Oasen der Utopie: Schriften deutscher Vordenker und Vordenkerinnen [1 ed.] 9783412521431, 9783412521417

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Oasen der Utopie: Schriften deutscher Vordenker und Vordenkerinnen [1 ed.]
 9783412521431, 9783412521417

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Jost Hermand

Oasen der Utopie Schriften deutscher Vordenker und Vordenkerinnen

Jost Hermand

Oasen der Utopie Schriften deutscher Vordenker und Vordenkerinnen

Böhlau Verlag Wien Köln Weimar

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über ­https://dnb.de abrufbar. © 2021 by Böhlau Verlag GmbH & Cie. KG, Lindenstraße 14, D-50674 Köln  Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: Jonathan Swift: Gullivers Reisen. Die schwebende Insel Laputa. Illustration aus einer Ausgabe Leipzig, um 1910. © akg-images Korrektorat: Volker Manz, Kenzingen Satz: SchwabScantechnik, Göttingen Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISBN 978-3-412-52143-1

Inhalt

Vorwort Widersetzliche Stimmen im breiten Strom des Mehrheitsdenkens . . . . . . . . . .  7 Irenaeus Hygiophilus Daß denen Männern keine Herrschafft über ihre Weiber gebühre (1727) . . .  23 Johann Pezzl Faustin oder das philosophische Jahrhundert (1783) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  31 Wilhelm Friedrich Meyern Dya-Na-Sore oder die Wanderer. Eine Geschichte aus dem Sams-kritt übersetzt (1787/91) . . . . . . . . . . . . . . . . .  42 Carl Ignaz Geiger Laster ist oft Tugend oder: Leonore von Welten (1791) . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  54 Johann Gottlieb Fichte Der geschlossene Handelsstaat (1800) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  63 Ernst Moritz Arndt Ein Wort über die Pflegung und Erhaltung der Forsten und Bauern im Sinne einer höheren d. h. menschlichen Gesetzgebung (1820) . . . . . . . . . .  71 Karl Marx Die deutsche Ideologie (1846) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  81 Moses Hess Rom und Jerusalem, die letzte Nationalitätsfrage (1862). . . . . . . . . . . . . . . . . .  88 Theodor Hertzka Entrückt in die Zukunft. Sozialpolitischer Roman (1895) . . . . . . . . . . . . . . . .  98 Leberecht Migge Das grüne Manifest (1919) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 5

Elfriede Friedländer Sexualethik des Kommunismus. Eine prinzipielle Studie (1920) . . . . . . . . . . . 115 Bertolt Brecht Das Vorspiel (1944) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 Heiner Müller Germania Tod in Berlin (1977) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135 Robert Havemann Morgen. Die Industriegesellschaft am Scheideweg. Kritik und reale Utopie (1980) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 148 Uwe Wolff Papa Faust. Eine Idylle aus deutschen Landen (1982) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 158 Petra K. Kelly Um Hoffnung kämpfen. Gewaltfrei in eine grüne Zukunft (1983) . . . . . . . . . 165 Robert Jungk Zukunft zwischen Angst und Hoffnung. Ein Plädoyer für die politische Phantasie (1990) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 174 Sahra Wagenknecht Aufstehen. Eine Sammlungsbewegung (2018) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 184 Anmerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  191 Bildnachweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  205 Namensregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  207

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Vorwort Widersetzliche Stimmen im breiten Strom des Mehrheitsdenkens

Was gemeinhin als »Utopien« bezeichnet wird, sind vornehmlich weit ausladende Staatsromane oder sozialpolitische Traktate, in denen gesellschaftliche Systeme dargestellt werden, wo an die Stelle der als verderblich, wenn nicht gar untergangsreif empfundenen Zustände der eigenen Zeit wesentlich idealere Möglichkeiten des menschlichen Zusammenlebens anvisiert werden. Im Bereich der politischen Utopien seit der Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart wird dabei meist auf jene Werke des englischen, französischen und amerikanischen Schrifttums hingewiesen, die aus der Feder von Thomas Morus, Francis Bacon, Étienne-Gabriel Morelly, Jonathan Swift, Denis Diderot, François de Fénelon, Louis-Sébastien Mercier, Charles Fourier, Robert Owen, Edward Bellamy, Edward Bulwer-Lytton, William Morris, Herbert George Wells, Aldous Huxley und Ernest Callenbach stammen, um nur die bekanntesten solcher Utopiker zu erwähnen. Hingegen werden im Bereich deutscher Autoren als ihnen entsprechende Werke – neben einigen sozialistischen Zukunftsentwürfen – oft nur Johann Gottfried Schnabels Insel Felsenburg (1731/43) und Theodor Hertzkas Utopieroman Freiland (1890) angeführt.1 Das mag – im Großen und Ganzen gesehen – durchaus zutreffen. Aber gibt es neben solchen Staatsromanen und politischen Traktaten in all diesen Ländern nicht auch eine Fülle kleinerer, oft unbeachteter Schriften, deren gesellschaftsverändernde Konzepte ebenfalls ins Utopische vorstoßen? Auch sie sollten daher in Zukunft von der zünftigen Utopieforschung beachtet und auf ihre sinnstiftende Funktion überprüft werden. Da ihre Anzahl noch unübersehbarer ist als die der großen Staatsromane, können dazu in den folgenden, miniaturhaft angelegten Kapiteln dieses Buchs lediglich einige vereinzelte, auf das deutsche Schrifttum beschränkte Beispiele geboten werden. Allerdings wurden diese so ausgewählt, dass sie möglichst repräsentativ für bestimmte utopische Hoffnungen innerhalb der aufeinander folgenden Perioden der deutschen Geschichte seit der Frühaufklärung bis zur Gegenwart gelten können. In der Ära der Aufklärung die erste »utopienahe Zeit« im deutschsprachigen Bereich zu sehen, ist schon seit langem ein Gemeinplatz der historischen Utopieforschung.2 Immer wieder hat man darauf hingewiesen, dass erst in diesem Zeitraum – im Gegensatz zu den erstarrten Formen des göttlich abgesegneten fürstlichen Absolutismus  – der Glaube »an die Möglichkeit einer rationalen Gesellschaftsgestaltung« entstanden sei.3 Ob nun in den Schriften der sogenannten Popular7

Vorwort

philosophen oder der Freimaurer, in den Dramen Gotthold Ephraim Lessings, bei den Vertretern der Sturm-und-Drang-Bewegung, in den Traktaten Johann Gottfried Herders, den Romanen Christoph Martin Wielands und Jean Pauls bis hin zu dem Diktum Immanuel Kants, dass endlich jenes Zeitalter angebrochen sei, in dem sich die Menschheit aus ihrer »selbstverschuldeten Unmündigkeit« befreien werde,4 immer wieder wurden im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation seit der Mitte des 18. Jahrhunderts Stimmen laut, die wegen des Gegendrucks der dynastischen und klerikalen Gewaltherrschaft ihren zum Teil an englischen und französischen Vorbildern geschulten Proklamationen einen erst vorsichtig lavierenden, dann aber im Laufe der Zeit ständig nachdrücklicher werdenden rebellischen Ton verliehen.

Abb. 1  Johann Jakob Hoch: Sitzung des Mainzer Jakobinerklubs (1793)

Ja, nach dem Ausbruch der Französischen Revolution von 1789 kam es sogar in manchen Ländern dieses in unzählige autonome oder halbautonome Territorien zersplitterten Reichs – unter Berufung auf die Parole »Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit« – zu jakobinischen, das heißt ins Republikanische drängenden Aufwallungen,5 die jedoch von den Mächten der Reaktion entweder blutig niedergeschlagen wurden oder angesichts der numerischen Schwäche der aufgeklärten Bevölkerungsschichten die Form ins Utopische übergehender Staatsromane annahmen, um nicht von vornherein auf die Hoffnung einer möglichen Beseitigung der verhassten absolutistischen 8

Widersetzliche Stimmen im breiten Strom des Mehrheitsdenkens

Gesellschaftsordnung zu verzichten. Als sich selbst diese Erwartungshaltung im Laufe der neunziger Jahre des 18. Jahrhunderts zu einer Illusion verflüchtigte, glaubten manche dieser Aufklärer zumindest in dem anfänglich als »Volksbefreier« empfundenen Napoleon Bonaparte eine neue antiabsolutistische Leitfigur zu sehen, was eine neue Welle utopischer Hoffnungen auslöste. Doch dessen im Laufe der Jahre ins Imperialistische tendierendes Auftreten sowie seine eigenmächtige Erhebung zum Empe­reur im Jahr 1804 enttäuschte sie so sehr, dass ihre diesbezüglichen Erwartungen zum Teil, wie im Fall Ludwig van Beethovens und Heinrich von Kleists, in einen tiefen antifranzösischen Hass umschlugen. Aber dieser Zorn löste zugleich eine neue Welle ins Utopische zielender Hoffnungen aus, da er im Ankampf gegen die französischen »Eindringlinge« zwangsläufig all jene Bestrebungen ins Nationalistische verstärkte, die in einem möglichen militärischen Befreiungskrieg zugleich einen nationaldemokratischen Freiheitskrieg sahen, der nach der im Jahr 1806 durch Napoleon durchgesetzten Auflösung des Heiligen Römischen Reichs Undeutscher Nation zur Gründung eines deutschen Einheitsstaats führen könne, in dem endlich Recht und Freiheit herrschen würden.6 Wie wir wissen, blieb auch diese utopische Hoffnung, die vor allem »Patrioten« wie den Freiherrn Heinrich Friedrich Karl vom und zum Stein, Ernst Moritz Arndt, Johann Gottlieb Fichte, Joseph Görres, Friedrich Ludwig Jahn, Friedrich Daniel Schleiermacher, die Urburschenschaftler sowie manche der preußischen Heeresreformer beseelt hatte, eine Illusion. Was die deutschen Fürsten – nach dem Sieg über Napoleon – 1815 auf dem Wiener Kongress entschieden, war weder die Rückkehr zu der »alten Freiheit der Germanen«, für die sich bereits Friedrich Gottlieb Klopstock und seine Anhänger im späten 18. Jahrhundert eingesetzt hatten,7 noch ein gesamtdeutscher Einheitsstaat, sondern ein relativ locker zusammenhängender Deutscher Bund von 39 souveränen Territorien, in denen der jeweils herrschende Fürst und nicht das deutsche Volk das Sagen hatte. Und so trockneten auch die ins Deutschnationale zielenden Oasen der Utopie, wie schon die ins Jakobinische tendierenden Hoffnungen der neunziger Jahre des 18. Jahrhunderts, wieder aus. Was sich stattdessen verbreitete, war eine biedermeierlich gefärbte Restaurationsperiode, in der alle ins Freiheitliche drängenden Aspirationen gnadenlos unterdrückt wurden oder nur als sogenannte »Weltschmerz«Stimmungen weiterexistieren konnten. Selbst die durch die Französische Revolution von 1830 geweckten jungdeutschen Bestrebungen, die ins Bürgerlich-Liberale tendierten und sich vornehmlich an den Schriften der nach Paris ausgewichenen Autoren Ludwig Börne und Heinrich Heine orientierten, wurden schon ab 1835 durch einen Bundestagsbeschluss strafrechtlich verfolgt. Nicht viel anders erging es jenen deutschen Frühsozialisten, die wie Moses Hess, Karl Marx, Arnold Ruge und andere Rebellen, welche aufgrund der im Deutschen 9

Vorwort

Bund herrschenden Zensurmaßnahmen ebenfalls nach Frankreich geflohen waren und sich dort zum Teil Geheimgesellschaften wie dem »Bund der Geächteten« sowie dem »Bund der Gerechten« angeschlossen hatten.8 Auch sie konnten nur in Oasen der Utopie existieren, ohne groß in das deutsche Geistesleben eingreifen zu können. Erst die durch die französische Februarrevolution ausgelöste deutsche Märzrevolution von 1848 erlaubte ihnen die Rückkehr nach Deutschland. Doch ihre dortigen Aktivitäten scheiterten ebenso sehr wie die Bemühungen der in der Frankfurter Paulskirche tagenden Nationalversammlung, die 39 Länder des Deutschen Bunds unter einem preußischen Erbkaisertum zu vereinigen. Sogar diese Bestrebungen blieben Vorstöße ins Unerreichbare, wonach, wie nach dem Wiener Kongress von 1815, erneut eine Phase reaktionärer Verdrängungsmaßnahmen begann, für die sich der Begriff »Nachmärz« eingebürgert hat.

Abb. 2  Die Abgeordneten der sogenannten Linken der Frankfurter Nationalversammlung (1848), u. a. Jacob Venedey, Arnold Ruge, Robert Blum, Carl Vogt und Hugo Wesendonck 10

Widersetzliche Stimmen im breiten Strom des Mehrheitsdenkens

Eine neue Ära nationalbetonter Hoffnungen setzte erst wieder in den sechziger Jahren ein. Abermals ging sie von Preußen aus, wo der eigenmächtig auftretende Ministerpräsident Otto von Bismarck immer stärker auf eine Auflösung des Deutschen Bunds drängte, indem er 1866 erst in einer Art Blitzkrieg Österreich besiegen ließ und dann den fast halb Deutschland umfassenden Norddeutschen Bund gründete. Er wurde dabei sowohl von den preußischen Rhein-Ruhr-Industriellen als auch den bürgerlichen Nationalliberalen und sogar dem »Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein« unterstützt, welche sich durch die in diesen Jahren einsetzenden ersten wirtschaftlichen Hochkonjunkturphasen ebenfalls in ihrer preußischen Überlegenheitspose bestärkt fühlten. Aufgrund dieser Stimmungslage entfesselte Bismarck als geschickt taktierender Realpolitiker schließlich im Jahr 1870 einen gesamtdeutschen Angriffskrieg gegen die seit den Befreiungskriegen als »Erbfeinde« Deutschlands geltenden Franzosen, der nach seiner siegreichen Beendigung zu der von ihm im Spiegelsaal zu Versailles arrangierten Proklamation des preußischen Königs zum deutschen Kaiser führte. Und damit wurde die seit Jahrzehnten immer wieder unerfüllt gebliebene Utopie einer deutschen Reichseinigung endlich Wirklichkeit. Aber in welcher Form? Schließlich unterdrückte Bismarck im Zuge seiner realpolitischen Saturiertheitsbemühungen, die zu einer »inneren Stärkung« des von ihm gegründeten Reichs beitragen sollten, in den folgenden Jahren nicht nur die Sonderwünsche der katholischen Centrumspartei sowie die rebellischen Tendenzen der 1869 gegründeten Sozialistischen Arbeiterpartei, sondern zum Teil auch die ihn bisher unterstützenden bürgerlichen Nationalliberalen und bekannte sich immer nachdrücklicher zu einer preußisch-protestantischen Junkermentalität. Das gab ihm zwar – aufgrund der durch die Reichsgründung ausgelösten nationalen Hochstimmung innerhalb breitester Bevölkerungsschichten – eine geradezu unbeschränkte Machtposition, führte aber im Laufe der Jahre auch zu ständig stärker werdenden ideologischen Gegenströmungen, die sich unter dem Zweiten Kaiserreich nicht nur ein preußisches Erbkaiserregime vorgestellt hatten. Vor allem nach der im Jahr 1890 von dem jungen Kaiser Wilhelm II. erzwungenen Entlassung Bismarcks als Reichskanzler setzte darauf eine ideologische Gemengelage ein, die höchst verschiedene Formen annahm. Während sich die gehobene und gebildete Bourgeoisie weitgehend in den Innenraum einer »machtgeschützten Innerlichkeit« zurückzog, das heißt einem ins ideologisch Unverbindliche tendierenden Subjektivismus sowie einer Vorliebe für betont modernistische Kunstströmungen wie den Impressionismus und den Jugendstil huldigte,9 kam es selbst im Rahmen der zuvor höchst rebellisch aufgetretenen Sozialdemokratischen Partei wegen der immer günstiger werdenden Wirtschaftsbedingungen zu jenem Revisionismus, der auf die meisten der bisher vertretenen Umsturzbestrebungen verzichtete und sich vornehmlich einen größeren Anteil an den industriellen Gewinnen versprach.10 11

Vorwort

So viel erst einmal – in gebotener Kürze – zu den zwei neben den wilhelminischen Führungsschichten bedeutsamsten gesellschaftlichen Gruppierungen. Doch wie verhielt sich eigentlich das sogenannte mittlere Bürgertum den sich rapide verändernden wirtschaftlichen Wandlungsprozessen gegenüber, durch die Deutschland in der Weltrangliste der führenden Industriestaaten in diesem Zeitraum schließlich im Jahr 1913 – nach den USA – den 2. Platz einnehmen konnte? Etwas pauschalisierend lässt sich dazu Folgendes sagen: Die auf eine Änderung der gesamtgesellschaftlichen Verhältnisse drängenden Theoretiker dieser Bevölkerungsschicht spalteten sich in eine Fülle miteinander konkurrierender, das heißt teils reformbetonter, teils widersetzlicher Gruppen auf, die geradezu unübersehbar ist, während sich die mit den neuen Zuständen übereinstimmenden Schichten weitgehend »saturiert« gaben und von vornherein auf irgendwelche ins Utopische übergehenden Intentionen verzichteten. Die bürgerlich-reformbetonten Kreise begrüßten die industrielle Modernisierung meist rückhaltlos und versuchten sie lediglich durch einen Verzicht auf eine vornehmlich profitorientierte Gewinngier in eine humanere Richtung umzulenken. Sie entwarfen daher – unter Berufung auf ausländische Utopiker wie Étienne Cabet, Charles Fourier und Robert Owen – durchaus futuristisch klingende Projekte weiträumiger Koloniebildungen oder gar Staaten,11 in denen trotz aller technischen Modernisierung und subjektiver Selbstverwirklichung ein genossenschaftlicher Gemeingeist herrschen würde, weil man dort auf die kapitalistische Ausbeutung der finanziell Mittellosen verzichten könne.12 Dafür sprechen nicht nur Theodor Hertzkas und Kurd Laßwitz’ damals viel gelesene Utopieromane, sondern auch die sich auf eine »Besitzreform« berufenden Siedlungskonzepte Franz Oppenheimers, Gustav Lilienthals und Gustav Landauers,13 die zum Teil sogar zu Koloniebildungen wie der »Obstbaukolonie Eden« sowie der Siedlungsgenossenschaft »Freie Scholle« führten. Die Utopieentwürfe jener ideologischen Vordenker der Zeit um 1900, denen es weniger um wohlgemeinte Reformen als um eine grundsätzliche Neu- oder Umgestaltung der damals herrschenden Gesellschafts- und Wirtschaftsverhältnisse ging, fassten dagegen in dieser Hinsicht wesentlich radikalere Vorstellungen ins Auge. Während sich die eher reformbetonte Richtung innerhalb dieser Utopiebildungen relativ leicht auf einen Nenner bringen lässt, ist in diesem Umkreis die Vielzahl ideologischer Intentionen kaum zu überschauen. Da wären erst einmal jene Gruppen, die sich seit den siebziger/achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts aus Abneigung gegen das von ihnen als »unnatürlich« empfundene Großstadtleben und seine nervenschädigenden Auswirkungen der sogenannten Lebensreform-Bewegung anschlossen. Ihre Hauptvertreter waren anfänglich vor allem Martin Atlas, Eduard Baltzer, Friedrich Eduard Bilz, Karl Gräser, Hans Hardt, Leopold Heller und Sebastian Kneipp, die in ihren theoretischen Traktaten oder auch Zukunftsromanen eine Lebensweise 12

Widersetzliche Stimmen im breiten Strom des Mehrheitsdenkens

propagierten, die auf alle technischen Errungenschaften verzichtet und sich vornehmlich um die Gesunderhaltung des menschlichen Körpers durch ausgedehnte Wanderungen in der Natur, vegetarische Kost, kalte Duschen, nackte Sonnenbäder, leichte Gartenarbeit sowie eine ungezwungene Kleidung bemüht. Das wurde zwar von vielen wilhelminischen Bürgern belächelt, ist aber in seiner Fernwirkung bis heute kaum zu unterschätzen.14

Abb. 3  Fidus: Kommune (1912)

Das Gleiche gilt für die um 1900 unter dem Einfluss von Ernst Rudorff und Paul Schultze-Naumburg entstandene Heimatschutz-Bewegung, die nicht nur aus ästhetischen Gründen für die Erhaltung der wohlgefälligen deutschen Wälder und Naturdenkmäler eintrat, sondern sich zugleich mit ökologischer Besorgtheit gegen die durch die fortschreitende Industrialisierung verursachte Verschmutzung der Flüsse, die Zunahme gefährlicher Abgase sowie die allgemeine Vermüllung wandte,15 was ebenfalls nicht vergessen werden sollte. Etwas problematischer wirken dagegen manche Schriften jener sich ebenfalls als ideologische Vordenker ausgebenden Vertreter der Heimatkunst-Bewegung, die in ihrem Hass auf das städtische »Unwesen« eine totale Verwerfung aller technischen Errungenschaften propagierten und stattdessen 13

Vorwort

eine Rückkehr zum schollebewussten Bauerntum forderten, was in seiner deutschvölkischen Gesinnung bereits ins Präfaschistische tendierte. Ähnliche Tendenzen herrschten in einem noch stärkeren Maße in den Schriften jener um die Jahrhundertwende als Utopiker auftretenden Rassentheoretiker, wie Houston Stewart Chamberlain, Theodor Fritsch, Georg Hauerstein, Willibald ­Hentschel, Jörg Lanz von Liebenfels, Guido von List, Wilhelm Schwaner, Ernst Wachler und Ludwig Wilser, von denen einige bereits an die späteren »Lebensborn«Anstalten erinnernde ländliche Zuchtkolonien propagierten, die sich ausschließlich der Zeugung arischer Nachkommen widmen sollten,16 um so eine Vorherrschaft der nordischen Rasse über alle anderen Völker der Welt zu ermöglichen. Nicht viel anders argumentierte eine Reihe jener Vertreter einer imperialistischen Stimmungsmache, die sich als Teil einer »Völkischen Opposition« verstanden.17 Auch ihnen erschien das Zweite Kaiserreich nicht militant, nicht rassebewusst genug. Das gilt vor allem für viele Angehörige des »Alldeutschen Verbands« wie Heinrich Claß, Ernst Hasse, Ludwig Kuhlenbeck und Joseph Ludwig Reimer, die ebenfalls von einem nordischen »Stammesreich« der Zukunft schwärmten, in dem sich alle Völker germanischen Bluts der deutschen Oberhoheit unterordnen würden. Sie bekannten sich daher in den Jahren nach 1900 immer stärker zu einem Imperialismus, der in einer »Civitas germanica«, einem »Pangermanischen Reich deutscher Nation«, wenn nicht gar einem erhofften »Dritten Reich« kulminieren würde.18 Wie viele dieser Gesinnungsaufwallungen beim Ausbruch des Ersten Weltkriegs in die von der Mehrheit der deutschen Bevölkerung geteilte chauvinistische Begeisterungswelle einmündeten, ist hinlänglich bekannt. Es gab zwar unter den Sozialdemokraten und den bürgerlichen Linksliberalen einige Kriegsgegner, aber ihre Stimmen verhallten fast ungehört. Erst als die anfänglichen Siegeshoffnungen in den Jahren 1916/17 allmählich schwächer wurden, wagten einige Vertreter des Spartakusbunds und der Unabhängigen Sozialdemokraten mit partisanenhaftem Mut gegen die Fortführung der sinnlos gewordenen mörderischen Grabenkämpfe zu opponieren und sich zu der Utopie zu bekennen, dass dieser Krieg der letzte aller möglichen Kriege sein müsse, was in der Nachfolge der russischen Oktoberrevolution von 1917 nur durch eine sozialistische Weltrevolution zu erreichen sei. Als es daher 1918 in Deutschland tatsächlich zur sogenannten Novemberrevolution kam, war deshalb an sich ins Utopische überschlagenden Manifesten, Proklamationen und rebellisch auftretenden Gruppenbildungen kein Mangel. Der Spartakusbund, die Münchner Rätesozialisten, die Soldaten- und Arbeiterräte, die Anarchisten, die Expressionisten und Dadaisten, fast alle bekannten sich zu gewaltsamen Umsturzbemühungen, auf die ein Zustand der Völkerfreundschaft und sozioökonomischen Neuordnung folgen sollte, in dem an die Stelle der bisherigen, auf dem Prinzip der Ausbeutung beruhenden Klassengesellschaft ein sozialistischer 14

Widersetzliche Stimmen im breiten Strom des Mehrheitsdenkens

Abb. 4  Conrad Felixmüller: Menschen über der Welt. Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht (1919)

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Vorwort

Gemeingeist herrschen würde.19 Da jedoch sowohl die meisten der kriegsmüden Soldaten als auch die Mehrheit der noch immer in der älteren Untertanenmentalität befangenen Bevölkerungsschichten ihnen nicht folgte, gelang es den Mehrheitssozialdemokraten unter Friedrich Ebert, nach der Niederschlagung vereinzelter Aufstände schon nach wenigen Wochen und Monaten erneut für »Ruhe und Ordnung« zu sorgen und jene Weimarer Republik zu gründen, in der zwar die frühere wilhelminische Führungsschicht viel von ihrem ehemaligen Einfluss einbüßte, aber von den ins Sozialistische drängenden Hoffnungen der Novemberrevolution nicht viel übrig blieb. Was daher in den Jahren nach 1923 folgte, war eine hochkapitalistische Prosperitätsphase, in der Deutschland wiederum zur zweitstärksten Industrienation der Welt aufstieg und in der jener fordistische Geist der »Neuen Sachlichkeit« dominierte, durch den die zuvor gehegten Hoffnungen auf eine gesamtgesellschaftliche Umwälzung zusehends abebbten. Weil jedoch die damit verbundenen Erwartungen auf eine nicht aufzuhaltende Wohlstandssteigerung durch die im Jahr 1929 einsetzende Weltwirtschaftskrise jäh unterbrochen wurde, kam es darauf – trotz aller relativ unwirksamen »Notverordnungen« – zu einer sich ins Millionenfache ausweitenden Arbeitslosigkeit, die zwangsläufig neue ideologische Konfrontationen auslöste. Vor allem die Kommunistische Partei Deutschlands (KPD) und die Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei (NSDAP), in denen die Vertreter der bisherigen Regierungskoalitionen lediglich unbedeutende Splitterparteien gesehen hatten, stiegen in dieser Krisensituation plötzlich zu beachtlichen Machtblöcken auf, die mit ins Utopische übersteigerten Programmen die verunsicherten breiten Massen hinter sich zu vereinigen suchten. Die Kommunisten, denen sich viele der früheren Novemberrevolutionäre und linksliberalen Partisanen anschlossen, beschworen ihre Anhänger, sich in ihren Hoffnungen auf eine durchgreifende Änderung der sozioökonomischen Bedingungen vor allem am Leitbild der Sowjetunion als einem »Staat ohne Arbeitslose« zu orientieren.20 Die Nazifaschisten griffen dagegen in ihren programmatischen Erklärungen vornehmlich auf die Anschauungen der »Völkischen Opposition« des Zweiten Kaiserreichs zurück, indem sie vornehmlich jene populistischen Klischees reaktivierten, in denen schon damals von einem Dritten Reich der völkischen Stärke die Rede gewesen war, was sich als so effektiv erwies, dass sie geradezu über Nacht zur stärksten Reichstagsfraktion aufstiegen. Dennoch erschien der zu diesem Zeitpunkt amtierenden Reichsregierung die Gefahr von links wesentlich bedrohlicher als die von rechts. Daher beschworen die deutschnational eingestellten Großindustriellen und preußischen Junker den Reichspräsidenten Paul von Hindenburg, nach längerem Zögern endlich jenem redegewaltigen, zur Ausschaltung aller »fremdartigen Außenseiter« entschlossenen Adolf 16

Widersetzliche Stimmen im breiten Strom des Mehrheitsdenkens

Hitler, dem Führer der NSDAP, die Macht zu übergeben, um Deutschland vor einer möglichen »Bolschewisierung« zu bewahren. Und damit begann am 30. Januar 1933 jenes Dritte Reich, in dem – nach einer rücksichtslosen Liquidierung aller widersetzlichen Partisanen und Partisaninnen – ein völkischer Einheitswille herrschen sollte. All jene, die von dieser Parteilinie abwichen und weiterhin irgendwelche Linkstendenzen vertraten, wurden deshalb, wie die Strasser- und Röhm-­Anhänger, kurzerhand ermordet. Ebenso brutal verfuhr man mit manchen Vertretern der Bekennenden Kirche, Jehovas Zeugen, Homosexuellen und linken Widerständlern, die in Konzentrationslager überführt wurden oder später, wie die Juden, Roma und Sinti, in Auschwitz und anderen Vernichtungslagern ihr Leben lassen mussten. Was demzufolge als ideologisches Gesamtkonzept übrigblieb, war lediglich der immer wieder beschworene »Führerwille«, dem sich alles andere unterzuordnen hatte. Von einer klar definierten Weltanschauung oder gar einer in die Zukunft weisenden Utopie war daher keine Rede mehr. Außer einem rabiaten Antisemitismus und Antikommunismus sowie irgendwelchen imperialistischen »Lebensraum«-Vorstellungen begnügten sich die meisten NS-Ideologen fast ausschließlich mit realpolitischen Taktiken. Mal war in ihren Proklamationen von einer Rückkehr zu Blut und Boden, mal von einer steigenden Hochindustrialisierung, mal von der Arbeiterwohlfahrt, mal von einer nordischen Elite die Rede, ohne dass dabei eine klar erkennbare parteipolitische Linie zu erkennen war. Begriffe wie »Revolution« oder »Utopie« wurden deshalb im Nazijargon stets vermieden. Stattdessen sprach man lieber von einer Rückbesinnung auf die Werte »unserer ruhmreichen Vergangenheit«, wobei meist der heroische Aspekt dominierte. Als daher Joseph Goebbels, der maßgebliche Minister für ideologische Propaganda, im April 1940, also kurz nach dem Beginn des Zweiten Weltkriegs, gefragt wurde, worin denn die Utopie des Nationalsozialismus eigentlich bestehe, antwortete er bewusst ausweichend, dass es jetzt erst einmal zu siegen gelte, dann werde man weitersehen.21 Von wenigen Widerstandskämpfern und kämpferinnen wie den Vertretern der »Roten Kapelle«, der Baum-Gruppe, dem Kreis um die Geschwister Scholl und den Männern des 20. Juli 1944 einmal abgesehen, vertraute darauf die Mehrheit der Deutschen dieser Parole und arbeitete und kämpfte weiterhin bis zum Ende dieses Kriegs, ohne groß aufzumucken. Demzufolge herrschte in der unmittelbaren Nachkriegszeit in ideologischer Hinsicht erst einmal ein dumpfes Schweigen vor. Die vier Besatzungsmächte setzten zwar ein umfassendes Entnazifizierungsprogramm in Gang, doch wirklich scharf wurde es lediglich in der Sowjetzone durchgeführt, weshalb die aus dem Exil zurückkehrenden linken Antifaschisten weitgehend in diese Zone gingen.22 Ja, selbst jene Exilanten, die wie Stephan Hermlin, Stefan Heym, Wolfgang Langhoff und Hans Mayer erst einmal in eine der westlichen Besatzungszonen gegangen waren, ver17

Vorwort

ließen diese nach Ausbruch des Kalten Kriegs zwischen den USA und der UdSSR und wechselten in der Hoffnung, dass es rechts der Elbe zu einem ideologischen Umschwung kommen würde, in die Sowjetische Besatzungszone über. Doch mit ihrem Programm einer durchgreifenden Sozialisierung stieß die von den Sowjets unterstützte Sozialistische Einheitspartei Deutschlands (SED) bei der Mehrheit der noch in bürgerlich-liberalen oder postfaschistischen Gesinnungen befangenen Bevölkerung zusehends auf Widerstand, während die Rückkehr zu kapitalistischen und formaldemokratischen Zuständen in der westlichen Trizone weitgehend begrüßt wurde und schnell zu einer ideologischen Einheitsstimmung führte. Und so blieb es auch nach der im Jahr 1949 erfolgten Teilung des deutschen Restterritoriums in die Bundesrepublik Deutschland (BRD) und die Deutsche Demokratische Republik (DDR). Im Osten bewirkten die von der SED-­Regierung verfügten Sozialisierungsmaßnahmen einen solchen Unmut, dass eine ständig zunehmende Republikflucht einsetzte, die erst 1961 durch den Bau der Berliner Mauer aufgehalten wurde. Im Westen kam es dagegen mit Hilfe des amerikanischen Marshall-Plans zu dem bekannten Erhard’schen Wirtschaftswunder, das der rechtskonservativen Christlich-Demokratischen Union (CDU) unter Konrad Adenauer bei den im Jahr 1956 stattfindenden Wahlen die absolute Mehrheit verschaffte. Lediglich die von dieser Partei angestrebte Ausstattung der von ihr einberufenen Bundeswehr mit atomaren Waffen bewirkte einige Protestaktionen, die aber schnell wieder verstummten, da selbst die bisher relativ widersetzlich aufgetretenen Sozialdemokraten 1959 in ihrem »Godesberger Programm« sowohl ihre sozialistischen Forderungen als auch ihre ehemalige Ablehnung der Wiederbewaffnung aufgaben. Daher verliefen die frühen sechziger Jahre in beiden deutschen Staaten – bedingt durch die Abriegelung der DDR und das weiter anhaltende Wirtschaftswunder in der BRD – relativ ruhig. Im Osten rebellierten zwar einige Widerständler gegen den scharfen Kurs Walter Ulbrichts und im Westen trat eine Reihe oppositionell gesinnter Autoren wie Rolf Hochhuth und Peter Weiss für eine in den fünfziger Jahren ausgebliebene Bewältigung der nazifaschistischen Vergangenheit ein oder bekannte sich wie Günter Grass und Martin Walser zu der von Willy Brandt ausgegebenen Parole »Mehr Demokratie wagen!«, was jedoch keine Massenbewegung in Gang setzte und so der SPD nicht zu den erhofften Wahlerfolgen verhalf. Aber dann trat in der BRD im Jahr 1966 plötzlich etwas ein, was fast niemand vorhergesehen hatte, nämlich eine Wirtschaftskrise, die in ihren Auswirkungen wie im Jahr 1929 wieder einmal bewies, wie stark die jeweilige ideologische Stimmungslage weniger von irgendwelchen parteipolitischen Verlautbarungen als von bestimmten sozioökonomischen Wandlungen abhängt. Obwohl die unmittelbaren Folgen dieser Wirtschaftskrise keineswegs so drastisch ausfielen wie in der späten Weimarer Republik, führten sie zu einem Angstzustand, 18

Widersetzliche Stimmen im breiten Strom des Mehrheitsdenkens

dem die CDU mit einer Reihe sogenannter Notstandsgesetze entgegenzutreten versuchte, ja sie sogar dazu bewegte, mit der SPD eine Große Koalition einzugehen. Das irritierte zwar die weiterhin wirtschaftswunderlich eingestellten Schichten der Bevölkerung nicht besonders, führte aber unter den mit einer höheren Bildung versehenen Jugendlichen zu einer Protestbewegung, die sich als Außerparlamentarische Opposition, kurz: APO genannt, ausgab. Das Charakteristische dieser spontanen Aufwallung, die heute meist als die Achtundsechziger-Bewegung bezeichnet wird, war, dass sie von vornherein keine ideologische Einheitsfront bildete, sondern aus einer Reihe höchst unterschiedlicher politkultureller Gruppen bestand, deren Widersetzlichkeit sowohl überpersönliche als auch höchst individuelle Antriebsimpulse zugrunde lagen. Da gab es Marxisten, Anarchisten, Vietnamkriegsgegner, auf studentische Mitverwaltung Drängende, radikale Feministinnen, Beatles-Schwärmer, Hippies und Sexrebellen, die sich in Aktionskreisen, Roten Zellen, Selbsterfahrungsgruppen und Kommunen zusammenschlossen, ihre Manifeste in Zeitschriften wie Kursbuch, Alternative und Argument veröffentlichten oder einfach einmal auf die Pauke hauen wollten.23 Neben Verbänden, welche wie die »Werkkreise« sogar das Proletariat für ihre Absichten zu gewinnen suchten, herrschten daher bei vielen Gruppen dieser Art Zielsetzungen

Abb. 5  Rudi Dutschke spricht auf dem FDP-Bundesparteitag in Freiburg zu Jungdemokraten (29. Januar 1968) 19

Vorwort

vor, die vornehmlich der von Herbert Marcuse ausgegebenen Randgruppenstrategie folgten. Und so entstanden zwar einige Oasen der Utopie, die jedoch von der Mehrheit des systemhörigen Bürgertums weitgehend abgelehnt wurden. Als daher die Wirtschaftskrise der späten sechziger Jahre wieder abklang sowie die Attentate der »Roten Armee Fraktion« die antilinken Affekte breitester Bevölkerungsschichten zusehends verstärkten, war es für die inzwischen regierende SPD/FDP-Koalition schon um 1973/74 ein Leichtes, durch einen sogenannten Radikalenerlass und die damit verbundenen Berufsverbote die gesellschaftskritischen Bestrebungen der Achtundsechziger wieder größtenteils zu unterdrücken. Doch ganz so glatt verlief dieser Prozess dann doch nicht, da die Ölkrise der frühen siebziger Jahre sowie das Buch Die Grenzen des Wachstums (1972) von Dennis L. Meadows plötzlich eine Welle ökologischer Befürchtungen auslösten, die nicht so leicht zu unterdrücken waren.24 Deshalb kam es in den folgenden Jahren erneut zu einer Reihe systemkritischer Gruppenbildungen, die sich erst als die Alternativen, dann als die Bunten und schließlich als die Grünen ausgaben. Ihnen schloss sich neben den mehr oder minder radikal gesinnten Naturschützern auch eine stattliche Anzahl der inzwischen ideologisch heimatlos gewordenen Achtundsechziger an. Ja, diese Gruppen wurden in den frühen achtziger Jahren, als sich die vorübergehend abgeschwächte Kalte-Kriegs-Stimmung aufgrund der amerikanischen Hochrüstungsprogramme wieder deutlich verschärfte, durch die dagegen auftretende Friedensbewegung von Jahr zu Jahr immer größer. Und das bewirkte ein immer enger werdendes Bündnis zwischen den zahllosen Pazifisten, den Atomkraftgegnern und den sogenannten Fundis unter den Grünen. Als Redner und Rednerinnen zeichneten sich bei diesen Protestaktionen gegen den Bau neuer Atomkraftwerke sowie die Stationierung amerikanischer atomarer Waffensysteme vor allem Robert Jungk und Petra K. Kelly aus, was schließlich dazu führte, dass die Grünen als neue Partei 1983 sogar in den Bundestag einziehen konnten. Damit war aus einer Oase der Utopie, die sich eine gewaltlose Zukunft erhoffte, eine relativ breite Massenbewegung geworden. Dass diese Partei in der unmittelbaren Folgezeit nicht weiter anschwoll, hatte zwei Gründe: Erstens verstieß das von manchen Fundis innerhalb der Grünen zum Schutz der Natur verkündete Postulat einer asketischen Bedürfnislosigkeit gegen die kapitalistische Konsumbetriebsamkeit, zweitens kam es nach dem 1989 erfolgten Zusammenbruch des Ostblocks und der sich daraus ergebenden Wiedervereinigung Deutschlands zu einem ideologischen Umschwung der öffentlichen Meinungsbildung in eine selbstgefällige Siegermentalität, was bewirkte, dass viele Bundesbürger und -bürgerinnen meinten, im Zuge einer neoliberalen Globalisierung – trotz vieler weiter bestehenden nationalen und religiösen Konflikte – auf irgendwelche andersgearteten Zukunftserwartungen verzichten zu können. Jetzt herrsche nicht mehr die Politik, hieß es plötzlich in zahlreichen wirtschaftspolitischen Proklamationen, son20

Widersetzliche Stimmen im breiten Strom des Mehrheitsdenkens

dern der »Markt«. Und damit sei – nach der Überwindung der Bedrohung durch den Kommunismus – der Verlauf der menschheitlichen Geschichte endlich zu einem sinnvollen Abschluss gekommen. Im Gefolge von Francis Fukuyama war daher in den frühen neunziger Jahren nicht nur in den USA, sondern auch im wiedervereinigten Deutschland viel vom »Ende der Geschichte« der Rede.25 Der Begriff einer über die jeweiligen gesellschaftlichen Zustände hinausweisenden »Utopie« wurde deshalb fortan in den gängigen Lexika und Wörterbüchern nur noch als »nichtrealisierbarer Traum« oder gar als »Hirngespinst« definiert. Das Gleiche gilt für einige zu diesem Zeitpunkt in der BRD erschienene Bücher wie Der zerstörte Traum. Vom Ende des utopischen Zeitalters (1991) von Joachim Fest oder Das Ende eines Traumes. Blick zurück ins utopische Zeitalter (1993) von Michael Winter, in denen, wie schon in den Schriften mancher Theoretiker der Postmoderne der achtziger Jahre, das Phänomen des Utopischen nur noch als ein Relikt der Vergangenheit hingestellt wurde. Doch eine solche Sicht der inzwischen eingetretenen Verhältnisse stieß bei einigen weniger systemverhafteten Gesellschaftswissenschaftlern anfangs durchaus auf Widerstand. So wandte sich Richard Saage, einer der wichtigsten Utopieforscher dieser Ära, schon 1991 gegen die in der nationalen Hochstimmung der Wiedervereinigung aufgekommene Tendenz, »das utopische Denken, wie es heute üblich geworden sei, einfach zu verabschieden«.26 Und auch andere Sozialtheoretiker wie Ralf Dahrendorf warnten zum gleichen Zeitpunkt davor, nicht unbekümmert darauf zu vertrauen, dass nun das »goldene Zeitalter des Kapitalismus« angebrochen sei, sondern zu bedenken, dass viele gesellschaftspolitische Zustände weiterhin verbessert werden müssten.27 Ähnlich drückte sich Johano Strasser 1990 in seinem Buch Leben ohne Utopie? aus, in dem er erklärte, dass durch den Wegfall der bisherigen ideologischen Konfrontationen plötzlich ein bedauerliches »Vakuum der Utopie« eingetreten sei.28 Ja, Rolf Schwendtner schrieb 1994 in dem Buch Utopie. Überlegungen zu einem zeitlosen Begriff sogar, dass man in Zukunft nicht nur auf die gängige »Marktlogik« vertrauen solle, sondern im Gefolge der prozessualen »Vorschein«-Theorien von Ernst Bloch auch die Utopie als Korrektur des jeweiligen Status-quo-Denkens der durch die Massenmedien beeinflussten Mehrheit der Bevölkerung nicht vergessen dürfe.29 Doch solche Stimmen wurden in der Folgezeit allmählich seltener. Trotz aller sich deutlich abzeichnenden ökologischen Gefahren, trotz der sich verschärfenden sozialen Ungleichheit und trotz des zunehmenden Energieverbrauchs siegte letztlich ein parteipolitisch gesteuertes Mehrheitsdenken, das sich für die Beibehaltung einer antiutopischen, das heißt in die Zukunft verlängerten Gegenwart einsetzte. Daran änderten weder die Bemühungen um eine neue Leitkultur oder die Vorschläge der verschiedenen parteiamtlichen Wertekommissionen noch gewisse »Greenpeace«Aktionen, die »Fridays for Future«, die Sammlungsbewegung »Aufstehen« und 21

Vorwort

ähnliche Initiativen, so widersetzlich sie sich auch gaben, wenig oder nichts. Was als bestimmende Ideologie vorherrschend blieb, war stets ein als rechtsstaatlich ausgegebenes Pluralismuskonzept, das zwar zu einer Erweiterung vieler subjektiver Freiräume beitrug und auch einige ökologische Reformen in Gang setzte, aber keine grundsätzliche Veränderung der sozioökonomischen Grundlagen des bestehenden Systems bewirkte. Und so blieb die Bundesrepublik auch weiterhin ein konsum- und exportbetonter Industriestandort, in dem 1 Prozent der Bevölkerung über fast 50 Prozent des Volksvermögens und 50 Prozent der Bevölkerung über 1 Prozent des Volksvermögens verfügen. Dennoch wird dieser Zustand von führenden Soziologen unter formaldemokratischer Perspektive meist als eine subjektbetonte »Gesellschaft der Singularitäten« ausgegeben,30 während von der Möglichkeit einer gesamtgesellschaftlichen Solidarität oder gar einem utopischen Vorgriff auf eine sozial gerechtere und zugleich ökologisch nachhaltigere Zukunft fast nur noch in gesellschaftlichen Randgruppen die Rede ist. Folgen wir daher lieber den Letzteren als dem in den Massenmedien verkündeten selbstgefälligen Mehrheitsdiskurs. Schließlich hat einer der bedeutendsten Soziologen der Bundesrepublik, nämlich Jürgen Habermas, bereits 1985 in seiner Broschüre Die neue Unübersichtlichkeit im Hinblick auf eine progressionslose Einstellung der Zukunft gegenüber erklärt: »Wenn in einer Gesellschaft die utopischen Oasen austrocknen, breitet sich eine Wüste von Banalität und Ratlosigkeit aus«.31

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Irenaeus Hygiophilus Daß denen Männern keine Herrschafft über ihre Weiber gebühre (1727)

I.

Im Jahr 1727 kam beim Buchhändler Mathias Wolff in Augsburg folgender dickleibiger Band heraus, der inzwischen zu den Rarissima der Antiquariate und öffentlichen Bibliotheken gehört: Etwas Nagel-Funckel-Neues Auß dem Stuttgartischen Journal / Und Kontroversisten=Spital / Dessen Bresthafftem Censori Uber Politicam Catholicam Timothei Caesarini Basilij, Theol. Quondam Lect. Verbique Praeconis, (Von denen Vortheilen Grosser Herrn und Potentaten auß dem Catholischen Glauben / etc.) Die Pulß gefühlet / und etliche heylsame Artzney=Mittel verschrieben werden / durch Irenaeum Hygiophilum, des Prytanei zu Bethesda / Physicum Extraordinarium: Timothei Caesarini Basilij rechten Vatters Ehleiblichen Sohns Bruder. J. D. K. Es wird auch auß Anlaß und Gelegenheit der Einwürffe / von Pag. 125. an biß 164. weitläuffig aus Göttlichen Rechten erwiesen: Daß denen Männern keine Herrschafft über ihre Weiber gebühre. Mit Genemhaltung einer Hohen Geistlichen Obrigkeit. Das klingt heutzutage auf Anhieb erst einmal verwirrend, wenn nicht gar abstrus. Doch solche weitschweifigen Titel waren im Heiligen Römischen Reich im frühen 18. Jahrhundert bei sich »gelahrt« gebenden Büchern im Hinblick auf den kleinen Kreis humanistisch gebildeter Leser durchaus üblich. Wer ein solches Buch überhaupt zur Hand nahm, wusste genau, was mit dem »Stuttgartischen Journal« und dem Buch »Politicam Catholicam« gemeint war, wer sich hinter den Autoren Timotheus Caesarinus Basilius sowie Irenaeus Hygiophilus verbarg und wen der Autor als »Bresthafften Censor« bloßstellen wollte. Aber wir? Was soll uns ein solches, offenbar höchst skurriles, in journalistische Streitigkeiten verstricktes Buch von anno dazumal heute noch? Ist es den Schweiß der Gelehrten wert, sich überhaupt noch damit zu beschäftigen? Was interessieren uns denn weiterhin theologische Debatten aus dem frühen 18. Jahrhundert, die auf den ersten Blick längst überfällig zu wirken scheinen? Doch halt, schließlich taucht gegen Ende der weitläufigen Titelei plötzlich der Satz auf: »Daß denen Männern keine Herrschafft über ihre Weiber gebühre«, den man in diesem Kontext gar nicht vermutet hätte und der eher an das Vokabularium der feministischen Bewegung des 20. Jahrhunderts erinnert. Wollte sich damit sein Autor 1727 lediglich einen Witz erlauben oder war es ihm mit einer solchen Behauptung im Rahmen der frühaufklärerischen Tendenzen dieser Zeit wirklich ernst? Träfe Letzteres zu, sollte man diese Stimme keineswegs überhören. 23

Irenaeus Hygiophilus

Doch erst einmal zu der Frage: Wer ist denn eigentlich der Autor dieses Buchs, der sich auf dem Titelblatt als Humanist Irenaeus Hygiophilus, das heißt als des »rechten Vatters Ehleiblicher Sohns Bruder Timotheus Caesarinus Basilius« ausgibt und dann die Buchstaben J. D. K. folgen lässt? Erst seit kurzem weiß man, dass sich dahinter ein gewisser Johann Daniel Kutte oder besser Kuttge verbirgt,1 der 1714 als protestantischer Student an der Universität Tübingen mit einer Disputatio über die Creatione mundi promoviert hatte und dann zum katholischen Glauben übergetreten war. Doch das hilft uns auch nicht viel weiter. Wichtig ist lediglich, dass es sich bei dem hier ins Auge gefassten Konvolut um eine satirisch gehaltene Verteidigungsschrift des Buchs Politica Catholica. Das ist: Grosser Herren und Potentaten Vortheile Von dem Catholischen Glauben (1726) des besagten Basilius handelt, das in dem von Heinrich Müller herausgegebenen Stuttgartischen Journal von Christoph Matthäus Pfaff, dem Kanzler der Tübinger Universität,2 scharf angegriffen worden war. Pfaff hatte sich gegen die in diesem Band vertretene These gewandt, dass die katholischen Potentaten in vielerlei Hinsicht nicht so orthodox eingestellt seien wie die protestantischen. »Wir Catholischen«, heißt es daher im Hauptteil der von Hygiophilus vorgebrachten Antikritik, seien dagegen, dass die protestantischen Könige und Fürsten selbst das Kirchenwesen zu »guberniren« versuchten,3 statt die Seelsorge allein den dafür zuständigen Kirchenvorstehern zu überlassen. Und dazu gehöre sogar als »Intention des Acatholismus« (124), dass die Protestanten im Rahmen ihrer orthodoxen Moralvorstellungen unter Berufung auf den heiligen Paulus an »der Herrschaft der Männer über die Weiber« festhielten, statt die Lösung derartiger Probleme ihren Untertanen selbst zu überlassen.4 Ja, diese antiprotestantische Haltung wird am Schluss dieses Buchs sogar noch mit Parodien auf bedeutsame Vertreter der evangelischen Theologie wie Martin Luther, Jan Hus, Johann Arndt, Philipp Jakob Spener und Heinrich Müller unterstrichen. Schon das lässt aufhorchen. Selbst bei einem katholischen Autor dieser Ära, bei dem man eher reaktionäre Ansichten erwarten würde, scheint hier in Moralfragen eine durchaus frühaufklärerische Gesinnung zu herrschen, zu der sich viele der damaligen Protestanten, die kurze Zeit später eine führende Rolle in der Aufklärung des 18. Jahrhunderts spielen sollten, zu diesem Zeitpunkt noch nicht durchzuringen vermochten. Diese Tendenz kommt, wie schon im Titel des hier ins Auge gefassten Buchs angekündigt, vor allem in dem Satz zum Ausdruck, der da lautet: »Es wird auch auß Anlaß und Gelegenheit der Entwürffe / von Pag. 125. an biß 164. weitläuffig aus Göttlichen Rechten erwiesen: Daß denen Männern keine Herrschafft über ihre Weiber gebühre.« Wenden wir uns daher etwas genauer diesen Seiten zu, die sich höchst eindringlich mit dieser Forderung beschäftigen.

24

Daß denen Männern keine Herrschafft über ihre Weiber gebühre (1727)

II.

Irenaeus Hygiophilus alias Johann Daniel Kuttge beginnt seine Argumentation mit dem Satz: »Die gantze Intention des Acatholicismi, des Lutheraniomi und Protes­ tantismi gehet dahin: Über Leib und Güter / Seelen und Gewissen der Weiber zu herrschen« (124). Und zwar beriefen sie sich dabei zumeist auf die Epistel S. Pauli an die Epheser (V, 22), wo es heißt: »Die Weiber seien unterthan ihren Männern als den Herrn« und daher sei »der Mann des Weibes Haupt«. Doch das beweise »noch lange keine Herrschafft nicht«, behauptet Hygiophilus. Schließlich bedeute »das Wort Haupt / gar oft in der Heil. Schrift lediglich soviel / als ein Anfang oder Ursprung«, aber nicht einen Herrschersitz. Obendrein werde der »Menschliche Leib nicht regirt von dem Haupt / sondern von dem Hertzen«. Das Haupt sei »eigentlich nur Officina Intellectus, ein Wohnplatz und Werckstatt des Verstandes / welcher nicht befiehlet / nicht decerniret noch beschliesset und anordnet / sondern nur als ein Consilarius oder Rathgeber« funktioniere, »wohrbey es sich nur passiv, oder doch nur ministerialiter verhällt« (126). Hingegen sei »das Hertz die Sedes & Officina Voluntatis, eine Residentz und Würck=Platz des Willens / welcher ein freyer und absoluter Herr seiner Handlungen ist: dieser commandirt / schafft und befiehlt« (126). Überhaupt sei »das Hertz unstrittig das edelste Glied des Menschlichen Leibs / das Wohn=Haus und Behältnuß der Natürlichen Wärme / die Schatz=Kammer und Heimath des Geblüts / der vornehmste und längste Auffenhalt des Lebens. Wann derowegen gleich der Mann des Weibes Haupt ist / so ist er nicht deßwegen ihr Herr / sondern nur ihr Rath und Consulent« (126). Daraus folgert Hygiophilus Folgendes: »Wann ich ein Lutherisch Weib wäre / so ließ ich mich durch die obenangezogene Bibel=Sprüch noch lang nicht fangen / und unter des Mannes Gehorsam bereden. Sie mögen so deutlich scheinen als sie wollen / so beweisen sie doch nichts« (124). Doch nicht genug damit. Auf den folgenden Seiten zieht der Autor dieser Polemik noch eine stattliche Reihe anderer Argumente gegen die Orthodoxen unter den Lutheranern heran. Was ihn besonders empört, ist, dass der besagte Christoph Matthäus Pfaff in diesen Fragen den jeweiligen Kirchenvorstehern empfohlen habe, allzeit darauf zu dringen, den Weibern klarzumachen, dass sie sich aufgrund ihrer mangelhaften Geistesausbildung stets der »Superiorität« ihrer Männer unterwerfen müssten (127). Was daher sein Antikritikus fordert, ist, auch den Weibern in Zukunft die nötige »Education« zu ermöglichen. Falls sie nämlich zu »keinen Mannlichen Künsten und Exercitiis angehalten würden«, bleibe »ihr Verstand kürtzer und ihr Wille wandelbahrer« und mache sie notwendig »schwächer« und »unterwürffig« (133). Trotzdem habe es, heißt es danach, unter den Weibern, wie schon »viele grosse Männer erfahren und bezeuget hätten … ohnerachtet ihrer geringeren Education, dennoch viele Amazones, tapffere Heldinnen / kluge und gelehrte Ma­ tronen / standhafte Martyrerinnen / Prophetinnen Poetinnen und Künstlerinnen 25

Irenaeus Hygiophilus

jederzeit gegeben«, wie man in dem Galanten und Kuriosen Frauen=Zimmer=Lexicon des Amarantes von 1716 und in dem von Johann Friedrich Gauthe herausgegebenen Historischen Helden= und Heldinnen=Lexicon nachlesen könne (135).5 Damit sei eindeutig bewiesen, behauptet Hygiophilus, dass der heilige Paulus in seinem ersten Brief an die Korinther, wo es heiße: »Der Mann ist nicht geschaffen um des Weibes willen, sondern das Weib um des Mannes willen« (XI, 9), Unrecht habe. Aus dieser Behauptung solle man keineswegs die Schlussfolgerung ziehen, »daß darumb der Mann Mehr seye als das Weib / noch vielweniger daß Er über das Weib herrschen solle« (135). Ja, was noch erstaunlicher ist, darauf folgt im Hinblick auf das Verhältnis von Fürst und Volk sogar noch eine ebenso kritisch gemeinte Äußerung über die politischen Herrschaftsverhältnisse der damaligen Zeit: »Die Könige / Fürsten und alle Obrigkeit seyend pur gemacht umb des Volckes willen / nicht aber das Volck umb ihret willen; Ergo so ist das Volck höher / und über ihre Regenten zu einem Herrn und Richter gesetzt« (135). Doch zurück zu der These, dass das Weib dem Manne völlig ebenbürtig sei, für die Hygiophilus noch eine Reihe weiterer theologischer und humanistischer Argumente ins Feld zu führen versteht. Besonders ausführlich geht er dabei auf die biblische Schöpfungsgeschichte ein. Dem Spruch des heiligen Paulus, dass »der Mann nicht vom Weib, sondern das Weib vom Manne herkomme«, auf den sich die bibelhörigen Orthodoxen unter den Lutheranern so gern beriefen, tritt er mit der These entgegen, dass Gott das Weib keineswegs »als ihres Mannes Ebenbild erschaffen« habe, sondern dass auch Eva nicht weniger als Adam ein »Ebenbild Gottes« sei, wenn nicht gar »manchemalen näher und nach dem Original geschaffen sey / als das erste Contrefait selbst«. Paulinisch gesehen, heißt es, müsste demnach der »Erden=Klump«, aus dem Gott »Adam gebildet« habe, »besser und edler gewesen seyen« als die fleischliche Rippe, aus der er das Weib erschaffen habe (138). Da dies jedoch gegen jeden Menschenverstand verstoße, folgert Hygiophilus daraus, könne man nur sagen, dass sowohl der Mann als auch das Weib »eines umb des anderen willen«, kurzum »ad mutuum complementum« und damit zu ihrer beiderseitigen »Glückseligkeit und Genuß kreiert« worden seien. Schließlich seien auch im Tierreich der Gockeler um der Hennen und die Hennen um des Gockeler willen da (139). Ebenso irreführend, heißt es danach, sei die paulinische Behauptung »denn Adam ist am ersten gemacht / darnach Eva« in der ersten Epistel an Timotheus (I, 13). Schließlich seien »der Esel, der Stock=Fisch und das übrige Vieh am Ersten gemacht / darnach der Adam«, wie uns die Bibel lehre. Sollten »diese Thier ihm deswegen den Rang und Praecedentz abgewinnen«, fragt sich unser Antipaulus danach. Vielmehr sei gerade das »Wiederspiel« der Fall. »Dann weilen GOTT der allweise Schöpfer / in Erschaffung und Außzierung dieser Welt / immer Stuffenweiß vom geringerene auffs Edlere und vornehmere gestiegen / allzeit wiederum etwas Besse26

Daß denen Männern keine Herrschafft über ihre Weiber gebühre (1727)

res hervorgebracht / und zuletzt bey dem Weib auffgehöret hat: so wollte er hiermit zeigen / daß dieses letzte Werck sein gröstes Maister=Stuck / der Gipffel und vollkommenste Außbund aller Creaturen / der schönste Actus von der gantzen Comoedie / das wichtigste Specimen seiner Kunst / das angenehmste Confect der gantzen Mahlzeit / so zureden / gewesen; gleich wie Er auch deßwegen einen nobleren Zeug und Marterie darzugenommen: nemblich keinen todten irrdinen Haffner=Leimen / wie zu dem Adam / sondern ein lebendiges mit Menschen=Fleisch bekleydetes Manns=Ripp. Ja GOTT der HERR wollte zeigen / daß Er eine so vornehme Adeliche Dame / die Evam / nicht wollte in das Hauß dieses Welt=Gebäus einführen / ehe und dann solcher vollkommen ausspalirt und meubliret / auch würcklich mit einem Cammerdiener und Auffwärter vor Sie versehen wäre« (140 f.). Doch wenn es nur das wäre. Um seine These zu erhärten, dass das Weib das edelste, weil letzte Geschöpf Gottes sei, stützt sich Hygiophilus zugleich auf die damals weit verbreitete Anschauung, dass die Erde in einem »Circul« erschaffen sei, woraus er die kühne Folgerung zieht: »Wann nun im Circul das Ende den nächsten bey dem Anfang ist: so muß auch das Weib / als das End der Göttlichen Geschöpffe / am nächsten bey GOTT seyen / weil der der Anfang aller Dinge ist.« Kein Wunder daher, heißt es darauf, dass »von diesem Geschlecht mehr in den Himmel kommen / als von dem männlichen« (141). Aber selbst dieses Argument ist unserem Hygiophilus noch nicht genug, um die paulinische These von der gottgewollten »Unterthänigkeit des Weibes« zu widerlegen. Er hat dafür noch eine Reihe anderer Argumente in petto. Schließlich heiße es schon im Alten Testament, dass selbst Moses niemals für eine »Weiber=Unterthänigkeit« eingetreten sei und sein Weib, »die schwartze Mohrin«, durchaus hochgeschätzt habe. Überhaupt finde man in den »Hebräischen Urtexten« viele »süsse und gustose Worte« über die wechselseitige Anziehungskraft der Geschlechter, die letztlich auf die Sentenz hinausliefen: »Dein Zuneigung und Begierde wird stets zu dem Mann gerichtet seyn / und Er wird dir darinnen gleichförmig seyen / eine gleiche Inclination und Gegen=Begierde zu dir tragen« (143). Schließlich habe in all diesen Verhältnissen und Beziehungen auch »der blinde Bub Cupido« ein Wort mitzureden (145), wie es in Ablehnung des Puritanismus der Lutheraner heißt, weshalb es das Weib »beständig zu dem Mann ziehen wird / und Ihn hinwiederum zu Ihr« (149). Ja, selbst die Behauptung, dass die Weiber durch die Schwangerschaft und die Geburtsschmerzen notwendig hilfloser und schwächer als die Männer seien, versucht der zu katholischer Sinnlichkeit bekehrte ehemalige Lutheraner Hygiophilus mit dem Satz zu widerlegen: »Wann das Weib aber das Kind gebohren hat / dencket sie nicht mehr an die Angst / umb der Freuden willen / weil der Mensch zur Welt gebohren ist« (149). Daher sollten sich die Weiber, wie es darauf heißt, selbst durch solche Beschwerden nicht beirren lassen, ihr Schicksal selbst in die Hand 27

Irenaeus Hygiophilus

Abb. 6  Gustav Andreas Wolfgang: Frau Maria Müllerin (1759) 28

Daß denen Männern keine Herrschafft über ihre Weiber gebühre (1727)

zu nehmen. Schließlich »seynd sie keineswegs schuldig dasjenige zuleyden / wann sie es ändern können / wann sie im Stand seynd ihre vollkommene Freyheit und Hauß=Parität / oder gar das Regiment und die Herrschaft selbst darinnen wieder ihre Männer zubehaupten: wann ihre Leibs= und Gemüths=Kräfften es zulassen dem Mann das Scepter abzugewinnen / die Hosen auszuziehen« (149 f.). Und als ob sogar das nicht genug wäre, um dem paulinischen Gebot der weiblichen »Unterthänigkeit« dem Mann gegenüber Paroli zu bieten, folgen dann noch einige Hinweise, wie sich beide Geschlechter, die letztlich »Geschwistrige« seien, fortan in praxi verhalten sollten. Wenn nämlich, wie es darauf heißt, »de jure Divino naturali und positivo / Mann und Weib einander gantz gleich seynd / und keines von dem andern dependiret: so wäre es allweg zu wünschen / daß beyde Theil jederzeit mit solcher Klugheit und Frömmigkeit begabet wären / daß man von ihren Einsichten und Neigungen eine gleichstimmige Harmonie / und beständige Einigkeit hoffen dörffte / mithin daß Beyde zugleich das Hauß=Regiment gemeinschaftlich und einmütig miteinander verwalten könnten« (160). »Weil aber solches sich eher wünschen als hoffen lässet«, heißt es im Weiteren mit frühaufklärerischer Einsicht in die nicht zu übersehenden psychologischen und ökonomischen Unterschiede der jeweiligen Partner, so werde es in Streitfragen entweder nötig sein, einen »allgemeinen Schiedsrichter« herbeizurufen oder einem der beiden Kontrahenten die notwendige »Ober= und Maisterschafft« zuzugestehen. Allerdings komme es bei solchen Zwistigkeiten nicht auf Zwang, sondern auf eine »Freywillige Convention«, das heißt auf einen »selbstbeliebigen Vertrag und Vergleich an: wie sie sich entweder Expresse in dem Ehlichen Contract, oder aber Tacite in der würcklichen Conversation und Einrichtung der Oeconomie / miteinander vertreten oder abfinden« (161). Um im Hinblick auf solche Regelungen nicht im Theoretischen steckenzubleiben, gibt Hygiophilus darauf sogar noch einige Hinweise, welche solchen »Freywilligen Conventiones« in praxi entgegenstehen könnten oder wie sie sich überwinden ließen. So ist er sich durchaus bewusst, dass in solchen Angelegenheiten auch das »liebe Geld« eine nicht unbeträchtliche Rolle spielt. Daher wird etwa, schreibt er, »in allweg der Mann einem gescheiden / schönen und reichen Weib das Hauß=Regiment lieber überlassen / als Einer andern / die solcher Qualitäten beraubet ist. Die Frau wird einem Mann / der Sie in guten Ehren=Stand und reichliches Einkommen setzt / darneben einen guten Haußhalter abgibt / der die ligende Güter fleißig anbauet und die Hauß=Zieler richtig abstattet / lieber gehorchen und zu willen lieben / als einen Andern / der weder GOTT noch der Welt zu nutz ist« (162). Doch selbst in ehelichen Verhältnissen, bei denen sich beide Partner relativ ähnlich seien, heißt es im Folgenden, ließen sich bei irgendwelchen Streitigkeiten durchaus Lösungen finden. Entweder sollten sich dann Mann und Weib die »Herrschaft« teilen, indem »jeglicher ein gewiesenes Stuck und hemispharium des Hauß=Wesens 29

Irenaeus Hygiophilus

regiren« würde oder »etwa alle zwölf Stund / alle Tag / alle Wochen / oder Monath / eines umb das andere das Praesidium und die Oberstelle verwalten«. Und wenn sogar das nicht zu einem guten Ende führe, könnten sie ihren Streit auch durch das »Looß zum Endschluß bringen« (162). Doch die beste Lösung in all diesen Angelegenheiten sei letztendlich die, wenn sie »mit beyderseitiger freyer Einwilligung / Einem Theil auß Ihren selbst / entweder dem Weib / oder dem Mann / nach Gutbefinden / die Jura Domestica conventionaliter aufftragen / die Hertz= und Maisterschafft auff beständig einhändigen und übertragen. Mit dieser Einschränkung und Verwahrung / daß keine Tyranney und allzugrober Mißbrauch / wie vor Zeiten mit dem Juribus Collegialikus Ecclesiae geschehen / dabey unterlauffen könne« (163). III.

Das klingt zwar wesentlich prosaischer als all die kühnen Argumente, mit denen Hygiophilus den Folgerungen aus der biblischen Schöpfungsgeschichte sowie den männlichen Autoritätsansprüchen des heiligen Paulus entgegengetreten war, weist aber selbst in seinen eher vernunftbetonten, wenn nicht gar praktikablen Vorschlägen zu einer Gleichstellung der Frau im gesellschaftlichen Leben weit über alles hinaus, was die damaligen Moraltheologen, ja selbst die späteren Vertreter der sogenannten Hausväterideologie im Hinblick auf die von den kirchlichen Autoritäten abgesegneten Geschlechterverhältnisse vertraten. Es wäre daher nicht unangebracht, selbst diesen Irenaeus Hygiophilus, hinter dem sich, wie gesagt, ein weitgehend unbekannter Johann Daniel Kuttge verbirgt, der vom Protestantismus zum scheinbar allein selig machenden katholischen Glauben übergetreten war, als einen frühaufklärerischen Vordenker zu bezeichnen, der in der Vorgeschichte des Feminismus nicht übersehen werden sollte.

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Johann Pezzl Faustin oder das philosophische Jahrhundert (1783)

I.

Zugegeben, auch in jenem in Hunderte autonomer und halbautonomer Territorien zersplitterten Monstrum, das sich weiterhin als das Heilige Römische Reich Deutscher Nation verstand, war in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts – in Anlehnung an englische und französische Autoren wie John Locke, David Hume, Jean-Jacques Rousseau, Voltaire und Denis Diderot – manchmal von »Aufklärung« die Rede. Aber selbst das gilt lediglich für einige protestantische Gebiete, während in den katho­ lischen Ländern dieses Reichs meist ein autokratischer Absolutismus herrschte, der jede Regung zu einer auf größere Geistesfreiheit drängenden Gesinnung von vornherein gnadenlos unterdrückte. Ja, selbst in den protestan­tischen Staaten blieb die Zahl derer, die sich zu Konzepten wie religiöser Toleranz, allgemeinen Menschenrechten oder gar individueller Freiheit bekannten, relativ gering. Nach damaligen Schätzungen gehörten dazu kaum mehr als rund 20.000 mit einer höheren Bildung versehene Stadtbürger und Mitglieder des niederen Adels, die es sich wie Gotthold Ephraim Lessing und Immanuel Kant aufgrund finanziell abgesicherter Berufe leisten konnten, sogar in der Öffentlichkeit freimütige Meinungen zu vertreten. Die überwältigende Mehrheit der Bauern sowie der unteren Schichten der städtischen Handwerker und Bediensteten blieb jedoch weiterhin in ihrer herkömmlichen Untertanenmentalität befangen. Selbst die sich zum Teil als »aufgeklärt« ausgebenden Monarchen in protestantischen Ländern wie Preußen, Sachsen oder Württemberg nahmen von den in ihren Staaten sich zu Wort meldenden Aufklärern kaum Notiz. Sogar Friedrich II. von Preußen, der sich gern als »der erste Diener seines Staates« bezeichnete, in dem »Jeder nach seiner Façon selig werden dürfe«, und daher von vielen nach Anerkennung lechzenden bürgerlichen Aufklärern als der »Einzige« gepriesen wurde, fand die Schriften dieser Autoren belanglos, ja verwarf die gesamte damalige deutschsprachige Literatur als unbedeutend. Noch viel rückständiger sah es, wie gesagt, in diesem Zeitraum in katholischen Ländern wie Österreich, Bayern sowie den zahlreichen Bistümern aus, wo sich weder im Bereich der Philosophie noch der Literatur ein aufgeklärtes Schrifttum entwickelte. Hier blieb es kulturell bei einer »barock« wirkenden Machtdemonstration innerhalb der Schloss- und Kirchenarchitektur sowie einer höfischen oder religiösen Musikbetriebsamkeit in Form italienischer Opern und gewaltig ausladender Messen. Ja, in manchen mönchisch überformten Bereichen wurde der Gebrauch des 31

Johann Pezzl

Hochdeutschen, der auf Martin Luthers Bibelübersetzung zurückging, die weiterhin als des »Teufels Gebetsbuch« diffamiert wurde, noch als staatsgefährdend hingestellt. Lediglich in Österreich kam es in diesen Teilen des Heiligen Römischen Reichs nach dem Tod der altkatholisch eingestellten Kaiserin Maria Theresia im Jahr 1780, in dem ihr ältester, mit dem Gedankengut der Aufklärung sympathisierender Sohn als Joseph II. den Thron bestieg, zum Durchbruch einer kurzlebigen Reformgesinnung, für die sich später Begriffe wie »Josephinismus« oder »Tauwetter in Wien« einbürgerten.1 Anlass dazu gaben vor allem jene Erlasse, Patente und Edikte, die Joseph II. in seiner relativ kurzen Regierungszeit von 1780 bis 1790 gegen den Widerstand des Klerus und des Adels durchzusetzen versuchte. Wohl am nachdrücklichsten waren seine Reformen im Bereich des Kirchenwesens. So erließ Joseph schon 1781 ein Toleranzedikt, das auch Protestanten und Juden erlaubte, ihren Glauben öffentlich auszuüben. Außerdem löste er 700 Klöster auf, die keine Krankenpflege, Schulen oder anderen sozialen Aktivitäten betrieben, und schaffte viele Wallfahrten, Prozessionen sowie andere religiöse Feiertage und Kirchenfeste ab, um so die Zahl der Arbeitstage zu erhöhen. In sozialer Hinsicht setzte er sich für die Aufhebung der Leibeigenschaft ein, verbot die Todesstrafe und ließ Schulen, Hospitale, Waisen- und Armenhäuser bauen. Ebenso entschieden trat er für den Gebrauch des Hochdeutschen als Staatssprache ein, versuchte das Deutschsprachige sogar im Theater- und Opernwesen einzuführen, hob die allzu strengen Zensurgesetze auf und unterstützte die freisinnige Freimaurerbewegung. Mit Hilfe aufgeklärter Staatsbeamter wie Ignaz von Born, Joseph von Sonnenfels und Gottfried van Swieten versuchte er so unter dem Motto »Alles für das Volk« einen Staat zu schaffen, in dem nicht mehr die »päpstlich« orientierten Kirchenfürsten und Klostervorsteher sowie die mit weitreichenden Machtbefugnissen ausgestatteten Adelsherren das alleinige Sagen hätten, sondern Recht und allgemeine Wohlfahrt herrschen würden. Wie zu erwarten beflügelte all das eine schnell anwachsende Zahl ihm folgender aufgeklärt argumentierender Philosophen, Literaten, Romanschriftsteller und Broschürenschreiber, allen voran Johann Alois Blumauer, Joseph Valentin Eybl, Leopold Aloys Hoffmann und Johann Pezzl, sich im Zuge der erweiterten Pressefreiheit in ihren Schriften für die von Joseph II. im stockkatholischen Österreich in Gang gebrachten Reformen einzusetzen. Fassen wir im Folgenden vor allem Johann Pezzl ins Auge, der sich dabei – solange Joseph II. die Staatsgeschäfte führte – als einer der Radikalsten erwies.

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Faustin oder das philosophische Jahrhundert (1783)

II.

Über Pezzls Lebensverhältnisse ist wenig bekannt. Wir wissen lediglich, dass er 1756 in Mollersdorf in Niederbayern geboren wurde, in Salzburg Jura studierte, dann ab 1782 in der Schweiz lebte und 1785 nach Wien übersiedelte, wo er die Stelle eines Sekretärs beim Staatskanzler Wenzel Anton von Kaunitz übernahm.2 Schon seine 1780 anonym erschienenen dreibändigen Briefe aus dem Novizitat belegen eindeutig, dass er von Anfang an willig war, sich in den Dienst der antipäpstlichen Propaganda zu stellen, und selbst eine »gerichtliche Untersuchung« nicht scheute.3 Bereits in der Vorrede zum ersten Band dieser Briefe, in denen es um das Schicksal eines jungen Novizen geht, den sein Vater gegen seinen Willen in ein bayerisches Kloster gesteckt hat, heißt es höchst unverblümt: »Wir haben das Unglück in einem Lande gebohren zu seyn, wo man trotz aller Aufklärung der Nachbarn, trotz aller eifrigen Bemühungen Vernunft und gesunde Denkungsart unter unsre Landsleute zu bringen, noch immer mehr sich glücklich schätzt, wenn man seinen Sohn zum Geistlichen, als zum geschicktesten Beamten, zum besten Bürger und Hausvater machen kann. Bringt man ihn gar in ein Kloster, dann sind alle Wünsche erfüllt.«4 Alles, was darauf folgt, sollen »wahre und authentische Nachrichten« aus dem Mönchsleben sein,5 in dem ein »Freygebohrener« von bayerischen Benediktinern zum »elenden Sklaven« erniedrigt wird.6 Den Hauptnachdruck legte Pezzl dabei auf die Schilderung, mit welchen Maßnahmen man die jungen Novizen den unbarmherzigen Klosterregeln des Gehorsams, der Untertänigkeit, der absoluten Askese und der ewigen Beterei, kurzum der »Mortifikation« ihres Geistes und ihrer fünf Sinne unterwarf, um sie so in den erwünschten Zustand der »dumpfen Fühllosigkeit« und »gedankenlosen Leere der Seele« zu versetzen.7 Um diese »Leugnung des eigenen Urteils« sogar noch zu verstärken, sei ihnen eingebläut worden, in sogenannten Aufklärern wie Alexander Pope, Helvetius, Jean-Jacques Rousseau und Voltaire lediglich verächtliche Satansbrüder zu sehen. Selbst das Verbot des Jesuitenordens, erklärte Pezzl danach, habe in Bayern an diesem mönchischen Unwesen nicht viel geändert. Noch immer existierten dort 142 Klöster mit insgesamt 3692 Mönchen und Nonnen, denen man weiterhin ausschließlich Gehorsam und geistige Verarmung predige, ja alle Nichtnonnen als »Pforten des Teufels« brandmarke, während sich in Österreich, wie es im dritten Band heißt, durch den »Orden der Freymäurer« bereits eine gewisse Geistesfreiheit auszubreiten beginne.8 Doch den entscheidenden Durchbruch in eine breitere Öffentlichkeit erzielte Pezzl erst mit seinem 1783 erschienenen Roman Faustin oder das philosophische Jahrhundert, der vier Auflagen erlebte.9 Wohlvertraut mit der französischen Aufklärungsliteratur lehnte er sich in ihm bewusst an Voltaires berühmte Erzählung Candide ou l’optimisme von 1759 an, in der es wie in Pezzls Briefen aus dem Novizitat neben der durchgängigen Adelskritik auch um einen Angriff auf die intolerante, herrsch33

Johann Pezzl

süchtige Geistlichkeit gegangen war. Voltaires Romanheld Candide ist ein Candidus, das heißt ein naiver Reiner oder Weißer,10 der sich von seinem Lehrer Pangloss bereden lässt, à la Gottfried Wilhelm Leibniz in seinen Lebensumständen die »bestmögliche aller Welten« zu sehen,11 aber im Laufe seines Lebens lediglich ein Missgeschick nach dem anderen erfährt. Erst wird er unter die Soldaten gepresst, muss Spießruten laufen, entkommt mit Mühe dem Erdbeben von Lissabon, wird vor ein Inquisitionsgericht gestellt, muss an einer Judenverbrennung teilnehmen, erlebt in Südamerika die grausame Herrschaft der Jesuiten, wird all seiner Habe beraubt, sieht in Surinam die unmenschliche Behandlung der schwarzafrikanischen Sklaven, wird aus Paris vertrieben, muss selbst aus England fliehen – kurzum, erlebt die Welt als einen unbarmherzigen Schauplatz des Elends und nicht als die »bestmögliche« aller Daseinsformen, wie ihm sein optimistisch gestimmter Präzeptor Pangloss versprochen hatte, worauf er sich aus dem gesellschaftlichen Getriebe zurückzieht und sich damit begnügt, seinen Garten in Ordnung zu halten. Fast alle diese Ereignisse finden sich auch in Pezzls Roman Faustin, nur dass die Schlussfolgerung daraus nicht ins Resignative, sondern ins Optimistische zielt. Dementsprechend heißt es schon in der Vorrede, dass es im Folgenden vor allem um »die letzten konvulsivischen Bewegungen des sterbenden Aberglaubens, Fanatismus, Pfaffenbetrugs, Despotendrucks und Verfolgungsgeistes« gehen soll, in welchen das bisherige Herrschaftssystem »durch große und kleine Feinde der Aufklärung unterstützt, seine sinkende Wuth zeigt«, indem es »die Hefen seines schändlichen Giftes von sich speit, ehe es der Philosophie und dem Rechte der Menschheit die Siegeskrone überläßt.«12 Daher wirkt dieser Roman streckenweise wie eine Spottkanonade auf jene »hartköpfigen und schwachköpfigen Männer, die sich nicht schämen, der emporstrebenden Menschheit Fesseln anzulegen und Sand in die Augen zu werfen«, oder die wie viele der damaligen Autoren vor den unübersehbaren Missständen des weiterhin bedrückenden Gesellschaftssystems einfach die Augen schließen und in ihren Romanen lediglich der »Unterhaltung«, wenn nicht gar der religiösen »Erbauung« dienen wollen (3 f.). III.

Doch nun zu der Handlung selbst. Wie Candide wächst auch Faustin im bigottrückständigen Heiligen Römischen Reich auf, der eine im westfälischen Thunderten-Tronckh, der andere im Herzogtum Bayern, »nicht fern der fetten Abtey Wansthausen«, wo – ungeachtet aller wichtigen Zeitfragen – fast ausschließlich höchst »gelahrt« über »Sozianismus, Arianismus, Pelagianismus, Semipelagianismus und Kryptopelagianismus« diskutiert werde (5, 8). Allerdings hat Faustin das Glück, dass ihm in der Dorfschule der aufgeklärte Pater Bonifaz, der wie Voltaires Pangloss ein 34

Faustin oder das philosophische Jahrhundert (1783)

unbeirrbarer Optimist ist, nicht nur Französisch und Latein beibringt, sondern ihn auch mit den Lehren der Aufklärung, also der »Erleuchtung des Menschengeschlechts, Toleranz und politischer Thätigkeit« vertraut macht (9). Bonifaz glaubt fest daran, dass mit »Voltär« in den vierziger Jahren des 18. Jahrhunderts das »wahre philosophische Zeitalter« angebrochen sei, und ereifert sich daher unentwegt über jene Resterscheinungen von »Aberglauben, Barbarei, Fanatismus, Dummheit und Schikane«, die bereits unzeitgemäß geworden seien (12). Der naiv gläubige Faustin nimmt all das für »vollwichtige Münze« und will fortan auch »sein eigenes Schärflein« zur Beseitigung der Relikte einer noch im Mittelalter verharrenden Geistesdumpfheit beitragen (13). Doch schon bei seinem ersten Eintritt in die realexistierende Welt muss er erfahren, wie rückständig die gesellschaftlichen Verhältnisse auf dem Lande noch sind. Als die stockkatholischen Bauern herausbekommen, dass er als Aufklärer ein »Lutheraner« oder gar ein »Atheist und damit Indifferentist« sein könnte, schlagen sie ihn einfach zu Boden (15, 19). Ja, als sie im Haus von Bonifaz »Bücher von Voltär, Helvetius, Montesquieu sowie die Enzyklopädie« finden, verbrennen sie diese kurzerhand, um sich damit aller »Bibeln des Beelzebubs« zu entledigen, worauf Faustin nach München flieht, da er sich dort eine größere Geistesfreiheit erhofft. Doch das erweist sich als höchst trügerisch. Auch hier herrscht, wie er erfahren muss, selbst unter den Stadtbürgern der gleiche religiöse Aberglauben wie auf den Dörfern. Was ihn besonders abstößt, ist das ständige Gerede über den »großen« Johann Joseph Gaßner, einen Wundertäter in Ellwangen,13 der alle ihn aufsuchenden Gebrechlichen »bezaubert, besalbt, bekreuzt, beweihwassert und beexorziert« und damit scheinbar von ihren Leiden erlöst (28). Um sich von diesen angeblichen Wunderheilungen zu überzeugen, begibt sich darauf auch Faustin nach Ellwangen, wo jedoch Gaßner einer Besessenen den Befehl erteilt, ihn zum Teufel zu jagen. Er eilt darauf wieder schnell nach München zurück, immer noch hoffend, dort aufgeklärte Menschen zu treffen. Doch auch hier trifft er abermals fast nur auf Obskuranten, die es richtig finden, dass die Ungläubigen weiterhin gerädert, gevierteilt oder gehängt werden. Um den dahinterstehenden Vertretern der hohen Geistlichkeit zu entgehen, flieht Faustin darauf in das als republikanisch geltende Venedig, muss aber auch in dieser Stadt erfahren, dass selbst dort die Mächtigen und der Pöbel weiterhin unaufgeklärt sind und ihm aus dem Wege gehen. Noch abstoßender findet er Rom, wo aufgrund der »katholischen Propaganda« ebenfalls ein »ausschweifender Fanatismus« herrscht, wo man die Freimaurer ins Zuchthaus steckt, wo jedes Jahr 4000 Knaben kastriert werden, wo der Papst aus den auf ihn hörenden Ländern »unendliche Geldsummen« erpresst, mit anderen Worten, wo es keine »Selbstdenker« gibt, sondern in allen gesellschaftlichen Bereichen der »Nebel der Ignoranz« dominiert (47–60). 35

Johann Pezzl

Abb. 7  Johann Joseph Gaßner (um 1777)

Wie Candide weiterhin hoffnungsvoll, schifft sich Faustin darauf nach Spanien ein, weil es dort angeblich aufgeklärter zugehen soll. Und das scheint sich zu Anfang auch zu bewahrheiten. Schließlich trifft er dort auf eine Gruppe deutscher, sich den heimischen »Pfaffenverfolgungen und Beamtenvexazionen« entziehender Auswanderer, denen man in der Sierra Morena weiträumige Siedlungsgebiete versprochen hat, wo es »keine Intoleranz, keinen Religionshass, keine katholischen Idioten und keine Exjesuiten« geben soll (74). Hier scheint man also auf die Stimme des »großen Philosophen Voltär, den Aufklärer des Menschengeschlechts, der die Fackel der Philosophie und Toleranz in Europa aufsteckte«, tatsächlich zu hören (92). Doch auch das erweist sich als ein Trugschluss. Wer in diesem Land die Macht hat, wie Faustin erfahren muss, ist vor allem die heilige »Inquisizion«, die den Aufklärer Olavid, der die deutschen Auswanderer nach Spanien gelockt hatte, wegen seiner Bekanntschaft mit Rousseau und Voltaire vor ihr Gericht zieht, sein Vermögen konfisziert, ihn verprügeln lässt und schließlich in einem Kloster einkerkert. Und auch Faustin wird darauf »mit Ruthen bestrichen«, wie es heißt, und dann des Landes verwiesen. 36

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Voller Hoffnung, endlich aufgeklärte Menschen zu treffen, begibt er sich anschließend nach Frankreich, in das »Vaterland der schönen Geister« (109). Doch selbst diese Erwartung erweist sich als trügerisch. Auch hier stößt er letztlich auf den altgewohnten religiösen Aberglauben. Daher habe man selbst dem großen Voltaire nach seinem Tode ein »ehrliches Begräbnis« versagt und seinen Leichnam in einem »Mönchsnest in der Schampagne« verscharrt (139). Noch enttäuschter ist Faustin danach, wie zu erwarten, von den im Heiligen Römischen Reich herrschenden Verhältnissen. Vor allem in der Pfalz und den Rheinlanden, wo die intoleranten Bischöfe und Exjesuiten Luther und Calvin weiterhin als »Apostel des Satans« hinstellen und eine wahre Treibjagd auf alle »Reformierten« veranstalten, sei alles beim Alten geblieben. Dadurch sähen sich »tausende braver Leute« zur Auswanderung

Abb. 8  Faustin vor dem Gericht der spanischen Inquisition (1788) 37

Johann Pezzl

gezwungen (152). Und wer von diesen »Evangelisten« nicht das Land verlasse, werde in trunkenem Zustand gegen seinen Willen in den Soldatenstand gepresst, unbarmherzig malträtiert und danach ein Opfer des »unmenschlichen, schändlichen Menschenverkaufs« (183). Und dieses Schicksal muss auch der brave Faustin erleiden. Er wird zum Wehrdienst verpflichtet, für einige »lumpige Guineen« an die Briten verkauft und dann nach Amerika verschifft. Naiv, wie er ist, hofft er weiterhin, wenigstens bei den Engländern, dieser »philosophischsten aller Nazionen«, und den »freundlichen Quakern in Philadelphia« ihm verwandte Geister anzutreffen (188). Als er daher in England eintrifft, glaubt er in einem »prächtigen Grabmal« ein »Monument eines großen Philosophen, eines Locke, Schaftesbury, Bolangbroke oder so eines Sterns der ersten Größe am Himmel der Tiefdenker« zu erblicken, muss aber zu seiner Enttäuschung erfahren, dass es sich dabei nur um das Erinnerungsmonument für einen Apfelschimmel des dortigen Herzogs handelt (191). Und auch die Briten, auf die er in Jamaika und Guinea trifft, erweisen sich zumeist als antihumanistische Herrennaturen, die mit »abscheulicher Grausamkeit« dem Sklavenhandel frönen. Sie behandeln die afrikanischen Sklaven wie »schwarze Hunde«, werfen deren Kinder »den Hayfischen zum Fraße vor«, peitschen sie aus, lynchen sie oder knüpfen sie an Bäumen auf – und »schlürfen dann behaglich ihren Kaffee und schmauchen ein Pfeifchen dazu, ohne sich an die schwarzen Wichte zu erinnern, die ihnen mit Aufopferung ihres Schweisses und Blutes den Gaumen und die Nase kitzeln müssen« (200–208). Zutiefst empört über diese Inhumanität schifft sich Faustin nach Philadelphia ein, wo er einige Deutsche trifft, die durch »Vorspiegelungen von einem Schlaraffenlande geäfft« nach Pennsylvanien gekommen waren, aber sich wegen der nichtbezahlten Frachtschulden in die Fron der »nächsten beßten Herren« begeben mussten (212). Unter diesen Erbarmenswerten begegnet Faustin auch seinem alten Lehrer Bonifaz wieder, den er loskauft und sich dann mit ihm zur Rückkehr nach Deutschland entschließt, da beide immer noch hoffen, dass es wenigstens in diesem Land einige »wackre Männer groß und klein« geben müsse, mit deren Unterstützung sich »das große Werk der Erlösung aus den Ketten des Aberglaubens und der Intoleranz« vollbringen lasse (216). Allerdings wollen sie sich nicht in eine der »katholischen Provinzen« begeben, wo weiterhin die »Idioten« das Sagen hätten, sondern lieber Berlin aufsuchen, wo, wie sie gehört haben, eine größere Geistesfreiheit zu herrschen scheint. Auf ihrer Rückreise machen sie zunächst in London Station, das lange Zeit als »die sicherste und heilige Zufluchtsstätte der im übrigen Europa verfolgten Philosophen und Aufklärer« galt, wohin selbst »unser großer Voltär flüchtete, da ihn Parlament und Sorbonne aus Frankreich verscheuchten« (219). Ja, dort habe man inzwischen bedeutenden Aufklärern, wie Francis Bacon, Isaac Newton, Richard 38

Faustin oder das philosophische Jahrhundert (1783)

Steele, Joseph Addison, John Locke, Jonathan Swift und Henry Bolingbroke, die ehrenwertesten Grabstätten errichtet. Dennoch erleben Faustin und Bonifaz auch hier, wie intolerant der Pöbel selbst in diesem Land immer noch ist. Als Lord George Savile, der 1. Marquess of Halifax, durch einen Parlamentsakt versucht, auch den Katholiken die gleichen Rechte und Freiheiten wie den Protestanten zu gewähren, stecken die vom »Dämon des Fanatismus« ergriffenen anglikanischen Rotten die Häuser der »Papisten« kurz entschlossen in Brand, vertreiben ihre Bewohner und versetzen dem guten Bonifaz, der sich ihnen entgegenzustellen versucht, mit einem Flintenkolben einen so gewaltigen Schlag auf den Kopf, dass er tot zu Boden fällt. Darauf begibt sich Faustin, noch immer auf einen Sieg der Toleranz hoffend, so schnell er kann nach Hamburg. Doch auch hier begegnet er wiederum in der Gestalt des Hauptpastors Johann Melchior Götze wiederum einem Vertreter der unbarmherzigsten Rückständigkeit, der unentwegt gegen »alle Katholiken, gegen die Reformierten, gegen das Theater, gegen Lessing, gegen Campes ErziehungsInstitut und gegen alles, was nicht Gözisch« ist, zornerfüllte Predigten hält, in denen der »Dämon der Verfolgung« herrscht, der »sein schändliches Gift über alle Menschen bläst« (233). Faustin verlässt daher umgehend Hamburg und eilt nach Berlin, wo jener Friedrich II. regiert, der als »gekrönter Philosoph«, wie ihm erzählt wird, die Parole ausgegeben habe: »Bei mir kann Jeder glauben, was er will, wann er nur ehrlich ist« (237). Hier erlebt Faustin daher erstmals die »wohltätigen Folgen einer philosophischen Denkungsart und den freundschaftlichen Hauch einer uneingeschränkten Toleranz«, die ihn zutiefst beglücken (235). Und damit mündet das Ganze, das sich streckenweise wie eine deutsche Version des Voltaire’schen Candide liest, in die hoffnungsvolle Zuversicht, dass es vielleicht doch zu einem Sieg der aufklärerischen Toleranzideen kommen könne. Während bei Voltaire – nach all den von ihm aufgezählten Gräueltaten – gegen Schluss eindeutig die Resignation überwiegt, bricht bei Pezzl – nach den gleichen oder ähnlichen Gräueltaten – gegen Schluss plötzlich die fast unglaublich wirkende Hoffnung durch, am Anfang eines aufgeklärten Zeitalters zu stehen. Auf den letzten Seiten seines Faustin wird das dann noch durch eine Eloge auf Joseph II., den »Allgeliebten«, verstärkt, der seit seiner Thronbesteigung im Jahr 1780 »durch Theater und Gesetze zu verwirklichen suche, was man bisher nur für süsse liebliche Träume, für fromme theoretische Wünsche guter deutscher Patrioten gehalten hatte« (245). Gleichsam zum Beleg weist Pezzl anschließend noch höchst detailliert darauf hin, was dieser Kaiser bereits zur »Erleuchtung, Beförderung der Toleranz und Umschaffung der Nazional-Denkart« unternommen habe (277). Dazu gehörten vor allem die von ihm verfügte Abschaffung der Bücherzensur, die Aufhebung vieler geistlicher Feiertage, die Verstopfung der Geldkanäle nach Rom, das religiöse Toleranzedikt, die Judenbefreiung, die Aufhebung der Leibeigenschaft, die Ver39

Johann Pezzl

Abb. 9  Wilhelm Camphausen: Kaiser Joseph II. und Staatskanzler Wenzel Anton von Kaunitz (1860)

besserung der Schulinstitute, die Reinigung des Justizwesens sowie die Anwendung des Kirchenreichtums zur Unterstützung der Armen und Kranken. All das habe, wie es im Folgenden heißt, zu einem »schöpferischen Umschwung der ehedem finstern und eingeschränkten Denkart des Wiener Publikums« beigetragen (282). Faustin entscheidet sich deshalb, seine »übrigen Tage in der angenehmen Kaiserstadt zu verleben«, wo sich viele »aufgeklärte Köpfe an den Werken der Natur und der Kunst« erfreuten und ein »sich über alle Stände verbreitender Geist der sich mittheilenden Lebensfreude« herrsche (284). Daher beschloss Pezzl seinen FaustinRoman mit dem geradezu utopisch klingenden Bekenntnis, dass es »unter Josephs Regierung« sicher zu einem »allgemeinen Sieg der Vernunft« kommen werde, auf den man in »unserem philosophischen Jahrhundert« lange genug gewartet habe (284). Obwohl sich im Laufe der achtziger Jahre eine Reihe dieser Erwartungen in Wien aufgrund des Widerstands des Klerus, der neu aufflammenden Türkenkriege und der weiterhin bestehenden Unaufgeklärtheit der unteren Bevölkerungsschichten nicht durchsetzen ließ, hielt Pezzl bis zum Tod Josephs II. an seiner Utopie eines aufgeklärten Absolutismus so nachdrücklich wie möglich fest und veröffentlichte 1790 kurz vor Josephs Ableben noch eine Charakteristik Josephs des Zweyten, in der 40

Faustin oder das philosophische Jahrhundert (1783)

er noch einmal neben einer relativ ausführlichen Biographie dieses Monarchen auf dessen Reformbemühungen einging. Doch nach der Machtübernahme von Franz II. im Jahr 1792, der im Gegenzug zu der Begeisterungswelle, welche der Anbruch der Französischen Revolution auch unter den aufgeklärten Köpfen in Wien hervorgerufen hatte, fast alle josephinischen Reformen wieder rückgängig machte, ja zu drakonischen Unterdrückungsmaßnahmen griff,14 gab sich Pezzl allmählich einer candidischen Resignation hin. Wie die in den frühen neunziger Jahren rebellisch auftretenden deutschen Jakobiner musste schließlich auch er erkennen, dass das so sehnlichst erhoffte »philosophische Jahrhundert« der Toleranz und allgemeinen Menschenliebe selbst in Österreich eine kurzlebige Episode geblieben war.

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Wilhelm Friedrich Meyern Dya-Na-Sore oder die Wanderer. Eine Geschichte aus dem Sams-kritt übersetzt (1787/91)

I.

Um nicht von vornherein mit den staatlichen Zensurbehörden in Konflikt zu geraten, sahen sich im späten 18. Jahrhundert alle Autoren, die sich im Zuge der Aufklärung selbst im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation mit reformistischen oder gar revolutionären Ideen gegen den Autokratismus der monarchischen Ordnung des Ancien Régime aufzulehnen versuchten, zu folgenden Taktiken gezwungen, nämlich ihre Essays, Traktate, Dramen oder Romane entweder anonym herauszubringen, mit fiktiven Erscheinungsorten zu versehen, ins abstrakt klingende Philosophische auszuweichen oder den Handlungsverlauf ihrer literarischen Werke in fremde, weit entfernt liegende Länder zu verlegen, um so irgendwelche brisant wirkenden Anspielungen auf die gesellschaftlichen Missstände in ihren eigenen Staaten zu verschleiern. Das gelang ihnen auch meist, da es aufgrund des in Hunderte von relativ autonomen oder halbautonomen Territorien aufgesplitterten Heiligen Römischen Reichs noch kein zentrales Überwachungssystem gab. Und diese Taktiken hatten auch den gewünschten Erfolg. Vor allem in der Vorbereitungsphase der Französischen Revolution und dann nach dem Ausbruch dieser Revolution, die manche der deutschen Autoren in der Hoffnung beflügelte, dass die dort erfolgenden Umbrüche auch in ihren Staaten zu einem revolutionären Gesinnungsumschwung führen könnten, erschien daher in diesem Zeitraum eine Reihe politisch höchst bedeutsamer Unmutserklärungen. Da jedoch die Anzahl derer, die sich tatsächlich für derartige Vorstellungen einzusetzen versuchten, wegen der heillosen Uneinheitlichkeit des Heiligen Römischen Reichs, dem es im Gegensatz zu Frankreich an einem Zentrum wie Paris mangelte, relativ klein blieb, sahen sich – außer einigen ins Realpolitische drängenden deutschen Jakobinern – die meisten dieser Autoren gezwungen, entweder ins Reformistische oder ins Utopische auszuweichen, um damit wenigstens ihren von Immanuel Kant mehrfach geforderten »guten Willen« zu bekunden oder sich Geheimbünden wie den Freimaurern und Illuminaten anzuschließen, um wenigstens im gesellschaftlichen Untergrund an ihren reformistischen oder revolutionären Gesinnungen festhalten zu können, wenn nicht gar darauf zu hoffen, dass ihnen eines »schönen Tages«, wie es in vielen Utopien heißt, doch die Möglichkeit geboten würde, einen zunehmenden Einfluss auf die noch unaufgeklärten und daher weiterhin in der althergebrachten Untertanenmentalität verharrenden breiten Massen ausüben zu können.1 42

Dya-Na-Sore oder die Wanderer (1787/91)

Neben den im Gefolge Jean-Jacques Rousseaus in ferne Länder verlegten Naturutopien à la Carl Ignaz Geiger oder Georg Friedrich Rebmann führte das auch zu einer Reihe sogenannter Geheimbundromane, in denen sich eine Gruppe, eine Loge, ein Bund, eine Gesellschaft oder ein Orden der Aufgabe widmet, sich mit reformistischer Gesinnung für eine Verbesserung der nach wie vor rückständigen gesellschaftlichen Verhältnisse einzusetzen. Und zwar lehnten sich diese Autoren dabei meist an die in der Mitte des 18. Jahrhunderts in England entstandene Freimaurerbewegung an, die sich zwei bis drei Jahrzehnte später auch in einigen deutschen Staaten ausbreitete. Für ihre oft ins Mysterienhafte übergehenden Geheimlehren bildete dabei anfangs das dreibändige Werk The Divine Legation of Moses, on the Principles of a Religious Deist (1738/41) von William Warburton die erwünschte Anregung, das Johann Christian Schmidt 1751 unter dem Titel Göttliche Sendung Mosis. Aus den Grundsätzen eines Deisten bewiesen ins Deutsche übersetzte und dessen Thesen dann 1776 durch das Buch Über die Mysterien der Alten von Christoph Meiners zwischen 1780 und 1800 zu einer wahren Flut freimaurerischer Schriften führte, von denen auch die Geheimbundromane dieses Zeitraums beeinflusst wurden.2 Was die Freimaurer und Illuminaten an diesen Büchern am meisten interessierte, war vor allem die These, dass die Bemühungen der Vertreter esoterischer Mysterienkulte – im Gegensatz zu den in grauer Vorzeit in ungezügelter Urgemeinschaft lebenden Menschen – durch ihre Betonung eines gemeinschaftlichen Sozialverhaltens zu den ersten Staatsgründungen geführt hätten, in denen nicht mehr die brutale Durchsetzungskraft des Einzelnen oder einer bestimmten Sippe, sondern die Verantwortung für das »Ganze« ausschlaggebend gewesen sei. Im Hinblick auf diesen Wandlungsprozess betrachteten sich deshalb die Freimaurer durchaus »als Erben der alten Mysterien«,3 mit denen auch sie die unter der Herrschaft autokratischer Despoten ins Willkürliche, wenn nicht gar Anarchische verkommenen Gesellschaftsverhältnisse ihrer eigenen Zeit wieder in staatlich geordnete Zustände umzuwandeln versuchten. Eins der besten Beispiele in dieser Hinsicht war zeitweilig die Wiener »Loge zur wahren Eintracht«, die sich zwischen 1784 und 1789 im Zuge der josephinischen Reformen für eine verstärkte Sozialfürsorge, eine Höherbildung der unteren Volksklassen sowie eine deistische Auffassung der Religion einsetzte, was sich – ideologisch gesehen – noch in Wolfgang Amadeus Mozarts Freimaureroper Die Zauberflöte (1791) widerspiegelt. Die gleichen oder ähnlichen Gesinnungen herrschten, wie gesagt, auch in vielen der zur gleichen Zeit erscheinenden Geheimbundromane, wofür vor allem Werke wie Andreas Hartknopf (1786) von Karl Philipp Moritz, Der Geisterseher (1788) von Friedrich Schiller, Geheime Geschichte des Philosophen Peregrinus Proteus (1791) von Christoph Martin Wieland, Die unsichtbare Loge (1793) und Hesperus (1795) von Jean Paul, Geschichte des Herrn William Lovell (1795) von Ludwig Tieck sowie Wil43

Wilhelm Friedrich Meyern

helm Meisters Lehrjahre (1795) von Johann Wolfgang Goethe sprechen, über die es bereits eine umfangreiche Sekundärliteratur gibt.4 Eins der frühesten Werke dieser Art, nämlich der dreibändige anonym herausgekommene Roman Dya-Na-Sore oder die Wanderer (1787/91), blieb dagegen in diesem Zusammenhang fast immer unerwähnt, obwohl auch er kurz nach seinem Erscheinen von aufklärerisch eingestellten Lesern durchaus beachtet wurde und sogar vor einigen Jahrzehnten in zwei sich diametral widersprechenden Deutungen eine gewisse Beachtung fand5 und neu aufgelegt werden konnte.6 All das macht neugierig, worum es in diesem obskuren, sich über 1638 Seiten erstreckenden Roman wirklich geht. Dass sein Autor ein gewisser Wilhelm Fried-

Abb. 10  Wilhelm Friedrich Meyern (um 1800) 44

Dya-Na-Sore oder die Wanderer (1787/91)

rich Meyern war, wissen wir inzwischen. Doch über dessen Lebenslauf und seine ideologischen Anschauungen ist weiterhin wenig bekannt.7 Ja, ist dieses ungefügige Werk wirklich ein Geheimbundroman oder gar eine Utopie im Sinne der damaligen Freimaurer, die es ernst zu nehmen gilt, oder ist das Ganze lediglich ein weltanschaulich unverbindliches Elaborat, mit dem sein Autor durch den mysteriös klingenden Titel Dya-Na-Sore vornehmlich neugierig gewordene Leser anzulocken versuchte? Auf diese Frage soll im Folgenden etwas näher eingegangen werden. II.

Beginnen wir mit der Frage: Wer war eigentlich dieser Wilhelm Friedrich M ­ eyern? Dahinter verbirgt sich ein Friedrich Wilhelm Meyer, der am 26. Januar 1759 in Frauental bei Creglingen geboren wurde und in gutbürgerlichen Verhältnissen aufwuchs.8 Um 1780 studierte er in Altdorf Jurisprudenz, schloss sich dort dem »Bund der Schwarzen Brüder«, einer freiheitlich gesinnten studentischen Geheimorganisation, an und diente dann von 1783 bis 1786 als Freiwilliger in der österreichischen Armee. In den folgenden Jahren lebte er ohne einen eigentlichen Beruf in Wien und dann in Prag, wo er Mitglied der Freimaurerloge »Wahrheit und Einigkeit« wurde. 1787 brachte er das in Anlehnung an Charles-Louis de Montesquieus Lettres persanes (1721) geschriebene Buch Abdul Erzerums neue persische Briefe heraus,9 in dem er im Sinne der ideologischen Forderungen der Freimaurer eine scharfe, wenn auch indirekte Kritik an den sozialen, moralischen und juristischen Missständen im damaligen Heiligen Römischen Reich übte, die jedoch weitgehend unbeachtet blieb. Von 1787 bis 1791 erschien dann – ebenfalls anonym – in drei Bänden sein Hauptwerk, der Roman Dya-Na-Sore oder die Wanderer. Eine Geschichte aus dem Sams-kritt übersetzt, der, wie gesagt, in der Öffentlichkeit durchaus Aufsehen erregte und bis 1800 in mehreren Neuauflagen erscheinen konnte. In ihm geht es – höchst verkürzt gesehen – um den Versuch der Umstrukturierung eines irgendwo im fernen Osten angesiedelten Lands aus einem absolutistisch regierten Herrschaftsbereich in einen konstitutionellen Rechtsstaat, dem der Contrat social ou principes du droit politique (1762) von Jean-Jacques Rousseau zugrunde zu liegen scheint. Und zwar griff Meyern dabei sowohl auf seine Erfahrungen in der Freimaurerloge »Wahrheit und Einigkeit« als auch auf seine Dienstjahre in der österreichischen Armee zurück, was zum Teil zu einer kaum aufgehobenen Diskrepanz zwischen dem friedlichen, von mysteriösen Gefühlsaufwallungen inspirierten Wirken der von ihm dargestellten Bundesbrüder einerseits und einer Verherrlichung heldenmütigen Kriegertums andererseits führt, die auf den ersten Blick unstimmig erscheint und nach der Wiederentdeckung dieses Romans höchst gegensätzliche Bewertungen ausgelöst hat. Während es Arno Schmidt in seiner Interpretation aus dem Jahr 1958 vor 45

Wilhelm Friedrich Meyern

allem darum ging, die Verklärung des sich in kriegerischen Aktionen bewährenden Heldentums, die im dritten Band dieses Werks eine zentrale Rolle spielt, lediglich als eine über die Zeiten hinausgreifende Vorahnung des späteren Nazifaschismus hinzustellen,10 legte Wolfgang Harich kurz darauf den Hauptakzent vornehmlich auf die republikanische Gesinnung des Ganzen, deren Einfluss sich vor allem in Jean Pauls »Revolutionsdichtung« Hesperus nachweisen lasse.11 Ob dieser Widerspruch tatsächlich zutrifft und damit diesen höchst anspruchsvollen Roman als ein ideologisches Machwerk entlarvt oder ob sich nicht das Ganze – unter den damals gegebenen Zeitumständen – dennoch als eine ernst zu nehmende Utopie erweist, darauf soll in den folgenden Ausführungen zu den drei relativ verschiedenen und doch komplementär einander zugeordneten Bänden dieses Romans etwas näher eingegangen werden. III.

Beginnen wir mit dem ersten Band, der ursprünglich in einem asiatischen »Feenland« spielte und erst in späteren Auflagen politisch konkretisiert wurde. In ihm geht es vornehmlich um den jungen Dya, der sich von der Dürftigkeit der herrschenden Gesellschaftsverhältnisse abgestoßen fühlt, sein Vaterhaus verlässt und nach Tibet pilgert, um dort die »Überreste einer Nazion« zu finden, »die an Geist und Entwurf weit über das, was wir vermögen, erhaben zu sein scheint«.12 Statt sich der »Wohllust« hinzugeben, hofft er dort, sich im »traulichen Wirkungskreis geliebter Freunde« für die »wahre Sache des Lebens« einsetzen zu können (34), nämlich so mutig und uneigennützig wie möglich zu einem »Retter des Vaterlandes, einem Erneuerer der Freiheit, einem Rächer des Unrechts« heranzureifen (69) und sich damit über jene verächtlichen Menschen zu erheben, »die bei der Idee des Vaterlands lediglich lächeln«, kurzum, in einem Zustand verharren, »dem jeder Enthusiasmus, jede Aufopferung Unsinn, jede Liebe zur Freiheit Traum ist« (85). Während sich die meisten Menschen, heißt es darauf, als »geistlose wiederkäuende Thiere an der Kette« ohne eigenen Willen den »königlichen Launen« unterwürfen und sich in »abgestumpfter Kleinheit mit einem Leben der alltäglichen Genüsse« zufriedengäben, wollen Dya sowie seine tugendhaften Freunde Tibar und Hamar jeden »Eigennutz« überwinden, auf jeden herkömmlichen Besitz verzichten und als »Lehrer der Weisheit« vornehmlich das Wohl aller Menschen in einem idealeren Staat ins Auge fassen. Sie schließen deshalb mit unverbrüchlichen Eiden einen »Bund«, der jeder Form der Tyrannei entgegentreten will und sich unter Einsatz des eigenen Lebens um die »Freiheit des Volkes« zu bemühen versucht (86 f.). »Der allgemeine Wille«, erklären sie, müsse in Zukunft »die Ordnung des Ganzen« bestimmen, um so der »entarteten Menschheit«, die in »stumpfer Gleichgültigkeit« dahinvegetiere, 46

Dya-Na-Sore oder die Wanderer (1787/91)

wieder – nach dem Vorbild der »Alten« – einen neuen Gemeingeist einzuflößen (162). Und zwar sollen »bei dieser hohen Aufgabe«, heißt es im Folgenden, vor allem »Freundschaft und euer eigener Fleiss« im Vordergrund stehen (166). Denn nur so werde es möglich sein, die »Menschheit zu verbessern und Staaten zu gründen« (174), in denen keine »Entartung« mehr herrschen würde (225). Allerdings wird dabei keineswegs ausgeschlossen, dass zu einem solchen Um­wandlungsprozess nicht nur belehrende Mahnungen, sondern auch vereinzelte Hel­den­taten, wenn nicht gar kriegerische Auseinandersetzungen nötig sein werden, um so in der dumpf dahinvegetierenden Masse der Menschen wieder einen Sinn dafür zu wecken, weniger an ihr kleines Eigenglück zu denken, als sich ohne »Eigennutz« für das große Ganze zu begeistern (261). Deshalb entscheiden sich die betreffenden Bundesbrüder, nicht nur »im Stillen am Wohl ihres Staates zu arbeiten«, sondern auch in »grossen Unternehmungen« für diesen Umwandlungsprozess einzutreten (297). Statt sich darauf zu beschränken, lediglich »Tugend, Freundschaft, Mitleid, Wohltätigkeit und allgemeine Menschenliebe« zu lehren (301), wollen sie unter Missachtung aller zu Verweichlichung führenden Verlockungen »mit gleichem Willen, gleichem Muth zu einem Ziele vereinigt« zugleich so tatkräftig wie möglich »handeln« (315), um so die bestehenden »elenden Staaten der Gegenwart« endlich in wahre »Vaterländer« umzugestalten, wo sich jeder als ein Teil des Ganzen fühlen könne (477). Doch wie lässt sich ein solcher Traum eines »verschönerten Lebens unter Menschen in Freiheit und ewigem Frühling«, heißt es gleich zu Anfang des zweiten, im Jahr 1789 erschienenen Bands dieses Romans, unter den Bedingungen der weiter bestehenden Zustände des Ancien Régime tatsächlich verwirklichen, wo die überwältigende Mehrheit der Menschen nur an ihr eigenes Fortkommen, aber nicht an eine bessere Gesellschaftsordnung denkt (27)?13 Ja, »wer kann einen sinnlosen Haufen lieben«, fragt sich Dya bekümmert, »den man nur im einzeln zu kennen braucht, um alle Neigung für ihn zu verlieren« (17)? Ist nicht das »Urtheil des Volkes stets unsicher« und sein möglicher »Beifall« meist trügerisch (44)? Doch trotz dieser Einsicht geben Dya und seine Bundesbrüder nicht auf und hoffen nach wie vor auf eine Ära, in der ihre »Wünsche Wirklichkeit« werden könnten (85). Nachdem ihr Bund auf 300 Mitglieder angewachsen ist, beschließen sie auf einer ihrer regelmäßig abgehaltenen Versammlungen – angesichts der weiter bestehenden Unbelehrtheit der breiten Massen – vorerst lieber den langsamen Weg der Reformbemühungen einzuschlagen, als eine überstürzte Rebellion zu befürworten. Statt »in wilden Haufen gegen die Thore des Pallasts anzurennen«, entscheiden sie sich, im Hinblick auf den keineswegs aufgegebenen gesellschaftlichen Umwandlungsprozess erst einmal »unter dem Volke zu leben und zu versuchen, es in ihre Pläne einzuweihen« (173). Als das Hauptziel ihrer Bemühungen stellen sie dabei zu Anfang 47

Wilhelm Friedrich Meyern

ihrer ins Utopische zielenden Hoffnungen eine zunehmende Verfreiheitlichung der Gesamtbevölkerung hin, um alle Menschen aus ihrer familiären Enge zu erlösen und ihnen einen Sinn für das große Ganze einzutrichtern (101). Nur so, heißt es, könnten aus untertänigen, nur auf Besitz und Eigennutz bedachten Egoisten endlich altruistisch denkende Staatsbürger werden. Erst nachdem ihr Bund immer größer geworden ist, fassen deshalb seine Anhänger auf einer ihrer Hauptversammlungen, die fast an den gleichzeitig tagenden französischen Nationalkonvent erinnert, folgende wesentlich radikalere Maßnahmen ins Auge. Jetzt wollen sie nicht mehr nur »durch Schriften wirken«, sondern auch »ein Heer errichten« und dazu übergehen, »an einem Tag« alle ihnen entgegentretenden »Häupter umbringen« (152). Als »Wohltäter der Menschheit« versuchen sie plötzlich, die ihnen Zuhörenden in einen Begeisterungstaumel zu versetzen (167), der sie befähigen würde, in ihrer »Fantasie« endlich jenen Staat der Zukunft ins Auge zu fassen, in dem es kein Oben und Unten, sondern nur noch freie Bürger geben werde (170). Allerdings sei ein solcher Staat nur im Vollzug jener »Erwartungen« möglich, denen die Weisheit jener Eingeweihten oder »Erstgebildeten« zugrunde liege, wie es auf gut freimaurerisch heißt (181). Diese Erstgebildeten entschließen sich darauf zu folgenden Pflichten und Gesetzen, mit denen sie ihre Utopie eines Staats der allgemeinen Gerechtigkeit zu verwirklichen suchen: 1) die vorläufige »Geheimhaltung« ihrer Ziele, 2) die Verbreitung ihrer Gesinnung als oberste Pflicht anzuerkennen, 3) »neue Freunde« ausfindig zu machen, 4) in anderen Menschen den »Stolz auf ein verstärktes Selbstbewusstsein« zu erwecken, 5) sich nicht auf Haus und Familie zu beschränken, 6) »Eigennutz und Rangsucht« aufzugeben, 7) nicht für sich, sondern für alle zu leben, 8) keine Monarchien mehr zu dulden, 9) sich für »Republiken« einzusetzen, in denen keiner dem anderen gehorchen muss, sondern wo jeder den anderen wegen der »Güte seines Herzens und der Sicherheit seines Karakters« schätzt, 10) nicht nur die Gegenwart zu genießen, sondern eher auf eine »bessere Zukunft« zu hoffen, 11) an keine absoluten »Wahrheiten« zu glauben, sondern der Vernunft zu folgen, sowie 12) in der »Entwicklung unserer Fantasie« den Endzweck des menschlichen Lebens zu sehen (220–237). Und diese Parolen erweisen sich anfänglich auch als recht erfolgreich. Tausende bisher unaufgeklärter Untertanen schließen sich den sogenannten Erstgebildeten an, worauf sich das zuvor bestehende Willkürregime unter König Ilwend in eine Gesellschaftsordnung verwandelt, in der die Mitglieder dieses Bunds als Vertreter des Dritten Stands nicht nur die ökonomische Macht übernehmen, sondern im Verborgenen sogar in anderen Staatsgeschäften eine einflussreiche Rolle zu spielen beginnen. Dadurch nimmt das gesamte Staatsgebilde zusehends die Form einer konstitutionellen Monarchie an, in der die Gruppe der Erstgebildeten in immer höhere Ränge der staatlichen Verwaltung aufzusteigen beginnt. 48

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Soweit der zweite Band dieses Romans. Das erste Ziel der Bundesbrüder, nämlich die Beseitigung der bisherigen königlichen Willkürherrschaft, scheint erreicht zu sein. Doch das letztlich angestrebte Ziel einer nur auf der Vernunft beruhenden Volksrepublik steht immer noch aus. Zu Anfang des dritten Bands berufen daher Tibar und seine Vertrauten abermals eine große »Versammlung des Volkes« ein,14 um die Masse der Bevölkerung zu überzeugen, dass es jetzt an der Zeit sei, den vielfachen »Ausschweifungen des höfischen Gesindels« ein Ende zu bereiten, ja vielleicht sogar den König zu »stürzen« oder ihn zumindest zu zwingen, auf seine Rolle als »Statthalter der Gottheit« zu verzichten und sich nur noch als »ein Diener seines Landes« zu verstehen (25 f.). Um das zu erreichen, dringen sie auf eine vertraglich festgelegte »gemeinschaftliche Staatsverwaltung« (9), welche »die irregeleitete Menge« befähigen würde, endlich ihre bisherige Unterdrückung zu erkennen, das heißt die ihr »entzogenen Rechte« zurückzuerhalten und sich zu einer republikanischen Gesinnung zu bekennen (29). Mit Rufen wie »Entsagt der Gemächlichkeit«, »Bekennt euch zur Freiheit« und »Schafft eine auf Vernunft gegründete Verfassung« (67) fordern sie anschließend die versammelte Menge auf, sie in diesen Absichten zu unterstützen. Doch der »unwissende Haufe« des Volks (39), der die bestehenden Verhältnisse für »unerschütterlich« hält (45) und nur seine privategoistische Geschäftigkeit im Auge hat, lehnt alle diese Forderungen ab (39). Darum sehen sich die enttäuschten Erstgebildeten, die verhüten wollten, dass man das unaufgeklärte Volk weiterhin zu »gedankenlosen Thieren herabwürdigt« (65), anschließend gezwungen, sich wenigstens im Verborgenen weiterhin für eine gerechtere Staatsverfassung einzusetzen, indem sie Steuer- und Justizreformen durchzuführen versuchen, mit denen sie der unbeschränkten Macht des Königs ein Ende bereiten wollen. Doch damit geraten sie zwangsläufig mit den Vertretern des Hofs in Konflikt. Um die breite Masse der Bevölkerung auf sich zu verpflichten, zettelt darauf König Ilwend einen Krieg mit einem Nachbarvolk an, der seine Untergebenen in eine ihm dienliche nationale Stimmung versetzen soll. Als Tibar, der diese Taktik sofort durchschaut, dagegen öffentlich protestiert, wird er umgehend verhaftet. Um diesen Machenschaften Paroli zu bieten, rufen darauf die anderen Bundesbrüder die Besseren unter dem Volk auf, ebenfalls zu den Waffen zu greifen, befreien Tibar und stellen sich an die Spitze einer zum Letzten entschlossenen Bürgerwehr, deren Vertreter sich nicht mehr als »Sklaven der Religion, Anhänger des Luxus oder Verehrer der Macht« empfinden (510), sondern als »stolze Republikaner« in der Vaterlandsliebe die höchste Tugend sehen. Und mit dieser Gesinnung gelingt es dieser Volksmiliz, die feindlichen Söldnerheere, deren Soldaten ihren Befehlshabern höchst unwillig folgen, in mehreren Schlachten zu besiegen und selbst König Ilwend gefangen zu nehmen. Dennoch kommt es danach weder zum Sturz der Monarchie noch zur Gründung eines republikanischen Freistaats. Dazu scheint Tibar und seinen 49

Wilhelm Friedrich Meyern

Abb. 11  Cl. Kohl: Der feige Sprösling des Glücks Ilwend wimmert wie ein Sklav. Illus­ tra­tion in »Dya-Na-Sore« (1791) 50

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Getreuen die Zeit immer noch nicht reif genug. Sie begnadigen daher Ilwend und verpflichten ihn lediglich, in seinen Entscheidungen fortan auf einen »Rat der Dreissiger« zu hören, dem unter anderem die Bundesbrüder Tibar und Terglud angehören. Deshalb bleibt am Schluss dieses weitläufigen Romans die Utopie eines freien Volksstaats vorerst uneingelöst, aber nicht völlig aufgegeben. Tibar sieht ein, dass wegen der Unaufgeklärtheit der breiten Masse der Bevölkerung vielleicht noch Jahrhunderte vergehen müssen, bis sich bei den Letztgebildeten die gleiche republikanische Gesinnung wie bei den Erstgebildeten durchsetzen wird. Doch das kümmert ihn nicht weiter, sondern spornt ihn eher an, sich nach wie vor der Aufgabe der Volksbildung zu widmen. Schließlich waren die meisten Bundesbrüder schon vor den kriegerischen Auseinandersetzungen zu der Einsicht gekommen: »Ein Volk wird nicht an einem Tag gerecht und weise. Freie Sitten müssen durch einen langen Genuss der Freiheit gebildet werden« (90).15 IV.

Eine solche Formulierung wirkt auf Anhieb nicht gerade anfeuernd, sondern eher reformistisch. Lässt sich daher der Roman Dya-Na-Sore überhaupt als ein Vorschein auf eine das monarchische System überwindende Utopie des Republikanismus charakterisieren? Sicher nicht im Hinblick auf spätere demokratisch oder sozialistisch ausgerichtete Staatsromane. Aber vergessen wir nicht die gesellschaftlichen Voraussetzungen des Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation, denen sich Wilhelm Friedrich Meyern bei der Niederschrift dieses Romans in den Jahren zwischen 1787 und 1791 gegenübersah. Sich als freimaurerisch, wenn nicht gar republikanisch gesinnter Einzelgänger überhaupt mit Fragen einer Veränderung der Staats­ verwaltung auseinanderzusetzen, galt damals in den weit hinter den englischen und französischen Zuständen zurückgebliebenen deutschen Staaten noch als durchaus revolutionär und führte von Seiten der verschiedenen Fürstenhäuser zu heftigen Reaktionen gegen alle erst als hochverräterisch und dann als jakobinisch geltenden Schriften. Selbst die auf eine zunehmende Bildung, sprich: Volksaufklärung drängenden Freimaurer oder Illuminaten wurden deshalb Anfang der neunziger Jahre des 18. Jahrhunderts in vielen deutschen Staaten gewaltsam unterdrückt, manche ihrer Mitglieder sogar des Landes verwiesen oder hingerichtet.16 Ja, die von dieser Gruppe propagierte Erleuchtung der politisch Ungebildeten wurde behördlicherseits obendrein durch die Verstärkung religiöser Verhaltensformen wieder in den Hintergrund gedrängt. Als ebenso problematisch empfanden viele Fürsten die Verunglimpfung der monarchischen Söldnerheere und die Verherrlichung einer vaterländisch gesinnten Bürgerwehr, die im dritten Band von Meyerns Dya-Na-Sore eine bedeutsame 51

Wilhelm Friedrich Meyern

Rolle spielen. Schließlich hatten sich derartige Milizen im nordamerikanischen Unabhängigkeitskrieg gegen die britischen Söldnerheere und dann bei der Durchsetzung der Französischen Revolution als äußerst effektiv erwiesen. Sich für eine selbstbewusste Bürgerwehr einzusetzen, galt daher in den Augen der damaligen Herrscherhäuser noch als durchaus revolutionär, während sie von vielen rebellisch gesinnten Lesern dieser Jahre als eine Wendung ins Demokratische aufgefasst wurde. So gesehen liegt diesem Roman – trotz aller geradezu unendlich wiederholten Aufrufe zu einer verstärkten Tugendhaftigkeit, aller rousseauistisch klingenden Bewunderung der Schönheit der Natur und aller empfindsamen Seelenergüsse – dennoch ein durchaus ins Utopische verweisender Elan zugrunde. Wenn auch in ihm im Hinblick auf die noch unaufgeklärten Massen der Bevölkerung eine umgehende Wendung ins Republikanische noch zu Recht bezweifelt wird, bestärkte er dennoch eine von verwandten Gesinnungen ausgehende Schicht bürgerlicher Aufklärer und Schriftsteller, sich für ähnliche Vorstellungen einzusetzen. Ja, die Idee einer von einem vaterländischen Gemeingeist ergriffenen Bürgerwehr wurde nach der Jahrhundertwende, als die von Napoleon angeführten französischen Invasionstruppen in das Heilige Römische Reich eindrangen, sogar – angesichts der Niederlagen ihrer Söldnerheere – aus taktischen Gründen von den sich in ihrer Existenz bedroht fühlenden Herrscherhäusern aufgegriffen und bewegten sowohl die österreichische als auch die preußische Regierung dazu, ebenfalls das Konzept einer von einem vaterländischen Gemeingeist erfüllten Volksarmee zu befürworten, was wesentlich zum Endsieg ihrer Heeresverbände über die französischen »Eindringlinge« beitrug. Doch wie gefährlich die dadurch geweckten Hoffnungen auf einen sich verstärkenden Nationalgeist, der zum Teil durchaus ins Republikanische tendierte, von den deutschen Fürsten empfunden wurde, beweisen alle von ihnen verfügten Unterdrückungsmaßnahmen nach dem Wiener Kongress von 1815, mit denen sie nach den sogenannten Befreiungskriegen wieder ihre ältere absolutistische Machtfülle zu erneuern versuchten. Was sie danach im Zuge der Metternich’schen Restaurationsbemühungen ideologisch anstrebten, war letztlich der Versuch, die Mehrheit der Bevölkerung in ihren Staaten wieder in den Zustand der von Meyern beklagten »Unmündigkeit« zurückzuversetzen, um so jedes erneute Aufflackern eines republikanischen Gemeingeists von vornherein zu unterbinden. Von ihnen noch kurz zuvor unterstützte Vaterlandsfreunde wie Ernst Moritz Arndt erhielten daher Lehrverbot, wurden wie der Meyern-Schwärmer Friedrich Ludwig Jahn eingekerkert,17 wie Joseph Görres des Landes verwiesen oder wie Caspar David Friedrich aus der Öffentlichkeit gedrängt,18 um nur ja keine nationaldemokratischen oder gar republikanischen Tendenzen aufkommen zu lassen. Und daher verstummte auch Wilhelm Friedrich Meyern, der sich lange Zeit nicht nur in seinem Roman Dya-Na-Sore, sondern anschließend auch als Diplo52

Dya-Na-Sore oder die Wanderer (1787/91)

mat für eine von vaterländischen Impulsen erfüllte Heeresreform eingesetzt hatte. Schließlich war in der auf das Jahr 1815 folgenden Biedermeierzeit kein Raum mehr für den von ihm befürworteten Republikanismus oder eine vaterländisch gesinnte Volksmiliz, die beide als unerfüllte Utopien auf der Strecke blieben.

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Carl Ignaz Geiger Laster ist oft Tugend oder: Leonore von Welten (1791)

I.

Einer der wenigen deutschen Aufklärer, der schon in den späten achtziger Jahren des 18. Jahrhunderts von einer »teutschen Republik« zu träumen begann, statt sich mit der liberalen Vorstellung einer konstitutionellen Monarchie zufriedenzugeben, war Carl Ignaz Geiger (1756–1791). Nach Jugendjahren in Ellingen bei Weißenburg an der Donau, das seit 1216 Sitz des fränkischen Zweigs des Deutschen Ordens war, scheint er bereits während seines Studiums in Augsburg mit den fortschrittlichsten Anschauungen der englischen und französischen Aufklärung in Berührung gekommen zu sein. Kein Wunder daher, dass er nach der Rückkehr in die Enge seines Heimatsorts als frisch gebackener Dr. jur. unschlüssig zwischen »Schwermut« und »beißendem Spott« hin- und herschwankte und von den örtlichen Franziskanern öffentlich als »Religionsspötter« angegriffen wurde.1 Darauf verwies ihn der dortige »Winkeltyrann«, der Landkomtur Franz Sigismund Adalbert von Lehrbach, Anfang der achtziger Jahre höchst ungnädig des Landes. Selbst sein Vater brach jede Beziehung zu ihm ab. Und so irrte Geiger nach diesem Zeitpunkt für den Rest seines kurzen Lebens arm und schwindsüchtig von Ort zu Ort, sich überall wegen seiner antiklerikalen und antiabsolutistischen Anschauungen unter den Mächtigen erbitterte Feinde machend. Ja, manche Länder des damaligen Heiligen Römischen Reichs musste er bei Nacht und Nebel verlassen, um nicht eingekerkert zu werden. Die ersten Orte, in denen Geiger Fuß zu fassen versuchte, waren die Universitätsstädte Leipzig und Jena, wo er sich vergeblich um eine Stelle als Privatdozent für Rhetorik und Deklamation bemühte. Auch in Weimar scheiterte Geiger. Hier trug er am 20. April 1785 auf einer von Christoph Martin Wieland arrangierten Soiree Klopstock-Gedichte vor, fiel jedoch durch sein ungebärdiges Auftreten den Damen des Hofes so auf die Nerven, dass die meisten von ihnen brüskiert den Saal verließen. Darauf ging Geiger über Bamberg, Frankfurt, Mannheim, Stuttgart und Tübingen nach Basel, verbrachte in rousseauistischer Hochstimmung einige Wochen bei den Landbewohnern im »gelobten Appenzell« und sympathisierte anschließend in München mit dem von Adam Weishaupt gegründeten, gegen Hof und Kirche konspirierenden Illuminatenorden. Als dieser Orden 1787 in Bayern gewaltsam unterdrückt wurde, floh Geiger nach Augsburg und begab sich ein Jahr später nach Wien, wo er in jene Freimaurerloge eintrat, der auch Wolfgang Amadeus Mozart und Emanuel Schikaneder angehörten. Nach einem Schwindsuchtanfall, der ihm fast das Leben 54

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kostete, setzte er seine letzte Hoffnung auf den »aufgeklärten« Kaiser Joseph II. Dieser empfing ihn sogar, ließ ihn jedoch schon nach wenigen Sätzen, in denen ihn Geiger im Marquis-Posa-Stil um Gedankenfreiheit angefleht hatte, einfach stehen. Kurze Zeit später fuhr er todkrank in Richtung Franken und hörte unterwegs, dass der Ellinger »Tyrann« gestorben sei. Aber auch das gab ihm keinen Trost, da der neue Landkomtur ebenso despotisch war wie der alte. Deshalb hielt sich Geiger nur wenige Monate in seiner Heimatstadt auf, gab seinen letzten Schriften eine eindeutig republikanische Note und starb 1791 vierunddreißigjährig in Stuttgart. Damit ist – so knapp wie möglich – erst einmal der äußere Rahmen abgesteckt, der dieses rebellische Leben umschließt. Alles in allem: ein Daseinsverlauf, der keinen rechten Abschluss fand, sondern wie bei Friedrich Hölderlin oder Jakob Michael Reinhold Lenz in einem genialen Ansatz steckenblieb. Trotz seines starken Wirkungsdrangs wurde hier ein junger Idealist immer wieder von der Misere seiner Krankheit und der ihn bedrückenden Kleinstaaterei überwältigt. Während sich vorsichtig taktierende Aufklärer meist einer vertuschenden Sklavensprache bedienten, um mit ihren aufsässigen Sticheleien nicht unliebsam anzuecken, machte dieser Mann aus seinem Herzen keine Mördergrube. Er wandte sich stets in aller Offenheit gegen jene, von deren Macht er am meisten zu befürchten hatte, also die Fürsten, den Adel und die hinter ihnen stehenden Kleriker, und befürwortete statt des herrschenden Obrigkeitsdenkens ein freidenkerisches, demokratisches Zusammenleben aller Menschen in einer auf den Idealen der Freiheit und Gleichheit beruhenden Republik. II.

Was für Schriften sind von einem so jung verstorbenen Rebellen zu erwarten? Sicher keine langen, wohl ausgewogenen, sondern lediglich kurze, hektisch niedergeschriebene, in denen sich das politisch »Unvergnügte« dieses kurzen Lebens eine gewisse Entlastung zu verschaffen suchte. Geigers erstes Werk erschien 1782 unter dem Titel Gustav Wolart, eine teutsche Geschichte aus dem achtzehnten Jahrhundert, wobei es sich um einen empfindsamen, im Gefolge Jean-Jacques Rousseaus Julie ou La nouvelle Héloïse (1761) geschriebenen Roman handelt, dessen Titelheld die von ihm angebetete Julie, die Tochter eines Barons, wegen der Standesunterschiede nicht heiraten darf, ja von ihrem Vater ins Gefängnis geworfen wird. Als er wieder das Licht der Freiheit erblickt, erfährt er, dass man Julie in ein unwürdiges, aber standesgemäßes Ehejoch gezwungen hat, worauf er sein Leben als Waldbruder in einer Laubhütte beschließt. Doch neben dieser rührseligen Geschichte wird schon in diesem Werk ständig gegen Despotismus, Soldatenschinderei, Klassengegensätze und absolutistische Eroberungsgelüste gewettert, denen Geiger ein utopisch verklärtes Bild der edlen »Herzenseinfalt« entgegenstellte. 55

Carl Ignaz Geiger

Noch offener bekannte sich Geiger im Laufe der achtziger Jahre zu derartigen Gesinnungen in seinen theoretischen Schriften. Das belegt vor allem sein Traktat Sind die Kaiserl. Königl. peinlichen Strafgesetze der Politik und dem Staats- und Naturrechte gemäß? Eine Patriotenfrage (1788), in dem er sich mit republikanischer Verve gegen das angemaßte Herrschertum der gegenwärtigen Fürsten ereiferte und an Joseph II. appellierte, eher den »klugen Köpfen seines Landes« als seiner »eigenen Einsicht« zu trauen, das heißt sich nicht als Alleinherrscher, sondern als Ausführungsorgan der Volkssouveränität zu verstehen.2 Ähnliche Angriffe gegen den autokratischen Charakter des fürstlichen Absolutismus sowie Lobreden auf die republikanische Freiheit finden sich in seinen gleichzeitig erscheinenden Annalen der Menschheit, in denen er gegen jene »gedungenen Fürstenschmeichler« vom Leder zog, die in ihren Schriften unentwegt die angebliche »Gerechtigkeit und Menschenliebe der Großen« sowie deren »Riesenoperationen zur Reform und Verfeinerung unserer Zeiten« anzupreisen versuchten.3 Wohl am schärfsten kommt diese Tendenz in Geigers Traktat Friedrich II. als Schriftsteller im Elisium (1789) zum Ausdruck, welcher sich höchst kritisch gegen die sogar unter einigen als besonders »scharfsinnig« geltenden Reformern weit verbreitete Anschauung wendet, den »alten Fritz« als den besten aller benevolenten Monarchen, ja als den »Einzigen« hinzustellen. Im Gefolge der seit dem hellenistischen Autor Lucian beliebten Totengespräche sieht sich hier Friedrich nach seinem Ableben plötzlich in den Hades versetzt, wo er wegen seines Atheismus von der Kaiserin Maria Theresia, dem Papst Clemens XIII. und einem Großinquisitor schärfstens zur Rede gestellt wird. Die Ironie dieser Szene besteht darin, dass Geiger damit zwei Fliegen mit einer Klappe zu treffen versuchte: den selbstgerechten Obskurantismus der katholischen Herrscher als auch den zynischen Hochmut des menschenverachtenden Preußenkönigs. Nach dieser Debatte wird Friedrich von den Totenrichtern gnadenlos in den Tartaros gestoßen. Kurzum, nicht ein Fürst wird hier verdammt, sondern das Prinzip der Fürstlichkeit schlechthin infrage gestellt, und zwar gleichgültig, ob es sich hinter der Maske der Orthodoxie oder der Maske der Toleranz verbirgt.4 Eine ähnliche Dialektik durchzieht Geigers Drama Der teutsche Engelländer, oder Sir John Littleman sonst genannt: Johann Kleinmann. Ein teutsches Originallustspiel in vier Aufzügen worin n i c h t geheurathet wird, das im gleichen Jahr erschien und in dem rein vordergründig die Anglomanie der deutschen Liberalen ins Lächerliche gezogen wird. Doch trotz aller Komik geht es auch in diesem Werk letztlich um Politisches. Kleinmann muss erkennen, dass es besser wäre, sich nicht die Modetorheiten, sondern den Freiheitswillen der »edlen Briten« zum Vorbild zu nehmen. Wie Geigers Totengespräch Friedrich II. als Schriftsteller im Elisium mündet darum auch dieses Werk in eine Schelte der hartherzigen, durch nichts zu edler Tat hinzu56

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reißenden Deutschen. Dort hatte er im Hinblick auf solche Kleingeister geschrieben: »Teutsches Freiheitsgefühl, teutscher Muth sind bey euch erloschen; an ihre Stelle trat allmählich niedriger Sklavensinn, die Rechte der Menschheit wurden gegen Sklavenfesseln vertauscht, und stolz auf die Ketten, die man Euch anlegte, boget Ihr selbst Eure Naken gutmüthig ins Fürstenjoch. O trauriges Loos der armen Erdbewohner, denen Friedrich II. der Einzige ist!«5 In seinem Kleinmann-Drama heißt es dagegen schon fast mit der Schärfe des Hölderlin’schen Hyperion: »Niemand versteht mich; so teutsch ich auch immer spreche – ich finde so meine Menschen nicht – lauter Alltagsgeschöpfe ohne That- und Schnellkraft, Kerls, die mechanisch im Kreise ihrer Bestimmung, wies Vieh, dahinschlendern und am Joche geduldig so fort ziehen, weil sie dafür gefüttert werden.«6 Wegen dieser bitteren Einsicht in die spießbürgerliche Enge der deutschen Verhältnisse, in der sich die wenigen Aufklärer, Stürmer und Dränger, Radikaldemokraten, Patrioten, Jakobiner oder wie man sie auch nennen will, im Gegensatz zur kurz zuvor ausgebrochenen Französischen Revolution wegen der Zersplitterung des Heiligen Römischen Reichs in Hunderte von Einzelstaaten nicht zu revolutionären Aufständen entschließen konnten, boten sich für Geiger in den letzten beiden Jahren seines schnell verlöschenden Lebens lediglich zwei ideologische Leitbilder an, in denen er seine republikanische Gesinnung zum Ausdruck zu bringen versuchte: ein alle politischen Gegebenheiten überflügelnder Utopismus oder ein vereinzelt bleibender Attentatismus. Dem Utopismus frönte er in seinem Roman Reise eines Erdbewohners in den Mars (1790), den Attentatismus befürwortete er in seinem Drama Laster ist oft Tugend oder: Leonore von Welten (1791). III.

In Geigers »Marsreise« wird im Sinne des Terenz’schen Mottos »Inspicere tamquam in speculum – suadeo« den Deutschen zweierlei vor Augen geführt, zum einen, wie ihre gegenwärtige Situation beschaffen ist, und zum anderen, wie sie in Zukunft aussehen könnte. Zu Anfang werden daher erst einmal drei autokratische Staaten namens Papaguan, Plumplatsko und Biribi beschrieben, die aufgrund zahlreicher tagespolitischer Anspielungen auf pfäffische Intrigen, absolutistische Herrschaftsallüren, kriegerische Eroberungsgelüste und intolerante Presseverordnungen für damalige Leser relativ leicht als Österreich, Bayern und Preußen zu erkennen waren. In diesen drei Staaten sind deshalb Geigers auf Freiheit und Gleichheit drängende Reisende ständig in Gefahr, des Landes verwiesen oder ins Gefängnis geworfen zu werden. Nach vielen unerfreulichen Erlebnissen dieser Art atmen sie daher erleichtert auf, als sie nach einer langen Ballonreise endlich auf dem Mars in Washangau, der Hauptstadt des Staates Momoly, landen können, der einem utopisch 57

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verklärten Amerika zu ähneln scheint. Mit Momoly ist wahrscheinlich Massachusetts oder Mother Colony gemeint, während Washangau auf die 1790 gegründete Hauptstadt der USA Washington hindeutet. Auch der fiktive Publikationsort dieses Romans, nämlich Philadelphia, die erste Hauptstadt der Vereinigten Staaten, weist in die gleiche Richtung. Geiger teilte in dieser Hinsicht sicher die Gesinnung vie-

Abb. 12  Daniel Nikolaus Chodowiecki: Natur (1779) 58

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ler junger Rebellen dieser Jahre, für die seit dem Beginn des nordamerikanischen Unabhängigkeitskriegs das Wunschbild der USA zu einem wichtigen Ventil ihrer unterdrückten Freiheitshoffnungen geworden war. In dieser Republik sahen sie ein Land ohne feudalabsolutistische Traditionen und religiöse Bevormundungen, von dem sie sich höchst überspannte Vorstellungen machten. Daher löste schon 1776 die amerikanische Unabhängigkeitserklärung bei manchen von ihnen ähnliche Hoffnungen aus wie das 1789 verkündete Motto »Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit« der Französischen Revolution. Vor allem Radikaldemokraten wie Christian Friedrich Schubart, Leopold von Stolberg, Johann Heinrich Voss und ähnlich Gesinnten erschien Amerika als ein Land »ohne Könige, ohne hohe Priester, ohne aussaugende Generalpächter und ohne müßige Barone«, wo »jedermann glücklich und Armut ein unbekanntes Übel sei!«7 Im Sinne dieser Anschauungen wird auch Geigers Momoly als ein Land dargestellt, »das keine Pfaffen, keine Soldaten und – keine Könige hat!!!«8 Wie in den von Jean-Jacques Rousseau sowie den Tahitischwärmern Louis-Antoine de Bougainville und Denis Diderot beschworenen Naturstaaten lebt man hier in bäuerlichen Urgemeinschaften, lehnt alle herkömmlichen Religionen ab, verehrt als höchstes lebenszeugendes Prinzip lediglich die Sonne, hat jede Scham verloren und läuft an warmen Tagen – im Gegensatz zu den auf höfische Etikette bedachten Modenarren – nackt herum, das heißt kennt keinerlei Gesetze oder Vorschriften an, die gegen die Vorstellung einer allgemeinen Eudämonie verstoßen würden. Daher gibt es in dieser Schlaraffia politica, wo alle klassenbedingten Unterschiede weggefallen sind und jeder lediglich der »natürlichen Vernunft« folgt, nur glückliche Menschen. Ideologiekritisch gesehen wirkt daher Geigers Reise eines Erdbewohners in den Mars wie der schwärmerische Tagtraum eines bürgerlichen Aufklärers, der sich nach all den gescheiterten Hoffnungen, die er bei seinen Reisen durch Deutschland erlebte, wenigstens literarisch in Form eines Utopieromans Luft zu schaffen versuchte. Dass die durch die nordamerikanische Unabhängigkeitserklärung sowie durch den Ausbruch der Französischen Revolution geweckten politischen Erwartungen auch auf das Unheilige Römische Reich Undeutscher Nation übergreifen und zu einem Sieg des Republikanismus führen würden, erschien Geiger zu diesem Zeitpunkt – offenbar schon von Todesahnungen bedrückt – immer unwahrscheinlicher. Daher verfasste er 1791 kurz vor seinem Ableben noch das Drama Laster ist oft Tugend oder: Leonore von Welten, in dem er ein Bild der deutschen Misere entwarf, innerhalb derer eine allgemeine Unterwürfigkeit herrscht und sich nur hoffnungslos Vereinzelte dazu entschließen können, sich gegen die fürstliche Gewaltherrschaft aufzulehnen.

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Carl Ignaz Geiger

IV.

Wie alle Literaturkenner bei der Lektüre dieses Werks sofort bemerken werden, geht Geigers Drama Laster ist oft Tugend oder: Leonore von Welten auf zwei berühmte Vorbilder zurück. Obwohl er es als ein »teutsches Originaltrauerspiel« bezeichnete, dessen Handlung auf einer »wahren Geschichte« beruhe,9 die sich im Jahr 1782 tatsächlich zugetragen habe, liegen diesem Drama eindeutig Gotthold Ephraim Lessings Emilia Galotti (1772) und Friedrich Schillers Kabale und Liebe (1784) zugrunde. Allerdings werden die dortigen Handlungsimpulse von Geiger nachdrücklich radikalisiert. In seinem Stück verzehrt sich ein Fürst von Hohenberg voller Verlangen nach der schönen Leonore, der Tochter eines Hofbeamten, deren Mann im nordamerikanischen Unabhängigkeitskrieg auf Seiten der Aufständischen gefallen sein soll. Um ihren Widerstand zu brechen, lässt Baron Ekhof, ein typischer Intrigant, Leonores Vater wegen angeblicher Unterstützung einer Bauernrevolte ins Gefängnis werfen. Auf Zureden ihrer Mutter tritt die gute Leonore schließlich ihren Opfergang in die Schlafkammer des Fürsten an, worauf ihr Vater wieder auf freien Fuß gesetzt wird. Nach Hause zurückgekehrt, nimmt Leonore Gift ein, um ins »reine Reich« der Schatten herabzusteigen. Als sie in den letzten Zügen darniederliegt, kommt plötzlich Eduard, ihr totgeglaubter Mann, zurück. Auch der Fürst, launisch und wankelmütig wie so viele Tyrannen, erscheint, um sie reumütig um Verzeihung zu bitten. Angesichts dieser Szene greift Eduard zum Degen, aber nicht, wie in bisherigen bürgerlichen Trauerspielen dieser Art, um sich selbst, sondern um den Fürsten umzubringen. Zugegeben, auch dieses Stück ist noch eine Darstellung der »teutschen Misere«, das heißt, es bleibt im Konflikt zwischen Laster und Tugend im Bereich des Moralischen befangen, versucht jedoch der »Tugend« schon den Charakter einer politischen Qualifizierung zu geben. Während fast alle anderen Werke dieser Art zwischen 1770 und 1790 gegen Schluss auf den Akt der bürgerlichen Selbstverstümmelung, ob nun in Form des Suizids, der Tochtererstechung oder der Kastrierung hinauslaufen, wird hier erstmals ein Fürstenmord auf offener Bühne dargestellt. In dieser Radikalität ist Geigers Stück, mag es auch im Einzelnen nach wie vor manche melodramatischen Züge haben, sicher einmalig. Es stellt eine »Tugend« dar, die sich als legitimer Ausdruck eines politischen Attentatismus versteht, mit dem wenigstens ein »Laster« des fürstlichen Absolutismus aus der Welt geschafft werden soll. Im Gegensatz zu vielen Werken der späteren bürgerlichen Literatur hat also hier die »Tugend« noch durchaus eine politische Dimension und wird keineswegs einseitig ins Private ausgegrenzt. Historisch gesehen sollte man daher in Hinblick auf das späte 18. Jahrhundert zwischen zwei Formen von Tugend unterscheiden: der herkömmlichen Tugend der Reinheit und Bescheidenheit sowie der rebellischen Tugend der jakobinisch gesinnten Aufrührer. In ihrer älteren Variante wird diese 60

Laster ist oft Tugend oder: Leonore von Welten (1791)

Tugendvorstellung in der Literatur dieses Zeitraums meist an weiblichen Gestalten exemplifiziert. In diesem Bereich dominieren deshalb fast immer Haltungen wie Edelmut, Seelengröße und Opferbereitschaft. Im Gegensatz zu der bösen Welt der Höfe mit ihrer Frivolität, Hoffart und Verschwendungssucht beschränken sich diese Gestalten weitgehend auf das Häusliche, Private und Idyllische, um ihre »Reinheit« zu bewahren. In ihrer männlichen Variante äußert sich dagegen diese Tugend­ vorstellung meist als Unbeirrbarkeit, Durchsetzungsvermögen oder »Männerstolz vor Fürstenthronen«, kurz, in einer Haltung, die aus dem Bereich der edelmütigen Verinnerlichung immer stärker aus dem Privaten ins Öffentliche ausgreift und auf eine Abschaffung der höfischen Unrechtsgesellschaft drängt. Es ist das Bedeutsame an Geigers Stück, dass es beide Aspekte dieses politisierten Tugendbegriffs auf avancierteste Weise zur Darstellung bringt. Die weibliche Form des von ihm ins Auge gefassten Tugendbegriffs wird an der Titelheldin exemplifiziert. Leonores Verhalten erinnert zwar in manchem noch an die Opferbereitschaft Emilias und Luises, geht aber in anderen Momenten bereits weit darüber hinaus. Sie ist nicht nur die schwache, hingebungsvolle Tochter, die durch einen Fehltritt ihren Vater vor dem Kerker oder gar dem Tode zu bewahren versucht, sondern auch eine aufgeklärte Frau, welche die religiösen Vorhaltungen ihrer Mutter entschieden zurückweist und ihren Sohn zu einer deistisch-naturverbundenen Gesinnung erzieht, ja die selbst ihren Opfergang zu dem nach einmaligem Genuss ihres Leibes lechzenden Fürsten nicht als lasterhaft, sondern als Tugendhaltung begreift, da sie dieser Akt innerlich überhaupt nicht berührt. Sie ist auch keine »superfeine, sanftschmachtende und süßlispelnde« Empfindlerin, wie sie Geiger in seiner Komödie Der teutsche Engelländer in der Figur der Mariane karikierend dargestellt hatte, sondern eine Frau, die – dem Vorbericht seiner Leonore von Welten zufolge – aufgrund ihrer »außerordentlichen Kindesliebe« und ihres »edlen, hohen Stolzes« zu einer in Reinheit vollzogenen Untat fähig ist, die nur kleinlich denkende Menschen als Laster bezeichnen würden. Das Gleiche gilt für Eduard, ihren aus dem nordamerikanischen Freiheitskampf in die Beschränktheit der deutschen Verhältnisse zurückkehrenden Mann, dessen Ablehnung des fürstlichen Absolutismus so entschieden ist, dass er selbst vor einem Tyrannenmord nicht zurückschreckt. So gesehen ist auch der Mut der Verzweiflung, mit dem Eduard am Schluss dieses Stücks zum Degen greift und einen deutschen Winkeldespoten einfach niedersticht, ein Akt der Tugend, der zwar im Affekt und nicht aus politischem Kalkül geschieht, aber als rebellisches Faktum weit über die in bisherigen bürgerlichen Trauerspielen übliche Haltung der Unterwerfung hinausweist. Hier beruft sich der männliche Held am Schluss nicht auf den allmächtigen Richter im Himmel, sondern erklärt nach dem Tod des Fürsten in hochdramatischer Erregung: »Mein Vaterland von einem Ungeheuer befreyt! Ha! ha! ich schnaube leichter.«10 61

Carl Ignaz Geiger

Und das sollte das letzte Wort Geigers bleiben, dessen Leben beim Erscheinen seiner Leonore von Welten erlosch. Als hoffnungslos Vereinzelter inmitten der deutschen Misere dieser Ära konnte er sich nur noch zu einer utopischen Schwärmerei und zur Darstellung eines Fürstenmords entschließen, da er erkannt hatte, dass in absehbarer Zeit die Hoffnung auf eine politische Umsetzung seines auf Freiheit und Gleichheit drängenden Republikanismus in einem der absolutistisch regierten Territorien des Unheiligen Römischen Reichs Undeutscher Nation noch unrealisierbar war.

62

Johann Gottlieb Fichte Der geschlossene Handelsstaat (1800)

I.

Warum seit der Mitte des 18. Jahrhunderts in England, Frankreich und im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation im Zuge der Aufklärung so viele ins Exotische ausschweifende Reiseberichte oder in philosophische Traktate eingekleidete Staatsutopien erschienen, ist leicht einzusehen. Schließlich lebten ihre vom Prinzip Hoffnung beseelten Autoren auch in diesem Zeitraum weiterhin in absolutistisch regierten Monarchien, die sich gegen die ihre Machtbefugnisse in Frage stellenden Freiheitsparolen der unteren Bevölkerungsschichten so energisch wie nur möglich abzuschotten versuchten und dabei selbst vor verschärften Zensurmaßnahmen oder gar Verhaftungen sowie Ausweisungen politisch unliebsamer Ruhestörer nicht zurückschreckten. Dementsprechend sahen sich die Autoren derartiger Schriften lange Zeit gezwungen, ihre Werke entweder anonym erscheinen zu lassen oder mit fiktiven Publikationsorten zu versehen und zugleich in der Darstellung gesellschaftlicher Verhältnisse ins Phantastische auszuweichen, um ihre Ansichten überhaupt verbreiten zu können. Erst als im Zuge der Gründung der nordamerikanischen Republik und dann mit dem vehementen Ausbruch der Französischen Revolution ihre utopistischen Hoffnungen auf einen Sturz der monarchischen Ordnung plötzlich konkretere Formen annahmen, wurden die von ihnen verfassten Utopien zusehends realistischer, das heißt gingen auch auf die in ihren eigenen Ländern herrschenden politischen und sozioökonomischen Verhältnisse ein, wodurch ihre Zukunftsvisionen – trotz ihrer utopischen Einkleidung – ständig zeitverhafteter und damit glaubwürdiger wurden. Und zwar gilt das selbst für das deutschsprachige Schrifttum des späten 18. Jahrhunderts, wo sich plötzlich neben den älteren, ins Phantastische ausschweifenden Staatsutopien auch einige Schriften finden lassen, die sich an die Hoffnung klammerten, dass der »aufgeklärte Absolutismus« eines Friedrich II. von Preußen sowie die kirchlichen und sozialen Reformbemühungen Josephs II. von Österreich zu einer größeren Verfreiheitlichung der gesamten gesellschaftlichen Zustände führen könnten. Und diese Hoffnung hörte auch nach dem Tod Friedrichs II. und Josephs II. nicht ganz auf, als es selbst unter absolutistisch auftretenden Monarchen wie Friedrich Wilhelm II. von Preußen und Franz II. von Österreich, motiviert durch die von einigen deutschen Aufklärern begeistert aufgenommene Parole der Französischen Revolution »Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit«, weiterhin zu einer Reihe 63

Johann Gottlieb Fichte

höchst aufsässiger Schriften kam. Vor allem in Preußen traten danach immer wieder Freiheitsfreunde auf, die sich von den als antijakobinisch ausgebenden reaktionären Maßnahmen und Verordnungen staatlicherseits nicht beirren ließen und sich weiterhin für auf das gesamte Staatswesen übergreifende Reformgesinnungen einzusetzen versuchten, ja sich nicht einmal scheuten, dafür sogar einzelne preußische Staatsminister für ihre halbwegs utopischen, halbwegs konkreten gesellschaftlichen Veränderungsvorschläge zu gewinnen. Einer der auf diese Bemühungen besonders nachdrücklich insistierenden Autoren war der Philosoph Johann Gottlieb Fichte, der im Jahr 1800 dem preußischen Finanzminister Carl August von Struensee mit seinem Traktat Der geschlossene Handelsstaat sogar die auf aufklärerischen Ideen beruhende Utopie eines demokratisch regierten Vernunftstaats unterbreitete,1 auf die im Folgenden etwas näher eingegangen werden soll. II.

Wie kam es eigentlich zu diesem relativ obskuren Traktat, der in der bisherigen Sekundärliteratur zu Fichte, die sich vornehmlich mit seiner Kant-Rezeption, seiner Ich-Philosophie, seiner Wissenschaftslehre und seinen Reden an die deutsche Nation auseinandergesetzt hat, keine zentrale Rolle einnimmt? Ja, wie gelang es überhaupt dem in ärmlichen Verhältnissen aufgewachsenen Fichte neben Georg Wilhelm Friedrich Hegel und Friedrich Wilhelm Schelling zum drittwichtigsten Philosophen des sogenannten neukantischen deutschen Idealismus aufzusteigen, wie diese Gruppe – trotz aller Unterschiede – meist ideologisch verschleiernd charakterisiert wird? Geboren wurde Fichte im Jahr 1762 als das erste von acht Kindern eines sich mühsam durchs Leben schlagenden Bandwebers in Rammenau in der Oberlausitz, wo noch die herkömmlichen Frondienste herrschten. Dass er überhaupt eine Schule besuchen konnte, verdankte er weitgehend dem Patronat eines Verwandten des örtlichen Gutsherrn, der ihm sogar ab 1780 das Theologiestudium an den Universitäten in Jena und Leipzig ermöglichte. Als sein Gönner verstarb, musste der junge Fichte allerdings sein Studium abbrechen und sich seinen Lebensunterhalt durch kümmerlich bezahlte Hauslehrerstellen verdienen. Sein Plan, eine Zeitschrift für weibliche Bildung zu gründen, scheiterte danach ebenso sehr wie sein Bemühen, sich mit literarischen Arbeiten einen Namen zu verschaffen. Also verdingte er sich Anfang der neunziger Jahre weiterhin als Hauslehrer bei adligen Familien in Warschau und dann in Krockow an der pommerschen Ostseeküste. Nachdem sich Fichte bis dahin vor allem mit Bildungsfragen beschäftigt hatte, stieß er hier zum ersten Mal auf die Schriften von Immanuel Kant, die ihn so nachhaltig beeindruckten, dass er in Anlehnung an dessen Kritik der reinen Vernunft (1781) eine Schrift unter dem Titel Versuch einer Kritik aller Offenbarung verfasste, in der 64

Der geschlossene Handelsstaat (1800)

er sich wie Kant ebenfalls zu dem Konzept bekannte, die Religion ihres mythisch überlieferten Charakters zu entkleiden und sie nur noch als ein Phänomen innerhalb der »Grenzen der Vernunft« anzuerkennen. Er besuchte darauf Kant 1791 in Königsberg, wo ihm dieser sogar einen Verleger für die besagte Schrift verschaffte, die darauf ein Jahr später ohne Verfasserangabe im Druck erschien und anfangs als ein lange erwartetes religionsphilosophisches Werk von Kant selbst begrüßt wurde, wodurch sie ein beträchtliches Aufsehen erregte. Erst als Kant diesen Irrtum klarstellte, wurde plötzlich auch Fichte berühmt und erhielt 1794 sogar einen Lehrstuhl für Philosophie an der Universität Jena. Doch seine dortige Anstellung war von Anfang an gefährdet. Schließlich hatte er sich ein Jahr zuvor in seinen zwei Schriften Zurückforderung der Denkfreiheit von den Fürsten Europas, die sie bisher unterdrückten sowie Beiträge zur Berechtigung der Urteile des Publikums über die Französische Revolution wie die deutschen Jakobiner für einen rechtmäßigen Fortschritt zu mehr Freiheit und Gleichheit eingesetzt und sich dabei mit einem Rückgriff auf Jean-Jacques Rousseaus Contrat social (1762) zu dem Argument bekannt, dass es ein »unveräußerliches Recht des Menschen« sei, einen Gesellschaftszustand »aufzuheben«, der zu einem »System der Unterdrückung« verkommen sei.2 Doch das wurde von den staatlichen Behörden in Weimar gerade noch geduldet. Zum entscheidenden Eklat kam es erst, als 1798 die von ihm verfasste Schrift Über den Grund unseres Glaubens an eine göttliche Weltregierung in dem von Friedrich Immanuel Niethammer herausgegebenen Philosophischen Journal erschien, in der Fichte die bestehende »moralische Weltordnung«, wie es sich damals gebührte, nicht auf eine höhere Instanz, also auf Gott, zurückgeführt hatte, sondern dafür eingetreten war, dass man in dieser Hinsicht lediglich von einer der menschlichen Vernunft gehorchenden Gesetzmäßigkeit ausgehen solle.3 Da eine derartige Behauptung von der Jenaer Universitätsverwaltung im Zuge der sich in diesen Jahren verstärkenden reaktionären Tendenzen als ein Manifest religionskritischer Gesinnungen, wenn nicht gar einer konsequenten Gottlosigkeit ausgelegt wurde, gab Fichte schließlich seinen Lehrstuhl auf, ging vorübergehend in die Schweiz und begab sich dann nach Berlin, wo er sich zeitweilig den Freimaurern anschloss.4 III.

Doch kommen wir endlich zu jener Schrift, in der Fichte seine Hoffnungen auf einen in der Zukunft zu verwirklichenden Vernunftstaat im Jahr 1800 in die Form einer Utopie einkleidete, der er den Titel Der geschlossene Handelsstaat. Ein philosophischer Entwurf als Anhang zur Rechtslehre und Probe einer künftig zu liefernden Politik gab.5 Wohl bewusst, dass sich die entscheidenden Wandlungen dieser Ära durch die sich in Zentraleuropa ausbreitenden marktwirtschaftlichen Verhältnisse weniger auf poli65

Johann Gottlieb Fichte

tischer als auf sozioökonomischer Ebene abspielten, ging es ihm in dieser Utopie vor allem darum, welche Folgen sich hieraus ergeben würden, genauer gesagt, was zu erwarten wäre, falls die neue »physiokratische Lehre das künstliche Gebäude des alten Merkantilismus mit seinem Feudalsystem« endgültig zertrümmern würde, wie es in der kurzen »Vorbemerkung« eines gewissen P. D. heißt. Mit dieser Einsicht habe Fichte, wie wir hier lesen, mit seiner »Construierung eines geschlossenen Handelsstaats« die Führungsrolle innerhalb jener Bewegung eingenommen, die einen freiheitlichen »Sozialismus« ins Auge fasse.6

Abb. 13  Friedrich Bury: Johann Gottlieb Fichte (1800)

Dafür spricht, dass Fichte gleich zu Anfang seiner Schrift erklärte, dass in Zukunft nicht mehr irgendwelche moralischen oder religiösen Prinzipien, sondern einzig und allein die auf die wirtschaftlichen Verhältnisse bezogene Vernunft im Vordergrund 66

Der geschlossene Handelsstaat (1800)

stehen solle, um so »eine unbestimmte Menge Menschen zu einem geschlossenen Ganzen« zu vereinigen (17). In einem derartigen Staat müsse vor allem die Parole »leben und leben lassen« vorherrschen, um jedem Menschen – ungeachtet bestimmter staatlich verordneter Ideologien – »das Seinige zu geben« (19). Erst dann würden alle in einem solchen Staat lebenden Menschen freie »Diener des Ganzen« sein und dafür, ob nun als Produzenten, Bearbeiter, Kaufleute oder Beamte, ihren »gerechten Antheil an den Gütern des Ganzen« erhalten (34). Nur so, heißt es im Weiteren, lasse sich ein »Wohlstand Aller ermöglichen und damit die bisherige Aufspaltung in Reiche und Arme aufheben«. Wie die verschiedenen »Arbeitsweisen« unter den einzelnen Individuen verteilt würden, müsse in einem solchen Staat – ohne Eingriffe der Regierung – das »Volk« selbst entscheiden (38) und jedem Bürger das »Recht auf eine bestimmte freie Tätigkeit« zugestehen (58). Das sei jedoch nur zu erreichen, wenn die bisherigen Eigentumsverhältnisse, das heißt der »ausschließende Besitz« von Landgütern und anderen »Objekten«, abgeschafft würden und die jeweiligen Erwerbstätigen über den Besitz ihrer Produktionsmittel selbst verfügen könnten. Dies – in gebotener Kürze – zu den im ersten Teil dieser Utopie anvisierten Besitzverhältnissen und den sich daraus ergebenden Arbeitsbedingungen. Im zweiten Teil ging Fichte erst einmal auf die geschichtlichen Voraussetzungen des von ihm projektierten »Geschlossenen Handelsstaats« ein. Während im Mittelalter in Europa noch eine gewisse religiöse Einheit geherrscht habe, erklärte er, sei durch die Einführung der Geldwirtschaft dieser Universalismus zusehends verschwunden und eine Aufsplitterung in einzelne politisch und wirtschaftlich miteinander konkurrierende Staaten eingetreten. Und das habe einen »endlosen Krieg aller gegen alle, das heißt einen Krieg zwischen Käufern und Verkäufern« ausgelöst, der – bedingt durch die ungezügelte »Freiheit des Handelns« – zu einer »Quelle großen Elends« geworden sei (72). Ja, durch diese konkurrenzbetonte Verfreiheitlichung habe man den einzelnen Staaten und den in ihnen lebenden Menschen die Chance gegeben, »sich gegenseitig zu Grunde zu richten« (73). Um diesen verhängnisvollen Zustand zu überwinden, schlug daher Fichte folgende Maßnahmen vor. Um weitere Kriege zu vermeiden, sei es erst einmal nötig, schrieb er, die internationale Handelskonkurrenz abzuschaffen, das heißt, jeglichen Außenhandel durch das Einfuhrverbot fremder Waren sowie die Einrichtung strenger Grenzkontrollen zu unterbinden und sich ausschließlich auf den Binnenhandel zu konzentrieren. Nur dann ließe sich ein friedlicher Zustand unter den verschiedenen Staaten und zugleich ein gesteigerter Wohlstand der in ihnen lebenden Menschen herbeiführen, der sich aus dem »Klima des jeweiligen Landes« und der »Kultur der einzelnen Nationen«, die darin wohnen, ergeben würde (78). Im dritten Buch dieser ins Utopische tendierenden Vorschläge ging Fichte dann auf die Vorteile ein, die sich aufgrund derartiger nationalstaatlicher Abschottungs67

Johann Gottlieb Fichte

maßnahmen erreichen ließen. Neben der Vermeidung von Kriegen, das heißt dem entschiedenen Willen, andere Länder nicht mehr durch einen übermäßigen Export wirtschaftlich zu ruinieren oder gar fremde Gebietsteile militärisch erobern zu wollen, was sich nur durch die besagte Schließung der Grenzen bewerkstelligen lasse, müsse ein solcher »Geschlossener Handelsstaat« als die alleingültige Währung ein nicht konvertierbares Landesgeld einführen, statt sich weiterhin in wirtschaftlicher Hinsicht auf seine Gold- und Silberreserven zu verlassen. Denn nur so könne es zu einer ökonomischen Stabilisierung kommen, die jedem Bürger den »gleichen Wohlstand« garantieren würde (111). In einem solchen Staat, der auf die »Verpflichtung zum Militärdienst« und zugleich auf allzu hohe Steuerabgaben verzichten könne, würde es deshalb, wie es optimistisch heißt, »kein Mißvergnügen der Untertanen gegenüber ihrer Regierung« mehr geben (119). In ihm würden alle Mitglieder den Staat nicht mehr als ein notwendiges Übel empfinden, sondern »ihr Vaterland endlich mit Anhänglichkeit lieben« und sich nicht weiter als hoffnungslos unterdrückte, vereinzelte oder gar ausgebeutete Untertanen empfinden (120). Um dabei nicht ins Utopistische überzugehen, wandte sich Fichte gegen Schluss seiner Ausführungen im Hinblick auf die staatlichen Belange ausdrücklich gegen allzu »herumschwärmende Phantasien« (121) und ging in solchen Fragen stets von den unerlässlichen Forderungen der wirtschaftlichen Vernunft aus. Deshalb verurteilte er nochmals all jene, die sich lediglich für eine ungehemmte und damit unverantwortliche »Freiheit des Handels und des Erwerbes« einzusetzen versuchten, das heißt in der realexistierenden Marktwirtschaft vornehmlich ein »Hazardspiel« sähen und dabei alle »Ränke und die Bevorteilung anderer« ausnutzen würden, um sich selbst zu bereichern, ohne auf ihre Mitbürger Rücksicht zu nehmen (122). Das zu erreichende Ziel der ins Auge gefassten Veränderungen dürfe daher nicht die von den Befürwortern eines ungehemmten Kapitalmarkts propagierte »Ungebundenheit des Augenblicks« und damit eine allgemeine Ziellosigkeit, sondern müsse ein »fest geordneter Gang der Dinge« sein (122). Jeder Staat solle stets das Gemeinwohl all seiner Bürger ins Auge fassen, um dadurch sowohl irgendwelche politischen als auch ökonomischen Konflikte zu vermeiden. IV.

So viel zu Fichtes Utopieentwurf Der geschlossene Handelsstaat, von dem er im Jahr 1800 nicht nur dem preußischen Finanzminister Carl August von Struensee, sondern sogar dem preußischen König Friedrich Wilhelm III. je ein Exemplar zukommen ließ. Doch eine Reaktion darauf blieb vorerst aus. Schließlich wurde die preußische Regierung in den folgenden Jahren durch die antinapoleonischen Koalitionskriege fast ausschließlich zu außenpolitischen Entscheidungen gezwungen, was 68

Der geschlossene Handelsstaat (1800)

dazu führte, dass sie kaum Zeit fand, sich mit ökonomischen Erwerbsfragen zu beschäftigen. Ja, als ihre Truppen im Jahr 1806 in der Schlacht von Jena und Auerstedt von der Grande Armée Napoleons vernichtend geschlagen wurden, trat im Zuge einer »defensiven Modernisierung« des preußischen Staatsapparats neben der von Karl August von Hardenberg durchgeführten Aufhebung der Erbuntertänigkeit sowie der neuen Städteordnung erst einmal die von Karl von Clausewitz, August Neidhardt von Gneisenau und Gerhard Johann von Scharnhorst in die Wege geleitete Heeresreform in den Vordergrund.7 Diese Entwicklung veranlasste auch Fichte, sich im Rahmen der antinapoleonisch eingestellten Berliner Tischgesellschaft, zu der vor allem Achim von Arnim, ­Clemens Brentano, Karl von Clausewitz, Karl Friedrich Schinkel und Friedrich Daniel Schleiermacher gehörten, zusehends mit tagespolitischen Fragen auseinanderzusetzen. Dafür spricht, dass er 1806 in seiner Schrift Die Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters und dann verstärkt im Winter 1807 auf 1808 in seinen in Berlin gehaltenen Reden an die deutsche Nation durchaus agitatorische Töne anschlug. Während jedoch andere preußische Autoren wie Ernst Moritz Arndt und Friedrich Ludwig Jahn dabei zugleich eine steigende Wehrertüchtigung sowie eine Wendung ins Volkstümelnde ins Auge fassten, blieb Fichte als bildungsbeflissener Philosoph selbst bei diesem Übergang ins Realpolitische nach wie vor seinen utopischen Hoffnungen auf die Heraufkunft einer nationaldemokratischen Gesinnung treu. Worum es in Zukunft gehen solle, erklärte er, sei vor allem das Bestreben, die bisher grassierende Selbstsucht zu überwinden und ein staatsbürgerliches Bewusstsein anzustreben, das von einer größeren Vernunftgemäßheit ausgehen müsse. Und zwar berief er sich dabei vornehmlich auf die idealistisch gefärbten Bildungskonzepte Johann Heinrich Pestalozzis, welcher bei der von ihm propagierten Werteerziehung keineswegs auf eine verstärkte Tendenz zur allgemeinen Verfreiheitlichung verzichtet habe, um sich von der älteren Untertanengesinnung abzusetzen. Schließlich sei nur der durch eine sittliche Bildung zur Selbständigkeit, zur Veredelung und damit zum wahren Selbst herangereifte Mensch fähig, erklärte Fichte, auch seine Mitmenschen zu achten und jede Form der Knechtschaft von vornherein abzulehnen. Die Deutschen sollten sich daher, heißt es bei ihm ausdrücklich, nicht nur bemühen, die militärische Oberhand zu gewinnen, sondern zugleich einen auf derartigen Wertvorstellungen beruhenden Vernunftstaat anstreben und dadurch, wie er schon in seinem Geschlossenen Handelsstaat erklärt hatte, auf alle egoistischen Antriebe verzichten. Ihr Ziel müsse letztendlich kein Wehrstaat, sondern eine Kulturgemeinschaft sein. Wegen dieser Bildungskonzepte wurde Fichte einerseits zum Kanzler der im Jahr 1810 gegründeten Berliner Friedrich-Wilhelms-Universität ernannt, während er andererseits im Zuge der Befreiungskriege von 1813/14 aufgrund seiner weithin als chauvinistisch ausgelegten Reden an die deutsche Nation zur Leitfigur antifranzösischer 69

Johann Gottlieb Fichte

Ideologievorstellungen aufstieg. In der Folgezeit trat dabei allerdings zusehends der zweite Aspekt seiner Anschauungen in den Vordergrund. So beriefen sich sowohl die seit der Mitte des 19. Jahrhunderts zu einer breiten Bewegung anschwellenden Nationalliberalen als auch die gründerzeitlichen Chauvinisten und dann die völkisch sowie nazifaschistisch gesinnten Theoretiker bei ihren Nationalkonzepten, ja selbst die einen eigenen Nationalstaat anstrebenden Zionisten häufig auf Fichte, in dem sie einen der wichtigsten Vorläufer ihrer eigenen nationalistischen Bestrebungen sahen. Leider blieb dabei der auf eine größere Sozialverantwortung sowie ein Gleichgewicht von Freiheit und Brüderlichkeit gerichtete utopische Elan, wie er in Fichtes Geschlossenem Handelsstaat, ja sogar in weiten Teilen seiner Reden an die deutsche Nation herrscht, meist auf der Strecke. Trotz vieler späterer Depravierungen im Rahmen weiter bestehender nationalstaatlicher Vorstellungen sollte jedoch diese ideologische Haltung, die während des antinapoleonischen Befreiungskriegs noch eine Oase utopischen Denkens war, keineswegs übersehen werden. Schließlich hat später – entgegen allen chauvinistischen Vorurteilen – selbst ein linker Vorscheindenker wie Ernst Bloch »Fichtes geschlossenen Handelsstaat« als das »erste utopisch ausgemalte System organisierter Arbeit« bezeichnet, mit dem es »in einem einzigen, genügend großen und autarken Land« möglich wäre, sogar dem »Sozialismus« eine Chance zu geben.8

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Ernst Moritz Arndt Ein Wort über die Pflegung und Erhaltung der Forsten und Bauern im Sinne einer höheren d. h. menschlichen Gesetzgebung (1820)

I.

Nach der im Jahr 1803 auf Druck Napoleons durchgeführten Auflösung des Heiligen Römischen Reichs ließ die anfängliche Sympathie vieler liberal gesinnter Deutscher für diesen bis dahin als »Volksbefreier« angesehenen Vollstrecker der Ideen der Französischen Revolution von 1789 merklich nach, ja schlug, als sich Napoleon ein Jahr später zum Kaiser der Franzosen krönte, zusehends in Hass um.1 Und diese Antipathiewelle verstärkte sich noch, als dieser von imperialistischen Wahngefühlen angetriebene »parvenühafte Korse«, wie es jetzt hieß, mit seiner von nationalpatriotischen Sentiments beseelten Grande Armée 1805 in der Schlacht bei Austerlitz und 1806 in der Schlacht bei Jena und Auerstedt die ihren Generälen nur widerwillig folgenden österreichischen und preußischen Söldnerheere so vernichtend schlug, dass sich diese beiden Staaten, statt dem frankreichhörigen Rheinbund beizutreten, zu einer »defensiven Modernisierung« entschlossen,2 um so einem weiteren Vordringen Napoleons Einhalt gebieten zu können.3 Vor allem in Preußen kam es darauf unter den Staatskanzlern Heinrich Friedrich Karl vom und zum Stein und Karl August von Hardenberg nicht nur zu einer durchgreifenden Heeresreform, sondern auch zu einer Aufhebung der Leibeigenschaft der Bauern, der Einführung städtischer Selbstverwaltungsorgane sowie der Erweiterung der Gewerbefreiheit, um so dem bisher in der herkömmlichen Untertanenmenta­ lität befangenen Landvolk und dem bürgerlichen Mittelstand das Gefühl einer größeren Staatsverbundenheit zu geben. Um diese Reformen zu unterbinden, wurden zwar Stein und Hardenberg auf Druck Napoleons von dem zögerlich taktierenden preußischen König Friedrich Wilhelm III. zeitweilig aus ihren Ämtern entfernt, was aber nicht verhindern konnte, dass sich in den gleichen Jahren immer mehr preußische Intellektuelle, Professoren, Schriftsteller und Künstler, wie Achim von Arnim, Ernst Moritz Arndt, Johann Gottlieb Fichte, Friedrich Ludwig Jahn, Heinrich von Kleist, Georg Andreas Reimer, Friedrich Daniel Schleiermacher und viele andere zu Wort meldeten, die sich in ihren gegen die französischen »Eindringlinge« gerichteten Reden und Publikationen immer offener nicht nur zu einer inneren Stärkung Preußens, sondern zugleich zu einer gesamtdeutschen Freiheitsgesinnung bekannten. Und im Zuge dieser Aufruhrgesinnung kam es neben eher pragmatischen Reformvorschlägen auch zu Übersteigerungen ins Chauvinistische, die sich auf jene bereits von Friedrich Gottlieb Klopstock geforderte »Revolutio germanica« 71

Ernst Moritz Arndt

Abb. 14 Ludwig Burger: Johann Gottlieb Fichte, Friedrich Daniel Schleiermacher, Friedrich Ludwig Jahn und Ernst Moritz Arndt (1862)

beriefen, der die rückwärtsgewandte Utopie einer »Sehnsucht nach der alten Freiheit der Germanen« zugrunde lag.4 Wohl die bekanntesten Beispiele dafür sind – neben dem Buch Deutsches Volksthum (1810) von Jahn – die vielen Gedichte und programmatischen Schriften Arndts, welche neben ins Reaktionäre tendierenden teutschtümelnden Anschauungen auch eine Reihe durchaus nationaldemokratischer Züge enthalten, die – trotz aller lediglich aus taktischen Gründen gegen die Franzosen gerichteten defensiven Reformbemühungen – fast »revolutionär« wirken. Daher erfreute sich Arndt zwar in der Vorbereitungsphase des 1813 einsetzenden Befreiungskriegs einer vom Hohenzollernregime durchaus gutgeheißenen Breitenwirkung, wurde aber nach dem siegreichen Ende dieses Kriegs, als er sich weiterhin für die nationalbewussten Bestrebungen der Burschenschaften einsetzte sowie sich ständig auf die von Tacitus in seiner Germania beschworene Freiheitsgesinnung »unserer Altvordern« berief, von der nach dem Wiener Kongress von 1815 zur Rückkehr zu absolutistisch-dynastischen Verhältnissen entschlossenen preußischen Regierung im Jahr 1819 aus seiner Bonner Professorenstelle entfernt, um so seinen »ungünstigen Einfluss« auf die studierende Jugend zu unterbinden. Wie sich dieser ideologische Umschwung im Einzelnen abgespielt hat, in dessen Verlauf man fürstlicherseits seine ins Utopische zielende nationale Aufruhrgesinnung erst unterstützt und dann unterdrückt hatte, soll im Folgenden anhand einer Reihe seiner frühen Schriften und dann der Abhandlung Ein Wort über die Pflegung und Erhaltung der Forsten 72

Ein Wort über die Pflegung und Erhaltung der Forsten und Bauern (1820)

und Bauern im Sinne einer höheren d. h. menschlichen Gesetzgebung (1820) etwas genauer dargestellt werden. II.

Geboren wurde Arndt am 26. Dezember 1769 als Sohn eines leibeigenen Hirten und einer Bauerntochter in Groß Schoritz in Schwedisch-Pommern. Nachdem sich sein Vater aus der Leibeigenschaft freigekauft hatte, schickte er seinen Sohn 1787 auf ein Gymnasium in Stralsund. Danach studierte der junge Arndt ab 1791 in Greifswald und dann in Jena Evangelische Theologie, Geschichte sowie Erd- und Völkerkunde. Darauf habilitierte er sich im Jahr 1800 in Greifswald in den Fächern Geschichte und Philologie und erhielt ein Jahr später an der dortigen Universität eine Stelle als Privatdozent. 1803 publizierte er eine Schrift unter dem Titel Versuch einer Geschichte der Leibeigenschaft in Pommern und Rügen, die zwar den Zorn vieler adliger Gutsbesitzer erregte, aber den schwedischen König im Jahr 1806 veranlasste, die bisherige Patrimonialgerichtsbarkeit und Leibeigenschaft in Schwedisch-Pommern aufzuheben. Im selben Jahr verfasste Arndt – nach den Niederlagen der österreichischen und preußischen Truppen bei Austerlitz sowie Jena und Auerstedt gegen die französische Grande Armée – eine antinapoleonische Flugschrift unter dem Titel Geist der Zeit, der er in den folgenden Jahren noch drei weitere Schriften unter demselben Titel nachschickte. Um wegen seiner Polemiken gegen die »fremdherrschaftliche Bevormundung Deutschlands« nicht von den französischen »Eindringlingen« verhaftet zu werden, wich er 1806 nach Schweden aus und kam erst 1809 wieder illegal nach Deutschland zurück, wo er sich in Berlin dem patriotisch gesinnten Kreis um den Verleger Georg Andreas Reimer anschloss, dem auch die preußischen Heeresreformer Hermann von Boyen und August Neidhardt von Gneisenau sowie Friedrich Ludwig Jahn und Friedrich Daniel Schleiermacher angehörten. Als im Jahr 1812 der Freiherr vom Stein auf Druck Napoleons nach Sankt Petersburg ausweichen musste, folgte ihm Arndt als Sekretär und schrieb dort einen Großteil seiner zum Kampf gegen die französischen »Fremdlinge« aufrufenden Lieder und Gedichte, von denen jene, die mit den Zeilen beginnen: »Der Gott, der Eisen wachsen ließ, / der wollte keine Knechte« sowie »Was ist des Deutschen Vaterland? / Ist’s Preußenland, ist’s Schwabenland? / O nein, nein, nein! / Das ganze Deutschland soll es sein!«, schnell die Runde machten. Noch militanter wirkt sein Kurzer Katechismus für den deutschen Kriegs- und Wehrmann, den er – nach dem Scheitern des napoleonischen Russlandfeldzugs – im Jahr darauf verfasste und in welchem er die preußischen Landsturmverbände aufrief, gegen jenen »blutigen Tyrannen« ins Feld zu ziehen, der die »freiheitlich« gesinnten Deutschen auf die unbarmherzigste Weise zu »Knechten« erniedrigen wolle.5 73

Ernst Moritz Arndt

Nach dem Beginn des Befreiungskriegs kehrte Arndt nach Schwedisch-­Pommern zurück, wo er sich in einer Reihe von Flugblättern, darunter Der Rhein, Teutschlands Strom, aber nicht Teutschlands Grenze, Über Volkshaß und über den Gebrauch einer fremden Sprache und Noch ein Wort über die Franzosen und uns sowie seine Lieder für Teutsche, nicht nur gegen den französischen Imperialismus, sondern ebenso scharf gegen den Einfluss der französischen Sprache und Lebensart ereiferte. Ja, im dritten Teil seiner Buchreihe Geist der Zeit, der 1813 herauskam, umriss Arndt in utopischem Vorgriff auf die Zeit nach dem Befreiungskrieg bereits die Grundzüge einer Verfassung für Gesamtdeutschland, in dem nach absolutistischer Willkür und französischer Überfremdung endlich ein wahrhaft »teutscher« Sinn für Recht und Freiheit herrschen solle. Nicht minder aktiv unterstützte er 1815 in seiner Schrift Der Studentenstaat die Gründung der sogenannten Urburschenschaft, welche die bisher existierenden studentischen Landsmannschaften zugunsten einer nationalen Organisation überwinden wollte und alle Studenten aufforderte, den gleichen »altteutschen Rock« zu tragen, um sich nicht als Angehörige verschiedener Gesellschaftsklassen, sondern als Vertreter einer gleichgearteten Nation zu fühlen. All das verschaffte Arndt nicht nur unter der studentischen Jugend, sondern auch unter der gesamtdeutsch empfindenden Bürgerschaft eine beachtliche Anhängerschaft, ja trug dazu bei, dass er 1818 sogar an der Friedrich-Wilhelms-Universität in Bonn eine Professorenstelle im Fach Geschichte erhielt. Doch der zu diesem Zeitpunkt ins Reaktionäre umschlagende »Zeitgeist« verschonte auch ihn nicht. Da er sich in seinen Vorlesungen – unter Berufung auf die Germania von Tacitus – weiterhin gern auf den ursprünglich freiheitlichen Geist »unserer Altvordern« berief und zugleich die rebellisch auftretenden Burschenschafter unterstützte,6 in denen er die wichtigsten Vertreter der auch von ihm angestrebten nationalen Einheitsbemühungen sah, beschlagnahmte man 1819 im Zuge der von den Fürsten des Deutschen Bunds verfügten reaktionären Karlsbader Beschlüsse nicht nur seine Papiere, sondern eröffnete wegen »demagogischer Umtriebe« sogar ein gerichtliches Verfahren gegen ihn. Er wurde zwar, wie andere seiner Gesinnungsgenossen, nicht verurteilt, des Lands verwiesen oder gar eingekerkert, durfte aber ab November 1820 keine Vorlesungen mehr halten – um ihn wenigstens in dieser Hinsicht mundtot zu machen. Wie Arndt auf diese Vorgänge mit der für ihn bezeichnenden Hartnäckigkeit reagierte, soll im Folgenden anhand seiner relativ unbekannten Schrift Ein Wort über die Pflegung und Erhaltung der Forsten und Bauern im Sinne einer höheren d. h. menschlichen Gesetzgebung,7 die er 1820 publizierte, etwas genauer erläutert werden. In ihr versuchte er – trotz aller staatlichen Schikanen – wenigstens an Teilaspekten seiner Hoffnung auf einen nationalen Zusammenschluss aller deutschen Staaten festzuhalten, was zu diesem Zeitpunkt angesichts der damals herrschenden dynastischen Vielstaaterei zwangsläufig utopisch, wenn nicht gar revolutionär wirken musste. 74

Ein Wort über die Pflegung und Erhaltung der Forsten und Bauern (1820)

III.

Trotz der »verhängnisvollen Zeit, worein mein Leben gefallen ist«, erklärte Arndt bereits in dem 1820 geschriebenen Vorwort dieses Buchs, scheue er nicht davor zurück, sich weiterhin zu seinen nationalen Grundüberzeugungen zu bekennen (3). Wie schon in seinen früheren Schriften stellte er dabei vor allem die von den älteren Frondiensten oder gar dem Zustand der Leibeigenschaft befreiten Bauern als die wichtigsten Garanten eines unerschütterlichen Volksgeists hin. »Glücklich sind die Staaten«, schrieb er dementsprechend, »wo die Hälfte oder Zweidrittel des Bodens von freien Bauern besessen wird« (10). Denn nur sie seien jene »tapferen Menschen«, die, wenn es gelte, »das Vaterland und sein uraltes Erbe«, nämlich die sie ernährende »Erde«, zu verteidigen, unverzüglich zu den Waffen greifen würden (12). Besonders stark sei dieser Geist unter den protestantischen Bauern verbreitet, denen – aufgrund ihrer volkhaft-demokratischen Gesinnung – jede Form der »Adelstyrannei« zuwider sei. Sie sollten daher auch in Zukunft die wichtigste Bevölkerungsschicht eines festgefügten Staates sein, um so eine »Pöbelherrschaft« der nicht Erdgebundenen zu vermeiden (20). Im ersten Teil des folgenden Buchs ging es Arndt deshalb erst einmal darum, den unleugbaren Wechselbezug zwischen Mensch und Natur herauszustellen. Im Sinne seiner Maxime »Der Mensch soll die Erde, die Natur, so verwalten und regieren, daß das Schöne und Gute in ihr bleiben und wachsen könne« (29) behauptete er unumwunden, dass der Mensch, der in einer verschandelten Natur notwendig verkümmern würde, nur in einer wohlerhaltenen Natur schön und gut bleiben könne. Kurzum: »Wo die Natur schlecht ist oder schlecht wird«, schrieb er, »da ist oder wird der Mensch auch schlecht« (35). Daher müsse man in deutschen Landen alles tun, heißt es darauf, um, statt wie im 18. Jahrhundert im Rahmen der »bürgerlichen Gesellschaft« alles ohne Rücksicht auf die Natur zu »verwissenschaftlichen«, das heißt dem skrupellosen Nützlichkeitsprinzip anzupassen, wieder zur lebenserhaltenden »Einfalt der Natur« zurückkehren zu können (41 f.). Als besonders verderblich in dieser Hinsicht stellte Arndt die zunehmende »Ab­holzung« vieler Wälder hin (52). Schließlich seien sie es, welche die meiste »Feuchtigkeit« anzögen und dann wieder von sich gäben, was sich auf die »benachbarten Felder besonders gedeihlich« auswirke (51). Durch die vielen Rodungen ziehe darum eine »saturnische Zeit« herauf, in der sich durch die »bodenlose Unmäßigkeit und Gierigkeit« eine ständig zunehmende »Verwüstung und Verhäßlichung« anbahne, deren »Verursacher« nur danach strebten, »durch alle möglichen Mittel die möglichst größte Zahl Geld zu machen«, wie es mit antikapitalistischer Akzentsetzung heißt (60). Überall treffe man auf »waldverwüstende Fabrikanten«, die mit »unersättlicher Habsucht« (45) sogar bisher selbstgenügsame bäuerliche Ansiedlungen in »Fabrikdörfer« zu verwandeln suchten (63). Demzufolge würden die »waldlosen Ebe75

Ernst Moritz Arndt

nen« zusehends den »verzehrenden Winden« preisgegeben, was eine fortschreitende Austrocknung ehemals fruchtbarer Ackerböden bewirke (65). Wie weit habe man sich dadurch, heißt es abschließend, von den alten Germanen entfernt, die »das Göttliche noch in den Bäumen und Wäldern verehrt« hätten (68). Das unvermeidliche Ergebnis dieser Entwicklung sei daher eine rücksichtslose Naturzerstörung, eine bedrohliche Überbevölkerung und eine egoistisch gesinnte Pöbelherrschaft, deren Auswirkungen man so entschieden wie möglich entgegentreten solle. Als eine Möglichkeit, dieser Entwicklung Einhalt zu gebieten, stellte deshalb Arndt im zweiten Hauptteil dieses Buchs, wie schon im Vorwort, nochmals eine dringend notwendige Wertschätzung des deutschen Bauernstands entgegen. Im Rückbezug auf die »weisesten Völkerstifter und Gesetzgeber des Alterthums« müsse, wie er schrieb, eine neue staatliche Ordnung wieder auf den »Ackergesetzen« beruhen (95). Da die Bauern noch immer die weitaus größte Bevölkerungsschicht bildeten, sollten sie in Zukunft wesentlich stärker als zuvor an allen »politischen Verhandlungen« beteiligt werden (92). Denn nur so werde es nicht nur zu »Gleichheit und Freiheit« für alle Menschen, sondern auch zu einer neuen Wertschätzung der Natur kommen. Das hätten bereits die alten Germanen gewusst, wie Arndt abermals mit einem Hinweis auf die Germania von Tacitus schrieb, während man im Mittelalter und dann in der Frühen Neuzeit die Bauern im Rahmen des Feudalsystems zu jener jammervollen Sklaverei verdammt habe, deren Ketten sie erst in jüngster Zeit allmählich abzuschütteln begännen. Doch diese »Befreiung«, erklärte Arndt, habe im Zuge der immer unverbindlicher werdenden Gewerbefreiheit zugleich ein Streben nach »flüchtigem Reichthum« ermöglicht (135), wodurch auch der Landbesitz zu einer beliebig austauschbaren Ware geworden sei. Dieser Entwicklung, erklärte er, müsse man so entschieden wie möglich entgegentreten. Statt im Gefolge des immer stärker um sich greifenden »wirtschaftlichen Freiheitsschwindel[s]« selbst den Landbesitz der Bauen dem »Wechsel oder Zufall« zu überlassen, solle man endlich einsehen, dass die freien, erbsässigen Bauern die wahren »Eckpfeiler des Staates« seien (134). Zugegeben, aufgrund seiner sozialen Verbundenheit mit allen gesellschaftlichen Niedrigstehenden legte Arndt in diesem Zusammenhang auch ein gutes Wort für die kleinen »Handwerker« ein (132). Von den Großkopfeten waren ihm dagegen nur jene den Bauern gegenüber günstig gestimmten »Majoratsherren« sympathisch, während er sich von den herrschsüchtigen »Junkern« deutlich distanzierte. Noch schärfer verurteilte er das neumodische Spekulantengesindel, das im Zuge einer falsch verstandenen »Freiheit« mit dem »Maschinenwesen« seiner seelenlosen »Fabriken« lediglich dem übelsten Schacherwesen huldige (135). Um also den ursprünglich »reinen« Zustand des deutschen Volks zu bewahren, beschloss Arndt diesen Argumentationsstrang im Sinne seiner rückwärtsgewandten Utopie – nach mancherlei Ausfällen gegen das bodenlose Fabrikwesen, durch den ein »Teil des Menschengeschlechts« notwendig »leiblich und geistig verdorben« 76

Ein Wort über die Pflegung und Erhaltung der Forsten und Bauern (1820)

werde – nochmals mit der Verklärung jener freien Bauern, die vornehmlich das erfreue, was »durch die Zeiten dauere und allein bleibendes Glück« gewähre. Ja, Arndt befürchtete sogar, dass jene »Länder, wo sich wenige Menschen fast alle Grundstücke als ihr Eigenthum« unter den Nagel gerissen und »alle Landbewohner zu ihren Tagelöhnern und Knechten« gemacht hätten, auf die Dauer nicht bestehen könnten (135). Als Beispiel diente ihm dafür vor allem England, das zwar wegen »seiner Freiheit und seiner Reichthümer über ganz Europa, ja über die ganze Erde hin als eine bewundernswerte Erscheinung« gelte, aber »drinnen nicht so glücklich sei«, wie sein äußerer Schein vortäusche. Schließlich hätten hier die »Großen und Reichen« bereits das ganze Land in ihren Besitz gebracht und zugleich ein »die ganze Welt umfassendes Fabrikwesen« in Gang gesetzt, wodurch in den ländlichen Gebieten eine »Verwirrung und Regellosigkeit« eingetreten sei, die zu einer »Unfruchtbarkeit« der ehemals guten Ackerböden geführt habe, welche man zwar zu »verkleistern und versalben« suche, aber »nicht mehr heilen« könne (136). Um eine derartige Entwicklung im Hinblick auf Deutschland zu verhindern, setzte sich daher Arndt für folgende Forderungen ein: Statt die Ordnung der Natur und damit auch der Gesellschaft nicht durch gewerbliche »Willkühr« zu gefährden, müsse man endlich »Ackergesetze« erlassen, durch welche die »Bauern und kleinen Landbesitzer« künftig als »unmittelbare Lehnmänner des Staates« anerkannt würden, um so die »Mißbräuche einer zügellosen Freiheit« zu verhindern (137). Daher dürfe in Zukunft nur ein »Bauer, aber kein Edelmann, kein Kaufmann, kein Handwerker, kein Fabrikant« mehr Land und Boden besitzen (139). Nach dem Tod eines dieser Lehnbauern dürfe das von ihm bebaute Land nicht leichtfertig verkauft werden, sondern müsse Familienbesitz bleiben. Denn nur so, heißt es weiter, ließe sich eine beständige Festigkeit der gesellschaftlichen Verhältnisse erhalten, während eine staatlich nicht aufgehaltene Verfreiheitlichung des Eigentumsrechts notwendig zum allgemeinen Untergang führen würde. Dementsprechend griff Arndt auf den letzten zwei Seiten dieses Buchs nochmals jene »ungebührliche Freilassung« an, die in ihrer Kapitalsüchtigkeit den Staat in einen Zustand versetzen würde, in dem alle seine Einrichtungen nur noch wie Angelegenheiten einer »Fabrikanstalt« gewürdigt würden (146). Es sei zwar lobenswert, räumte er ein, dass man im Zuge der beginnenden Industrialisierung Maschinen entwickelt habe, die »einem Menschenarm die Kraft von hundert Armen geben könnten«, aber lieber, heißt es unmittelbar danach, »wollen wir keine einzige Maschine haben«, um so »der Gefahr zu entgehen«, »daß das Maschinenwesen uns die gesunde Ansicht vom Staate und die alle Kraft und Rechtlichkeit erhaltenden Geschäfte der Gesellschaft zerrüttet« (146 f.). Und darauf folgen dann in utopischer Hoffnung auf eine mögliche »Pflegung und Erhaltung« des deutschen Vaterlands abermals die vor einem Überhandnehmen 77

Ernst Moritz Arndt

des verderblichen »Maschinenwesens« warnenden Schlusssätze: »Wenn alle Handwerker Fabrikanten werden, wenn der Ackerbau selbst wie eine Fabrik betrieben wird, dann steht es schlecht um das Glück und die Herrlichkeit unseres Geschlechts. Wenn wir dahin kämen, daß der Pflug und die Sense von selbst den Acker pflügten, wenn wir endlich auf Dampfmaschinen über Berg und Thal fahren und auf Luftbällen in die Schlacht reiten könnten, kurz wenn wir nur neben unsern künstlichen Maschinen, die alle Arbeit für uns thäten, so hinzuschlendern bräuchten, dann würden wir ein so elendiges Geschlecht werden, daß die Geschichte auf ewig ihre Bücher vor uns schlösse« (147).

Abb. 15  Julius Roeting: Ernst Moritz Arndt (1855)

Danach hatte Arndt – aufgrund der streng durchgeführten Zensurmaßnahmen, mit denen die einzelstaatlich gesinnten Metternichianer allen deutschnational eingestellten Schriften entgegenzutreten versuchten – kaum noch die Möglichkeit, sich 78

Ein Wort über die Pflegung und Erhaltung der Forsten und Bauern (1820)

weiterhin in der Öffentlichkeit an sein »geliebtes teutsches Volk« zu wenden. Erst nachdem ihn 1840 der preußische König Friedrich Wilhelm IV. in einer liberalen Aufwallung rehabilitierte, konnte er – nun schon in seinen Siebzigern – ab 1845 seine Gesammelten politischen Schriften und 1847 einen Nothgedrungenen Bericht aus seinem Leben herausgeben. Ja, im Jahr 1848 wurde er darauf sogar zum Mitglied der Frankfurter Nationalversammlung gewählt, wo er sich im Zuge der Reichseinigungsbewegung für ein preußisches Erbkaisertum einsetzte. Danach erhielt er seine Professur zurück, trat 1854 in den Ruhestand und starb am 29. Januar 1860 als Einundneunzigjähriger in Bonn. Vor allem in Preußen stieg Arndt anschließend in den Augen aller auf eine möglichst baldige Reichseinigung drängenden Nationalliberalen zu einem einseitig verklärten Leitbild einer mit vielen antifranzösischen Affekten durchsetzten völkisch-chauvinistischen Gesinnung auf, was nicht nur zur Gründung zahlreicher Arndt-Vereine, sondern auch zur Aufstellung von heroisierenden Arndt-Denkmälern führte – eine Tendenz, die bis zur Zeit des Dritten Reichs anhielt. IV.

Es fällt daher nicht leicht, dieser ideologischen Vereinnahmung Arndts wenigstens mit einigen Hinweisen auf jene seiner Ansichten entgegenzutreten, die unter den damals herrschenden politischen Zuständen noch durchaus ins Progressive tendierende nationaldemokratische Züge hatten. Dafür sprechen, wie bereits ausgeführt, schon das in seiner Frühzeit höchst energische Eintreten für die Aufhebung der Leibeigenschaft der jahrhundertelang versklavten Bauern sowie sein darauf mit dem Freiherrn vom Stein entwickeltes Konzept eines deutschen »Freiheitskriegs« gegen das imperialistische Auftreten Napoleons, dem nicht nur die Hoffnung auf ein Zurückdrängen der französischen »Eindringlinge«, sondern zugleich die Hoffnung auf eine Beseitigung der absolutistischen Willkürherrschaft des in viele Dynastien aufgespaltenen Restterritoriums des ehemaligen Heiligen Römischen Reichs Undeutscher Nation zugrunde lag. Als diese Hoffnung, die zwar zum Sieg über die Franzosen führte, aber 1815 auf dem Wiener Kongress zugunsten einer Restaurierung der verschiedenen Fürstenhäuser aufs Schmählichste unterdrückt wurde, sah Arndt nur noch in den von ihm unterstützten Bestrebungen der nationalgesinnten Burschenschaften eine zwar kleine, aber nichtsdestotrotz ihn hoffnungsvoll stimmende Oase der Utopie. Doch auch das erwies sich 1819 nach den von den Fürsten erlassenen Karlsbader Beschlüssen, die zum Verbot der Burschenschaften führten, als eine Illusion, ja bewirkte sogar, dass er seine Bonner Professur verlor. Darauf setzte Arndt, wie bereits dargestellt, seine Hoffnungen nur noch auf die Bauern, wobei er sich nicht nur gegen die herrschsüchtigen Junker, sondern auch gegen das beginnende »Maschinenwesen« ereiferte, 79

Ernst Moritz Arndt

in dem er eine lebensbedrohende Gefahr für diese von der Nachhaltigkeit der Natur abhängige Bevölkerungsschicht sah. Als er nach zwanzigjähriger Ausschaltung aus dem öffentlichen Leben sowie der in diesem Zeitraum einsetzenden Verstädterung und Industrialisierung des Deutschen Bunds auch diese letzte utopische Hoffnung aufgeben musste, resignierte Arndt schließlich und unterstützte 1848 lediglich die Idee eines preußischen Erbkaisertums, um wenigstens an der Hoffnung auf eine mögliche Reichseinigung festzuhalten. Dennoch sollte man nicht den Mut vergessen, mit dem er sich in seiner Frühzeit immer wieder, wenn auch manchmal in überspitzter Form, für einen von den unteren Bevölkerungsschichten ausgehenden deutschen Einheitswillen eingesetzt hatte, der zwar später oft auf die übelste Weise ins Chauvinistische verfälscht wurde, aber bei ihm noch streckenweise – verbunden mit einer antikapitalistischen Ausrichtung – von durchaus achtenswerten nationaldemokratischen Impulsen geprägt war. Und das bewegte selbst einen Sozialisten wie Ernst Bloch 1946 dazu, seinem Buch Freiheit und Ordnung. Abriss der Sozial-Utopien ein Motto von Ernst Moritz Arndt voranzustellen, in dem sich dieser Autor zu »Gerechtigkeit und Humanität« bekannt hatte.8

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Karl Marx Die deutsche Ideologie (1846)

I.

Auf den ersten Blick scheinen Begriffe wie »Marxismus« und »utopisches Denken« aus zwei verschiedenen ideologischen Lagern zu stammen. Wenigstens in diesem Punkt glauben sich die meisten Marxologen, die sich sonst bei ihren theoretischen Auseinandersetzungen gern in die Haare geraten, relativ einig zu sein. Schließlich, wo finden sich denn bei Karl Marx, der zeit seines Lebens im Hinblick auf mögliche gesellschaftliche Veränderungen stets von den jeweils vorgegebenen materiellen Voraussetzungen ausgegangen ist, irgendwelche detailliert ausgemalte Zukunftsbilder, wie das für all jene Schriften, die sich als Utopien ausgeben, typisch ist? Und hat nicht Friedrich Engels, sein wichtigster Mitstreiter, in seinem Essay Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft (1880) ausdrücklich erklärt, dass sich das revolutionär gesinnte Proletariat nicht von irgendwelchen schimärenhaften Phantasiegebilden in seiner durch die industrielle Entwicklung heraufbeschworenen Konfrontation mit der Kapitalistenklasse und den sich daraus zwangsläufig resultierenden Umsturzplänen beirren lassen solle? Ja, haben nicht beide, den von ihnen vertretenen »wissenschaftlichen Sozialismus« immer wieder gegen die idealistischen Utopien bürgerlicher Autoren sowie die ihnen ebenso irreal erscheinenden frühsozialistischen Wunschphantasien ausgespielt? Trotz all ihrer antiutopischen Äußerungen ist damit die Frage, ob nicht der Mar­xismus dennoch eine der großen, wenn nicht gar die historisch folgenreichste Utopie des 19. Jahrhunderts war, keineswegs vom Tisch. Selbst wenn sie das im Einzelnen nicht genauer auszumalen versuchten, lag auch den Schriften von Marx, Engels sowie vielen ihrer Mitstreiter und späteren Anhänger stets das in eine bessere Zukunft weisende Bemühen zugrunde, mit dem von ihnen propagierten Umsturz der kapitalistischen Gesellschaftsverhältnisse den unhaltbaren Zustand jener Klassengesellschaften zu überwinden, in denen die Mehrheit der Besitzlosen auf die schamloseste Weise von der Minderheit der Besitzenden ausgebeutet werde. Und sollten nicht darauf in hoffnungsvoller Zuversicht jene sozialistischen Zustände herrschen, in denen es keine Reichen und Armen mehr geben würde? Obwohl dieser Versuch weitgehend gescheitert ist, beweist diese Zielvorstellung, dass auch der Marxismus, wenn er es auch häufig abzustreiten versuchte, dennoch eine Utopie war, mag auch von ihm inzwischen lediglich das »Prinzip Hoffnung« übrig geblieben sein. 81

Karl Marx

II.

So viel erst einmal – in gröbsten Umrissen – zu der Frage, inwieweit der Marxismus eine antiutopische Utopie war und geblieben ist. Doch nun – im Rahmen der in diesem Buch behandelten Problemstellung – zu der vielleicht ebenso wichtigen Frage, ob sich nicht in den unzähligen Schriften von Marx und Engels dennoch vereinzelte Hinweise auf gewisse Oasen der Utopie finden lassen, in denen ihre Zukunftsvorstellungen etwas »konkretere« Formen angenommen haben, statt ausschließlich im Bereich des theoretisch Erhofften zu bleiben. Die ersten Hinweise darauf finden sich in den 1844 von Marx unter dem Ein­ fluss von Friedrich Engels, Moses Hess und Wilhelm Weitling verfassten Ökonomisch-­­ philosophischen Manuskripten, in denen er sich ausführlich mit den Arbeitsbedingungen innerhalb der bisher existierenden Gesellschaftssysteme auseinandersetzte. Da im Rahmen der bürgerlichen Gesellschaft das Privateigentum zum beherrschenden Prinzip geworden sei, heißt es hier bereits im 1. Manuskript, sei durch die Trennung von Kapital und Arbeit ein Zustand eingetreten, durch den das Produkt der Arbeit nicht mehr den Arbeitern, sondern den Kapitalisten gehöre. Und dadurch seien Verhältnisse entstanden, in denen es kaum noch eine freie, bewusste Tätigkeit mehr gebe, was zu einer allgemeinen »Entfremdung« unter den Menschen geführt habe.1 Ja, anschließend folgt der für alle weiteren Erwägungen dieser Art entscheidende Satz: »Erst der Kommunismus ist der positive Ausdruck des aufgehobenen Privateigentums.«2 Um den Eindruck zu vermeiden, dass hiermit die Rückkehr zum »rohen Kom­ munismus« irgendwelcher Urgesellschaften gemeint ist, heißt es kurz darauf, sei mit diesem Postulat keineswegs die Forderung gemeint, dass alle Menschen wieder »arm, roh und bedürfnislos« werden sollten. Im Gegenteil, durch die »Aufhebung des Privateigentums« im Kommunismus würden die in den bisherigen Klassengesellschaften lebenden Menschen erstmals aus dem Zustand der durch die sozioökonomischen Verhältnisse verschuldeten »Selbstentfremdung« befreit werden. Und damit würden sie endlich fähig sein, sich ein »allseitiges Wissen auf eine allseitige Art« anzueignen und im Zustand »gesellschaftlicher Tätigkeit« zu »totalen Menschen« zu werden. Dieser Prozess, heißt es danach noch gut hegelianisch, »ist das aufgelöste Rätsel der Geschichte und weiß sich als dessen Lösung«.3 III.

Wesentlich ausführlicher hat sich Marx dann zwei Jahre später nochmals mit den Folgen der kapitalistischen Arbeitsteilung in dem von ihm mit Engels verfassten Buch Die deutsche Ideologie auseinandergesetzt, dem er den weit ausladenden Untertitel Kritik der neuesten deutschen Philosophie in ihren Repräsentanten, Feuerbach, B. Bauer und Stirner, und des deutschen Sozialismus in seinen verschiedenen Prophe82

Die deutsche Ideologie (1846)

Abb. 16  Karl Marx (1843)

ten gab, das jedoch wie seine Ökonomisch-philosophischen Manuskripte bis zum Jahr 1932 ungedruckt blieb. Im Gegensatz zu den idealistisch intendierten Utopien der französischen Frühsozialisten sowie der damaligen deutschen Geheimbünde in Paris4 geht es in diesem Werk zum ersten Mal um eine »wissenschaftlich« durchgeführte Grundlegung eines konsequenten Sozialismus oder besser Kommunismus. Für diese Zielrichtung spricht schon zu Anfang der Satz: »Der Kommunismus ist für uns nicht ein Zustand, der hergestellt werden soll, ein Ideal, wonach die Wirklichkeit sich zu richten haben wird. Wir meinen die wirkliche Bewegung, welche den jetzigen Zustand aufhebt.«5 Das heißt ins Realpolitische übersetzt: Nur das 83

Karl Marx

im Zuge der fortschreitenden Industrialisierung ständig größer werdende Proletariat wird wegen seiner numerischen Überlegenheit fähig sein, durch eine Revolution das Privateigentum an den Produktionsmitteln zu beseitigen, wodurch alle bisherigen Klassengegensätze verschwinden und damit die Folgen der allgemeinen Entfremdung aufgehoben würden. Der »praktische Entwicklungsprozeß« der menschheitlichen Geschichte wird also hier – im Gegensatz zu Hegel und seinen Anhängern – nicht mehr als ein Entwicklungsgang des menschlichen Geistes, sondern als die Geschichte sozialer Konfrontationen gesehen. Es soll daher, wie es im Folgenden heißt, in diesem Buch stets »von den wirklich tätigen Menschen ausgegangen und aus ihrem wirklichen Lebensprozeß auch die Entwicklung der ideologischen Reflexe und Echos ihres Lebensprozesses dargestellt« werden. Denn nur wenn man die im Rahmen des Kapitalismus erfolgte »Teilung der Arbeit« als den »bestimmenden Faktor der geschichtlichen Entwicklung« erkannt habe, behauptete Marx schon in der Einleitung zu diesem Buch, vermeide man alle idealistischen Verblasenheiten.6 Während in seinen kurz zuvor verfassten Schriften noch zum Teil auf abstraktphilosophische Weise vom »Wesen des Menschen« sowie von der »Entfremdung des Menschen von seinem tatsächlichen Wesen« die Rede war,7 werden also in diesem Buch in aller Entschiedenheit stets die jeweiligen Arbeitsbedingungen als die bestimmenden Voraussetzungen der geschichtlichen Entwicklung hingestellt, eine Erkenntnis, die Marx später in der oft zitierten Formel zusammenfasste, dass nicht das »Bewußtsein das Sein«, sondern das »Sein das Bewußtsein« bestimme.8 Da »zum Leben vor allem Essen und Trinken, Wohnung, Kleidung und noch einiges Andere gehöre«, folgerte er demnach schon in seiner Deutschen Ideologie, sei die »erste geschichtliche Tat die Erzeugung der Mittel zur Befriedigung dieser Bedürfnisse« und damit die alles Weitere determinierende »Grundbedingung aller Geschichte« gewesen, »die noch heute wie vor Jahrtausenden täglich und stündlich erfüllt werden muß, um die Menschen nur am Leben zu erhalten.«9 Daher müsse die Geschichte der Menschheit, heißt es anschließend immer wieder, stets im Hinblick auf die »Geschichte der Industrie und des Austausches studiert und bearbeitet werden«. Die Vorstellung, dass es in bestimmten Gesellschaften auch »vereinzelte, von allen empirischen Fesseln und Schranken befreite Menschen« gegeben habe, sei deshalb von vornherein illusionär.10 In allen Klassengesellschaften, ob nun in demokratischer, aristokratischer oder monarchischer Form, lesen wir im Folgenden, gebe es weder unentfremdete Subjekte noch ein gesamtgesellschaftliches Allgemeininteresse, sondern nur sich widersetzlich gegenüberstehende Gruppen oder Parteien, die lediglich ihre eigenen Interessen im Auge hätten. Eine Änderung in dieser Hinsicht, behauptete Marx, lasse sich selbst durch noch so wohlgemeinte Reformen nicht herbeiführen. Auch lokal begrenzte Bemühungen, 84

Die deutsche Ideologie (1846)

diesen Zustand aufzuheben, könnten, weil das kapitalistische Wirtschaftssystem bereits weltweite Formen anzunehmen beginne, daran nicht viel ändern. Eine Beseitigung dieser Verhältnisse sei letztlich nur durch einen revolutionär herbeigeführten »universellen Kommunismus« möglich, der als »Tat der herrschenden Völker auf einmal und gleichzeitig erfolgen« müsse.11 »Das Proletariat kann also nur weltgeschichtlich existieren«, heißt es danach apodiktisch, da sich »der Kommunismus, seine Aktion, nur als ›weltgeschichtliche‹ Existenz« durchsetzen lasse.12 So weit erst einmal die Analyse der weiterhin durch die bestehenden Eigentumsverhältnisse bedingten Arbeitsteilung und der sich daraus ergebenden Entfremdung sowie die Forderung nach einer revolutionären Aufhebung dieser Zustände. Als betont »wissenschaftlich« argumentierender Nationalökonom ging dabei Marx allen Spekulationen, wie die zukünftige kommunistische Gesellschaft aussehen soll, bewusst aus dem Weg. Er wollte kein Utopiker sein, der sich wie andere Frühsozialisten dieser Ära irgendwelchen irrealen Wunschvorstellungen hingab, sondern so »konkret« wie nur möglich bleiben. Selbst wo er sich dennoch einen kurzen Blick in die von ihm anvisierte Zukunft erlaubte, behielt er stets die materielle Grundvoraussetzung besserer Gesellschaftsverhältnisse, nämlich die Aufhebung der von ihm als »Entmenschlichung« hingestellten Arbeitsteilung, im Auge.13 Während in den »urwüchsigen« Gesellschaften der Vergangenheit die Produktion der erforderlichen Lebensmittel, erklärte er in diesem Zusammenhang etwas vereinfachend, noch von allen Menschen geleistet worden sei, sei in der modernen Welt durch die ungleiche Verteilung der Besitzverhältnisse ein Zustand eingetreten, der die Mittellosen zu Sklaven der über die Produktionsmittel verfügenden Besitzenden erniedrigt habe. Worum es also gehe, sei die Forderung, diesen unwürdigen Zustand ein für alle Mal zu überwinden. Dementsprechend heißt es in seiner Deutschen Ideologie an einer Stelle, auf die sich viele zukunftssüchtige Ideologen unter den Linken gern berufen haben: »Sobald nämlich die Arbeit verteilt zu werden anfängt, hat Jeder einen bestimmten ausschließlichen Kreis der Tätigkeit, der ihm aufgedrängt wird, aus dem er nicht heraus kann; er ist Jäger, Fischer oder Hirt oder kritischer Kritiker und muß es bleiben, wenn er nicht die Mittel zum Leben verlieren will – während in der kommunistischen Gesellschaft, wo Jeder nicht einen ausschließlichen Kreis der Tätigkeit hat, sondern sich in jedem beliebigen Zweige ausbilden kann, die Gesellschaft die allgemeine Produktion regelt und mir eben dadurch möglich macht, heute dies, morgen jenes zu tun, morgens zu jagen, nachmittags zu fischen, abends Viehzucht zu treiben, nach dem Essen zu kritisieren, wie ich gerade Lust habe, ohne je Jäger, Fischer, Hirt oder Kritiker zu werden.«14 Ja, an einer anderen Stelle seiner Deutschen Ideologie lesen wir sogar im Hinblick auf die in der feudalaristokratischen und bürgerlichen Welt als geniale Spezialleistung hochgeschätzte Produktion von Kunstwerken: »In einer kommunistischen Gesellschaft gibt es keine Maler, sondern höchstens Menschen, die unter Anderm auch malen.«15 85

Karl Marx

IV.

Doch solche ins Utopische vorstoßenden Äußerungen, mit denen Marx die Möglichkeit der Abschaffung »entfremdeter« Arbeit in einer klassenlosen Gesellschaft der Zukunft ins Auge fasste, wurden in seinen späteren Schriften allmählich immer seltener. Wo er dennoch darauf zurückkam, wich er meist in wesentlich vorsichtigere Formulierungen aus. So schrieb er zwar 1848 in seinem Manifest der Kommunistischen Partei nach wie vor, dass die »freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller« sei,16 verband aber damit, wie in seinen Ökonomisch-­ philosophischen Manuskripten und seiner Deutschen Ideologie, nicht mehr die Wunschvorstellung, dass damit das Zeitalter der total befreiten Menschheit verbunden sei.17 Auch im »Reich der Freiheit«, das erst jenseits der materiellen Produktion beginne, werde es stets das »Reich der Notwendigkeit« geben, wie es später im dritten Band des Kapitals heißt. Dafür spricht vor allem der Passus: »Die Freiheit auf diesem Gebiet kann nur darin bestehen, daß der vergesellschaftete Mensch, die assoziierten Produzenten, diesen ihren Stoffwechsel mit der Natur rationell regeln, unter ihre gemeinschaftliche Kontrolle bringen, statt von ihm als von einer blinden Macht beherrscht zu werden; ihn mit dem geringsten Kraftaufwand und unter den ihrer menschlichen Natur würdigsten und adäquatesten Bedingungen vollzieht. Aber es bleibt dies immer ein Reich der Notwendigkeit. Jenseits desselben beginnt die menschliche Kraft­entfaltung, die sich als Selbstzweck gibt, das wahre Reich der Freiheit, das aber nur auf jenem Reich der Notwendigkeit als seiner Basis aufblühn kann.«18 Das bedeutet jedoch keineswegs, dass Marx damit das utopische Konzept einer durch eine revolutionäre Umwälzung der kapitalistischen Wirtschaftsordnung erreichten kommunistischen Gesellschaft aufgegeben hätte. Allerdings verzichtete er hierbei, wie gesagt, in seinen späteren Schriften auf irgendwelche überspannten Erwartungen. Woran er jedoch stets festhielt, war die Hoffnung, dass sich in einem sozialistischen Staat unter der Parole »Jeder nach seinen Fähigkeiten« die alle menschlichen Verhältnisse korrumpierende Arbeitsteilung sicher vermindern lasse. Was er daher bis zum Ende seines Lebens ins Auge fasste, war die halbwegs utopische Vorstellung, dass es im Kommunismus zwar nicht zu einer totalen Verfreiheitlichung aller Menschen kommen werde, aber sich zumindest durch das Prinzip der »Freien Assoziation der freien Produzenten« eine größere Diversität der jeweiligen Arbeitsbedingungen und damit eine teilweise Überwindung der bisherigen Trennung von Kopf- und Handarbeit durchsetzen werde.19 Mit dieser Zielvorstellung meinte Marx weder eine zwangsverpflichtende Ge­­ meinschaft noch eine total parzellierte Menschenansammlung, sondern eine Vergesellschaftung, die auf einem kollektiven Subjektivismus beruht, der sich der »Dritten Sache« verpflichtet fühlt und daher jenseits der herkömmlichen Antinomie von Egoismus und Altruismus steht. Im Rahmen solcher vergesellschafteten Produzenten86

Die deutsche Ideologie (1846)

verbände würde es deshalb keine Leitenden und keine ihnen Folgenden mehr geben. In ihnen würde jedem Menschen endlich die Möglichkeit geboten, nicht nur mitzuarbeiten, sondern auch mitzubestimmen. Denn eine wirkliche Sozialisierung wäre nur dann erreicht, wie Marx mehrfach betonte, wenn die Teilnahme des Einzelnen an den Herstellungs- und Verwaltungsvorgängen auch tatsächlich zu Produkten führte, bei denen ein gemeinschaftsfördernder und zugleich selbstbestätigender Faktor wiedererkennbar bliebe. Solche Thesen klingen zwar immer noch sehr hochgestochen, in manchen Ohren vielleicht sogar utopistisch, sind jedoch keineswegs unkonkret.20 Denn das oberste Prinzip bleibt in ihnen nach wie vor der unabweisliche Leistungsbeitrag des Einzelnen zur Gesamtgesellschaft, der unmittelbar auf die realen Bedürfnisse sowohl der Produzenten als auch der Konsumierenden zugeschnitten ist. Mit diesem Konzept werden demnach keine hohen oder gar falschen Tugenden verlangt, zu denen nur eine neue oder anders geartete Menschheit fähig wäre. Im Gegenteil. Die primären Ziele bleiben stets die soziale Gerechtigkeit und der einzelpersönliche Genuss am gesamtgesellschaftlichen Charakter der Arbeit. All jene, die in der Aufhebung jener »Entfremdung«, welche auf der »Teilung der Arbeit« beruht,21 bedeutsame gesellschaftliche Fortschritte erzielen wollten, beriefen sich deshalb immer wieder auf die von Marx propagierte Utopie der »freien Assoziation der freien Produzenten«, die ihnen als möglicher Endpunkt der sozialistischen Bewegung wesentlich sinnvoller erschien, als sich den Kommunismus als jene Schlaraffia socialistica vorzustellen, von der manche Utopiker des frühen 19. Jahrhunderts geträumt hatten.

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Moses Hess Rom und Jerusalem, die letzte Nationalitätsfrage (1862)

I.

Während man die im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation lebenden Juden, wie in fast allen europäischen Ländern, jahrhundertelang als Wucherer, Ritualmörder oder Brunnenvergifter auf die unwürdigste Weise unterdrückt oder gar in Pogromen umgebracht hatte, kam es in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts im Zuge der sogenannten »Aufklärung« in Preußen und dann im Habsburgerreich zu einer allmählichen Änderung in dieser Hinsicht.1 Wohl die bekanntesten Beispiele dafür sind das zu Recht vielgerühmte Toleranzdrama Nathan der Weise (1779) von Gotthold Ephraim Lessing sowie die Schrift Über die bürgerliche Verbesserung der Juden (1781) von Christian Wilhelm von Dohm. Ermutigt durch diese beiden Werke pu­bli­ zierte darauf im Jahr 1783 der mit diesen beiden Autoren befreundete Berliner Jude Moses Mendelssohn seine Schrift Jerusalem oder über religiöse Macht und Judentum, in der er zwar an den rituellen Gesetzen seiner Glaubensgenossen festhielt, aber die »Mächtigen dieser Erde« beschwor: »Betrachtet uns, wo nicht als Brüder oder Mitbrüder, doch wenigstens als Mitmenschen und Miteinwohner des Landes. Zeiget uns Wege und gebet Mittel an die Hand, wie wir bessere Miteinwohner werden können, und lasset uns die Rechte der Menschheit mitgenießen.«2 Im selben Jahr reichte obendrein der Berliner Jude David Friedländer, der zum engsten Kreis um Moses Mendelssohn gehörte und mit gebildeten Kantianern wie Markus Herz, Lazarus Bendavid und Salomon Maimon verkehrte, seine Schrift Abriß von den politischen Zuständen der sämtlichen Jüdischen Kolonien in den preußischen Staaten bei den für derartige Fragen zuständigen Behörden ein, in der er sich für eine Aufhebung der Pariastellung der Juden innerhalb des gesellschaftlichen Lebens einsetzte, die in einem eklatanten »Widerspruch zu den kulturellen Bildungsbemühungen sowie dem patriotischen Zugehörigkeitsgefühl der preußischen Juden gegenüber dem friderizianischen Staat stehe«.3 Allerdings blieben solche Schriften, wie auch die Apologie für die unterdrückte Judenschaft in Deutschland (1798) von Johann Andreas Riem oder die von David Frankel in der Zeitschrift Sulamith verkündete Parole: »Das Volk Abrahams arbeitet sich, mit unzähligen Hindernissen kämpfend, immer mehr zur Menschheit empor«,4 vorerst noch relativ unwirksam. Dennoch waren damit wichtige Weichenstellungen in Richtung einer Judenemanzipation angedeutet, welche dieser Bevölkerungsschicht – bei Beibehaltung ihrer Religion – endlich eine menschenwürdige Rolle 88

Rom und Jerusalem, die letzte Nationalitätsfrage (1862)

im gesellschaftlichen Leben ermöglichen sollte. Und das führte nach mancherlei Hindernissen im Jahr 1812 schließlich zu dem vom preußischen Staatskanzler Karl August von Hardenberg erlassenen Judenedikt, das dieser bisher weitgehend aus der politischen und sozialen Öffentlichkeit ausgegrenzten Minderheit die gleichen bürgerlichen Rechte wie den Christen zugestand. Zugegeben, es gab danach aufgrund der nationalistischen Begeisterungswelle während der Befreiungskriege von 1813/15 sowie der 1819 ausbrechenden Hep-Hep-Krawalle auch weiterhin eine Reihe antisemitischer Ausschreitungen, welche aber die einmal in Gang gekommene Judenemanzipation – trotz des 1815 auf dem Wiener Kongress wiederhergestellten christlichen Gottesgnadentums der verschiedenen Herrscherhäuser – nicht mehr grundsätzlich aufhalten konnten. So viel in gebotener Kürze zu den selbst durch restaurative Gegenmaßnahmen nur noch mit Mühe zu unterdrückenden aufklärerischen Tendenzen. Im Hinblick auf die fortschreitende Judenemanzipation wirkte sich das folgendermaßen aus: Während eine zusehends immer kleiner werdende Minderheit der deutschen Juden, die der sogenannten Orthodoxen, auch weiterhin streng an den rituellen Gesetzen ihres Glaubens festhielt, schloss sich die Mehrheit dieser Bevölkerungsschicht in der Folgezeit dem gleichen Streben nach Besitz und Bildung an,5 von dem sich auch die deutsche Bürgerklasse im Rahmen der erweiterten Gewerbefreiheit und dann der in den dreißiger Jahren des 19. Jahrhunderts allmählich einsetzenden Industrialisierung einen gesellschaftlichen Machtanstieg versprach. Was zu diesem Wandlungsprozess obendrein beitrug, war die Entstehung zahl­­­­­­­ reicher jüdischer Reformgemeinden, die sich nicht nur gegen die »äußeren Be­­ hinderungen«, sondern ebenso entschieden gegen die »weiterhin bestehenden Gewohnheiten im Innern«, das heißt die Autorität des Talmud, auflehnten und sich für eine sinnvolle Eingliederung in die staatliche Gesamtgesellschaft einsetzten, wie man in der 1846 erschienenen Neueren Geschichte der Israeliten von 1815 bis 1845 von Isaac Markus Jost nachlesen kann. Ja, in diesem Buch findet sich bereits das Bekenntnis: »Statt in den finsteren Mauern der Synagoge zu bleiben, wollen wir als Mitglieder solcher Reformgemeinden« – zum Teil auf junghegelianische Weltgeisttheorien vertrauend – endlich »ins Freie« der »veränderten Welt« hinaustreten.6 Im Gefolge dieser sich verändernden Verhaltensweisen meldete sich neben der relativ breiten Schicht der jüdischen Geschäftsleute auch eine beachtliche Reihe deutsch-jüdischer Theoretiker und Schriftsteller zu Wort, die sogar die Bedingungen der Taufe und einer Namensänderung auf sich nahmen, um sich das nötige »Entreebillet« zur westlich-aufgeklärten Kultur zu verschaffen.7 Einige der besonders aufmüpfig Gesinnten unter ihnen verließen daher, wie Ludwig Börne und Heinrich Heine, schon in den zwanziger und dreißiger Jahren Deutschland und siedelten nach Paris um, wo sie sich – unter Berufung auf die Parole »Freiheit, Gleichheit, Brüder89

Moses Hess

lichkeit« der Französischen Revolution von 1789 – in ihren Schriften mit hochgemuten Hoffnungen nicht nur für eine Überwindung der älteren Feudalordnung, sondern zugleich für eine demokratische Gleichstellung aller Bürger einsetzten, bei der die Unterschiede der Herkunft und der Religion keine Rolle mehr spielen sollten. Ja, kurze Zeit später versuchte sogar der auch in Deutschland geborene, aber ebenfalls nach Paris übergesiedelte Jude Karl Marx den Kreis der gesellschaftlich Benachteiligten noch weiter zu fassen, indem er selbst das im Zuge der industriellen Revolution entstandene Proletariat in seine Befreiungspläne einbezog. Und in diesen Umkreis gehört auch der Kölner Jude Moses Hess, der erst sozialistische Anschauungen vertrat und sich dann im Rahmen seiner ins Utopische vorstoßenden Sozial- und Völkertheorien – im Gefolge der Nationalitätenpolitik der sechziger Jahre – für die Bildung eines selbständigen Judenstaats in Palästina einsetzte, in dem sich auch dieses seit Urzeiten unterdrückte Volk endlich zu den Höhen einer wahrhaft autonom-humanitären Gesinnung aufschwingen könne. In welchen Formen sich dieser politintellektuelle Wandlungsprozess bei Hess im Einzelnen vollzog, soll im Folgenden wenigstens angedeutet werden, um dann etwas ausführlicher auf sein utopisches Projekt eines Judenstaats einzugehen, mit dem er sich als provozierender Vordenker sowohl gegen den – trotz aller Emanzipationsedikte – in Deutschland weiterbestehenden Antisemitismus als auch gegen die vertrauensseligen Assimilationsbemühungen der meisten deutschen Juden wandte. II.

Geboren wurde Moses Hess am 21. Januar 1812 als Sohn eines wohlhabenden jüdischen Kaufmanns in Bonn, der 1816 nach Köln übersiedelte, dort ein Kolonialwarengeschäft gründete, eine Zuckerraffinerie betrieb und im Laufe seines höchst erfolgreichen Lebens zum Vorsteher der dortigen jüdischen Gemeinde aufstieg.8 Nach jugendlichen Talmud-Studien im Haus seines Großvaters und einer kaufmännischen Lehre im Kontor seines Vaters löste sich der junge Moses allmählich vom orthodoxen Judentum und fasste unter dem Einfluss von Baruch Spinozas Ethica (1677) und Heinrich Heines Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland (1834) sowie dem Besuch einiger Vorlesungen des Junghegelianers Bruno Bauer an der Bonner Universität – sehr zum Verdruss seines Vaters – den Entschluss, freier Schriftsteller zu werden. Sein erstes Buch, dem er den Titel Die heilige Geschichte der Menschheit. Von einem Jünger Spinozas gab, erschien 1837. Es beruht auf der These, dass das Hauptübel der modernen Zeit in dem krassen Missverhältnis zwischen den seit der Aufklärung des 18. Jahrhunderts erfolgten geistigen Emanzipationsbestrebungen und der trüben Lebenswirklichkeit der gesellschaftlichen Verhältnisse bestehe. Die Schuld daran gab 90

Rom und Jerusalem, die letzte Nationalitätsfrage (1862)

Hess mit frühsozialistischer Tendenz vor allem der wirtschaftlichen Ungleichheit der immer weiter auseinanderdriftenden Bevölkerungsschichten, die sich seit dem Aufkommen der bürgerlich-kapitalistischen Eigentumsrechte ergeben habe. Hess forderte daher gegen Ende dieses Buchs, dass es in Zukunft keine privaten Besitzrechte mehr geben dürfe, sondern »Alle für Jeden« und »Jeder für Alle« tätig sein müssten. Nur so könne jenes bereits in vielen Utopien beschworene Endziel eines aus einer befreiten Menschheit hervorgehenden »Gottesreichs« verwirklicht werden,9 in dem niemand mehr unter materiellen Entzugserscheinungen zu leiden habe. Fast der gleiche Tenor herrscht in seinem 1841 anonym erschienenen Buch Die europäische Triarchie, in dem sich Hess mit der ins Kritizistische entarteten Kritik jener Junghegelianer auseinandersetzte, die meist ins rein Ideelle tendiere, statt auf eine Philosophie des Geistes endlich eine Philosophie der Tat folgen zu lassen. Um sich als politisch relevant zu erweisen, sei es das Gebot der Stunde, erklärte er hier, in Zukunft eher eine Umwandlung der sozialen Verhältnisse als rein intellektuelle Emanzipationsbestrebungen ins Auge zu fassen. Die hoffnungsvollsten Impulse in dieser Richtung seien bisher von den Franzosen und den Deutschen ausgegangen. Doch als ebenso bedeutsam werde sich in den nächsten Jahrzehnten sicher England erweisen, da dort der Gegensatz zwischen Reichtum und Armut am größten sei. ­Worauf Hess daher in diesem Buch seine Hoffnung setzte, war eine zentraleuropäische »Triarchie« aus diesen drei Ländern,10 von denen – nach der Trennung von Staat und Kirche sowie der Aufhebung des Privateigentums – eine Verbesserung der gesamten Menschheit ausgehen könne. Und das werde sicher dazu führen, dass selbst die Juden ihren »Nationalgott« zugunsten eines »Menschheitsgotts« aufgeben und wie alle anderen Menschen gleichberechtigte Staatsbürger, aber keine durch Glaubensvorstellungen oder Besitztümer abgesonderte Außenseiter mehr sein würden.11 Geradezu besessen von solchen Hoffnungen verfasste Hess im gleichen Zeitraum eine Fülle kleinerer Schriften, in denen er sich, wie in dem 1843 erschienenen Manifest Philosophie der Tat, immer entschiedener zu sozialistischen Anschauungen bekannte. Schließlich hätten selbst die geistige Revolution in Deutschland und die politische Revolution in Frankreich letztlich doch »Alles beim Alten gelassen«.12 Das Ziel des Sozialismus müsse daher sein, »nichts von dem alten Plunder übrig zu lassen«13 und in aller Entschiedenheit zur revolutionären Tat überzugehen, um so Gemeinwesen zu schaffen, die auf den Grundprinzipien des Atheismus und des Kommunismus beruhen würden. Und Hess tat danach geradezu alles, um diesen »schönen Worten« auch die entsprechenden Taten folgen zu lassen. Er gab mit Karl Marx in Köln die Rheinische Zeitung für Politik, Handel und Gewerbe heraus, nahm in Paris Kontakte zu dem auf Wilhelm Weitlings Handwerkersozialismus schwörenden »Bund der Gerechten« auf, beteiligte sich an den von Marx und Arnold Ruge herausgegebenen Deutsch91

Moses Hess

Französischen Jahrbüchern, schrieb für den Pariser Vorwärts ein Kommunistisches Glaubensbekenntnis, trat 1847 in Brüssel dem »Bund der Kommunisten« bei, hielt im Ruhrgebiet Vorträge über eine sozialistische Umgestaltung der Gesamtgesellschaft, nahm ein Jahr später an der Märzrevolution in Köln teil und wurde schließlich aufgrund all dieser Aktivitäten aus Deutschland ausgewiesen, worauf er sich wieder nach Paris begab. Angesichts der sich nach der gescheiterten Revolution von 1848 sowohl in Deutschland als auch in Frankreich ausbreitenden »Juste milieu«-Gesinnung wandte sich Hess anschließend – finanziell abgesichert durch eine stattliche Geldsumme, die er nach dem Tod seines vermögenden Vaters erhielt – für einige Jahre naturwissen-

Abb. 17 Moses Hess (1860) 92

Rom und Jerusalem, die letzte Nationalitätsfrage (1862)

schaftlichen Studien zu, ohne allerdings sein Interesse an den politischen Vorgängen in Europa völlig aufzugeben. Dazu veranlassten ihn vor allem zwei damals viel diskutierte Entwicklungsprozesse: erstens die italienische Risorgimento-Bewegung unter Camillo Cavour, Giuseppe Garibaldi und Giuseppe Mazzini, die 1861 zur Gründung des geeinigten Königreichs Italien führte, welche ihn anregte, sich nicht nur mit ins Weltbürgerliche ausgreifenden Sozialismusfragen, sondern auch mit Nationalitätsproblemen zu befassen, sowie zweitens die unter der Führung Preußens immer stärker werdenden nationalistischen Tendenzen innerhalb des Deutschen Bunds, die Hess allerdings eher ablehnte als begrüßte, da er in ihnen zugleich die Gefahr eines verstärkten Antisemitismus witterte. Damit stellte sich selbst für ihn die Frage, ob es nicht ratsam sei, auch eine jüdische Nationalität anzustreben, die er angesichts der ins Internationalistische tendierenden Zielen der kommunistischen Bewegung lange Zeit als nebensächlich erachtet hatte. Die sich hieraus ergebenden Erwägungen bewegten ihn schließlich dazu, sich zusehends für einen zionistisch orientierten Zusammenschluss aller in Europa lebenden Juden einzusetzen, der möglicherweise in nicht allzu ferner Zukunft zur Gründung eines jüdischen Staats in Palästina führen könne. Ja, Hess fasste sogar ein diesbezügliches Manifest ins Auge, in dem er diesen Plan ausführlich darzustellen hoffte. Weil der von den preußischen Behörden gegen ihn erlassene Steckbrief Anfang 1861 aufgehoben wurde, kehrte er kurz darauf nach Köln zurück und schloss dort das geplante Manuskript zu diesem Thema ab. Es erschien als Buch im Juni 1862 in Leipzig unter dem Titel Rom und Jerusalem, die letzte Nationalitätsfrage. Den hochherzigen Vorkämpfern aller nach nationaler Wiedergeburt ringenden Geschichtsvölker.14 III.

Als einen der Hauptschuldigen an der gewaltsamen Unterdrückung der Juden in allen Ländern Europas stellte Hess im Vorwort zu diesem Buch vor allem die römischkatholische Kirche hin. So habe bereits Papst Innozenz III. »den teuflischen Plan gefaßt, sie moralisch zu vernichten, indem er ihnen auferlegen ließ, einen Schandfleck auf ihre Kleider zu heften«, um sie als Ausgeburten einer »unversiegbaren Giftquelle« hinzustellen (V). Eine Hoffnung, aus diesem Bannstrahl erlöst zu werden, habe für die Juden erst mit dem »Völkerfrühling der Französischen Revolution von 1789 begonnen«, durch den »auch Jerusalems verwaiste Kinder« nach dem »todten­ ähnlichen Schlaf des Mittelalters« wieder Mut geschöpft hätten, Teil der dadurch bewirkten »großen Völkerpalingenesis« zu werden (VI). Nicht nur unter lange Zeit totgeglaubten Völkern wie den Griechen, Italienern, Ungarn und Polen, sondern auch unter vielen Juden, die »zwei Jahrtausende den Stürmen der Weltgeschichte getrotzt hätten«, sei dadurch wieder das Bewusstsein erwacht, Teil einer unver93

Moses Hess

wechselbaren Nation zu sein (VI). Und das habe auch ihn bewegt, wie Hess schrieb, sich »nach zwanzigjähriger Entfremdung von meinem Volk« zu einem nationalbewussten Judentum zu bekennen. Als den wichtigsten Beweggrund für diesen Gesinnungsumschwung stellte Hess dabei im Folgenden vor allem den in Deutschland immer noch herrschenden »Judenhaß« hin (12). Obwohl es dort auch »ächt humane Geister« wie Gotthold ­Ephraim Lessing, Johann Gottfried Herder, Friedrich Schiller, Georg Wilhelm Friedrich Hegel und Wilhelm von Humboldt gegeben habe, die alle »Racenvorurtheile« abgelehnt hätten, sei in diesem Land die breite Masse der Bevölkerung keineswegs bereit, sich auf die »höchste Stufe der Gesittung emporzuschwingen«. Statt den Juden eine »soziale und politische Gleichstellung« zu garantieren, drängten dort die meisten Menschen im Zuge ihrer um eine nationale Einigung bemühten Bestrebungen auf eine verstärkte »Germanisierung« des deutschen Volkes (38). Und das habe selbst viele der gebildeten deutschen Juden dazu bewegt, ihre »Religions- und Stammesgemeinschaft« zu verleugnen und sich diesem verhängnisvollen Trend anzuschließen. Ja, manche der deutschen Juden »schämten sich geradezu ihrer Religion und Abstammung« und gäben sich im Zuge ihrer Assimilationsbemühungen zusehends als nationalbewusste Deutsche aus (41). Um dieser Entwicklung Einhalt zu gebieten, müsse man daher, wie Hess erklärte, den in Deutschland lebenden Juden mit völlig anderen Zielvorstellungen entgegentreten. Sie sollten endlich erkennen, dass ihnen ihre Assimilationsbemühungen wegen des arischen Rassenhochmuts der meisten Deutschen doch nichts nützen würden, also ihr Traum einer weitgehenden Akzeptanz von vornherein eine Illusion sei. In solchen »neumodischen Juden«, wie er sie nannte, die ihre »jüdische Nationalität« verleugneten, sah Hess deshalb nicht nur »Apostaten«, das heißt »Abtrünnige im religiösen Sinne«, sondern zugleich »Verräther an ihrem Volke« (17). Stattdessen forderte er, dass alle deutschen Juden wieder »fromm« werden und sich jene »Millionen unserer Stammesgenossen« in Osteuropa zum Vorbild nehmen sollten, »die Tag und Nacht inbrünstige Gebete für die Wiederherstellung des jüdischen Reiches zum Gott ihrer Väter emporsteigen« ließen (29). Kurzum: alle Juden sollten endlich wieder, wie er apodiktisch schrieb, »ein Volk Gottes werden« (48). Diese Forderungen leiten schließlich zu dem Argument über, dass die einzig mögliche Lösung der Judenfrage nur durch die Errichtung eines jüdischen Staats in Palästina zu erreichen sei. Nur so könne nach der Befreiung des jüdischen Volks aus der ägyptischen und dann babylonischen Gefangenschaft die dritte Befreiung, nämlich die aus der europäischen Gefangenschaft und somit »das Ende des dritten Exils« erfolgen (56). Daher müsse man sich auf allen Ebenen bemühen, die »Restauration des jüdischen Staats« vorzubereiten und die bereits bestehenden Oasen einer solchen Utopie, wie die »Alliance Israélite Universelle« in Paris und den »Kolonisations­verein 94

Rom und Jerusalem, die letzte Nationalitätsfrage (1862)

für Palästina« in Frankfurt an der Oder, als Basis jener großen Utopie verstehen, die eine Rückkehr nach Jerusalem ermöglichen würde. Dabei erhoffte sich Hess vor allem die Unterstützung der Franzosen, die in ihrem Bestreben, sich durch den Bau des Suez-Kanals einen besseren Zugang nach Indien und China zu verschaffen, die Gründung jüdischer Siedlungen in Vorderasien sicher begrüßen würden. Auch die in Paris ansässigen jüdischen Bankiers, wie die Rothschilds und die Foulds, würden sich, wie er annahm, sicher für den »Wiederaufbau der heiligen Stadt und des Tempels« gewinnen lassen (114). Um diese damals noch utopisch klingende Hoffnung anzufachen, müsse man, wie Hess schrieb, nicht nur in allen inzwischen religiös »indifferent« gewordenen Juden wieder das »Feuer des altjüdischen Patriotismus« entzünden (117), sondern zugleich – höchst pragmatisch denkend – eine Reihe »landwirtschaftlicher Schulen« errichten, um jene zur Rückkehr ins Heilige Land entschlossenen »jüdischen Knaben und Jünglinge für den palästinensischen Ackerbau zu erziehen« (119), um so das dort in seiner Vorstellung noch weitgehend unbesiedelte Wüstenland wieder urbar zu machen. All das klingt streckenweise fast ebenso kolonialistisch motiviert wie die imperialistische Außenpolitik der meisten damaligen europäischen Staaten. Allerdings verzichtete Hess dabei keineswegs auf jene sozialistische Gesinnung, für die er sich in den zwei Jahrzehnten zuvor eingesetzt hatte. Dafür spricht etwa der Satz: »Die jüdische Volksmasse wird sich an der großen geschichtlichen Bewegung erst dann beteiligen können, wenn sie ein jüdisches Vaterland hat« (112). Um das glaubhaft zu machen, setzte Hess die »mosaischen Gebote« einfach mit den »sozialistischen Grundsätzen« gleich (116). Überhaupt schließe, wie er behauptete, das »nationale Wesen des Judenthums« die Glaubenssätze der »Humanität und Zivilisation« keineswegs aus (69). Im Gegenteil, das »jüdische Volk sei bis zur französischen Revolution das einzige Volk der Welt gewesen, welches zugleich einen nationalen und humanitären Charakter« gehabt habe (69). Nur die Juden hätten seit Urzeiten jenen »Glauben an die messianische Weltepoche« gehabt, die das Ziel aller heutigen Hoffnungen sei (80). Man habe ihnen nur nicht die Möglichkeit gegeben, das in die Tat umzusetzen. Erst wenn es zur Wiederherstellung eines Judenstaats komme, werde sich das jüdische Volk mit Unterstützung der Franzosen, wie es hoffnungsvoll heißt, sicher als ein wichtiger Mitkämpfer für jene humanitäre Weltzivilisation auszeichnen, die allen wahrhaft aufgeklärten Menschen vorschwebe. Allerdings war sich Hess durchaus bewusst, dass sich die Realisierung dieser Utopie als ein schwieriger und langwieriger Weg erweisen würde. Schließlich bestehe zum gegenwärtigen Zeitpunkt, wie er erklärte, für eine massenhafte Auswanderung nach Palästina noch keine Möglichkeit, da in diesen Gegenden – bedingt durch die »asiatische Barbarei« – noch immer »anarchische Zustände« herrschten (233). 95

Moses Hess

Erst wenn die europäischen Mächte den möglichen Einwanderungswilligen einen »militärischen Schutz« garantieren würden (233), würde sich das ändern können. Doch dafür bestehe momentan noch keine Aussicht. Dennoch dürften alle »frommen Juden«, wie Hess abschließend schrieb, nicht den Traum aufgeben, eines Tages »das heilige Land« durch Arbeit endlich bewohnbar zu machen (238). Ja, Hess verfasste in dieser Hinsicht sogar noch eine programmatische Denkschrift, die er der ­»Alliance Israélite Universelle« in Paris unterbreitete, die jedoch von dieser Organisation zurückgewiesen wurde.15 Auch die wenigen deutschen Juden, die sein manifestatorisches Buch Rom und Jerusalem, die letzte Nationalitätsfrage überhaupt zur Notiz nahmen, lehnten es entweder ab oder fanden es »unzeitgemäß«, weshalb Hess, wie er selber schrieb, »aus politischen Gründen« seine »jüdisch-patriotischen Bestrebungen« vorerst wieder aufgab und sich erneut sozialreformerischen Bemühungen im Rahmen des 1863 von Ferdinand Lassalle gegründeten »Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins« zuwandte.16 Doch als diese Organisation nach dem Tod Lassalles einen betont nationalistischen Kurs einschlug, gab Hess sein Engagement für sie wieder auf und zog sich erneut nach Paris zurück. Noch enttäuschter war er, als sich 1870 beim Ausbruch des DeutschFranzösischen Kriegs nicht nur die deutschstämmigen Chauvinisten, sondern auch seine eigenen »Art- und Religionsgenossen« jenseits des Rheins in ihrem Franzosenhass keinerlei Zügel anlegten.17 Dementsprechend schrieb er am 29. August dieses Jahrs voller Wut: »Auch die deutschen Juden deutschtümeln und heulen gegen Frankreich; sie, die das bisschen Freiheit und die minder hündische Behandlung, deren sie ihre germanisch-christlichen Brüder würdigen, lediglich Frankreich und seiner Revolution verdanken; sie, die nach den ›Befreiungskriegen‹ nicht nur von oben wie alles unterdrückte deutsche Volk, sondern auch von diesem Volke selbst Fußtritte bekamen, diese elenden Deutschen Hepjuden sind von Tollwut befallene Hunde, welche ihre wirklichen Wohltäter beißen und mit den übrigen Hunden bellend über die Franzosen herfallen«.18 Nach dieser bitteren Erfahrung zog sich Hess weitgehend aus dem öffentlichen Leben zurück und starb am 6. April 1874 in Paris. IV.

In den Jahren danach war von Moses Hess weder in französischen noch in deutschen Journalen nicht mehr viel zu hören. In dem Maße, wie unter den deutschen Sozialdemokraten die Leuchtkraft der Namen »Ferdinand Lassalle« und »Karl Marx« ständig zunahm, verlosch der Name »Moses Hess« schnell im Dunkel der Vergangenheit.19 Selbst die Mehrheit der deutschen Juden, die sich zusehends um eine verstärkte Assimilation bemühte, nahm von seinen zionistischen Bestrebungen kaum Notiz. Erst als Theodor Herzl – nach der ihn erschütternden Dreyfus-Affäre in Paris 96

Rom und Jerusalem, die letzte Nationalitätsfrage (1862)

und angesichts eines sich in Deutschland und Österreich wieder verstärkenden Antisemitismus – erneut die Idee eines zu gründenden Judenstaats ins Auge fasste, erinnerte man sich im Rahmen der von ihm ins Leben gerufenen zionistischen Bewegung auch wieder an Moses Hess. Ja, Herzl schrieb später sogar: »Alles, was wir versuchen, steht schon bei ihm. Lästig nur das Hegelianische seiner Terminologie. Herrlich das Spinozistisch-Jüdische und Nationale. Seit Spinoza hat das Judentum keinen größeren Geist hervorgebracht als diesen vergessenen, verblassten Moses Hess«.20 Doch es bedurfte erst späterer israelischer Sozialhistoriker, Hess nicht nur als den »Vater der deutschen Sozialdemokratie«, sondern auch als den ersten deutschen Juden zu würdigen, der sich bereits in den sechziger Jahren des 19. Jahrhunderts als utopisch gesinnter Vordenker für die Idee eines »jüdischen Nationalstaats« eingesetzt habe.21

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Theodor Hertzka Entrückt in die Zukunft. Sozialpolitischer Roman (1895)

I.

Nachdem die Industrialisierung im Zeitalter der Metternich’schen Restaurationsperiode, also zwischen 1815 und 1848, nur langsame Fortschritte gemacht hatte, setzte durch die Bestrebungen des Norddeutschen Bunds, den Sieg über Frankreich und die Gründung des Zweiten Kaiserreichs auch in Deutschland ein wirtschaftlicher Boom ersten Ranges ein, durch den das Hohenzollernreich erst Frankreich und dann sogar England überholte und 1913 schließlich, hinter den USA, den zweiten Platz in der Weltrangliste der Industrienationen einnehmen konnte. All dies brachte nicht nur eine bis dato ungeahnte Industrialisierung, sondern auch eine ebenso unvorhergesehene Verstädterung mit sich. Während in den frühen siebziger Jahren erst zwei Millionen Deutsche in Großstädten, also Städten mit über 100.000 Einwohnern, lebten, waren es im Jahr 1910 bereits 14 Millionen. Immer mehr Menschen fügten sich in diesem Zeitraum der Notwendigkeit oder folgten der Verlockung, in den neuen Industriezentren ihr Glück zu suchen und an der allgemeinen wirtschaftlichen Expansion teilzuhaben, die vor allem von der Mehrheit der bürgerlichen Bevölkerungsschichten als ein Fortschritt zu immer neuen Höhen des Wohlstands begrüßt wurde. Der damit verbundene liberale Selbstentfaltungsdrang ging ideologisch meist von einem platten Materialismus aus. Alles, was diese Entwicklung beförderte, der weitgehend ein hemmungsloses Streben nach finanzieller Bereicherung und individueller Verfreiheitlichung zugrunde lag, galt im Rahmen dieser Weltanschauung als positiv, während alles, was an Bescheidenheit, Bindung oder Solidarität erinnerte, als obsolet empfunden wurde. Ja, viele der damaligen Nationalökonomen sahen in dem technologischen Fortschritt einen geradezu naturgesetzlichen Prozess, durch den sich die Menschheit zu immer neuen Höhen aufschwingen würde. Demzufolge begrüßten die Ideologen dieses sozialdarwinistischen Wirtschaftsliberalismus jede neue technische Errungenschaft, jede weitere Rationalisierung der industriellen Produktion mit lautem Jubel. Im Hinblick auf den rein materiellen Fortschritt gab es für sie nur noch zwei Götzen: die Technik und die Naturwissenschaft. Für kritische Gegenbilder, die auch die lebenserhaltende Rolle der Natur im Rahmen der sich rapide technisierenden Welt mitberücksichtigt hätten, blieb daher im Umkreis dieser Ideologie wenig Platz. Die meisten der damaligen Fortschrittsoptimisten entwarfen im Hinblick auf die Zukunft lediglich Utopien einer immer 98

Entrückt in die Zukunft. Sozialpolitischer Roman (1895)

perfekteren Technik, die den Menschen sowohl eine größere Arbeitserleichterung als auch einen größeren Wohlstand bescheren würde. Als Vorbilder dienten dabei anfangs vor allem die Utopien bereits »weiterentwickelter« Länder wie Frankreich, England und die USA. Wohl die größte Wirkung in dieser Hinsicht hatte die Großstadtutopie Looking Backward. 2000–1887 (1888) von Edward Bellamy, in der eine wohlorganisierte Fülle von Großküchen und Großwäschereien für die erhoffte Arbeitserleichterung sorgt und auch sonst alles im Zeichen reibungslos funktionierender Dampfmaschinen, Eisenbahnen, Telegraphen usw. steht. Doch auch alles andere ist hier höchst vernünftig geregelt. In der in ihr dargestellten großstädtischen High-Tech-Gesellschaft hat man den »Habitus der kapitalistischen Welt« bereits bis zur Perfektion gesteigert, wie Ernst Bloch später schrieb.1 Man könnte auch sagen, in diesem Roman herrscht ein geradezu supermodernes Wirtschaftssystem, das zwar keinen übermäßigen Luxus mehr kennt, aber sonst alle spezifisch bürgerlichen Wertvorstellungen beibehalten hat. Als Deutschland die gleiche sozioökonomische Entwicklungsstufe wie Frankreich, England und die USA erreicht hatte, erschienen auch hier eine Reihe von Utopien, denen ähnliche ins Futurologische ausgreifende Phantasien zugrunde lagen, die sich gern auf das Motto »Das 1000jährige Reich der Maschinen bricht an!« beriefen.2 Dafür sprechen vor allem Romane wie Das Land der Freiheit (1874) von Ferdinand Amersin, Freiburg im Frühling 1980 (1890) von Löhl sowie Auf zwei Planeten (1897) von Kurd Laßwitz, in denen Staaten oder Städte geschildert werden, deren Bewohner und Bewohnerinnen bereits über all jene technischen Errungenschaften verfügen, die auch in den gleichzeitig veröffentlichten Science-Fiction-Romanen eine zentrale Rolle spielen. Doch diese Werke wurden anfangs von der damaligen Leserschaft wenig beachtet. Einen geradezu sensationellen Erfolg hatte dagegen Theodor Hertzkas utopischer Roman Freiland (1890), der in schneller Folge in zehn Auflagen herauskam. Wesentlich weniger Aufmerksamkeit erregte dagegen sein fünf Jahre später erschienener »sozialpolitischer Roman« Entrückt in die Zukunft. Da er jedoch sowohl in technologischer als auch futurologischer Hinsicht wesentlich »radikaler« angelegt ist und zugleich eine Reihe höchst aufschlussreicher nationalökonomischer Überlegungen enthält, soll dieses Werk und nicht der oft zitierte Freiland-Roman im Zentrum der folgenden Erörterungen stehen. II.

Allerdings ist auch Entrückt in die Zukunft ohne einen kurzen Rückblick auf den Lebensgang Theodor Hertzkas und die Fülle seiner vorher verfassten Publikationen nicht zu verstehen. Dafür sprechen unter anderem folgende Fakten. Geboren wurde Hertzka am 13. Juli 1845 als Sohn einer wohlhabenden jüdischen Familie in Buda99

Theodor Hertzka

pest, das damals noch zu Österreich gehörte. Nach seinem Schulbesuch in einem der dortigen Gymnasien studierte er in Wien Nationalökonomie und erhielt 1872 eine Anstellung als Redakteur für den volkswirtschaftlichen Teil der Wiener Neuen Freien Presse.3 1874 gründete er mit Theodor Herzl und einigen Gleichgesinnten die »Gesellschaft österreichischer Volkswirte«. Darauf machte er sich 1880 selbständig und gab neben der Wiener Allgemeinen Zeitung ab 1889 zugleich die Zeitschrift für Staats- und Volkswirtschaft heraus. In all diesen Blättern wie auch in der von ihm ab 1901 editierten Zeitung Magyar hirlop trat er für eine liberale Freihandelspolitik ein, der eine wohlausgewogene Synthese zwischen einem wirtschaftlichen Liberalismus und dem Prinzip der absoluten sozialen »Gerechtigkeit« zugrunde liegen sollte. Außerdem veröffentlichte Hertzka seit der Mitte der siebziger Jahre eine Reihe nationalökonomisch ausgerichteter Bücher, wie Währung und Handel (1876), Die Gesetze der Handelspolitik (1880) und Das Wesen des Geldes (1887), denen er 1890 die in Form eines Staatsromans angelegte Utopie Freiland, ein soziales Zukunftsbild folgen ließ, die, wie gesagt, den bis dahin relativ unbekannten Hertzka über Nacht berühmt machte und die nicht nur in zehn weiteren Auflagen herauskam, sondern auch in mehrere Fremdsprachen übersetzt wurde.4 Der Roman Freiland beruht auf der These, dass – trotz der vielen technischen Errungenschaften – die mangelnde Kaufkraft und die sich daraus ergebende Armut der breiten Volksmassen vor allem auf die einseitigen Besitzverhältnisse und die sich daraus ergebenden, ins Übermäßige gesteigerten Unternehmergewinne zurückzuführen seien. In einem besseren, das heißt sozial ausgewogeneren Gemeinwesen solle daher, wie Hertzka in diesem Buch immer wieder betonte, der Besitz von Grund und Boden sowie der jeweiligen Arbeitsstätten grundsätzlich abgeschafft werden. Um die gegenwärtig bestehenden Missstände in dieser Hinsicht zu beseitigen, dürfe es deshalb in einem Staat der Zukunft kein privates Eigentum mehr geben, sondern alles in den Besitz sich freibildender Genossenschaften übergehen, die sich selbst verwalten und den Ertrag ihrer Arbeit unter ihren Mitgliedern gleichmäßig verteilen würden. Als die erste Oase einer solchen Utopie fasste dabei Hertzka in diesem Buch mit kolonialistischer Absicht einen Teil Kenias ins Auge,5 wo die zu einer solchen Freilandgesinnung entschlossenen Siedler, wie er es erzählerisch darstellte, in friedlicher Harmonie mit den dortigen Eingeborenen ein Gemeinwesen errichten, das sie »Edental« nennen und in dem – trotz aller ins Übermäßige gesteigerten technologischen Innovationen – geradezu paradiesische Zustände herrschen. Ja, Hertzka – ermutigt durch den Verkaufserfolg seiner Freiland-Utopie – schickte diesem Buch sogar noch zwei weitere Schriften unter den Titeln Eine Reise nach Freiland (1893) und Freilands Wirtschaftssystem (1894) hinterher. Doch der Versuch, die Utopie in Kenia tatsächlich Wirklichkeit werden zu lassen, scheiterte bereits im Jahr 1894. 100

Entrückt in die Zukunft. Sozialpolitischer Roman (1895)

Abb. 18  Theodor Hertzka (1896)

Dennoch gaben Hertzka und einige seiner Anhänger, wie Franz Oppenheimer und Gustav Lilienthal, ihre Hoffnung auf weitere Oasen derartiger Utopien keineswegs auf.6 Vor allem die »Obstbaugenossenschaft Eden« in Berlin-Oranienburg (1893) und die Siedlungsgenossenschaft »Freie Scholle« in Berlin-Tegel (1895) stützten sich bei ihrer Gründung weitgehend auf Hertzkas Freiland-Theorien. Sogar Theodor Herzls Uganda-Projekt von 1903, das eine Umsiedlung großer Teile der europäischen Juden nach Afrika vorsah, sowie die ab 1910 entstehenden ersten Kibbuz-­Siedlungen in Palästina und die genossenschaftlichen Siedlungsprojekte Gustav Landauers zwischen 1900 und 1910 weisen noch Züge der von Hertzka entworfenen FreilandUtopie auf.7 Ja, selbst das 1927 von Arnold Schönberg verfasste Utopie-Drama Der biblische Weg, in dem er die Gründung eines jüdischen Staats in Nordafrika namens Ammongäa befürwortete, erinnert noch von Ferne an Hertzkas Kenia- und Herzls Uganda-Projekt.8 101

Theodor Hertzka

III.

Obwohl 1894, wie gesagt, die Gründung der genossenschaftlichen Siedlung »Edental« in Kenia scheiterte, gab Hertzka seine ins Utopische zielende Vorstellung eines sowohl technologisch avancierten als auch auf genossenschaftlichen Prinzipien beruhenden zukünftigen Staatsgebildes keineswegs auf. Dafür spricht vor allem sein »sozialpolitischer Roman« Entrückt in die Zukunft, den er 1895 herausbrachte. Im Gefolge vieler älterer utopischer Staatsromane handelt es sich hierbei um den Reisebericht eines anonym bleibenden Erzählers, der erst nach einem 200 Jahre währenden Tiefschlafs im Jahr 2093 wieder erwacht und sich in eine total veränderte Welt versetzt sieht. Als er damals in Paris einschlief, war diese Metropole noch eine Millionenstadt gewesen, während sie sich in der Zwischenzeit in eine unbedeutende »Hirtenstadt von 2000 Seelen« verwandelt hat.9 Auf den ersten Blick wirkt das auf den Erzähler des Ganzen fast wie ein Rückfall ins Mittelalter, bis er von einem der freundlichen Einwohner aufgeklärt wird,

Abb. 19  Albert Robida: Le nuage-palace (1883) 102

Entrückt in die Zukunft. Sozialpolitischer Roman (1895)

welche gesellschaftlichen Wandlungsprozesse inzwischen stattgefunden haben. Im Jahr 1919, hört er, habe sich in Europa eine soziale Revolution abgespielt, in der man dazu übergegangen sei, fast alle nordeuropäischen Menschen aufzufordern, sich in die subtropischen Gebiete des Mittelmeerraums zu begeben und dort neue Städte und Fabriken zu gründen, statt ihr Leben weiterhin in den Kältezonen ihrer bisherigen Heimatländer zu verbringen. Ja, man habe zugleich verfügt, dass es in den neuen Wohn- und Arbeitsgebieten kein »Eigentum an Produktionsmitteln« mehr geben dürfe (25), sondern alles auf genossenschaftlicher Basis geregelt werde. Und das habe dazu geführt, dass selbst die bis dahin Mittellosen Teil des zu »einer großen Familie vereinigten Menschengeschlechts« geworden seien (27). Wie technologisch avanciert dieses neue Gesellschaftssystem ist, wird dem Erzähler bewusst, als plötzlich auf einem der leer stehenden Felder ein gewaltiger Flugapparat, ein sogenannter Gäodrom oder Aëropter, landet, der als Antriebskraft lediglich den in Energie umgewandelten »Erdmagnetismus« verwendet (30). Aufgefordert, sich mit den im Süden herrschenden Lebensbedingungen vertraut zu machen, besteigt er darauf voller Neugier dieses perfekte Ungetüm und segelt mit einer größeren Menschengruppe nach Sizilien, das inzwischen die Hauptstadt dieses südeuropäischen Großreichs geworden ist. Auf dieser Insel leben etwa dreieinhalb Millionen Einwohner, wie ihm die anderen Reisenden erzählen, deren Lebens­verhältnisse auf die humanitärste Weise geregelt seien. Dort gebe es keinen »Nationalitätswahn«, keine »Standesunterschiede« und keinen »Rassendünkel« mehr (38). Dort sei fast alles »unentgeltlich« oder durch eine »mäßige Miete« zu haben. Dort hätten, heißt es immer wieder, alle Menschen ihren unveräußerlichen Anteil am »Gesamtreichtum« (43). Dort brauche man nicht mehr ständig zu arbeiten, da die gesamte industrielle Produktion auf einem »kraftsparenden Maschinenwesen« beruhe (48). Dort besäßen alle Menschen die gleiche Bildung und hätten daher das gleiche »Interesse für Kunst, Wissenschaft und öffentliche Angelegenheiten« (46). Mit anderen Worten: Dort herrsche ein Sozialliberalismus, der es jedem Menschen gestatte, in seiner sich ständig erweiternden Freizeit neben der unvermeidlichen Anteilnahme an der Produktion der lebensnotwendigen Güter sowohl seinen Vergnügungen als auch seinen höheren Interessen nachzugehen. All das klingt, wie in dem amerikanischen Zukunftsroman Looking Backward 2000–1887 (1888) von Edward Bellamy, auf Anhieb erst einmal höchst idealistisch, wenn nicht geradezu aus der Luft gegriffen. Aber mit solchen Wunschvorstellungen begnügte sich Hertzka keineswegs. Als erfahrener Nationalökonom und Sozialtheoretiker versuchte er dieser von ihm entworfenen Utopie mit einer Fülle sowohl wirtschaftsbezogener als auch sozialideologischer Überlegungen die nötige Überzeugungskraft zu geben. Dabei ging er meist von einem Vergleich der von ihm als verwerflich hingestellten industriellen Produktionsbedingungen des späten 19. Jahr103

Theodor Hertzka

hunderts sowie der gegen sie opponierenden politischen Strömungen mit den in seiner Utopie herrschenden Lebensverhältnissen aus, um nicht von vornherein ins Irreale zu geraten. So heißt es etwa in den diesbezüglichen Abschnitten, dass damals die industrielle Produktion noch völlig ungeregelt verlaufen sei, was entweder zu inflationären Zuständen in Zeiten der Unterproduktion oder zu ökonomischen Krisen in Perioden der Überproduktion geführt habe. Statt von gemeinschaftsbezogenen, das heißt genossenschaftlichen Idealen auszugehen, um derartige Missstände zu verhindern, habe im Wirtschaftsleben dieser dunklen Zeiten noch allein das egoistische Besitz- und Profitstreben der übermächtigen Fabrikanten und Kartelle den letztlich entscheidenden Ausschlag gegeben. Da diese Schichten über alle »Produktionsmittel« verfügt hätten, seien dadurch »Millionen unaufgeklärter Arbeiter« – aufgrund ihrer unaufhörlichen Schufterei – ohne jede höhere Bildung geblieben und somit willenlose »Knechte« von herrschsüchtigen »Kapitalisten« geworden, ohne sich in den allgemeinen Arbeitsprozess einmischen zu können (60). All das habe sich, wie es danach heißt, erst nach der großen Revolution von 1919 geändert. Allerdings seien dabei zu Anfang drei miteinander konkurrierende parteiähnliche Gruppierungen aufgetreten, bevor es ein Jahr später nach mancherlei »blutigen, erbitterten Kämpfen« in »allen Kulturstaaten der Welt« zur Durchsetzung des Sozialliberalismus gekommen sei (64). Ideologiekritisch gesehen ließen sich diese drei Richtungen, wie dem nach Sizilien segelnden Reisenden erzählt wird, als »individualistisch-anarchistisch, anarchistisch-kommunistisch und autoritärkommunistisch« charakterisieren (68). Die erste dieser drei Gruppen habe weiterhin an jenem individualistischen Anarchismus festzuhalten versucht, der bereits in der industriellen Produktion der »alten Welt« der entscheidende Antriebsmotor gewesen sei (76). Sie wollte die »Regelung der Arbeit« nach wie vor »dem Eigennutz« einzelner Individuen überlassen, statt die Erzeugung aller lebensnotwendigen Güter »dem jeweiligen Bedarf« anzupassen (77). Diese Gruppe sei daher von dem freidemokratischen Grundsatz ausgegangen, dass die »staatliche Zwangsgewalt nicht bloß das hauptsächliche, sondern das alleinige Übel der früheren Ordnung« gewesen sei. Sie habe sich deshalb auf die These berufen, dass, falls man »jede Autorität, jeden dem Individuum auferlegten Zwang beseitige«, ein »freiwaltender Eigennutz ganz von selbst zur vollendeten Harmonie aller Interessen führen« würde (68). Die kommunistischen Anarchisten hätten in diesem Punkt durchaus mit den individualistischen Anarchisten übereingestimmt. Auch ihnen sei jedwede »Staatsgewalt« von vornherein als ein »Übel« erschienen. Allerdings wären sie nicht nur gegen staatliche Gewaltmaßnahmen, sondern auch gegen das private »Eigentum und dessen Quelle, den Egoismus«, aufgetreten. Erst wenn der »Gemeinsinn« die Welt regieren würde, hätten sie in ihren Proklamationen erklärt, könnten die Menschen endlich, »ihren natürlichen Trieben folgend, gemein104

Entrückt in die Zukunft. Sozialpolitischer Roman (1895)

nützig handeln«. Die autoritären Kommunisten, »in der Regel Sozialdemokraten genannt«, heißt es danach, hätten mit den anarchistischen Kommunisten darin übereingestimmt, »daß in Zukunft allein der Gemeinsinn das herrschende Prinzip sein müsse«. Sie hätten allerdings bezweifelt, »daß die Menschen ihren eigenen Instinkten überlassen, gemeinnützig handeln würden«, und daher die Einrichtung irgendwelcher Autorität für notwendig erachtet. Sie wären der Überzeugung gewesen, dass das Übel der alten Ordnung hauptsächlich darin bestanden habe, dass sich »die Autorität nicht um das Interesse des Gemeinwohls gelegene gekümmert, sondern die wichtigsten Interessen dem freien Spiele der egoistischen, individuellen Instinkte überlassen habe« (68). Zum Glück, lesen wir im Folgenden, seien diese drei Weltanschauungen – nach den erbitterten Auseinandersetzungen der Revolution von 1919 – schon ein Jahr später überwunden worden. Alle Menschen hätten eingesehen, dass weder ein ungezügelter Individualismus noch ein autoritäres Gleichheitsprinzip der entscheidende Maßstab für eine wohlgeordnete Gesellschaft sein dürfe, sondern ein sinnvolles Gleichgewicht dieser beiden Ideologien der einzig richtige Weg zu einer alle Menschen zufriedenstellenden sozialen Ordnung sei. Darauf hätten die folgenden Generationen, wie Hertzka schrieb, durch die Einführung eines genossenschaftlichen Systems sowohl jede Art von staatlicher Bevormundung als auch alle bisherigen Standesunterschiede abgeschafft und so einen Gesellschaftszustand durchgesetzt, in dem selbst die »Verschiedenartigkeit der Beschäftigung keinen Unterschied des Ansehens« mehr bewirke (172). Und siehe da, als der immer neugieriger gewordene Reisende schließlich in Sizilien landet, ist alles wirklich so, wie er es sich aufgrund der Berichte seiner Mitreisenden vorgestellt hatte. Überall sieht er palastartige, von blumenreichen Gärten umgebene Gebäude, in denen mit ihrem Leben zufriedene Menschen wohnen, die ihn wohlwollend empfangen und voller Stolz darauf hinweisen, dass es bei ihnen keine parteipolitischen Zwistigkeiten mehr gebe, sondern alle eventuell noch anstehenden Probleme auf genossenschaftlicher Basis geregelt würden. Die Arbeit, erklären ihm die Sizilianer selbstbewusst, sei ihnen nicht mehr das Hauptziel ihres Lebens, »als welches sie die Belehrung und das Vergnügen erkannt hätten« (231). Die eigentlichen »Brennpunkte des öffentlichen Lebens« sähen sie daher nicht mehr in den zumeist voll automatisierten, vom Erdmagnetismus angetriebenen Fabriken, sondern in den öffentlichen Bibliotheken mit ihren »56 Millionen Büchern« sowie den vielen Theatern, Opernhäusern und Konzertsälen, denen sie ihre wissenschaftlichen Kenntnisse und ihre höhere Bildung verdankten (187 f.). Ihre Hauptvergnügungen seien dagegen im Sommer, wenn es zu heiß werde, in ihren Gäodromen touristische Ausflüge in die kühleren, waldreichen Gebiete Nordeuropas zu unternehmen, um sich an der dort noch unzerstörten Natur zu erfreuen. 105

Theodor Hertzka

Doch die größte Befriedigung verschafften ihnen im Augenblick, wie sie dem aus dem Staunen nicht herauskommenden Neuankömmling berichten, die verschiedenen Weltraumfahrten, die es ihnen ermöglichten, sogar auf dem Mond zu landen. Neben solchen, zum Teil mit Science-Fiction-Elementen durchsetzten technologischen Errungenschaften wird gegen Ende dieser Utopie noch eine Reise ins Innerste von Afrika beschrieben, wo man dem weiterhin von all diesen Wunderwerken begeisterten Reisenden zeigt, wie man durch gewaltige Bewässerungsanlagen die bisher brachliegende Sahara einerseits in »einen einzigen ungeheuren Garten«, andererseits in einen »mächtigen Ackerbaudistrikt« verwandelt habe (258). Und damit schließt das Ganze dann unvermittelt, ohne dass noch weitere sozialtheoretische Erwägungen folgen würden. IV.

Andere utopische Schriften dieser Art hat Hertzka darauf nicht mehr geschrieben. Während es ihm 1893 mit dem Kenia-Projekt seines Freiland-Romans erst einmal darum gegangen war, eine zwar vereinzelte, aber mögliche Oase seiner genossenschaftlichen Siedlungsbemühungen darzustellen, glaubte er – beflügelt durch die rapide anwachsende industrielle Entwicklung der folgenden Jahre – dem von ihm entwickelten sozialpolitischen Genossenschaftskonzept mit seinem 1895 verfassten Utopieroman Entrückt in die Zukunft sogar eine ins Gesamteuropäische erweiterte Form geben zu können. Was er damit beabsichtigte, war vor allem das Bestreben, der immer schärfer werdenden Polarisierung der Gesellschaft in rücksichtslose Kapitalisten und eine – in seinen Augen – ins Kommunistische abdriftende sozialdemokratische Arbeiterbewegung die Utopie eines zwischen diesen beiden Extremen vermittelnden revisionistischen Sozialliberalismus entgegenzusetzen. Und er versuchte, diese Utopie mit so vielen positiven Zügen wie nur möglich auszustatten, um sie als den einzigen Weg in eine bessere Zukunft hinzustellen. Hertzka sah dabei zwar voraus, dass es in nicht allzu ferner Zeit sicher zu einem blutigen Zusammenstoß dieser beiden gesellschaftlichen Gruppen kommen werde, hoffte aber, wie er in diesem Roman immer wieder beteuerte, dass danach sicher die Einsicht siegen würde, sich nicht länger mit Oasen der Utopie zu begnügen, sondern sich zu einer Gesamtumwälzung der sozialen Ordnung zu entschließen. Mochten auch manche seiner ins Auge gefassten Vorstellungen einer wohlgeordneten Gesellschaft dabei ins Utopistisch-Überspannte tendieren, die Möglichkeit einer auf dem Prinzip eines genossenschaftlichen Gemeineigentums beruhenden gesellschaftlichen Solidarität sollte durchaus eine der wichtigsten utopischen Hoffnungen von ins wahrhaft Demokratische zielenden Zukunftsvorstellungen bleiben.

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Leberecht Migge Das grüne Manifest (1919)

I.

Als sich das 1871 gegründete Zweite Kaiserreich – nach einer 1873/74 einsetzenden wirtschaftlichen Depression – seit den frühen neunziger Jahren im Gefolge einer rapiden Akzeleration der ökonomischen Zuwachsrate zur zweitstärksten Industriemacht der Welt entwickelte, kam es im Hinblick auf die damit verbundene Naturzerstörung innerhalb der wilhelminischen Bourgeoisie zu einer ideologischen Polarisierung, die im Laufe der Jahre immer eklatanter wurde. Während die davon profitierenden Wirtschaftskreise diesen Prozess im Sinne eines lauthals proklamierten Fortschrittsoptimismus durchaus begrüßten, sahen viele noch in altbürgerlichen Vorstellungen befangenen Vertreter des Mittelstands darin eher eine Gefahr, dass sich Deutschland aus einem Land der »Wälder und Höhen« durch die zunehmende Verstraßung, Verdrahtung und Vermüllung zusehends in einen naturentfremdeten Industriestaat verwandeln würde, was sie unter ästhetischen oder ökologischen Gesichtspunkten als verhässlichend, wenn nicht gar zerstörerisch empfanden. Die Vielfalt dieser gegen den fortschreitenden Industrialisierungsprozess aufbegehrenden Bünde, Gesellschaften oder Einzelvertreter ist auf den ersten Blick kaum zu übersehen. Dazu gehörten sowohl die im Gefolge Ernst Haeckels auftretenden Monisten, die in jedem Naturphänomen ein respektheischendes Wunderwerk göttlichen Willens erblickten, als auch Neuromantiker wie Bruno Wille, Hermann Hesse und Waldemar Bonsels, welche die großen Städte verließen und für ein naturverbundenes Leben auf dem Lande schwärmten, Vertreter der Heimatkunst wie Gustav Frenssen, Hermann Löns und Timm Krüger, die den dekadenten Großstädtern das Bild des scholleverbundenen Bauern entgegenhielten, Heimatschützer wie Hugo Cowentz, Ernst Rudorff und Paul Schultze-Naumburg, welche der bedauerlichen »Entwürdigung« der deutschen Landschaft durch Telefonleitungen, Stromkabel und Eisenbahntrassen durch die Rückwendung zu agrarischen oder kleinstädtischen Zuständen Einhalt zu gebieten versuchten, die Vertreter der Lebensreform, die sich wie Eduard Baltzer, Leopold Heller, Willy Pastor und Sebastian Kneipp für Naturheilkunde, Nudismus und Vegetarismus einsetzten, die von Gustav Landauer, Franz Oppenheimer und Bruno Wilhelmy initiierte Siedlungsbewegung und die von England auf Deutschland übergreifende Gartenstadtbewegung, welche von den Brüdern Heinrich und Julius Hart sowie von Leberecht Migge befürwortet wurde.1 107

Leberecht Migge

Doch fast alle diese Bemühungen blieben aufgrund ihrer Zersplitterung in unzählige mittelständische Bünde, Orden und Vereine weitgehend im Sektiere­ rischen oder Utopischen stecken, ja wurden von der sogenannten breiten Masse eher belächelt als ernst genommen. Als daher im August 1914 der Erste Weltkrieg begann, der fast alle Schichten der deutschen Bevölkerung zu einer nationalen Begeisterungswelle hinriss, traten all jene Bemühungen um einen verstärkten Heimatschutz oder die Einführung einer naturgemäßen Lebensweise wieder in den Hintergrund. II.

Und doch gingen sie nicht völlig verloren, sondern nahmen lediglich andere Formen an. Beispielhaft dafür sind vor allem jene Proklamationen, deren Vertreter sich damals als »Expressionisten« ausgaben. Zwar hatten selbst manche von ihnen die Begeisterungswelle zu Beginn des Ersten Weltkriegs als einen Aufbruch zu einem intensivierten Leben begrüßt, sahen aber in den Jahren 1916/17, als dieser Krieg in mörderischen Materialschlachten stagnierte, zusehends ein, dass es in ihm nicht um eine vitalistisch anfeuernde Gesinnung, sondern um die imperialistische Gewinngier des dahinter stehenden kapitalistischen Systems ging. Und das führte in der expressionistischen Literatur, soweit sie unter den Bedingungen der staatlichen Zensur überhaupt erscheinen konnte, zu einer apokalyptisch gestimmten »Menschheitsdämmerung«, die selbst in ihren dystopischen, an totale Verzweiflung grenzenden Zügen immer stärker auf einen Gesamtumbruch der bestehenden gesellschaftlichen Ordnung drängte. Und dabei spielte – in rückhaltloser Verwerfung der zum Ersten Weltkrieg führenden Überindustrialisierung – geradezu zwangsläufig auch die Forderung einer radikalen Rückwendung zu utopisch verklärten Naturzuständen eine wichtige Rolle. Neben dystopischen Bildern einer durch Vergroßstädterung, Technisierung und kriegerische Auseinandersetzungen beschädigten Welt entwarfen daher viele Expressionisten ständig Visionen neuer Naturutopien, mit denen sie sich Mut zu neuen gesellschaftsbezogenen Hoffnungen zu machen versuchten. Selbst in ihren dunkelsten Werken finden sich deshalb immer wieder stürmische Durchbrüche ins Naturhafte, Exotische, Archaische und damit im weitesten Sinne »Grüne«, die eine durchgreifende Renaturierung des Menschen befürworteten. »Entreinigt euch der winterlichen Städte!«, rief dementsprechend Johannes R. Becher seinen Lesern zu.2 »Hier ist der Eingang zum Grenzenlosen«, heißt es bei Paul Zech mit Blick auf noch unbetretene »Wiesen und Wälder«.3 »Natur, nur das ist Freiheit, Weltalliebe ohne Ende«, jubelte Theodor Däubler.4 Ja, manche Expressionisten träumten sogar von einer Rückkehr zum Glück der Primitiven, zum »Ur« schlechthin. Afrikanisches und Südseehaftes standen deshalb in dieser Literatur hoch im Kurs. In Reinhard 108

Das grüne Manifest (1919)

Goerings Seeschlacht (1917) ist es die Reizvokabel »Samoa«, die seine Matrosen bis zur Raserei entzückt. Wilhelm Ständer, der Held in Carl Sternheims Tabula rasa (1916), bricht am Schluss nach China und in die Südsee auf, um endlich »wahrem Menschentum« zu begegnen. Was dahinterstand, war meist die Hoffnung auf ein neues Friedensreich in utopisch-exotischer Umgebung, in dem sich alle Menschen – wie die Edlen Wilden – wieder ihren angeblich ursprünglichen und daher natürlichen Instinkten überlassen könnten. Ja, es gab zu diesem Zeitpunkt schon eine Reihe expressionistischer Dramen, in denen der Hass auf die zu Kriegen führende Überindustrialisierung bereits wesentlich konkretere Formen anzunehmen begann. So geht es etwa in Georg Kaisers Gas-Trilogie (1917/20) fast ausschließlich um das immer bedrohlicher werdende Fabrikwesen, das trotz mahnender Stimmen, wieder »Siedler auf grünem Grund« zu werden, zwangsläufig auf gewaltige Explosionen hinsteuert und so in einen Prozess der »Selbstvernichtung« mündet.5 Ähnliche Vorgänge spielen sich in Friedrich Wolfs Drama Der Unbedingte (1919) ab, dessen Held – in seinem Kampf gegen habgierige Bodenspekulanten und herzlose Ingenieure – den um ihn versammelten Proletariern ein neues »Natur- und Erdgefühl« zu vermitteln sucht. Als ihn darauf die Würdenträger der bürgerlichen Gesellschaft mit Hohn überschütten und auf die Segnungen der Technik verweisen, schreit Wolfs Protagonist nur umso fanatischer auf: »Die Zerstückelungsmaschine! Sie hat die Zeitgenossen zerlegt, zerstückelt … Verhältnisse, Beziehungen … doch wo der Mensch? Bildungsinstitute … doch wo Anbetung? Thermoelektromassagekabinette … wo Erdbodenfühlung? Brüder, sprengt die Särge, in die ihr euch selbst gesenkt!« Anschließend schlägt er den Arbeitern vor, in »Erdhöhlen« zu ziehen, um wieder wie urweltliche Naturwesen zu leben. »Seht, die Erde ist euer einziges Gut«, erklärt er ihnen, »das man nicht fälschen noch knechten kann. Ihr könnt Berlin asphaltieren, daß kein Grashalm mehr wächst … doch über dem Potsdamer Platz – was sind tausend Jahre – werden wieder Stiere äsen! Ihr könnt den Zeitgenossen in Glashallen und auf Stahlplatten züchten … Doch plötzlich erwacht die Erinnerung an Land … Wiese … Kindheit.«6 III.

So viel zu einigen ekstatischen, ins Utopische ausschweifenden Verwerfungen der bestehenden Überindustrialisierung samt all ihrer ins Naturentfremdete und damit Entmenschende bewirkenden Folgen. Doch gab es denn in dieser durch den Ersten Weltkrieg und die darauffolgende Novemberrevolution herbeigeführte Situation nicht auch Autoren, die diesen Rückbezug auf die Natur wesentlich praxisnäher ins Auge fassten? Zugegeben, es waren nicht viele, die aber gerade darum ernst genommen werden sollten. Einer der wichtigsten darunter war Leberecht Migge, 109

Leberecht Migge

der im Gegensatz zu den expressionistischen Naturschwärmern, über die es bereits eine reichhaltige Sekundärliteratur gibt, relativ unbekannt blieb und der erst – im Zuge des steigenden ökologischen Interesses – in allerjüngster Zeit wieder neu entdeckt worden ist.7 Was wir inzwischen über seinen Lebenslauf und sein Wirken als Gartenarchitekt wissen, ist – knapp zusammengefasst – Folgendes.8 Geboren wurde er am 20. März 1881 als Sohn einer Danziger Kaufmannsfamilie. Nach einer Lehre an der Gartenbauschule in Hamburg arbeitete er ab 1904 als künstlerischer Leiter für die dortige Landschaftsbaufirma Jakob Ochs. Nachdem er sich 1910 auf einer Englandreise mit den Gartenstadtanlagen in den Vororten Londons vertraut gemacht hatte, eröffnete er 1913 ein eigenes Atelier in Blankenese und wandte sich – im Zuge öffentlicher Aufträge – der Volksparkgestaltung und der Verwirklichung der Gartenstadtidee zu. Im gleichen Jahr brachte Migge unter dem Titel Die Gartenkultur des 20. Jahrhunderts sein erstes programmatisches Buch heraus, das weitgehend auf Aufsätzen beruhte, die er seit 1907 publiziert hatte. Im Sinne des Deutschen Werkbunds, dem er kurz zuvor beigetreten war, versuchte er in ihm, die bisher lediglich den finanziell bessergestellten Oberschichten zugutegekommene Gartenstadtidee ins Gesamtgesellschaftliche auszudehnen, indem er sich für Volksparks und großräumige Siedlungsanlagen einsetzte, um so auch die unteren Bevölkerungsschichten in derartige Reformprojekte einzubeziehen. Mit anderen Worten: An die Stelle des krassen Gegensatzes hässlicher Mietskasernen und stilvoller Villen sollten in Zukunft, wie er forderte, endlich »städtische Grünräume« treten, in denen alle Menschen ein naturgemäßeres Leben führen könnten. Doch wie alle Vorschläge der seit den neunziger Jahren des 19. Jahrhunderts gegen die fatalen Auswirkungen der rücksichtslosen Überindustrialisierung aufbegehrenden Reformbewegungen traten solche Forderungen angesichts der nationalistischen Begeisterungswelle, die in den ersten Augusttagen des Jahres 1914 schlagartig einsetzte, geradezu über Nacht wieder in den Hintergrund. Was jetzt die öffentliche Meinung beschäftigte, waren die offiziellen Heeresberichte, aber nicht mehr irgendwelche Lebensreformvorstellungen. Und so verstummte auch Migge für einige Zeit. Schließlich hörten die gewaltig angekurbelte Bautätigkeit der Vorkriegszeit und die damit verbundene Städteplanung bei Kriegsbeginn mit einem Schlag auf. Angesichts der wirtschaftlichen Krisensituation und der mangelhaften Lebensmittelversorgung interessierte sich plötzlich niemand mehr für eine planmäßige Neugestaltung oder gar gärtnerische Verschönerung der großen Städte. Die meisten Deutschen schwankten stattdessen lediglich zwischen Vaterlandsliebe und Verdruss über die sich verschlechternden Lebensbedingungen hin und her. Ja, als die Lage an der Westfront in den Jahren 1917/18 zusehends hoffnungsloser wurde, kam es zu den ersten öffentlichen Unmutserklärungen und sogar zu Streiks sowie pazifistisch auftretenden Demonstrationen, 110

Das grüne Manifest (1919)

die schließlich in der Novemberrevolution kulminierten, von der sich viele Intellektuelle und Künstler einen Umbruch in eine völlig neue Gesellschaftsordnung versprachen, in der eine von vielen Expressionisten schon vorher utopisch anvisierte Wandlung in politischer und wirtschaftlicher Hinsicht eintreten würde. IV.

Kein Wunder daher, dass auch der immer stärker an sozialen Problemen interessierte Leberecht Migge von diesen Hoffnungen beflügelt wurde und sofort neue Stadt- und Wohnungsprojekte ins Auge fasste. Dafür spricht vor allem sein 1919 konzipierter Appell Das grüne Manifest, den er in expressionistisch überhöhter Sprache niederschrieb und ohne Autorenangabe an die Zeitschrift Die Tat schickte. Dort erschien er dann auch umgehend.9 Ja, Eugen Diederichs, der Verleger dieses Journals, war von dieser Schrift so angetan, dass er sie in seinen Blättern zur neuen Zeit zugleich als Sonderdruck herausgab. Um seinen Lesern anzudeuten, wer sich dahinter verbarg, erklärte er in einer Vorbemerkung, dass ihm dieser Beitrag von einem Autor zugesandt worden sei, der sich als »Spartakus in Grün« ausgegeben habe, aber sicher von jenem »Gartenfachmann« stamme, dessen Schriften bereits allgemein bekannt seien (912). Im Hinblick auf die durch die Überindustrialisierung entstandene gesellschaftliche Misere heißt es in diesem Manifest gleich zu Anfang, dass das Konzept »Stadt«, dem man sich im vorigen Jahrhundert verschworen habe, endlich aufgegeben werden müsse. Unter »Stadt« habe man damals vor allem »Industrie und Technik«, »Handel und Weltwirtschaft«, »Reichtum und Genuss«, aber auch »Elend und Entseelung«, kurzum eine fragwürdige »Stätte der Zivilisation« verstanden. Und zwar gelte das nicht nur für Deutschland, sondern für alle modernen Industriestaaten. Überall wimmele es seitdem in diesen Ländern von »Schiffen, Hochöfen und Fa­bri­ken«, wodurch die dort lebenden Menschen mit einem technokratischen Wissen »infiziert« worden seien, das sich immer schädlicher auswirke. Daher müsse die »Generalidee des 20. Jahrhunderts« nicht »Stadt«, sondern »Land« lauten, wie es apodiktisch heißt (913). Was war derartigen Städtern bisher »Land«, fragte sich Migge danach. Die meisten hätten darin lediglich eine »nette Gegend«, einen »Treibluftbehälter« oder eine seelische »Erweiterungszone« gesehen. »Vieh, Vogel und Blume« seien ihnen dadurch immer unvertrauter geworden. Und aus dieser »Mißachtung des Lands« sei jene »Stadthoffart« entstanden, die das heutige Leben immer unerträglicher mache. Durch die »unselige Zusammenballung von Massen« in »Arbeits- und Mietskasernen« hätten sich die großen Städte zusehends in verdreckte, hässliche »Konzentrationslager« verwandelt, in denen alles »blühende Leben« verschwunden sei. Selbst die »Anti-Stadtgedanken« der Gartenstadtarchitekten und der Jugendbewegung hätten 111

Leberecht Migge

an diesem »Daseinsmilitarismus« wenig geändert. Erst jetzt, nach den durch den Weltkrieg verstärkt zutage getretenen Folgen dieser industriellen Entartung, würden immer mehr Menschen einsehen, dass man der »Dummheit Stadt« endlich mit einem neuen Landbewusstsein entgegentreten müsse (914). Migges revolutionäre Parole lautet daher in diesem Manifest: »Rettet die Stadt«, indem ihr wieder das »Land umarmt«, das heißt das brachliegende »Bauland, Kasernenland, Straßenland, Oedland« in »Selbstversorgungsgärten« für »erdbundene Häusler oder Grünanteiler« verwandelt. Statt also weiterhin »neue Miets- und Arbeitskasernen« zu bauen, solle man in Zukunft vor allem, wenn nicht gar ausschließlich »gemeinnützige Siedlungen« mit weiträumigen Gemüsegärten ins Auge fassen, um so künftige Hungersnöte zu vermeiden und in den dort lebenden Menschen wieder einen Sinn für das Naturhafte zu erwecken (915).

Abb. 20  Leberecht Migge: Innenansicht einer Gartenanlage (1918) 112

Das grüne Manifest (1919)

Und zwar schwärmte Migge dabei nicht nur ins Utopische aus, sondern zählte zugleich eine Reihe von Maßnahmen auf, mit denen sich solche Forderungen realisieren ließen: erstens die Beseitigung der »Kunstdüngerherrschaft« durch eine Kompostierung des städtischen Abfalls in fruchtbaren Humus, zweitens eine Vermeidung von Austrocknungsperioden durch künstliche Bewässerung, drittens eine »Gärtnerisierung der Kleinwirtschaft« durch Glaswände und Bodenheizung sowie viertens eine Erweiterung der Gemüsepalette durch den Anbau von Mais und Sojabohnen (916). Doch nicht genug damit. Nachdem man die bisherigen Städte endlich in lebenswerte Siedlungsgebiete umgewandelt habe, solle dort ein staatlich angeordneter Baustopp eintreten und fortan nur noch Landsiedlungen mit »Selbstversorgungsgärten« und »gemeinnützigen Betriebsformen« angelegt werden (917). Während sich große Teile Deutschlands, wie Migge schrieb, in den vergangenen Jahrzehnten in einen »schlechtverwalteten Steinhaufen« verwandelt hätten (917), könnte so ein Land mit »vielen kleinen Häuslein« und »Kleingärtnereien« entstehen, in dem es weder Kriegsbegier noch Hungersnöte mehr geben würde (918). Und damit würde allen Menschen und nicht nur den »Jüngsten der Wandervögel«, den »Erfolgreichsten der Schreber« sowie den »Künstlern, Dichtern und Denkern«, wie es am Schluss dieses Manifests überschwänglich heißt, endlich die Chance geboten, die Möglichkeit einer »neuen Daseinsform« zu verwirklichen, nämlich ein sinnvolles, weil in die Natur eingebundenes Leben zu führen (919). IV.

So viel erst einmal zum utopischen Elan in Migges Schrift Das grüne Manifest. Der ideologisch erregten Stimmungslage der Jahre 1919/20 zufolge ist sie mit vielen geradezu expressionistisch klingenden Ausrufen durchsetzt, betont aber zugleich, dass sich dieser Prozess höchstwahrscheinlich »nicht von heute auf morgen« verwirklichen lasse, sondern sich dafür noch viele der weiteren Generationen bemühen müssten (918). So gesehen erweist sich Migges in eine Vergrünung Deutschlands ausgreifende Utopie keineswegs als ein undurchführbares Hirngespenst. Schließlich empfiehlt sie im Gegensatz zu den meisten vorschnell ins Irreale übergehenden Proklamationen dieser Jahre keine revolutionäre Sofortlösung aller anstehenden poli­ tischen und sozioökonomischen Probleme, wie sie im Zuge der Novemberrevolution von einigen linken Splittergruppen gefordert wurde, die jedoch damit, wie der Spartakusbund und die Münchner Räterepublik, an der Unwilligkeit der breiten Masse der Bevölkerung gescheitert waren. Aus diesem Grund hatte sich Migge schon in seinem Brief an Eugen Diederichs zwar als einen »Spartacus in Grün«, aber zugleich als einen Reformer, »an dem das Rote sterben soll«, bezeichnet (912). Demzufolge vertraute er bei seinen Wandlungskonzepten lieber auf jene einflussreichen Schichten 113

Leberecht Migge

des Bürgertums, die sich schon vor dem Krieg für die Reformen des linken Flügels des Werkbunds, die Freiland-Konzepte Theodor Hertzkas und Franz Oppenheimers, die Siedlungsvorstellungen der Lebensreform, die Ideale der Gartenstadtbewegung sowie die Naturbegeisterung des Wandervogels eingesetzt hatten und auch nach 1919/20 allmählich wieder aktiv zu werden begannen. Nachdem alle linken, das heißt ins Sozialistische oder gar Kommunistische tendierenden Aufstände schon im Jahr 1919 von den auf »Ruhe und Ordnung« drängenden Mehrheitssozialdemokraten unter Friedrich Ebert niedergeschlagen worden waren, konnte daher Migge mit Unterstützung sozial gesinnter Architekten wie Ernst May, Bruno Taut und Martin Wagner seine Forderungen – wenn auch in Teilanpassung an den Geist der Neuen Sachlichkeit – durchaus realisieren. Dafür sprechen unter anderem sein Ausbau des Grüngürtels der Stadt Kiel (1922), die Siedlungen Hohe Lache, Kleinkühnau und Ziebigk in Dessau (1924), die Römerstadt in Frankfurt am Main (1925/30), die Waldsiedlung Onkel Toms Hütte und die Hufeisensiedlung in Britz bei Berlin (1926/31) sowie die Einschornsteinsiedlung in Duisburg (1930), deren Absicht darin bestand, den einzelnen Siedlern, die meist aus dem Kleinbürgertum oder der gehobenen Arbeiterklasse stammten, eine durch gärtnerische Selbstversorgung verbesserte materielle Existenz zu verschaffen.10 Um diese Bemühungen zu unterstützen, gab Migge zwischen 1923 und 1929, also in den Jahren der wirtschaftlichen Prosperität der Weimarer Republik, in denen solche Projekte durchaus realisierbar waren, obendrein eine Zeitschrift unter dem Titel Die Siedlungswirtschaft heraus, in der er neben Selbstversorgungskonzepten zusehends auch ökologische Gesichtspunkte vertrat, wofür auch sein Buch Die wachsende Siedlung nach biologischen Gesetzen (1932) spricht. Ja, 1931 pachtete Migge die Insel Dommelwall im Südosten Berlins, die er mit Freunden in eine Selbst­ versorgungsheimstätte zu verwandeln suchte und wo er 1935 starb.11 Obwohl Migge bei all diesen Bestrebungen im Zuge der weiterhin zunehmenden Vergroßstädterung und Überindustrialisierung ein Einzelner blieb, schuf er so doch kleine Oasen einer auf das Soziale bezogenen und zugleich ökologiebewussten Gesinnung, die zwar während der Nazizeit und dann in der frühen Bundesrepublik fast unbeachtet blieben, aber im Zuge der alternativen Bewegungen der siebziger und achtziger Jahre wieder neu entdeckt und zum Teil zu Vorbildern all jener um Selbstversorgung bemühten Landkommunen, begrünten Biohäusern und nachhaltigen Kompostierungsmethoden wurden, die von den Vertretern der damaligen »Graswurzelrevolution« erneut als Oasen der Utopie hingestellt wurden.12 Hoffen wir, dass sie angesichts der zunehmenden Bedrohung unserer Umwelt oder besser Mitwelt weiterhin als solche empfunden werden.

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Elfriede Friedländer Sexualethik des Kommunismus. Eine prinzipielle Studie (1920)

I.

Jahrtausende lang haben staatliche und kirchliche Institutionen versucht, die polygame Natur des Menschen durch Gesetze und Tabuschranken soweit wie möglich einzudämmen. Aber selbst durch noch so drakonische Maßnahmen – in Form von Gefängnisstrafen, öffentlichen Anprangerungen, Inzestverboten, Todesurteilen oder Hexenverbrennungen – ist es den offiziellen »Hütern der Moral« nur in Ausnahmefällen gelungen, jenen ständig neu durchbrechenden Trieb nach körperlicher Lustabsättigung derart zu verteufeln, dass sich die Menschen zu weitgehender Abstinenz oder gar völliger Askese entschlossen hätten. Immer wieder – ob nun in offener oder versteckter Form – hat der Amor sexualis über all jene Moralgebote triumphiert, die sich bemühten, den Menschen ihre »tierischen Gelüste« auszutreiben.1 Bekanntlich erreichte diese unvermeidbare Dialektik in Europa während des christkatholischen Mittelalters und dann der bürgerlichen Welt des 18. und 19. Jahrhunderts ihre folgenreichsten Höhepunkte. Selbst die empfindsamen, biedermeierlichen und viktorianisch-wilhelminischen Tugendvorstellungen waren meist nur ein hauchdünner Firnis über einer als »niedrig« abgestempelten Welt der unregulierbaren Triebe, die aller prätentiösen Ehrbarkeit Hohn sprachen. Entgegen sämtlichen Ermahnungen, die staatlich verfügten Sittengebote einzuhalten und sich von jenen Bereichen zu distanzieren, für die das Etikett »Schmutz und Schund« erfunden wurde, entfaltete sich nämlich im Zuge der Ausbreitung der kapitalistischen Marktwirtschaft ein großstädtisches Vergnügungswesen, das in seinen Angeboten einer ungehemmten Sexualität sämtliche älteren Einrichtungen bei weitem übertraf. Überall wurden noch mehr Bordelle gegründet, noch mehr Chambres separées eingerichtet, noch mehr erotische Postkarten verkauft, noch mehr Appartements für »ausgehaltene« Frauen gemietet und noch mehr Revuen mit halbbekleideten oder nackten Tänzerinnen inszeniert. Was zuvor weitgehend als Adelsprivileg galt oder nur im Geheimen geblüht hatte, trat somit gegen Ende des 19. Jahrhunderts im großstädtischen Milieu immer stärker ins kaum noch auszublendende Rampenlicht der gesellschaftlichen Öffentlichkeit. Die Reaktionen auf diese offenkundige Sexualisierung der durch den steigenden Wohlstand ausgelösten bürgerlichen Vergnügungsbedürfnisse waren höchst zwiespältiger Natur. Neben einer rückhaltlosen Befürwortung des vornehmlich maskulinen Lustverlangens in den damals als »Boheme« bezeichneten Autorengruppen 115

Elfriede Friedländer

herrschten dagegen im offiziellen Schrifttum dieser Ära fast ausschließlich massive Verdammungen solcher sexuellen Auslebetendenzen vor, denen die Vertreter der Obrigkeit mit moralingetränkten Überheblichkeitsgefühlen entgegenzutreten versuchten. Allerdings lag derartigen Abwehrbemühungen schon damals eine von vielen emanzipiert auftretenden Feministinnen gerügte »doppelte Moral« zugrunde. Schließlich waren ihre Urheber nur in den seltensten Fällen jene charakterfesten »Ehrenmänner«, als die sie sich ausgaben. Entweder litten sie selbst unter den staatlich verordneten Frustrierungen oder sie partizipierten ebenfalls – wenn auch heimlich – an all jenen erotischen Amüsements, die ihnen die großstädtische Subkultur ermöglichte. Und das war unter den gegebenen Umständen auch kaum anders zu erwarten. Schließlich bewirkte das vielfältige Angebot innerhalb der marktwirtschaftlichen Vergnügungsindustrie eine rasant ansteigende Nachfrage nach libidinösen Genüssen, der sich viele Vertreter der besser verdienenden Bevölkerungsschichten nicht zu entziehen vermochten. Ja, genauer gesehen verstießen alle offiziellen oder offiziösen Appelle gegen das rapide zunehmende Auslebebedürfnis notwendigerweise gegen die Grundvoraussetzungen jenes sich übermächtig entfaltenden Kapitalismus, der bereits damals auf eine scheinbar unaufhaltsame Akzelerierung profitversprechender Konsumangebote drängte. Und zu diesen Angeboten gehörte in steigendem Maße auch die »Ware Liebe«, ob nun in Form vereinzelter Strichjungen oder scharenweise auftretender Prostituierter. Demzufolge sah die sexuelle Situation innerhalb der deutschen Bourgeoisie vor dem Ersten Weltkrieg folgendermaßen aus: Aufgrund der wirtschaftlichen Prosperität des wilhelminischen Kaiserreichs, das 1913 in der Weltrangliste der führenden Industrieländer erstmals den zweiten Platz einnehmen konnte, nahmen nicht nur die materiellen, sondern auch die triebbedingten Bedürfnisse breiter Mittelschichten ständig zu und wurden zum Teil im Gefolge des kapitalistischen Prinzips von Angebot und Nachfrage durch eine Vergnügungsindustrie befriedigt, die weit über alles hinausging, was dieser Schicht bisher an bezahlbaren Liebesdiensten oder Voyeurgenüssen zur Verfügung gestanden hatte. Daher konnte ein Sexualwissenschaftler wie Sigmund Freud erst in dieser Ära und nicht schon im Biedermeier oder Nachmärz mit der Behauptung auftreten, dass das sexuelle Begehren alle anderen menschlichen Verhaltensformen mitbestimme oder gar verursache. Und auch die sogenannte »schöngeistige« Literatur dieses Zeitraums ging, wie in Frühlings Erwachen (1891) von Frank Wedekind oder Der Reigen (1903) von Arthur Schnitzler, trotz der weiterbestehenden Zensurbeschränkungen immer »schamloser« auf Fragen der Sexualität ein. Dadurch wurde der Widerspruch zwischen dem hergebrachten bürgerlichen Sittengesetz und dem kapitalistischen Selbstverwirklichungsdrang von Jahr zu Jahr ständig eklatanter. Wie ließen sich in einer solchen Situation noch jene Tugend116

Sexualethik des Kommunismus. Eine prinzipielle Studie (1920)

vorstellungen aufrechterhalten, mit denen das gesellschaftlich aufsteigende Bürgertum seit dem 18. Jahrhundert der bisher kirchlich abgesegneten Monogamie einen immer stärker ins Ethische tendierenden Gefühlswert gegeben hatte? War nicht die seit der Empfindsamkeit und dann der Romantik vielbeschworene ewig andauernde »Liiiebe« zu einem Hemmschuh geworden, der allen marktwirtschaftlichen Konsumgelüsten hemmend im Wege stand? Ja, mussten nicht die sozioökonomischen und damit auch die gesellschaftlichen Verhältnisse grundsätzlich geändert werden, um so der nur schwer zu bändigenden Erotik endlich einen tieferen Sinn zu geben, statt sie im Sumpf jenes großstädtischen Vergnügungsmilieus untergehen zu lassen, wo sich die polygame Natur vieler Menschen in hemmungsloser Konsumfreudigkeit ausleben konnte, ohne dabei auf irgendwelche »höheren Werte« Rücksicht zu nehmen? So viele Fragen, so viele Widersprüche, die im Hinblick auf eine sinnerfüllte Sexualität in allen Ländern mit marktwirtschaftlichen Gesellschaftssystemen und den ihnen zugrunde liegenden Selbstverwirklichungskonzepten im Laufe der Jahrzehnte immer weiter auseinanderklafften. Aber gab es denn nicht schon damals, fragt man sich, sozialistisch eingestellte Publikationen, die sich im Rahmen antikapitalistischer Gesinnungen mit solchen Problemen befassten? Es gab sie, aber es waren nicht viele, die in dieser Hinsicht ernst genommen zu werden verdienen. Zu ihnen zählt vor allem die 1920, also drei Jahre nach der russischen Oktoberrevolution, erschienene Broschüre Sozialethik des Kommunismus von Elfriede Friedländer, welche sie im Untertitel Eine prinzipielle Studie nannte. II.

Doch wer war diese Autorin und lohnt es sich überhaupt, auf eine so obskure Schrift von 59 Seiten, die bei der Wiener Verlagsgenossenschaft »Neue Erde« erschien, etwas genauer einzugehen? Ich glaube schon, dass diese Broschüre eine breitere Beachtung verdient. Schließlich gehört sie – meines Wissens – zu den ersten sexualethischen Schriften in deutscher Sprache, die dem Kapitalismus eine von den Vorgängen in der Sowjetunion beflügelte Utopie einer kommunistischen Gesellschaftsordnung entgegenstellte, in der sich – wie die Autorin hoffte – die menschliche Erotik endlich ohne ausbeuterische Züge entfalten würde. Und auch als Frau und Politikerin verdiente Elfriede Friedländer eine größere Aufmerksamkeit, die ihr in der histo­ rischen Forschung erst seit einigen Jahren zuteilgeworden ist.2 Geboren wurde sie am 11. Dezember 1895 als voreheliches Kind des aus Wien stammenden jüdischen Philosophiestudenten Rudolf Eisler und der Leipziger Fleischertochter Ida Maria Fischer. Nachdem ihre Eltern ein Jahr später geheiratet hatten, erhielt sie den Namen Elfriede Eisler. Ihre beiden nachgeborenen Brüder wurden später in der kommunistischen Weltbewegung als Gerhart und Hanns Eisler 117

Elfriede Friedländer

berühmt. Als Gymnasiastin schloss sich die junge Elfriede der bürgerlich-jüdischen Organisation »Freideutsche Jugend« an, die nationalkommunistische Ideen vertrat. Ab 1914 studierte sie an der Wiener Universität Philosophie, Nationalpädagogik sowie Psychologie und machte sich zugleich mit den sexualwissenschaftlichen Theorien Sigmund Freuds vertraut. Schon zu Beginn ihres Studiums wurde sie mit 19 Jahren Mitglied der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Deutsch-Österreichs (SDAPÖ). Ein Jahr später heiratete sie den österreichisch-jüdischen Journalisten Paul Friedländer und bekam 1917 als Elfriede Friedländer ein Kind, das den Namen Gerhard erhielt. Am 3. November 1918 rief sie in Wien die Kommunistische Partei Österreichs (KPÖ), eine der ersten kommunistischen Parteien außerhalb der Sowjetunion, ins Leben. Kurz darauf nahm sie an einer bewaffneten Besetzung der konservativen Neuen Freien Presse teil und wurde zu drei Wochen Gefängnis verurteilt. Im Februar 1919 gründete sie mit ihrem Mann das KPÖ-Blatt Der Weckruf / Die Rote Fahne und redigierte außerdem die Zeitschrift Die revolutionäre Proletarierin. Nach ideologischen Auseinandersetzungen innerhalb der KPÖ verließ sie im August 1919 Wien und ging auf Einladung des linksengagierten Arbeiterintellektuellen Willi Münzenberg nach Berlin, einem der damals wichtigsten Zentren kommunistischer Aktivitäten außerhalb der UdSSR. Dort nahm sie, nachdem sie sich von ihrem Mann getrennt hatte, aus Protest gegen die bestehende gesetzliche Regelung, als Ehefrau ihren bisherigen Nachnamen aufzugeben und sich nicht mehr Elfriede Eisler, sondern Elfriede Friedländer zu nennen, den Nachnamen ihrer Mutter an und nannte sich fortan in strikter Ablehnung aller vater- und eherechtlichen Verfügungen als entschiedene Feministin »Ruth Fischer«. In Berlin arbeitete sie ab 1920 anfangs für das theorieorientierte KPD-Organ Die Internationale, worauf sie schon ein Jahr später die Leitung der Berliner KPD übernahm und sogar in den Zentralausschuss dieser Partei gewählt wurde. 1922 vertrat sie als Siebenundzwanzigjährige auf dem IV. Weltkongress der Kommunistischen Internationale, kurz Komintern genannt, als führende Abgeordnete die deutsche Sektion. Später gehörte sie sogar dem Präsidium dieser Organisation an, in dem sie sich zu den revolutionären Ansichten der Berliner Linksopposition bekannte, die sich im Rahmen der frühen Weimarer Republik nicht mit vorläufigen Wahlerfolgen begnügte, sondern auf einen gewaltsamen Umsturz des Gesamtsystems drängte. Als Mitglied dieses Präsidiums reiste sie in diesem Zeitraum ständig zwischen Berlin und Moskau hin und her und lernte anlässlich dieser Zusammenkünfte fast alle der wichtigsten sowjetischen Parteiführer, wie Wladimir Iljitsch Lenin, Leo Trotzki, Nicolai Bucharin, Georgi Dimitroff, Karl Radek, Grigori Sinowjew und Jossif Stalin, auch persönlich kennen. 1923 ging sie, um die deutsche Staatsbürgerschaft zu erhalten, eine Scheinehe mit dem Kominternmitarbeiter Gustav Golke ein. Ein Jahr später wurde sie als Vertreterin der KPD sogar in den Reichstag gewählt. 118

Sexualethik des Kommunismus. Eine prinzipielle Studie (1920)

Doch dann erfolgte 1925 der entscheidende Bruch in ihrem Leben. Als sie in diesem Jahr als Vorsitzende der KPD und als Mitglied des Exekutivkomitees der Komintern zum V. Weltkongress dieser Organisation nach Moskau fuhr, erwartete sie dort eine böse Überraschung. Stalin, der inzwischen den Vorsitz der Komintern übernommen hatte, ließ sie wegen ihrer von ihm scharf abgelehnten »linksradikalen« Ansichten unter ständiger Aufsicht der Geheimpolizei zehn Monate lang im Hotel Lux internieren. Erst im Juni 1926 gelang es ihr, während einer vorübergehenden Abwesenheit Stalins aus Moskau zu entkommen und wieder nach Berlin zurückzukehren. Dort hatte die KPD inzwischen auf Stalins Empfehlung Ernst Thälmann zu ihrem neuen Vorsitzenden gewählt. Mehr noch: Ruth Fischer wurde wegen ihrer »linkssektiererischen« Parolen, wie es hieß, kurzerhand aus der deutschen Kommunistischen Partei ausgeschlossen. Obwohl es bei diesen Entscheidungen parteiintern vor allem um die Ablehnung ihrer revolutionären Umsturzvorstellungen ging, spielte dabei höchstwahrscheinlich auch die entschiedene Verwerfung ihrer erotikbezüglichen Anschauungen eine Rolle, die sie, wie gesagt, bereits 1920 in ihrer noch unter dem Namen Elfriede Friedländer in Wien erschienenen Broschüre Sexualethik des Kommunismus. Eine prinzipielle Studie vertreten hatte, mit der sie sich schon damals unter den deutschen, österreichischen und sowjetischen Theoretikern und Theoretikerinnen des Kommunismus den fragwürdigen Ruf eines linksradikalen Enfant terrible erworben hatte. III.

Neben zahlreichen Reden und kürzeren Essays ist dies die einzige etwas längere Pu­ blikation, die Ruth Fischer in den frühen zwanziger Jahren veröffentlichte und die in kommunistischer Gesinnung und feministischer Radikalität alles in den Schatten stellt, worin einige ihrer Parteigenossinnen in dem von der russischen Oktoberrevolution und der deutschen Novemberrevolution inspirierten Zeitraum einen konsequenten Bruch mit den bestehenden Moralvorstellungen gesehen hatten. In ihren ersten Abschnitten geht diese Schrift auf ein Manuskript zurück, das Elfriede Eisler bereits 1915 als zwanzigjährige Studentin an der Wiener Universität niedergeschrieben hatte und das noch deutlich unter dem Einfluss von Sigmund Freud steht. Allerdings übte sie in ihm schon damals eine scharfe Kritik an der bürgerlichen »Ehediktatur« und deren sentimentaler »Liiiebes«-Heuchelei, der sie das Konzept »freier Ehen« entgegensetzte. Manches berührt sich dabei in Einzelzügen durchaus mit den Anschauungen bürgerlicher Frauenrechtlerinnen dieser Jahre, die, wie Anita Augspurg, Hedwig Dohm, Helene Lange und Helene Stöcker, in ihren Schriften schon etwas früher ebenfalls gegen das weit verbreitete Prostitutionsunwesen und die unveräußerlichen Rechte von Frauen für eine gesteigerte Sinnlichkeit im Rahmen nichtlegalisierter Liebesbeziehungen eingetreten waren. 119

Elfriede Friedländer

Abb. 21  Ruth Fischer (1924)

Der zweite, 1919 niedergeschriebene Teil dieser Broschüre beruht dagegen bereits auf der Überzeugung, dass sich die innerhalb kapitalistischer Marktbedingungen herrschenden Sexualverhältnisse nur in einer kommunistischen Gesellschaft grundsätzlich verändern ließen. Und zwar stützte sich Elfriede Friedländer – neben Berichten Clara Zetkins3 über das provokante Auftreten der russischen Feministin Alexandra Kollontai4 – dabei vor allem auf diesbezügliche Gesetzesänderungen in den ersten Jahren der UdSSR.5 Während in den Schriften der deutschen Sozialdemokraten, wie sie schrieb, im Hinblick auf die gängigen Sexualnormen noch immer reichlich »bürgerliche« Vorstellungen herrschten, die letztlich auf kapitalistische Eigentumskonzepte zurückgingen, habe man in der Sowjetunion endlich eingesehen, dass die »Einehe«, in der die Frau zumeist eine untergeordnete Rolle spiele, »nicht die einzige Form des Sexuallebens« sei (34). Was Friedländer deshalb in dieser Schrift – verbunden mit einem utopischen Vorgriff auf den Sieg des Kommunismus – auch in anderen Ländern ins Auge fasste, waren Liebesbeziehungen, in denen Frauen nicht mehr durch mühselige Hausarbeit und zeitraubende Kindererziehung zu ehelicher Unfreiheit verurteilt würden, sondern in ihrer Partnerwahl stets ihren eigenen Bedürfnissen nachgehen könnten. Und wenn das zu Kindern führen würde, sollten diese keine Hemmklötze 120

Sexualethik des Kommunismus. Eine prinzipielle Studie (1920)

sein, sondern in genossenschaftlichen Erziehungsheimen untergebracht werden, wo man sie schon im Jugendalter mit einer ähnlichen Haltung vertraut machen würde. Was sie darum im Hinblick auf wesentlich freiere Moralvorstellungen befürwortete, waren erotische Freundschaften oder polygame Liebesverhältnisse, innerhalb derer es keine vom Staat verfügten sexuellen Beschränkungen mehr geben dürfe. Um bei derartigen Forderungen nicht im luftleeren Raum der Utopie zu verharren, fügte Friedländer deshalb am Schluss ihrer Sexualethik des Kommunismus einen Katalog von den bereits in der UdSSR propagierten Sexualreformen an, von denen sie sich die notwendige Voraussetzung eines »seelischen Umsturzes« und der sich daraus ergebenden »Lockerung des Ehebrauchs« versprach (35). Die Hauptpunkte der von ihr aufgezählten Änderungswünsche waren dabei folgende: 1) das Geschlechtsleben in all seinen Formen als eine Privatangelegenheit jedes Einzelnen zu betrachten, in die sich der Staat nicht einzumischen habe, 2) geschlechtskranke Menschen einer zwangsweisen Spitalbehandlung zuzuführen, 3) Ehebruch, Bigamie, Polygamie und Homosexualität nicht mehr als Verbrechen anzusehen, 4) lediglich Notzucht, Lustmord und gewaltsame Verletzung zu bestrafen, 5) den öffentlichen Vertrieb von Präventivmitteln zu erlauben, 6) die Abtreibung der Leibesfrucht zu gestatten und von approbierten Ärzten durchführen zu lassen, 7) allen Ehegatten freizustellen, sich auf eigenen Wunsch scheiden zu lassen, 8) für Schwangere eine staatliche Mutterschaftsversicherung einzurichten, 9) die Versorgung von Kindern und Jugendlichen durch staatliche Betreuung zu ermöglichen sowie 10) die Bordelle zu schließen und ehemalige Prostituierte der allgemeinen Arbeitspflicht zu unterwerfen. Ja, Friedländer ging in dieser Hinsicht sogar noch einen Schritt weiter, indem sie sowohl die polyamore Duldung der »Doppel- oder Mehrehe« als auch die »Ehe zwischen Blutsverwandten und Menschen gleichen Geschlechts« forderte (55). Sie erklärte sogar obendrein, dass sie selbst »gegen eine Verbindung von Vater und Tochter, Mutter und Sohn, Vater und Sohn oder Mutter und Tochter« nichts einzuwenden habe (58). IV.

All das musste selbst in der revolutionär erregten Phase der frühen Weimarer Republik bei weiterhin »bürgerlich« eingestellten Lesern und Leserinnen zwangsläufig heftige Gegenreaktionen auslösen. Doch nicht nur das. Sogar viele deutsche und russische Kommunisten und Kommunistinnen, denen es erst einmal um sozialpolitische Veränderungen ging, fanden manche dieser Forderungen zu utopisch oder zumindest zu weitgehend. Dafür spricht unter anderem ein im Herbst 1920 in Moskau stattgefundenes Gespräch Lenins mit Clara Zetkin, das Letztere 1925 in ihrer Schrift Erinnerungen an Lenin veröffentlichte6 und in dem er sie gefragt habe, ob bei den 121

Elfriede Friedländer

proletarischen Genossinnen in Deutschland tatsächlich »die politischen Forderungen des Klassenkampfes« oder eher irgendwelche Privatangelegenheiten im Vordergrund ständen.7 Und dabei sei auch die gerade erschienene Broschüre Sexualethik des Kommunismus der jungen Genossin Elfriede Friedländer zur Sprache gekommen, die Lenin als einen »Schmarren« scharf abgelehnt habe. Ihr Hinweis auf einige freudianische Hypothesen sehe zwar sehr »gebildet« aus, sei aber – genauer gesehen – eine »Laienstümperei« oder wie alle von Sigmund Freud aufgestellten Theorien eine auf dem »Mistboden der bürgerlichen Gesellschaft üppig emporwachsende Modetorheit«. Überhaupt halte er das »Herumwühlen im Sexualleben«, möge es sich auch »noch so wild und revolutionär gebärden«, letztlich für eine »Liebhaberei der Intellektuellen und der ihnen nahestehenden Schichten«. Beim »klassenbewußten, kämpfenden Proletariat sei kein Platz dafür«.8 Der »Schmutz der bürgerlichen Ehe mit ihrer schweren Lösbarkeit«, das heißt der »Freiheit für den Mann und der Versklavung der Frau«, welche in sexuellen Fragen zu einer »ekelhaften Verlogenheit« geführt hätten, habe zwar auch Lenin empört, aber er sei dagegen gewesen, den »Kampf gegen die Familiengesetze der Bourgeoisstaaten« zu einem der Zentralpunkte der anstehenden Sozialrevolution zu machen. Das würde lediglich zu einer »Erweiterung des gutbürgerlichen Bordells« führen.9 Daher habe er auch Alexandra Kollontais »Glas-Wasser-Theorie« verworfen, nach der jeder Genosse mit jeder Genossin in sexueller Hinsicht so frei wie möglich verkehren dürfe. Das Proletariat brauche keinen solchen »Stimulus«, habe Lenin erklärt, und zwar weder den »Rausch der sexuellen Übersteigerung« noch den »Rausch durch Alkohol«. Es empfange die »stärksten Antriebe zum Kampf aus seiner Klassenlage, aus dem kommunistischen Ideal«.10 Und Clara Zetkin hatte dem voll und ganz zugestimmt. Schon in diesem 1920 geführten Gespräch zwischen Lenin und Zetkin wird er­­ sichtlich, in welchem Maße nicht nur die »guten Bürger«, sondern auch führende Vertreter und Vertreterinnen der kommunistischen Parteien damals die von Elfriede Friedländer geforderte sexuelle Revolution als problematisch oder zumindest verfrüht empfanden. Und diese scharf ablehnende Haltung nahm in der Folgezeit weder im Rahmen der sowjetischen noch der deutschen kommunistischen Führungsgremien keineswegs ab, sondern verstärkte sich eher noch. In der UdSSR setzte sich nach dem Scheitern aller kommunistischen Aufstände oder revolutionären Umsturz­versuche in anderen europäischen Ländern und dem sich daraus ergebenden Verzicht auf die Utopie einer allgemeinen Weltrevolution das pragmatische Konzept vom »Aufbau des Sozialismus in einem Lande« durch, das sich selbst in sexueller Hinsicht weitgehend an älteren, als stabilisierend geltenden Moralvorstellungen orientierte. Und auch in der Weimarer Republik empfand die KPD den von Wilhelm Reich 1931 gegründeten »Reichsverband für proletarische Sexualpolitik« in erotischer Hin122

Sexualethik des Kommunismus. Eine prinzipielle Studie (1920)

sicht viel zu freizügig und entzog ihm ihre Unterstützung.11 Ja, nach dem Sieg des Nazifaschismus im Jahr 1933 erfolgte in Deutschland schließlich – noch schärfer als zuvor – eine rigide Unterdrückung aller sexuellen Freiheitsbemühungen. V.

Sogar nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs änderte sich daran weder im Westblock noch im Ostblock nicht viel. Vor allem das Abtreibungsverbot wurde nicht aufgehoben und auch die Diskriminierung Homosexueller hörte keineswegs auf. Zugegeben, in anderer Hinsicht lockerte sich einiges, aber irgendwelche Hoffnungen oder Hinweise darauf, dass es selbst im sich »demokratisch« gebenden Westen – trotz aller lauthals verkündeten Freiheitsparolen auf politischem Gebiet – auch im Bereich des Sexuellen zu einer Entkrampfung der bestehenden bürgerlichen Moral­vorstellungen kommen könnte, blieben nach wie vor aus. Erst als es in den sogenannten neoliberalen Staaten des NATO-Blocks im Zuge der späten fünfziger und frühen sechziger Jahre durch die immer schneller angekurbelte Industrieproduktion zu einer fortschreitenden Verkürzung der Arbeitszeit, einem steigenden Wohlstand und damit einem ungehemmteren Konsumverlangen kam, setzten auf diesem Gebiet einige Lockerungen ein. Schließlich bewirkte all das zwangsläufig eine größere Lebenserwartung und Bedürfnissteigerung, wodurch nicht nur die materiellen, sondern auch die erotischen Wünsche ständig größer wurden. Und das führte im Laufe der Jahre auch in sexueller Hinsicht zu einer anschwellenden Verbrauchergesinnung, die im Gefolge der antiautoritär eingestellten Achtundsechziger Bewegung in Form von erotischen Kommunen, sogenannten Aufklärungsfilmen, pornographischen Romanen, sexuell stimulierender Rockmusik, Schwulenprotesten, Demonstrationen feministischer Gruppen gegen das weiterhin bestehende Abtreibungsverbot sowie der Einführung der Antibabypille ihren sowohl gerechtfertigten als auch zum Teil lediglich ins Konsumistische übergehenden Höhepunkt erlebte und seitdem – unter den weiter bestehenden marktwirtschaftlichen Bedingungen – nicht wieder abgeflaut ist. Doch ein Problem, das auch Elfriede Friedländer zu Recht in den Mittelpunkt ihrer Erwägungen auf diesem Gebiet gestellt hatte, ist – trotz aller inzwischen eingetretenen Veränderungen in dieser Hinsicht – bis heute ungelöst geblieben: Wie wird sich der Widerspruch zwischen dem polygamen Lustverlangen und zugleich der Sehnsucht nach der Bindung an einen geliebten Partner letztlich aufheben lassen? Lässt sich diese Diskrepanz in der von ihr vorgeschlagenen Weise überhaupt aus der Welt schaffen oder bleibt es – je nach Situation oder gesellschaftlicher Situierung – jedem Einzelnen überlassen, sich für das eine oder das andere zu entscheiden? Obwohl Friedländer alle einer erstrebenswerten Synthese von Polygamie und Monogamie im Wege stehenden Hindernisse zu beseitigen suchte, musste schließlich 123

Elfriede Friedländer

auch sie zugeben, dass es in dieser Hinsicht, selbst wenn sich unter »aufgeklärten« Menschen eine höchst »duldsame« Mentalität durchsetzen sollte, vielleicht nie zu einer Aufhebung dieses Widerspruchs kommen werde. Und diese Frage wird Menschen mit einer starken Sinnlichkeit und seelischen Sensibilität sowie einem selbstreflexiven Denkvermögen auch in Zukunft stets bedrängen. Ob nun Ehe oder offene Zweierbeziehung: das Problem der sexuellen Bindung beziehungsweise Bindungslosigkeit wird deshalb auch in künftigen Gesellschaftssystemen, gleichviel welcher Art, sicher weiter bestehen. Und darin besteht der eigentliche Wahrheitsgehalt von Friedländers Broschüre, die sich zwar mit utopischem Eifer über solche Anliegen hinwegzusetzen versuchte, aber selbst in ihrer Radikalität auch die Schwierigkeiten im Hinblick auf eine mögliche Aufhebbarkeit derartiger Probleme innerhalb gesellschaftlich notwendiger Veränderungsprozesse nicht außer Acht ließ. So gesehen ist die Sozialethik des Kommunismus eine Schrift, welche einerseits wie eine Fata Morgana unerreichbarer Wünsche wirkt, jedoch andererseits darauf hinweist, wie man die allzu krassen Hindernisse auf dem Weg zu einer sinnstiftenden Sexualität dennoch beseitigen könne. Zugegeben, einige dieser Hindernisse sind bereits ausgeräumt worden, aber der letztmögliche Zielpunkt in dieser Hinsicht bleibt weiterhin eine Utopie.

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Bertolt Brecht Das Vorspiel (1944)

I.

Wie die meisten älteren Marxisten war Bertolt Brecht kein Freund irgendwelcher ins Phantastische ausschweifenden Ideologiekonzepte, die sich als »Utopien einer besseren Zukunft« ausgaben, sondern blieb im Hinblick auf derartige Fragestellungen stets so »konkret« wie nur möglich. Schon vor seiner parteipolitischen Wende zu leninistisch ausgerichteten Doktrinen in der zweiten Hälfte der zwanziger Jahre gab er sich gern als konsequenter Materialist, dem alle Hoffnungen auf einen sich als »liberal« ausgebenden Idealstaat von vornherein als bürgerliche Illusionen erschienen. Die menschliche Natur, behauptete er in seiner Frühzeit als bewusst sarkastisch auftretender Außenseiter, sei nun einmal krud, hinterfotzig, lediglich auf Eigennutz bedacht, wie man im alltäglichen Leben ständig erfahren könne. Während sich viele jugendliche Literaten um 1919/20, die sich als himmelstürmende Expressionisten verstanden, als selbsterwählte Messiasse eines revolutionären Umschwungs ausgaben und das kriegsmüde Proletariat zu einer Begeisterungswelle für einen gewaltsamen Umsturz aller bisher geltenden Gesellschaftsnormen hinzureißen versuchten, blieb er, wie in seinen Dramen Baal (1919) und Trommeln in der Nacht (1920), eher kalt, wenn nicht gar zynisch, allerdings ohne dabei ins Reaktionäre auszuweichen. Und diese Haltung gab Brecht auch in den folgenden Jahren nicht auf. Was den Verlauf der Geschichte angeht, dominiert deshalb in seinen weiteren Werken meist das Bild vom »Rad der Fortuna«, nach dem sogar das Große und Herrscherliche, wie in seinem Leben Eduard des Zweiten von England (1924), immer wieder vom Orkus verschlungen wird.1 Wo sollte es bei einer solchen Geschichtsauffassung eine leuchtende Zukunft oder gar eine beseligende Utopie geben? Nicht einmal die demokratische Verfassung der Weimarer Republik sowie die Segnungen der technologischen Innovationen erschienen Brecht vor 1926 als nennenswerte Fortschritte. Was daher in fast allen seiner frühen Dramen und Gedichte dominiert, ist in Hinsicht auf die dargestellten Weltläufte stets ein Kreislauf unzusammenhängender Einzelvorgänge, hinter dem sich keine Richtung, keine grundsätzliche Änderung erkennen lässt. Im Rahmen dieses Metaphernfelds gibt es deshalb als Bilder des Geschichtlichen, wie gesagt, meist nur das Rad, das sich sinnlos dreht, oder die Schlange, die sich in den Schwanz beißt. Erst nach 1926/27 änderte sich das. Plötzlich bekam Brechts Gedankenfluss eine bestimmte Zielsetzung, indem er immer mehr marxistische Ideen in sich aufnahm. Angesichts der Repressionstaktiken der späten Weimarer Republik und dann der 125

Bertolt Brecht

1929 einsetzenden Weltwirtschaftskrise griff Brecht zusehends auf jene Theorien von Marx, Engels und Lenin zurück, die ihm die »Große Unordnung« des Kapitalismus, die er bisher als ein anarchisches Naturgeschehen hingenommen hatte, als ein ökonomisches System durchschaubar machten, das wegen seiner Ausbeutungstaktiken und seiner Krisenanfälligkeit konsequenterweise dem Sozialismus Platz machen müsse. Was er bisher aufgrund seiner anarcho-vitalistischen Gesinnung teilweise verklärt hatte, nahm daher jetzt, wie in seinem Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny (1930), zusehends dystopische Züge an. In dieser Stadt, die von den Drahtziehern und Nutznießern der kapitalistischen Unordnung als ein utopisches Eldorado alkoholischer und sexueller Genüsse ausgegeben wird, erklärt plötzlich selbst der unaufgeklärte Holzfäller Paul, dass »etwas fehlt«.2 Er weiß zwar nicht, was, aber es ist – noch unausgesprochen – jener Sozialismus, in dem im Rahmen besser geordneter Gesellschaftsverhältnisse selbst solche Freuden nicht mehr bloße Betäubungen bleiben würden, sondern wahre Wohlgefühle auslösen könnten. Diese ideologische Umorientierung nimmt dann in Brechts folgenden Werken immer konkretere Formen an. Ihren ersten Höhepunkt erreicht sie in seiner GorkiBearbeitung Die Mutter (1932). Um dabei nicht von vornherein ins Utopische auszuweichen, heißt es allerdings in diesem Stück im Hinblick auf die Frage, wie der kommunistische Staat der Zukunft einmal aussehen soll, lediglich: »Er ist nicht das Chaos, / Sondern die Ordnung. / Er ist das Einfache, / Das schwer zu machen ist.«3 Doch nicht nur in der Mutter, auch in anderen Werken Brechts aus diesem Zeitraum taucht dabei – in Übereinstimmung mit den parteipolitischen Parolen der damaligen KPD – als maßgebliches Vorbild stets die Sowjetunion auf, neben der ihm das kapitalistische Deutschland der Weimarer Republik wie ein »Land der Unordnung und der Verbrechen« erschien.4 Und dieser Haltung blieb Brecht auch nach der Machtübergabe an die Nazifaschisten am 30. Januar 1933 treu, die ihn zwang, ins Exil zu flüchten. Entgegen aller »westlichen« Verteufelung der UdSSR und aller eigenen Zweifel an den dort angewandten parteipolitischen Methoden hielt er auch in der Folgezeit – jedenfalls in seinen öffentlichen Äußerungen – eisern am Leitbild der Sowjetunion als des einzigen und deshalb unverzichtbaren sozialistischen Staats fest. So stellte er beispielsweise 1935 die Vollendung der Moskauer Metro als einen Akt hin, wie ihn die Welt noch nie gesehen habe, da hier die Bauleute zum ersten Mal als ihre eigenen Bauherren aufgetreten seien. »Dies ist das große Bild«, schrieb er in einem seiner Gedichte, »Das die Klassiker einstmals / Erschüttert voraussahen«.5 Während viele westliche, sich angeblich als »Demokratien« ausgebende Staaten aufgrund ihrer kapitalistischen »Unordnung« noch immer an den Folgen der seit 1929 herrschenden Weltwirtschaftskrise litten, gehe man in diesem Land endlich dazu über, »Ordnung« in die ökonomischen Voraussetzungen des Gesellschaftslebens zu bringen. 126

Das Vorspiel (1944)

Selbst die kurz danach einsetzenden Moskauer Schauprozesse, die eine Reihe älterer, in den Westen geflüchteter Marxisten zu Renegaten werden ließen, bewegten Brecht nicht zu einem grundsätzlichen Umdenken in dieser Hinsicht. Auch danach erschien ihm die Sowjetunion, in der die Nazifaschisten ihren Hauptgegner sahen, weiterhin als der einzige Staat, an dem der imperialistische Ausdehnungsdrang der Hitleristen eventuell scheitern könne. Und er fühlte sich darin bestätigt, als im Jahr 1938 die Vertreter Frankreichs und Englands in München jenes Abkommen unterzeichneten, mit dem sie Hitler – im Zuge ihrer Appeasement-Politik – bei der Einverleibung des tschechischen Sudentenlands einfach freie Hand ließen, da auch sie nicht im Nazireich, sondern in der UdSSR ihren ideologischen Hauptgegner sahen. Diese politische Konstellation änderte sich erst im darauffolgenden Herbst, nachdem die Nazifaschisten einen Nichtangriffspakt mit den Sowjets abgeschlossen hatten und ihre Truppen in Polen einmarschieren ließen, was den Zweiten Weltkrieg auslöste. Darauf düsterte sich auch Brechts ideologisches Weltbild merklich ein. Während er bis dahin nach wie vor an der von der UdSSR ausgehenden proleta­ rischen Einheitsfront- und dann der ebenfalls von den Sowjets inaugurierten Volksfrontpolitik festgehalten hatte, nahm sein Vertrauen auf einen vom internationalen Proletariat ausgehenden Kampf gegen den Faschismus merklich ab. Waren nicht in Ländern wie Italien, Ungarn und Spanien alle linksrevolutionären Bewegungen an diesem Ungeist gescheitert? Und hatten sich nicht selbst linke Massenorganisationen wie die KPD, die SPD und die Gewerkschaften Ende der Weimarer Republik als unfähig erwiesen, der braunen Lawine Einhalt zu gebieten? Ja, waren in Deutschland nicht die meisten Arbeiter nach 1933 treue Anhänger des neuen Regimes geworden? Und hatte nicht die Sowjetunion darauf lieber einen Nichtangriffspakt mit Hitler vereinbart, statt den imperialistischen Gelüsten der Nazifaschisten militärisch entgegenzutreten, was es diesen ermöglichte, in den Jahren 1939 bis 1941 in einer Folge von Blitzkriegen halb Europa zu unterwerfen? Daher entschloss sich Brecht 1941 vor den immer weiter vorrückenden deutschen Truppenverbänden lieber in die fern abliegenden Vereinigten Staaten als in die UdSSR zu flüchten, um so den europäischen Wirren zu entgehen. Dort angekommen begrüßte er zwar im Dezember 1941, dass sich auch die USA – nach dem Überfall auf Pearl Harbor – endlich dem Kampf gegen die Achse Berlin–Rom–Tokio anschlossen, sah sich jedoch in Los Angeles in eine kapitalistische Welt versetzt, in der er als Marxist keine politischen Wirksamkeiten entfalten konnte.6 Was ihn obendrein immer stärker bedrückte, war, dass es nicht nur im westlichen Europa, sondern auch in den Vereinigten Staaten kaum linksorientierte Solidaritätsbemühungen gab. Demzufolge trübte sich sein Weltbild zeitweilig mehr und mehr ein. Das beweist schon sein 1941 geschriebenes Drama Der aufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui, in dem es trotz seines Titels letztendlich um den unaufhaltsamen Auf127

Bertolt Brecht

stieg einer Hitlerfigur in einem imaginären Chicago-Milieu geht, dem nicht nur die sogenannten breiten Massen keinen effektiven Widerstand entgegensetzen, sondern der obendrein von den großen Kapitalherren unterstützt wird. Und auch sein 1943 geschriebenes Stück Schweyk im Zweiten Weltkrieg, in dem es zwar ebenfalls keine aufsässigen Proletarier gibt, aber wo wenigstens am Schluss eine gewisse Hoffnung auf eine Niederlage der Naziarmeen in den Schneewüsten der Sowjetunion aufschimmert, geht der Frage einer neuen, bestenfalls kommunistischen Gesellschaftsordnung noch aus dem Weg. Dennoch ließ Brecht selbst in diesem düsteren Zeitraum, wie schon in den Jahren zuvor, in seinen theoretischen Äußerungen keineswegs nach, im Hinblick auf die Zukunft auf ein »eingreifendes Denken« verzichten zu wollen. Allerdings empfahl er, solange das Bemühen um den Sozialismus noch in seinen Anfängen stecke,

Abb. 22  Bertolt Brecht in Los Angeles (um 1943) 128

Das Vorspiel (1944)

dabei so vorsichtig wie nur möglich zu taktieren. Statt sich überschwänglich für ein einseitiges Veränderungskonzept zu begeistern, riet er in den dreißiger und frühen vierziger Jahren immer wieder, jedes vorgeschlagene Programm zunächst dahin zu überprüfen, ob es auch wirklich praktikabel sei. Alles Feste, Endgültige, Doktrinäre war ihm in diesen Jahren, als der Nazifaschismus noch überall im Vormarsch war, von vornherein verhasst. Statt sich zu detailliert ausgearbeiteten Programmen oder Leitlinien zu bekennen, bevorzugte er daher lieber im Bereich des Möglichen bleibende Hinweise, Entwürfe, Versuche oder Vorschläge, um irgendwelche vagen Zukunftspläne zu vermeiden. Dafür sprechen vor allem seine zwischen 1934 und 1942 niedergeschriebenen Me-ti-Aufzeichnungen, die er auch »Das Buch der Wendungen« nannte, worin sich besonders viele Stellungnahmen gegen einen vorschnellen Umschlag kommunistischer Hoffnungen ins Utopische finden, denen man mit der Haltung des Abwartens, des Zweifels, der kritischen Distanz begegnen müsse.7 Allerdings ist es bemerkenswert, dass diese eher skeptischen Äußerungen angesichts der das Kriegsgeschehen entscheidenden Stalingrad-Katastrophe der Nazitruppen im Winter 1942/43 allmählich aufhören. Nach dem dort stattgefundenen Sieg der Roten Armee über die bis dahin geradezu unaufhaltsam vordringenden NS-Divisionen fasste Brecht wieder Mut, sich wie schon in seinem Drama Die Mutter von 1932 erneut zum Leitbild der Sowjetunion als eines Staats zu bekennen, in dem man als dem bisher einzigen Land auf der Welt die Idee des Kommunismus in die gesellschaftliche Praxis umzusetzen versuche. Dafür spricht vor allem sein 1944 konzipiertes Drama Der kaukasische Kreidekreis, das in Grusinien, das heißt Georgien, dem Heimatland Stalins, spielt, wo zwar im Hauptteil noch die Schreckensherrschaft mittelalterlicher Verhältnisse dominiert, aber in einem »Vorspiel« – nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs – bereits eine verstärkte Umwandlung in eine kommunistische Gesellschaftsordnung eingetreten ist. II.

Wenn man überhaupt von einer Oase der Utopie in Brechts Dramen sprechen will, dann ist dieses Stück das beste Beispiel dafür, und zwar auf zweierlei Weise: erstens im Hinblick auf die friedlich verlaufende Versammlung von Bauern und Parteimitgliedern des Vorspiels, in dem es um den Streit zweier Kolchosen um ein beträchtliches Stück Land geht, und zweitens im Hinblick auf die Rolle des Dichters in einer kommunistischen Gesellschaft, der durch die Aufführung seines Dramas vom Kreidekreis wesentlich zur Lösung der in der anfänglichen Versammlung noch strittig diskutierten Fragestellungen beiträgt. Beginnen wir mit einem Blick auf das Vorspiel. Wie gesagt geht es in ihm – nach dem siegreichen Ende des Zweiten Weltkriegs – um den Streit zweier Kolchosen, 129

Bertolt Brecht

dem Ziegenzuchtkolchos »Galinks« und dem Obstbaukolchos »Rosa Luxemburg«, um ein von den Nazitruppen verwüstetes Tal in den Bergen des Kaukasus. Während die Bauern des Kolchos »Galinks« dieses Tal weiterhin lediglich als Grasland für ihre Ziegen nutzen wollen, schlagen die Bauern des Kolchos »Rosa Luxemburg« vor, den brachliegenden Boden durch eine Bewässerungsanlage so fruchtbar zu machen, dass man auf ihm Obstbäume und Weinstöcke anpflanzen könne. Nachdem beide Kolchosen den parteiamtlichen Sachverständigen eine Reihe ihnen sinnvoll erscheinender Argumente vorgelegt haben, ohne dass es zu einer endgültigen Entscheidung gekommen ist, lädt man den Sänger Arkadi Tscheidse ein, mit seinem Ensemble ein Stück aufzuführen, das vielleicht zu einer der Gesamtgesellschaft dienlichen Lösung dieses Streits beitragen könne. Und der ist auch bereit, sich dieser Aufgabe zu stellen, was letztendlich dazu führt, dass der Obstbaukolchos »Rosa Luxemburg« den entscheidenden Zuschlag erhält. Das wirkt auf den ersten Blick nicht besonders utopisch. Dahinter steht jedoch Brechts Gesamtkonzept einer »Bewohnbarmachung der Erde«,8 mit dem er immer wieder auf die naturerhaltende bäuerliche Lebensweise hinzuweisen versuchte. Große Städte empfand er von Anfang an als Steinwüsten, in denen es sich nicht zu leben lohne. Sobald er es sich daher finanziell leisten konnte, zog sich Brecht ständig aufs Land zurück, erst nach Utting, dann nach Fünen, nach Marlebäck und schließlich nach Buckow, während ihm Berlin, Los Angeles und New York mit ihren Wohnsilos und Industrieanlagen geradezu unmenschlich erschienen. In ihnen sah er vornehmlich kapitalistische Auswüchse einer sinnentleerten Betriebsamkeit, die lieber untergehen sollten. Als Brecht daher 1948 Berlin als eine weitgehend zertrümmerte Stadt wiederfand, störte ihn das anfangs nicht im Geringsten. Schließlich war ihm diese verwirrend-rastlose Metropole schon vor 1933 als ein Ort der »Großen Unordnung« erschienen, der wie alle Großstädte der Welt das »Kainsmal der Zerstörung auf der Stirn« getragen habe, wie er metaphorisch übersteigernd schrieb. Daher bedauerte er keineswegs, dass man Berlin im Krieg in einen »riesigen Schutthaufen« verwandelt habe.9 Im Vergleich zu allen hoffentlich untergehenden Großstädten erschien ihm dagegen alles Bäuerliche, ob nun als vorbürgerliche oder als nachbürgerliche, ins Sozialistische übergehende Lebensweise von vornherein wesentlich erstrebenswerter. Demzufolge geht es im Vorspiel des Kaukasischen Kreidekreises im Gegensatz zu den vielen nach dem Kriegsende geschriebenen kommunistischen Aufbaudramen nicht um die Errichtung eines großstädtischen Industriebetriebs, deren »Helden der Arbeit« mit Prämien ausgezeichnet werden, sondern um die Einführung einer produktiveren Landbauweise, die sowohl naturerhaltend wirken als auch durch die blühenden Obstbäume zur Verschönerung eines bisher unansehnlichen Bergtals dienen soll. Es wäre zwar etwas verfrüht, darin schon eine Wendung zu ökologischen 130

Das Vorspiel (1944)

Gesichtspunkten zu sehen, aber ein noch halbwegs unbewusster Richtungsanzeiger schwebt dabei bereits mit. Außer den aus der Stadt kommenden Parteiabgeordneten sind daher alle in diesem Stück positiv gezeichneten Figuren Bauern. Das gilt vor allem für die Hauptfigur der Grusche. Um sie in ihrer mütterlichen Fürsorge für das ausgesetzte Kind nicht ins Sentimentale abgleiten zu lassen, schwebte dabei Brecht als Leitbild jene »tolle Gret« des niederländischen Bauernmalers Pieter Breughel vor, den er unter den vor-

Abb. 23  Pieter Breughel: Die tolle Gret (1562) 131

Bertolt Brecht

bürgerlichen Malern besonders hoch schätzte.10 Und auch der Volksrichter Azdak hat in seiner plumpen, aber durchaus zutreffenden Rechtsprechung viele Züge, die man früher einmal als »bauernschlau« bezeichnet hat. Jenseits alles »Tümlichen« empfand Brecht die darin zum Ausdruck kommende Lebensweise wesentlich zukunftsträchtiger als die Verherrlichung einer mechanisierten Industriearbeit, bei der die ursprüngliche Mitmenschlichkeit und Naturnähe zwangsläufig verloren gehe. Daher begrüßte er zwar, dass sich die DDR offiziell als »Arbeiter- und Bauernstaat« ausgab, fand es aber unangebracht, dabei weiterhin auf höchst forcierte Weise sowohl am Großstadtwesen als auch an einer ständig größere Ausmaße annehmenden industriellen Produktion festzuhalten. Um jedoch der SED auf halbem Wege entgegenzukommen, begann auch er ein Industriestück unter dem Titel Büsching ins Auge zu fassen, ließ es aber als unvollendetes Projekt liegen und arbeitete lieber intensiv mit Erwin Strittmatter an dem Bauerndrama Katzgraben, das ihm offenbar ideologisch wichtiger erschien.11 III.

Doch neben dieser fast utopisch erscheinenden Dimension, nämlich beim ­Aufbau einer kommunistischen Gesellschaft vor allem die bäuerliche Komponente zu unterstützen, statt durch eine fortschreitende Vergroßstädterung und ein mächtig angekurbeltes Fabrikwesen mit den westlichen Industriestaaten konkurrieren zu wollen, liegt dem Vorspiel und dann dem darauf folgenden Stück noch eine weitere, durchaus utopische Intention zugrunde. Ihr Repräsentant ist jener Arkadi Tscheidse, der durch die Aufführung des Kaukasischen Kreidekreises den strittigen Parteien des Vorspiels mit seiner salomonischen Maxime, »daß da gehören soll, denen, die für es gut ist«, also nicht nur die »Kinder den Mütterlichen«, sondern auch »das Tal den Bewässern, damit es Frucht bringt«,12 helfen will, eine sinnvolle Lösung ihres Streits anzustreben. Was dann, wenn auch nicht mehr ausgeführt, offenbar auch eintritt. Und damit wird der Kunst, in diesem Fall dem Drama, bei gesellschaftspolitischen Entscheidungen innerhalb kommunistischer Staaten eine Funktion zugewiesen, die höchst anspruchsvoll, wenn nicht gar utopisch wirkt. Zugegeben, im Hinblick auf die UdSSR und dann die DDR, die sich beide bemühten, ihre Staaten in Th ­ eaterund Leseländer zu verwandeln, wie überhaupt allen hochkulturellen Formen einen wichtigen Stellenwert einzuräumen, nimmt sich das auf den ersten Blick nicht verwunderlich aus. Doch die Art, wie dies im Kaukasischen Kreidekreis dargestellt wird, geht in manchen Zügen weit darüber hinaus. Arkadi Tscheidse ist nicht nur einer der üblichen Theatermacher, sondern zugleich eine Figur, die unmittelbar in gesellschaftspolitische Entscheidungen eingreift. Er will seine Zuschauer und Zuschauerinnen weder belustigen noch bekehren, sondern sieht seine Funktion 132

Das Vorspiel (1944)

darin, als poetisierender Philosoph dem Volk die Weisheit der Partei und der Partei die Weisheit des Volks zu vermitteln, das heißt, in bestimmten Entscheidungssituationen eine »relative Autonomie« zu beanspruchen. Statt sich lediglich als Ausführungsorgan der staatlichen Behörden zu verstehen, will auch er bei wichtigen Fragestellungen seine Stimme einbringen, also »Vorschläge« machen, von denen er hofft, dass sie bereitwillig angenommen werden.13 Und darin sah sicher auch Brecht seine Funktion in der späteren DDR, in der er sich mit seinem Kaukasischen Kreidekreis im Sinne der von ihm eingeforderten »relativen Autonomie« als Stückeschreiber und Theatermacher um ein Mitspracherecht in allen wichtigen Sozialisierungsmaßnahmen bemühte. Er wurde daher kein Mitglied der SED, um sich nicht von vornherein an parteiamtliche Verordnungen gebunden zu fühlen, sondern versuchte, auch weiterhin seinen ins Utopische ausgreifenden Anspruch einer Vermittlerrolle zwischen Partei und Volk wahrzunehmen. Um das in aller Öffentlichkeit zur Schau zu stellen, investierte er 1954 in die Probenarbeit und die Ausstattung seiner Inszenierung des Kaukasischen Kreidekreises wesentlich mehr Zeit und Mühe als in die Premieren seiner anderen Stücke.14 Obwohl die meisten Zuschauer die Aufführung dieses Stücks als ein Theaterereignis ersten Ranges empfanden, reagierten viele Theaterkritiker eher befremdet, wenn nicht gar ablehnend auf die Inszenierung. Dass man damals auf westlicher Seite – auf dem Höhepunkt des Kalten Kriegs – dieses Stück wegen seiner in der Sowjetunion spielenden Handlung von vornherein verwerflich finden würde, war vorherzusehen. In dem Wochenblatt Die Zeit hieß es demzufolge, der Kaukasische Kreidekreis sei lediglich »die perfekte Wiedergabe eines perfekten Stückes marxistischer Klassendramatik«, das zudem »erhebliche Längen« aufweise.15 Die Süddeutsche Zeitung lehnte es als ein »politisches Lehr- und Rührstück« ab,16 während der WestBerliner Theaterkritiker Friedrich Luft in ihm lediglich das Werk eines »ZeigefingerTheatralikers« sah, der »politisch und ästhetisch in eine Sackgasse« geraten sei.17 Doch auch in der DDR wurde diese Aufführung keineswegs einhellig begrüßt, ja zum Teil sogar einfach ignoriert. Nicht einmal im Neuen Deutschland, dem Zentralorgan der SED, erschien 1954 eine Rezension dieser Inszenierung, was Brecht zutiefst enttäuschte. In anderen Blättern gab es zwar durchaus Lob, aber daneben auch manche offene Kritik.18 Vor allem der Kulturfunktionär und Chefredakteur der Zeitschrift Theater der Zeit Fritz Erpenbeck, der als Stanislawski-Anhänger der »epischen Theaterauffassung« Brechts von Anfang an kritisch gegenübergestanden hatte, sah auch in dieser Inszenierung keinen »gangbaren Weg in die Zukunft«.19 Lediglich die Schauspielerin Angelika Hurwicz und der Dramaturg Hans Bunge wagten, dem zu widersprechen,20 konnten sich aber mit ihren Anschauungen nicht durchsetzen. Und so blieben die utopischen Ansprüche dieses Stücks, ob nun das Konzept der Verbäuerlichung oder das der Vermittlerrolle des Dichters zwischen Partei und Volk, 133

Bertolt Brecht

auf die Brecht so große Hoffnungen gesetzt hatte, weiterhin undiskutiert. Obwohl ihn die SED wegen seiner dichterischen Bedeutsamkeit in steigendem Maße als ein kulturelles Aushängeschild schätzte, ließ sie sich in diesen beiden Punkten nicht auf einen produktiven Dialog mit ihm ein, sondern trat nach wie vor für eine industrielle Planwirtschaft und eine parteistrategisch ausgerichtete Literaturpraxis ein. Daher blieben Brechts ebenfalls sozialistisch gemeinte Konzepte einer »Verländlichung« des Kommunismus sowie der »relativen Autonomie« eines dafür eintretenden Stückeschreibers weiterhin Oasen einer Utopie, die im industrieorientierten Wettrüsten des damaligen Kalten Kriegs zwischen Ost und West keine Folgen hatten.

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Heiner Müller Germania Tod in Berlin (1977)

I.

Da sich utopisches Denken stets als »Vorschein« auf eine bessere Zukunft versteht, findet es sich fast ausschließlich bei sich als progressiv verstehenden Gesellschaftstheoretikern und theoretikerinnen. Die Konservativen haben daher in dieser Hinsicht nicht viel vorzuweisen. Sie sind zumeist mit den jeweils herrschenden polit- und sozioökonomischen Verhältnissen zufrieden und unterstützen daher vornehmlich eine Status-quo-Gesinnung, die in der Zukunft lediglich eine verlängerte Gegenwart erblickt. Dementsprechend treten sie fast immer für einen ideologischen Stillstand ein, der sich – abgesehen von einigen als innovativ ausgegebenen Reformen – eher auf althergebrachte Traditionen beruft, als irgendwelche radikalen Änderungs­vorschläge ins Auge zu fassen, die ihre Machtstellung gefährden könnten. Nicht so die Linken. In ihrem Denken herrschte fast nie eine ins Vereinheitlichende drängende Gesinnung vor. Im Gegenteil. Denn wer einmal anfängt, mit ins Utopische ausgreifenden Hoffnungen über ein besseres Gesellschaftssystem nachzudenken, also das von den jeweils Herrschenden manipulierte Mehrheitsdenken in Frage zu stellen, muss sich fast immer mit den Theoriebildungen jener anderen progressiv eingestellten Theoretiker und Theoretikerinnen auseinandersetzen, die sich ebenfalls, wenn auch mit mehr oder minder radikalen Zielen, für ideologische Veränderungsbemühungen einzusetzen versuchen. Und das hat häufig, wie zu erwarten, zu erbitterten internen Differenzen geführt. Demzufolge blieben die sich untereinander bekämpfenden linksorientierten Gruppen – politisch gesehen – aufgrund ihrer theoretischen Zwistigkeiten meist wesentlich ineffektiver als die sich auf ein traditionelles Einheitsdenken stützenden Konservativen. Dafür bietet die deutsche Geschichte leider viele tragisch gescheiterte Beispiele. Ein solcher Streit begann schon im letzten Jahrzehnt des 18. Jahrhunderts zwischen den eher jakobinisch und den eher bürgerlich-liberal gesinnten Gruppen und setzte sich während der sogenannten Befreiungskriege zwischen den eher deutschtümelnd und den eher nationaldemokratisch Auftretenden fort. Noch schärfer bekämpften sich die Linken untereinander in der darauffolgenden Metternich’schen Restaurationsepoche. Man denke an den Streit zwischen Ludwig Börne und Heinrich Heine oder die Schärfe, mit der Karl Marx in der Vormärzzeit über alle Linkshegelianer und »wahren Sozialisten« herzog, denen er eine idealistische Blindheit gegenüber den materiellen Voraussetzungen der bestehenden gesellschaftlichen 135

Heiner Müller

Verhältnisse vorwarf. Nicht minder scharf verliefen dann die ideologischen Gegensätze innerhalb der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands während der wilhelminischen Ära, wofür vor allem der Streit zwischen dem Revisionisten Eduard Bernstein und der revolutionär gesinnten Rosa Luxemburg spricht. Ja, während des Ersten Weltkriegs kam es darauf sogar zu einer Spaltung dieser Partei in die Mehrheitssozialdemokraten sowie den Spartakusbund und die Unabhängigen Sozialdemokraten, was wiederum eine gemeinsame Frontstellung gegen das herrschende System verhinderte. Die Folge davon war, dass auch in der Novemberrevolution die zahlenmäßig übermächtigen Mehrheitssozialdemokraten unter Friedrich Ebert alle linksradikalen Umsturzbemühungen unterdrückten und sich in Koalition mit den bürgerlichen Liberalen für eine auf den etablierten kapitalistischen Grundbedingungen beruhende formaldemokratische Ordnung einsetzten. Und auch gegen Ende der Weimarer Republik kam es nach dem Beginn der Weltwirtschaftskrise im Jahr 1929 im Ankampf gegen die wachsende Bedrohung durch die Nazifaschisten wegen unüberbrückbarer ideologischer Gegensätze nicht zu einer kollektiven Abwehrfront der Sozialdemokraten und Kommunisten. Ja, selbst nach der Machtübergabe an die Hitlerpartei am 30. Januar 1933 verhinderten derartige Zwistigkeiten sogar irgendwelche gemeinsame Aktionen der ins Exil ausgewichenen Funktionäre dieser beiden Parteien gegen die braunen Machthaber innerhalb des Dritten Reichs. II.

So viel – wenn auch höchst verkürzt – über die wichtigsten ideologischen Auseinan­ dersetzungen zwischen den bekanntesten linken Gruppierungen seit dem späten 18. Jahrhundert. Wer erwartet hatte, dass sich diese Polarisierung nach dem Untergang des NS-Regimes ändern würde, sah sich jedoch schnell enttäuscht. Während in der unmittelbaren Nachkriegszeit die aus den Konzentrationslagern zurückkehrenden Sozialdemokraten und Kommunisten in allen vier Besatzungszonen gleichermaßen als »Heroen der ersten Stunde« galten, trat nach dem 1947/48 einsetzenden Kalten Krieg zwischen den USA und der UdSSR in dieser Hinsicht schnell eine Änderung ein. In der westlichen Trizone wurden darauf die KPD-Mitglieder zusehends aus allen wichtigen Führungspositionen mehr oder minder gewaltsam entfernt, in der SBZ schlossen sich dagegen – auf Druck der sowjetischen Militärverwaltung – die Kommunisten mit den Sozialdemokraten innerhalb der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands zu einer Nationalen Front zusammen, um so endlich die seit zwei Jahrzehnten bestehenden ideologischen Gegensätze zwischen diesen beiden Parteien zu beenden. Und diese Wandlungsprozesse führten dazu, dass die KPD im Westen zu einer unbedeutenden Splitterpartei wurde und die weiterhin halb136

Germania Tod in Berlin (1977)

wegs rebellische SPD unter Kurt Schumacher neben der konservativen CDU zur zweitstärksten Partei aufstieg, während im Osten Deutschlands die SED die innenpolitisch entscheidende Machtposition übernahm. Als es daher im Zuge des sich weiterhin verschärfenden Kalten Kriegs auf Druck der sich feindlich gegenüberstehenden zwei Supermächte zur Teilung Deutschlands in zwei autonome Staaten, nämlich die Bundesrepublik Deutschland und die Deutsche Demokratische Republik, kam, schlossen diese sich unverzüglich den ideologischen Direktiven der USA beziehungsweise der UdSSR an. Auf der einen Seite herrschte eine CDU/FDP-Koalition unter Konrad Adenauer und Ludwig Erhard, die all ihren Bürgern und Bürgerinnen im Rahmen eines freiheitlich-kapitalistischen Wirtschaftssystems das gleiche Recht auf einen persönlichen Durchsetzungs- und Bereicherungsdrang versprach; auf der anderen Seite entstand ein sich zu sozialistischen Idealen bekennender Arbeiter- und Bauernstaat, der daran ging, alle bisherigen Besitztümer in volkseigene Betriebe und Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaften umzuwandeln. Das hatte zwangsläufig gravierende Folgen. Während in der BRD die altgewohnte kapitalistische Grundordnung – unterstützt durch amerikanische MarshallplanKredite – relativ schnell zu einer von der Mehrheit der Bevölkerung begrüßten Wohlstandssteigerung führte, die der CDU-Regierung im Jahr 1957 die absolute Mehrheit im Bundestag verschaffte, lösten die Sozialisierungsbestrebungen in der DDR, die weitgehend als Zwangsmaßnahmen der bereits von den Nazifaschisten verteufelten Russen als »fremdländisch« empfunden wurden, in breiten Schichten der dortigen Bevölkerung eine Unmutsstimmung aus, die im Laufe der Jahre eher zu- als abnahm. Und das bewog viele DDR-Bürger und Bürgerinnen, sich lieber in das Wirtschaftswunderland BRD zu begeben, als weiterhin in einem Staat zu leben, in dem durch Rohstoffmangel und Reparationsbeiträge an die durch den Krieg geschwächte UdSSR keine Wohlstandssteigerung abzusehen war. Sie hatten es satt, sich nach wie vor mit den vielzitierten »objektiven Schwierigkeiten« abzufinden, denen die dortige Regierung zwar mit Normerhöhungen und Prämienzahlungen für produktionssteigernde Leistungen entgegenzutreten versuchte, die aber den zunehmenden Widerwillen gegen die staatlich verordneten Sozialisierungs­ maßnahmen eher verstärkten als abschwächten. Sich daher in den fünfziger Jahren in der DDR öffentlich zu diesem Staat zu bekennen oder mit einer positiv gemeinten Kritik auf die besagten objektiven Schwierigkeiten hinzuweisen und Wege zu ihrer Abschaffung zu empfehlen, setzte also durchaus Mut voraus, zu dem sich nicht viele entschließen konnten. Greifen wir dafür als ein Beispiel den »Fall Heiner Müller« heraus, dessen Werke sowohl literarisch als auch ideologisch zu den spektakulärsten Fällen dieser Art gehören, die in ihrer kritisch gemeinten Widersetzlichkeit gegen irgendwelche vorschnellen 137

Heiner Müller

Beschwichtigungen der prekären Situation der DDR dennoch bis zum Ende dieses Staats, ja sogar noch darüber hinaus an ihrer utopischen Hoffnung auf eine dennoch mögliche Durchsetzung sozialistischer Bestrebungen festzuhalten versuchten. III.

Geboren wurde Heiner Müller am 9. Januar 1929 im sächsischen Eppendorf als Sohn einer Arbeiterin und eines kleinen Angestellten, der im Dritten Reich als linker Sozialdemokrat zweimal verhaftet worden war.1 Nach Kriegsende trat sein Vater 1946 der SED bei und wurde als Verfolgter des NS-Regimes Bürgermeister in Frankenberg in Sachsen, verließ jedoch – im Zuge der damals einsetzenden »Republikflucht« – 1951 die DDR und begab sich mit seiner Frau und seinem Sohn Wolfgang nach Westdeutschland, während sich sein Sohn Heiner, der bereits ein Jahr zuvor als Einundzwanzigjähriger begonnen hatte, mit sozialistischer Gesinnung Literaturkritiken für in Ost-Berlin erscheinende Publikationen wie den Sonntag, die kulturpolitische Monatsschrift Aufbau und dann die Neue deutsche Literatur zu schreiben, im Gegensatz zu seinem Vater entschied, »Kulturarbeiter im Dienste der SED« zu werden.2 Demzufolge wurde er 1954 Mitglied des ostdeutschen Schriftstellerverbands und ab 1957 sogar wissenschaftlicher Mitarbeiter der Abteilung »Drama« dieser Organisation. Und dies war zugleich das Jahr, in dem es ihm – anlässlich der Feiern zum 40. Jubiläum der Russischen Oktoberrevolution – gelang, an der Ost-Berliner Volksbühne mit Hagen Stahl sein Stück Zehn Tage, die die Welt erschütterten zu inszenieren, das sich zu einem bedingungslosen Revolutionskonzept bekennt, welches selbst vor strengen Zensurmaßnahmen nicht zurückschreckt.3 Abgedruckt wurde dieses Stück, das lange Zeit von der Müller-Forschung kaum beachtet wurde, in dem Blatt Junge Kunst, einer Zeitschrift der ostdeutschen »Freien Deutschen Jugend«,4 und erhielt sogar einen Anerkennungspreis des SED-Kulturministeriums. Aufgrund dieses Erfolgs wurden ein Jahr später zwei weitere, relativ kurze Dramen Müllers, nämlich Der Lohndrücker und Die Korrektur, im Ost-Berliner MaximGorki-Theater aufgeführt.5 In beiden versuchte er sich als engagierter Jungsozialist mit jenen vielbeschworenen »objektiven Schwierigkeiten« auseinanderzusetzen, die sich bei der Umstellung von kapitalistischen zu sozialistischen Arbeitsbedingungen in der industriellen Produktion ergeben hatten, bei denen sich die SED genötigt sah, auch ältere, sich schon unterm Nazifaschismus ausgezeichnete Facharbeiter oder Ingenieure in ihren Dienst zu stellen. Für den Lohndrücker erhielt er sogar den Heinrich-Mann-Preis der Ost-Berliner Akademie der Künste, während sein Stück Die Korrektur wegen der in ihm in aller Offenheit herausgestellten ideologischen Widersprüche, die sich bei solchen Wandlungsprozessen kaum vermeiden lassen, erst nach einigen Umarbeitungen aufgeführt werden konnte. 138

Germania Tod in Berlin (1977)

Wesentlich schärfer verliefen dagegen die parteiinternen Debatten, als Müller 1961 sein Stück Die Umsiedlerin oder Das Leben auf dem Lande an der Studentenbühne der Hochschule für Ökonomie in Karlshorst inszenieren ließ. In ihm setzte er sich ebenfalls im Rahmen einer konstruktiven Kritik mit jenen sozialistischen Veränderungsprozessen auseinander, die sich bei den bäuerlichen Produktionsverhältnissen in der DDR ergeben hatten. Es wurde nach seiner Uraufführung abgesetzt und Müller trotz des Einspruchs von Anna Seghers und Peter Hacks aus dem ostdeutschen Schriftstellerverband ausgeschlossen.6 Da sich Müller entschied, dennoch in der DDR zu bleiben, war er in den folgenden Jahren fast ausschließlich auf kleinere Arbeiten für den Rundfunk, das Fernsehen, die Filmgesellschaft DEFA sowie auf Übersetzungen oder Opernlibretti für die Ost-Berliner Staatsoper angewiesen, die keinen direkten Bezug zu jenen Problemen besaßen, mit denen er sich in seinen frühen Produktionsstücken auseinandergesetzt hatte.7 Lediglich in seinem Stück Der Bau griff er noch einmal voller Hoffnung, dass es ihm gelingen würde, die SED von seiner sozialistischen Haltung zu überzeugen, auf den damals beliebten Typ der Aufbaudramen zurück. In Anlehnung an den Roman Spur der Steine (1964) von Erik Neutsch, für den sein Autor sogar den Nationalpreis der DDR erhielt, geht es in diesem Drama abermals in einer höchst komplexen Handlung um den sozialistischen Aufbauwillen auf der Großbaustelle eines Chemiekombinats, den einer der Protagonisten in der utopisch klingenden Parole »Ich bin die Fähre zwischen Eiszeit und Kommune« zusammenfasst. Und Wilhelm Girnus wagte sogar 1965, dieses Stück umgehend in Sinn und Form, der angesehensten Kulturzeitschrift der DDR, abzudrucken,8 stieß aber damit sofort auf parteiinterne Kritik, so dass dieses Stück, welches eventuell zu einer Rehabilitierung Müllers geführt hätte, nicht aufgeführt werden konnte. Eine Änderung dieser für Müller frustrierenden Situation setzte erst ein, als es 1971 in der DDR zu einem Regierungswechsel von Walter Ulbricht zu Erich Honecker kam, nach dem sich Letzterer schon kurz nach seinem Machtantritt für eine Lockerung der bisher allzu autoritär gehandhabten kulturpolitischen Kontrollen aussprach. Gestärkt durch den mit Willy Brandt abgeschlossenen Zweistaatenpakt und die anschließende internationale Anerkennung der DDR als vollgültiger Staat, vertrat Honecker darauf die These, dass nun die hart durchgeführte Aufbauphase der DDR zu Ende sei und in diesem Staat bereits ein »realexistierender Sozialismus« herrsche, weshalb es nicht mehr nötig sei, jedes progressiv gemeinte Kunstwerk dahingehend zu überprüfen, inwieweit es mit den jeweils erlassenen kulturpolitischen Leitlinien des Zentralkomitees der SED übereinstimme. Diese neue Lage bewegte Müller, der in den späten sechziger Jahren, um weitere Zusammenstöße mit der Parteileitung zu vermeiden, mit seinen Dramen Ödipus Tyrann, Philoktet und Macbeth ins Weltliterarische ausgewichen war, dazu, endlich 139

Heiner Müller

wieder an seit langem ins Auge gefassten Stücken weiterzuarbeiten, in denen es um gescheiterte oder halbwegs gelungene sozialistische Umwälzungsprogramme in der französischen, russischen und deutschen Geschichte gegangen war. Nach wie vor auf den hohen Stellenwert vertrauend, den man in der DDR allen »höheren Kulturleistungen« entgegenbrachte, wollte er sich damit dem Trend entgegenstellen, sich mit dem angeblich erreichten Zustand des »realexistierenden Sozialismus« zufriedenzugeben. Vor allem wegen der dunklen Last der deutschen Geschichte, die selbst in der DDR noch nicht völlig aufgehoben sei, schien es ihm erforderlich, sein Publikum so krass wie möglich aufzurütteln und dazu zu bewegen, die vorgegebenen Verhältnisse in ihrem eigenen Staat nicht gedankenlos als »sozialistisch« hinzunehmen, sondern sich weiterhin als Vertreter jener »Fähre zwischen Eiszeit und Kommune« zu verstehen, die er bereits in seinem Stück Der Bau beschworen hatte. Schließlich sei auch die DDR noch immer ein Teil jener Vorgeschichte des Kommunismus, dessen utopisch angestrebtes Ziel noch längst nicht erreicht worden sei.9 Im Hinblick auf den schwierigen, ja mit vielen Opfern erkauften Entwicklungsprozess innerhalb der russischen Geschichte sprechen dafür vor allem seine Stücke Zement (1973) und Mauser (1975), in denen es um die gewaltsamen Durchsetzungsbemühungen der Oktoberrevolution geht. Während das positiv ausklingende Stück Zement mit großem Erfolg von Ruth Berghaus im Theater des Berliner Ensem­ bles uraufgeführt werden konnte und von den anwesenden Parteifunktionären mit anhaltendem Beifall gefeiert wurde, konnte Müller dagegen sein wesentlich härteres Stück Mauser lediglich mit Hilfe Betty Nance Webers und Jack Zipes in Austin, Texas sowie Milwaukee und Madison, Wisconsin aufführen lassen.10 Im Hinblick auf die französische Geschichte spricht für Müllers Bemühen, auf die bisher fehlgegangenen, aber in ihrer Fernwirkung nach wie vor anfeuernden Versuche dieser Art, sein Stück Der Auftrag, das er mit Hilfe seiner damaligen Frau Ginka Tscholakowa 1980 an der Ost-Berliner Volksbühne inszenierte. In einem anschließenden Foyergespräch, bei dem ihn die anwesenden SED-Funktionäre, die lieber ein positiv gestimmtes DDR-Drama von ihm gesehen hätten, vorwarfen, wiederum in die Geschichte ausgewichen zu sein, erwiderte ihnen Müller, dass er dazu durchaus bereit sei, falls sich die SED – trotz aller »objektiven Schwierigkeiten« – wesentlich stärker als bisher für eine effektive Durchsetzung sozialistischer Maßnahmen einsetzen würde. Wenn nicht, erklärte er, zwinge man ihn ja geradezu, »Weltliteratur zu schreiben«.11 Doch nun zu jenen Stücken der siebziger Jahre, in denen sich Müller mit jenen Perioden der deutschen Geschichte auseinandersetzte, die ihm wegen ihrer Unterdrückung progressiver Tendenzen als die verhängnisvollsten erschienen. Da wäre erst einmal seine makabre Farce Leben Gundlings Friedrich von Preußen Lessings Schlaf Traum Schrei, die 1977 in Ost-Berlin im Druck erschien. In ihr wandte er sich in aller 140

Germania Tod in Berlin (1977)

Entschiedenheit gegen die damals in der DDR einsetzenden Bemühungen, die bisher lediglich als »schwarz« verteufelte preußische Geschichte unter lokalpatriotischer Perspektive in den zwar problematischen, aber dennoch mit einigen aufklärerischen Zügen durchsetzten Gesamtverlauf der deutschen Geschichte einzubeziehen,12 was dazu geführt hatte, sogar das berühmte Reiterdenkmal Friedrichs II. wieder Unter den Linden aufzustellen. Dagegen verzichtete Müller in den fünf Szenen seines Dramas Die Schlacht aus dem gleichen Zeitraum auf alle farcehaften Züge und stellte das NS-Regime ausschließlich als ein einziges Schlachthaus dar, in dem jeder den anderen nur umgebracht oder gar kannibalisch aufgefressen habe. Als ich ihm in Gesprächen vorwarf, dass es bei einer solchen Sicht des Dritten Reichs ohne die Erwähnung irgendwelcher Widerständler oder im Exil lebender Antifaschisten nie zur Gründung der DDR gekommen wäre, erwiderte er verbittert, dass auch der »realexistierende Sozialismus« der in diesem Staat herrschenden Verhältnisse lediglich eine Episode in der Vorgeschichte jener Utopie eines noch längst nicht erreichten Kommunismus sei, dessen Verwirklichung immer noch ausstehe.13 IV.

So viel – höchst kursorisch – zu der parteipolitischen Bedeutsamkeit jener Stücke Müllers aus den siebziger Jahren, in denen er sich mit einigen, wenn auch zentralen revolutionären Ansätzen sowie grausamen Rückschlägen innerhalb der französischen, russischen und deutschen Geschichte auseinanderzusetzen versuchte. Allerdings gibt es da im Hinblick auf den weitgehend verhängnisvollen, lediglich mit einigen Lichtblicken auf eine utopisch anvisierte, das heißt ins Sozialistische umschlagende Zukunft versehenen Gang der deutschen Geschichte noch ein weiteres bedeutsames Drama, nämlich Germania Tod in Berlin, das 1978 in München uraufgeführt und in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung erwartungsgemäß als eine »SED-Legende fürs DDR-Lesebuch« abgekanzelt wurde.14 Im Gegensatz zu den Stücken Leben Gundlings Friedrich von Preußen Lessings Schlaf Traum Schrei und Die Schlacht geht es in ihm nicht nur um eine bestimmte Periode, sondern um den Gesamtverlauf der deutschen Geschichte, der sich bis in Müllers eigene Gegenwart hinzieht und damit seine These von der noch längst nicht abgeschlossenen Vorgeschichte des Kommunismus erhärten sollte. Und zwar geschieht das in einer Folge wild durcheinander wirbelnder Szenen, denen jedoch stets die gleiche Tendenz zugrunde liegt, die letztlich auf jene Szene gegen Schluss des Ganzen hinausläuft, in der offenbleibt, ob der Sozialismus in der DDR schon Ansätze einer kommunistischen Gesellschaftsordnung aufweist oder nur ein vorübergehendes Truggebilde ist. 141

Heiner Müller

Abb. 24  Lea Grundig: Aktivist Koksmeister Schädlich vom Karl-Marx-Werk Zwickau (1951)

Die erste Szene dieses Stücks spielt in Berlin während der Novemberrevolution. In ihr hört man, wie einige anonym bleibende Stimmen zum Generalstreik, wenn nicht gar zum gewaltsamen Umsturz des bestehenden Systems aufrufen. Einer hungern142

Germania Tod in Berlin (1977)

den Frau, die hofft, dass es jetzt endlich wieder Brot geben wird, erklärt jedoch ein aus dem Krieg zurückkehrender Soldat, dass es dazu nur kommen werde, falls man die »Fabriken« in Staatsbesitz überführen würde. Aber solche Forderungen verhallen im Leeren. Darauf hört man Gewehrschüsse und eine ebenfalls anonym bleibende Stimme ruft triumphierend: »Ruhe und Ordnung. Wieder neu hergestellt«, was auf den gescheiterten Spartakus-Aufstand verweist.15 In einer anderen Szene, die in einem »Kessel« an der Ostfront während des Zweiten Weltkriegs spielt, fressen sich die dort eingeschlossenen deutschen Soldaten, wie in einer ähnlichen Szene in dem Stück Die Schlacht, in hoffnungsloser Situation gegenseitig auf. Das Gleiche tun da­ rauf die von den Nazifaschisten hochverehrten Nibelungen Gunther, Gernot, Volker und Hagen, die auch gegen die Hunnen, sprich: Russen, erst ins Feld ziehen und sich dann in sinnlosen Wutanfällen ebenfalls wechselseitig zerhacken und auffressen. Nicht minder grotesk, ja geradezu makaber wirkt jene Szene, die gegen Ende des Zweiten Weltkriegs im Berliner Führerbunker spielt, wo es um den ständig benzintrinkenden Adolf Hitler und den hochschwangeren, schon die ersten Wehen verspürenden Joseph Goebbels geht, von dessen Sprössling sie sich eine Wiedergeburt ihrer bereits von der »Vorsehung« abgesegneten Hoffnungen versprechen. Doch die Hebamme »Germania« sowie die plötzlich auftretenden drei »Heiligen aus dem Abendland«, obwohl auch sie wie die Nazifaschisten im Kommunismus »eine schreckliche Bedrohung« sehen, erweisen sich keineswegs als Retter in letzter Stunde, worauf Hitler in einem Wutanfall die schreiende Germania foltert, von einer Ehrenkompagnie vor eine Kanone binden lässt und dann den Befehl zu ihrer Ermordung gibt (357). So viel zu der bereits von Friedrich Engels, Bertolt Brecht und vielen a­ nderen Linken beklagten Vorgeschichte der »deutschen Misere«. In allen anderen Szenen geht es um die DDR. Die erste spielt in Berlin im Jahr 1949, in der ein Lautsprecher gleich zu Anfang verkündet: »Es lebe die Deutsche Demokratische Repu­blik der erste Arbeiter- und Bauernstaat auf deutschem Boden«, was bei den herumstehenden Männern die unterschiedlichsten Reaktionen auslöst (328). Als einer höhnisch erklärt, dass sei ja ein »Russenstaat«, wird er von einem anderen kurzerhand niedergeschlagen. Darauf kommt es zu einem erhitzten Rededuell zwischen den teils progressiv, teils reaktionär Gesinnten der daran Teilnehmenden, wobei die Letzteren, die dem neuen Staat keine Chance geben, schließlich die rote Fahne herunterreißen, die Einführung sozialistischer Maßnahmen als eine aus dem Osten nach Deutschland übergreifende »Versteppung« bezeichnen und sich selbst eine der Huren entscheidet, lieber auf dem »Kudamm« nach zahlungskräftigeren Freiern Ausschau zu halten (331). In einer der nächsten Szenen, die in einem brandenburgischen Schloss spielt und in der im Hintergrund der Gesang »Als Das Kraftwerk Wurde Volkes 143

Heiner Müller

Eigen« ertönt (338), geht es um die verdiente Auszeichnung eines Maurers von der Stalinallee. In ihr schüttelt zwar der geehrte »Held der Arbeit« den plötzlich auftauchenden Friedrich II. von sich ab, fühlt sich aber in der feudalen Umgebung fehl am Platz. In einer weiteren Szene, die provokativ »Hommage à Stalin« überschrieben ist, kommt es in einer DDR-Kneipe wiederum zu einem erhitzten Streitgespräch zwischen postfaschistischen Kleinbürgern auf der einen sowie einem mit der neuen Ideologie übereinstimmenden Aktivisten und einem jungen Maurer auf der anderen Seite, die sich für die neuen Aufbauprojekte einsetzen. Noch schärfer verlaufen diese Auseinandersetzungen in der Szene »Das Arbeiterdenkmal«, in der die Ereignisse des 17. Juni 1953 im Mittelpunkt stehen. Wegen der von der SED verfügten Normerhöhungen entschließt sich hier die Mehrheit der staatsfeindlich eingestellten Maurer, die nicht wie »russische Kulis« behandelt werden wollen, zum Streik. Als ihnen der alte Maurer Hilse entgegentritt und sie zur Weiterarbeit auffordert, nennen sie ihn einen »roten Opa« und bewerfen ihn mit Hilfe jugendlicher Rocker, die offenbar aus dem Westen kamen, so lange mit Steinen, bis er blutüberströmt zusammenbricht (363). Fast derselbe Vorgang wiederholt sich in der nächsten Szene, die ebenfalls während des sogenannten Volksaufstands am 17. Juni 1953, aber in einem DDR-Gefängnis spielt. In ihr hört ein zwar eingesperrter, aber weiterhin auf den Sieg des Sozialismus vertrauender Kommunist, wie man draußen »Freiheit Deutsch Totschlagen Aufhängen« brüllt (369), glaubt aber darin lediglich das Gelalle von Betrunkenen zu vernehmen. Die drei ehemaligen Nazifaschisten, mit denen er die Zelle teilt, begrüßen dagegen diese Schreie als Wutausbrüche eines gerechtfertigten Aufstands gegen die verdammten Russen und stürzen sich, als sie plötzlich die Geräusche heranrollender Panzer hören, hasserfüllt auf den vorübergehend aufatmenden Kommunisten. Doch dann kommt die letzte Szene, von der man sich eine Lösung all dieser brutalen Auseinandersetzungen erhofft. Und die tritt auch ein, allerdings auf eine Weise, deren mögliche Realisierung in einer utopisch anvisierten Zukunft vorerst offenbleibt. In ihr geht es nämlich in diesem Stück zum ersten Mal nicht um unerbittliche, ins Gewaltsame übergehende Konfrontationen, sondern um ein weitgehend ideologisch übereinstimmendes Gespräch zwischen dem in einem Krankenhaus liegenden alten Hilse und einem ihn besuchenden jungen Maurer, der ihm seine Braut, eine frühere Hure, vorstellt. In diesem Mädchen glaubt der alte Hilse, der von Müller als bewusste Gegenfigur zu dem reaktionären Hilse in Gerhart Hauptmanns Die Weber konzipiert ist, kurz vor seinem Tod eine Refiguration jener »roten Rosa« zu erblicken, die ihm schon 1919 als wichtigste Symbolfigur sozialistischer Zukunftserwartungen erschienen war. Ja, das beflügelt ihn sogar, darauf zu hoffen, dass eines Tages auch über »Rhein und Ruhr rote Fahnen« wehen werden (377). Und mit diesem Ausblick – mitten in den siebziger Jahren, als die Führungsschicht der SED 144

Germania Tod in Berlin (1977)

weiterhin mit vielen objektiven Schwierigkeiten sowie widersetzlichen Stimmen à la Rudolf Bahro und Wolf Biermann zu kämpfen hatte – schließt das Ganze, was sich sowohl als utopischer Vorschein als auch als trügerische Illusion interpretieren lässt. V.

Da sich die SED in der Folgezeit entschloss, trotz alledem an ihrem wohlgemeinten, aber ineffektiven Konzept des bereits erreichten »realexistierenden Sozialismus« festzuhalten, sah Müller in den achtziger Jahren kaum noch Chancen, sich in seinen weiteren Werken für ins Kommunistische zielende Tendenzen einzusetzen, und beschränkte sich lieber auf bewusst »verstörende Elemente«. Allerdings ließ er sich dabei in Texten wie Verkommenes Ufer, Bildbeschreibung, Quartett und Hamlet­maschine trotz aller »surrealen Bilderfindungen« keineswegs zu jener unpolitischen Entdramatisierung verführen,16 wie sie damals im Zuge der sogenannten Postmoderne auf den Bühnen des Westens grassierte. Stattdessen fuhr er fort, so gut er konnte, das Erbe der ihm vorangegangenen politischen Avantgarden einerseits zu problematisieren und sich andererseits zu bemühen, es für die Zukunft aufzuheben.17

Abb. 25  Hubert Link: Heiner Müller am 4. November 1989 auf dem Alexanderplatz 145

Heiner Müller

Selbst als in den Jahren 1988/89 die ökonomische und innenpolitische Situation in der DDR immer hoffnungsloser wurde, ließ Müller nicht nach, sich weiterhin zu seinen früheren Anschauungen zu bekennen. Dafür spricht, dass er 1988 am Deutschen Theater in Ost-Berlin sein Brigadenstück Der Lohndrücker erneut auf die Bühne brachte und am 4. November 1989, als es auf dem Alexanderplatz zu einer Massenversammlung kam, sich für eine Stärkung der Gewerkschaften einsetzte. Ja, nach der sogenannten Wende sorgte er bei seiner Inszenierung des Shakespeare’schen Hamlet dafür, dass am Schluss nicht der junge Fortinbras, sondern die Deutsche Bank in die dänische DDR einmarschierte, um allen Zuschauern und Zuschauerinnen klar zu machen, dass sie von nun an unter der Herrschaft des westlichen Finanzkapitals leben würden. Doch zu einer solchen Warnung war es zu diesem Zeitpunkt bereits zu spät. Weiterhin auf einen »wahrhaften Sozialismus« zu warten, darin sahen die meisten DDR-Bürger und Bürgerinnen nur noch eine trügerische Fata Morgana, ja nicht einmal mehr den oft beschworenen Silberstreif am Horizont. Welche Auswirkung das auf Müllers Produktivität hatte, ist bekannt. Erdrückt von der »Unweisheit des Volkes« hörte er erst einmal auf, weiter zu schreiben. »Aus der bloßen Negation, aus der Polemik entsteht keine Kunst«, erklärte er dementsprechend 1992 in seiner Selbstbiographie Krieg ohne Schlacht. Leben in zwei Diktaturen.18 Da jedoch das Interesse an ihm als bedeutsamem Stückeschreiber keineswegs nachließ, wurde er in den folgenden Jahren so oft interviewt, dass seine Gespräche aus den frühen neunziger Jahren fast den gleichen Umfang haben wie sein gesamtes dramatisches Œuvre. Gut, er konzipierte noch sein Drama Germania 3. Gespenster am Toten Mann, aber das blieb ein geniales Fragment. Mehr konnte er sich nicht abringen. Schließlich war das Hauptthema seines Lebens – in dieser oder jener Form – die DDR gewesen, die plötzlich allerorten nur noch als ein »stasiverseuchter Unstaat« hingestellt wurde. Doch das beirrte ihn wenig. Im Gegensatz zu vielen anderen Künstlern oder Intellektuellen der ehemaligen DDR gab sich Müller nicht als Wendehals, um sich bei den Siegern des Kalten Kriegs anzubiedern. Trotz des ideologischen Gegenwinds blieb seine Kritik am kapitalistischen Westen so scharf wie zuvor. Wogegen er vor allem polemisierte, war die unaufhaltsame Amerikanisierung, das heißt die überbordende Konsumbetriebsamkeit, das ständig trivialer werdende Medienwesen und der sich daraus ergebende Gedächtnisschwund, durch die jede utopische Hoffnung auf einen anderen Weltzustand »totgewalzt« werde, wie er sich ausdrückte.19 Um diesem Trend zur »Auslöschung« jedweder historischen Erinnerung überhaupt noch wirksam entgegentreten zu können, sah Müller die Hauptaufgabe der Kunst jetzt vor allem darin, gewisse »Inseln zu bilden«, auf denen es noch möglich sei, »Gedächtnis aufzubewahren«.20 In welcher Form das geschehe, war ihm relativ einerlei. Wichtig sei lediglich, gegen die amerikanische, sprich kapitalistische 146

Germania Tod in Berlin (1977)

»Geschichtslosigkeit« anzukämpfen.21 »Vergessen ist konterrevolutionär«, erklärte er jetzt wiederholt, um sich von jenen Posthistoire-Stimmungen abzusetzen, denen es vor allem darum gehe, die Erinnerung an den Sozialismus auszulöschen. Solchen Bestrebungen trat er immer wieder mit dem Motto entgegen, dass Zukunft allein aus dem Dialog mit den Toten entstehe. Ja, manchmal wurde er dabei sogar noch deutlicher. So wies er in seinen letzten Reden und Gesprächen mehrfach auf jene Utopie hin, die mit dem Zusammenbruch der DDR, in der »die Diktatur einer Minderheit im Interesse der Mehrheit« geherrscht habe,22 keineswegs sangund klanglos untergegangen, sondern im Hegel’schen Sinne »aufgehoben« sei und weiterhin auf Geschichte warte. Und daraus möge man im Hinblick auf die Zukunft die nötigen Folgerungen ziehen. Dementsprechend heißt es schon in seinem 1989 geschriebenen Gedicht Fernsehen, dass die DDR zwar das »vorläufige Grab der Utopie« sei, dass jedoch diese gescheiterte Utopie eines Tages wieder aufleuchten werde, »wenn das Phantom der Marktwirtschaft, die das Gespenst des Kommunismus zu vertreiben sucht, den neuen Kunden die kalte Schulter zeigt«.23 Ja, noch 1993 schrieb er mit ähnlicher Zielsetzung: »Ich bin mir nicht mehr sicher, dass der Kommunismus das Schicksal der Menschheit ist, aber er bleibt ein Menschheitstraum, an dessen Erfüllung eine Generation nach der anderen arbeiten wird bis zum Untergang unserer Welt.«24

147

Robert Havemann Morgen. Die Industriegesellschaft am Scheideweg. Kritik und reale Utopie (1980)

I.

Der durch den Club of Rome angeregte Bericht über die Grenzen des Wachstums (1972) von Dennis L. Meadows löste in vielen hochindustrialisierten Ländern, darun­ ter der ehemaligen Bundesrepublik, einen Schock aus, durch den im Hinblick auf die sogenannten Umweltprobleme ein völlig neuer Diskussionsrahmen entstand. Zugegeben, schon seit der Mitte der fünfziger Jahre hatte sich auch in diesem Land eine Reihe ökologisch besorgter Autoren wie Konrad Buchwald, Hans Dollinger, Alois Guggenberger, Peter Härlin, Georg Picht und Wilhelm Röpke für einen verstärkten Naturschutz eingesetzt, aber ihre Publikationen waren im Fortschrittsrummel der von Ludwig Erhard initiierten Wirtschaftswundermentalität weitgehend unbeachtet geblieben. Erst jetzt sorgten selbst die Massenmedien plötzlich dafür, dass Probleme wie Klimawandel, Überindustrialisierung und Bevölkerungsexplosion, denen man bisher aus dem Wege gegangen war, zu Allerweltsschlagworten wurden. Und auch Termini wie Biotop, Ökologie, Bodenerosion, Smog, Ozonloch und natürliche Ressourcen machten schnell die Runde. Wenn auch manches dabei anfangs rein aus Sensationslust aufgegriffen wurde, ließ sich seit den frühen siebziger Jahren die nackte Wahrheit über die ökologische Bedrohung der menschlichen Umwelt nicht wieder völlig verdrängen.1 Nach diesem Zeitpunkt war es deshalb in der BRD kaum noch möglich, solche Fragen einfach zu ignorieren. Von nun an mussten alle ideologischen Gruppierungen, ob nun abwiegelnd oder engagiert, darauf reagieren. So behaupteten die Liberalen anfangs, alles wäre nur halb so schlimm, da die Wälder immer noch grün seien und sich manche Schäden sicher leicht beseitigen ließen, um so einen wirtschaftlichen Wachstumsstopp zu vermeiden, der den herrschenden Wohlstand und die sich ­daraus ergebende pluralistische Freizügigkeit gefährden könne. Statt im unersättlichen Profitstreben des kapitalistischen Systems die Ursache der bestehenden Gefahren zu sehen, vertrauten sie darauf, dass sich die nicht mehr zu übersehenden Schäden durch eine Reihe wohlgemeinter Reformen beseitigen ließen. Doch selbst im liberal gestimmten Lager gab es schon damals Theoretiker, die sich in dieser Hinsicht durchaus kritisch äußerten. Dafür sprechen Bücher wie Die menschenwürdige Gesellschaft (1974) von Theodor Beltle, Wege in der Gefahr (1976) von Carl Friedrich von Weizsäcker sowie Das Prinzip Verantwortung. Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation (1979) von Hans Jonas, welche an Stelle der herrschenden Konsum- und 148

Morgen. Die Industriegesellschaft am Scheideweg (1980)

Profitgier eine Gesinnung propagierten, die sich vornehmlich an Wertvorstellungen wie Rücksichtnahme und Selbstgenügsamkeit orientieren würde. Ja, Carl Amery und Herbert Gruhl gingen in dieser Hinsicht sogar noch etwas weiter und setzten sich neben einer Bewusstseinsänderung auch für eine schrittweise Umstrukturierung der industriellen Voraussetzungen ein. Wesentlich oppositioneller gebärdeten sich dagegen in den gleichen Jahren jene Gruppen, die in der BRD für den Abbau der Atomkraftwerke, die Anlage von Landkommunen, die Verhinderung des Waldsterbens sowie gegen den Bau neuer Flugplätze eintraten und dabei selbst vor Massenprotesten nicht zurückschreckten. Und das führte schließlich zur Bildung jener solidarisch auftretenden Gruppen, die sich anfänglich als die »Alternativen« verstanden, sich dann mit Anhängern der Friedensbewegung und Vertreterinnen feministischer Verbände bei lokalen Wahlen als »Bunte Listen« zusammenschlossen, was im Verlauf dieser »Graswurzelrevolution«, wie man sie damals nannte, letztendlich zur Gründung jener politischen Partei beitrug, die sich als »Die Grünen« ausgab und der es nach 1980 sogar gelang, in die Landtage und dann in den Bundestag einzuziehen.2 II.

Doch nun zu der Frage, die in diesem Kapitel im Vordergrund stehen soll: Zu welchen Folgen führte dieser Bewusstseinswandel eigentlich in der DDR, die im Zuge der konstruktiven Ostpolitik Willy Brandts seit 1972 im Westen endlich als vollgültiger Staat anerkannt worden war? Auch hier bekannten sich nach der Veröffentlichung der Grenzen des Wachstums im Laufe der siebziger Jahre einige Autoren immer entschiedener zu einem naturkonservierenden Verhalten, statt weiterhin unbekümmert draufloszuwirtschaften, ohne dabei die verheerenden Folgen einer zunehmenden Industrialisierung zu bedenken. Doch derartige Parolen wurden von der Honecker-Regierung, die weiterhin bestrebt war, das westliche Wohlstandsniveau nicht nur einzuholen, sondern vielleicht sogar zu übertreffen, anfangs strikt abgelehnt, was die sich dagegen auflehnenden Autoren zwang, ihre Bücher vorerst in der BRD zu publizieren. Die erste Veröffentlichung dieser Art war das Buch Kommunismus ohne Wachstum? Babeuf und der Club of Rome von Wolfgang Harich, das 1975 im Hamburger Rowohlt Verlag erschien.3 In ihm entwarf der in den Westen übergesiedelte Harich als eigenwilliger Marxist die Utopie eines kommunistischen Weltstaats, der sich auf eine konsequent durchgeführte Gerechtigkeitsdiktatur stützt, die alle übriggebliebenen Rohstoffe sorgfältig katalogisiert, Fabriken nur an Standorten duldet, die keine allzu weiten Transportwege erfordern, und zum Schutz der Natur selbst vor der Umsiedlung großer Menschenmassen nicht zurückschreckt. Nur ein Staat, 149

Robert Havemann

der sich an den Ideen von Jean-Jacques Rousseau, Maximilien Robespierre, François-Émile Babeuf und Karl Marx orientiere, lesen wir hier, werde fähig sein, die drohende Bevölkerungslawine aufzuhalten, das Wirtschaftswachstum zu begrenzen und die Natur vor schädlichen Nebenwirkungen der Industrie zu bewahren, während eine ungezügelte Produktionssteigerung zwangsläufig zum »Doomsday« führen müsse. »Mir ist die westliche Verschwendungs- und Verkaufswelt seit jeher widerwärtig gewesen«, erklärte er kurze Zeit später, »und sie wurde mir immer suspekter, je unerbittlicher die Befunde ökologisch fundierter Zukunftsforschung mir ihren für die Menschheit schlechthin selbstmörderischen Kurs bewusst machten.« Da Harich fast »siebzig Prozent aller Industrieprodukte« für »völlig überflüssig« hielt, kritisierte er in diesem Zusammenhang nicht nur das kapitalistische Wirtschaftssystem, sondern auch die Regierung der DDR, die sich zusehends an westlichen »Konsumnormen« orientiere.4 Doch derart radikale Planungskonzepte wurden damals sowohl in der DDR als auch in der BRD abgelehnt. Ja, im Westen bezichtigte man Harich sogar, sich als »ökologischer Stalinist« aufzuspielen.5 Da er auch bei den westdeutschen Grünen auf wenig Gegenliebe stieß, kehrte er – nach seinem Abstecher in die BRD – 1981 wieder in die DDR zurück und starb dort 1995 in Berlin. Eine ebenso utopisch wirkende Vision der Zukunft entwarf 1977 der DDRAutor Rudolf Bahro in seinem Buch Die Alternative. Zur Kritik des realexistierenden Sozialismus, das ebenfalls nur im Westen erscheinen konnte. Bahro setzte damals seine Hoffnung auf eine bessere DDR, in der ein selbstloser »Bund der Kommunisten« dem kruden Materialismus der SED-Führungsschichten mit sozial betonten Genügsamkeitsparolen entgegentreten solle. Zugleich forderte er die Einführung einer »naturgemäßen Technologie«, um von einer Produktion, welche die Natur lediglich ausbeute, zu einer Produktion voranzuschreiten, die sich in den »natürlichen Zyklus der Natur« einordne. Statt einem »innovatorischen Wettlauf um jeden Preis« zu huldigen, drang er auf eine konsequente »Senkung des Material- und Energie­ verbrauchs«, die »weitestmögliche Reduzierung von Schadeinflüssen auf Mensch und Umwelt«, die »Abschaffung jeglicher marktbezogenen Verbrauchswerbung« sowie die »lückenlose Rückgewinnung und Regenerierung wiederverwendbare Rohstoffe aus den Abfällen«. Am geeignetsten, um solche Maßnahmen durchzuführen, erschien ihm dabei jene bereits von Marx anvisierte »freie Assoziation freier Produzenten«, in der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit eine »reale Synthese« bilden würden.6 Wegen seiner Angriffe auf die SED-Führungsspitze wurde Bahro darauf im August 1977 in Ost-Berlin verhaftet und in die Sonderhaftanstalt Bautzen überführt. Aufgrund zahlreicher Proteste gegen diese Maßnahme wurde er zwei Jahre später amnestiert, begab sich umgehend nach West-Berlin,7 hielt an seinen ökologiebedachten Anschauungen fest und publizierte dort zwei weitere Bücher zu den entsprechenden Themen unter den Titeln Elemente einer neuen Politik. Zum Verhältnis 150

Morgen. Die Industriegesellschaft am Scheideweg (1980)

von Ökologie und Sozialismus (1980) sowie Bleib mir der Erde treu! Apokalypse oder Geist einer neuen Zeit (1995), in denen er eher das Spirituelle als das DDR-Kritische betonte,8 worauf er zwei Jahre später in Berlin verstarb. III.

Doch nun zu Robert Havemann, dem dritten ökologisch gesinnten Utopiker, der wegen seiner widersetzlichen Ansichten in der Honecker-Ära ebenfalls mit den dortigen Behörden in Konflikt geriet. Er erhielt zwar im Gegensatz zu Wolfgang Harich und Rudolf Bahro keine Haftstrafen und wich auch nicht in die BRD aus, war aber bereits seit seinem Parteiausschluss im Jahr 1964 berufslos geworden und wurde von den staatlichen Sicherheitsbehörden strengstens überwacht. Daher konnte auch er, wie Harich und Bahro, seine ökologische Warnschrift Morgen. Die Industriegesellschaft am Scheideweg. Kritik und reale Utopie (1980) lediglich im Westen veröffentlichen, wo sie allerdings vornehmlich als Kritik am SED-Regime aufgefasst wurde. Wie viele Utopiker vor ihm entschloss sich Havemann in diesem Buch, seine Leser und Leserinnen nicht sofort mit einem kaum glaubwürdigen Wunschbild eines besseren Zukunftsstaats zu konfrontieren, sondern erst einmal auf all jene umweltschädlichen Gefahren hinzuweisen, die in allen Ländern der Welt von Jahr zu Jahr immer bedrohlichere Ausmaße anzunehmen begännen. Wie schon Dennis L. Meadows in seinem Buch Grenzen des Wachstums von 1972 ging es auch ihm als Naturwissenschaftler, genauer Physiker, stets um die globale Situation, welche durch die fortschreitende Überindustrialisierung und die damit verbundene Naturausbeutung mit all ihren Nebenerscheinungen geradezu katastrophale Züge angenommen habe. Und das gelte, wie er behauptete, sowohl für die kapitalistischen als auch für die sozialistischen Staaten, wo man den gleichen industriellen Wachstumsparolen huldige, ohne groß über die sich daraus ergebenden Konsequenzen nachzudenken. Dass es unter kapitalistischen Voraussetzungen zu einer Wende in dieser Hinsicht kommen könne, erschien Havemann von vornherein unvorstellbar. Denn dazu wären vor allem folgende Maßnahmen notwendig: Erstens müssten alle Waren wieder im Verhältnis ihrer Werte ausgetauscht werden und zweitens müssten Produktion und Konsumption möglichst genau übereinstimmen, um sowohl eine Unter- als auch eine Überproduktion zu vermeiden. »Da sich die kapitalistische Wirtschaft«, wie er schrieb, »nicht auf diesen Weg begeben hat, liegt einfach daran, dass dieses Wirtschaftssystem seinem Wesen nach niemals zu einem Gleichgewicht strebt, sondern von Anfang an die Entwicklung der Produktivkräfte aufs Äußerste antreibt und antreiben muss, wenn es überhaupt am Leben bleiben will.« Ja, »ohne ständiges Wachstum«, heißt es im Weiteren unverblümt, »ist der Kapitalismus zum Untergang verurteilt.«9 151

Robert Havemann

Abb. 26  Robert Havemann (1960)

Havemann schloss daher seine Verurteilung dieses verhängnisvollen Gesellschaftssystems mit den Worten: »Dass nicht der Gebrauch, sondern der Verbrauch das A und O der kapitalistischen Wirtschaft ist, gilt nicht nur auf dem Sektor der eigentlichen Konsumgüterindustrie, es gilt auch für den ›Konsum‹ aller Arten von technischen Ausrüstungen und Maschinen. Das Tempo der technologischen Entwicklung ist in diesem System so groß, dass ganze Industrieanlagen oft schon als veraltet gelten, bevor sie überhaupt in Betrieb genommen worden sind. Der größte Teil der Umweltverschmutzung geht daher auf das Konto dieses allgemeinen KonsumZwanges, dem die bürgerlich-kapitalistische Welt unterliegt. Man denke nur an die Unmassen von Reklame und Verpackungsmaterialien, an die sinnlose Vergeudung von Autobenzin, an die massenhafte Verschwendung von Energie und Rohstoffen, die keineswegs naturnotwendig ist, sondern ausschließlich daher rührt, dass die kapitalistische Wirtschaft an irgendeiner Form von Sparsamkeit nicht nur nicht interessiert ist, sondern sie geradezu fürchtet wie der Teufel das Weihwasser.« Um das noch einmal zu unterstreichen, heißt es darauf: »Der Kapitalismus ist in seiner inneren Struktur und seinem ganzen Wesen nach vollständig unfähig, die uns jetzt bevorstehende große Krise zu meistern, weil er sich selbst aufgeben müsste, was er nicht kann. Er ist am Ende. Seine Zeit ist abgelaufen« (27 f.). Doch nicht weniger kritisch äußerte sich Havemann darauf in den folgenden Abschnitten über die sozioökonomischen Verhältnisse in den Ländern des Ost152

Morgen. Die Industriegesellschaft am Scheideweg (1980)

blocks. Obwohl sich weiterhin als Marxist gebend und diese Haltung nach wie vor mit bedeutsamen Äußerungen von Marx, Lenin und Rosa Luxemburg untermauernd, führte er die dortigen Fehlentwicklungen vor allem auf jenen »tragischen Anachronismus« zurück, dass man versucht habe, den Sozialismus in einem weitgehend unterentwickelten Land wie Russland mit überstürzten Gewaltmaßnahmen durchzusetzen, um so die westlichen Wirtschaftsverhältnisse einzuholen oder gar überholen zu können (39). Und das habe zu einer unbarmherzigen Planwirtschaft geführt, die lediglich den Leitungsfunktionären, aber nicht den sogenannten Werktätigen zugutegekommen sei. »Sein historischer Auftrag, nämlich aller Welt zu demonstrieren, dass sich der Sozialismus nicht nur politisch, sondern auch in seinen ökonomischen Zielen grundlegend vom Kapitalismus unterscheidet«, sei daher, wie Havemann schrieb, auch in den von der UdSSR abhängigen Ländern des Ostblocks »hoffnungslos verfehlt« worden. Und dadurch werde der dort herrschende angeblich realexistierende Sozialismus gegenüber der »herannahenden weltweiten Krise womöglich noch blinder sein als sein angebetetes ökonomisches Vorbild«, nämlich der auf unbegrenzten Wachstumsparolen beruhende Kapitalismus (45). Ja, man versuche die allgemeine Konsumgier in Staaten wie der DDR noch dadurch zu steigern, dass es in den dortigen Exquisit-Läden sogar »aus dem kapitalistischen Westen importierte Industriewaren wie Fernsehapparate, Kosmetika, Waschmittel und den ganzen Krims-Kram der BRD-Fernsehreklame« zu kaufen gebe (49). Um diesen Trend rückgängig zu machen, wie es im Folgenden heißt, sei es un­­ bedingt erforderlich, in den Ländern des angeblich realexistierenden Sozialismus wieder jene konkrete Utopie auf die Tagesordnung zu setzen, wie sie Marx in seinen Pariser Manuskripten entworfen habe, nämlich eine Gesellschaftsordnung zu schaffen, in der nicht mehr der Kommerz, sondern der Gebrauchswert aller produzierten Waren den entscheidenden Ausschlag gebe. Statt also utopisches Denken weiterhin à la Friedrich Engels von vornherein als idealistisch und damit unrealisierbar abzuwerten, müsse man endlich erkennen, dass lediglich die Utopie eines sozial verantwortlichen Kommunismus – trotz aller inzwischen eingetretenen Rückschläge und Verzerrungen dieser Ideologie – die einzige Gesellschaftsordnung sei, die in ihrer ursprünglichen Form den Osten und den Westen vor den immer bedrohlicher heraufziehenden Gefahren einer skrupellosen Naturausbeutung bewahren könne. IV.

Darauf folgt – nicht ganz unvermittelt – auf über 50 Seiten ein höchst persönlich gehaltener Reisebericht einer Fahrt aus der DDR nach Kroatien, wo der anonyme Erzähler sowie seine Frau und Tochter jenes utopische Land finden, wo die zuvor angestellten theoretischen Forderungen einer grundsätzlichen Umbesinnung sowohl 153

Robert Havemann

gesellschaftlich als auch technologisch bereits konkrete Formen angenommen haben. Das erste, was sie dort in Staunen versetzt, ist, dass man in diesem Land die in der Tiefe angestaute »Erdwärme« – ohne jede weitere »Zufuhr von Energie« – zur Heizung und Warmwasserversorgung nutzt. Außerdem verzichtet man auf Seife sowie andere Kosmetika und verwendet das abfließende Wasser der Badeanlagen zur Bewässerung der Gärten und Gemüsebeete, was zum Teil an die Selbstversorgerkonzepte von Leberecht Migges Das grüne Manifest erinnert (64). Daher wächst und grünt um die dortigen Häuser alles in bunter Pracht und belebt somit die Lebensfreude ihrer Bewohner. Überhaupt gibt es hier nur noch kleine naturverträgliche Siedlungen und keine großen Städte mehr, nämlich jene Ansammlungen »des Unheils und der Unmenschlichkeit«, wo man »Millionen von Menschen auf wenigen Quadratkilometern in riesigen 20- und 30stöckigen Wohnsilos zusammengepfercht« habe, wodurch die älteren Kleinstädte zu »riesigen politischen, moralischen und kulturellen Krebsgeschwüren der Gesellschaft« ausgeartet seien und viele »schlimme und wirklich verwerfliche Laster die Menschen zu Hyänen und Peinigern anderer Menschen werden ließen« (67). Dort hätten eine »Unzahl von Arbeitern« lediglich an »Fließbändern und Produktionsstraßen« gearbeitet sowie »Legionen von Technikern und Kons­ trukteuren« im Verband mit einer ins »Überdimensionale angewachsenen kommerziellen Bürokratie« ständig »neue – meist völlig sinnlose – Variationen von Waren produziert« (68). Um einen derartigen Verschleiß kostbarer Rohstoffe zu vermeiden, erklärt einer der Utopiker den drei Reisenden, stelle man hierzulande nur noch Produkte her, die von größter Haltbarkeit seien, um so den Übeln der älteren Wegwerfgesellschaft Einhalt zu gebieten. Die meisten Läden seien daher fast leer, da es kaum noch Bedarf an neuen Gerätschaften gebe und die dortigen Chemiker obendrein einen »synthetischen Textilfaserstoff« erfunden hätten (83), der geradezu unverwüstlich sei. Zugleich habe man, um eine weitere Zerstörung der Natur zu vermeiden, alle Produktionsstätten in »unterirdische Thermofusionswerke« verlegt (91), deren Maschinen zum Teil durch die darunter befindliche Erdwärme sowie eine neue Form der »Mikroelektronik« angetrieben würden (85), wodurch es kaum noch irgendwelche Kohlendioxydabgase mehr gebe. Auch habe man es sich im Zuge dieser Umwandlungen in technologischer Hinsicht leisten können, wie die drei Reisenden verdutzt erfahren, auf einen sinnlos aufgebauschten Verwaltungsapparat, ja selbst auf die Aufrechterhaltung der Ausbeutung der unteren durch die oberen Gesellschaftsschichten zu verzichten. »Wir brauchen daher in Utopia keine Hauptstadt, keine Polizei, keine Verwaltung von Menschen mehr«, sagt ihnen einer der dortigen Utopiker, »von diesem Wahnsinn haben wir uns befreit« (69). Insofern »der planmäßige Fortgang der Produktion eine laufende 154

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Kontrolle und Übersicht aller Lagerbestände an Zwischenprodukten und Ersatzteilen« erfordere, so werde das »fehlerfrei und ohne jede Mitwirkung von komputergesteuerten automatischen ›Verwaltungen‹« erledigt (68). Und dadurch habe man nicht nur das ältere Ausbeutungssystem abschaffen, sondern auch die erforderliche Arbeitszeit beträchtlich verringern können. So weit, so naturverträglich. Doch auch der Frage, was die dadurch von fast allen äußeren Zwängen erlösten Menschen in ihrer Freizeit machen, widmete sich Havemann mit der nötigen Ausführlichkeit, um den von ihm anvisierten Verhältnissen einen ins Progressiv-Humanitäre und Kulturell-Bedeutsame übergehenden Glanz zu verleihen. Da seine Utopiker – aufgrund der verkürzten Arbeitszeit – nicht mehr in den bisher üblichen Alltagstrott von geistabtötender Arbeitsroutine und ebenso sinnentleerten Unterhaltungsamüsements eingespannt sind, die ihnen früher das Radio, das Fernsehen, die Popmusik oder irgendwelche Sportveranstaltungen geboten haben, widmen sie sich zusehends sowohl einer gemeinschaftsbezogenen Verbesserung ihrer materiellen Lebensbedingungen als auch einer Vertiefung ihrer individuellen Geistes, Seelen- und Liebesbedürfnisse, um nicht in den Zustand jener Lebensmonotonie zurückzufallen, wie er einstmals in den großen Städten des Altertums geherrscht habe. Dafür sprechen in dieser Utopie vor allem folgende auf eine grundsätzliche Veränderung der gesamten Lebensweise zielenden Einrichtungen und Verhaltensweisen, in denen diese Bemühungen bereits konkrete Formen angenommen haben. Als besonders wichtig habe man in diesem Land von Anfang an die Errichtung zahlloser Kinderdörfer erachtet, wo sich schon die kleinen und kleinsten Utopiker im Rahmen antiautoritärer Lehrmethoden so vielseitig wie nur möglich ausbilden könnten. Statt ihnen dort wie früher vornehmlich ein totes, lexikalisches Wissen einzutrichtern, werde ihnen in diesen Dörfern die Möglichkeit geboten, sich neben der Aneignung der lebensnotwendigen Kenntnisse in den Naturwissenschaften ebenso intensiv bestimmten künstlerischen Neigungen, ob nun dem Dichten, Malen oder Musizieren, hinzugeben. Um jede nationalistische Überheblichkeit von vornherein zu vermeiden, bediene man sich dabei, wie die drei Reisenden erfahren, einer künstlichen Weltsprache, »deren Basis zwar das Englische« sei, die aber zugleich viele »deutsche, slawische, arabische, chinesische, ja sogar afrikanische und indonesische Wörter« enthalte (74). Ebenso international seien in diesem Land die zahlreichen Theateraufführungen, bei denen, wie überhaupt im gesamten höheren Kulturwesen, nicht mehr das Unterhaltende und Zerstreuende, sondern das Wissensvertiefende und seelisch Ergreifende im Vordergrund stehe. Nicht minder ausführlich, ja fast noch ausführlicher ging Havemann darauf auf die neuen Lebens- und Liebesbeziehungen unter den von ihm als vorbildlich hingestellten Utopikern ein, in denen alle bisherigen Frustrierungen, Heucheleien 155

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und Eifersüchteleien verschwunden seien und ein allgemeines Wohlgefallen zu herrschen scheint. Da man selbst in den als demokratisch und damit fortschrittlich geltenden Industriestaaten der Vergangenheit die ältere Männerherrschaft keineswegs abgeschafft habe, lesen wir in diesem Zusammenhang, sei es dort in fast allen gesellschaftlichen Bereichen zu einer weit verbreiteten Heuchelei gekommen. Weder in den Arbeitsverhältnissen noch in den Liebesbeziehungen habe damals die offiziell proklamierte »Freiheit« geherrscht, die lediglich einer privilegierten, weil besser verdienenden maskulinen Oberschicht zugutegekommen sei. Und dieses System habe man lange Zeit, ja zum Teil bis heute durch religiöse Dogmen, Abtreibungsverbote und kostspielige Scheidungsprozesse zu untermauern versucht. »Bei uns«, erklärt einer der Utopiker, gilt dagegen »die Liebe als das größte Glück, das alle Menschen miteinander haben und sich somit gegenseitig bereichern können« (107). »Wir verstehen unter Liebe«, heißt es im Folgenden, »frei gebildete Gemeinschaften, die enger oder lockerer miteinander leben und sich des Lebens in der Gemeinschaft erfreuen, die doch ganz andere, reichere Möglichkeiten bietet als die Familie« (110). Daher kenne man überhaupt keine sexuellen Tabus mehr, weil man die Liebe nicht als »Triebbefriedigung, sondern als eine Form der Kunst, als Feld der Erfindung, nicht als biologisch programmierten Instinkt, sondern als höchste Form des Selbsterlebnisses durch das Erlebnis der Identität mit dem Partner« betrachte (106). Aus diesem Grund habe man in der von Havemann anvisierten Utopie alle »Gebote, Regeln und Gesetze« auf diesem Gebiet kurzerhand aufgehoben (131). V.

So viel – wenn auch arg verkürzt – erst einmal zu den Hauptforderungen dieser weit in die Bereiche des Technologischen, Naturerhaltenden, Bildungsbewussten und Lebenssteigernden ausgreifenden Utopie. Bei einer genaueren Kenntnis des histo­ rischen Hintergrunds um 1980 sowie der lebensgeschichtlichen Situation, in der sich Havemann zu diesem Zeitpunkt befand, gehen sie vornehmlich auf folgende, ihn damals bewegende Abwehrreaktionen zurück: einerseits auf die in der DDR herrschenden politökonomischen Zustände, andererseits auf die ihn bedrückenden ökologischen Befürchtungen, nämlich dass die ungehemmte Überindustrialisierung zum Untergang der Menschheit führen könne. Von besonderer Wichtigkeit waren dabei für ihn, wie gesagt, die durch das Buch über die Grenzen des Wachstums von ­Dennis L. Meadows ausgelöste Kritik an der fortschreitenden Naturausbeutung sowie jene von Wolfgang Harich und Rudolf Bahro vorgebrachten Bedenken, die in die gleiche Richtung zielten. Um sich in diesem Zusammenhang weiterhin als Marxist auszuzeichnen, griff Havemann – neben aller ökologischen Besorgtheit – bei seinem Ausflug ins Utopische vor allem auf jenes Konzept des »totalen Menschen« zurück, der 156

Morgen. Die Industriegesellschaft am Scheideweg (1980)

in einer kommunistischen Gesellschaft ohne äußere Zwänge stets über sich selbst verfügt, wie es Marx bereits 1844 im dritten Abschnitt seiner Pariser Manuskripte entworfen hatte, und versuchte, es als Modell einer zukünftigen unentfremdeten Gesellschaft hinzustellen. Dass ein solcher Versuch zwangsläufig idealistisch wirken würde, war Havemann trotz aller technologischen Fundierung seiner Vorschläge sicher bewusst. Dennoch zögerte er nicht, das von seinen drei Reisenden entdeckte Land als eine »reale Utopie« auszugeben, um wenigstens einige seiner Forderungen als praxisorientiert hinzustellen. Im folgenden Abschnitt dieses Buchs, den er »Evolution und Revolution« überschrieb, wandte er sich deshalb dagegen, seine Utopie lediglich als eine »schonungslose Kritik der heute bestehenden Ordnung« aufzufassen, sondern in ihr zugleich ein »neues Koordinatensystem in politischer und ökonomischer Hinsicht« zu sehen, das die »Richtung unseres Weges« angeben solle (135). So betrachtet ist das von Havemann beschriebene Ideal- oder besser Vernunftland, genannt »Morgen«, eine Oase der Utopie, die nach wie vor auf Geschichte wartet. Ob sich ihre Verwirklichung durch eine allmähliche Evolution oder eine gewaltsam durchgeführte Revolution erreichen lasse, bleibt allerdings am Schluss offen. Doch das Ziel, nämlich wie aus der heutigen räuberischen Industriegesellschaft eine naturverträgliche Industriegesellschaft werden könne, um so die Erhaltung der nötigen Rohstoffe und damit den Fortbestand der Menschheit zu garantieren, ist wenigstens angegeben. Wie sich die Weltlage nach dem Zusammenbruch des Ostblocks in den Jahren 1989/90 und die danach einsetzenden Globalisierung der wirtschaftlichen Verhältnisse verändern würde, erlebte Havemann allerdings nicht mehr. Er starb bereits am 9. April 1982 in Grünheide unweit von Berlin.

157

Uwe Wolff Papa Faust. Eine Idylle aus deutschen Landen (1982)

I.

Dass die sich in den späten siebziger Jahren in der ehemaligen Bundesrepublik herausbildende Außerparlamentarische Opposition keine in sich geschlossene Bewegung war, sondern höchst unterschiedlichen Randgruppenstrategien huldigte, ist allgemein bekannt. Aufgrund ihrer antiautoritären Gesinnung wandten sich zwar alle ihrer Bünde, Kommunen und parteiähnlichen Zusammenschlüsse gegen das als »vergewaltigend« empfundene staatliche »System«, vertraten aber dabei zum Teil recht unterschiedliche Ideologien. Da gab es jene SDSler, Vietnamkriegsgegner und Opponenten der Notstandsgesetzgebung, die sich zu Roten Zellen zusammenschlossen, da gab es Studenten, die auf eine größere Parität im Universitätsleben drängten, da gab es sich in Wohngemeinden oder Kommunen zurückziehende Sexrebellen, da gab es Pop-Fanatiker, die alles Politische von vornherein ablehnten, und da gab es sich als »Blumenkinder« verstehende Hippies, die den großen Städten kurzerhand den Rücken kehrten und sich aufs Land verkrümelten. Konzentrieren wir uns im Folgenden bei einer ideologiekritischen Betrachtung dieser Gruppierungen vor allem auf die um 1970 einsetzende Stadtfluchtbewegung, bei welcher sich der Drang ins Utopische, der fast allen dieser gesellschafts­ verändernden Bemühungen zugrunde lag, besonders deutlich manifestierte. Sie verstand sich unter Berufung auf die seit den frühen sechziger Jahren in den USA auftretenden Hippies als eine sich basisdemokratisch ausgebende anarchistische Adhoc-Bewegung, die dem vorherrschenden Konkurrenz, Leistungs- und Konsumzwang mit der Forderung eines »einfacheren Lebens« entgegentrat, das sich durch eine größere »Naturnähe« auszeichnen sollte.1 Dabei beriefen sich ihre Vertreter und Vertreterinnen gern auf das antizivilisatorische Konzept der Unabhängigkeit und Bedürfnislosigkeit in Henry David Thoreaus Walden or Life in the Woods (1854), in dem sich ein Stadtflüchtling in die »zeitlose Gegenwart« der Natur zurückzieht, dort den »Wert der Arbeit« schätzen lernt, einen Gemüsegarten anlegt und sich mit den Tieren anfreundet.2 Als ebenso wichtig empfanden sie grüne Mani­feste wie The Making of a Counter Culture (1969) von Theodore Roszak und Earth House Hold (1970) von Gary Snyder, unter deren Einfluss sich auch viele deutsche Systemaussteiger zum Konzept einer allumfassenden »Ecology« bekannten und sich für »Free Land« sowie »Solar Energy« einzusetzen versuchten. 158

Papa Faust. Eine Idylle aus deutschen Landen (1982)

Daher verließ nach 1968/69 auch eine Reihe der sogenannten Achtundsechziger die großen Städte, propagierten ein vorindustrielles Landleben und gründeten rousseau­istisch orientierte Öko-Kommunen. Ihr Ideal war eine chemielose, makrobiotische, kleinbäuerliche Landwirtschaft, die auf einem Selbstversorgungssystem beruht und auf das Maschinenwesen der letzten 150 Jahre so weit wie möglich zu verzichten sucht. In diesen Ansiedlungen wollte man nach den Erfahrungen des »nervenzerfetzenden« Großstadtlebens wieder »ganzheitlich« leben, wieder in der Natur aufgehen, wieder »autark« sein. Dafür sprechen in den siebziger Jahren erscheinende ökologisch-alternative Zeitschriften wie Der grüne Zweig, Kompost + Humus, Sanfter Weg, Graswurzelrevolution, Ökojournal, Undercurrents und Zero sowie Bücher wie Machbare Utopien, Neue Lebensformen, Alternative Technologie, Wege aus der Wohlstandsfalle, Alternativ leben, Ökotopia, Auswege in die Zukunft, Neue Formen des Zusammenlebens, Die Arche, Alternative Selbstorganisation auf dem Lande und Die lebenswerte Utopie.3 Verbreitet wurden derartige Publikationen entweder durch alternative »Gegenwind«-Buchhandlungen oder Bioläden, in denen sich mehr und mehr Menschen, welche sich nach dem auch in den Massenmedien viel diskutierten Buch Die Grenzen des Wachstums (1972) von Dennis L. Meadows in ihrem Wohlstandsoptimismus verunsichert fühlten, die nötigen Informationen zu verschaffen suchten. Durch diese Sympathisantengruppen, zu denen sich bald auch Vertreter und Vertreterinnen anderer »Neuer Sozialer Bewegungen«, vor allem Feministinnen und Anhänger der Friedensbewegung gesellten, wuchs die ursprünglich recht unbedeutende Aussteiger- und Landkommune-Bewegung in der zweiten Hälfte der siebziger Jahre allmählich zu einer selbst in den Massenmedien beachteten Strömung an. Und zwar begannen die intellektuell Anspruchsvolleren innerhalb dieser Gruppen – neben den amerikanischen Hippies – auch nach anderen Vorbildern einer wirksamen Stadtfluchtbewegung Ausschau zu halten. Dabei stießen sie auf die vielen Landkommunen des 19. Jahrhunderts, die sich mit anarchistischer, sozialis­tischer, religiöser oder allgemeinmenschlicher Tendenz ähnlichen Idealen verschrieben hatten. Ein starkes Interesse zogen dabei zeitweilig die utopischen Siedlungen der OwenAnhänger, der Ikarier, der Hutterer und der Amish People auf sich, auf die 1978 Horst von Gizycki und Hubert Habicht in ihrem Sammelband Oasen der Freiheit. Von der Schwierigkeit der Selbstbestimmung in der »fischer alternativ«-Reihe aufmerksam zu machen versuchten. Andere verwiesen in diesem Zusammenhang auf die vorbildliche Bedeutung der anarchistischen Selbsthilfevorstellungen Peter Kropotkins, die von Leo Tolstoi verkündeten ländlichen Bescheidenheitsideale, die frühen Kibbuzsiedlungen in Palästina oder die deutschen Landkommunen der Jahrhundertwende und der Weimarer Republik. Doch von Büchern wie denen von Ulrich Linse und Gudrun Pausewang einmal abgesehen,4 ging es in den meisten dieser Publikationen eher um neuartige Konzepte des menschlichen Zusammenlebens als um spezifisch 159

Uwe Wolff

Abb. 27  Titelbild (9. August 1971)

ökologische Alternativvorstellungen. Immer wieder war in ihnen vornehmlich von sozialer Erneuerung oder neuer Lebensqualität die Rede, die ihre Autoren und Autorinnen als auch ihre Leser und Leserinnen offenbar mehr interessierten als eine radikale Umkehr zu einfachen und damit naturerhaltenden Existenzformen. 160

Papa Faust. Eine Idylle aus deutschen Landen (1982)

Eine der bekanntesten Kommunen dieser Art war damals die AA-Kommune, die Otto Muehl Anfang der siebziger Jahre in Wien gründete und dann nach Friedrichshof im Burgenland verlegte. Ihre Mitglieder versuchten, ohne Privateigentum, ohne Zweierbeziehungen und ohne technische Geräte auszukommen und durch sogenannte Aktionsanalysen eine intensivierte Ich-Verwirklichung zu erreichen. Ähnliche Ziele setzten sich Pioniersiedlungen wie die Kommune Bundenthal, die Schweizer »Integrale Lebens- und Produktionsgenossenschaft«, die Head Farm Odisheim und eine Reihe anderer Landkommunen dieser Art, in denen man – in Anlehnung an den Roman Ecotopia (1975) von Ernest Callenbach sowie das Manifest The ­Turning Point. Science, Society and the Rising Culture (1982) von Fritjof Capra – entweder buddhis­tische Lebensweisen, rousseauistische Formen eines »naturgemäßen« Lebens oder libidinöse Versuche der Sinnlichkeitssteigerung durchprobierte, um sich so mit antiautoritärer Geste aus den »einengenden« Zwängen der bürgerlich-­großstädtischen Gesellschaft zu lösen.5 Um wenigstens auf ein literarisches Beispiel dieser damals vieldiskutierten, aber schnell wieder abflauenden Landkommune-Bewegung hinzuweisen, soll im Folgenden etwas näher auf den Roman Papa Faust. Eine Idylle aus deutschen Landen von Uwe Wolff, einem achtundzwanzigjährigen Münsteraner Philosophie- und Theologiestudenten, eingegangen werden, der im Jahr 1982 erschien und in dem sowohl die Vorzüge als auch die Problematik eines solchen Rückzugs aufs Land in Form einer utopisch wirkenden Oase dargestellt werden.6 II.

Zu Anfang wird in diesem Roman erst einmal ein üblicher Bauernhof in Schafstedt im Bundesland Schleswig-Holstein beschrieben, auf dem Sven und Jutta Söderborg ein arbeitsames, den älteren bäuerlichen Normen angepasstes Leben führen. Doch dann kommen beide im Jahr 1979 plötzlich auf die Idee, ihre bisherige Daseinsform aufzugeben und ihren Hof – im Zuge der damaligen alternativen Bewegung – in eine Bio-Kommune umzuwandeln, um sich zu den neuen Nachhaltigkeitskonzepten zu bekennen und zugleich mehr Schwung in ihr Leben zu bringen. Sie laden daher drei mit ihnen befreundete, in Hamburg lebende Frauen, nämlich Gabi, Renate und Katharina, ein, von ihrem sinnentleerten Großstadtleben abzulassen und mit ihnen auf ihrem Hof »ein neues, naturgemäßes Leben in Unabhängigkeit, Selbstversorgung und wirklicher Gemeinschaft« zu führen (8). Und die drei nehmen diese Einladung auch umgehend an und begeben sich mit großen »Erwartungshaltungen« nach Schafstedt, da auch sie endlich »ohne den Luxus des technologischen Zeitalters« leben wollen (10). Schließlich haben sie es im Gefolge feministischer Selbsterfahrungsgruppen ein für alle Mal satt, sich in 161

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Büros oder Friseursalons weiterhin ihren männlichen Chefs unterzuordnen, ständig auf den einzig Richtigen zu warten, unentwegt die »Scheißpille« zu nehmen oder notfalls abzutreiben. Damit ist jetzt ein für alle Mal »Feierabend«, erklären sie als selbstbewusste Frauen, denen alle »männlichen Herrschaftsverhältnisse« zuwider sind (14). Sie lassen sich daher aufgrund eigener Entscheidungen schwängern, um sich wieder in den »natürlichen Kreislauf« des Lebens einzuordnen, und kommen alle drei mit eben geborenen Babys, die sie in aller Offenheit mit ihren entblößten Brüsten stillen, auf den Söderborg’schen Hof. In Männern, die sich nach wie vor maskulinen »Allmachtsphantasien« hingeben, sehen sie fortan nur noch verächtliche Kraftprotze, Vergewaltiger oder Prügelheinis. Wie Sven und Jutta hoffen sie daher, auf dem Schafstedter Hof eine gewaltlose Gemeinschaft von Männern, Frauen, Kindern und Tieren zu gründen, in der wie auf einer utopischen Insel ein nicht näher ausgeführtes Konzept der »Natürlichkeit« herrschen soll. Um das auch nach außen hin zu demonstrieren, stellen sie vor dem Hofeingang ein Schild mit dem Slogan »Power to the Bauer« auf, um sich damit in aller Entschiedenheit zu einer antistädtischen Gesinnung zu bekennen. Als daher ein Auto vorbeifährt, das mit vielen der damaligen poprevolutionären Etiketten beklebt ist, sehen sie darin nur »geistlose Schlagworte«, die angesichts der von ihnen angestrebten ökologischen Grundeinstellung längst jede Bedeutung eingebüßt hätten. Überhaupt erscheint ihnen die gesamte, vor kurzen noch als rebellisch empfundene Rock-’n’Roll- und Punker-Umtriebigkeit mit ihrer Lust am Vulgären, Dreckigen und Derbsexuellen als eine Ausartung in die falsche Richtung, da in ihr nur ein sinnloser Auslebedrang, aber kein Rückbezug ins wahrhaft Naturgemäße zu erkennen sei. Was die Mitglieder der Schafstedter Landkommune dagegen anstreben, ist das »ganz Andere«, das von den konsumgierigen Großstädtern als lächerlich empfundene »einfache Leben«. Im Gegensatz zu der vorherrschenden Wirtschaftswundermenta­ lität und ihrer technologischen Innovationslust, die nur durch einen zunehmenden Raubbau an den kostbaren natürlichen Rohstoffen zu befriedigen seien, treten sie für eine Daseinsform ein, die »mit einem Minimum von Energieaufwand auskommt« (105). Was sie deshalb im Hinblick auf die Stromversorgung ihrer Haushaltsführung und ihrer »biologisch-dynamischen Gartenbauweise« befürworten, sind lediglich kleinere »Sonnenkollektoren« und »Windgeneratoren« (100). Und zwar verstehen sie sich dabei nicht nur als ein »separatistisches Grüppchen«, sondern betrachten sich zugleich als »Vorkämpfer einer neuen Lebensform«, die sich hoffentlich »eines Tages überall im Lande ausbreiten wird« (100). Ihre ideologische Leitfigur ist dabei jener »Papa Faust«, der seinen bisherigen Tätigkeitsdrang, das heißt »alles hektische Treiben der Welt hinter sich gelassen hat« und »endlich zur Ruhe gekommen ist« (106). In ihm sehen sie vornehmlich einen auf die Erhaltung der Natur bedachten Klausner, »der das Resümee seiner Epoche zieht 162

Papa Faust. Eine Idylle aus deutschen Landen (1982)

und die Nachgeborenen warnt, nicht mehr den Weg der Väter fortzusetzen« (107). Um diesen Trend zu einer nachfaustischen Haltung so apodiktisch wie möglich zu unterstreichen, heißt es in diesem Zusammenhang: »Es gibt keine Weiterentwicklung mehr, sondern nur noch das Bändigen der überlebendigen menschlichen Triebe, die seit Generationen hemmungslos die Erde ausgebeutet haben. Einhalten, Verweilen, Absehen von allem voreiligen Handeln, das will Papa Faust symbolisieren« (109). Um also unabhängig von der sich »zu Tode produzierenden Staatsökonomie« zu werden (118) und zugleich ein nachahmenswertes Vorbild für den Rest der Bevölkerung zu sein, bemühen sich daher die Mitglieder der Schafstedter Landkommune, in ihren täglichen Bedürfnissen stets vom Prinzip der »Selbstversorgung« auszugehen, und verschaffen sich die von ihnen nicht hergestellten Waren lediglich auf dem Weg des Tauschhandels mit ihren »überschüssigen Naturprodukten« (114). Um das zu erreichen, bevorzugen sie bei ihrer Nahrungsaufnahme vor allem Müsli aus Weizenschrot, Haferflocken, Haselnüssen, Obstquark, Salaten, Kefir und Grünkerngemüsesuppen, wozu sie Buttermilch, Malzkaffee und Erbsenbier trinken. Und all das versuchen sie durch »Eigenarbeit« und »Selbsthilfe« selber herzustellen (118). Bereit, von »allem politischen, ökonomischen und technischen Fortschritt wegzudenken«, wollen sie auf diese Weise geradezu »Steinzeitkonservative« werden, wie es mit betont provokanter Akzentsetzung heißt (119). Um auch die anderen Bewohner von Schafstedt für ihre Lebensweise zu gewinnen, gründen sie schließlich eine Art Vegan-Gaststätte, die sie erst »Papa Faust« nennen wollen, sich aber dann für die Bezeichnung »Arche Noah« entscheiden, wo sie ihren Kunden eine biodynamische Ernährung aus Müsli, heimischen Kräuterteesorten und Salaten anbieten, um auch sie zu einem Umdenken im Hinblick auf den Schutz ihrer Umwelt zu bewegen. Schließlich sei es »allerhöchste Zeit«, erklären sie, »endgültig die Notbremse zu ziehen, um einen Richtungswechsel einzuläuten«, da sich die Menschheit »in einem Eilzug« befinde, an »dessen Kurs es nichts mehr zu reformieren« gebe, sondern der einen »totalen Kurswechsel« erfordere (135). Um diesen Appell noch einmal zu bekräftigen, folgen darauf noch Sätze wie »Es gibt keine Fortsetzung mehr, weder wirtschaftlich, noch politisch, noch kulturell« sowie »Keine Generation wird sich mehr erlauben können, den Erdball so auszubeuten, wie sie es einst getan« (135). Doch wie es dann weitergehen soll, wird am Schluss nicht genauer ausgeführt. Auch der Hinweis auf die von den Brokdorfer Atomkraftgegnern in Gorleben gegründete »Freie Republik Wendland«, die von Polizeikommandos auf die brutalste Weise wieder aufgelöst wurde, hilft in dieser Hinsicht nicht viel weiter. Ja, selbst die Frage, ob sich die Schafstedter Landkommune, die sich als zukunftsträchtige Oase eines nachhaltigen Naturbezugs versteht, als die Keimzelle einer größeren Bewegung erweisen wird, bleibt am Schluss ungeklärt. Wahrscheinlich nicht.7 Schließlich waren 163

Uwe Wolff

ihre Bemühungen, wie die meisten Ansätze zu einer radikalen Graswurzelrevolution in ihrer rousseauistischen Ausrichtung viel zu utopistisch, um auf die Gesamtgesellschaft übergreifen zu können. Erst der Partei der Grünen gelang es im Laufe der achtziger Jahre, wesentlich umfassendere, auch die technologischen Voraussetzungen der bestehenden sozioökonomischen Verhältnisse berücksichtigende Programme zu entwickeln, die dieser Partei eine ständig anwachsende Massenbasis verschafften.8 Dadurch wurde sie zwar zu einem parteipolitischen Faktor, der nicht mehr zu übersehen war, büßte aber zum Teil durch die wachsende Vormacht der Realos über die Fundis jenen ins Utopische ausgreifenden Elan ein, mit dem die frühen Alternativen, wie die »Papa Faust«-Kommune, einmal das gesellschaftliche Gesamtsystem in Frage zu stellen versucht hatten.

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Petra K. Kelly Um Hoffnung kämpfen. Gewaltfrei in eine grüne Zukunft (1983)

I.

Im Herbst 1945 hatten die drei Siegermächte in ihrem Potsdamer Abkommen an sich vereinbart, dass es in Deutschland – nach den mörderischen Untaten des NSRegimes – nie wieder zu einer neuen Remilitarisierung kommen dürfe. Doch schon im Zuge des 1947/48 einsetzenden Kalten Kriegs zwischen den USA und der UdSSR verloren solche Beschlüsse zusehends an Gültigkeit. Nachdem 1949 aus dem Restterritorium des Dritten Reichs die unter amerikanischem Einfluss stehende westdeutsche Bundesrepublik und die unter sowjetischem Einfluss stehende Deutsche Demokratische Republik gegründet worden waren, drangen die beiden Großmächte darauf, den beiden neuen Staaten nicht nur die politische Souveränität, sondern innerhalb des westlichen NATO-Bündnisses sowie des östlichen Warschauer Pakts auch die Wehrhoheit erneut zuzugestehen. In der BRD erfolgte das im Jahr 1954, als die CDU/FDP-Koalition unter Konrad Adenauer nach ihrem Beitritt in das NATOBündnis mit der Aufstellung der westdeutschen Bundeswehr begann, ja diese sogar mit Atomwaffen ausrüsten wollte, was in der Folgezeit zu von den Sozialdemokraten, den Gewerkschaften und bekannten Naturwissenschaftlern unterstützten Massenprotesten führte. Als jedoch die SPD – nach den durch das Erhard’sche Wirtschaftswunder begünstigten Wahlerfolgen der CDU – 1959 in ihrem Godesberger Programm ihren Widerstand gegen die Remilitarisierung der BRD aufgab, flaute diese Widerstandsbewegung merklich ab. Zu einer neuen Welle derartiger Demonstrationen kam es erst wieder im Rahmen jener Kundgebungen, welche die Achtundsechziger gegen den Vietnamkrieg in Bewegung setzten. Doch auch die hörten bald wieder auf, zumal die USA diesen Krieg von sich aus beendeten und die BRD in diese Auseinandersetzung nicht unmittelbar verwickelt war. Wesentlich mehr Bundesbürger und Bundesbürgerinnen schlossen sich dagegen jenen Demonstrationen an, die sich zu Anfang der achtziger Jahre – im Zuge des sich erneut verschärfenden Kalten Kriegs – gegen die vom amerikanischen Präsidenten Ronald Reagan angeordnete Stationierung atomar bestückter Mittelstreckenraketen vom Typ Pershing II sowie der Marschflugkörper der BMW-Cruise-Missiles wandten, da damit die Gefahr eines Dritten Weltkriegs heraufbeschworen werde. Diesmal war der Unwille über derartige Maßnahmen so groß, dass zwischen 1980 und 1983 in Westeuropa etwa vier Millionen Menschen den »Krefelder Appell« gegen die Stationierung solcher Waffensysteme unterzeichneten. 165

Petra K. Kelly

In der BRD fand die erste große Friedensdemonstration dieser Art im Juni 1981 unter dem Motto »Fürchtet Euch, der Atomtod bedroht uns alle« anlässlich des Evangelischen Kirchentags in Hamburg statt. Im Oktober des gleichen Jahrs demonstrierten darauf bereits mehr als 300.000 Menschen in Bonn. Zu ähnlichen Großkundgebungen kam es 1982 während eines Staatsbesuchs Ronald Reagans in West-Berlin und Bonn. Auch an den sich für einen verstärkten Friedenswillen einsetzenden Ostermärschen beteiligten sich zwischen 1981 und 1983 jeweils Hunderttausende westdeutscher Bürger und Bürgerinnen. Als die bekanntesten Redner und Rednerinnen traten dabei vor allem Gert Bastian, Joseph Beuys, Heinrich Böll, Helmut Gollwitzer, Günter Grass, Petra K. Kelly, Oskar Lafontaine, Martin Niemöller und Dorothee Sölle sowie Liedermacher wie Franz Josef Degenhardt, Hans Dieter Hüsch und Hannes Wader auf.1 Zu den wichtigsten Organisatorinnen dieser Friedensdemonstrationen, die ihren Höhepunkt im Oktober 1983 erreichten und an denen bundes- und europaweit fast anderthalb Millionen Menschen teilnahmen, gehörte Petra K. Kelly. Sie war eine der Gründerinnen der aus der alternativen Bewegung der »Bunten Listen« der siebziger Jahre hervorgegangenen Partei »Die Grünen«, deren Aktionswille zum Teil weit über das hinausging, was die meisten Vertreter und Vertreterinnen der Friedensbewegung wollten, das heißt, die mit ihren Ökopax-Konzepten zugleich eine Gesamterneuerung der Gesellschaft ins Auge fasste, welche durchaus ins Utopische vorstoßende Züge aufwies. Dazu im Folgenden einige etwas genauere Ausführungen. II.

Petra K. Kelly war aufgrund ihrer Herkunft von Anfang an ein Sonderfall unter all jenen, die sich um 1980 den Grünen und/oder der Friedensbewegung anschlossen.2 Sie kam am 29. November 1947 als Petra Karin Lehmann in Günzburg an der Donau zur Welt, verlor aber ihren Vater schon mit sieben Jahren, worauf ihre Mutter einen US-Bürger namens John F. Kelly heiratete und mit ihm und ihrer Tochter 1960 nach Columbus im amerikanischen Bundesstaat Georgia übersiedelte. Nach schweren Nierenleiden und dem Krebstod ihrer Schwester, der Petra K. Kelly lebenslang bedrückte, besuchte sie die dortige High School, studierte anschließend an der School of International Service der American University in Washington, D.C. Politologie und setzte sich zugleich auf Seiten der Demokratischen Partei bei Wahlkampagnen für progressiv eingestellte Kandidaten wie Robert F. Kennedy und Hubert H. Humphrey ein. Anschließend kehrte sie 1971 nach Europa zurück, wo sie an der Universität von Amsterdam Politikwissenschaft und Europäische Integration studierte sowie obendrein als Forschungsassistentin am Europa-Institut arbeitete. Danach war sie bei der EG-Verwaltung in Brüssel tätig, wo sie 1973 als Fünfundzwanzigjährige zur Verwaltungsrätin im Sekretariat des Wirtschafts- und Sozialausschusses für Umwelt166

Um Hoffnung kämpfen. Gewaltfrei in eine grüne Zukunft (1983)

schutz, Sozialfragen und Gesundheitswesen aufstieg. Neben ihrer beruflichen Tätigkeit engagierte sie sich schon in diesen Jahren in der europäischen Frauen-, ­Friedensund Anti-Atombewegung, nahm in den USA an Protestdemonstrationen gegen den Vietnamkrieg teil und gründete die »Vereinigung zur Unterstützung der Krebsforschung für Kinder«, die vor allem die Ursachen derartiger Erkrankungen in der Umgebung chemischer und atomarer Anlagen untersuchte. Außerdem trat sie dem Bundesverband »Bürgerinitiativen Umweltschutz«, der »Humanistischen Union«, der »Union Syndicale« in Brüssel sowie der »Bildungs- und Begegnungsstätte für gewaltfreie Aktion« in Lüchow-Dannenberg bei. All diesen Organisationen blieb sie jahrelang treu, während sie die SPD, der sie während der Kanzlerschaft Willy Brandts beigetreten war, im Jahr 1979 aus Protest gegen die von Helmut Schmidt vertretene Politik, durch die aus dieser Partei eine »Kriegskredite, Panzerkreuzer, ABC-Waffen, Berufsverbote- und NotstandsSPD« geworden sei,3 wieder verließ. Stattdessen setzte sie sich im gleichen Jahr für die Gründung der »Grünen« ein, worauf sie 1980 zu einer der drei maßgeblichen Sprecher und Sprecherinnen dieser Partei gewählt wurde. Nach den ersten Wahlerfolgen der Grünen nahm sie 1983 ein Mandat im Bundestag ein, trat mit Gert Bastian, Wolf Biermann und Erhard Eppler bei einer Friedenskundgebung in Philadelphia als Rednerin auf und beschwor in Ost-Berlin den Vorsitzenden der SED Erich Honecker mit der Forderung »Schwerter zu Pflugscharen«, sich ebenfalls der internationalen Friedensbewegung anzuschließen. Welch ein spektakulärer Aufstieg einer jungen Aktivistin in die Arena der großen Politik, für den sich in diesem Zeitraum kaum andere vergleichbare Beispiele finden. Ja, neben all diesen unermüdlichen Einsätzen für eine friedliche Welt bemühte sich Kelly sogar noch, ihre Ansichten auch mit einer Reihe von Publikationen zu verbreiten. Dafür spricht – nach ihren 1982 mit Jo Leinen und Manfred Coppik herausgegebenen Sammelbänden Ökopax, die neue Kraft sowie Wohin gehen wir? Texte aus der Bewegung – vor allem der von ihr verfasste manifestatorisch angelegte Band Um Hoffnung kämpfen. Gewaltfrei in eine neue Zukunft, für den Heinrich Böll ein ebenso engagiertes Vorwort schrieb und den sie mit ihm am 10. November 1983 auf einer Bonner Pressekonferenz erstmals vorstellte. Er ist in seiner Mischung aus Aufsätzen, Briefen und Reden wohl das beste Beispiel für die erstaunliche Breite ihrer politischen Anschauungen und zugleich die ins Utopische übergehende Hoffnungsfreudigkeit, die Kelly zu diesem Zeitpunkt beseelte. III.

Werfen wir erst einmal einen kurzen Blick auf das fünf enggedruckte Seiten umfassende Vorwort von Heinrich Böll, dem er das Motto »Systemänderungen« 167

Petra K. Kelly

voranstellte (7–11). In ihm stützte er seine Hoffnung auf eine Überwindung des immer bedrohlicher werdenden militärischen Rüstungswahns nicht auf eine Rebellion von Seiten der »Arbeiter«, denen durch die Massenmedien eine Akzeptanz der herrschenden Zustände aufgezwungen werde, sondern eher auf jene auf den Straßen demonstrierenden Basisgruppen sowie jenes »Proletariat«, das heutzutage an den Universitäten und Hochschulen zu finden sei. Nur in ihren Reihen, behauptete er, finde gegenwärtig eine »Revolution im Innern des Systems« statt. Denn nur sie seien es, welche am nachdrücklichsten gegen das »wahnsinnigste aller Systeme«, nämlich die »Absurdität des Rüstungssystems«, opponierten (8).

Abb. 28  Petra K. Kelly und Heinrich Böll auf einer Pressekonferenz (10. Februar 1983)

Dem wird Kelly sicher beigestimmt haben. Schließlich ging es auch ihr zu diesem Zeitpunkt, als die Friedensbewegung ihren Höhepunkt erlebte, vornehmlich darum, den durch den NATO-Doppelbeschluss herbeigeführten westlichen Aufrüstungsbestrebungen und allen sich daraus ergebenden Gefahren so entschieden wie möglich entgegenzutreten. Wie viele andere maßgebliche Köpfe der Friedensbewegung wandte sie sich daher in zahlreichen Reden und Publikationen vor allem gegen die vom US-Präsidenten Ronald Reagan angeordnete »Stationierung von Nuklearwaffen und chemischen Kampfstoffen« auf bundesdeutschem Boden (191), die im Ernstfall 168

Um Hoffnung kämpfen. Gewaltfrei in eine grüne Zukunft (1983)

zu einer Vernichtung halb Europas führen könne. Damit waren besonders »Massenvernichtungswaffen« wie die mit über 100 »Hiroshima-Atombomben« bestückten Pershing-II-Raketen und jene »Giftgaslagerdepots« in der Westpfalz gemeint, wo ein geplatztes Fass rund 300.000 Menschen töten würde (81). Falls also die »Politik der Drohgebärden« von Seiten der USA weiterhin zunehme, erklärte sie, könne das zum Untergang ganz Europas, wenn nicht der halben Welt führen. Das Beschämende dabei sei, dass trotz der vielen Friedensdemonstrationen die westdeutsche Regierung nichts unternehme, um dieser verhängnisvollen Entwicklung so entschieden wie möglich entgegenzutreten, das heißt sich angesichts des drohenden Unheils nicht für eine »Auflösung der bestehenden Militärblöcke« sowie eine »weltweite Entmilitarisierung« auszusprechen (71), sondern eher stolz darauf sei, die »führende Wirtschaftsmacht und zugleich die stärkste konventionelle Militärmacht Westeuropas« zu sein (56). Ja, als »Satellit der USA« (45) investiere sie weiterhin »fast zehn Prozent aller staatlichen Forschungs- und Entwicklungsmittel in militärisch orientierte Aufgaben« (56). Dadurch habe die Bundesrepublik sich mit Beihilfe großer Rüstungsbetriebe wie der »Siemens AG« (66) im Laufe der letzten zwei Jahrzehnte nach den USA, der UdSSR, Frankreich, Italien und Großbritannien »zum sechstgrößten Waffenlieferanten der Welt entwickelt« (55). Außerdem sei ihre Regierung im Zuge des »Bonner Atomprogramms« dazu übergegangen, »mehrere Dutzend Leichtwasserreaktoren, Schnelle Brüter und atomare Anreicherungsanlagen« in Auftrag zu geben, und habe damit die »Bedingungen für die Massenproduktion von Kernsprengstoff« geschaffen (56), deren Folgen geradezu katastrophal sein könnten. Doch nicht nur das. Die Auswirkungen dieser Politik machten sich auf fast allen Gebieten des gesellschaftlichen Lebens bemerkbar. Durch den »riesigen weltweiten Aufwand an Energie und wissenschaftlicher Phantasie« sei es im Rahmen der NATO und des Warschauer Pakts durch die zunehmende Aufrüstung und das sich daraus ergebende »Lebensvernichtungspotential« in vielen Staaten der Welt zu »Armut, Inflation und Verzweiflung« gekommen (16). Vor allem in den Ländern der durch die herrschenden Großmächte ausgebeuteten Dritten Welt würden dadurch die »Mittel zum Unterhalt« der breiten Massen immer knapper (15). Es gehe daher nicht mehr an, erklärte Kelley, dass »auf dieser Erde pro Minute 2,3 Millionen Dollar dafür ausgegeben würden, die Vernichtungsmaschine zu vervollkommnen« (15), statt im Zuge einer allgemeinen Abrüstung diese Summe dafür auszugeben, den Lebensunterhalt der Armen und Benachteiligten zu verbessern. Für die »Aufrechterhaltung dieser Ungerechtigkeit in der Welt« und zugleich für die nicht nachlassenden Aufrüstungsbemühungen machte Kelly, wie gesagt, nicht nur die USA und die UdSSR, sondern auch die Regierung der BRD mitverantwortlich (68). Auch diese, erklärte sie, tue nichts, um die übermächtige »Machtpolitik und Rüstungsdynamik« einzudämmen (204). Stattdessen gehorche sie im Schlepp169

Petra K. Kelly

tau der Vereinigten Staaten lediglich den NATO-Parolen und huldige ansonsten einem wirtschaftlichen Wachstumsfetischismus, der vornehmlich dem Wohlstand der finanziell bessergestellten Bevölkerungsschichten ihres Lands zugutekomme. Daher müssten sich die dagegen opponierenden Basisgruppen in der BRD nicht nur gegen die forcierte Aufrüstung wenden, sondern zugleich erkennen, wer die wirklichen Urheber dieser rücksichtslosen wirtschaftlichen Machtpolitik seien, das heißt zugleich die sozioökonomischen Ausartungen des kapitalistischen »Systems« ins Auge fassen. IV.

Die einzige Partei, die dabei – im Gegensatz zu den bundesdeutschen Regierungsparteien  – eine Gesamterneuerung der gesellschaftlichen Verhältnisse anstrebe, schrieb Petra K. Kelly am 5. November 1982 an Willy Brandt, sei gegenwärtig die aus den Alternativen Listen der späten siebziger Jahre hervorgegangene Partei »Die Grünen« (179). Nur sie strebe keine »Einbindungsstrategien in das vorwaltende System an«. Anstatt im Bundestag lediglich »im Kreise der Etablierten einen Platz an der Sonne« einzunehmen, wolle sie zwar auch eine »Partei«, aber zugleich eine »Bewegung« sein, die in aller Entschiedenheit darauf verzichte, sich an den »konzertierten Aktionen« zur »Privilegienerweiterung« der ohnehin Machthabenden zu beteiligen, sondern versuche, sich vor allem für jene benachteiligten Minderheiten einzusetzen, die von den Herrschenden vergessen oder unterdrückt würden. Wer also einen grundlegenden Wandel der gesellschaftlichen Verhältnisse ins Auge fasse, müsse sich vornehmlich an diese Schichten und nicht an die etablierten Bundestagsparteien wenden. Die Hoffnungsträger einer besseren, gefahrlosen Zukunft, erklärte sie im Folgenden, seien – genau besehen – vornehmlich die Demonstranten der Friedensbewegung, die vor den Toren der chemischen und atomaren Fabriken Protestierenden, die Selbsthilfegruppen der Arbeitslosen, die Bewohner der autonomen Jugend- und Frauenhäuser, die grünen Betriebsräte und ähnliche Gruppierungen, die eingesehen hätten, dass »die Fragen des Friedens, der Umwelt, der Sicherung der Arbeitsplätze sowie der Dritten-Welt-Problematik zu Risikofaktoren des Überlebens« geworden seien (179). Die Friedensbewegung müsse daher viel mehr »als nur das gewaltfreie Be­­ kämpfen der Mittelstreckenraketen, die Blockfreiheit und die Entmilitarisierung« anstreben (184), sondern zu einem »Aufstand der Bürger gegen die Experten, einem Aufstand der Menschen mit Zukunft gegen die Phantasielosigkeit derer, die uns regieren, einem Aufstand der Optimisten gegen die Pessimisten, einem Aufstand der autonomen Menschen gegen die Autoritäten, einem Aufstand der realistischen Träumer gegen die defaitistischen Spekulanten« werden (184). »Frieden«, schrieb Kelly, 170

Um Hoffnung kämpfen. Gewaltfrei in eine grüne Zukunft (1983)

»heißt für die Grünen, nicht passiv sein, nicht nachgeben, nicht ruhen und nicht anpassen. Frieden heißt, daß es Menschen gibt, die sich nach den Schwachen richten, wo jeder mit jedem für jeden leben will. Frieden ist eine gemeinsame Grundhaltung: Rücksichtnahme statt Eigennutz, Liebe statt Ablehnung, Solidarität statt Konkurrenz, Hoffnung statt Angst, Sein statt Haben« (184). Damit wollte Kelly von vornherein betonen, dass die Partei der Grünen im Sinne Mahatma Gandhis und Martin Luther Kings keinen gewaltsamen Umsturz anstrebe, sondern sich bemühe, den von ihr propagierten Wandel von einer überindustrialisierten und zugleich militarisierten Gesellschaft zu pazifistischen und umweltfreundlichen Zuständen lediglich mit gewaltlosen Verweigerungsformen wie Streiks, Demonstrationen und Boykotts herbeizuführen. Für diese Partei, schrieb sie, stehe die »Unversehrtheit menschlichen Lebens über jedem anderen Wert«. »Wir lehnen es daher entschieden ab«, heißt es in dem bereits zitierten Brief an Willy Brandt, »daß Konflikte mit Finanz- und Staatsgewalt gelöst werden. Wir suchen einen neuen Weg und dieser Weg besteht darin«, auf »Mißstände und Ungerechtigkeiten« lediglich mit »zivilem Ungehorsam und gewaltfreien Aktionen zu reagieren« (187). Dieser Versuch möge zwar »utopisch« klingen, aber habe es nicht auch Zeiten gegeben, fragte sie, als die Abschaffung der Sklaverei und Leibeigenschaft, die Gleichheit vor dem Gesetz, das Frauenstimmrecht und die Arbeitermitbestimmung als ebenso »utopisch« diffamiert wurden? Und seien nicht diese damals absurd klingenden Forderungen schließlich doch »politische Wirklichkeit« geworden (179)? V.

Was dabei aufhorchen lässt, ist der häufige Gebrauch des Worts »Utopie«, worunter Kelly als ideologische Zielvorstellung nicht nur eine durch totale Entmilitarisierung herbeigeführte Gewaltlosigkeit, sondern – als Mitbegründerin der Partei »Die Grünen« – auch ein ebenso gewaltloses, das heißt wesentlich behutsameres Verhältnis zu der alles menschliche Leben auf Erden ermöglichenden »Natur« verstand. Auch auf diesem Gebiet wandte sich deshalb Kelly gegen die »bislang vorwiegend gepflegte Öko-Kosmetik innerhalb der etablierten Parteien« und forderte die gewaltfreien Rebellen unter den Friedensbewegten und Grünen auf, ihren »Blick auf wirkliche Alternativen zu lenken« (185). Um diese Gruppen – »angesichts der sichtbar werdenden Grenzen des ›Systems Erde‹« – auch in dieser Hinsicht zu einem grundsätzlichen Veränderungswillen anzustacheln, versuchte sie demzufolge alle ähnlich Gesinnten obendrein zu einer »Abkehr vom Warenfetischismus« zu bewegen (82), was sich am besten durch eine »dezentrale, weiche Energieversorgung, den Übergang von kapitalintensiven Großtechnologien zu arbeitsamen, umweltschonenden energie- und rohstoffsparenden Mittel- und Kleintechnologien« erreichen lasse (182). 171

Petra K. Kelly

Die meisten ihrer frühen Schriften sind daher voller Ausfälle gegen gefährliche Chemikalien, die naturzerstörende Großfelderlandwirtschaft, den Masseneinsatz von Kunstdünger, die übermäßige Verwendung von Pestiziden, den Anbau genetisch verarmter Hochleistungsnutzpflanzen, die zunehmenden Waldrodungen sowie die Trockenlegung von Feuchtgebieten, die allesamt nicht nur zu einer rücksichtslosen »Vernichtung der biologischen Vielfalt von Fauna und Flora« geführt hätten (164), sondern zugleich die Lebensgrundlage der von der Natur abhängigen Menschen bedrohten. Statt also weiterhin lediglich »die Steigerung der Warenmassen im Rahmen einer erweiterten Produktion« auf allen Ebenen anzustreben, müsse man sich endlich für eine »Steigerung der Lebensqualität im Einklang mit der Notwendigkeit zyklischer Erneuerung und Erhaltung der Natur entschließen« (25), das heißt die »Lebensansprüche im Rahmen der ökologischen Bedingungen abstecken« (29). Nur so könne eine »herrschaftslose Gesellschaft« entstehen (41), in der es – im Sinne der von Kelly immer wieder beschworenen Ökopax-Hoffnungen – weder eine militärische Einsatzbereitschaft noch eine fortschreitende Naturzerstörung mehr geben würde. Erst dann, wie es mit idealistischem Überschwang heißt, könne aus den bereits entstandenen Oasen der Utopie, deren Hoffnungsträger vor allem die Vertreter der Friedensbewegung und die Fundamentalisten unter den Grünen seien, endlich jener Staat hervorgehen, in dem sich – jenseits der bereits bestehenden Parteien – alle Menschen zu einer konfliktlosen Gemeinschaft zusammenschließen würden. Was daher Kelly an den Schluss ihres Buchs Um Hoffnung kämpfen. G ­ ewaltfrei in eine grüne Zukunft stellte, war ein Kapitel unter dem Titel »Für eine erotische Gesellschaft«, in dem sie sich nochmals zu ihrer schon vorher herausgestellten Überzeugung bekannte, dass es nicht allein genüge, sich für Friedensbereitschaft und Naturschonung einzusetzen, sondern dass man sich zugleich auf allen Ebenen des gesellschaftlichen Miteinanders um »alternative Lebensformen und gewaltfreie Beziehungen zu den andern und zu uns selbst« entschließen müsse (24). »Wir Grünen«, wie sie bereits in den einleitenden Abschnitten ihres Buchs erklärt hatte, »wollen alle Menschen aus ihrem Abgestumpftsein, aus ihrem Gefühl des Ertragenmüssens herausreißen« (26) und in den Zustand einer liebevollen Mitmenschlichkeit versetzen. Schließlich sei selbst die »Liebe« in unserer durch und durch entfremdeten Warenwelt zu einer »leicht zugänglichen industrialisierten Sexualität« degeneriert (168), in der es vor allem um »eigene sexuelle Befriedigung, kommerzialisierte Anpreisungen von Reizsteigerungsmitteln, Koitusakrobatik und so weiter« gehe, was zu einem bedauerlichen Verlust wahrhaft zwischenmenschlicher Beziehungen geführt habe (169). Statt die Liebe als eine »mystische Dimension des Lebens« zu empfinden, w ­ elche »die Welt der Geistlichkeit mit der Welt der Geschlechtlichkeit vereint«, werde sie heutzutage, wie Kelly erklärte, immer stärker in die »mechanische Produktionswelt« 172

Um Hoffnung kämpfen. Gewaltfrei in eine grüne Zukunft (1983)

des Kapitalismus integriert (168). Die meisten Menschen wollten selbst auf diesem Gebiet nur noch »haben«, ohne die Bereitschaft zu »geben« oder zu »sein« (168). Um diesen Zustand zu überwinden, heißt es im Folgenden, müsse man sich endlich außer dem subjektiven Charakter der Liebe auch dem ihr innewohnenden Drang ins »Überpersönliche« hingeben. Denn nur wer in diesem Sinne wahrhaft »liebend« lebe, werde zugleich »von der Welt berührt und sei daher weniger gefährdet, einer lebensfeindlichen Isolierung, Depression oder gar dem Alkohol- oder Drogenkonsum« anheimzufallen. Als vorbildlich für eine solche Haltung stellte Kelly – im Zuge der damaligen New-Wave-Bewegung – dabei den »körperlich-erotischen Weg der Tantra-Yoga« hin, hinter dem die »Sehnsucht nach der Ganzheit des Lebens« stehe (172), der eine vertiefte und zugleich erweiterte Beziehung aller Menschen untereinander bewirken könne, die von jedem äußeren Zwang befreit sei und zu einer liebenden Übereinstimmung mehrerer, wenn nicht aller Männer und Frauen führen würde. Das mag im Einzelnen höchst idealistisch klingen, unterstreicht aber zugleich den fundamentalen Anspruch Kellys, mit ihren Anschauungen auf eine Gesamterneuerung der gesellschaftlichen Verhältnisse zu drängen, in welcher die durch die Friedensbewegung und die Grünen entstandenen Oasen der Utopie Vorbilder für eine grundsätzliche Umwandlung der durch die militärische Aufrüstung sowie die zerstörerische Naturausbeutung unhaltbar gewordenen Zustände abgeben würden. Doch mit dieser Radikalität entfernte sich Kelly als »Fundi« im Laufe der achtziger Jahre zusehends von den eher pragmatisch orientierten »Realos« innerhalb der Partei Die Grünen, ja zog sich schließlich aus der Tagespolitik zurück. Dafür spricht nicht nur ihr 1990 unter dem programmatischen Titel publiziertes Buch Mit dem Herzen denken. Texte für eine glaubwürdige Politik, sondern auch ihre Vorliebe für den in Tibet unterdrückten Tantra-Taoismus, für den sie sich 1988 und 1990 – nach Gesprächen mit dem in den Westen geflohenen Dalai-Lama – in zwei ebenso programmatisch formulierten Büchern einsetzte.4 Ja, schließlich gab sie zum gleichen Zeitpunkt auch ihr Bundestagsmandat auf und zog sich mit ihrem Lebensgefährten Gert Bastian in den Bonner Stadtteil Tannenbusch zurück. In der westdeutschen Medienwelt tauchte ihr Name danach nur noch einmal auf, und zwar am 19. Oktober 1992, als man ihre Leiche nach dem drei Wochen zuvor erfolgten Doppelselbstmord mit Gert Bastian entdeckte,5 dessen Ursachen bis heute ungeklärt geblieben sind. Kontaktlos geworden, verlosch so das Leben einer erst vierundvierzigjährigen Utopistin, die zehn Jahre zuvor im Zentrum der politischen Öffentlichkeit der BRD gestanden, dann aber im Zuge der sich verstärkenden Ost-West-Konfrontation und der sich danach ergebenden Wiedervereinigung Deutschlands sowie des hierdurch bewirkten Nachlassens der von ihr in Gang gesetzten Umweltbewegung auf ideologischer Ebene ihre bis dahin anfeuernde Wirkung eingebüßt hatte. 173

Robert Jungk Zukunft zwischen Angst und Hoffnung. Ein Plädoyer für die politische Phantasie (1990)

I.

Im Hinblick auf die bundesrepublikanische »Alternative Bewegung« der siebziger Jahre sollte man nicht vergessen, dass ihre Vertreter und Vertreterinnen nicht nur jugendbewegte Achtundsechziger, Feministinnen und radikale Naturfreunde waren, sondern dass zu ihr auch eine Reihe wesentlich älterer Systemgegner gehörte, die bereits seit den fünfziger Jahren für ähnliche Zielsetzungen eingetreten waren. Während sie jedoch damals – mitten in der Erhard’schen Wirtschaftswunderwelt, in der fast ausschließlich ein technologischer Fortschrittsoptimismus geherrscht hatte – zumeist hoffnungslos Vereinzelte geblieben waren, konnten sie jetzt angesichts der sich verschärfenden politischen und ökologischen Krisenstimmung endlich ein breiteres Publikum für ihre rebellischen Ansichten gewinnen. Einer von ihnen, der damals bereits die Sechziger erreicht hatte, dessen Bücher, Journalartikel sowie spektakuläre Auftritte bei Massendemonstrationen in Brokdorf, Kalkar, Gorleben, Gundelfingen, Mutlangen und Hanau ein beachtliches Aufsehen erregten und bis heute kaum an ideologischer Relevanz verloren haben, war Robert Jungk. Welche Ursachen waren es eigentlich, die Jungk schon in den fünfziger und sechziger Jahren bewegt hatten, eine solche Haltung einzunehmen? Dazu kurz einige biographische Hinweise, die für sich selbst sprechen.1 Schon als 1913 in Berlin geborener Sohn eines jüdischen Schauspielerehepaars hatte er als aufmüpfiger Pennäler nicht gezögert, sich der antibürgerlichen deutsch-jüdischen Jugendgruppe »Die Kameraden« anzuschließen, war im »Sozialistischen Schülerbund« (SSB) sowie der »Internationalen Arbeiterhilfe« (IAH) aktiv geworden und hatte 1932 Kontakte zum antifaschistischen »Gegnerkreis« um Harro Schulze-Boysen aufgenommen. Nach einer kurzen Verhaftung am Tag des Reichstagsbrands war er nach Frankreich geflohen, hatte dort an Filmen von Georg Wilhelm Pabst und Max Ophüls mitgearbeitet und sich dann in der Schweiz als Journalist mit Berichterstattungen über Deutschland und Frankreich durchgeschlagen. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs begab er sich als Korrespondent für Schweizer, deutsche und französische Zeitungen in die USA und ließ sich in Los Angeles nieder. Was ihn in den Vereinigten Staaten besonders kritisch stimmte, waren der maßlose Technikkult und die damit verbundene Naturzerstörung sowie die durch den Kalten Krieg beschworene Gefahr einer atomaren Konfrontation mit der Sowjetunion. So beschrieb Jungk bereits 1952 in seinem Buch Die Zukunft hat begonnen 174

Zukunft zwischen Angst und Hoffnung (1990)

höchst drastisch, wie in Kalifornien durch die Industrialisierung der Landwirtschaft, also die Automation der Gemüse- und Obstproduktion, die künstliche Befruchtung riesiger Rinderherden, die konstante Berieselung und chemische Düngung früherer Wüstengebiete sowie die mit Fließbändern operierenden Hühnerfarmen zwar eine beachtliche Akzeleration der Produktion und damit eine kurzfristige Gewinnsteigerung erreicht worden sei, aber die Natur dabei zusehends verkümmere, während er in seinem damals wesentlich stärker beachteten Buch Heller als tausend Sonnen von 1956 ebenso nachdrücklich auf die von der Nuklearforschung ausgehenden Gefahren hinwies. Nach dieser Publikation verließ er ein Jahr später die USA, ging nach Österreich, beteiligte sich dort an der Bewegung »Kampf dem Atomtod«, nahm an mehreren Ostermärschen teil, gründete 1964 das Wiener »Institut für Zukunftsfragen« und organisierte 1967 mit James Wellesley-Wesley in Oslo die erste Weltkonferenz für Zukunftsforschung. All das führte dazu, dass er 1968 von der Technischen Universität in West-Berlin zu Gastvorlesungen über futurologische Fragestellungen eingeladen wurde, wo er zwei Jahren später eine Honorarprofessur für das neu eingerichtete Fach »Zukunftsforschung« erhielt. Dort setzte er sich im Zuge der allmählich auch auf die ehemalige Bundesrepublik übergreifenden Landkommune-Bewegung zusehends für ein »grünes Leben« auf genossenschaftlicher Basis ein. Eine führende Rolle spielte dabei eine aus einem futurologisch orientierten Seminar Jungks hervorgegangene West-Berliner Gruppe, die sich »Prokol« (Projekt kooperativer Lebensgemeinschaften) nannte. Ihr Zukunftskonzept legte sie 1976 in dem Buch Der sanfte Weg. Technik in einer neuen Gesellschaft vor, in dem sie sich zu einem »Kreislaufdenken« bekannte, das von allen Formen eines linearen Handelns und Taktierens Abschied nimmt. Wofür sich diese Gruppe – trotz aller Einsicht in die höchst komplexe Praxis solcher Wandlungsprozesse – besonders einsetzte, war die Forderung, von einer »umweltfeindlichen« endlich zu einer »umweltfreundlichen Technik« überzugehen. Statt weiterhin vornehmlich im Hinblick auf »Billigkeit und Profit« zu produzieren, also selbst das Unnötigste durch »modisches Design und aggressive Werbung« als den letzten Hit zu präsentieren, das heißt weiterhin wertvolle Rohstoffe zu vergeuden, zur »schleichenden Vergiftung unserer Lebensumwelt« beizutragen und dadurch das »ökologische Gleichgewicht« zu gefährden, trat diese Gruppe im Gefolge Jungks für eine »alternative Kleintechnik« ein und propagierte Biohäuser, Landkommunen und Stadtrandsiedlungen, die »ohne den gewohnten Luxus und Überfluss« auszukommen versuchen.2 Und damit mündeten ihre Anschauungen bruchlos in die zum selben Zeitpunkt entstehende Gesamtbewegung der Grünen ein. Das Gleiche gilt für Robert Jungk. Obwohl er sich weiterhin hauptsächlich für die seit Beginn der achtziger Jahre immer mächtiger anschwellende westdeutsche Friedens- und Antiatombewegung engagierte, unterstützte er zugleich, wie schon 175

Robert Jungk

Abb. 29  Titelseite (1981)

in seinem früheren Buch Die Zukunft hat schon begonnen, auch jene Bemühungen, die sich für eine stärkere Rücksichtnahme auf die natürliche Umwelt einsetzten. Was er dabei ins Auge fasste, war im Sinne seiner progressiven Futurologiekonzepte eine wesentlich umfassendere Vorstellung einer besseren Zukunft als die der meisten damaligen Naturschützer, welche durchaus den Ehrentitel einer »konkreten Utopie« verdient. Dafür spricht vor allem sein im Jahr 1990 erschienener Sammelband Zukunft zwischen Angst und Hoffnung. Plädoyer für die politische Phantasie, in dem er all jene ihm wichtig erscheinenden programmatischen Aufsätze, Manifeste und Reden noch einmal abdrucken ließ, die er seit den sechziger Jahren verfasst hatte. 176

Zukunft zwischen Angst und Hoffnung (1990)

II.

Trotz aller Unterschiedlichkeit liegen diesem Band vor allem drei Themenkomplexe zugrunde: Erstens ging es um das, worin Jungk die Hauptgefahren für den weiteren Verlauf der Menschheitsgeschichte sah, also um Atomrüstung, mögliche Kriege, ungehemmten Rohstoffabbau und fortschreitende Naturzerstörung. Zweitens ging er auf jene manipulatorischen Taktiken ein, mit denen die politischen und wirtschaftlichen Führungsschichten in den hochindustrialisierten Ländern damals versuchten, die Mehrheit ihrer jeweiligen Bürger und Bürgerinnen von diesen Gefahren durch Geheimhaltung, kleinere, unwirksam bleibende Reformen und vorwiegend subjektbetonte Demokratiekonzepte abzulenken. Drittens war es ihm wichtig, auf all jene Versuche friedensbetonter und grüner Widerstandsgruppen hinzuweisen, die sich vorläufig noch als Oasen der Utopie verständen, aber darauf hofften, dass sie eines Tages – im Verbund mit dem zum Bewusstsein ihrer prekären Lage gekommenen breiten Massen der Bevölkerung – den Sturz des herrschenden »Systems« herbeiführen könnten. Beginnen wir bei der Analyse dieses Buchs mit jenen Aspekten, in denen Jungk, wie gesagt, die Hauptgefahrenmomente der schon damals heraufziehenden Krisen­ situationen sah. Obwohl er hierbei marxistische Begriffe wie »Ausbeutung«, »Mehrwert« oder »revolutionären Umsturz« – im Hinblick auf die auch von ihm abgelehnten Staaten des Ostblocks – bewusst vermied, lief seine Kritik an den Missständen der herrschenden politischen und sozioökonomischen Zustände in den hochindustrialisierten Ländern des Westens durchaus auf eine ähnlich geartete Verwerfung der gesellschaftspolitischen Verhältnisse innerhalb der dort dominierenden kapitalistischen Strukturen hinaus, in denen ein möglicher »Fortschritt« nur noch »unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten oder Machtgesichtspunkten« gesehen werde. Im Rahmen dieser Wirtschaftsordnung bemühe man sich daher vornehmlich um eine »ständige Steigerung«. In ihr müsse alles – ohne Rücksicht auf Verluste – »immer schneller, immer hastiger« produziert werden,3 um so die profitvermehrende Kauflust der breiten Massen zu stimulieren und den Export industrieller Güter auf Hochtouren zu halten. Die Folge davon sei ein »zügelloses Anhäufen von Gütern und Eigentum« (107) sowie eine »Perpetuierung der Macht der herrschenden Kreise«, wodurch zwangsläufig »unhaltbare Zustände« eingetreten seien (65). Dieser angebliche »technologische Fortschritt«, wie Jungk erklärte, diene in vielen hochindustrialisierten Ländern nicht den »Bedürfnissen« der dort lebenden Menschen, sondern habe lediglich zu einer Machterweiterung des »Militärs, des Staats und der Wirtschaft« geführt (36). Kein Wunder daher, dass es durch die maßlose »Expansion der Produktion« nicht nur zu einer Kluft zwischen den »materiell Überfütterten und den materiell Vernachlässigten«, sondern auch zu einer »Rohstoff- und Naturkrise« gekommen sei (278). Und das habe eine »industrielle Luftverpestung, 177

Robert Jungk

sowie eine zunehmende Landzerstörung und Verschandelung historischer Stadtlandschaften« bewirkt, wodurch der Himmel zum bloßen »Luftraum«, die Flüsse zu »Abwasser«, die Wiesen zu »Geländen«, ehrwürdige Bauwerke zu »Objekten der Grundstückspekulation« und Naturreservate zu touristischen Erholungsgebieten geworden seien (61), was zwangsläufig zur Ausrottung vieler »Pflanzen- und Tierarten« geführt habe (157). Ja, was noch schlimmer sei, im Zuge dieser Entwicklung würden die Machthabenden immer stärker auf eine verstärkte militärische Aufrüstung drängen und ihr Waffenarsenal mit Atombomben bestücken, um eventuelle, ihre wirtschaftliche Vorherrschaft bedrohende Gegner von vornherein in Schach zu halten, ohne dabei – aus lauter Eigensucht – die Folgen einer solchen Politik zu bedenken. Im zweiten Themenkomplex dieses Buchs ging es Jungk, wie gesagt, vornehmlich um die mannigfachen Taktiken, mit denen die Machthabenden innerhalb der hochindustrialisierten Staaten dieses unfriedliche und naturausbeutende »System« mit allen ihnen zur Verfügung stehenden meinungsbeeinflussenden Medien als ein zutiefst »demokratisches« zu rechtfertigen versuchten, das sich lediglich um den steigenden Wohlstand seiner Bürger und Bürgerinnen bemühe. Und zwar gehe man dabei auf zweierlei Weise vor. In den eher krud verfahrenden Massenmedien bleibe es meist unklar, »in wessen Interesse« über die dort als Fakten ausgegebenen Informationen berichtet werde (176). Mehrheitlich herrsche dabei die Maxime »Je vordergründiger und undurchsichtiger desto besser« vor, um die Nutzer dieser Medien zwar in dem beruhigenden Gefühl einzulullen, über eventuelle Gefahren informiert zu sein, ihnen aber nichts über jene Ursachen mitzuteilen, die dazu geführt hätten. Und wenn über irgendwelche »Umweltrisiken, Arbeitsplatzrisiken oder Rüstungsrisiken« berichtet werde, so würden diese Phänomene nicht als bedrohliche »Überlebensrisiken«, sondern als hoffentlich bald wieder vorübergehende Erscheinungen hingestellt (201). Und so blieben selbst solche Meldungen stets ohne unmittelbare Folgen. Das Gleiche gelte für die »vielen meist unverständlich geschriebenen soziologischen und politologischen ›Papiere‹«, die »Monat um Monat von Akademikern produziert« würden, welche über dem »Speziellen« fast immer das »Generelle« vergäßen (290) und obendrein nicht in einer auch ungebildeten Menschen zugänglichen Diktion verfasst seien, weshalb sie ebenfalls »gesellschaftlich unwirksam« blieben (205). Aufgrund dieser bedauerlichen Auseinanderentwicklung der öffentlichen Meinungsbildung ins Krud-Einlullende beziehungsweise Spezialisiert-­Hermetische habe sich die oft proklamierte Prognose, dass die »wissenschaftlich-technische Revolution« zu einer Bewusstseinserweiterung jener Menschen führen würde, die in den sich als »demokratisch« ausgebenden Gesellschaften leben, keineswegs erfüllt. In »Wahrheit« wüssten daher die gegenwärtigen Bürger und Bürgerinnen in den hoch178

Zukunft zwischen Angst und Hoffnung (1990)

industrialisierten Ländern – trotz der ständig größer werdenden Informationsflut – »meist weniger über die sich anbahnenden Veränderungen als früher« (164). Das Ergebnis dieser Entwicklung sei demzufolge eine bewusst herbeigeführte »Oberflächlichkeit und Verantwortungslosigkeit«, die zu einer »Zukunftslosigkeit« geführt habe, wie es immer wieder heißt, der keine wirksamen »Lebenspläne« mehr zugrunde lägen (159). Selbst in den Künsten und auf erkenntnistheoretischem Gebiet, in denen früher häufig ins Utopisch-Erwünschte tendierende Impulse geherrscht hätten, gebe es heutzutage keine »Jahrhundertbauwerke, keine großen Epen, keine umfassenden philosophischem Systeme mehr, die das tausendfach zerrissene Wissen überzeugend ordnen und deuten könnten« (157), sondern nur noch Ausflüchte, Beschwichtigungen oder ins Sinnlose übergehende Spielereien. Und das habe zu einer Status-quo-Mentalität geführt, die sich mit irgendwelchen Oberflächenphänomenen begnüge, statt den Ursachen der weithin verdrängten Gefahren der gegenwärtigen Risikogesellschaft wirklich auf den Grund zu gehen. III.

Doch nun zu dem dritten Themenkomplex dieses Buchs, mit dem Jungk – nach der Kritik an der herrschenden Misere und den Versuchen, sie zu verschleiern – diesem verhängnisvollen Verlauf der gesellschaftlichen und sozioökonomischen Entwicklung mit grundlegenden Veränderungsvorschlägen entgegenzutreten versuchte. Als die wichtigste Voraussetzung dazu erschien ihm erst einmal, der durch die systemimmanente Meinungsindustrie bewusst herbeigeführten Ahnungslosigkeit breitester Bevölkerungsschichten gegenüber auf die immer bedrohlicher werdenden Gefahren der von der profitgierigen Großindustrie als positiv hingestellten Verstädterung, Bevölkerungszunahme und Konsumsteigerung hinzuweisen, die in ideologischer Hinsicht zu einer weitverbreiteten Lethargie geführt hätten. Und zwar setzte Jungk bei diesen Bemühungen seine Hoffnung nicht auf die Unterstützung durch eine der bereits bestehenden Parteien, die ihm allzu stark in das vorherrschende »System« eingebunden erschienen, sondern als kritischer Vordenker und zugleich als pluralistisch eingestellter Radikaldemokrat, dem jedes festgeschriebene Programm oder gar Dogma von vornherein zuwider war, lieber auf eine durch Proteste und Demonstrationen angefeuerte außerparlamentarische Opposition, für die er sich selber, so gut er es vermochte, in zum Widerstand aufrufende Reden einzusetzen versuchte. Sein Ziel war dabei, eine »Massenmobilisierung der gesellschaftlichen Phantasie« herbeizuführen, aus der sich endlich »Visionen neuer Möglichkeiten« ergeben würden (35). Statt lediglich »Nein« zu sagen, beschwor er seine Hörer und Hörerinnen immer wieder, sich zu der Erkenntnis durchzuringen, dass unser sogenannter »wissen179

Robert Jungk

schaftlich-technischer Fortschritt« vornehmlich »nach wirtschaftlichen Gesichtspunkten« erfolge und daher wegen seiner ideologischen Ziellosigkeit zwangsläufig ins »Chaotische« tendiere (61). Um eine »menschengerechte, menschengeeignete, kurzum humane Zukunft« anzustreben (35), müsse man daher die Mächtigen dieser Welt auffordern, bei all ihren Entscheidungen nicht nur die hemmungslose Weiterentwicklung zu einer noch »moderneren Technik mit all ihren Folgeerscheinungen« ins Auge zu fassen (61), sondern auch auf die Vorschläge der dagegen opponierenden Bevölkerungsschichten zu hören. Was Jungk dabei in den siebziger und achtziger Jahren unter dem Begriff »Bevölkerung« verstand, waren vor allem jene Basisgruppen, die sich im Rahmen der Friedensbewegung, der Antiatomtod-Proteste sowie der alternativ eingestellten »Bunten Listen«, aus denen dann die »Grünen« hervorgingen, für pazifistische und zugleich naturerhaltende Konzepte einzusetzen versuchten, anstatt sich weiterhin mit ideologischen Beschwichtigungsparolen zufriedenzugeben oder sich gar den als unveränderlich hingestellten ökonomischen »Sachzwängen« zu unterwerfen. Jungk reiste daher in diesem Zeitraum, in der Hoffnung, möglichst viele Men­­schen für »die Gestaltung eines humaneren Fortschritts« zu gewinnen (36), geradezu pausenlos von Land zu Land, beteiligte sich an futurologischen Forschungsinstituten und

Abb. 30  Norbert Försterling: Robert Jungk als Redner auf einer Kundgebung in Gundelfingen (24. Juni 1979) 180

Zukunft zwischen Angst und Hoffnung (1990)

ähnlich gesinnten Enquete-Kommissionen, gründete auf Naturerhaltung bedachte Studiengruppen und Zukunftswerkstätten, unterstützte an der West-­Berliner Technischen Universität die Prokol-Kommune und hielt in Brokdorf, Kalkar, Gorleben, Mutlangen, Gundelfingen und Hanau auf den dortigen Protest­versammlungen unter dem Motto »Strom auch ohne Atom« so hinreißende Reden, dass die lokalen Gerichte sogar dagegen einzuschreiten versuchten. Und das, obwohl er ausdrücklich erklärt hatte: »Nicht mit Gewalt, wie ihre Gegner, sondern mit Phantasie, mit Ausdauer, mit Aufklärung werden die Retter heutigen und künftigen Lebens sich schließlich gegen die blinden Verderber durchsetzen« (222). Als hoffnungsvoller Liberaler vertraute er weiterhin darauf, dass sich endlich genug jener »leidenden, bedrängten und dennoch denkenden, erfindungsreichen, handelnden Menschen« entschließen würden, nicht länger »Opfer der von den anderen Menschen zur Steigerung ihrer Macht eingesetzten Instrumente zu werden, sondern sich zu aktivieren und auf die täglich neubeginnende Zukunft Einfluss zu nehmen« (7). Und zwar sollten sie sich dabei, wie er erklärte, vor allem gegen die von den »Mächtigen« herbeigeführten »immer riskanteren Produktionsweisen« wenden, die zu einem »zwanghaften, ungezügelten Konsum, einem oft unerträglichen täglichen Streß, zu unschöpferischer, entfremdeter Arbeit, zu gegenseitiger Ausbeutung und zur Missachtung demokratischer Mitbestimmung« geführt hätten (8). Schließlich seien viele Menschen in Wirklichkeit gar nicht so »dumm, primitiv, denkfaul, konsumsüchtig, passiv oder verführbar, wie von den Produzenten des gängigen Unterhaltungsklamauks oder der Werbung angenommen« werde, sondern durchaus zum »Pläneschmieden« im Hinblick auf eine bessere Zukunft bereit (116). Man müsse ihnen nur ein stärkeres »Eigen­vertrauen und Selbstwertgefühl« einflößen (122). Wie gesagt setzte Jungk seine Hoffnungen in dieser Richtung vor allem auf jene von neuen Zukunftsvorstellungen ausgehenden Basisgruppen, die erkannt hätten, dass das bisherige, auf »Machtdünkel und Profit« beruhende Fortschrittsdenken mit all seinen »Atomkraftwerken, Schnellstraßen usw.« (285) längst zum »Fortschrott« verkommen sei (237). In ihren Reihen glaube man, heißt es in diesem Zusammenhang immer wieder, dass die nicht mehr zu übersehende »Krise«, welche durch »das Wuchern von spezialistischer Forschung, ungezügelter Industrie und egoistischer Ökonomie« entstanden sei (124), nicht »nur das Ende des Alten, sondern auch den Beginn des Neuen« bilde (297). Sie sähen daher ihre Hauptaufgabe darin, mit allen ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln, ob nun durch Alternativpublikationen, Volkshochschulkurse, ökologiebewusste Universitätsveranstaltungen, Zukunfts­werkstätten, Kommunebildungen, Bioläden, neue Formen einer Zukunftsphantasien anregenden Kunst sowie Protestversammlungen und Demonstrationen die breiten, weiterhin systemverhafteten Massen der Bevölkerung zu bewegen, sich von ihrer bisherigen Konsumgier zu distanzieren, sich zu einer größeren Bedürfnis181

Robert Jungk

losigkeit durchzuringen, keine kostbaren Rohstoffe mehr zu verprassen, sich ein naturschonendes Verhalten anzugewöhnen, kurzum »nicht nur das eigene Überleben als wichtigstes Ziel für die weitere Entwicklung aufzustellen, sondern darüber hinaus auch die Möglichkeit eines Anderslebens und Besserlebens« ins Auge zu fassen (109). Was darum Jungk am schärfsten verwarf, war jene systemverhaftete »Futurologie«, wie sie damals in den USA vor allem von Herman Kahn vertreten wurde, der sich in seinem Buch Der kommende Boom. Programm für eine zukunftsorientierte ­Wirtschaftsund Geldpolitik (1983) eine bessere Zukunft nach wie vor von den Innovationen einer ins Grenzenlose gesteigerten »Supertechnik« verspreche,4 ohne sich dabei um die ökologiegefährdenden Auswirkungen einer solchen Entwicklung zu bekümmern (49). Was Jungk dem entgegensetzte, war das Konzept einer »neuen menschen- und umweltfreundlichen Technik«, sprich »Human- oder Neotechnik« (235), die durch eine konsequente Rohstoffdrosselung sowie eine Energieerzeugung »durch Sonne und Wind« (135) den Menschen endlich »ein schönes, schöpferisches, sinnvolles Leben ermöglichen könne«, wie es mit einer ans Utopische grenzenden Hoffnungsfreudigkeit heißt (132). Dieser Glaube werde zwar heute »erst von zahlenmäßig unbedeutenden Minderheiten« geteilt (129), sei aber der einzige Hoffnungsstrahl, der in eine sinnerfüllte Zukunft verweise. Allerdings sollten sich die bereits bestehenden Basisgruppen und Zukunftswerkstätten, wie es ausdrücklich heißt, dabei nicht mit alleingültigen Maximen begnügen. Die maßgebliche Parole dürfe nicht lauten »So wird es sein«, sondern »So könnte es sein« (69), um der schöpferischen Phantasie nicht von vornherein bestimmte Zügel anzulegen. Im Zuge einer solchen Umbesinnung könnten selbst in den Humanwissenschaften, wie Jungk hoffte, aus »fleißigen Kärrnern«, die sich lediglich um »Faktentreue« bemühten, endlich gesellschaftlich verantwortungsbewusste Forscher werden, denen es in ihren »Look-out-Institutionen« vornehmlich um ein ­»Exploratory Forecasting« gehe (73) und die bei der »Erhellung der Zukunft« nicht auf eine »schöpferische Imagination« verzichten würden (95). Anstatt solche Bemühungen weiterhin als »Spinnereien« abzutun (120), wie das auf Seiten hartgekochter Realisten häufig geschehe, wäre es sinnvoller, in ihren Publikationen lieber »konkrete Utopien« zu sehen (121), die sich gegen die systemimmanenten »Aristokraten des wissenschaftlich-­technischen Know-hows« wenden (167) und die Einsicht verbreiten wollen, dass die sogenannte »moderne Gesellschaft« nur durch »entscheidende politische, wirtschaftliche und soziale Strukturveränderungen überhaupt lebensfähig bleiben könne« (180). Daher solle in Zukunft nicht mehr die Maxime »Wissen ist Macht«, sondern die Maxime »Vorauswissen ist Macht« gelten (64). Worauf alle diese Argumente letztlich hinauslaufen, ist die Utopie einer »humanen Gesellschaft«, in der endlich die »grauen Gespenster der Niedergeschlagenheit« verschwinden würden, wie es in liberaler Hoffnungsfreudigkeit auf die Bemühungen 182

Zukunft zwischen Angst und Hoffnung (1990)

der verschiedenen Basisgruppen heißt, und es zu einer »Erweiterung der menschlichen Fähigkeiten und einem Aufblühen der verhinderten Gefühle« kommen werde (40). Um das zu erreichen, dürfe allerdings die soziale Meinungsbildung nicht mehr von den älteren Herrschaftsgruppen monopolisiert werden. Diese Funktion müssten in Zukunft jene Gruppen übernehmen, die bei ihren Vorstellungen einer lebensfähigen Gesellschaft von »kommunalen, regionalen Konzepten« ausgehen würden, statt lediglich auf die systemverpflichteten politischen Parteien zu vertrauen (115). Als Oasen der Utopie, glaubte Jungk, könnten sich daher letztlich nur jene Basisgruppen und Zukunftswerkstätten erweisen, in denen eine »bürgernahe« Gesinnung vorherrsche. Möge sich diese Erwartungshaltung nicht als eine vorübergehende Schimäre herausstellen. Hoffen wir stattdessen nach wie vor darauf, dass sich solche im Zuge der weiter bestehenden, ja sich ständig verschärfenden ökologischen Krisen entstandenen Oasen der Utopie nicht wieder auflösen werden. Denn nur durch ein sinnvolles Zusammenwirken zwischen den vorwärtsdrängenden Basisgruppen und den sich weiterhin zögerlich verhaltenden Regierungsparteien, die immer noch auf den Fetisch der industriellen Zuwachsrate vertrauen, ließen sich die auf uns zukommenden Umweltkatastrophen eventuell vermeiden.

183

Sahra Wagenknecht Aufstehen. Eine Sammlungsbewegung (2018)

I.

Nach dem rebellischen Vorstoß der Außerparlamentarischen Opposition und der studentischen Achtundsechziger sowie der darauf folgenden Alternativen, der Grünen und der Friedensbewegung zwischen 1967 und 1989 sind in der Bundesrepublik irgendwelche mit ins Utopische übergehenden Forderungen auftretenden Gruppenbildungen, die sich gegen das herrschende Gesellschaftssystem wandten, wesentlich seltener geworden. Dennoch hörten sie – angesichts der weiter bestehenden, ja der immer kritischer werdenden ökologischen Gefahren, der Verschärfung der sozialen Gegensätze zwischen einer saturierten Mittelklasse und den verarmenden Teilarbeitenden und Hartz-IV-Empfängern sowie des seit 2015 zunehmenden Stroms von Migranten keineswegs auf. Dadurch entstanden materielle und ideologische Konfrontationen, die zwar die Regierungsparteien mit reformbetonten Bemühungen auszugleichen versuchten, ohne jedoch eine grundsätzliche Beruhigung der hierdurch entstandenen Verhältnisse zu erreichen. Und das führte sowohl zu einer merklichen Verstärkung nationalistischer Unmutserklärungen als auch zu sich verschärfenden Forderungen auf Seiten der Linken, die nicht nur im Bundestag, sondern zum Teil auch bei Streiks oder Straßenumzügen laut wurden. Dafür sprechen nicht nur die Wahlerfolge der »Alternative für Deutschland« im rechten Lager sowie die auf eine größere ökologische Besorgnis drängenden Aktionen der »Greenpeace«-Bewegung, der »Extinction Rebellion« und der über die relativ gemäßigten Forderungen der Grünen weit hinausgehenden »Fridays for Future«Demonstrationen, sondern auch eine Reihe linker Aktionsprogramme, die sich im systemverpflichteten Parteiengetriebe als Wegweiser zu einer gerechteren Gesellschaft ausgaben und von denen besonders die Konzepte der Sammlungsbewegung »Aufstehen« nicht unbeachtet blieben. Dennoch löste die letztgenannte Bewegung nicht jene Breitenwirkung aus, welche die rechten und grünen Aktionen hervorriefen. Ja, wie kam es überhaupt zu einem derartigen Vorstoß sozialistisch gesinnter Gruppen, den die meisten Bundesbürger und Bundesbürgerinnen nach dem Zusammenbruch der DDR und angesichts der sich daraus ergebenden antilinken Sentiments in der BRD kaum noch erwartet hatten? Gut, es gab weiterhin die Partei »Die Linke«, die sogar im Bundestag mitreden durfte, aber sie vertrat lieber einen weitgehend ideologisch gemäßigten Kurs, der nicht über die Prinzipien der in der Bundesrepublik vertretenen Rechtsstaat184

Aufstehen. Eine Sammlungsbewegung (2018)

lichkeit hinausging, während sich die von Sahra Wagenknecht initiierte außerparlamentarische Sammlungsbewegung »Aufstehen« als eine Oase der Utopie verstand, die das gesamte bisher als alleingültig angesehene Wahl- und Parteiensystem in Frage stellen sollte. Um diesen waghalsigen Versuch zu verstehen, sind erst einmal einige Hinweise zur Person Sahra Wagenknechts erforderlich, bevor auf die ideologischen Programmpunkte dieser Bewegung eingegangen werden soll. II.

Wie viele der frühen Mitglieder der 1990 gegründeten Partei des demokratischen Sozialismus (PDS), aus der später die Partei »Die Linke« hervorging, war Wagenknecht bis zu diesem Zeitpunkt DDR-Bürgerin.1 Sie wurde am 16. Juli 1969 in Jena geboren und zog mit ihrer Mutter, die im staatlichen Kunsthandel tätig war, bei Schulbeginn nach Ost-Berlin um. Nach dem Abitur bestritt sie ihren Lebensunterhalt erst einmal mit Nachhilfestunden und schloss sich dann im Frühsommer 1989 als Zwanzigjährige der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) an, um sich an der Erneuerung des in einer Sackgasse steckengebliebenen Sozialismus zu beteiligen, wie sie es später formulierte.2 Nach der Wende studierte sie ab 1990 an der Friedrich-Schiller-Universität in Jena und der Humboldt-Universität in Berlin Philosophie und Neuere deutsche Literatur. Danach ging sie an die holländische Reichsuniversität in Groningen, wo sie bei Hans Heinz Holz, einem der führenden Köpfe der westdeutschen Deutschen Kommunistischen Partei (DKP), 1996 mit einer Arbeit über die Hegelrezeption des jungen Marx den Magistergrad erwarb. Anschließend studierte sie an der Technischen Universität Chemnitz bei dem linksorientierten Professor Fritz Helmedag Volkswirtschaftslehre und schloss ihr Studium mit einer Dissertation zum Thema The Limits of Choice. Savings, Decisions and Basic Needs in Developed Countries ab, die kurz darauf beim Campus Verlag in Frankfurt a. M. als Buch erschien. In den gleichen Jahren war Wagenknecht zugleich Mitglied des Parteivorstands der PDS, wo sie eine vom Bundesverfassungsschutz als »linksextremistisch« eingestufte »Kommunistische Plattform« (KPF) vertrat, die auch von anderen Mitgliedern dieser Partei, wie Gregor Gysi, zeitweilig scharf abgelehnt wurde. Das führte dazu, dass man sie in den Jahren zwischen 1995 und 2000 aus dem Vorstand der PDS ausschloss. Dennoch ließ sich Wagenknecht davon nicht entmutigen. So unterstützte sie etwa ab März 2006 im Rahmen der aus der PDS, wie gesagt, hervorgegangenen Partei »Die Linke« jene Gruppe der »Antikapitalistischen Linken«, die einen betont sozialistischen Kurs vertrat, was erneut parteiinterne Kontroversen auslöste. Trotzdem gelang es ihr, nachdem sie bei der 2009 stattfindenden Bundestagswahl auf Platz 5 der Landesliste in Nordrhein-Westfalen zum Bundestags­mitglied 185

Sahra Wagenknecht

gewählt worden war, im Mai 2010 auf dem Parteitag der Linken mit 75,3 Prozent zur stellvertretenden Parteivorsitzenden gekürt zu werden. Ja, nachdem Gregor Gysi 2015 sein Amt als Fraktionsvorsitzender der Linken im Bundestag aufgab, übernahm sie sogar mit Dietmar Bartsch die Fraktionsleitung dieser Partei, die sie bis zum November 2019 beibehielt. Während all dieser Jahre vertrat Wagenknecht, wie schon aus dieser knappen Zusammenfassung ihrer parteipolitischen Laufbahn hervorgeht, im Rahmen der »Kommunistischen Plattform« sowie der »Antikapitalistischen Linken« als prononcierte Vordenkerin in ihren Bundestagsauftritten, ihren Artikeln für das Neue Deutschland, ihren Online-Beiträgen sowie ihren größeren und kleineren Publikationen3 stets eine gegen das herrschende System gerichtete Haltung, die zwar manchen Mitgliedern ihrer Partei imponierte, aber auch Gegenreaktionen von Seiten der eher »gemäßigt« auftretenden Mitglieder der Linken hervorrief. So wurde zwar begrüßt, dass sie eine Rückkehr zum Sozialismus der DDR strikt ablehnte, aber ihre Parteinahme für die sozialistische Wirtschaftspolitik Kubas und Venezuelas, in der sie einen »Hoffnungsschimmer für die anderen Länder der Dritten Welt« sah,4 häufig kritisiert. Als ebenso überspitzt fanden manche ihrer Parteigenossen und Parteigenossinnen, dass sie im Hinblick auf die Bundesrepublik dafür eintrat, die »Banken und Schlüsselindustrien« zu verstaatlichen, um so das kapitalistische »Diktat der Rendite und Aktienkurse« zu überwinden.5 Volle Unterstützung erfuhr sie allerdings stets dann, wenn sie sich für die Abschaffung des Hartz-IV-Systems oder der Riester-Rente einsetzte und eine »soziale Absicherung« forderte, die auch den Armen in der BRD eine volle »Menschenwürde« garantieren würde.6 Dagegen löste Wagenknecht eine der schärfsten Diskussionen innerhalb ihrer Partei aus, als sie sich 2016 – angesichts der ein Jahr zuvor einsetzenden Migrantenwelle – gegen die wahllose Aufnahme weiterer Flüchtlinge aussprach.7 Schließlich nütze eine uneingeschränkte Öffnung der Grenzen, erklärte sie wiederholt, lediglich den ohnehin vermögenden Schichten, die dadurch in die Lage versetzt würden, die unzähligen Arbeitsmigranten mit Billiglöhnen abzufinden. Um die »große Mehrheit« der Bevölkerung vor solchen Machenschaften zu schützen, ging sie sogar so weit, der Bundeskanzlerin Angela Merkel in dieser Hinsicht ein »völliges Staats­ versagen« vorzuwerfen,8 weil ihre Politik notwendig dazu führe, die »Armen gegen die Ärmsten auszuspielen«.9 Wegen derartiger Äußerungen wurde Wagenknecht am 28. Mai 2016 von »humanitär« gesinnten Aktivisten sogar mit einer Torte beworfen, weil diese darin eine ideologische Annäherung an die rechtsstehende »Alternative für Deutschland« oder gar die Pegida-Bewegung sahen. Ja, der linke Abgeordnete Jan van Aken erklärte, dass solche Äußerungen mit ihrem Amt als Fraktionsvorsitzende der Linkspartei unvereinbar seien, und forderte ihren sofortigen Rücktritt.10 Dennoch gab sie in 186

Aufstehen. Eine Sammlungsbewegung (2018)

diesem Punkt nicht nach, was ihr weiterhin ungerechterweise als Verstoß gegen die im Grundgesetz der Bundesrepublik festgelegten Singularitätsvorstellungen und als typisch ostdeutsche »Wir«-Konzepte vorgeworfen wurde.

Abb. 31  Sahra Wagenknecht auf dem Leipziger Parteitag der Linkspartei (Juni 2018)

Doch nicht nur derartige Verdächtigungen verstimmten Wagenknecht in der Folgezeit. Als ebenso unangebracht empfand sie aufgrund ihrer nicht nachlassenden Widersetzlichkeit die zunehmende Kompromissbereitschaft ihrer eigenen Partei und deren Neigung, irgendwelche Regierungsbildungen mit anderen Parteien anzustreben, statt nach wie vor an einem unversöhnlichen Konfrontationskurs gegen das bestehende »System« festzuhalten. Damit meinte sie vor allem jenen »Schmusekurs gegenüber Rot-Grün«, den sie wegen der tiefen ideologischen Differenz zwischen einem linken Politikverständnis und einer systemverhafteten Parteienwirtschaft scharf ablehnte. Ja, aufgrund dieser innenpolitischen Entwicklung begann sie sogar daran zu zweifeln, ob sich irgendwelche grundsätzlichen sozioökonomischen Änderungen in der BRD überhaupt durch die im Bundestag vertretenen Parteien durchführen ließen. Daher fasste sie im Jahr 2018 mit dem von der SPD zur Partei »Die Linke« übergewechselten Oskar Lafontaine, den sie 2014 geheiratet hatte, den Plan einer linksorientierten Sammlungsbewegung, die als überparteiliche Initiative alle mit der gegenwärtigen Politik der Bundesregierung Unzufriedenen in einer aufmüpfigen 187

Sahra Wagenknecht

Einheitsfront vereinigten sollte, um so den von ihr vertretenen Anschauungen eine effektivere Wirkungsbasis zu verschaffen. Dieser Bewegung, die sie am 4. August 2018 auf einer Internetseite ankündigte,11 gab sie die vorläufige Sammelbezeichnung »Aufstehen«. Damit wollte sie von vornherein klarstellen, dass damit keine neue Partei, sondern die Bereitschaft gemeint war, sich gegen das weiterhin vorherrschende »System« schlechthin aufzulehnen. III.

Offiziell gegründet wurde diese Bewegung, die zum Teil an kurz zuvor entstandene Sammlungsbewegungen dieser Art, wie »La France insoumise« von Jean-Luc Mélenchon, die »Momentum«-Kampagne des britischen Labourvorsitzenden Jeremy Corbyn und die Bewegung »People for Bernie Sanders« in den USA erinnert,12 am 4. September 2018 in Berlin. Obwohl Sahra Wagenknecht als treibende Kraft hinter dem Ganzen stand, fungierte als ihr erster Vorsitzender Bernd Stegemann. Einige Tage später bekannten sich im Spiegel vor allem der Sozialdemokrat Marco Bülow, die Linke Sevim Dagdelen und die Grüne Antje Vollmer zu der überparteilichen Ausrichtung dieser Bewegung, die ebenfalls eine totale Neuorientierung der außen- und innenpolitischen Zielsetzungen innerhalb der Bundesrepublik ins Auge fassten. Und aufgrund einiger spektakulärer Auftritte Wagenknechts gelang es dieser Bewegung sogar binnen weniger Wochen fast 170.000 »Unterstützer« für dieses revolutionäre Projekt zu gewinnen. Ja, laut einer Umfrage des Kantar-Emnid-Instituts konnten sich zu diesem Zeitpunkt fast 35 Prozent der Bundesbürger und Bundesbürgerinnen vorstellen, »Aufstehen« zu wählen, falls diese Organisation bei kommenden lokalen oder nationalen Wahlen als Partei auftreten würde.13 Obwohl im Gründungsaufruf dieser Bewegung ausdrücklich betont wurde, dass noch kein durchformuliertes Programm existiere, da dieses erst in Einklang mit den Basismitgliedern erarbeitet werden solle, waren von Anfang an folgende politische Zielsetzungen klar zu erkennen: 1) eine neue Friedenspolitik, die nur durch eine größere Unabhängigkeit von den USA zu erreichen sei, 2) ein neues Wirtschaftssystem, das auf sicheren Arbeitsplätzen, ausreichenden Löhnen und gerechteren Steuern beruhen würde, 3) ein nachhaltigerer Umgang mit der Natur, 4) wesentlich umfassendere Bildungsmöglichkeiten, 5) ein Verbot von Waffenexporten in sogenannte Spannungsländer sowie 6) eine Reduzierung des Einflusses von Konzernen und Banken auf die politische Meinungsbildung durch Lobbyisten und Geldspenden an ihnen dienliche Parteien, um so eine »direkte Demokratie« zu ermöglichen, aus der ein Sozialstaat hervorgehen würde, der sowohl die bisherigen Klassengegensätze abschaffen als auch einen vernünftigeren Umgang mit den natürlichen Ressourcen anstreben würde. 188

Aufstehen. Eine Sammlungsbewegung (2018)

Und zwar bediente sich diese Sammlungsbewegung dabei folgender Strategien, um die von ihr angestrebte Breitenwirkung zu erzielen. So stellte sie bereits am 4. September 2018 auf ihrer Open-Source-Software Pol.is ihre zentralen Programmpunkte vor und rief zu Stellungnahmen dazu auf.14 Am 3. November 2018 forderte sie ihre Anhänger erstmals zu einem Aktionstag auf, bei dem es vor allem um größere Investitionen in die Sozialpolitik ging, um damit sowohl die mit derartigen Bestrebungen Übereinstimmenden innerhalb der Linken als auch der SPD und der Grünen für ihr Programm einer verstärkten Widersetzlichkeit zu gewinnen. Und das überzeugte auch manche Mitglieder dieser Parteien. Um diesen Trend zu unterstützen, setzte sie sich im Februar 2019 dafür ein, eine bundesweite Aktion »Bunter Westen« durchzuführen, bei der es in verschiedenen Städten sogar zu Aufsehen erregenden Demonstrationen kam. Allerdings stieß Wagenknecht mit solchen Aufrufen und Aktionen bei den führenden Vertretern der von ihr angesprochenen Parteien vielfach auf Widerstand. So distanzierte sich etwa Dietmar Bartsch, der andere Fraktionsvorsitzende der Linken im Bundestag, welcher eher einen Wechsel nach Mitte-Links befürwortete, von Wagenknechts Reaktivierung irgendwelcher ins Radikale übergehenden ideologischen Positionen.15 Das Gleiche taten führende Vertreter der SPD und der Grünen. Noch schärfer setzten sich manche systemimmanenten Journalisten in den maßgeblichen Tageszeitungen von Wagenknechts Bemühung um eine sogenannte »direkte Demokratie« ab, die sie als unzeitgemäß, wenn nicht gar als ein »rotes Sommermärchen« hinstellten.16 Und so ließ das Interesse an diesem waghalsigen Versuch, eine Antipartei jenseits der bestehenden Parteien zu gründen, bereits nach wenigen Wochen wieder nach. Demzufolge gab Wagenknecht im März 2019 ihren Rückzug aus der Spitze dieser Bewegung bekannt, da sie einsah, dass sich die von ihr angesprochenen Parteien mehrheitlich gegen ihre Bemühungen »einzumauern« versuchten. IV.

Obwohl die Sammlungsbewegung »Aufstehen« weiterhin existiert und von Zeit zu Zeit zu Aktionstagen aufruft, hat sie nach dem Ausscheiden von Sahra Wagenknecht nicht jene Breitenwirkung erreicht, die sie ursprünglich zu erzielen hoffte. Ihre Mitglieder blieben vorwiegend Akademiker und Akademikerinnen, Autoren und Autorinnen, Journalisten und Journalistinnen sowie Gewerkschaftsfunktionäre und -funktionärinnen, die sich zwar in zahlreichen deutschen Städten zu lockeren Aktionsgruppen zusammenschlossen, denen es aber nicht gelang, das systemimmanente Mehrheitsdenken der sogenannten breiten Massen in ihrem Sinne zu beeinflussen, das heißt gegen die »Übermacht der Banken, Konzerne und Lobby­ 189

Sahra Wagenknecht

isten« aufzutreten sowie eine Zunahme ökologischer Gefahren zu verhindern, wie es im Gründungsaufruf von »Aufstehen« hieß.17 Und so ist auch diese Bewegung, wie so viele solcher widersetzlichen Gruppenbildungen in den innenpolitischen Auseinandersetzungen der Bundesrepublik, eine jener »utopischen Oasen« geblieben, in denen Jürgen Habermas schon Jahrzehnte zuvor ein notwendiges Regulativ gesehen hatte, ohne das sich in einer Gesellschaft zwangsläufig »Banalität und Ratlosigkeit« verbreiten würden.18 Einem solchen Statement werden zwar viele Vertreter und Vertreterinnen der gegenwärtig ton­angebenden Parteien entgegenhalten, dass es heute nicht mehr um ins Utopische übergehende Umwälzungen gehe, sondern dass die Bundesrepublik bereits jener Staat sei, dem man nach vielen Verfehlungen innerhalb der deutschen Geschichte endlich jene seit der Aufklärung des 18. Jahrhunderts geforderte, auf rechtsstaatlichen Prinzipien beruhende »demokratische« Form gegeben habe, die zwar im Zuge der sozioökonomischen Wandlungsprozesse von Zeit zu Zeit einiger Reformen bedürfe, aber letztlich die beste Basis für den relativ wohlfunktionierenden »Industriestandort Deutschland« bilde. Dass sich diese Vorstellung – angesichts der sich verschärfenden Klassenspaltung sowie der heraufziehenden ökologiebedingten Gefahren – als eine Illusion erweisen könnte, sollte allerdings schon heute nicht mehr übersehen werden. Hören wir daher auch weiterhin auf die Stimmen jener ideologischen Vordenker und Vordenkerinnen, die sich um Auswege aus dieser Situation bemühen. Schließlich genügt es nicht, bei solchen Bemühungen lediglich mit liberaldemokratischer Absicht auf eine biopolitische Perfektionierung im Sinne einer verstärkten Political Correctness zu dringen, wie es in den Programmen jener Soziologen und Soziologinnen meist heißt, die sich vor allem für zunehmende Singularitätsbemühungen einsetzen. Zugegeben, auch derartige Bestrebungen sind im Hinblick auf Frauen, Migranten, Homosexuelle und Behinderte weiterhin nötig. Aber gilt es nicht auch, auf jene sich verschärfenden Klassengegensätze und die sich daraus ergebenden Folgen hinzuweisen, die dem Ideal einer wahrhaften Demokratie, das heißt Volksherrschaft, nach wie vor entgegenstehen? Und das glaubten Sahra Wagenknecht und ihre Anhänger und Anhängerinnen, wie so viele Vertreter und Vertreterinnen früherer Aufstandsbewegungen, weniger im Rahmen der im Mehrheitsdenken befangenen offiziellen Parteien als durch eine außerparlamentarische Bewegung erreichen zu können, mit der sie in utopischer Hoffnung die kritisch gestimmten Außenseiter und Außenseiterinnen jenseits der üblichen Wählergruppen für sich zu gewinnen versuchten, von denen sie sich eine grundsätzliche Neubesinnung in ökologischer und soziopolitischer Hinsicht versprachen.

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Anmerkungen

Da die Vielfalt der in diesem Buch angeschnittenen Problemumkreise eine umfassende bibliographische Dokumentation der jeweiligen Sekundärliteratur unmöglich macht, wird in den folgenden Anmerkungen lediglich auf einige besonders markante Beispiele der bisherigen Utopieforschung hingewiesen. Die Computerisierung meines Manuskripts besorgten wiederum Carol Poore und Brian Wilt. Marc Silberman half mir bei der Materialbeschaffung zu den Brechtund Müller-Abschnitten. Allen dreien sei auch an dieser Stelle nochmals mein aufrichtiger Dank ausgesprochen.

Vorwort 1 Vgl. Richard Saage: Politische Utopien in der Neuzeit, Darmstadt 1991. 2 Vgl. Thomas Nipperdey: Die Funktion der Utopie im politischen Denken der Neuzeit.

In: Archiv für Kulturgeschichte 44, 1967, S. 366.

3 Vgl. schon Hans Freyer: Die politische Insel. Eine Geschichte der Utopien von Platon

bis zur Gegenwart, Stuttgart 1936, S. 127.

4 Immanuel Kant: Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? In: Berlinische Monats-

schrift, 1784, Heft 12, S. 481.

5 Vgl. u. a. Klaus R. Scherpe: Literarische Praxis des deutschen Jakobinismus. In: Wei-

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marer Beiträge 29, 1983, S. 2169–2175, Walter Grab: Ein Volk muss seine Freiheit selbst erobern. Zur Geschichte der deutschen Jakobiner, Frankfurt a. M. 1984, und meinen Aufsatz: Liberté – Égalité – Fraternité. Die Postulate einer unvollendeten Revolution. In: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit. 200 Jahre Französische Revolution in Deutschland. Hrsg. von Gerhard Bott, Nürnberg 1989, S. 31–40. Vgl. u. a. mein Buch: Verlorene Illusionen. Eine Geschichte des deutschen Nationalismus, Köln 2012, S. 73 ff. Vgl. Revolutio germanica. Die Sehnsucht nach der »alten Freiheit« der Germanen. Hrsg. von Jost Hermand und Michael Niedermeier, Frankfurt a. M. 2002, S. 5 ff. Vgl. Carol Poore: Ein Gespenst geht um in Europa. Geheimgesellschaften und die Anfänge der deutschen Arbeiterbewegung. In: Deutsche Geheimgesellschaften von der Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart. Hrsg. von Jost Hermand und Sabine Mödersheim, Köln 2013, S. 93–120. Vgl. Richard Hamann: Der Impressionismus in Leben und Kunst, Köln 1907. Vgl. Eduard Bernstein. Der einflussreichste Vertreter eines antimarxistischen Revisionismus innerhalb der wilhelminischen Sozialdemokratie. In Jost Hermand: »Völker, hört die Signale!« Zum Bekennermut deutsch-jüdischer Sozialisten und Sozialistinnen, Köln 2020, S. 65–78.

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Anmerkungen

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Vgl. Franz Oppenheimer: Freiland in Deutschland, Berlin 1895, S. 489 ff. Vgl. Richard Saage: Politische Utopien der Neuzeit (wie Anm. 1), S. 151 ff. Vgl. Franz Oppenheimer: Freiland in Deutschland (wie Anm. 11), S. 43. Vgl. meinen Aufsatz: Die Lebensreformbewegung um 1900. Wegbereiter einer natur­ gemäßeren Daseinsform oder Vorboten Hitlers? In: Lebensreform. Die soziale Dynamik der politischen Ohnmacht. Hrsg. von Marc Cluet und Catherine Repussard, Tübingen 2013, S. 51–62. Vgl. William H. Rollins: A Greener Vision of Home. Cultural Politics and Environmental Reform in the German Heimatschutz Movement, 1904–1918, Ann Arbor 1997. Vgl. mein Buch: Der alte Traum vom neuen Reich. Völkische Utopien und Nationalsozialismus, Weinheim, 2. Aufl., 1995, S. 78 ff. Vgl. Günter Hartung: Völkische Ideologie. In: Handbuch zur »Völkischen Bewegung« 1871–1918. Hrsg. von Uwe Puschner, Walter Schmitz und Justus H. Ulbricht, München 1996, S. 22–44. Vgl. Joseph Ludwig Reimer: Ein pangermanisches Deutschland, Berlin 1905, S. 345. Vgl. Heidi und Wolfgang Beutin: Fanfaren einer neuen Freiheit. Deutsche Intellektuelle und die Novemberrevolution, Darmstadt 2018. Vgl. Ernst Glaeser und F.  C. Weiskopf: Der Staat ohne Arbeitslose. Drei Jahre »Fünfjahresplan«, Berlin 1931. Vgl. Ludolf Herbst: Der Totale Krieg und die Ordnung der Wirtschaft. Die Kriegswirtschaft im Spannungsfeld von Politik und Ideologie 1939–1945, Stuttgart 1982, S. 130. Vgl. meinen Aufsatz: Der Kalte Krieg in der Literatur. Über die Schwierigkeiten bei der Rückgliederung deutscher Exilautoren und autorinnen nach 1945. In: Ende des Dritten Reiches – Ende des Zweiten Weltkriegs. Hrsg. von Hans Erich Volkmann, München 1995, S. 595 f. Vgl. mein Buch: Pop International. Eine kritische Bilanz, Frankfurt a. M. 1971, S. 171 ff., und Lawrence Baron, Gad Ben-Ami, Katherine Goodman, Asta Heller, Otto Koester und Anthony Niesz: Der »anarchistische« Utopismus der westdeutschen Studentenbewegung. In: Deutsches utopisches Denken im 20. Jahrhundert. Hrsg. von Reinhold Grimm und Jost Hermand, Stuttgart 1974, S. 120–134. Vgl. mein Buch: Brennpunkt Ökologie. Kulturelle und gesellschaftspolitische Interventionen, Köln 2020, S. 157. Francis Fukuyama: The End of History? In: The National Interest 16, 1989, S. 3–18. Richard Saage: Politische Utopien der Neuzeit (wie Anm. 1), S. IX. Ralf Dahrendorf: Betrachtungen über die Revolution in Europa, Stuttgart 1990, S. 147. Johano Strasser: Leben ohne Utopie?, Frankfurt a. M. 1990, S. 10 f. Rolf Schwendtner: Utopie. Überlegungen zu einem zeitlosen Begriff, Frankfurt  a. M. 1994, S. 24. Vgl. Andreas Reckwitz: Die Gesellschaft der Singularitäten. Zum Strukturwandel der Moderne, Berlin 2018. Jürgen Habermas: Die neue Unübersichtlichkeit, Frankfurt a. M. 1985, S. 161.

Irenaeus Hygiophilus 1 Vgl. Wolfgang Wanzke: Antiquariat Nr. 16, Gessertshausen 2017, S. 28. 2 Vgl. Wolf-Friedrich Schäufele: Christoph Matthäus Pfaff (1686–1760) als Tübinger

192

Anmerkungen

Universitätskanzler und Professor. In: Die Universität Tübingen zwischen Orthodoxie, Pietismus und Aufklärung. Hrsg. von Ulrich Köpf, Ostfildern 2014, S. 123–156. 3 Irenaeus Hygiophilus: Etwas Nagel=Funkel=Neues auß dem Stuttgartischen Journal und Controversisten=Spital etc., Augsburg 1727, S. 42. Die Seitenzahlen im Text beziehen sich auf dieses Buch. 4 Vgl. dazu allgemein Tim Christian Elkar: Leben und Lehre. Dogmatische Perspektiven auf lutherische Orthodoxie und Pietismus, Frankfurt a. M. 2005. 5 Vgl. Johann Friedrich Gauthe: Historisches Helden- und Heldinnen-Lexikon, Leipzig 1716, und Amarantes (Corvinus): Nutzbares, galantes und kurioses Frauenzimmer-Lexikon, Leipzig 1715. Vgl. hierzu auch das im »Archiv für philosophie- und theologiegeschichtliche Frauenforschung«, Bd. III, München 1986, von Elisabeth Gössmann herausgegebene Buch von Johann Caspar Eberti: Eröffnetes Cabinet Deß Belehrten Frauen-Zimmers Darinnen Die Berühmtesten dieses Geschlechts umbständlich vorgestellt werden, Frankfurt und Leipzig 1706.

Johann Pezzl 1 Vgl. u. a. Paul von Mitrofanov: Joseph II. Seine politische und kulturelle Tätigkeit, Wien

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1910, Fritz Valjavec: Der Josephinismus, München 1945, Eduard Winter: Der Josefinismus. Die Geschichte des Österreichischen Reformkatholizismus, Berlin 1962, Ernst Wangermann: The Austrian Achievement, 1700–1800, London 1973, Elisabeth BradlerRothmann: Die Reformen Kaiser Josephs II., Göppingen 1973, und Leslie Bodi: Tauwetter in Wien. Zur Prosa der österreichischen Aufklärung 1781–1795, Frankfurt a. M. 1977. Vgl. Constantin von Wurzbach: Johann Pezzl. In: Biographisches Lexikon des Kaiserthums Österreich, 22. Teil, Wien 1870, S. 160, und Gustav Gugitz: Johann Pezzl. In: Jahrbuch der Grillparzer-Gesellschaft 16, 1906, S. 164–217. Constantin von Wurzbach: Johann Pezzl (wie Anm. 2), S. 160. [Johann Pezzl]: Briefe aus dem Novizitat, o. O. 1780, Bd. I, S. 5. Ebd., Bd. I, S. 12. Ebd., Bd. I, S. 42, 59. Ebd., Bd. II, S. 122. Ebd., Bd. III, S. 33. Vgl. u. a. Leslie Bodi: Tauwetter in Wien (wie Anm. 1), S. 184–190, Christoph Siegrist: Antitheodizee und Zeitkritik. Zur Situierung von Pezzls Roman »Faustin«. In: Die österreichische Literatur. Ihr Profil an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert (1750–1830). Hrsg. von Herbert Zeman, Graz 1979, Bd. II, S. 828–851, Gerhard Steiner: Freimaurer und Rosenkreuzer, Berlin 1985, S. 180 f., Klaus Zeyringer: »Geistvolle Satire« und/oder »grobschlächtiges Konglomerat tendenziöser Anekdoten«? Zu Voltaires »Candide« und Johann Pezzls »Faustin«. In: Arcadia 25, 1990, S. 144–159, und Sigrid Schmid-Bortenschlager: Voltaires »Candide ou l’optimisme« und Johann Pezzls »Faustin oder das philosophische Jahrhundert«. Parallelen und Differenzen. In: Sprachkunst 27, 1996, 2, S. 203–215. Vgl. Hans Mayer: Voltaire und sein Candide. In Voltaire: Candide oder der Optimismus, Frankfurt a. M. 1989, S. 165. Ebd., S. 5. [Johann Pezzl]: Faustin oder das philosophische Jahrhundert, [Zürich] 1788, S. 3. Die Seitenzahlen im Text beziehen sich auf diese Ausgabe. 193

Anmerkungen

13 Vgl. Constantin von Wurzbach: Johann Joseph Gaßner. In: Biographisches Lexikon

des Kaiserthums Österreichs, 5. Theil, Wien 1859, S. 99 f., Josef Hanauer: Der Exorzist Johann Joseph Gaßner (1727–1779), Diss. Würzburg 1950, und H. C. Erik Midelfort: Exorcism and Enlightenment. Johann Joseph Gassner and the Demons of EighteenthCentury Germany, New Haven 2005. 14 Vgl. u. a. Walter Grab: Ein Volk muss seine Freiheit selbst erobern. Zur Geschichte der deutschen Jakobiner, Frankfurt a. M. 1984, S. 408–428.

Wilhelm Friedrich Meyern 1 Vgl. hierzu allgemein Helmut Reinalter: Aufklärung, Humanität und Toleranz. Die

Geschichte der Freimaurer im 18. Jahrhundert, Innsbruck 2017.

2 Vgl. Jan Assmann: Das alte Ägypten und die Illuminaten. In: Deutsche Geheimge-

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sellschaften von der Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart. Hrsg. von Jost Hermand und Sabine Mödersheim, Köln 2013, S. 59 f. Vgl. ebd., S. 70. Vgl. u. a. Rosemarie Nicolai-Haas: Die Anfänge des deutschen Geheimbundromans. In: Geheime Gesellschaften. Hrsg. von Peter Christian Ludz, Heidelberg 1979, S. 267–292, Manfred Agethen: Geheimbund und Utopie. Illuminaten, Freimaurer und deutsche Spätaufklärung, München 1987, Michael Voges: Aufklärung und Geheimnis, Tübingen 1987, Monika Neugebauer-Wölk: Esoterische Bünde und bürgerliche Welt. Entwicklungslinien zur modernen Welt des Geheimbundwesens des 18. Jahrhunderts, Göttingen 1993, Linda Simonis: Die Kunst des Geheimen. Esoterische Kommunikation und ästhetische Darstellung im 18. Jahrhundert, Heidelberg 2002, Wilhelm Voßkamp: Utopie und Geheimnis. In: Deutsche Geheimgesellschaften (wie Anm. 2), S. 15–30, und Jan Assmann: Religio Duplex. Ägyptische Mysterien und europäische Aufklärung, Berlin 2016, S. 122–154. Vgl. Arno Schmidt: Dya-Na-Sore, blondeste aller Bestien. In ders.: Dya-Na-Sore, Gespräche in einer Bibliothek, Karlsruhe 1958, S. 14–53, und Wolfgang Harich: Jean Pauls Revolutionsdichtung. Versuch einer neuen Deutung seiner heroischen Romane, Berlin 1974, S. 175. Wilhelm Friedrich Meyern: Dya-Na-Sore, Frankfurt a. M. 1979. Vgl. Günter de Bruyn: Taten und Tugenden. »Dya-Na-Sore«, Meyern und Arno Schmidt. In ders.: Lesefreuden. Über Bücher und Menschen, Frankfurt  a. M. 1986, S. 71–108. Vgl. Wolfgang Griep: Wilhelm Friedrich Meyern. In: Neue deutsche Biographie 17, 1994, S. 397 f. Vgl. Wolfgang Griep: Abdul Erzerums neue persische Briefe. Ein politischer Reiseroman der Spätaufklärung und sein Verfasser. In: Die österreichische Literatur. Ihr Profil an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert, Wien 1979, S. 805–828. Vgl. Arno Schmidt: Dya-Na-Sore (wie Anm. 5). Vgl. Wolfgang Harich: Jean Pauls Revolutionsdichtung (wie Anm. 5). [Wilhelm Friedrich Meyern]: Dya-Na-Sore oder die Wanderer. Bd. I, Wien und Leipzig, 2. Aufl., 1791. Die Seitenzahlen der Zitate dieser Ausgabe werden im Text nachgewiesen. [Wilhelm Friedrich Meyern]: Dya-Na-Sore oder die Wanderer. Bd. II, Wien und Leipzig 1789. Die Seitenzahlen der Zitate dieser Ausgabe werden im Text nachgewiesen.

Anmerkungen

14 [Wilhelm Friedrich Meyern]: Dya-Na-Sore oder die Wanderer. Bd. III, Wien und Leip-

zig 1791. Die Seitenzahlen der Zitate dieser Ausgabe werden im Text nachgewiesen.

15 Vgl. Claudia Michels: Idealstaat ohne Volk. Die skeptische Utopie des Wilhelm Fried-

rich Meyern, Berlin 1999.

16 Vgl. Walter Grab: Die Wiener Jakobiner. In ders.: Ein Volk muss seine Freiheit selbst

erobern. Zur Geschichte der deutschen Jakobiner, Frankfurt a. M. 1984, S. 424 f.

17 Vgl. Günter de Bruyn: Taten und Tugenden (wie Anm. 7), S. 106. 18 Vgl. u. a. meinen Aufsatz: Das offene Geheimnis. Caspar David Friedrichs nationale

Trauerarbeit. In Jost Hermand: Sieben Arten an Deutschland zu leiden, Königstein 1979, S. 1–42.

Carl Ignaz Geiger 1 Vgl. Adolph. Ein Beitrag zur Gelehrten-Geschichte unsers Zeitalters. In: Der neue

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deutsche Zuschauer 7, 1791, S. 166. Auch die folgenden auf Geigers Biographie bezüglichen Zitate sind dieser anonym erschienenen Selbstbiographie entnommen. Zu Geiger allgemein vgl. meinen Aufsatz: Der Fall Geiger. In Jost Hermand: Von Mainz nach Weimar. Studien zur deutschen Literatur, Stuttgart 1969, S. 55–98. Sind die Kaiserl. Königl. peinlichen Strafgesetze der Politik und dem Staats- und Naturrechte gemäß? Eine Patriotenfrage, Leipzig 1788, S. 5. Vgl. Nürnbergische gelehrte Zeitung 13, 1789, S. 524. Vgl. meinen Aufsatz: Carl Ignaz Geiger: Friedrich II. als Schriftsteller im Elisium. In Jost Hermand: Unbequeme Literatur. Eine Beispielreihe, Heidelberg 1971, S. 21–39. Vgl. [Carl Ignaz Geiger]: Friedrich  II. als Schriftsteller im Elisium, Constantinopel [Augsburg] 1789, S. 42 f. Dr. Geiger: Der teutsche Engelländer, oder John Littleman, sonst genant: Johann Kleinmann, Regensburg 1789, S. 24. So Friedrich Wilhelm von Steuben in Schlözers »Briefwechsel« 7, 1782, S. 333. Carl Ignaz Geiger: Reise eines Erdbewohners in den Mars. Hrsg. von Jost Hermand, Stuttgart 1967, S. 84. Carl Ignaz Geiger: Laster ist oft Tugend oder: Leonore von Welten. Hrsg. von Jost Hermand, St. Ingert 1994, Vorbericht, S. 8. Ebd., S. 41.

Johann Gottlieb Fichte 1 Vgl. Marie Hendel: Beiträge zur Würdigung des preußischen Finanzministers Carl Au-

gust von Struensee, Göttingen 1920, S. 6.

2 Vgl. Johann Gottlieb Fichte: Schriften zur Revolution. Hrsg. von Bernhard Willms,

Frankfurt a. M. 1973, S. 33.

3 Vgl. Ottfried Höffe: Klassiker der Philosophie, München 2008, S. 38. 4 Vgl. Hans-Helmut Lamatsch: Fichte und die hermetische Demokratie der Freimaurer.

In: Sozialphilosophie. Fichte-Studien, Bd. III. Hrsg. von Klaus Hammacher et al., Amsterdam 1991, S. 204. 5 Vgl. Andreas Verzar: Das autonome Subjekt und der Vernunftstaat. Eine systematischhistorische Untersuchung zu Fichtes »Geschlossenem Handelsstaat«, Bonn 1979, Ri195

Anmerkungen

chard Saage: Zur Konvergenz von konstruktivistischem und utopischem Denken in Johann Gottlieb Fichtes »Der geschlossene Handelsstaat«. In: Die Politisierung des Utopischen im 18. Jahrhundert. Hrsg. von Monika Neugebauer-Wölk und Richard Saage, Tübingen 1996, S. 47–61, Isaac Nakhimovsky: The Closed Commercial State, Princeton 2011, und Fichtes Geschlossener Handelsstaat. Beiträge zur Erschließung eines AntiKlassikers. Hrsg. von Thomas Sören Hoffmann, Berlin 2018. 6 Johann Gottlieb Fichte: Der geschlossene Handelsstaat, Tübingen 1800, S. 3. Die Seitenzahlen im Text beziehen sich auf diese Ausgabe. 7 Vgl. hierzu mein Buch: Verlorene Illusionen. Eine Geschichte des deutschen Nationalismus, Köln 2012, S. 81 ff. 8 Vgl. Ernst Bloch: Freiheit und Ordnung. Abriss der Sozial-Utopien, New York 1946, S. 108.

Ernst Moritz Arndt 1 Vgl. meinen Aufsatz: Louis Bonaparte oder Ludwig van Beethoven? Vom Anderen und

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8

vom Selbst in der »Sinfonia eroica«. In Jost Hermand: Beethoven. Werk und Wirkung, Wien, 2. Aufl., 2020, S. 65–84. Vgl. Hans-Ulrich Wehler: Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd.  II, München 1987, S. 183 ff. Vgl. mein Buch: Verlorene Illusionen. Eine Geschichte des deutschen Nationalismus, Köln 2012, S. 81 ff. Vgl. Revolutio germanica. Die Sehnsucht nach der »alten Freiheit« der Germanen 1750– 1820. Hrsg. von Jost Hermand und Michael Niedermeier, Frankfurt a. M. 2002, S. 14 ff. Ernst Moritz Arndt: Kurzer Katechismus für den teutschen Kriegs- und Wehrmann, 1813, S. 8. Vgl. meinen Aufsatz: Heinrich Heine und die Burschenschaft. In Jost Hermand: Judentum und deutsche Kultur, Köln 1996, S. 38 ff. Ernst Moritz Arndt: Ein Wort über die Pflegung und Erhaltung der Forsten und Bauern im Sinne einer höheren d. h. menschlichen Gesetzgebung, Schleswig 1820. Die Seitenzahlen der Zitate aus diesem Buch werden im Text vermerkt. Vgl. Ernst Bloch: Freiheit und Ordnung. Abriss der Sozial-Utopien, New York 1946, S. 7.

Karl Marx 1 Vgl. dazu u. a. Joachim Israel: Der Begriff Entfremdung, Reinbek 1972, István Mészáros:

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196

Der Entfremdungsbegriff bei Karl Marx, München 1973, und Alfred Oppolzer: Entfremdung und Industriearbeit, Köln 1974. Karl Marx/Friedrich Engels: Werke, im Folgenden als MEW zitiert, Bd. XL, Berlin 1968, S. 533. Ebd., S. 536 f. Vgl. Carol Poore: Ein Gespenst geht um in Europa. Geheimgesellschaften und die Anfänge der deutschen Arbeiterbewegung. In: Deutsche Geheimgesellschaften von der Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart. Hrsg. von Jost Hermand und Sabine Mödersheim, Köln 2013, S. 93–120. MEW, Bd. III, Berlin 1969, S. 35. Ebd., S. 26.

Anmerkungen

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MEW, Bd. XL, S. 514. MEW, Zur Kritik der politischen Ökonomie, Bd. XIII, Berlin 1961, S. 9. MEW, Bd. III, S. 28. Ebd., S. 30. Ebd., S. 35. Ebd., S. 36. Vgl. Frigga Haug: Arbeitsteilung. In: Historisch-kritisches Wörterbuch des Marxismus. Hrsg. von Wolfgang Fritz Haug, Hamburg, 2. Aufl., 1996, S. 566–582. MEW, Bd. III, S. 33. Ebd., S. 379. MEW, Manifest der Kommunistischen Partei, Bd. IV, Berlin 1977, S. 482. Vgl. u. a. Alfred Sohn-Rethel: Geistige und körperliche Arbeit, Frankfurt  a. M. 1970, und Oskar Negt: Lebendige Arbeit, enteignete Zeit, Frankfurt a. M. 1984. MEW, Bd. XXV, Berlin 1964, S. 828. Vgl. meinen Aufsatz: Jenseits von Job und Freizeit. Zur Utopie der »Freien Assoziation der freien Produzenten«. In Jost Hermand: Orte. Irgendwo. Formen utopischen Denkens, Königstein 1981, S. 157–180. Vgl. hierzu Carl-Erich Vollgraf: Marx und Engels bis zuletzt in utopischen Dimensionen. In: Marx, Engels und utopische Sozialisten. Hrsg. von Rolf Hecker et al., Berlin 2017, S. 63–92. MEW, Bd. XXIII, Berlin 1962, S. 528.

Moses Hess 1 Vgl. u. a. Wanda Kampmann: Deutsche und Juden. Die Geschichte der Juden in Deutsch­

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land vom Mittelalter bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs, Heidelberg 1967, S. 98 ff., und Walter Grab: Der deutsche Weg der Judenemanzipation 1789–1938, München 1991, S. 7 ff. Moses Mendelssohn: Gesammelte Schriften, Leipzig 1843, Bd. III, S. 358. Vgl. Wanda Kampmann: Deutsche und Juden (wie Anm. 1), S. 112 f. Sulamith. Eine Zeitschrift für die Beförderung der Kultur und Humanität 3, 1811, S. 239. Vgl. u. a. Karl Robert Mandelkow: Die bürgerliche Bildung in der Rezeptionsgeschichte der deutschen Klassik. In: Bildungsbürgertum im 19. Jahrhundert. Hrsg. von Reinhard Koselleck, Stuttgart 1990, S. 192 f., und George L. Mosse: Jüdische Intellektuelle zwischen Religion und Nationalismus. Mit einem Vorwort von Aleida Assmann, Frankfurt a. M. 1992, S. 19 ff. Isaak Markus Jost: Neuere Geschichte der Israeliten von 1815 bis 1845, Berlin 1846, S. 1 f. Vgl. Dietz Bering: Der Name als Stigma. Antisemitismus im deutschen Alltag 1812–1933, Stuttgart 1987. Vgl. vor allem Edmund Silberner: Moses Hess. Geschichte seines Lebens, Leiden 1966, aber auch Helmut Hirsch: Moses Hess. Denker und Kämpfer, Frankfurt  a. M. 1955, Horst Lademacher: Moses Hess in seiner Zeit, Bonn 1977, Shlomo Na’aman: Emanzipation und Messianismus. Leben und Werk des Moses Hess, Frankfurt a. M. 1982, und Volker Weiß: Moses Hess. Rheinischer Jude, Revolutionär, früher Zionist, Köln 2015. Vgl. hierzu Micha Brumlik: Hegels Juden. Reformer, Sozialisten, Zionisten, Berlin 2019, S. 134 ff. 197

Anmerkungen

10 [Moses Hess]: Die europäische Triarchie, Leipzig 1841, S. 183. 11 Ebd., S. 112. 12 Moses Hess: Philosophie der Tat. In: Einundzwanzig Bogen aus der Schweiz. Hrsg. von

Georg Herwegh, Zürich 1843, S. 319.

13 Ebd., S. 321. 14 Vgl. M. Hess: Rom und Jerusalem, die letzte Nationalitätsfrage. Den hochherzigen Vor-

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kämpfern aller nach nationaler Wiedergeburt ringenden Geschichtsvölker, Leipzig 1862. Die Seitenzahlen der Zitate aus diesem Buch werden im Text vermerkt. Vgl. Bulletin d’Alliance Israélite Universelle, 1867, S. 10. Vgl. Edmund Silberner: Moses Hess (wie Anm. 8), S. 624. Vgl. Yaval Rubovitch: Eduard Bernstein. Deutscher, Sozialdemokrat und »trotz allem Jude«, Berlin 2019, S. 12. Zit. in Edmund Silberner: Moses Hess (wie Anm. 8), S. 585 f. Vgl. Bruno Frei: Im Schatten von Karl Marx. Moses Hess – Hundert Jahre nach seinem Tod, Wien 1977. Theodor Herzl: Tagebücher, Berlin 1923, Bd. II, S. 599. Vgl. hierzu auch Ernst Bloch: Freiheit und Ordnung. Abriss der Sozial-Utopien, New York 1946, S. 162–168. Vgl. Edmund Silberner: Moses Hess (wie Anm. 8), S. 655 f.

Theodor Hertzka 1 Ernst Bloch: Freiheit und Ordnung. Abriß der Sozialutopien, New York 1946, S. 176. 2 Vgl. Die Welt in hundert Jahren. Hrsg. von Arthur Brehmer, Berlin 1910, S. 5. 3 Vgl. Gerhard Stavenhagen: Theodor Hertzka. In: Neue Deutsche Biographie, Bd. VIII,

München 1969, S. 718 f.

4 Vgl. u. a. Franz Neubacher: Freiland. Eine liberalsozialistische Utopie, Wien 1987, S. 18. 5 Vgl. Ulrich E. Bach: Seeking Emptiness. Theodor Hertzka’s Colonial Utopia »Freiland«.

In: Utopian Studies 22, 2011, S. 74–90.

6 Vgl. Franz Oppenheimer: Freiland in Deutschland, Berlin 1895. 7 Vgl. meinen Aufsatz: Gustav Landauer. Ein Prophet anarcho-sozialistischer Siedlungs-

utopien. In Jost Hermand: »Völker, hört die Signale!« Zum Bekennermut deutsch-jüdischer Sozialisten und Sozialistinnen, Köln 2020, S. 79–94. 8 Vgl. meinen Aufsatz: Vom »Der biblische Weg« (1927) zum »A Survivor from Warsaw« (1947). In Jost Hermand: Mehr als tönende Luft. Politische Echowirkungen in Lied, Oper und Instrumentalmusik, Köln 2017, S. 174 ff. 9 Vgl. Theodor Hertzka: Entrückt in die Zukunft. Sozialpolitischer Roman, Berlin 1895, S. 23. Die Seitenzahlen der Zitate aus diesem Buch werden im Text vermerkt.

Leberecht Migge 1 Vgl. mein Buch: Grüne Utopien in Deutschland. Zur Geschichte des ökologischen 2 3 4 5

198

Bewusstseins, Frankfurt a. M. 1991, S. 70–99. Vgl. Der Jüngste Tag, Leipzig 1913, S. 45. Vgl. Menschheitsdämmerung. Hrsg. von Kurt Pinthus, Reinbek 1959, S. 159. Ebd., S. 154. Georg Kaiser: Gesammelte Werke, Potsdam 1928, S. 321.

Anmerkungen

6 Friedrich Wolf: Gesammelte Werke, Berlin 1960, Bd. I, S. 130 ff. 7 Vgl. Ita Heinze-Greenberg: Spartacus in Green. Leberecht Migge and Everyman’s Gar-

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12

den. In: Structurist 47/48, 2008, S. 34–40, und David H. Haney: When Modern Was Green. Life and Work of Landscape Architect Leberecht Migge, London 2010. Vgl. Jürgen von Reuß: Leberecht Migge. In: Neue deutsche Biographie, Bd. XVII, Berlin 1994, S. 488 f. Das grüne Manifest. In: Die Tat 10, 1918/19, S. 912–919. Die Seitenzahlen der Zitate werden im Text nachgewiesen. Vgl. Martin Baumann: Freiraumplanung in den Siedlungen der zwanziger Jahre am Beispiel der Planungen des Gartenarchitekten Leberecht Migge, Halle 2002. Vgl. Thomas Elsaesser: »Wie ein hochmögender Gebieter in Adamskostüm.« Der späte Migge und die Anfänge der »Sonneninsel«. In: Die Gartenkunst 31, 2019, S. 267–290 und 315–326. Vgl. Christine Ahrend: Die Bedeutung der demokratischen Planungsansätze der zwanziger Jahre für die emanzipatorischen Planungen der Gegenwart. In: Geschichte und Struktur der Landschaftsplanung. Hrsg. von Ulrich Eisel und Stefanie Schultz, Berlin 1991, S. 247–278.

Elfriede Friedländer 1 Vgl. dazu schon meinen Essay: Gedanken zur Geschichtlichkeit menschlicher Trieb-

regungen. In Jost Hermand: Formen des Eros in der Kunst, Wien 2000, S. 7–25.

2 Vgl. dazu meinen Aufsatz: Ruth Fischer. Sexualtheoretikerin, Kommunistin, Antistali-

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4

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nistin. In: Die Frau greift in die Politik. Schriftstellerinnen in Opposition, Revolution und Widerstand. Hrsg. von Heidi Beutin et al., Frankfurt a. M. 2010, S. 317–332, Mario Keßler: Ruth Fischer. Ein Leben mit und gegen den Kommunismus, Köln 2013, S. 68 f., und: Die Linke und der Sex. Hrsg. von Barbara Eder und Felix Weinheuer, Wien 2011, S. 22–25. Vgl. Clara Zetkin: Die kommunistische Frauenbewegung. In dies.: Zur Geschichte der proletarischen Frauenbewegung Deutschlands, Frankfurt a. M. 1971, S. 227. Zur Kritik Clara Zetkins an Ruth Fischer vgl. u. a. Ulla Pleuer: Clara Zetkin in ihrer Zeit. Neue Fakten, Erkenntnisse, Wertungen, Berlin 2008, S. 170 und 219. 1920 war in Berlin Alexandra Kollontais Broschüre Die neue Moral und die Arbeiterklasse erschienen, die jedoch Elfriede Friedländer bei der Niederschrift ihrer Sexualethik des Kommunismus noch nicht kennen konnte. Elfriede Friedländer: Sexualethik des Kommunismus. Eine prinzipielle Studie, Wien 1920, S. 55–58. Die Seitenzahlen der folgenden Zitate werden im Text nachgewiesen. Vgl. Clara Zetkin: Erinnerungen an Lenin (1929). In: Die Linke und der Sex (wie Anm. 2), S. 103–111. Ebd., S. 103. Ebd., S. 105. Ebd., S. 108. Ebd., S. 110. Vgl. dazu Die Linke und der Sex (wie Anm. 2), S. 8.

199

Anmerkungen

Bertolt Brecht 1 Vgl. Reinhold Grimm: Brechts Rad der Fortuna. In: German Quarterly 44, 1973, S. 49–65. 2 Vgl. Bertolt Brecht: Gesammelte Werke in acht Bänden. Hrsg. von Elisabeth Haupt3 4 5 6 7 8

9 10 11

12 13 14 15 16 17

18 19

20

mann, Frankfurt a. M. 1967, Bd. II, S. 518. Im Folgenden als GW zitiert. GW, Bd. II, S. 852. GW, Bd. VIII, S. 398. GW, Bd. IX, S. 675. Vgl. meinen Aufsatz: Bertolt Brecht: Hollywood-Elegien. In Jost Hermand: »Das EwigBürgerliche widert mich an«. Brecht-Aufsätze, Berlin 2001, S. 172–177. Vgl. meinen Aufsatz: Utopisches bei Brecht. In ebd., S. 77–84. Vgl. meinen Aufsatz: Die Bewohnbarmachung der Erde. Brechts Verhältnis zu Stadt und Natur. In Jost Hermand: Die aufhaltsame Wirkungslosigkeit eines Klassikers. Brecht-Studien, Berlin 2018, S. 14–30. GW, Bd. VIII, S. 876. Vgl. Bertolt Brecht. Über die bildenden Künste. Hrsg. von Jost Hermand, Frankfurt a. M. 1983, S. 20. Vgl. hierzu meinen Aufsatz: Lediglich harmlose Blödeleien? Brechts »Schweyk im Zweiten Weltkrieg«. In Jost Hermand: Die aufhaltsame Wirkungslosigkeit eines Klassikers (wie Anm. 8), S. 71. GW, Bd. II, S. 2105. GW, Bd. IV, S. 1019. Vgl. Siegfried Mews: Der kaukasische Kreidekreis. In: Brecht-Handbuch. Hrsg. von Jan Knopf, Stuttgart 2001, Bd. I, S. 528. Vgl. Bertolt Brecht. Der kaukasische Kreidekreis. Hrsg. von Michael Burchardt, Stuttgart 1998, S. 74 f. Vgl. Bertolt Brecht. Der kaukasische Kreidekreis. Hrsg. von Siegfried Mews, Frankfurt a. M. 1992, S. 98 f. Vgl. Michael Burchardt: Bertolt Brecht. Der kaukasische Kreidekreis (wie Anm. 15), S. 76 f. Erst im Zuge der Achtundsechziger Bewegung fasste man in der BRD auch den »utopischen« Charakter dieses Stücks ins Auge. Vgl. Helmut Jendreieck: Bertolt Brecht. Drama der Veränderung, Düsseldorf 1969, S. 300, und Klaus-Detlef Müller: Die Funktion der Geschichte im Werk Bertolt Brechts, Tübingen, 2. Aufl., 1972, S. 208 f. Vgl. Siegfried Mews: Der kaukasische Kreidekreis (wie Anm. 14), S. 529. Fritz Erpenbeck: Episches Theater oder Dramatik? Ein Diskussionsbeitrag anlässlich der Aufführung von Bertolt Brechts »Der kaukasische Kreidekreis«. In Werner Hecht: Brechts Theaterarbeit. Seine Inszenierung des »Kaukasischen Kreidekreis«, Frankfurt a. M. 1985, S. 174. Vgl. Klaus-Detlef Müller: Wirkung. In Bertolt Brecht: Berliner und Frankfurter Ausgabe, Bd. VIII, Frankfurt a. M. 1992, S. 470–477, und Siegfried Mews: Der kaukasische Kreidekreis (wie Anm. 14), S. 529.

Heiner Müller 1 Vgl. u. a. Jan-Christoph Hauschild: Heiner Müller, Reinbek 2000, S. 11 ff. 2 So in Gesprächen mit dem Verfasser. 3 Vgl. dazu Heiner Müller: Werke. Hrsg. von Frank Hörnigk, Frankfurt a. M. 1998–2008,

200

Anmerkungen

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15

16 17 18 19 20 21 22 23 24

Bd. I, S. 108 f., im Folgenden als Werke zitiert, und meinen Aufsatz: »Zehn Tage, die die Welt erschütterten«. Heiner Müllers Bekenntnis zu Lenin. In: Mit den Toten reden. Fragen an Heiner Müller. Hrsg. von Jost Hermand und Helen Fehervary, Köln 1999, S. 190–200. Vgl. Junge Kunst. Monatsschrift für Literatur, Kritik, Musik und Theater 1, 1957, S. 35–47. Vgl. zum »Lohndrücker« Falk Strehlow: Balke. Heiner Müllers »Der Lohndrücker« und seine intertextuellen Verwandtschaftsverhältnisse, Stuttgart 2006. Walter Ulbricht soll sogar gesagt haben: »Man hätte ihn nicht ausschließen, sondern umerziehen lassen. Wir brauchen solche Autoren.« Müller im Gespräch mit dem Verfasser. Vgl. u. a. Helen Fehervary: Heiner Müllers Brigadenstücke. In: Basis. Jahrbuch für deutsche Gegenwartsliteratur 2, 1971, S. 103–140. Vgl. Heiner Müller: Der Bau. In: Sinn und Form, 1965, S. 169–227. So in vielen Gesprächen mit dem Verfasser. Vgl. dazu auch das in Madison mit Heiner Müller geführte Gespräch über Probleme des Geschichtsdramas, nachzulesen in Heiner Müller: Werke, Bd.  X, S. 74–89, und Heiner Müllers frühe Amerikaaufenthalte. Hrsg. von Marc Silberman et al. In: Material Müller. Das literarische Nachleben Heiner Müllers. Hrsg. von Stephan Pabst und Johanna Bohley, Berlin 2017, S. 113–148. Vgl. meinen Essay: Ihr zwingt mich ja, Weltliteratur zu schreiben. In: Kalkfell. Für Heiner Müller. Hrsg. von Frank Hörnigk et al., Berlin 1996, S. 76. Vgl. meinen Aufsatz: Fridericus Rex. Das schwarze Preußen im Drama der DDR. In: Dramatik der DDR. Hrsg. von Ulrich Profitlich, Frankfurt a. M. 1987, S. 287 ff. Vgl. meinen Aufsatz: Deutsche fressen Deutsche. Heiner Müllers »Die Schlacht« an der Ost-Berliner Volksbühne. In: Brecht-Jahrbuch, 1978, S. 129–142. Vgl. Georg Hensel: Schlacht-Szenen aus der DDR. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr. 25 vom 22. April 1978. Vgl. dagegen die positiven Beurteilungen dieses Stücks von Helen Fehervary: History and Aesthetics in Brecht and Müller. In: New German Critique 8, 1976, S. 85 ff., Genia Schulz: Heiner Müller, Stuttgart 1980, S. 129–138, und Volker Bohn: Germania Tod in Berlin. In: Heiner Müller Handbuch. Hrsg. von HansThies Lehmann, Stuttgart 2003, S. 207–213. Heiner Müller: Werke, Bd. IV, S. 327. Die Seitenzahlen der folgenden Zitate aus diesem Werk werden im Text angegeben. Vgl. hierzu auch meinen Aufsatz: Braut, Mutter oder Hure? Heiner Müllers »Germania« und ihre Vorgeschichte. In Jost Hermand: Sieben Arten an Deutschland zu leiden, Königstein 1979, S. 127–141. Vgl. zum Folgenden auch meinen Aufsatz: Vom Text zum Bild. Heiner Müllers »aufgehobene Utopie«. In: Das Argument 3121, 2015, S. 224 ff. Vgl. Helen Fehervary: Manierismus, Modernismus, Müller. »In der Zeit des Verrats / Sind die Landschaften schön«. In: Mit den Toten reden (wie Anm. 3), S. 189. Heiner Müller: Werke, Bd. IX, S. 284. Heiner Müller: Werke, Bd. X, S. 310, 342. Ebd., S. 291. Ebd., S. 291. Heiner Müller: Werke, Bd. VIII, S. 446. Heiner Müller: Werke, Bd. I, S. 233. Heiner Müller: Werke, Bd. VIII, S. 465.

201

Anmerkungen

Robert Havemann 1 Vgl. hierzu mein Buch: Grüne Utopien in Deutschland. Zur Geschichte des ökologi-

schen Bewusstseins, Frankfurt a. M. 1991, S. 134 ff.

2 Vgl. ebd., S. 156 ff. 3 Vgl. Ein Marxist in der DDR. Für Robert Havemann. Hrsg. von Hartmut Jäckel, Mün-

chen 1980, und Alexander Amberger: Bahro – Harich – Havemann. Marxistische Systemkritik und politische Utopie in der DDR, Paderborn 2014, S. 89 ff. Interview mit Wolfgang Harich. In: konkret, Juli 1979, S. 40. Vgl. Günter Maschke: Harich. Ein ökologischer Stalinist. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 1979, Nr. 127, S. 67. Rudolf Bahro: Die Alternative. Zur Kritik des real existierenden Sozialismus, Köln 1977, S. 20, 485, 513 und 543. Vgl. Gundolf Herzberg und Kurt Seifert: Rudolf Bahro. Glaube an das Veränderbare. Eine Biographie, Berlin 2002. Vgl. Marko Ferst: Rudolf Bahro. Vom DDR-Kritiker zum spirituellen Ökologen, München 2004. Robert Havemann: Morgen. Die Industriegesellschaft am Scheideweg. Kritik und reale Utopie, Berlin 2019, S. 26. Die Seitenzahlen der folgenden Zitate werden im Text nachgewiesen.

4 5 6 7 8 9

Uwe Wolff 1 Vgl. mein Buch: Pop International. Eine kritische Analyse, Frankfurt a. M. 1971, S. 65 ff. 2 Henry David Thoreau: Walden oder Leben in den Wäldern, Zürich 1979, S. 99. 3 Vgl. mein Buch: Grüne Utopien in Deutschland. Zur Geschichte des ökologischen

Bewusstseins, Frankfurt a. M. 1991, S. 153 f.

4 Vgl. Ulrich Linse: Die Kommune der deutschen Jugendbewegung, München 1973, und

5

6 7 8

Gudrun Pausewang: Rosinkawiese. Alternatives Leben in den zwanziger Jahren, München 1983. Vgl. meinen Aufsatz: Möglichkeiten alternativen Zusammenlebens. Ernest Callenbachs »Ecotopia« (1975). In Jost Hermand: Im Wettlauf mit der Zeit. Anstöße zu einer ökologiebewussten Ästhetik, Berlin 1991, S. 163–178. Uwe Wolff: Papa Faust. Eine Idylle aus deutschen Landen, Frankfurt a. M. 1982. Die Seitenzahlen der Zitate aus diesem Buch werden im Text angegeben. Uwe Wolff wandte sich danach von dieser Themenstellung ab und beschäftigte sich vornehmlich mit theologischen Fragen. Vgl. meinen Aufsatz: Die Graswurzelrevolution. Utopie und Wirklichkeit grüner Politik. In Jost Hermand: Im Wettlauf mit der Zeit (wie Anm. 5), S. 157 ff.

Petra K. Kelly 1 Vgl. u. a. Die Friedensbewegung. Hrsg. von Helmut Donath und Karl Holl, Düssel-

dorf 1983, Rüdiger Schmitt: Die Friedensbewegung in der Bundesrepublik Deutschland, Opladen 1990, Andreas Buro: Totgesagte leben länger. Die Friedensbewegung. Von der Ost-West-Konfrontation zur zivilen Konfliktbearbeitung, Idstein 1997, und Jan Große

202

Anmerkungen

2

3 4 5

Nabis: Frieden! Eine kurze Geschichte der bundesdeutschen Friedensbewegung, Müns­ ter 2001. Vgl. zum Folgenden u. a. Monika Sperr: Petra Karin Kelly. Politikerin aus Betroffenheit, München 1983, Sara Parkin: The Life and Death of Petra Kelly, London 1994, und Saskia Richter: Die Aktivistin. Das Leben der Petra Kelly, München 2010. Vgl. Petra K. Kelly: Um Hoffnung kämpfen. Gewaltfrei in eine grüne Zukunft, Bornheim 1983, S. 7–11. Die Seitenzahlen im Text beziehen sich auf diese Ausgabe. Vgl. Tibet. Ein vergewaltigtes Land. Bericht vom Dach der Welt, Reinbek 1988, und: Tibet klagt an. Zur Lage in einem besetzten Land, Wuppertal 1990. Vgl. Alice Schwarzer: Eine tödliche Liebe. Petra Kelly und Gert Bastian, Köln 1993.

Robert Jungk 1 Vgl. dazu meinen Aufsatz: Robert Jungk (1913–1994). Zukunftsforscher. In Jost Her-

mand: Vorbilder. Partisanenprofessoren im geteilten Deutschland, Köln 2014, S. 191–212.

2 Vgl. Prokolgruppe: Der sanfte Weg. Techniken in einer neuen Gemeinschaft, Berlin

1976, S. 5, 8, 13 f., und Robert Jungk: Statt auf den großen Tag zu warten. Über das Pläneschmieden von unten. Ein Bericht aus den »Zukunftswerkstätten«. In Kursbuch 53, 1978, S. 1–10. 3 Robert Jungk: Zukunft zwischen Angst und Hoffnung. Ein Plädoyer für die politische Phantasie, München, 2. Aufl., 1991, S. 35. Zitate aus diesem Buch werden im Text mit Seitenangaben vermerkt. 4 Die Originalausgabe dieses Buchs erschien 1982 in New York unter dem Titel: The Coming Boom. Economic, Social and Political. Außerdem hatte Herman Kahn bereits 1976 in New York ein Buch unter dem Titel The Next 200 Years. A Scenario for America and the World veröffentlicht.

Sahra Wagenknecht 1 Vgl. u. a. Jürgen P. Lang: Biographisches Porträt: Sahra Wagenknecht. In: Jahrbuch Ex-

2 3

4 5 6

tremismus Demokratie 22, 2011, S. 192–203, Christian Schneider: Sahra Wagenknecht. Die Biografie, Frankfurt a. M. 2019, und David Goeßmann: Von links bis heute: Sahra Wagenknecht, Berlin 2019. Vgl. Marc Brost und Stephan Lebert: Sahra Wagenknecht. Ich bin nicht Gretchen. Ein Gespräch. In: Die Zeit, Nr. 36, 2001. Vgl. u. a. Die Mythen der Modernisierer, Querfurt 2001, Kapitalismus im Koma. Eine sozialistische Diagnose, Berlin 2003, Armut und Reichtum heute. Eine Gegenwartsanalyse, Berlin 2007, Kapitalismus, Was tun? Schriften zur Krise, Berlin 2013, und: Reichtum ohne Gier. Wie wir uns vor dem Kapitalismus retten, Frankfurt a. M. 2016. Sahra Wagenknecht: EU-Politik zu Kuba ist einseitig und ungerecht. In: sahra-wagenknecht.de vom 2. Februar 2006. Vgl. Franz Solms-Laubach: Sahra Wagenknecht will die DDR nicht zurück. In: Die Welt vom 29. April 2009. Sahra Wagenknecht: Soforterhöhung Hartz  IV auf 560 Euro. Pressemitteilung vom 2. November 2006, und Sahra Wagenknecht: Riester? Abwickeln! In: Frankfurter Rundschau vom 24. April 2016. 203

Anmerkungen

7 Vgl. Martin Reeh: Linkspartei-Thesen gegen offene Grenzen: »Kein Recht auf Arbeits-

8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18

migration«. In: Tageszeitung vom 26. April 2018, und: Arbeitsmigration. Sahra Wagenknecht für Begrenzung der Zuwanderung. In: Welt Online vom 11. Mai 2018. Vgl. Asylkrise. Sahra Wagenknecht über Angela Merkel & AfD. In: Welt Online vom 11. Oktober 2016. Vgl. ebd. Vgl. Flüchtlingspolitik. Wagenknecht lässt die Linke schäumen. In: Spiegel Online vom 27. Juli 2016. Vgl. Martin Niewendick: Linke. Oskar Lafontaines »Sammlungsbewegung« sorgt für Unruhe. In: Welt.de vom 7. Oktober 2018. Vgl. »Aufstehen« soll Bewegung sein. In: Neues Deutschland vom 21. August 2018. Vgl. Ein Drittel der Deutschen würde Wagenknechts »Aufstehen«-Bewegung wählen. In: Focus Online vom 10. August 2018. Martin Holland: »Aufstehen«. Wagenknechts Sammlungsbewegung setzt auf Umfragetool Pol.is. In: Heise Online vom 4. November 2018. Vgl. Johanna Herzing: Wer im Aufwind ist, gründet keine Sammlungsbewegung. In: Deutschlandfunk vom 9. August 2018. Vgl. Adam Soboczynski: Sahra Wagenknecht. Das rote Sommermärchen. In: Die Zeit, Nr. 33 vom 9. August 2018. Vgl. Website: aufstehen.de. Jürgen Habermas: Die neue Unübersichtlichkeit, Frankfurt a. M. 1985, S. 161.

204

Bildnachweise

Abb. 1: Johann Jakob Hoch: Die Mainzer

Abb. 12: Daniel Nikolaus Chodowiecki:

Republik, Mainz, Hase & Koehler Verlag, 1993, S. 82. Abb. 2: Anonym: Frankfurter Nationalversammlung (1849), © akg-images 5569017. Abb. 3: Fidus: Kommune (1912), im Besitz des Verfassers. Abb. 4: Conrad Felixmüller: Menschen über der Welt. Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht (1919), im Besitz des Verfassers. Abb. 5: Rudi Dutschke (29. Januar 1968), © akg-images 212912. Abb. 6: Gustav Andreas Wolfgang: Frau Maria Müllerin (1759), © akg-images 7490208. Abb. 7: Johann Joseph Gaßner (um 1777), Wikipedia Commons. Abb. 8: Johann Pezzl: Faustin, 4. Aufl., 1788, S. 107, im Besitz des Verfassers. Abb. 9: Holzstich nach Wilhelm Camphausen: Joseph II. und Kaunitz (1860), © akg-images 6229. Abb. 10: Wilhelm Friedrich Meyern. © ÖNB/Wien, PORT_00023054_01 Abb. 11: Cl. Kohl: Der feige Sprösling des Glücks wimmert wie ein Sklav (1791). Wilhelm Friedrich Meyern: Dya-Na-Sore, Wien und Leipzig, Bd. III, S. 557.

Natur (1779), © akg-images 1031827. Abb. 13: Friedrich Bury: Johann Gottlieb Fichte (1800), © akg-images 38817. Abb. 14: Ludwig Burger: Fichte, Schleiermacher, Jahn, Arndt (1862), © akg-images 81730. Abb. 15: Julius Roeting: Ernst Moritz Arndt (1855), © akg-images 197. Abb. 16: Anonym: Karl Marx (1843), © akg-images 5429008. Abb. 17: Moses Hess (1960), © BG A6/266/ SPD, International Institute of Social History (Amsterdam). Abb. 18: Theodor Hertzka (1896), Wikipedia Commons. Abb. 19: Albert Robida: Le nuage-palace (1883). © akg-images 5347652. Abb. 20: Leberecht Migge: Innenansicht einer Gartenanlage (1918). In David H. Haney: Leberecht ­Migge’s »Green Manifesto«. In: Landscape Journal 26, 2007, S. 210. Abb. 21: Ruth Fischer (1924), Wikipedia Commons. Abb. 22: Bertolt Brecht in Los Angeles (um 1943). In: Bertolt Brecht. Sein Leben in Bildern und Texten. Hrsg. von Werner Hecht, Frankfurt a. M., Suhrkamp Verlag, 1958, S. 207. 205

Bildnachweise

Abb. 23: Pieter Breughel d. Ä.: Die Tolle

Abb. 28: Petra Kelly und Heinrich Böll auf

Gret (1562), © akg-images 107248. Abb. 24: Lea Grundig: Aktivist Koksmeister Schädlich vom Karl-Marx-Werk Zwickau (1951), im Besitz des Verfassers. Abb. 25: Hubert Link: Heiner Müller am 4. November 1989 auf dem Alexanderplatz. Bundesarchiv, Bild 183–1989–1104–047 / Fotograf: Hubert Link. Abb. 26: Robert Havemann (1960), Bundesarchiv, Bild 183–76791– 0009 Fotograf: Horst Sturm. Abb. 27: Der Spiegel, Titelblatt vom 9. August 1971. © DER SPIEGEL 33/1971.

einer Pressekonferenz in Bonn (10. Februar 1983), © akg-images 168768. Abb. 29: Titelblatt (1981), im Besitz des Verfassers. Abb. 30: Norbert Försterling: Robert Jungk als Redner auf einer Kundgebung in Gundelfingen (24. Juni 1979), © dpa-picture-alliance. Abb. 31: Sahra Wagenknecht auf dem Leipziger Parteitag der Linkspartei (8.– 10. Juni 2018), Wikipedia Commons.

Autor und Verlag haben sich bemüht, die Rechtsnachfolger ausfindig zu machen. In Fällen, wo dies nicht gelungen ist, bitten wir um Rückmeldung.

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Namensregister

A Addison, Joseph 39 Adenauer, Konrad 18, 137, 165 Aken, Jan van 186 Amarantes 26 Amersin, Ferdinand 99 Amery, Carl 149 Arndt, Ernst Moritz 9, 52, 69, 71, 72, 73, 74, 75, 76, 77, 78, 79, 80 Arndt, Johann 24 Arnim, Achim von 69, 71 Atlas, Martin 12 Augspurg, Anita 119 B Babeuf, François-Emile 150 Bacon, Francis 7, 38 Bahro, Rudolf 145, 150, 151, 156 Baltzer, Eduard 12, 107 Bartsch, Dietmar 186, 189 Basilius, Timotheus Caesarinus 23, 24 Bastian, Gert 166, 167, 173 Bauer, Bruno 90 Becher, Johannes R. 108 Beethoven, Ludwig van 9 Bellamy, Edward 7, 99, 103 Beltle, Theodor 148 Bendavid, Lazarus 88 Berghaus, Ruth 140 Bernstein, Eduard 136 Beuys, Joseph 166 Biermann, Wolf 145, 167 Bilz, Friedrich Eduard 12

Bismarck, Otto von 11 Bloch, Ernst 21, 70, 80, 99 Blumauer, Johann Alois 32 Blum, Robert 10 Bolingbroke, Henry St. John 39 Böll, Heinrich 166, 167, 168 Bonsels, Waldemar 107 Börne, Ludwig 9, 89, 135 Born, Ignaz von 32 Bougainville, Louis-Antoine de 59 Boyen, Hermann von 73 Brandt, Willy 139, 149, 167, 170, 171 Brecht, Bertolt 125, 126, 127, 128, 129, 130, 131, 132, 133, 134, 143 Brentano, Clemens 69 Breughel, Pieter 131 Bucharin, Nicolai 118 Buchwald, Konrad 148 Bülow, Marco 188 Bulwer-Lytton, Edward 7 Bunge, Hans 133 Burger, Ludwig 72 Bury, Friedrich 66 C Cabet, Étienne 12 Callenbach, Ernest 7, 161 Calvin, Johannes 37 Campe, Joachim Heinrich 39 Capra, Fritjof 161 Cavour, Camillo 93 Chamberlain, Houston Stewart 14 Claß, Heinrich 14 207

Namensregister

Clausewitz, Karl von 69 Clemens XIII. 56 Coppik, Manfred 167 Corbyn, Jeremy 188 Cowentz, Hugo 107 D Dagdelen, Sevim 188 Dahrendorf, Ralf 21 Däubler, Theodor 108 Degenhardt, Josef 166 Diderot, Denis 7, 31, 59 Diederichs, Eugen 111, 113 Dimitroff, Georgi 118 Dohm, Christian Wilhelm von 88 Dohm, Hedwig 119 Dollinger, Hans 148 Dreyfus, Alfred 96 Dutschke, Rudi 19 E Ebert, Friedrich 16, 114, 136 Eisler, Elfriede.  Siehe Friedländer, Elfriede Eisler, Gerhart 117 Eisler, Hanns 117 Eisler, Rudolf 117 Engels, Friedrich 81, 82, 126, 143, 153 Eppler, Erhard 167 Erhard, Ludwig 148 Erpenbeck, Fritz 133 Eybl, Joseph Valentin 32 F Felixmüller, Conrad 15 Fénelon, François de 7 Fest, Joachim 21 Fichte, Johann Gottlieb 9, 64, 65, 66, 67, 68, 69, 70, 71, 72 Fidus (d. i. Hugo Höppener) 13 208

Fischer, Ida Maria 117 Fischer, Ruth.  Siehe Friedländer, Elfriede Försterling, Norbert 180 Fould (Bankhaus) 95 Fourier, Charles 7, 12 Frankel, David 88 Franz II. von Deutschland 41, 63 Frenssen, Gustav 107 Freud, Sigmund 116, 118, 119, 122 Friedländer, David 88 Friedländer, Elfriede 117, 118, 119, 120, 121, 122, 123, 124 Friedländer, Paul 118 Friedrich, Caspar David 52 Friedrich II. von Preußen 31, 39, 56, 57, 63 Friedrich Wilhelm II. von Preußen 63 Friedrich Wilhelm III. von Preußen 68, 71 Friedrich Wilhelm IV. von Preußen 79 Fritsch, Theodor 14 Fukuyama, Francis 21 G Gandhi, Mohandas 171 Garibaldi, Giuseppe 93 Gaßner, Johann Joseph 35, 36 Gauthe, Johann Friedrich 26 Geiger, Carl Ignaz 43, 54, 55, 58 Girnus, Wilhelm 139 Gizycki, Horst von 159 Gneisenau, August Neidhardt von 69, 73 Goebbels, Joseph 143 Goering, Reinhard 109 Goethe, Johann Wolfgang 44 Golke, Gustav 118 Gollwitzer, Helmut 166 Gorki, Maxim 126 Görres, Joseph 9, 52 Götze, Johann Melchior 39 Gräser, Karl 12

Namensregister

Grass, Günter 18, 166 Gruhl, Herbert 149 Grundig, Lea 142 Guggenberger, Alois 148 Gysi, Gregor 185, 186 H Habermas, Jürgen 22, 190 Habicht, Hubert 159 Hacks, Peter 139 Haeckel, Ernst 107 Hardenberg, Karl August von 69, 71, 89 Hardt, Hans 12 Harich, Wolfgang 46, 149, 150, 151, 156 Härlin, Peter 148 Hart, Heinrich 107 Hart, Julius 107 Hasse, Ernst 14 Hauerstein, Georg 14 Havemann, Robert 151, 152, 153, 155, 156, 157 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 64, 84, 94 Heine, Heinrich 9, 89, 90, 135 Heller, Leopold 12, 107 Helmedag, Fritz 185 Helvetius, Claude Adrien 33, 35 Hentschel, Willibald 14 Herder, Johann Gottfried 8, 94 Hermlin, Stephan 17 Hertzka, Theodor 7, 12, 99, 100, 101, 102, 103, 105, 106, 114 Herzl, Theodor 96, 97, 100, 101 Herz, Markus 88 Hesse, Hermann 107 Hess, Moses 9, 82, 90, 91, 92, 93, 94, 95, 96, 97 Heym, Stefan 17 Hindenburg, Paul von 16 Hitler, Adolf 17, 127, 143 Hochhuth, Rolf 18

Hoch, Johann Jakob 8 Hoffmann, Leopold Aloys 32 Hölderlin, Friedrich 55 Holz, Hans Heinz 185 Honecker, Erich 139, 149, 151, 167 Humboldt, Wilhelm von 94 Hume, David 31 Humphrey, Hubert 166 Hurwicz, Angelika 133 Hüsch, Hans Dieter 166 Hus, Jan 24 Huxley, Aldous 7 Hygiophilus, Irenaeus 23, 24, 25, 26, 27, 29, 30 I Innozenz III. 93 J Jahn, Friedrich Ludwig 9, 52, 69, 71, 72, 73 Jean Paul 8, 43, 46 Jonas, Hans 148 Joseph II. von Deutschland 32, 39, 40, 55, 56 Jost, Isaac Markus 89 Jungk, Robert 20, 174, 175, 177, 178, 179, 180, 181, 182, 183 K Kahn, Herman 182 Kaiser, Georg 109 Kant, Immanuel 8, 31, 42, 64, 65 Kaunitz, Wenzel Anton von 33, 40 Kelly, John F. 166 Kelly, Petra K. 20, 166, 167, 168, 169, 170, 171, 172, 173 Kennedy, Robert F. 166 King, Martin Luther 171 Kleist, Heinrich von 9, 71 209

Namensregister

Klopstock, Friedrich Gottlieb 9, 54, 71 Kneipp, Sebastian 12, 107 Kohl, Cl. 50 Kollontai, Alexandra 120, 122 Kropotkin, Peter 159 Krüger, Timm 107 Kuhlenbeck, Ludwig 14 Kuttge, Johann Daniel.  Siehe Hygiophilus, Irenaeus L Lafontaine, Oskar 166, 187 Landauer, Gustav 12, 101, 107 Lange, Helene 119 Langhoff, Wolfgang 17 Lassalle, Ferdinand 96 Laßwitz, Kurd 99 Laßwitz, Kurt 12 Lehmann, Petra Karin.  Siehe Kelly, Petra K. Lehrbach, Franz Sigismund Adalbert von 54 Leibniz, Gottfried Wilhelm 34 Leinen, Jo 167 Lenin, Wladimir Iljitsch 118, 121, 122, 126, 153 Lenz, Jakob Michael Reinhold 55 Lessing, Gotthold Ephraim 8, 31, 39, 60, 88, 94 Liebenfels, Jörg Lanz von 14 Liebknecht, Karl 15 Lilienthal, Gustav 12, 101 Link, Hubert 145 Linse, Ulrich 159 List, Guido von 14 Locke, John 31, 38, 39 Löhl 99 Löns, Hermann 107 Lucian 56 Luft, Friedrich 133 210

Luther, Martin 24, 32, 37 Luxemburg, Rosa 15, 136, 153 M Maimon, Salomon 88 Marcuse, Herbert 20 Maria Theresia von Deutschland 32, 56 Marshall, George C. 18 Marx, Karl 81, 82, 83, 84, 85, 86, 87, 90, 91, 96, 126, 135, 150, 153, 157, 185 Mayer, Hans 17 May, Ernst 114 Mazzini, Giuseppe 93 Meadows, Dennis L. 20, 148, 151, 156, 159 Meiners, Christoph 43 Mélenchon, Jean-Luc 188 Mendelssohn, Moses 88 Mercier, Louis-Sébastien 7 Merkel, Angela 186 Metternich, Klemens Wenzel Lothar von 52, 98, 135 Meyern, Wilhelm Friedrich 44, 45, 51, 52 Migge, Leberecht 107, 109, 110, 111, 112, 113, 114, 154 Montesquieu, Charles-Louis de 35, 45 Morelly, Étienne-Gabriel 7 Moritz, Karl Philipp 43 Morris, William 7 Morus, Thomas 7 Mozart, Wolfgang Amadeus 43, 54 Muehl, Otto 161 Müller, Heiner 24, 137, 138, 139, 140, 141, 144, 145, 146 Müller, Heinrich 24 Münzenberg, Willi 118 N Napoleon Bonaparte 9, 52, 71, 73, 79 Neutsch, Erik 139

Namensregister

Newton, Isaac 38 Niemöller, Martin 166 Niethammer, Friedrich Immanuel 65 O Ochs, Jakob 110 Olavide, Pablo de 36 Ophüls, Max 174 Oppenheimer, Franz 12, 101, 107, 114 Owen, Robert 7, 12, 159 P Pabst, Georg Wilhelm 174 Pastor, Willy 107 Pausewang, Gudrun 159 Pestalozzi, Johann Heinrich 69 Pezzl, Johann 32, 33, 34, 39, 40, 41 Pfaff, Christoph Matthäus 24, 25 Picht, Georg 148 Pope, Alexander 33 R Radek, Karl 118 Reagan, Ronald 165, 166, 168 Rebmann, Georg Friedrich 43 Reich, Wilhelm 122 Reimer, Georg Andreas 71, 73 Reimer, Joseph Ludwig 14 Riem, Johann Andreas 88 Robespierre, Maximilien 150 Robida, Albert 102 Roeting, Julius 78 Röhm, Ernst 17 Röpke, Wilhelm 148 Roszak, Theodore 158 Rothschild (Bankhaus) 95 Rousseau, Jean-Jacques 31, 33, 36, 43, 45, 55, 59, 150 Rowohlt (Verlag) 149

Rudorff, Ernst 13, 107 Ruge, Arnold 9, 10, 91 S Saage, Richard 21 Sanders, Bernie 188 Saville, George 39 Schädlich 142 Scharnhorst, Gerhard Johann von 69 Schelling, Friedrich Wilhelm 64 Schikaneder, Emanuel 54 Schiller, Friedrich 43, 60, 94 Schinkel, Karl Friedrich 69 Schleiermacher, Friedrich Daniel 9, 69, 71, 72, 73 Schmidt, Arno 45 Schmidt, Helmut 167 Schmidt, Johann Christian 43 Schnabel, Johann Gottfried 7 Schnitzler, Arthur 116 Scholl, Hans und Sophie 17 Schönberg, Arnold 101 Schubart, Christian Friedrich 59 Schultze-Naumburg, Paul 13, 107 Schulze-Boysen, Harro 174 Schumacher, Kurt 137 Schwaner, Wilhelm 14 Schwendtner, Rolf 21 Seghers, Anna 139 Shaftesbury, Anthony 38 Sinowjew, Grigori 118 Snyder, Gary 158 Sölle, Dorothee 166 Sonnenfels, Joseph von 32 Spener, Philipp 24 Spinoza, Baruch 90, 97 Stahl, Hagen 138 Stalin, Jossif 118, 119, 129, 144 Stanislawski, Konstantin 133 211

Namensregister

Steele, Richard 39 Stegemann, Bernd 188 Stein, Heinrich Friedrich Karl vom und zum 9, 71, 73, 79 Sternheim, Carl 109 Stöcker, Helene 119 Stolberg, Leopold von 59 Strasser, Gregor 17 Strasser, Johano 21 Strittmatter, Erwin 132 Struensee, Carl August von 64, 68 Swieten, Gottfried von 32 Swift, Jonathan 7, 39 T Tacitus, Publius Cornelius 72, 74, 76 Taut, Bruno 114 Thälmann, Ernst 119 Thoreau, Henry David 158 Tieck, Ludwig 43 Tolstoi, Leo 159 Trotzki, Leo 118 Tscholakowa, Ginka 140 U Ulbricht, Walter 18, 139 V Venedey, Jacob 10 Vogt, Carl 10 Vollmer, Antje 188 Voltaire (eigentlich François-Marie Arouet) 31, 33, 34, 35, 36, 37, 38, 39 Voss, Johann Heinrich 59 W Wachler, Ernst 14 Wader, Hannes 166

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Wagenknecht, Sahra 185, 186, 187, 188, 189, 190 Wagner, Martin 114 Walser, Martin 18 Warburton, William 43 Weber, Betty Nance 140 Wedekind, Frank 116 Weishaupt, Adam 54 Weiss, Peter 18 Weitling, Wilhelm 82, 91 Weizsäcker, Carl Friedrich von 148 Wellesley-Wesley, James 175 Wells, Herbert George 7 Wesendonck, Hugo 10 Wieland, Christoph Martin 8, 43, 54 Wilhelm II. von Deutschland 11 Wilhelmy, Bruno 107 Wille, Bruno 107 Wilser, Ludwig 14 Winter, Michael 21 Wolff, Matthias 23 Wolf, Friedrich 109 Wolff, Uwe 161 Z Zech, Paul 108 Zetkin, Clara 120, 121, 122 Zipes, Jack 140