen sich von ihrem Ende her, ohne dass dadurch das Perfekt der Christusoffenbarung infrage gestellt würde. Wie Greive sagt: „Eschatologie ist kritisches Hoffnungsdenken, das ganz und gar von Christus her kommt.“ (566) Während sie bisher vergleichsweise wenig thematisiert wurde, steht die Ekklesiologie im vierten und letzten Teil der Arbeit (567–650) im Fokus der Aufmerksamkeit, weil, mit Greive zu reden, eine glaubwürdige Ekklesiologie viel zur Glaubwürdigkeit des Christentums beiträgt bzw. beizutragen hat. Mit der Wendung „Kirche und Ökumene“ ist zugleich das zentrale Arbeitsfeld Greives beschrieben, in dem er sich über die Jahre hinweg professionell bewegt hat. Dies merkt man seinen Ausführungen an, die sich nicht nur durch bewährte Kenntnisse, sondern durch Empathie, ja nicht selten durch emphatische Anteilnahme auszeichnen. Greive war nach Tätigkeiten im Pfarramt und an der Theologischen Akademie Celle, deren Arbeit inzwischen eingestellt ist, sowie an der Evangelischen Akademie Loccum theologischer Referent des Lutherischen Weltbundes in Genf und schließlich Ökumenebeauftragter der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Hannovers. Seine Praxis wurde seit seiner Zeit als Student und wissenschaftlicher Assistent Pannenbergs stets von Theorie begleitet. Greive lehrte an verschiedenen Orten, u. a. als Privatdozent in Hamburg. Im Ruhestand wandte er sich, der als Mann der Praxis immer auch Theoretiker war und blieb, noch einmal dem Gesamtwerk desjenigen Theologen zu, der ihn am meisten beeindruckt und geprägt hat. Mit seiner Monographie hat Greive einen wichtigen Beitrag nicht nur zur Pannenbergforschung, sondern zur theologischen Wissenschaft insgesamt geleistet und zugleich ein eindrucksvolles persönliches Zeugnis für die aktuelle Denk- und Glaubwürdigkeit des Christentums gegeben.

Wolfhart Pannenberg

Zwanzig Jahre Evangelisch-Theologische Fakultät in München – aus der Sicht der „Fundamentaltheologie und Ökumene“

Mit dem Sommersemester 1968 begann der Lehrbetrieb der Evangelisch-Theologischen Fakultät an der Universität München. Die formelle Begründung der Fakultät war schon vorher, zum 1. 10. 1967 erfolgt. Die Vorbereitung der Fakultätsgründung hatte sich über viele Jahre hingezogen. Die Initiative dazu ging von der Universität München und von der Bayerischen Staatsregierung aus. Das Kultusministerium hatte bereits im Juni 1964 den Lutherischen Landeskirchenrat um eine Stellungnahme zum Plan einer Fakultätsgründung gebeten. Die Kirchenleitung hat jedoch einige Monate lang gezögert, die erbetene Stellungnahme abzugeben, weil von seiten der Erlanger Fakultät ein Jahr zuvor, am 28. 6. 1963, erhebliche Bedenken gegen solche Pläne geltend gemacht worden waren. Man befürchtete dort, daß wegen der Anziehungskraft der Stadt München die Erlanger Fakultät zur Bedeutungslosigkeit verurteilt würde, wenn es zu einer Evangelisch-Theologischen Fakultät in München kommen würde. Es zeigte sich später, daß solche Befürchtungen völlig unbegründet waren. Sie haben aber bei der Diskussion im bayerischen Protestantismus eine große Rolle gespielt. Erst als der Senat der Ludwig-Maximilians-Universität, nicht ohne energische Befürwortung von seiten der Katholisch-Theologischen Fakultät, die die Errichtung einer Evangelisch-Theologischen Fakultät nicht nur begrüßt, sondern formell beantragt hatte, sah sich der Landeskirchenrat zu einem Memorandum mit einem positiven Votum für die Errichtung der Fakultät veranlaßt. Es hat dann noch drei weitere Jahre bis zur Gründung gedauert. Schließlich wurde ein Berufungsausschuß aus angesehenen auswärtigen Theologen gebildet, der Vorschlagslisten für die ersten fünf Lehrstühle erarbeitete, und im Herbst 1966 erfolgten die ersten Berufungen an den Alttestamentler Prof. H.W. Wolff am 14. 9. 1966, an den Kirchenhistoriker Prof. G. Kretschmar und an mich am 10. Oktober, sowie wenig später an den Hamburger Neutestamentler Prof. L. Goppelt sowie an den Coburger Dekan Peter Krusche für die praktische Theologie. Von diesen erstberufenen Professoren sagte Prof. Wolff ab, und statt seiner wurde dann zunächst Prof. H. J. Kraus (damals Hamburg) berufen. Er nahm bis in den Sommer 1967 an den vorbereitenden Gesprächen teil. Dann sagte auch er ab,

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während die Professoren Goppelt, Kretschmar und Krusche im Sommer 1967 ihre Zusage gaben. Mich erreichte der Ruf nach München an der Harvard University in den USA, wo ich im Winter 1966/67 als Gastprofessor lehrte. Ich konnte daher zunächst nur schriftlich den Kontakt mit den anderen Herren pflegen und mit dem Ministerium verhandeln. Erst nach meiner vorzeitigen Rückkehr nach Mainz – es war eigentlich ein weiteres Gastsemester in Kalifornien vorgesehen – konnten im Frühjahr 1967 die eigentlichen Verhandlungen über eine Berufung beginnen. Dabei ging es u. a. auch um die Begründung eines ökumenischen Instituts und um seine Zuordnung zur systematischen Theologie, für mich eine Voraussetzung für die Annahme des Rufes. Ich war seit meiner Assistententätigkeit am Heidelberger Ökumenischen Institut (1954/55) und durch die Mitgliedschaft im Ökumenischen Arbeitskreis katholischer und evangelischer Theologen seit Ende der fünfziger Jahre sehr an der ökumenischen Arbeit interessiert und sah dafür in München eine besondere Chance wegen des Gegenübers zur Katholisch-Theologischen Fakultät, wo Heinrich Fries, den ich seit Jahren aus dem Ökumenischen Arbeitskreis kannte, das Institut für Ökumenische Theologie leitete. Um eine dauerhafte Zusammenarbeit mit diesem Institut zu entwickeln, bedurfte es einer institutionellen Basis der ökumenischen Theologie auch auf evangelischer Seite. An dieser Stelle sollte ich vielleicht hinzufügen, daß ich schon einige Jahre früher Gelegenheit gehabt hatte, mich mit der Möglichkeit einer Berufung nach München vertraut zu machen. In den sechziger Jahren lehrte als Nachfolger Romano Guardinis auf dem Lehrstuhl für katholische Weltanschauung in der Philosophischen Fakultät in München Karl Rahner. Neben dem seinen war die Besetzung eines entsprechenden evangelischen Lehrstuhls geplant. Der Lehrstuhl war auch bereits im Etat begründet, aber die erste Liste von Berufungen blieb ergebnislos. Karl Rahner fragte daher im Januar 1965 bei mir in Mainz an, ob ich interessiert sei und fügte hinzu: „Sie könnten dann langsam eine evangelische theologische Fakultät in die Wege leiten. Das wäre doch eine große Aufgabe“ (Brief vom 27. 1. 1965). Rahner wußte wohl nicht, daß die Entscheidungen darüber bereits im Herbst 1964 gefallen waren. Die Besorgnis, es könnte zu einer Konkurrenz mit den Bestrebungen zur Gründung der Fakultät kommen, hat dann aber wohl dazu geführt, daß der vorgesehene und schon im Etat vorhandene evangelische Lehrstuhl für christliche Weltanschauung an der Philosophischen Fakultät nie besetzt wurde und schließlich im Zuge der Universitätsreform dem Institut für Statistik und Wissenschaftstheorie zugeschlagen worden ist. Die Fakultät wurde, wie gesagt, zum 1. 10. 1967 formell begründet. Am 3. Oktober fand eine erste Fakultätssitzung statt, an der die ersten fünf Professoren teilnahmen: auf den Lehrstuhl für Altes Testament war inzwischen Prof. Klaus Baltzer berufen worden. Dabei wurden Berufungslisten für fünf weitere

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Lehrstühle in den Fächern Altes Testament, Neues Testament, Kirchengeschichte, Missionswissenschaft und Systematische Theologie vorbereitet. Prof. Leonhard Goppelt wurde zum ersten Dekan der Fakultät gewählt. Bis zur Aufnahme der Vorlesungen im Sommer 1968 konnten drei dieser Berufungen positiv abgeschlossen werden, die Berufung von Prof. Trutz Rendtorff auf den zweiten Lehrstuhl für Systematische Theologie, die Berufung von Prof. Horst Bürkle auf den Lehrstuhl für Missions- und Religionswissenschaft und die Besetzung des zweiten neutestamentlichen Lehrstuhls mit Prof. Harald Hegermann aus Leipzig. Ich selbst habe den an mich ergangenen Ruf Anfang November 1967 angenommen. In der Folgezeit habe ich dann zwei Berufungen nach auswärts abgelehnt, 1971 nach Heidelberg und 1977 nach Claremont, Kalifornien. Die Verhandlungen über diese beiden Rufabwendungen waren für den Ausbau der systematischen Theologie an der Münchner Fakultät wichtig, die letztere auch für die Bezeichnung der von mir vertretenen Fachrichtung als „Fundamentaltheologie und Ökumene“. Es ist das nicht die 1966 bei meiner Berufung vorgesehene Fachbezeichnung, und auch jetzt trägt nur das Institut, dem ich vorstehe, die Bezeichnung „Fundamentaltheologie und Ökumene“. Wie es dazu gekommen ist, das ist eine eigene Geschichte. Dazu muß ich zunächst auf die Entwicklung der ökumenisch-theologischen Arbeit in München eingehen. In Verbindung mit meinem Lehrstuhl für „Systematische Theologie“ wurde 1967 ein Institut für Ökumenische Theologie gegründet. Mit Aufnahme des Vorlesungsbetriebes der Fakultät im Sommer 1968 begann eine intensive Zusammenarbeit mit dem Ökumenischen Institut an der Katholisch-Theologischen Fakultät, das von Prof. H. Fries geleitet wurde. In fast jedem Semester ist seitdem in Zusammenarbeit der beiden Institute ein gemeinsames ökumenisches Seminar angeboten worden. Das war 1968 in Deutschland noch ganz ungewöhnlich. Andererseits war das gerade die Zeit des ökumenischen Aufbruchs nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil. Vieles schien auf einmal möglich an fortschreitender Verständigung nicht nur zwischen Theologen, sondern auch zwischen den Kirchen, was in Jahrhunderten vorher als undenkbar gegolten hatte. So sind in diesen Seminaren der Reihe nach die großen, zwischen den Kirchen strittigen Lehrgegensätze behandelt worden, wie das gleichzeitig auch in der internationalen Kommissionsarbeit geschah. Die Gespräche zwischen Lutheranern und Katholiken in den USA, im Auftrag der dortigen Bischofskonferenzen, leisteten damals ökumenische Pionierarbeit. Ihre ersten Resultate lagen im Druck vor. Die Münchner Seminare behandelten daran anknüpfend dieselben Themengruppen: Eucharistie, kirchliches Amt, Papsttum, Rechtfertigungslehre. Die Begeisterung, mit der die Teilnehmer an diesen ersten gemeinsamen ökumenischen Seminaren sich engagierten durch Referate und Arbeitsgemeinschaften, hatte etwas Bewegendes. Nicht daß die Zahl der Interessenten auf evangelischer Seite besonders groß gewesen wäre. Das war damals eher auf katholischer Seite der Fall. Für den

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evangelischen Theologiestudenten hat die Lehre von der Kirche und alles, was damit zusammenhängt, meistens keinen besonders hohen Stellenwert (obwohl man als Student gern darauf drängt, daß das theologische Studium enger mit der „Praxis“ verbunden sein sollte). Diejenigen jungen evangelischen Theologen, die an diesen ökumenischen Seminaren teilnahmen, haben oft für die Dauer eine Begeisterung für die Sache der christlichen Einheit mitgenommen. Ein besonderer Reiz war wohl, daß man in diesen Seminaren gegenüber den Teilnehmern der anderen Konfession die eigenen konfessionellen Positionen nicht nur genauer kennenlernte, sondern auch zu erläutern und zu vertreten hatte. Zudem boten diese Seminare die seltene Gelegenheit, daß Studenten unmittelbar am aktuellen Stand und Fortgang der Forschung teilnehmen konnten. In mehreren Fällen wurden die Ergebnisse dieser gemeinsamen Seminare in der Zeitschrift UNA SANCTA veröffentlicht und fanden Beachtung im Fortgang der ökumenischen Diskussion. Die Zusammenarbeit konnte über die Emeritierung von Prof. Fries hinaus kontinuierlich fortgesetzt werden, weil sein Nachfolger, Prof. Heinrich Döring, sich entschieden dafür eingesetzt hat, sodaß aus der persönlichen Zusammenarbeit zwischen Heinrich Fries und mir im Laufe der Jahre schon eine Art fester Institution geworden ist. In den bewegten Jahren nach 1968 mit ihren Diskussionen um die Neuordnung des Hochschulwesens strebten Heinrich Fries und ich sogar eine im eigentlichen Sinne institutionelle Gestalt für unsere Zusammenarbeit an, nämlich eine Zusammenlegung der beiden Institute zu einem gemeinsame Ökumenischen Institut, das dann außerhalb der beiden konfessionellen theologischen Fakultäten gestanden hätte, aber so, daß die Leitung gleichberechtigt von einem katholischen und einem evangelischen Theologen wahrgenommen werden sollte, wobei für die Bestellung der jeweiligen Leitung die beiden Fakultäten zuständig sein sollten. Die beiden theologischen Fakultäten haben sich seinerzeit diesen Vorschlag durch Fakultätsbeschlüsse zu eigen gemacht, und über den Senat der Universität und das Kultusministerium gelangte er an die Kirchen zur Stellungnahme, d. h. zunächst nur an das erzbischöfliche Ordinariat. Nach langem Warten stellte sich dann auf Nachfrage heraus, daß Kardinal Döpfner den Vorschlag abgelehnt hatte, weil er mit dem Konkordat nicht in Einklang zu bringen war und eine Änderung der Konkordatsbestimmungen viele andere Probleme ins Rollen gebracht hätte. So blieb es dann formell bei zwei konfessionell gebundenen Ökumenischen Instituten. An der engen und kontinuierlichen Zusammenarbeit änderte das jedoch nichts. Dem Kultusministerium hingegen hatte offenbar der Gedanke eingeleuchtet, daß die Existenz nur eines Ökumenischen Instituts an der Münchner Universität ausreichend sei. Als naheliegende Lösung dieses Problems wurde im Zuge der Hochschulreform der Fortbestand zwar des katholischen, nicht aber des evangelischen Ökumenischen Instituts vorgesehen. Da diese Lösung des ökumenischen Problems weder für das Verhältnis der Kirchen, noch für das Verhältnis

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theologischer Fakultäten befriedigen konnte, wurde diese zu Lasten der evangelischen Seite getroffene Regelung Gegenstand jahrelanger Auseinandersetzungen mit dem Bayerischen Staat, wobei auch der Lutherische Landeskirchenrat sich in dankenswerter Weise einsetzte. Eine Lösung der Frage durch Wiederherstellung des evangelischen Ökumenischen Instituts kam dann erst 1977 zustande, im Zusammenhang mit meinen Bleibeverhandlungen anläßlich des an mich ergangenen Rufes nach Claremont. Dabei wurde aber nun von seiten des Ministeriums der Wunsch geäußert: Wenn schon konfessionelle Parität, dann bitteschön auch bei der Benennung. Wenn auf katholischer Seite die Ökumene mit der Fundamentaltheologie verbunden ist, dann muß auch das evangelische Institut fortan Institut für Fundamentaltheologie und Ökumene heißen. Dagegen hatte ich nichts weiter einzuwenden, obwohl in der Evangelisch-Theologischen Fakultät i.U. zur katholischen Schwesterfakultät das Gesamtfach „Systematische Theologie“ eigentlich nicht weiter aufgegliedert ist. Es wurde mir aber vom Ministerium mitgeteilt, daß sich durch diese Regelung an meiner Beteiligung bei der Ausbildung der Studenten im Gesamtfach Systematische Theologie, wie auch an der Bezeichnung meines Lehrstuhls, nichts ändern sollte (22. 9. 1977). Der Schwerpunkt meiner persönlichen Lehrtätigkeit hat in der Tat immer auf dem Gebiet der Dogmatik gelegen, obwohl dabei die philosophisch-theologischen Grundlagenprobleme stets ein besonderes Gewicht hatten. Ich habe auch einige Male über Ethik gelesen, in den Münchner Jahren aber nur über Grundlegung der Ethik, nicht über die spezielle Ethik, insbesondere die Sozialethik. Ich überließ das gerne meinem Freunde und Kollegen Trutz Rendtorff, der seinerseits die Ethik als Schwerpunkt seiner Arbeit betrachtete. Auf eine formelle Spezialisierung im Fach der Systematischen Theologie haben wir in München verzichtet, weil der Systematiker eigentlich das Ganze der Sache des Christentums in der gegenwärtigen Welt im Auge haben sollte und nur durch eine eigene Vorlesungstätigkeit in allen Bereichen der Systematischen Theologie das nötige Verständnis dafür gewinnen kann, wo im einzelnen Probleme liegen und wie diese Problematik auf die Konzeption der Systematischen Theologie im ganzen zurückwirkt. Darum sollte unbeschadet persönlicher Schwerpunktbildung jeder Systematiker mit der Darstellung jedes der Teilbereiche vertraut sein, also sowohl in der Dogmatik und Religionsphilosophie als auch in der Ethik und Theologiegeschichte Vorlesungen halten können, wobei die Pflege der Theologiegeschichte im Prinzip auch die Behandlung der reformatorischen und nachreformatorischen Theologie mitumfaßt. In den ersten Jahren der Geschichte der Münchner Evangelisch-Theologischen Fakultät war es mit der Berufung von Jörg Baur aus Erlangen auf den dritten Systematischen Lehrstuhl gelungen, einen akademischen Lehrer zu gewinnen, der durch seine Forschungstätigkeit auf dem Gebiet der altprotestantischen Dogmatik eine besondere Kompetenz mitbrachte

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zur Pflege der reformatorischen und nachreformatorischen Theologie in München. Nach dem Weggang Jörg Baurs nach Göttingen ist es nicht wieder gelungen, einen für diese Aufgabe besonders vorbereiteten Nachfolger zu finden. Schon Prof. Eilert Herms hat andere Akzente gesetzt, obwohl er einen erheblichen Teil seiner Arbeit in München der Theologie Luthers widmete, und Prof. Hermann Timm, der seit einem Jahr die Nachfolge von Herms nach dessen Weggang nach Mainz angetreten hat, bildete in seiner bisherigen Arbeit einen vergleichbaren Schwerpunkt im Bereich der Erforschung des 18. Jahrhunderts. Dafür ist die Lutherforschung im weiteren Kreis der Fakultät gewichtig vertreten durch den Münchner Reformationshistoriker Reinhard Schwarz, der als Schüler Gerhard Ebelings und Mitarbeiter an der Weimarer Lutherausgabe sowie durch viele Veröffentlichungen für dieses Gebiet besonders ausgewiesen ist. Durch die Berufung von Prof. Rohls auf eine C2-Professur für Systematische Theologie im Herbst 1988 hat auch die Pflege der reformiert-theologischen Tradition einen festen Platz an der Münchner Fakultät gewonnen. Es ist sicher nicht zuviel gesagt, wenn man feststellt, daß in den beiden ersten Jahrzehnten der Entwicklung der Münchner Evangelisch-Theologischen Fakultät die Systematische Theologie einen besonders starken Akzent in ihrem Leben gebildet hat. Das kommt nicht nur in der Zahl der Lehrstühle zum Ausdruck – die Systematische Theologie ist als einziges Fach durch drei Lehrstühle vertreten, da ein ursprünglich im Bereich der Kirchengeschichte geplanter Lehrstuhl für Konfessionskunde wegen der Mitte der Siebziger Jahre eintretenden Einschränkung der staatlichen Etatmittel für die Münchner Universität nicht mehr verwirklicht worden ist. Hinzu kommt noch eine C3-Professur für Religionsphilosophie, die bis zum 1. Oktober 1988 durch Falk Wagner wahrgenommen wurde. Außerdem gab es fast immer mindestens einen habilitierten Dozenten für Systematische Theologie. Die erste Habilitation an unserer Fakultät erfolgte 1970 in diesem Fach (T. Koch), und im Hinblick darauf hatte ich schon 1967 in meiner Berufungsvereinbarung die Bereitstellung einer Dozentur für Systematische Theologie vereinbaren können, die nach der Hochschulreform in eine C2- (bzw. C3-) Professur umgewandelt wurde. 1972 erfolgte als zweite Habilitation im Fach, die von Falk Wagner. Im Laufe der Jahre sind dann noch vier weitere Habilitationen erfolgt. Gegenwärtig lehrt außer den drei C4-Professoren des Fachs der reformierte Theologe Jan Rohls sowie Prof. Reinhard Leuze (als außerplanmäßiger Professor) Systematische Theologie an unserer Fakultät. Man hat von außerhalb Münchens gelegentlich von einer „Münchner Schule“ in der Systematischen Theologie gesprochen. Das ist sicher nicht zutreffend im Sinne einer einheitlichen Schullehre. Viele Theologen meiner Generation haben in der Nachkriegszeit die hochschulpolitischen Auswirkungen der damals herrschenden theologischen Schulbildung als abstoßend empfunden. Wir fanden es erstrebenswert, solche Erscheinungen mit ihrer Hintansetzung von Ge-

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sichtspunkten akademischer Qualität hinter die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Schule zu vermeiden. Alle, die das Fach Systematische Theologie in München lehren, haben einen ausgeprägt individuellen Ansatz und eigenen Stil in der Gestaltung des Fachs ausgebildet. Dabei mußten gelegentlich auch erhebliche sachliche Differenzen ausgetragen werden. Aber es gibt dennoch über alle Unterschiede hinweg bemerkenswerte Gemeinsamkeiten, die es als verständlich erscheinen lassen, daß von außerhalb Münchens dies Gemeinsame als dominierend gesehen wird. Worum handelt es sich dabei? An erster Stelle muß wohl das Bemühen um eine spezifisch moderne Gestalt des Christentums und der christlichen Lehre genannt werden. Trutz Rendtorff hat diesen Gesichtspunkt in besonderer Weise thematisiert, aber er gilt in etwas anderer Akzentuierung zweifellos auch für meine eigene Arbeit. Obwohl ich gern das unhintergehbare Gewicht der theologischen Tradition betone, geschieht das doch nicht aus dem Interesse an irgendeinem Traditionalismus, sondern im Bemühen um eine aus reformatorischem Erbe konfessionelle Schranken überwindende und den Herausforderungen der Neuzeit und der Gegenwart standhaltenden Erneuerung christlichen Denkens. Auch die Inhaber des dritten Systematischen Lehrstuhls in München haben bei sehr unterschiedlichen Akzentsetzungen die Verbindung von theologischer Tradition und Offenheit für die Probleme der Moderne gepflegt. Das gilt in besonderer Weise für den gegenwärtigen Inhaber des Lehrstuhls, Prof. Hermann Timm, der aus seinen Forschungen zur Theologie und Kultur des 18. Jahrhunderts ganz neue Ansatzpunkte für eine moderne Theologie entwickelt hat. Zweitens sollte hervorgehoben werden, daß die Münchner Systematische Theologie in allen ihren Schattierungen durch ein positives Engagement für die kirchliche Lebensform des Christentums charakterisiert ist. Gerade die Verbindung des Interesses an der sich entwickelnden modernen Gestalt des Christentums mit der kirchlichen Verantwortung der Theologie dürfte für die Münchner Systematische Theologie kennzeichnend geworden sein. Manche haben solche Verbindung von Modernität und Kirchlichkeit auch als verwirrend empfunden. Sie hat z. B. ihren Ausdruck gefunden in der Betonung der Aufgaben der Volkskirche, einer Kirche, die sich nicht nur als Gemeinschaft der wahrhaft Glaubenden in den Kerngemeinden versteht, ferner in der Auffassung der konfessionellen Prägung als einer Tatsache des geschichtlichen Lebens, aber nicht als Abschließung gegen andere Formen christlicher Tradition. Dazu gehört auch das starke ökumenische Engagement, das nie nur die Münchner Systematische Theologie kennzeichnet, sondern auch in anderen Disziplinen dieser Fakultät hervortritt. Auch das ist ja eine Öffnung über Schranken hinaus, die den Protestantismus in der Vergangenheit belastet haben, aber eine Öffnung um der Authenzität des christlichen Glaubens willen und darum auch im Dienst am kirchlichen Leben. In diesem Zusammenhang muß übrigens auch die Tatsache

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gesehen werden, daß die Evangelisch-Theologische Fakultät zweimal in ihrer kurzen Geschichte ihren Ehrendoktor an Juden verliehen hat, an Alexander Altmann, den vor kurzem in den USA verstorbenen deutsch-jüdischen Rabbiner und Gelehrten, der die zentrale Gestalt der deutschen jüdischen Aufklärung, den Philosophen Moses Mendelssohn, dargestellt und seine Werke ediert hat, und an Schalom ben-Chorin, der vielen Deutschen der Gegenwart durch seinen Einsatz für ein besseres gegenseitiges Verständnis von Christen und Juden geholfen hat: Beide Ehrungen sind Ausdruck der Verbundenheit mit der liberalen Tradition der christlichen Aufklärung gewesen. An dritter Stelle muß als bezeichnend für die Münchner evangelische Systematische Theologie die enge Beziehung zur Philosophie hervorgehoben werden, nicht nur zur Philosophie Hegels, wie manchmal behauptet wird. Es geht vielmehr überhaupt um die Aufgabe intensiver und produktiver Auseinandersetzung mit dem philosophischen, insbesondere auch dem metaphysischen Erbe. München bietet heute einen Reichtum an Möglichkeiten zum Studium der Philosophie nicht nur des Deutschen Idealismus und der wissenschaftstheoretischen Diskussion der Gegenwart, sondern auch des Platonismus und seiner Geschichte sowie, an der Hochschule des Jesuitenordens für Philosophie in der Kaulbachstraße, auch der mittelalterlichen Philosophie, wie kaum eine andere deutsche Universität. Unsere Theologiestudenten werden ermutigt, davon Gebrauch zu machen. Es finden auch immer wieder gemeinsame Lehrveranstaltungen mit Philosophen statt. Die Überzeugung, daß Systematische Theologie fruchtbar nur in lebendiger Auseinandersetzung mit der Philosophie getrieben werden kann, bestimmt auch die Beschäftigung mit der Geschichte der Theologie, besonders mit der neueren Theologiegeschichte, wie sie in München getrieben wird und wie sie ihren Niederschlag in einer langen Reihe von Dissertationen gefunden hat. In Diskussionen unter den Doktoranden und Assistenten der Münchner Systematik bin ich immer wieder darauf gestoßen, daß man stolz ist auf das anspruchsvolle wissenschaftliche Niveau der Diskussion, das aus dieser Verbindung von geschichtlichen und philosophischen Studien erwächst, und ich hoffe, daß die Ausstrahlung dieses Geistes zumindest einem Teil der Studentenschaft ebenfalls fühlbar wird. Damit komme ich zum Schluß. Ich möchte sagen, für mich persönlich hat sich das Experiment der Neugründung einer Evangelisch-Theologischen Fakultät in München gelohnt. Es ist eine Fakultät entstanden, die gerade auch in der Systematischen und Ökumenischen Theologie eigenes Profil gewonnen hat und die mit ihrem Bemühen um die Verbindung von Liberalität und Pflege geschichtlicher Kontinuität vielleicht auch in dieser schönen Stadt und ihrem kulturellen Klima keinen Fremdkörper bildet.

Verzeichnis der Autoren

Prof. Dr. Martin Arneth, Ludwig-Maximilians-Universität München, Evangelisch-Theologische Fakultät, Abteilung für Alttestamentliche Theologie, Geschwister-Scholl-Platz 1, 80539 München Prof. Dr. Walter Dietz, Johannes-Gutenberg-Universität Mainz, EvangelischTheologische Fakultät, Systematische Theologie und Sozialethik, 55099 Mainz Prof. Dr. Dr. Felix Körner SJ, Theologische Fakultät der Päpstlichen Universität Gregoriana, Piazza della Pilotta 4, 00187 Rom Prof. Dr. Dietrich Korsch, Philipps-Universität Marburg, Fachbereich Evangelische Theologie, Fachgebiet Systematische Theologie, Lahntor 3, 85032 Marburg Prof. Dr. Friederike Nüssel, Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg, Theologische Fakultät, Ökumenisches Institut, Plankengasse 1–3, 69117 Heidelberg Thomas Oehl, B. A., M. A., Ludwig-Maximilians-Universität München, Fakultät für Philosophie, Wissenschaftstheorie und Religionswissenschaft, GeschwisterScholl-Platz 1, 80539 München Prof. Dr. Josef Schmidt SJ, Hochschule für Philosophie München, Kaulbachstr. 31a, 80539 München Pfr. i. R. Dr. Helge Siemers, Greimelberg 18a, 83112 Frasdorf Prof. Dr. Wolfgang Thönissen, Theologische Fakultät Paderborn, Johann-AdamMöhler-Institut für Ökumenik, Leostraße 19a, 33098 Paderborn Prof. Dr. Klaus Vechtel SJ, Philosophisch-Theologische Hochschule Sankt Georgen, Offenbacher Landstr. 224, 60599 Frankfurt

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Verzeichnis der Autoren

Prof. Dr. Dr. h. c. Gunther Wenz, Hochschule für Philosophie München, Kaulbachstr. 31a, 80539 München (Pannenberg-Forschungsstelle) Dr. Manuel Zelger, Knöbelstraße 38, 80538 München Dr. Georgios Zigriadis, Aribonenstraße 11, 81669 München