Utopie und Ideologie in der expressionistischen Lyrik 9783110916355, 9783484103856

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Utopie und Ideologie in der expressionistischen Lyrik
 9783110916355, 9783484103856

Table of contents :
I. Der Anfang einer ,Expressionismusdebatte‘
1. Expressionistische Lyrik: Utopie oder Ideologie?
2. Die dialektische Einheit und kategoriale Differenz von Utopie und Ideologie als gesellschaftskritischen Kategorien und Theoremen ästhetischer Theorie
II. Utopische Intentionen und ihre ideologischen Aporien: Die literarische Evolution der Aufbruchs-Thematik bei René Schickele, Ernst Stadler und Ernst Wilhelm Lötz
1. Positionen der Forschung
2. René Schickele: Die Flucht in die Illusion vom ,großen Leben‘
3. Ernst Stadler: Versöhnung durch Identifikation
4. Ernst Wilhelm Lotz: Kritische Kontrafaktur – und falsche Konsequenzen
III. Die Dialektik von Utopie und Ideologie: Ludwig Rubiners aktivistische Manifeste, Appelle und Programme
1. Die „ästhetische Funktion“ aktivistischer Manifeste, Appelle und Programme
2. Radikale Rhetorik: Sozialpathetik und Metapher der Revolution
3. Die Dialektik von Utopie und Ideologie in der hierarchischen Struktur der Textsorte ,Manifest, Appell, Programm‘
4. Utopische Valenz und politische Konkretion: die Veränderung des utopisch-poetischen Modells im sich verändernden historisch-politischen Kontext
IV. Ideologie statt Utopie: Tendenzen einer trivialmystizistisch ,völkischen‘ Sehnsucht im kosmischen Seelenkult Kurt Heynickes
1. Aktivismus contra Mystizismus
2. Die Metaphorik des Jugendstils in ihrer trivialmystizistischen Epigonalität und der ,Krieg‘ als sakral-kosmisches Schicksal
3. „Rhythmen aus Zeit und Ewigkeit“ – und die Gegenwart der Revolution
4. Tendenzen einer ‚völkischen‘ Sehnsucht
Literaturverzeichnis
Nachbemerkung

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Untersuchungen zur deutschen Literaturgeschichte Band 25

Karl-Heinz Hucke

Utopie und Ideologie in der expressionistischen Lyrik

Max Niemeyer Verlag Tübingen 1980

CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek Hucke, Karl-Heinz: Utopie und Ideologie in der expressionistischen Lyrik / Karl-Heinz Hucke. Tübingen : Niemeyer, 1980. (Untersuchungen zur deutschen Literaturgeschichte; Bd. 25) ISBN 3-484-10385-x

ISBN 3-484-10385-x

ISSN 0083-4564

© Max Niemeyer Verlag Tübingen 1980 Alle Rechte vorbehalten. Ohne ausdrückliche Genehmigung des Verlages ist es auch nicht gestattet, das Buch oder Teile daraus auf photomechanischem Wege zu vervielfältigen. Printed in Germany Satz: Williams, London Druck: Becht, Pfäffingen Einband: Heinr. Koch, Tübingen; D6

FÜR H E I N R I C H HUCKE

GENESIS 10,9

Das Morgen im Heute lebt, es wird immer nach ihm gefragt. Die Gesichter, die sich in die utopische Richtung wandten, waren zwar zu jeder Zeit verschieden, genauso wie das, was sie darin im Einzelnen, von Fall zu Fall, zu sehen meinten. Dagegen die Richtung ist hier Uberall verwandt, ja in ihrem noch verdeckten Ziel die gleiche; sie erscheint als das einzig Unveränderliche in der Geschichte. Glück, Freiheit, Nicht-Entfremdung, Goldenes Zeitalter, Land, wo Milch und Honig fließt, das Ewig-Weibliche, Trompetensignal im Fidelio und das Christförmige des Auferstehungstags danach: es sind so viele und verschiedenwertige Zeugen und Bilder, doch alles um das her aufgestellt, was für sich selber spricht, indem es noch schweigt. Ernst Bloch

Inhaltsverzeichnis

I.

Der Anfang einer ,Expressionismusdebatte'

l

1. Expressionistische Lyrik: Utopie oder Ideologie?

4

a) Das poetische Modell einer Utopie b) Das Abbild einer literarisierten Ideologie

II.

5 11

2. Die dialektische Einheit und kategoriale Differenz von Utopie und Ideologie als gesellschaftskritischen Kategorien und Theoremen ästhetischer Theorie

15

a) Die dialektische Einheit von Utopie und Ideologie als gesellschaftskritischen Kategorien und Theoremen ästhetischer Theorie

17

b) Die kategoriale Differenz von Utopie und Ideologie als regulative Idee einer kritischen Hermeneutik

21

c) Die Analogie von .Kunst und Wirklichkeit' zu .Utopie und Ideologie'

23

Utopische Intentionen und ihre ideologischen Aporien: Die literarische Evolution der Aufbruchs-Thematik bei René Schickele, Ernst Stadler und Ernst Wilhelm Lötz . . . .

27

1. Positionen der Forschung

27

a) Widersprüche in der Differenzierung des Begriffs .Aufbruch'

27

b) Das Aufbruchsmotiv im Jugendstil und Expressionismus: Epigonalität oder literarischer Wandel?

31

VII

2. R e n é Schickele: Die F l u c h t in die Illusion v o m .großen L e b e n '

35

a) Die Metaphorik des .Stirb und Werde' als Basis-Ideologem des frühexpressionistischen .Aufbruch'-Themas

35

b) Ein Moment im literarischen Anspielungshorizont der Jahrhundertwende: Friedrich Nietzsche

57

c) Die scheinbare Hinwendung zur Realität

59

3 . Ernst Stadler: Versöhnung durch Identifikation

78

a) Das literarische Thema ,Aufbruch' und seine Affinitäten zum .lyrischen Sujet' als einer poetologischen Kategorie

78

b) „Der Aufbruch" (1914)

83

4 . Ernst Wilhelm L ö t z : Kritische K o n t r a f a k t u r — und falsche Konsequenzen

105

a) Biographische Notizen und Thesen aus dem Forschungsstand

105

b) Elegische Retrospektive und utopischer Horizont: .Der Aufbruch findet nicht statt'

109

c) „Aufbruch der Jugend" - Die falsche Konsequenz

127

III. Die Dialektik von U t o p i e und Ideologie: Ludwig Rubiners aktivistische Manifeste, Appelle und Programme

133

1. Die „ästhetische F u n k t i o n " aktivistischer Manifeste, Appelle und P r o g r a m m e

136

a) Die subpoetische Struktur der Textsorte .Manifest, Appell, Programm'

136

b) „Ästhetische Funktion" oder Klassifikation als Ideologie?

145

2. Radikale Rhetorik: Sozialpathetik und Metapher der

VIII

Revolution

158

a) Der ,Geist'-Topos: Regulative Idee contra politischen Inhalt

158

b) Kunst als Politik oder: Politik ohne Kunst

3. Die Dialektik von Utopie und Ideologie in der hierarchischen Struktur der Textsorte ,Manifest, Appell, Programm'

173

179

a) Der literarische Essay „Die Änderung der Welt": Zur Argumentation in der subpoetischen Vergleichsebene

182

b) Der Gedichtzyklus „Das himmlische Licht": Zur Differenz in der Ähnlichkeit

185

c) Gedicht und Gedichtzyklus: Utopische Konstruktion und ideologische Implikationen

196

d) Visuelle Konkretion und poetische Abstraktion

208

4. Utopische Valenz und politische Konkretion: die Veränderung des utopisch-poetischen Modells im sich verändernden historisch-politischen Kontext

221

a) Der Literat als Protagonist der absoluten politischen Moral oder: Die Herrschaft der geistigen Elite

221

b) Die ,Masse' als Protagonist und Objekt der Erlösung oder: Tendenzen einer radikalen Demokratie

227

IV. Ideologie statt Utopie: Tendenzen einer trivialmystizistisch ,völkischen' Sehnsucht im kosmischen Seelenkult Kurt Heynickes 1. Aktivismus contra Mystizismus

237 238

a) Scheinbare Affinitäten in der prinzipiellen Differenz

238

b) Selbststilisierung im ideologischen Kontext; Marginalien zum Forschungsstand

243

2. Die Metaphorik des Jugendstils in ihrer trivialmystizistischen Epigonalität und der ,Krieg' als sakral-kosmisches Schicksal

248

a) „Rings fallen Sterne" (1917)

248

b) „Das namenlose Angesicht" (1919)

253

IX

c) „Gottes Geigen" (1919)

260

3. „ R h y t h m e n aus Zeit u n d Ewigkeit" — u n d die Gegenwart der R e v o l u t i o n

266

a) „Der Willen zur Seele" oder „Seele zur Kunst"?

266

b) Das triviale Klischee und der verfälschte Mythos

271

4. T e n d e n z e n einer .völkischen' Sehnsucht

275

a) Irrationalismus statt Geschichtsbewußtsein

275

b) Vom „Führertum der Seele" zur ,Volksgemeinschaft'

278

Literaturverzeichnis

283

Nachbemerkung

299

X

I. Der Anfang einer ,Expressionismus-Debatte'

Es hat eine ,Expressionismus-Debatte" gegeben; ihre Funktion, ihr Verlauf und ihre Ergebnisse sind dokumentiert worden. 1 Was bis heute noch aussteht, ist eine Debatte über expressionistische Literatur. Endlich mit der ,Expressionismus-Debatte' anzufangen, statt weiter eine sogenannte Epoche nur zu verwalten, also zu beginnen, der Dialektik dieser belächelten und stilisierten, verkannten und geleugneten „Literatur-Revolution" 2 auf den Grund zu gehen: darin liegt das ,erkenntnisleitende Interesse' dieser Abhandlung. Georg Lukács kommt das zweifelhafte Verdienst zu, die expressionistische Literatur als Ideologie enttarnt zu haben, Ernst Bloch hat gegen solch pauschale Verdammung die Ehrenrettung formuliert: „Die Expressionisten waren pioniere' des Zerfalls: wäre es besser, wenn sie Ärzte am Krankenbett des Kapitalismus hätten sein wollen?" 3 Lukács sieht im Expressionismus bloß eine Ausgeburt an „reaktionär-utopischem Scheinradikalismus", 4 während Bloch an die ,Wahrheit' „antizipierender Bewegungen 1

2

3 4

Vgl. Die Expressionismusdebatte. Materialien zu einer marxistischen Realismuskonzeption, hg. von Hans-Jürgen Schmitt, Frankfurt am Main 1973 (= edition suhrkamp 646). Zum Begriff „Literatur-Revolution" vgl. Paul Pörtner, Literatur-Revolution 1 9 1 0 - 1 9 2 5 . Dokumente-Manifeste-Programme, hg. von der Akademie der Wissenschaften und der Literatur, Mainz, Band 13, Dritter Band der Dokumentar-Veröffentlichungen, Darmstadt/Neuwied am Rhein/Berlin Spandau 1960, Band I: Zur Ästhetik und Poetik; Band 13/11, Vierter Band der Dokumentar-Veröffentlichungen, Neuwied am Rhein/Berlin Spandau 1961, Band II: Zur Begriffsbestimmung der Ismen. Ernst Bloch, Diskussionen über Expressionismus, in: Die Expressionismusdebatte, S. 1 8 0 - 1 9 1 ; Zitat S. 187. Georg Lukács, .Größe und Verfall' des Expressionismus, in: Marxismus und Literatur. Eine Dokumentation in drei Bänden, hg. von Fritz J. Raddatz, Reinbek bei Hamburg 1969, Band II (= Rowohlt Paperback 81), S . 7 - 4 2 ; Zitat S. 29.

1

im Überbau" 5 erinnert. Zudem könne man doch nicht „das Experiment des Zerfällens mit dem Zustand des Verfalls gleichsetzen)", wie dies Lukács getan habe.6 A u f der einen Seite steht die implizite Behauptung, „Expressionismus und Faschismus (seien) Kinder des gleichen Geistes", 7 auf der anderen Seite wird auf den ,Geist der Utopie' insistiert, der sich in geistloser Zeit nicht habe korrumpieren lassen, sondern zur einzig möglichen Waffe bürgerlicher Intellektueller geworden sei. In diesem Streit, und dies gilt es festzuhalten statt der Auswüchse einer bis zum kleinbürgerlichen Gezänk entarteten Polemik, sind theoretische Positionen einer Literaturgeschichtsschreibung markiert worden: Radikalisiert worden ist die Frage, ob denn Literaturgeschichte in letzter Instanz identisch sei mit Ideologiegeschichte? Oder ob nicht etwa die Geschichte der Literatur eine Form von Bewußtsein objektiviere, die inkommensurabel sei der Hermeneutik politischer Ökonomie? Es ist in dieser zur bloßen Zitatensammlung degenerierten „Expressionismus-Debatte" niemals um die ideologischen Grenzen und utopischen Möglichkeiten expressionistischer Literatur gegangen, gar um den .Realismus', wie behauptet worden ist. Es ging um die Institutionalisierung einer normativen Poetik,die bis heute unter dem Etikett Sozialistischer Realismus' firmiert; es ging um die Dogmen für eine Literatur, deren Perspektive und Parteilichkeit aktiver Bestandteil einer Volksfrontpolitik gegen den Faschismus sein sollte — kurz: es ging um alles andere als um den Expressionismus. Und trotzdem: es ist gefragt worden nach dem Zusammenhang von falschem und richtigem Bewußtsein in einer historischen Situation; es ist gefragt worden nach der Möglichkeit eines historischen Bewußtseins, das sich in Literatur artikuliere. Im Kontext der Theorie-Debatte sind die Fronten schroff, ja unversönlich abgesteckt worden: Ästhetische Erkenntnis oder ästhetisierende Verklärung? Utopie, wie Ernst

5

Ernst Bloch, Diskussionen über Expressionismus, S. 184.

6

Ernst Bloch, Diskussionen über Expressionismus, S. 186.

7

Bloch spricht in dieser Formulierung die Konsequenzen o f f e n aus, die aus Lukács' Argumentation in seinem Aufsatz „ . G r ö ß e und V e r f a l l ' des Expressionismus" zu ziehen sind (E.B., Diskussionen über Expressionismus, S. 181).

2

Bloch sie im Konnex expressionistischer Literatur verstanden wissen wollte, oder Ideologie, wie Georg Lukács sie entdeckt zu haben glaubte? Die Kategorien ,Utopie' und .Ideologie' haben sich in ihrem inflationären Gebrauch abgenutzt. Das macht sie freilich noch nicht unbrauchbar. Klar und scharf werden sie allerdings erst dann wieder, wenn differenzierter — als bisher geschehen — mit ihnen argumentiert wird. Sollte nicht, anstatt sie zu verbannen, eher gefragt werden, wieviel an Sprengkraft noch in einer Heuristik liegt, die sich ihrer Nuancen erinnert? Und darüber hinaus: bedeutet es in der Konsequenz nicht, hinter den erreichten Diskussionsstand der „Expressionismus-Debatte" zurückzufallen — wohlgemerkt: nicht hinter den Stand der Expressionismus-Forschung —, wenn die aus dem Zusammenhang von ,Utopie' und .Ideologie' zu entwickelnden Fragen gerade im Kontext expressionistischer Literatur nicht beantwortet werden? Denn eines gilt es bei Gelegenheit dieser Debatte nach wie vor zu lernen, daß nämlich Literaturgeschichte nur als Kritik der Literatur zu denken ist und daß Literatur als ästhetische Erscheinung nur in ihrer gesellschaftlichen Funktion begriffen werden kann: Apologie der Wirklichkeit oder aber deren Negation zu sein. Die Kategorien .Utopie' und Ideologie' zielen in ihrer literaturwissenschaftlichen Adaption ab auf die gesellschaftliche Funktion von Literatur. Darüberhinaus fragen diese Kategorien eo ipso nach der Geschichtlichkeit jener gesellschaftlichen Funktion. Und behauptet wird: in diesen Kategorien kann Geschichte, also Literaturgeschichte, konkret werden. So erscheint im kontinuierlichen Abarbeiten am schon Geschichtlichen die Gegenwart als Moment des Geschichtsprozesses. Mit einer zwar alten, aber immer wieder neu zu lösenden Frage ist deshalb dem fortschreitenden Verlust an historischem Bewußtsein entgegenzutreten, wie er in der Linguistisierung der Literaturwissenschaft zu beobachten ist, wie er deutlich wird in der Rezeptionsästhetik, der bewußtlosen Wiedererweckung werkimmanenter Verinnerlichungsstrategien: Wie es sich nämlich mit dem Verhältnis oder dem Widerspruch von .Utopie' und .Ideologie' in der Literatur verhalte? Und zu fragen ist weiter, wie es denn die Expressionismus-Forschung mit dieser Frage hält, die doch an ihren Untersuchungsgegenstand zunächst einmal herangetragen worden ist — und wenn auch nur 3

abstrakt? Zudem, die Expressionismus-Forschung thematisiert die Substanz der Fragestellung in fast jedem Beitrag, ohne sie jemals zum Thema gemacht zu haben. Auch dieser „Ideologie der ,Entideologisierung' " 8 ist im Kontext der Interpretationen nachzugehen.

1. Expressionistische Lyrik: Utopie oder Ideologie? Nur vereinzelt ist explizit der Zusammenhang zwischen Utopie und Ideologie in expressionistischer Lyrik untersucht worden, 9 ohne daß allerdings eine breitere Diskussionsgrundlage in der Forschung hätte geschaffen werden können. So ist eine kritische Hermeneutik auf den Ursprung der Fragestellung zurückverwiesen, um differenziertere Fragen überhaupt methodologisch exakt ableiten zu können. Also noch einmal: Expressionistische Lyrik — Utopie oder Ideologie? Nicht verschwiegen werden soll, daß nur ein Problembewußtsein jenseits einer solchen alternativen oder polar strukturierten Heuristik auch differenziertere Resultate zutage fördern kann, wie die Interpretationen zeigen werden. Zumindest ist aber mit der kontradiktorischen Entgegensetzung von ,Utopie' und .Ideologie' für expressionistische Lyrik die geschichtliche Ausgangslage der primären Rezeption und der primären literaturtheoretischen und literaturgeschichtlichen Reaktion

8

9

4

Gert Mattenklott/Klaus Schulte, Literaturgeschichte im Kapitalismus. Zur Bestimmung demokratischer Lehrinhalte in der Literaturwissenschaft, in: Neue Ansichten einer künftigen Germanistik, hg. von Jürgen Kolbe, München 1973 (= Reihe Hanser 122), S. 7 5 - 1 0 1 ; Zitat S. 76. Hervorzuheben sind hier vor allem Arbeiten von Silvia Schlenstedt: S.S., Tat vermähle sich dem Traum. Revolutionäres und Evolutionäres im Utopischen expressionistischer Literatur, in: Revolution und Literatur. Zum Verhältnis von Erbe, Revolution und Literatur, hg. von Werner Mittenzwei und Reinhard Weisbach, Frankfurt am Main 1972 (= Röderberg Taschenbuch Band 1), S. 1 2 9 - 1 5 8 ; S.S., Wegscheiden. Deutsche Lyrik im Entscheidungsfeld der Revolutionen von 1917 und 1918, hg. von der Akademie der Wissenschaften der DDR, Zentralinstitut für Literaturgeschichte, Berlin 1976 (= „Literatur und Gesellschaft"); auch das Nachwort in der Anthologie „Expressionismus. Lyrik", hg. von Martin Reso in Zusammenarbeit mit Silvia Schlenstedt und Manfred Wolter, mit einem Nachwort von Silvia Schlenstedt, 1. Aufl. Berlin und Weimar 1969, S. 6 1 7 - 6 5 8 .

in ihren extremsten Positionen erfaßt und abstrakt beschrieben. Diese Extrempositionen sind Varianten einer manipulierten Rezeptionsgeschichte expressionistischer Lyrik, einer Rezeptionsgeschichte, die bis heute den Gang der Forschung entscheidend verunklärt hat. Und betroffen machen müßte doch, daß Ernst Blochs Fazit vor vierzig Jahren immer noch den Stand der Expressionismus-Forschung charakterisiert: „Das Erbe des Expressionismus ist noch nicht zu Ende, denn es wurde noch gar nicht damit angefangen."10

a) Das poetische Modell einer Utopie Schon 1919 bringt Ludwig Rubiner die Anthologie ,.Kameraden der Menschheit, Dichtungen zur Weltrevolution" 11 heraus, die in ihrer Auswahl

und Anordnung

eine

erste explizit

politisch-utopische

,Rezeptionsvorgabe' expressionistischer Lyrik darstellt. Am Anfang der realen RezsTptionsgeschichte — nicht zu verwechseln mit der zeitgenössischen Rezeption — steht jedoch das poetische Modell einer Utopie, wie es 1920 von Kurt Pinthus in der Kompositionsstruktur der Anthologie „Menschheitsdämmerung, Symphonie jüngster Dichtung" 12 konstruiert worden ist. Pinthus unterteilt seine „Sammlung" 13 in vier Subsysteme: (1)

10 Ernst Bloch, Diskussionen über Expressionismus, S. 191. 11 Zuerst erschienen im Kiepenheuer Verlag, Potsdam 1919; vgl. auch die Neuausgabe: Kameraden der Menschheit, Dichtungen zur Weltrevolution. Eine Sammlung, hg. von Ludwig Rubiner, Mit einem Vorwort von Friedrich Albrecht, Leipzig 1971 (= Reclams Universal-Bibliothek Band 218) - zitiert im folgenden als KDM. 12 Zuerst erschienen im Ernst Rowohlt Verlag, Berlin 1920; vgl. auch die Neuausgabe: Menschheitsdämmerung. Ein Dokument des Expressionismus, mit Biographien und Bibliographien neu hg. von Kurt Pinthus, 86.-90. Tausend Hamburg 1972 (= Rowohlts Klassiker der Literatur und Wissenschaft 55) zitiert im folgenden als MD. 13 Kurt Pinthus charakterisiert die Anthologie im Vorwort der Ausgabe von 1920 noch so: „Sammlung der Erschütterungen und Leidenschaften, Sammlung von Sehnsucht, Glück und Qual einer Epoche - unserer Epoche. Es ist die gesammelte Projektion menschlicher Bewegung aus der Zeit in die Zeit." Dieses Buch „soll nicht Skelette von Dichtern zeigen, sondern die schäumende, chaotische, berstende Totalität unserer Zeit" (MD, S. 22).

5

„Sturz und Schrei", 14 (2) „Erweckung des Herzens", 15 (3) „Aufruf und Empörung" 16 und (4) „Liebe den Menschen". 17 Die leitmotivische Funktion des jeweils ersten Textes im Subsystem — als semantischthematische Invarianz — korrespondiert mit der semantischen Varianz der folgenden Texte derart, daß deren auf der allgemeinen Inhaltsebene divergierende Elemente (vor allem Konnotationen und Allusionen) durch das vorgelagerte, steuernde Leitmotiv synchronisiert werden. Die immanente Bewegung, welche die vier Subsysteme, punktuell in ihren jeweils ersten Texten zu Archisemen verdichtet, zum Topos der ,Utopie' konkretisieren, 18 wird im Titel der Anthologie zeitmetaphorisch kodiert widergespiegelt: Die „Menschheitsdämmerung" symbolisiert die Negation der .Apokalypse' in der .Erlösung': die Abenddämmerung der Menschheit wird zu ihrer Morgenröte, in der Metamorphose des „Sturzes und Schreis" erwacht der Appell „Liebe den Menschen". Die Eskalation vom ersten zum vierten Subsystem suggeriert das Bild einer dynamischen Entwicklung expressionistischer Lyrik. Und im Bild von der dynamischen Entwicklung ist die Vorstellung einer chronologischen Entfaltung implizit mitgegeben. Diese in der Anthologiekonzeption aufgebaute zielorientierte Dynamik expressionistischer Lyrik innerhalb einer fiktiven Chronologie braucht im Prinzip nur noch mit dem Schlagwort vom expressionistischen Jahrzehnt' (1910—1920) 19 kontaminiert zu werden, um die .ExpressionismusLegende' zu komplettieren: Von der perspektivlosen Aufnahme der Wirklichkeit am Vorabend 14 MD, S. 3 7 - 1 1 9 . 15 MD, S. 1 2 1 - 2 0 9 . 16 MD, S. 2 1 1 - 2 7 5 . 17 MD, S. 2 7 7 - 3 2 9 . 18 Für das erste Subsystem ist es das Leitmotiv der .Apokalypse' (Jakob van Hoddis, Weltende, in: MD, S. 39), für das zweite das der .inneren Wandlung' (Alfred Wolfenstein, Das Herz, in: MD, S. 123), für das dritte das des ,Aufbruchs' (Johannes R. Becher, Vorbereitung, in: MD, S . 2 1 3 ) und für das vierte das der .Versöhnung' (Franz Werfel, An den Leser, in: MD, S. 279). 19 Allein die Untersuchungen zu den Werkkontexten von Schickele, Stadler, Lötz, Rubiner und Heynicke zeigen anschaulich, daß die Vorstellung von einem sogenannten „expressionistischen Jahrzehnt" jeglicher literaturgeschichtlicher Grundlage entbehrt. Die literarische Evolution ist komplizierter, wie zu zeigen sein wird. - Vgl. dazu die Anthologie „Lyrik des expressionistischen Jahrzehnts. Von den Wegbereitern bis zum Dada. Einleitung von Gottfried Benn, 5. Aufl. München 1970 (= sonderreihe dtv 4), vor allem S. 15 f.

6

des Ersten Weltkrieges, über die Wandlung des einzelnen angesichts des imperialistischen Massenmordes, also über die innere Umkehr vom Bösen zum Guten — weil jeder, auch der gegenüber im Schützengraben, ein Bruder ist —, zum Widerstand der vielen Gewandelten, die, aus der Ohnmacht und Lethargie erwacht, die Wahrheit hinausschreien, Mord Mord nennen, die ,Ehre des Vaterlands' als ,Skrupellosigkeit der Kriegsgewinnler demaskieren', eine pazifistische Massenbasis organisieren, worüber schließlich die ,verhaßten Throne' stürzen. Und endlich kann die Versöhnung der Gewandelten und Geläuterten im Horizont einer neuen Menschheit gefeiert werden, einer Menschheit, die jenseits der Erbsünde in der .ästhetischen Überwindung der bürgerlichen Gesellschaft' Moral und Kunst, Individuum und Gesellschaft in Harmonie bringt. Auch Ludwig Rubiner setzt in seiner Anthologie „Kameraden der Menschheit" (1919) das Modell einer aus Texten zu einem Gesamttext komponierten ,Utopie' gegen das Prinzip der chronologischen Edition. Rubiner vereinigt in seiner Anthologie den aktivistischen Flügel des Expressionismus, der in der Tendenz aus der Kritik am Kriege eme abstrakt-utopische Gesellschaftsveränderung proklamierte. Der internationalistische Aspekt der Kriegskritik20 und die Forderung nach einer die entfremdenden Landesgrenzen überschreitenden Versöhnung aller humanistisch-revolutionären, radikal-demokratischen Kräfte 21 werden durch die Aufnahme der drei französischen Autoren Marcel Martinet, Henri Guilbaux und P.-J. Jouve unterstrichen. Gemeinsam erheben sie Anklage gegen die herrschende ,Geld-Plutokratie', die zur Kenntlichkeit entstellt vornehmlich in der Maske des feisten, fetten Bourgeois, Kriegsgewinnlers und Leichenfledderers auftritt. 22 20 Vgl. zu den Organen der Kriegskritik Eva Kolinsky, Engagierter Expressionismus, Politik und Literatur zwischen Weltkrieg und Weimarer Republik. Eine Analyse expressionistischer Zeitschriften, Stuttgart 1970. 21 Vgl. Hans Kaufmann: „Auch mit der Betonung des Internationalismus, der sich in der Aufnahme französischer revolutionärer Gedichte dokumentiert, steht Rubiner unter dem Eindruck wirklich revolutionärer Ideen" (Krisen und Wandlungen der deutschen Literatur von Wedekind bis Feuchtwanger, Fünfzehn Vorlesungen, 2. Aufl. Berlin und Weimar 1969, S. 249). 22 Vgl. dazu paradigmatisch: „Der feiste Bürger schrumpft in sich zusammen" (Johannes R. Becher, Gruß des deutschen Dichters an die Russische Föderative Sowjet-Republik, in: KDM, S. 20); „Der infame heuchlerische Redakteur der / Regierung H e n Friedrich Stampfer / stochert befriedigt (feisterer Grinser, /

7

Rubiner unterteilt wie Pinthus in Text-Gruppen, welche in Referenz zum Titel „Kameraden der Menschheit" zu Subsystemen werden, die eine programmatisch-appellative Revolutions-Utopie konkretisieren: die „Internationale" der oppositionellen Literaten überwindet die bourgeoise, morbide, verkommene Lebensordnung im gemeinsamen Appell: „Nieder mit dem Krieg". 23 Der Aufbau beider Anthologien, vor allem die Kongruenz der durch individuelle Läuterung ins Abstrakte abgleitenden Menschheitsversöhnung, das emphatische Finale der Utopie-Konzeption, umreißt die utopische Intention der Interpretation expressionistischer Lyrik und der darauf basierenden Text-Selektion: „Liebe den Menschen" als Desiderat einer aus dem Grauen imperialistischen Massenmordes erwachsenen Gesellschaftskritik findet sein Äquivalent im Subsystem „Kameraden der Menschheit", 24 dem utopischen Horizont einer individualistisch-versubjektivierten Gesellschaftsveränderung. Radikalisiert erscheint in Rubiners Komposition die Utopie einer universellen Menschheitsversöhnung und -Verbrüderung durch die Metamorphose des bürgerlichen Literaten zum Anwalt aller Ausgebeuteten, Unterdrückten und Verfolgten, der aus der Verschärfung der gesellschaftlichen Widersprüche zum .politischen Führer' avanciert: er wird zum Protagonisten des ,Geistes in der Tat'. 2 5 Aus der Kriegskritik - so der Eindruck durch die Rezeption der Anthologie — erwächst die Notwendigkeit der Solidarität. Über die Aufnahme

vollster Fletscher) im Leichenbrei" (Johannes R.Becher, Panzerwagenballade, in: KDM, S. 74); „Es naht der Feldmarschall mit Eichenlaub. / Die Tafel klirrt, Champagnergläser klingen. / Ein silbernes Tablett ist Kirchenraub" (Walter Hasenclever, Die Mörder sitzen in der Oper, in: KDM, S. 82); „Und Minister, Diplomaten, Politiker, Journalisten fahren / i m Auto, liegen bei berühmten Schauspielerinnen, überfressen sich" (Henri Guilbaux, Liebknecht, in: KDM, S. 98); „Gehst du gegen die Reichen, gegen die Herren, / gegen die, welche dein Teil essen, / gegen die, welche dein Leben verschlingen, / und das Teil und das Leben deiner Söhne dazu? / Gegen die Wohlgenährten"? (Marcel Martinet, Du gehst dich schlagen, in: KDM, S. 104). 23 KDM, S. 29. 24 Das letzte Subsystem in der Anthologie „Kameraden der Menschheit", S. 1 2 3 - 1 6 1 . 25 Vgl. dazu Heinrich Mann, Geist und Tat (1910), in: H. M., Essays, Hamburg 1960, S. 14.

8

der tendenziell sozialistisch orientierten Literaten und deren Unbestechlichkeit 26 kommt Ludwig Rubiner zu eben der gleichen versöhnten Perspektive, der im Bild vollendeten Utopie, wie sie Kurt Pinthus konstruiert, ohne dabei allerdings in den Subsystemen einen direkten Bezug auf historische Ereignisse (Krieg, Revolution) herzustellen. Wie rezeptionssteuernd eine solche Interpretation der expressionistischen Lyrik, festgeronnen in der Kompositionsstruktur der beiden beschriebenen zeitgenössischen Anthologien, auf die Forschung gewirkt hat, zeigt die umfangreichste Textsammlung expressionistischer Gedichte nach 1945. Im ersten Hauptabschnitt der Anthologie „Expressionismus. Lyrik" (für die Periode 1910—1914) strukturiert Martin Reso die ausgewählten Texte unter dem „Spannungsverhältnis von Aufbruch- und WeltendeStimmung"; 27 im zweiten soll für die Textauswahl eine alle (?) expressionistischen Lyriker kennzeichnende ablehnende Aufnahme der Kriegswirklichkeit konstitutiv werden, folgerichtig wird die nächste Zäsur bei 1918 gesetzt („Was jubelt ihr und schwenkt die bunten Tücher und brüllt den Krieg? Gedichte 1914-1918" 28 ). Im dritten Hauptabschnitt („Ewig im Aufruhr. Gedichte 1918— 1923" 2 9 ) soll im historischen Kontext Revolution' und 3eginn der Weimarer Republik' eine inhaltliche Spannbreite subsumiert werden, in der „revolutionäres Pathos, elegische Reflexion über die verlorene Revolution und satirische Auseinandersetzung mit der Weimarer Republik (...) dicht beieinander (liegen). Zum anderen", so meint das Editoren-Kollektiv, sei zu berücksichtigen gewesen, „daß sich hier bei einigen Lyrikern der Übergang auf sozialistische Positionen" abzeichne. „Anfang und Abschluß dieses Komplexes bilden deshalb jene Gedichte, in denen sich die unmittelbare Bejahung der ,Gegenwart der

26 Vgl. Ludwig Rubiner, Nachwort, in: KDM, S. 1 6 7 - 1 6 9 . 27 Expressionismus. Lyrik, S. 660. 28 Expressionismus. Lyrik, S. 3 5 7 - 4 9 6 ; vgl. auch die Begründung im Nachwort: „Wir meinen mit dieser Gliederung - von der Elegie zur Utopie, zur Aktion die wesentlichen Momente dieser Epoche erfaßt zu haben, wenn man dabei wieder die Verzahnung untereinander beachtet und keine Exemplifizierung der Historie erwartet" (S. 661). 29 Expressionismus. Lyrik, S. 4 9 7 - 6 1 4 .

9

Revolution' und die satirische Auseinandersetzung mit der nachrevolutionären Situation manifestiert. 4 ' 30 Wenn der ,Spannungsbogen', den Pinthus und Rubiner am Ende des von Benn so charakterisierten „expressionistischen Jahrzehnts" modellierten — die hypostasierte Chronologie der ExpressionismusLegende' —, in einer sozialistischen Perspektivierung aufgehoben wird, dann können sogar die Schwierigkeiten bei der Integration des expressionistischen Erbes in die Linearität vom großen .bürgerlichen Realismus' zum sozialistischen Realismus' überwunden werden; und sei es auf Kosten einer Korrektur der Literaturgeschichte gegen die anstehende Korrektur der Literaturgeschichtsschreibung. Unter dem 16. Juni 1950 notiert Johannes R. Becher in seinem ,späten Tagebuch': „Meine Klugheit und Voraussicht sind zu loben, die mich meine früheren Gedichte so streng auswählen und zum Teil umarbeiten ließen. Viele meiner Freunde, darunter auch L., verstanden diese Art von nachträglicher, oft brutaler Korrektur nicht. Sie meinten auch: diese Gedichte seien historisch geworden, ich hätte kein Recht mehr auf sie, sie müßten unverändert, so wie sie geschrieben worden seien, in die Zukunft eingehen. Nun, das letztere wäre bestimmt nicht erfolgt, die Korrektur ist die einzige Aussicht, daß sie vielleicht noch einige Jahre bestehenbleiben. Aber der Hauptgrund, der es nötig erscheinen läßt, die Vergangenheit zu .korrigieren', liegt darin, daß wir diese unsere Verwirrtheit und Verderbtheit nicht unkorrigiert an die uns Nachfolgenden weitergeben können. Die unmenschliche Fratze, welche wir in der Vergangenheit darstellten, können wir den jungen Menschen von heute nicht zumuten. — (...) Nachmittags Sitzung bei Ulbricht über den Beitrag der Künstler zur Verwirklichung des Fünfjahrplanes. Für meinen Teil werde energisch darangehen, die Porträts von hervorragenden ,neuen' deutschen Menschen zu schaffen. Ein Gegenstück zu ,Spoon River'. Es formt sich schon einiges in mir." 3 1 Im Kontext einer solchen Einschätzung ist der Punkt erreicht, wo die summarische Rezeption des Expressionismus als póetisches Modell einer Utopie verklärt wird im Funktionszusammenhang einer herrschenden Ideologie. Diese »Dialektik' von „Erkenntnis und 30 Expressionismus. Lyrik, Nachwort, S . 6 6 2 . 31 Johannes R. Becher, Auf andere Art so große Hoffnung. Tagebuch 1950, Eintragungen 1951, Berlin und Weimar 1969, S. 3 0 2 f .

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Interesse" 32 produziert keinen ideologiekritischen hermeneutischen Horizont, sondern in der Kontamination von Erkenntnis und Interesse wird die hermeneutische Distanz zur Legitimation bestehender Herrschaft nivelliert. „Vorrang von Kontinuität oder Diskontinuität beim Übergang vom Expressionismus zum sozialistischen Realismus?", fragt Reinhard Weisbach (ohne dies allerdings endgültig entscheiden zu können): 3 3 Mit dem von Johannes R. Becher vorgeschlagenen Verfahren wäre freilich auch eine Kontinuität zu begründen. 34

b) Das Abbild einer literarisierten Ideologie Gegen die Verklärung der expressionistischen Lyrik als poetisches Modell einer Utopie steht diametral die Verdammung als Abbild literarisierten Ideologie,

einer

wie sie Georg Lukács 1934 in seiner apodikti-

schen Abrechnung mit dem in der „Internationalen Literatur" erschienenen Aufsatz „,Größe und Verfall' des Expressionismus", 35 der konstitutiven Exposition zur ,Expressionismusdebatte', dingfest gemacht zu haben glaubte. 36 Gegen die differenzierteren Einschätzungen von Werner Mittenzwei, 37 Hans Kaufmann 38 und Silvia Schlenstedt polemisiert Reinhard 32 Vgl. dazu Jürgen Habermas, Erkenntnis und Interesse, in: J. H., Technik und Wissenschaft als .Ideologie', 6. Aufl., 6 6 . - 7 5 . Tausend, Frankfurt am Main 1973 (= edition suhrkamp 287), S. 1 4 6 - 1 6 8 , besonders S. 157f. 33 Reinhard Weisbach, Wir und der Expressionismus. Studien zur Auseinandersetzung der marxistisch-leninistischen Literaturwissenschaft mit dem Expressionismus, hg. von der Akademie der Wissenschaften der DDR, Zentralinstitut für Literaturgeschichte, 2. Aufl. Berlin 1973 (= „Literatur und Gesellschaft"), S. 184. 34 Vgl. hierzu zum Beispiel die Auswahl der Gedichtc in: Johannes R. Becher, Werke in drei Bänden, Band 1 (Gedichte), Auswahl der Gedichte und Vorwort von Günther Deicke, 1. Aufl. Berlin und Weimar 1971. 35 Vgl. auch: Die Expressionismusdebatte, S. 9; in der Einleitung (S. 7 - 3 7 ) von Hans-Jürgen Schmitt wird die Chronologie der Debatte ausführlich referiert. 36 Lukács bestätigt in seinem Aufsatz „Es geht um den Realismus" (Die Expressionismusdebatte, S. 192-230) noch 1938 in der Tendenz seine vier Jahre zuvor veröffentlichte Polemik gegen den Expressionismus, auch wenn er jetzt differenzierter und zurückhaltender argumentiert. 37 Vgl. Werner Mittenzwei, Marxismus und Realismus. Die Brecht-LukácsDebatte, in: Das Argument, 10. Jg. (1968), Heft 2, S. 1 2 - 4 3 . 38 Vgl. Hans Kaufmann, Krisen und Wandlungen der deutschen Literatur von Wedekind bis Feuchtwanger, S. 166 f.

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Weisbach noch 1972 im Stile Alfred Kurellas 39 und auf der Folie des Lukácsschen Verdiktes gegen den Expressionismus' als ein „politischideologisches Phänomen" 4 0 des Wilhelminismus (?), ohne vielleicht dabei zu sehen, daß er auf solch fragwürdige Einschätzungen zurückgeht, wie sie in van Bruggens Dissertation („Im Schatten des Nihilismus") vertreten werden: „Der deutsche Expressionismus bildet ein wichtiges Dokument der nihilistischen Situation, die in Deutschland eine Vorbedingung gewesen ist für die große Rolle, die der Nationalsozialismus hat spielen können." 4 1 Allerdings kommen die Invektiven gegen die expressionistische Lyrik nicht von ungefähr. Noch im Winter 1933 verteidigt Gottfried Benn in seinem „Bekenntnis zum Expressionismus" den „Ausbruch eines neuen Stils auf so breiter Front" als „rücksichtsloses An-die-Wurzel-der-Dinge-Gehen bis dorthin, wo sie nicht mehr individuell und sensualistisch gefärbt, gefälscht, verweichlicht, verwertbar in den psychologischen Prozeß verschoben werden können", weil hier „ein Sein sowohl nach der formalen wie nach der menschlichen Seite hin von erklärt revolutionärem Charakter" zu Tage trete: „Der Träger dieses Seins in Italien, Marinetti, verkündete in seinem grundlegenden Manifest von 1909 JDie Liebe zur Gefahr', ,Die Gewöhnung an Energie und Verwegenheit', ,Den Angriffspunkt', ,Den Todessprung', JDie schöne Idee, für die man stirbt'. Der Faschismus hat übrigens diese Bewegung in sich aufgenommen, Marinetti ist heute Exzellenz und Präsident der römischen Akademie der Künste. Aufgenommen ist nicht einmal das richtige Wort, der Futurismus hat den Faschismus mitgeschaffen, das schwarze Hemd, der Kampfruf und das Schlachtenlied, die Giovinezza, stammen aus dem ,Arditismus', der kriegefischen Abteilung des Futurismus." 4 2 39 Vgl. Alfred Kurella (d.i. Bernhard Ziegler), Nun ist dies Erbe zuende ..., in: Die Expressionismusdebatte, S. 5 0 - 6 0 . 4 0 Reinhard Weisbach, Wir und der Expressionismus, S. 5 0 - 6 8 , besonders S. 53 f.; Z i t a t s . 54. 41 Max Ferdinand Eugen van Brüggen, Im Schatten des Nihilismus. Die expressionistische Lyrik im Rahmen und als Ausdruck der geistigen Situation Deutschlands, (Diss.) Amsterdam 1946, S. 38. 4 2 Gottfried Benn, Expressionismus, in: G. B., Gesammelte Werke in acht Bänden, hg. von Dieter Wellershoff, München 1975, Band 3, Essays und Aufsätze (= dtv 6047), S. 8 0 2 - 8 1 8 - Zitat S. 805; der Aufsatz ist erstveröffentlicht in: Deutsche Zukunft, 5. 11. 1933, unter dem Titel: Bekenntnis zum Expressionismus (vgl. dazu Band 8, der die Anmerkungen und Lesarten

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Konnte Georg Lukács also nicht mit guten Gründen und aus gegebenem Anlaß ein Jahr später in seiner programmatischen Abrechnung mit dem „reaktionär-utopischen Scheinradikalismus" 43 die Linearität in der „Zerstörung der Vernunft" 4 4 den Apologeten des Faschismus entgegenhalten? „Die Expressionisten wollten zweifellos alles eher als einen Rückschritt. Da sie sich weltanschaulich aber nicht vom Boden des imperialistischen Parasitismus lösen konnten, da sie den ideologischen Verfall der imperialistischen Bourgeoisie kritiklos und widerstandslos mitmachten, ja zeitweilig seine Pioniere waren, braucht ihre schöpferische Methode nicht entstellt zu werden, wenn sie in den Dienst der faschistischen Demagogie, der Einheit von Verfall und Rückschritt, gepreßt wird. Zu der allgemeinen ,Novembererbschaft' des Nationalsozialismus gehört also mit Recht auch der Expressionismus." 4 5 Beide Varianten der Steuerung des Rezeptionsprozesses aus der polaren Entgegensetzung von Extrempositionen, als poetisches Modell einer Utopie und als Abbild einer literarisierten Ideologie, verdecken schon im Ansatz die Spezifik des Verhältnisses von Kunst und Wirklichkeit in seiner Historizität: die poetische Aneignung der Realität und ihre Organisation in (relativ) autonomen ästhetischen Strukturen sind grundsätzlich inkommensurabel mit anderen Formen der ideellen Reproduktion gesellschaftlicher Prozesse und ihrer Modellierung. Die kategoriale Differenz von ,Utopie' und .Ideologie' als wissenschaftstheoretische 46 (und philosophiegeschichtliche) muß in die Referentialität von Literaturtheorie und Literaturgeschichte transformiert

43 44

45 46

enthält, S. 2171). Filippo Tommaso Maiinettis „Manifest des Futurismus" ist abgedruckt in: Paul Pörtner, Literatur-Revolution 1 9 1 0 - 1 9 2 5 . Dokumente-Manifeste-Programme. Band II: Zur Begriffsbestimmung der Ismen, S. 3 5 - 4 1 . Georg Lukács, .Größe und Verfall' des Expressionismus, S. 29. Vgl. dazu Georg Lukács, Die Zerstörung der Vernunft, Band 2: Irrationalismus und Imperialismus, Darmstadt und Neuwied 1974 (= Sammlung Luchterhand 138); Lukács behauptet eine lineare Degenereszenz der deutschen Geistesgeschichte von Friedrich Nietzsche zu Alfred Rosenberg - als direkte Widerspiegelung der imperialistischen Periode. Georg Lukács,,Größe und Verfall' des Expressionismus, S. 42. Vgl. hierzu Arnhelm Neusüss, Schwierigkeiten einer Soziologie des utopischen Denkens, in: Utopie. Begriff und Phänomen des Utopischen, hg. und

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werden. Jenseits einer ideologiekritischen Reflexion dieses Transformationsprozesses wird die fiir jede Gesellschaftsformation (welche noch auf Herrschaft gegründet ist, wie immer diese auch legitimiert sei) konstitutive Dialektik von Utopie und Ideologie — als der Widerspruch zwischen der Sanktion von Herrschaft und deren Negation verklärt in die Polarität von Parteilichkeit und Perspektivlosigkeit: die Widerspiegelung akzeptierter Herrschaft und stigmatisierter Kritik. Eine solche Reduktion der Dialektik von Utopie und Ideologie in die Scheidung von parteilich' oder ,perspektivlos' versucht Reinhard Weisbach mit seiner normativen Poetik zum Verfertigen einer adäquaten momentanen DDR-Lyrik zu begründen. Unter dem Appell „Für reale Perspektivsetzung im Gedicht" definiert er: „Eine andere Art der Konvergenz zu zeitgenössischen bürgerlichen Strömungen, die für Deutschland vor allem im Expressionismus ihren Modellfall haben, drückt sich aus in Erscheinungen unserer Lyrik, die wir Perspektivismus nennen wollen oder auch idealische Verheißung. Gewiß, in der sozialistischen Dichtung gibt es nicht mehr die leere Verheißung. Seit Heines Tagen überläßt sie den Himmel den Engeln und den Spatzen. Und weiter: Auch die soziale Utopie — beispielsweise in der Hoch-Zeit des Expressionismus häufigst entworfen —, die zwar hochstieg in den Himmel, aber doch, wenn auch in unbestimmter Ferne, auf die Erde zurücktreffen wollte, ist aus der sozialistischen Literatur des 20. Jahrhunderts weitgehend verschwunden. Erhalten hat sich aber eine, besonders in der lyrischen Dichtung anzutreffende, Form der Perspektivgestaltung, in der es zu einer poetischen Verkürzung des historischen Abstands von Heute und Morgen, zu einer fiktiven Reduzierung der wirklichen Entfernung des gesellschaftlichen Ziels kommt." 4 7

eingeleitet von A . N . , Neuwied und Berlin 1968 (= Luchterhand: Soziologische Texte Band 44), besonders S. 15 f. 47 Reinhard Weisbach, Wir und der Expressionismus, S . 4 0 f .

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2. Die dialektische Einheit und kategoriale Differenz von Utopie und Ideologie als gesellschaftskritischen Kategorien und Theoremen ästhetischer Theorie Die Argumentation ist zum Zwecke der Demonstration bis zu dem Punkt vorangetrieben worden, wo auf dem Hintergrund einer normativen Poetik literarische Wertungen möglich werden, welche Literaturprodukte, die innerhalb konkreter Herrschaftsstrukturen als ideologische Funktive wirksam sind, in ,utopische Modelle' — also in scheinbare ästhetische Erkenntnis — verklären: denn dies bedeutet die „poetische Verkürzung des historischen Abstands von Heute und Morgen", die „fiktive Reduzierung der wirklichen Entfernung des gesellschaftlichen Ziels" (Weisbach). Im Gegensatz zu einer solchen Aufhebung der .Dialektik von Utopie und Ideologie' in ^Parteilichkeit und Perspektivlosigkeit' steht in dieser Untersuchung zur Diskussion die Genese, Semantik und Funktion signifikanter Invarianzen einer in ästhetischen Strukturen konkretisierten utopischen Intentionalität und deren Historizität: also deren ideologisches Substrat. Gegenstand der Analyse ist die Interpretation von Texten innerhalb autorzentrierter Werkzusammenhänge von der Lyrik der Jahrhundertwende bis zu deren endgültiger epigonaler Zitation in scheinbar genuin expressionistischen Modellierungen.48 Die Werkzusammenhänge sollen in ihrer ,Zusammen- und Entgegenstellung' Momente einer literarischen Evolution' 49 für die Dialektik des ausgeblendeten thematischen 4 8 Zur Problematik der „Modellierung in der Kunst" und zum Begriff des .Modells' allgemein vgl. Jurij M. Lotman, Vorlesungen zu einer strukturalen Poetik. Einführung, Theorie des Verses, hg. und mit einem Nachwort versehen von Karl Eimermacher, übersetzt von Waltraud Jachnow, München 1972 (= Theorie und Geschichte der Literatur und der schönen Künste, Texte und Abhandlungen, hg. von Max Imdahl u.a., Band 14), S. 3 4 - 4 4 ; siehe auch Jurij M. Lotman, Die Struktur literarischer Texte, übersetzt von Rolf-Dietrich Keil, München 1972 (= UTB 103), S. 27. - Der strukturalistische Ansatz, Kunst als Modell der Wirklichkeit aufzunehmen, muß scharf gegen den .Widerspiegelungsbegriff' der sogenannten materialistischen Ästhetik abgegrenzt werden. 4 9 Vgl. zur Theorie der .literarischen Evolution* u.a. Jurij Tynjanov, Über die literarische Evolution, in: Russischer Formalismus. Texte zur allgemeinen Literaturtheorie und zur Theorie der Prosa, hg. und eingeleitet von Jurij

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Aspekts als eine der möglichen paradigmatischen »literarischen Reihen' vom ,Ästhetizismus zum Expressionismus' aufscheinen lassen: Von der Rückkoppelung der frühexpressionistischen,Utopie des Aufbruchs' in der ,Stirb und Werde'-Metaphorik der Jahrhundertwende bei René Schickele und Ernst Stadler ausgehend, wird zunächst die Kontrafaktur des ideologischen Substrats im Prozeß der Transformation und Destruktion der , Aufbruchs'-Thematik bei Ernst Wilhelm Lötz beschrieben. Jedoch kann im Werk von Lötz nicht nur die Kontrafaktur nachvollzogen werden, sondern in der Verlagerung der Utopie des Aufbruchs auf eine Protagonistenperspektive schon die Kontur einer fortgeschritteneren inhaltlichen ,Kontextualisierung'50 der neuen Qualität von Ideologie im veränderten geschichtlichen Zusammenhang. Rubiners (scheiternder) Versuch einer Radikalisierung des utopischen Potentials in der Hypostasierung der bei Lötz erst im Keim beobachtbaren Protagonisten-Frage und die semantische Umkodierung des ,Utopie' signalisierenden ,Geist'-Topos in die latent Ideologie implizierende ,Licht'-Symbolik zeigen die Grenzen der Identifikation von Kunst und Politik als letzte Stufe der Variation des expressionistischen ,Aufbruchs', der zunächst in der emphatischen Identifikation von lyrischem Subjekt und lyrischem Objekt mit ,Utopie und Wirklichkeit' modelliert worden war (Stadler). In der ästhetischen Strukturierung wird die Radikalisierung als neue Qualität deutlich in einer latenten Textsortennivellierung, wobei die Grenzen zwischen ,Essay', »Programm', .Manifest', ,Appell' und der poetischen Transformation dieses Textsorten-Komplexes fließend werden. Mit Heynickes Lyrik kann schließlich die Degeneration einer Dialektik von Utopie und Ideologie in eine bloße trivialmystizistische Verklärung der Wirklichkeit aufgezeigt werden, wobei im radikal veränderten historischen Striedter, München 1971 (= UTB 40), S. 4 3 3 - 4 6 1 ; ViktorSklovskij, Theorie der Piosa, aus dem Russischen übertragen und hg. von Gisela Drohla, Frankfurt am Main 1966 (= Fischer Paperbacks); speziell zu den Termini „automatisierte Folie" und „Novum": Jürgen Link, Literaturwissenschaftliche Grundbegriffe. Eine programmierte Einführung auf strukturalistischer Basis, München 1974, S. 98; zum Begriff der „Deautomatisierung": Rolf Kloepfer, Poetik und Linguistik. Semiotische Instrumente, München 1975 (= UTB 366), S. 4 4 - 4 8 . 50 Vgl. zum Problem .invarianter Text' - .variabler Kontext' Jochen SchulteSasse u.a., Theorie literarischer Texte und Methoden des Zugangs, in: Die Literatur, Freiburg/Basel/Wien 1973, S. 3 9 1 - 4 1 7 .

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Kontext nach vier Jahren Weltkrieg in der Referenz auf jugendstilhafte Versatzstücke nur noch affirmative Tendenzen freigesetzt werden. Wenn so der Rahmen der Untersuchung in seinem thematischen Umriß skizziert wird, können in einem ersten Schritt — gleichsam hypothetisch — Zusammenhänge von .Utopie und Ideologie' für eine abgegrenzte Phase der Literaturgeschichte deduziert werden; allerdings wird es notwendig — um im Gang der Darstellung nicht immer wieder darauf zurückkommen zu müssen —, die Kategorien aus ihrer Applikation zu lösen und in eine gesichertere theoretisch-methodologische Basis zu überführen. Dies bedeutet nicht, Theorie und Praxis voneinander zu trennen: so, als könne auf der einen Seite die Interpretation von Texten versucht werden, während auf der anderen Seite die Methodologie des ,Ansatzes' dargestellt wird: die Interpretation ist die Konkretion der Methodologie, „während die Methode, vom Abstrakten zum Konkreten aufzusteigen, nur die Art für das Denken ist, sich das Konkrete anzueignen, es als ein geistig Konkretes zu reproduzieren. Keineswegs aber der Entstehungsprozeß des Konkreten selbst." 51

a) Die dialektische Einheit von Utopie und Ideologie als gesellschaftskritischen Kategorien und Theoremen ästhetischer Theorie Karl Marx hat in der „Einleitung. Zur Kritik der Hegeischen Rechtsphilosophie" am Beispiel der Religion den Zusammenhang zwischen dem .falschen Schein' der Wirklichkeit und dem in ihm enthaltenen .kritischen Potential' als Bewußtwerdung der ideologischen Funktion in der Gesellschaft und als Aufscheinen konkreter Bedürfnisse in ihrer Verklärung dargestellt, und zwar als exemplarisches und paradigmatisches Modell einer in sich konsistenten und kontingenten Referentialität von verschiedenen, anscheinend einander widersprechenden Funktionen, die ein und dasselbe ideelle Produkt aus der konkreten Reproduktion einer Gesellschaft als historische Formation wahrnehmen kann: „Das religiöse Elend ist in einem der Ausdruck des 51 Karl Marx, Einleitung [Zur Kritik der Politischen Ökonomie], in: Karl Marx/ Friedrich Engels Werke, hg. vom Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED, Berlin 1972, Band 13, S . 6 3 2 - zitiert im folgenden als M EW.

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wirklichen Elendes und in einem die Protestation gegen das wirkliche Elend. Die Religion ist der Seufzer der bedrängten Kreatur, das Gemüt einer herzlosen Welt, wie sie der Geist geistloser Zustände ist. Sie ist das Opium des Volks. Die Aufhebung der Religion als des illusorischen Glücks des Volkes ist die Forderung seines wirklichen Glücks. Die Forderung, die Illusionen über seinen Zustand aufzugeben, ist die Forderung, einen Zustand aufzugeben, der der Illusionen bedarf. Die Kritik der Religionen ist also im Keim die Kritik des Jammertales, dessen Heiligenschein die Religion ist." 52 In der Abstraktion vom konkreten Fall erscheint als allgemeinste Form des Verhältnisses von Utopie und Ideologie das Modell ihrer Dialektik. Dem ideologischen Schein inhäriert ein Wahrheitsmoment: die Existenz der Utopie in der Verklärung des Mangels als das ,noch nicht bewußte Sein ' realer Bedürfnisse.53 Peter Hahn hat — ausgehend vom Modell der Marxschen Religionskritik — die Klassifikationen von „Kunst als Ideologie und Utopie" in einer an der Geschichtlichkeit von ästhetischen Theorien orientierten Untersuchung beschrieben und kommt in der Rückkoppelung der jeweils historisch und weltanschaulich geprägten „Kunstbegriffe" auf ihre widergespiegelte soziale Basis zu der auch für diese Untersuchung konstitutiven Präzisierung, daß der „gemeinsame Nenner des Ideologischen wie des Utopischen und eine Interpretation der Kunst unter diesen Gesichtspunkten (...) die Beziehung auf Entfremdung und deren Aufhebung" ist. s4 Auch Peter Bürger rekurriert in seinem Versuch einer „Theorie der 52 Karl Marx, Zur Kritik der Hegeischen Rechtsphilosophie. Einleitung, in: MEW, Band l , S . 3 7 8 f . 53 Vgl. dazu im Zusammenhang Ernst Bloch, Gesamtausgabe, Band 5: Das Prinzip Hoffnung, In fünf Teilen, Kapitel 1 - 3 2 , Frankfurt am Main 1977 (= werkausgabe edition suhrkamp), S. 1 2 9 - 2 0 3 , besonders: „Das NochNicht-Bewußte insgesamt ist die psychische Repräsentierung des Noch-NichtGewordenen in einer Zeit und ihrer Welt, an der Front der Welt" (S. 143). 54 Peter Hahn, Kunst als Ideologie und Utopie. Über die theoretischen Möglichkeiten eines gesellschaftsbezogenen Kunstbegriffs, in: Literaturwissenschaft und Sozialwissenschaften. Grundlagen und Modellanalysen. Mit Beiträgen von Horst Albert Glaser, Peter Hahn u.a., Stuttgart 1971, S. 1 5 1 - 2 3 4 , Zitat S.165; der Aufsatz ist eine Kurzfassung der Dissertation von Peter Hahn, Kunst zwischen Ideologie und Utopie. Studien über die theoretischen Möglichkeiten eines gesellschaftsbezogenen Kunstbegriffs, Berlin 1969.

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Avantgarde" auf das von Marx konzipierte Basis-Modell, wobei allerdings schon in einer auf die Analyse poetischer Modelle abzielenden Transformation entscheidende Modifikationen in den Blick geraten, die gegenüber der generellen Problematisierung, wie sie Peter Hahn vorstellt, eine erste Differenzierung in der intendierten Adaptation auf Literatur erkennen lassen: „Um für eine Literaturanalyse tauglich zu sein, ist jedoch eine Änderung an dem skizzierten Modell vorzunehmen. An die Stelle des ideellen Gehalts, der geistige Objektivationen nur von ihrer inhaltlichen Aussage her zu fassen erlaubt, muß eine Bestimmung treten, die der Tatsache Rechnung trägt, daß der Gehalt des Kunstwerks wesentlich durch die Form konstituiert wird. Ich schlage hierfür den Begriff der Werkintention vor. Bezeichnen soll er nicht die bewußte Wirkungsabsicht des Autors, sondern den Fluchtpunkt der im Werk auszumachenden Wirkungsmittel (Stimuli). Hier liegt das Problem der Einbeziehung formaler Verfahren der Textanalyse in eine kritische Literaturwissenschaft." 55 In Anlehnung an Peter Bürgers ,3egriff der Werkintention" wird für die folgenden Textanalysen der Begriff der „utopischen Intention" 56 eingeführt. Die „utopische Intention" ist die begriffliche Abstraktion der Summe aller poetischen Verfahren, die in ihrer Dominanz die ästhetische Struktur des Werkes signifikant werden lassen als kritische Negation der Wirklichkeit, die dem Werk selbst als Produktionsbedingungen zugrundeliegen und aus der hermeneutischen Distanz in ihrer Valenz graduiert werden können. In der kategorialen Definition heißt dies: die utopische Intention ist die Konkretisation des „ästhetischen Objekts" 57 als Korrektiv im Kontrast zur gesellschaftlichen Totalität mit der inhaltlichen Bestimmung, die Negation von Entfremdung im Horizont einer regulativen Idee der Identität des Subjekts mit seinen 55 Peter Bürger, Theorie der Avantgarde, Frankfurt am Main 1974 (= edition suhrkamp 727), S. 12f. 56 Arnhelm Neusäss, Schwierigkeiten einer Soziologie des utopischen Denkens, S. 3 0 - 3 3 („Zum Begriff der utopischen Intention"). 57 Jan Mukafovsky, Der Strukturalismus in der Ästhetik und in der Literaturwissenschaft, in: J. M., Kapitel aus der Poetik, Frankfurt am Main 1967 (= edition suhrkamp 230), S. 13f.; Zitat S. 13; vgl. auch Jan Mukafovsky, Ästhetische Funktion, Norm und ästhetischer Wert als soziale Fakten, in: J. M., Kapitel aus der Ästhetik, Frankfurt am Main 1970 (= edition suhrkamp 428), S. 7 - 1 1 2 .

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realen Bedürfnissen zum poetischen Bild werden zu lassen. In Analogie zur Dialektik von Utopie und Ideologie, wie sie im Basismodell beschrieben wurde, kann die Semantizität der »utopischen Intention' in ihrer Historizität nur in Korrelation zu ihrem negativen Äquivalent funktional werden: dem ideologischen Substrat, das die Geschichtlichkeit der Negation von Entfremdung dimensioniert. Weil die regulative Idee der Identität von Subjekt und optimaler Bedürfnisbefriedigung in ihrer Absolutheit das Ende des Geschichtsprozesses als Zustand der Aufhebung aller Widersprüche symbolisiert, sind die innerhalb des Geschichtsprozesses möglichen Bilder für die regulative Idee immer zugleich Abbilder ihrer historischen Genese und konkretisieren so die Differenz zum Absolutum. Das ideologische Substrat' ist die Verdinglichung des geschichtlich Möglichen; die „utopische Intention" ist die Insistenz auf das geschichtlich Notwendige. Die Negation der Wirklichkeit als Differenz der Kunst zum Mangel in der Realität ist nicht reduzierbar auf den Akt der bloßen Verweigerung; denn jenseits des Kommunikationsprozesses, den Kunst in ihrer Geschichtlichkeit initiieren soll, wenn sie nicht funktionslos in die Affirmation des Bestehenden eingehen will, existieren nur noch die ,reinen Kategorien': scheinbar unentstanden, unveränderlich, unvergänglich (in der ideologiekritischen Auflösung sind sie freilich die Reminiszenz an eine philosophiegeschichtliche Position). Das Prinzip Hoffnung' zum poetischen Bild werden zu lassen, gelingt nur mit dem Material, das aus der Vergangenheit rekrutiert werden muß und gleichzeitig noch potentiell resistent ist in der Gegenwart, gegen deren Verdinglichung und Entfremdung. Das, was noch kein Bild haben kann, weil es noch keine Konkretion in der Wirklichkeit erfahren hat, weil die Wirklichkeit die Konkretion seines Fehlens ist, existiert als Anspruch der Kunst und wird negiert durch deren Realisation. Kritisch gegen die Affirmation der Wirklichkeit können nur die noch nicht eingelösten Reste der historisch immer wieder artikulierten Forderung nach Lösung des Widerspruchs zwischen einer Bedürfnisbefriedigung und ihrer Verweigerung eingeklagt werden. Die ideologische Valenz liegt im Grad der Versöhnung, die eine aus der Vergangenheit .zitierte' historische Disposition von Utopie für die noch andauernde Erfahrung von Entfremdung und Verdinglichung oktroyiert. 58 58 Vgl. dazu auch Herbert Marcuse, Über den affirmativen Charakter der Kultur,

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Als Ergebnis eines so erschlichenen Zitats' wird dann die Gegenwart nicht mehr am noch nicht eingelösten utopischen Rest aus der Vergangenheit korrigiert, sondern der Mangel in der Gegenwart verklärt sich in einer schon durch den vorangeschrittenen Geschichtsprozeß enttarnten Ideologie.

b) Die kategoriale Differenz von Utopie und Ideologie als regulative Idee einer kritischen Hermeneutik Max Horkheimer hat in seiner Abhandlung über die „Anfänge der bürgerlichen Geschichtsphilosophie" die kategoriale Differenz von Utopie und Ideologie benannt; eine Differenz, die in ihrer heuristischen Funktion begriffen werden muß und als historisches Faktum nur in ihrer Dialektik konkret wird: „Bewirkt die Ideologie den Schein, so ist dagegen Utopie der Traum von der wahren und gerechten Lebensordnung. Sie spielt dem Sinne nach in jede philosophische Beurteilung der menschlichen Gesellschaft mit hinein. Ideologie und Utopie wollen als Haltungen gesellschaftlicher Gruppen aus der gesamtgesellschaftlichen Wirklichkeit begriffen sein." 59 Weil der Begriff der „utopischen Intention" die Vermittlung des heuristischen Potentials einer .regulativen Idee' mit ihrer jeweiligen historischen Aus-Formung' charakterisieren soll, hebt Arnhelm Neusüss in seiner Darlegung der „Schwierigkeiten einer Soziologie des in: H. M., Kultur und Gesellschaft I, 8. Aufl., 5 4 . - 7 3 . Tausend, Frankfurt am Main 1968 (= edition suhrkamp 101), S. 5 6 - 1 0 1 , besonders: „Unter affirmativer Kultur sei jene der bürgerlichen Epoche angehörige Kultur verstanden, welche im Laufe ihrer eigenen Entwicklung dazu geführt hat, die geistig-seelische Welt als ein selbständiges Wertreich von der Zivilisation abzulösen und über sie zu erhöhen. Ihr entscheidender Zug ist die Behauptung einer allgemein verpflichtenden, unbedingt zu bejahenden, ewig besseren, wertvolleren Welt, welche von der tatsächlichen Welt des alltäglichen Daseinskampfes wesentlich verschieden ist, die aber jedes Individuum ,νοη innen her', ohne jene Tatsächlichkeit zu verändern, für sich realisieren kann" (S. 63). 59 Max Horkheimer, Anfänge der bürgerlichen Geschichtsphilosophie (1930), in: M. H., Anfänge der bürgerlichen Geschichtsphilosophie. Hegel und das Problem der Metaphysik. Montaigne und die Funktion der Skepsis. Mit einer Einleitung von Alfred Schmidt, Frankfurt am Main und Hamburg 1971 (= Fischer Bücherei 6014), S. 9 - 8 3 ; Zitat S. 9.

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utopischen Denkens" zunächst auch den antagonistischen Widerspruch zwischen Utopie und Ideologie auf: „Eine einfache Überlegung zeigt, daß mit dem Traum von der wahren Lebensordnung gerechnet werden muß, wo deren Schein bewirkt werden soll. Ideologie ist nicht nur der dem Traum entgegengesetzte Schein, sondern zugleich der Schein des Traums. Von Ideologie als wirklich ausgegeben, wird die Verwirklichung des Traums durch sie gerade verhindert. So ist aber selbst im Schein der Traum noch präsent, in Ideologie Utopisches wirksam, freilich umgebogen und entmündigt; und indem Ideologie scheinhaft als wirklich vorstellt, was nur erst geträumt wird, erkennt sie die Wahrheit des Traums an. Dann ist Utopie nicht bloß Alternative zum Ideologischen, sondern zugleich dessen Ferment, ja, vielleicht sein Anlaß." 60 Aber neben der so beschriebenen Rückkoppelung von ,Idee' und ,Konkretion', die in ihrer Historizität immer dialektisch zu denken ist, muß als entscheidende differentia specifica die Funktionalität utopischer oder ideologischer Momente im Zusammenhang der — im weitesten Sinne — ideellen Reproduktion (und Produktion!) einer Gesellschaftsformation gesehen werden: die Existenz utopischer Korrektive trotz der Universalität ideologischer Verwertungszusammenhänge; die Potenz ideologischer Korrelate im Verwertungsprozeß. „Unter Ideologie", und darauf basiert die inhaltliche Kontur von Neusüss' .utopischer Intention' im Rückgriff auf Horkheimers Abgrenzung, „wird (...) ein Funktionszusammenhang verstanden, ja, Ideologie wird, ganz unabhängig davon, wie sie entstanden sein mag, ob bewußt hergestellt oder objektiv verursacht, von vornherein als Funktion bestimmt; Ideologie ,ist' nur als Funktion, sie ist Schein nur, insofern sie diesen bewirkt. Utopie dagegen ist der Traum der wahren und gerechten Lebensordnung - so unterschiedlich sich dieser Traum historisch gestalten mag —, jenseits der Frage, was er etwa historisch und gesellschaftlich jeweils bewirkt oder überhaupt bewirken kann." 61 6 0 Arnhelm Neusüss, Schwierigkeiten einer Soziologie des utopischen Denkens, S. 15. 61 Arnhelm Neusüss, Schwierigkeiten einer Soziologie des utopischen Denkens, S. 16; vgl. auch die kritische Abgrenzung von Neusüss gegen Karl Mannheims pseudo-wertfreien Utopie- und Ideologiebegriff (S. 2 4 - 2 8 ) - dazu: Karl Mannheim, Das utopische Bewußtsein (aus: Ideologie und Utopie, 1928/29, 3., vermehrte Aufl. Frankfurt am Main 1952, S. 1 6 9 - 1 8 4 ) , in: Utopie. Begriff und Phänomen des Utopischen, S. 265 - 2 8 5 .

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Für die Heuristik der Untersuchung wird so der intentionale Aspekt der Analysekategorien .Utopie'und .Ideologie' relevant: Ideologie zielt ab auf die bewußte oder unbewußte Verschleierung der wirklichen Zustände in ihrer objektiven Gestalt; der Mechanismus der Verschleierung zeigt in seiner Funktion für die Reproduktion illegitimer Herrschaft und deren Sanktion die Dialektik von Schein und Mangel. Das Erkenntnisinteresse als Basis des hermeneutischen Horizontes begründet sich dann aus der Perpetuierung jener Zustände, die in der Überwindung feudaler bis heute Inhalt der bürgerlicher Gesellschaft sind.

c) Die Analogie von ,Kunst und Wirklichkeit' zu .Utopie und Ideologie' Die Struktur des Problems wird komplizierter durch die Analogie der Referenzen .Kunst-Wirklichkeit' und .Utopie-Ideologie', was im Rahmen dieser Einleitung nur angedeutet werden kann, da dieser Aspekt in seiner Essenz allemal das Organisationsprinzip der Darstellung selber ist und so aus dieser auch nur extrapoliert werden kann: als Ergebnis. Der Korrelation von ,Τ räum und Schein' (Horkheimer) korrespondiert die Diskrepanz von .Wahrheit und Wirklichkeit', welche durch die ästhetische Struktur der Werke in poetische Erkenntnis transformiert werden soll. Kunst als Utopie in der gesellschaftlichen Realität ist dann Negation der Wirklichkeit im Horizont einer regulativen Idee, der Substitution des legitimistischen Verdikts, daß Freiheit die Einsicht in die Notwendigkeit sei, durch die Konkretion von Freiheit jenseits aller Bedingungen, die ihre Begründung in Notwendigkeiten finden. 6 2 Die Wahrheit gegen den falschen Schein, Kritik gegen die Affirmation des Bestehenden also, begründet sich durch die Autonomie der Werke in ihrer Geschichtlichkeit. 63 Die Differenz von Werk und 62 Vgl. Theodor W. Adorno, Ästhetische Theorie, hg. von Gretel Adorno und Rolf Tiedemann, Frankfurt am Main 1970 (= Gesammelte Schriften 7), S. 26; dazu komplementär Herbert Marcuse, Triebstruktur und Gesellschaft. Ein philosophischer Beitrag zu Sigmund Freud, 5 1 . - 5 6 . Tausend, Frankfurt am Main 1973 (= Bibliothek Suhrkamp Band 158), S. 149. 63 Vgl. dazu Herbert Kraft, Die Geschichtlichkeit literarischer Texte. Eine Theorie der Edition, Bebenhausen 1973, S. 10; Theodor W. Adorno, Ästhetische Theorie, S. 1 6 - 1 9 .

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Wirklichkeit ist der gesellschaftliche Gehalt der ästhetischen Struktur; und daraus folgt als Resultante ein Doppeltes: — Der Inhalt der Differenz als Funktion von Kunst unter den Bedingungen von Herrschaft und Entfremdung konkretisiert sich immer in der Negation von Wirklichkeit für eine bessere Praxis; — Der Inhalt der ästhetischen Struktur ist dann (dialektisch gewendet) der perennierende Widerspruch zwischen Ideologie und Utopie, illusionärem Schein und Tagtraum nach vorne. Für die Modalitäten des so skizzierten Funktionsgefüges können die ideologischen Korrelate der Wirklichkeit zur Versöhnung der Widersprüche als — affirmativ — trivial — illusionistisch und — herrschaftsstabilisierend charakterisiert werden; die utopischen Korrektive als Widersprüche in der scheinbar versöhnten Wirklichkeit mit — kritisch — decouvrierend — auf ästhetische Erkenntnis sensibilisierend und — revolutionär. Hans Joachim Mähl greift daher in seiner Begriffsbestimmung von Utopie sicher zu kurz, wenn er den ,Rahmen der Literatur' in seiner Konkretion als Literaturgeschichte zur Basis einer Definition macht, ohne eine kritische Theorie der bürgerlichen Gesellschaft zu reflektieren, d.h. den eigenen Standort im hermeneutischen Ansatz: „Utopisch meint somit nichts anderes als eine wiederkehrende, durch literarische Tradition gefestigte und durch übereinstimmende Formmerkmale ausgezeichnete Weise, bestimmte Idealvorstellungen in Wunschräumen oder Wunschzeiten zu lokalisieren, die sich ihrem Wesen nach der Wirklichkeit, d.h. den empirischen Raum- und Zeitmaßstäben entziehen, ja, deren Überwindung bewußt anstreben." 64 In letzter 64 Hans Joachim Mähl, Die Idee des goldenen Zeitalters im Werk des Novalis. Studien zur Wesensbestimmung der frühromantischen Utopie und zu ihren ideengeschichtlichen Voraussetzungen, Heidelberg 1965 (= Probleme der Dichtung, Studien zur deutschen Literaturgeschichte. Begründet von Hans

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Konsequenz wären unter Mahls formalistischer Abgrenzung von literarischen Utopien' auch alle trivialmystizistischen Idyllen zu subsumieren (wie sie zum Beispiel in Heynickes poetischen Modellierungen in verschiedenen Variationen reproduziert werden), denn sowohl der „Wunschraum" als auch die „Wunschzeit" - in ihren abstrakten Entgegensetzungen zur Wirklichkeit — symbolisieren zunächst nur eine quantitative Differenz in Abgrenzung zur Realität. 65 Die Ästhetizität der .literarischen Kategorie Utopie' bemißt sich — und dies gilt es für die folgenden Interpretationen festzuhalten — nach ihrem gesellschaftskritischen Gehalt.

Pyritz, hg. von Adolf Beck und Karl Ludwig Schneider, Band 7), S. 2; methodologisch ähnlich argumentiert (orientiert auf „Wunschräume") Horst Brunner, Die poetische Insel. Insel und Inselvorstellungen in der deutschen Literatur, Stuttgart 1967, besonders S.237ff. („Darstellung und Bewertung der poetischen Inseln"). 65 Die Argumentation geht zurück auf Alfred Doren, Wunschräume und Wunschzeiten, Vorträge der Bibliothek Warburg 1924/25, Berlin 1927, S. 1 5 8 - 2 0 5 , in: Utopie. Begriff und Phänomen des Utopischen, S. 1 2 3 - 1 9 2 .

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II. Utopische Intentionen und ihre ideologischen Aporien: Die literarische Evolution der Aufbruchs-Thematik bei René Schickele, Ernst Stadler und Ernst Wilhelm Lötz

Der Aufbruch Ich befahl mein Pferd aus dem Stall zu holen. Der Diener verstand mich nicht. Ich ging selbst in den Stall, sattelte mein Pferd und bestieg es. In der Ferne hörte ich eine Trompete blasen, ich fragte ihn, was das bedeutete. Er wußte nichts und hatte nichts gehört. Beim Tore hielt er mich auf und fragte: „Wohin reitest du, Hen?" „Ich weiß es nicht", sagte ich, „nur weg von hier, nur weg von hier. Immerfort weg von hier, nur so kann ich mein Ziel erreichen." „Du kennst also dein Ziel?" fragte er. „Ja", antwortete ich, „ich sagte es doch: ,Weg-von-hier', das ist mein Ziel." „Du hast keinen Eßvorrat mit", sagte er. „Ich brauche keinen", sagte ich, „die Reise ist so lang, daß ich verhungern muß, wenn ich auf dem Weg nichts bekomme. Kein Eßvorrat kann mich retten. Es ist ja zum Glück eine wahrhaft ungeheure Reise." Franz Kafka

1. Positionen der Forschung a) Widersprüche in der Differenzierung des Begriffs, Aufbruch' Das Problem des frühexpressionistischen , Aufbruchs' als eines literarischen Themas im Werkkontext von Schickele, Stadler und Lötz zu diskutieren, kann an einer signifikanten utopischen Intention und ihrer ästhetischen Modellierung den Transformations- und Destruktionsprozeß innerhalb der literarischen Evolution für die „Dichtung 27

um 1900 oder Dichtung der Jahrhundertwende" 1 präzisieren, die Wolfdietrich Rasch in ihrer Einheit von 1890 bis 1914 als „gemeinsame Bindung an das, was der Epoche als Grundwert gilt: an das Leben" 2 charakterisiert hat. Signifikant für den gesamten Zusammenhang der literarischen Evolution ist das ,Aufbruchs'-Thema, weil es zugleich ein Topos und Symbol der ganzen „Literatur-Revolution" 3 nach 1910 war, zugleich die Identifikation mit allem leistete, was Expressionismus genannt wurde, und Inhalt der Utopie war, die durch die neue Qualität von ästhetischer Aneignung, poetischer Modellierung von Wirklichkeit und deren Überwindung im negierenden künstlerischen ,Vor-Schein' der wilhelminischen Gesellschaftsordnung entgegengesetzt wurde: „Der gesamte literarische Expressionismus zwischen 1910 und 1918 war in einem wesentlichen Aspekt ein einziger (jugendlicher) Kunstprotest gegen das, schon von Fontane so genannte ßourgeoisiegefühl'

un

¿

gegen den maskierten Prunkschwindel des öffentlichen Lebens", meint Hans

Schwerte

im

Kontext

des verbreiteten

Mißverständnisses,

1 Wolfdietrich Rasch, Aspekte der deutschen Literatur um 1900, in: W. R., Zur deutschen Literatur seit der Jahrhundertwende, Gesammelte Aufsätze, Stuttgart 1967, S. 2. 2 Wolfdietrich Rasch, Aspekte der deutschen Literatur um 1900, S. 17. Die literarische Evolution im Hinblick auf die Referenz konstitutiver poetischer Verfahren, geistesgeschichtlicher Einflüsse etc. sollte von 1890 bis 1924 als Einheit gesehen werden. So argumentiert z.B. Rasch: „Was man expressionistisch nennt, ist eine Möglichkeit der Formung, die sich neben anderen um 1890 herausbildet (...). Sie scheint immer bereit zu liegen und dominiert bei einzelnen Dichtern oder einer ganzen Gruppe im Jahrzehnt von 1910 bis 1920" (W. R., Was ist Expressionismus, in: Akzente, 3. Jg. (1956), Heft 4, S. 372); ähnlich Hans Kaufmann, Krisen und Wandlungen der deutschen Literatur von Wedekind bis Feuchtwanger, S. 157. Hans Mayer erweitert den Zeitraum zurecht bis 1924. Vgl. dazu H. M., Rückblick auf den Expressionismus, in: Neue Deutsche Hefte, 13. Jg. (1966), Heft 4, S. 32-51. 3 Vgl. auch „ .Literaturrevolution' " (Hans Kaufmann, Krisen und Wandlungen der deutschen Literatur von Wedekind bis Feuchtwanger, S. 156-193). Kaufmann hat die Aufbruchssehnsucht ideologiekritisch in den Zusammenhang der .Anonymisierung von Macht- und Herrschaftsverhältnissen' gestellt: „Besonders für die Beurteilung heutiger Rückgriffe auf den Expressionismus ist es wichtig zu fragen, wo in der damaligen Literatur die tragische Isolierung des Individuums als unausweichliche Lebenssituation hingenommen wird und wo andererseits der Dichter sich im aktiven Widerspruch auf der Suche nach einem lohnenden Ziel befindet" (S. 168). 28

Expressionismus' als Bezeichnung für eine Literaturepoche sei identisch mit dem ,Aufbruch', denn „der Expressionismus" protestiere „gegen den Stil des Wilhelminismus in allen seinen Erscheinungen. Der Aufstand der Söhne gegen die Väter" sei „im wesentlichen ein Aufstand gegen die wilhelminische Verkrustung" gewesen.4 Ähnlich argumentiert Paul Raabe. Für ihn ist der „frühe Expressionismus (...) der Aufbruch einer literarischen Jugend zu einem unbekannten Ziel, der Ausbruchsversuch aus der wilhelminischen Ära." 5 Und so steht stellvertretend für eine ganze Richtung innerhalb der ExpressionismusForschung noch immer Edgar Lohners Behauptung: „Aufbruch bedeutet Bruch mit der Tradition, dem Bürgertum, mit der empirischen Wirklichkeit überhaupt, nicht nur in der Literatur, sondern in der Malerei, der Philosophie, dem Leben". 6 Gegen eine solche in der Tendenz positiven literarischen Wertung polemisiert Jost Hermand, ebenso radikal und ebenso undifferenziert, wenn er hervorhebt, „,Vornehmheit' " sei „wohl das letzte, was der Expressionismus" anstrebte. 7 Dem „Totalaufstand gegen die bestehende Ordnung" 8 fehlt, so muß gefolgert werden, Zucht, Disziplin und ein klein wenig aristokratische Noblesse. Die expressionistische Aufbruchs-Utopie war nicht distinguiert genug, um jemals literatursalonfáhig zu werden, denn „weniger das Paradiesische als das Wilde, Bestialische, Anarchistische oder Untermenschliche [sie] wird oft als der Wohnort des ,neuen Menschen' glorifiziert, und sei es nur, um der verhaßten Welt des bürgerlichen Establishments mit ihrer frustrierten Ethepethete-Moral ein Schreckbild des völlig Andersartigen entgegenzuhalten." 9 Statt „Bruch mit der Tradition" (Lohner), also einem kritisch-engagierten Sich-Auseinandersetzen mit den überholten 4 5 6

7

8 9

Hans Schwerte, Deutsche Literatur im Wilhelminischen Zeitalter, in: Wirkendes Wort, 14. Jg. (1964), Heft 4, S. 259. Paul Raabe, Die Revolte der Dichter. Die frühen Jahre des literarischen Expressionismus 1 9 1 0 - 1 9 1 4 , in: Der Monat, 16. Jg. (1964), Heft 191, S. 87. Edgar Lohner, die Lyrik des Expressionismus, in: Expressionismus. Gestalten einer literarischen Bewegung, hg. von Hermann Friedmann und Otto Mann, Heidelberg 1956, S. 59. Richard Hamann/Jost Hermand, Epochen deutscher Kultur von 1870 bis zur Gegenwart, Frankfurt am Main 1977, Band 5: Expressionismus (= Fischer Taschenbuch 6355), S. 35. Richard Hamann/Jost Hermand, Expressionismus, S. 1 7 - 5 7 . Richard Hamann/Jost Hermand, Expressionismus, S. 50.

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gesellschaftlichen und kulturellen Verhältnissen, attestiert auch Eva Kolinsky gerade dem „engagierten Expressionismus", er habe „seine zwieschlächtige Utopie der Erneuerung" nur „affirmativ, als Heilsbotschaft, gegen die Zeit" 1 0 revoltieren lassen. Kurz: der von den Expressionisten und einem Teil der Expressionismus-Forscher ernstgemeinte „Ausbruchsversuch aus der wilhelminischen Ära" (Raabe) gehört nach Jost Hermand — cum grano salis - in „die Jahrmarkts-, Kintopp- und Buffalo-Bill-Atmosphäre, die in vielen expressionistischen Werken" herrsche. 11 Festzuhalten bleibt, daß auch die neuere Forschungsliteratur in ihrem Spektrum nur die kontroversen Positionen aus der „Expressionismus-Debatte" rekapituliert, ja fast apokryph zitiert. Es hilft auch nicht weiter, die Problemkonstellation in die Immanenz der Sprache als einer ,eigenen Welt' zu verlagern, wie dies Karl Ludwig Schneider versucht hat. Anstatt zu analysieren, ob denn die Aufbruchs-Utopie, das Thema der literarischen ,Revolte\ affirmativ, trivial, illusionistisch, also herrschaftsstabilisierend gewesen sei oder aber kritisch, decouvrierend, auf ästhetische Erkenntnis sensibilisierend und in letzter Instanz revolutionär, wird die notwendige Rekurrenz auf den historischen Kontext zu einem gestörten Verhältnis von .Sprache' und ,Wirklichkeit' reduziert. Es handele sich hier, so lautet die Kernthese, „um nichts anderes als die systematische Zerschlagung einer hohl gewordenen Dichtersprache, die als Ausdrucksmittel der inneren und äußeren Wirklichkeit des modernen Menschen längst unbrauchbar geworden" wäre. 12 Gegen den skizzierten Forschungsstand ist kritisch geltend zu machen, daß der Aufbruchs-Topos als Element eines relativ konsistenten literarischen Metaphernkomplexes gebraucht wird wie eine begriffliche Abstraktion als scheinbares Ergebnis konkreter Interpretationen. Das, was zu interpretieren wäre, wird zum Instrument der Interpreta-

10 Eva Kolinsky, Engagierter Expressionismus, S. 166. 11 Richard Hamann/Jost Hermand, Expressionismus, S. 51. 12 Karl Ludwig Schneider, Themen und Tendenzen der expressionistischen Lyrik. Anmerkungen zum Antitraditionalismus bei den Dichtern des .Neuen Clubs', in: Formkräfte der deutschen Dichtung vom Barock bis zur Gegenwart, hg. von Hans Steffen, 2. durchgesehene Aufl. Göttingen 1967 (= Kleine Vandenhoeck Reihe 1695), S. 255.

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tion; oder positiv gewendet: Der .Begriff Außruch ist als poetologische Kategorie in seiner Referenz für den Begriff Expressionismus' indifferent.13 Nachdrücklich ist die Warnung von Silvio Vietta und Hans-Georg Kemper vor einer „Ontologisierung" von Begriffen wie „ ,der Mensch', ,Aufbruch', Erneuerung' " zu bestätigen, weil mit ihnen, wie belegt werden konnte, eine anscheinend „wissenschaftliche Begriffsbildung" sich „expressionistische Schlagworte (...) zur Grundlage ihres eigenen Expressionismusverständnisses" machte: somit brauchte dann „die Frage nach den Hintergründen und Voraussetzungen sowie dem geschichtlichen Stellenwert dieser problemgeschichtlich allerdings aufschlußreichen Aufbruchsstimmung nicht mehr gestellt" zu werden.14

b) Das Aufbruchsmotiv im Jugendstil und Expressionismus: Epigonalität oder literarischer Wandel? In seiner Abhandlung „Literarischer Jugendstil und Expressionismus" thematisiert Horst Fritz den Transformationsprozeß poetischer Verfahren aus der Literatur um 1900 in die expressionistische Lyrik als „deutliche Abhängigkeit vieler junger Expressionisten von der Aufbruchsstimmung der Jahrhundertwende". So erweise sich letztlich „der expressionistische Aufbruch als Festsetzung einer geistigen Disposition, die um die Jahrhundertwende im Jugendstil bereits zutage tritt." 1 5 Statt einer Differenzierung durch die literarische Evolution sieht Horst Fritz in der (früh)expressionistischen Aufbruchs-Utopie nur die differenzlose Identifikation und Zitation epigonaler Muster. Als differenzierungsfähiger Kern ist der Hinweis auf den Zusammenhang innerhalb der literarischen Evolution festzuhalten: die 13 Vgl. hierzu Hans Kaufmann, Krisen und Wandlungen der deutschen Literatur von Wedekind bis Feuchtwanger, S. 156f. Auch Fritz Martini, Deutsche Literatur zwischen 1880 und 1950. Ein Forschungsbericht, in: DVjs., 26. Jg. (1952), Heft 4, S. 4 7 8 - 5 3 5 ; besonders S. 512f. 14 Silvio Vietta/Hans-Georg Kemper, Expressionismus, München 1975 (= UTB 362), S. 17. 15 Horst Fritz, Literarischer Jugendstil und Expressionismus. Zur Kunsttheorie, Dichtung und Wirkung Richard Dehmels, Stuttgart 1969 (= Germanistische Abhandlungen 29), S. 250.

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mechanizistische Identifikation der „Verklärungssucht des Jugendstils" mit dem „expressionistischen Aufbruch" 16 — als bloßer epigonaler Rückgriff - nivelliert jedoch das nur ,Ähnliche' in seiner Verschiedenheit zu den gemeinsamen Merkmalen.17 Nicht der Prozeß einer Destruktion bestimmter literarischer Elemente durch die Transformation schabionisierter, automatisierter Versatzstücke in einen anderen Kontext wird zum Gegenstand der Analyse, sondern deren vermeintliche Kongruenz. „Verklärung um jeden Preis" kennzeichne eben nicht nur den Jugendstil, so folgert Horst Fritz, sondern im gleichen Maße den „expressionistischen ,Aufbruch' ", 18 Das Verfahren der Identifikation jugendstilhafter Elemente als expressionistische Versatzstücke zeigt in der eklektizistischen Zitation seine Grenzen und die methodologische Schwäche des Ansatzes. Zusammengestellt — und in einem Atemzug genannt — werden Zitate von Werfel aus dem Jahre 1915, von Heynicke (1917 und 1919), von Zech (1919), Lötz (1913/14), von Becher (1914), Schickele (1911) usw.19 Als Fazit einer solchen Sammlung erscheint dann eine pauschalisierende und tendenziell falsche, Differenzen nivellierende Verallgemeinerung, die innerhalb der Spezifik einzelner Werkkontexte nicht konkretisiert werden kann: „Überblickt man die Äußerungsformen des expressionistischen Aufbruchs, so bemerkt man, daß der Anspruch, eine neue Wirklichkeit schaffen zu wollen, im fluchtähnlichen Aufschwung in einem zugleich alles umfassenden und demnach kein reales Substrat mehr umgreifenden Bezirk endet". 20 So wird der expressionistische , Aufbruch' zur Flucht in jene aus dem gesellschaftlichen Konnex ausgegrenzten hermetisch artifiziellen Räume, die den eskapistischen Schönheitskult und das sakral-weihevolle Lebenspathos in der Lyrik der Jahrhundertwende der in ihrer ganzen Häßlichkeit empfundenen industriellen Produktions- und Reproduktionssphäre entgegensetzten—freilich schon bald mit einem automatisierten Zeichenvorrat: Mit standardisierten Requisiten für den .Schein des schönen Lebens', welcher zur Staffage in einem décorhaften Intérieur degenerierte, statt 16 Ebd. 17 Vgl. dazu Jurij M. Lotman, Vorlesungen zu einer strukturalen Poetik, S. 2 2 31. 18 Horst Fritz, Literarischer Jugendstil und Expressionismus, S. 262. 19 Horst Fritz, Literarischer Jugendstil und Expressionismus, S. 2 5 8 - 2 6 1 . 20 Horst Fritz, Literarischer Jugendstil und Expressionismus, S. 267.

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zur Negation des ,Scheins' sich zu formieren, den diese Gesellschaft über den realen Bedürfnissen zur Illumination einer inhaltlichen Bestimmung von Schönheit mißbrauchte, die identisch war mit den finanziellen Möglichkeiten der Oberschicht. Handelt es sich also im frühexpressionistischen ,Aufbruch' um eine bloße Montage der ästhetischen Opposition' in einen veränderten historischen Kontext? Wird hier — schon epigonal — nur noch zitiert, schlecht drapiert in einem emotional überhöhten, irgendwie nach Vollendung der Menschheit schreienden Pathos? Einer solchen mehr rhetorischen Fragestellung verfällt Renate Werner in ihrer Untersuchung zum Frühwerk Heinrich Manns nicht, wenn sie den Zusammenhang von „ästhetischer Opposition" (um 1900) und einer „,aktivistischen' ,Tat'-Ideologie" (nach 1910) als „Umpolung" bestimmter utopiesignifikanter Topoi beschreibt, die innerhalb der literarischen Evolution auf der Folie eines sich verändernden historischen Kontextes wirksam geworden sind im Horizont des „ ,Dilettantismus'-Phänomens". 21 Im Begriff der „Umpolung" wird für die Konsistenz und Heterogenität innerhalb der literarischen Evolution deutlicher, daß in der Transformation signifikanter literarischer Themen und Sujets, Metaphern und Topoi, ja übergreifender literarischer Verfahren deren Destruktion als tendenzielle Innovation und deren Irritation durch eine Rezeption in neuen Kontexten strukturell aufgehoben sein können. In solch methodologischer Prämisse wird der literaturgeschichtliche Wandel, die literarische Veränderung, statt der Identifikation pseudo-literarhistorischer Konstanten zur Grundlage der Interpretation; als Bedeutung konstituierende Heuristik ermöglicht die prozessuale Kategorie jene diskursive Argumentation, mit welcher den allzu vorschnellen Verallgemeinerungen entgegenzutreten ist. Gunter Martens hat versucht, gegen die konventionellen Epochenbestimmungen eben jene geistesgeschichtliche Strömung herauszukristallisieren, welche vom Naturalismus bis zum Expressionismus ihren kleinsten gemeinsamen Nenner im ,Vitalismus' gefunden hat, dem entscheidenden Theorem der ,Lebensphilosophie': Gerade die Lyrik Ernst Stadlers und René Schickeies sei für die frühexpressioni21 Renate Werner, Skeptizismus, Ästhetizismus, Aktivismus. Der frühe Heinrich Mann, Düsseldorf 1972 (= Literatur in der Gesellschaft, hg. von Klaus Günter Just u.a., Band 11), S. 18.

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stische Lyrik beispielhaft, weil sich in den Werkkontexten dieser beiden Literaten „das Paradigma einer (...) Wendung vom neuromantisch-impressionistischen Lebenskult zur expressionistischen Ausprägung vitalistischer Thematik und Sprachgestaltung" finde.22 Beide Literaten ständen, wie Martens zurecht betont, mit ihrem „Friihwerk" im „Bannkreis des zeitgenössischen Lebenskultes": 23 Schickele veröffentlichte seine Gedichtbände „Sommernächte" und „Pan. Sonnenopfer der Jugend" 1902, Stadler publizierte die „Praeludien" 1905. 24 Martens kommt zu dem Ergebnis, daß Schickeies „Sehnsucht nach ,wildem Erleben'" 2 5 und die „uneingeschränkte Lebensbejahung" 26 in seiner Lyrik um 1900 eine „eigentümliche Blindheit vor jener modernen Wirklichkeit" dokumentiere, die „doch die stürmerische Kampfbereitschaft herausgefordert hatte", und in der Tendenz mit einer ästhetizistischen Esoterik konvergiere, welche die „Weltflucht" in Stadlers ,JPraeludien" kennzeichne. 27 Während Stadlers und Schickeies ,Früh werk' gerade in seiner Motivik als vitalistische „Weltflucht" charakterisiert werden könne, zeige schon Schickeies erster, dem Expressionismus ganz zuzurechnender Gedichtband „Weiß und R o t " (1911) eine „Wendung zur Realität" - ebenfalls in den Chiffren der vitalistischen Entgrenzung. 28 Und entgegen der These von Horst Fritz, der expressionistische Aufbruch sei letztlich ein Rückzug in den Jugendstil, interpretiert Martens Stadlers programmatischen Lyrikband „Der Aufbruch" (1914) 2 9 als „Absage, ja Distanzierung von der literarischen Tradition der Jahrhundertwende", 30 als „Verurteüung 22 Gunter Martens, Vitalismus und Expressionismus. Ein Beitrag zur Genese und Deutung expressionistischer Stilstrukturen und Motive, Stuttgart 1971 (= Studien zur Poetik und Geschichte der Literatur, hg. von Hans Fromm u.a., Band 22), S. 127. 23 Gunter Martens, Vitalismus und Expressionismus, S. 128. 24 René Schickele, Sommernächte. Gedichte, Strafiburg 1902 - zitiert im folgenden als S.; René Schickele, Pan. Sonnenopfer der Jugend, Strafiburg 1902 - zitiert im folgenden als P.; Ernst Stadler, Praeludien, Strafiburg 1905 zitiert im folgenden als Prae. 25 Gunter Martens, Vitalismus und Expressionismus, S. 128. 26 Gunter Martens, Vitalismus und Expressionismus, S. 128f. 27 Gunter Martens, Vitalismus und Expressionismus, S. 133. 28 Gunter Martens, Vitalismus und Expressionismus, S. 135. 29 Ernst Stadler, Der Aufbruch. Gedichte, Leipzig 1914 - zitiert im folgenden als D. A. 3 0 Gunter Martens, Vitalismus und Expressionismus, S. 144.

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von Weltferne und Weltfremdheit": 31 auch Stadlers „Wendung zur Realität" sei analog Schickeies Verlassen des .Fluchtraumes' „vitalistisch" geprägt. 32 Der Verlust an Soziabilität und Kommunikabilität soll auf der Folie identischer - tradierter und automatisierter — Schablonen überwunden werden: mit literarischen Verfahren, die ihre poetische Funktionalisierung in der Kodierung spezifischer Jebensphllosophischer' Theoreme schon in der Dichtung der Jahrhundertwende erfahren haben. Gefragt werden muß, ob denn die relativ stabile und homogene ,vitalistische Folie' verschiedene, ja durchaus gegensätzliche .Weltanschauungen' konkretisieren kann: einmal „die Flucht aus Alltäglichkeit und sozialer Problematik" und dann „die bewußte Distanzierung vom nur Ästhetischen und Esoterischen"? 33 Ist also die Metamorphose der „Weltflucht" in die „Wendung zur Realität" möglich, wenn das Medium der Wandlung, die vitalistische .Entgrenzung', konstant bleibt? Sie wäre es freilich nur unter der Parole: „Neuen Inhalt in alte Schläuche." 3 4 Herausstellen könnte sich allerdings, daß „alte Schläuche" auch nur für alte Inhalte taugen.

2 . R e n é S c h i c k e l e : Die F l u c h t in die Illusion v o m ,großen Leben' a) Die Metaphorik des ,Stirb und Werde' als Basis-Ideologem des frühexpressionistischen, Aufbruch'-Themas Und so lang du das nicht hast, Dieses: Stirb und Werde! Bist du nur ein trüber Gast Auf der dunklen Erde. 1

Die Interpretation der ,Aufbruchs'-Thematik innerhalb der literarischen Evolution von 1900 bis 1914 - aus der kritisch hermeneutischen Distanz — muß zunächst auf eine Skizzierung jener Merkmalsmatrix 31 Gunter Martens, Vitalismus und Expressionismus, S. 146. 3 2 Vgl. hier Gunter Martens, Vitalismus und Expressionismus, S. 1 4 4 - 1 7 9 . 33 Gunter Martens, Vitalismus und Expressionismus, S. 1 3 5 . 3 4 Bertolt Brecht, Gesammelte Werke, Frankfurt am Main 1 9 6 7 (= werkausgabe edition suhrkamp), Band 19 (Schriften zur Literatur und Kunst 2), S. 3 7 8 - 3 8 0 ; Z i t a t s . 3 7 9 . 1 Johann Wolfgang v. Goethe, Selige Sehnsucht [V], aus: West-Östlicher Divan,

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rekurrieren, welche die Kongruenz einer latent ideologischen Normierung mit einer poetischen Widerspiegelung für die Lyrik der Jahrhundertwende, wie sie für den thematischen Zusammenhang relevant wird, als Arbeitshypothese wahrscheinlich macht. Noch im frühen Gedichtband „Sommernächte" (1902) signalisiert der leitmotivisch variierte, ja archi-sematisch kristallisierbare Topos der ,Sehnsucht' nach einem unbegrenzten Leben', nach einem Dasein, welches die Totalität aller Erfahrungsmöglichkeiten umgreift, die Ohnmacht des von seiner eigenen Utopie entfremdeten bürgerlichen Subjekts, das nicht mehr den Wunsch nach individueller Verwirklichung als Konkretion gesellschaftlicher Prozesse der Emanzipation aller Klassen - die Errichtung der universalen Menschheit' — zur poetischen Idee werden läßt: ,,(...) und es klingt in / Das stöhnende Herz mir ein Lied vom Werden der Sonne / Aus silbernen Nächten ..., von jauchzender Fahrt in die Lichter, / Von Jugend! / Achtzehn Jahr! / O Sturm in den Segeln, o Sturm mir im Herzen, / O Leben!" (S., S. 57). Eine durchgehende Verklärung der abstrakt-utopischen Intentionalität in der Konnotation des Astralmythos („vom Werden der Sonne" 2 ), der Lichtsymbolik, die in ihrer formelhaften Ritualisierung im Jugendstil zugleich ,Alles' und in concreto ,Nichts' beinhaltet 3 („von jauchzender Fahrt in die Lichter"), der Wettermetaphorik und des Fahrtmotivs („O Sturm in den Segeln") bereitet in der Lyrik Schickeies jene weltanschauliche Tendenz vor, welche die Verwirklichung des individuellen wie des kollektiven .Lebens' in die aktive Vorstellungswelt des aus seinen gesellschaftlichen Bedingungen sich .befreienden' Subjekts legt: Die „Fahrt in die Lichter", der ,Aufbruch'

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in: Goethes Werke, hg. im Auftrage der Großherzogin Sophie von Sachsen, Weimar 1888,1. Abtheüung, 6. Band, S. 2 8 f . Vgl. zu diesem Bildbereich Jost Hermand, Der Schein des schönen Lebens. Studien zur Jahrhundertwende, Frankfurt am Main 1972, S. 55—127 („Meister Fidus"). Vgl. Elisabeth Klein, Jugendstil in deutscher Lyrik, (Diss.) Köln 1957, S . 6 1 . Auch Horst Fritz verweist auf den Zusammenhang von Totalität und Leere, Alles und Nichts: „Dieses erstrebte Ganze als Ineinander von Totalem und Leere wird daher in formelhaften und daher vertauschbaren Bildvorstellungen sichtbar: als Reich der Elemente, als räumliche Weite, als Unendlichkeit des Meeres und des Kosmischen und schließlich als Welt und Weltganzes" (H.F., Literarischer Jugendstil und Expressionismus, S. 153).

in die von der Sehnsucht des entfremdeten Tagtraums erschlossenen ,Räume' kann in der Poesie, durch Poesie .stattfinden', ohne die „klassifikatorischen Grenzen" 4 des zugrundeliegenden Weltbildes sprengen zu müssen. Gunter Martens macht zurecht darauf aufmerksam, daß im Gedichtband „Sommernächte" noch „die Sehnsucht nach dem Leben (...) meist unerfüllt (bleibt) und resignative Stimmungsbilder voller Weltschmerz und Todesahnung (hinterläßt)". 5 Doch schon in seinem zweiten Lyrikband „Pan. Sonnenopfer der Jugend" (1902) feiert Schickele in der Vorrede vom 31. Juli 1902 die , Vollendung der Utopie'. Der ,Aufbruch' in eine neue Wirklichkeit unentfremdeten Daseins ist als Realität, voluntaristisch versubjektiviert, innerhalb der nicht hinterfragten gesellschaftlichen Kontinuität zur konkreten Möglichkeit des ,großen Menschen', des heroischen Kämpfers, geworden: „Nach dem Herzensringen das grosse Gebet. Ein Streifen Rot in den Nebeln, dann die Sonne. Die Klarheit. Die Grösse, die da heisst: Leben!" (P., S. 8) Aber wird nicht nur der „Vitalrausch der Jahrhundertwende" reproduziert - nur gedanklich nachvollzogen —, wenn Gunter Martens zur zitierten Textstelle ausführt, „Leben" sei „auch hier der Schlüsselbegriff, der die Gedichte des Bandes einem gemeinsamen Zentrum" zuordne, das „in eine religiöse Sphäre gehoben (...) von Pan", dem ,Werdegott', verkörpert werde? 6 Signifikant ist die Kontamination von .Größe' und ,Leben'; und diese Polarität innerhalb eines zunächst rein immanenten Kumtprogramms läßt den historischen Kontext als rückgekoppeltes ideologisches Substrat deutlicher werden: „Denn hat der Deutsche erst einmal gelernt, den Blick auf das Weite und Große zu richten, so verschwindet das Kleinliche, das ihn im täglichen Leben hin und wieder umfängt", so antwortete auch Kaiser Wilhelm II. dem Hamburger Bürgermeister Mönckeberg auf eine Huldigungsrede nach Beendigung einer Regatta

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Zum Begriff der „klassifikatorischen Grenze" als einer poetologischen Kategorie, wie sie im folgenden verwendet wird, vgl. im Zusammenhang Jurij M. Lotman, Die Struktur literarischer Texte, S. 3 2 9 - 3 4 0 („Das Problem des Sujets"); Zitat S. 339. Gunter Martens, Vitalismus und Expressionismus, S. 128. Ebd.

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auf der Unterelbe am 18. Juni 1 9 0 1 an Bord der D a m p f j a c h t Prinzessin Viktoria Luise'. 7 G e w i ß nur ein Beispiel, w o der Zielpunkt ,Lebensbejahung' u n d ,Lebensfiille' seine eindeutige K o n n o t a t i o n in n a t i o n a l e r Größe' u n d

imperialistischem

Anspruch' erfährt, aber

sicherlich stellvertretend für eine zeitgenössische Strategie mentation,

die den zu e r k ä m p f e n d e n .Platz an der Sonne'

der

Argu-

( a u c h eine

Variation der Lichtmetaphorik) ideologisch abzusichern versuchte. 8 Aber e b e n jene fatale Identifikation v o n .emphatischer

Lebensbe-

jahung' u n d ,nationaler Ehre u n d G r ö ß e ' bildet einen entscheidenden Anteil in d e m Enthusiasmus-Syndrom der ,Ideen v o n 1 9 1 4 ' . 9 Schickele differenziert im weiteren Verlauf seiner Vorrede die K o n t a m i n a t i o n v o n .Größe' (d.i. .heroisches Dasein') u n d ,Leben' im M y t h o l o g e m v o m .Stirb u n d Werde'; das Basis-Ideologem des literarischen T h e m a s .Aufbruch' läßt sich konkreter als bisher beschrieben

7

„Schwarzseher dulde ich nicht, und wer sich zur Arbeit nicht eignet, der scheide aus, und wenn er will, suche er sich ein besseres Land." Reden Kaiser Wilhelms II., zusammengestellt von Axel Matthes, Nachwort von Helmut Arntzen, München 1976, S. 105. 8 Vgl. Hans-Ulrich Wehler, Das deutsche Kaiserreich 1 8 7 1 - 1 9 1 8 , 2., durchgesehene und bibliographisch ergänzte Aufl. Göttingen 1975 (= Kleine Vandenhoeck-Reihe 1380; Deutsche Geschichte, hg. von Joachim Leuschner, Band 9), S. 1 7 1 - 1 8 1 . Vgl. auch als zeitgenössische Quelle Paul Rohrbach, Der deutsche Gedanke in der Welt, Düsseldorf und Leipzig 1912: „Wollen wir also vom deutschen Gedanken in der Welt reden, so meinen wir den sittlichen Idealgehalt des Deutschtums als gestaltende Kraft im gegenwärtigen wie im zukünftigen Weltgeschehen, und gehen dabei mit Bewußtsein von der Überzeugung aus, daß wir dazu in das Spiel der Weltkräfte gestellt sind, um sittliche Tüchtigkeit nicht nur für uns, sondern auch für die ganze Menschenwelt zu erarbeiten und zu bewähren" (S. 6). 9 Vgl. Friedrich Albrecht, Deutsche Schriftsteller in der Entscheidung. Wege zur Arbeiterklasse 1 9 1 8 - 1 9 3 3 , Berlin und Weimar 1975 (= Beiträge zur Geschichte der deutschen sozialistischen Literatur im 20. Jahrhundert, Band 2), S. 2 6 - 4 1 („Politisches Engagement unter nationalistischem Vorzeichen die Haltung deutscher Schriftsteller zum Beginn des ersten Weltkriegs"), , 3 s ist bekannt, daß sogar ein Schriftsteller wie Thomas Mann solchen Gedanken nahestand. (...) Es waren keineswegs nur Schriftsteller, die die Sache des deutschen Imperialismus zu der ihren machten. Unter dem berüchtigten Manifest der 93 findet man - außer den Namen Dehmel, Eulenberg, Fulda, Halbe, Gerhart und Carl Hauptmann, Sudermann - die Namen zahlreicher berühmter Künstler und Gelehrter: Defregger, Klinger, Liebermann und Hans Thoma, Max Reinhardt und Siegfried Wagner" usw. (S. 34f.).

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herauskristallisieren: „Pan! Der nur ein Gebot hat — das er in sich trägt und wir als in ihm in uns: zu werden, zu leben, voll und frei, heiter, stolz. Gewaltig ist Er und doch voller unendlicher Barmherzigkeif, grausam, damit alles sei. Gott der Liebe. Gott Pan. Und so sollen wir das Leben gehn, liebend durch die Vernichtung, liebend vernichten ... aus erschaffender Liebe. Der Kampf mit sich und den andern um sich. Unser Leben schaffen, daß es ein winzig Stück Vollkommenheit sei, Walten aller Kräfte, die Dichtung der Schöpfung leben. Ein echtes Kunstwerk ist universal, Natur. Leben ist Kunst, Kunst das wirkliche, das volle Leben." (P., S. 9) Der ,Aufbruch' aus der resignativen Sehnsucht in die Identität von Kunst und Leben gelingt, weil die Utopie einer befreiten Gesellschaft mit ihren nicht vorhandenen Bedingungen identifiziert wird und die vorhandenen Bedingungen der gesellschaftlichen Sozialstruktur affirmativ in den Horizont der Utopie (verkörpert in der mythologischen Figur des Wald- und Weidegottes ,Pan' aus dem Umkreis des DionysosKultes) transponiert werden: Das ideologische Substrat einer so im historischen Kontext aufgehenden Funktionalisierung spezifischer Seme mit der Signalwirkung politischer Implikationen nivelliert — aus der hermeneutischen Distanz rückgekoppelt auf die fatale Wirkung der späteren ,Ideen von 1914' — die utopische Intention und rückt sie, allerdings bis in ihre letzte Konsequenz zu Ende gedacht, in die Nähe sozialdarwinistischer Theoreme, die in den pangermanischen Monumental-Heroismus, als einer Variante der imperialistischen Ideologie, verflochten waren: 10 „Alle Gewalttaten sind Segen, aller Segen ersteht aus Meeren Bluts, immer sind es Morgenröten, die töten, was die Nacht gebar." (P., S. 10) Die ,Stirb und Werde'-Ideologie suggeriert den Schein der Selbstverwirklichung und verklärt sie zugleich in der programmatischen Forderung,,Kunst und Leben' miteinander zu kontaminieren. Jedoch: dort, wo eine Gesellschaft keine Kunst mehr braucht, weil das Leben selber als Konkretion der Wirklichkeit, also der wirklichen Verhältnisse, in denen die Menschen sich reproduzieren, für historische Subjekte die Qualität der Kunst erreichen kann, wird auch die Produktion einzelner Kunstwerke, die Realisation der Differenz von Kunst und Wirklichkeit, 10 Vgl. Hans-Ulrich Wehler, Das deutsche Kaiserreich 1 8 7 1 - 1 9 1 8 , S. 1 7 9 - 1 8 1 .

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überflüssig: denn die Differenz ist die conditio sine qua non der Existenz von Kunst — wie ihre Existenz zugleich auch der Beweis ist für die Differenz, weil die regulative Idee der Utopie noch nicht vom Geschichtsprozeß eingeholt worden ist, sondern dessen Negation zum Inhalt hat. 11 Ob Schickele in der offenen Sakralisierung einer „heroischen Lebenskunst" (P., S. 15) nur „als allein erstrebenswertes Ziel (...) die schöpferische Tat" preist, „in der sich erst das Grundprinzip des Lebens, das stete Überwinden und Neuwerden, verwirklichen könne", wie Gunter Martens mit einem zweifelhaften Bezug auf den „dionysischen Pessimismus Nietzsches" interpretiert, 12 muß bei der so angelegten tendenziellen Neutralisierung der ideologischen Implikationen im ,Stirb und Werde'-Ideologem kritisch gefragt werden. Durch das Oberflächenpanorama eines „orgiastischen Untergangstaumels" 13 scheint doch — gerade in der zitierten Sentenz — der Kern sozialdarwinistischen Denkens: „die Übertragung der biologischen Theoreme Darwins von der .natürlichen Auslese' und dem ,Sieg des Stärkeren' im ,Kampf ums Dasein' auf das gesellschaftspolitisch-politische Leben." 14 Hans-Ulrich Wehler macht in seiner Untersuchung über „Das Deutsche Kaiserreich 1871—1918" im Zusammenhang von „Sozialdarwinismus und Pangermanismus als imperialistischen Ideologien" darauf aufmerksam, daß Marx und Engels schon „frühzeitig scharfsichtig" die Verklärungsfunktion biologisch ursprünglicher Modelle für genetisch komplizierte, doch handfeste ökonomische Interessen erkannt haben. 15 „Es ist merkwürdig wie Darwin unter Bestien und Pflanzen seine englische Gesellschaft mit ihrer Teilung der Arbeit, Konkurrenz, Aufschluß neuer Märkte, .Erfindungen' und Malthusschem ,Kampf ums Dasein' wiedererkennt. Es ist Hobbes' bellum omnium contra omnes, und erinnert an Hegel in der Phänomenologie', wo die bürgerliche Gesellschaft als .geistiges Tierreich', während bei Darwin das Tierreich als bürgerliche Gesellschaft 11 Vgl. auch Theodor W. Adorno, Rede über Lyrik und Gesellschaft, in: Th.W.A., Noten zur Literatur I, Frankfurt am Main 1958 (= Bibliothek Suhrkamp 47), S. 7 3 - 1 0 4 ; besonders S. 78 und 80. 12 Gunter Martens, Vitalismus und Expressionismus, S. 129. 13 Ebd. 14 Hans-Ulrich Wehler, Das deutsche Kaiserreich 1 8 7 1 - 1 9 1 8 , S. 179. 15 Hans-Ulrich Wehler, Das deutsche Kaiserreich 1 8 7 1 - 1 9 1 8 , S. 179f.

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figuriert", bemerkt Marx in einem Brief vom 18.6.1862,16 und Engels notiert in den überlieferten ,.Notizen und Fragmenten" zum Thema .Biologie' für die Abhandlung „Dialektik der Natur" unter dem Stichwort „Struggle for life": „Die ganze Darwinsche Lehre vom Kampf ums Dasein ist einfach die Übertragung der Hobbesschen Lehre vom bellum omnium contra omnes und der bürgerlichen ökonomischen von der Konkurrenz, sowie der Malthusschen Bevölkerungstheorie aus der Gesellschaft in die belebte Natur. Nachdem man dies Kunststück fertiggebracht (dessen unbedingte Berechtigung, besonders was die Malthussche Lehre angeht, noch sehr fraglich), ist es sehr leicht, diese Lehren aus der Naturgeschichte wieder in die Geschichte der Gesellschaft zurückzuübertragen, und eine gar zu starke Naivität, zu behaupten, man habe damit diese Behauptungen als ewige Naturgesetze der Gesellschaft nachgewiesen."17 Dieser Verklärung des sozialen Gefüges durch eine totalisierende Anthropomorphisierung der Natur und Naturalisierung des Phänomens Kunst unterliegt auch René Schickele: „Der Künstler-Mensch". so definiert er, „ist ein Naturphänomen, wie ein Krieg, ein Vulkanausbruch ... wie Mitternachtsonnen. Es ist ganz gleich, ob du sagst ,schön4, ob .schrecklich' - er ist und entwickelt sich aus seinen Anlagen heraus ihrem Höhepunkt entgegen. Alles ausser ihm, alles, was für ihn nicht Licht und Luft und Nahrung ist, alle Vernunft berührt ihn nicht, das Gefühl der treibenden Natur belebt ihn, sein Gefühl, das hinabreicht in die tiefsten Eingeweiden der Erde. Er ist kein ,Wunder', nur eine Pflanze, die endlich hat erblühen dürfen, frei und gross — und Pflanze sein, Kosmos. Alles im Erdreich, was einzeln dieses und jenes Pflänzchen getrieben und treibt, all ihre Kraft saugt er in sein Mark und wird so die neue, die herrliche Blume. Und die Menschen stehen verwundert und meinen, es sei ein Wunder — und doch ist's nur eine Blase, die aufstieg, .dort', wo gerade .dann' das stärkste Brodeln war. Wenn die Blume verblüht, gibt ihr Tod tausend Samenkörner in den Wind, die dahin, dorthin wehn und treiben, bis ihre Kraft wieder aufgeht mit vielem andern, windverwehtem Samen in der Einen." 18 (P., S. lOf.) Gegen den realen Funktionsverlust der 16 Brief vom 18.6.1862 an Friedrich Engels, in: MEW, Band 30, S. 249. 17 Friedrich Engels, .Struggle for life' (Notizen und Fragmente, Stichwort: Biologie, zur Abhandlung „Dialektik der Natur"), in: MEW, Band 20. S . 5 6 4 566; Z i t a t s . 565. 18 Hervorhebungen von mir, KHH.

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Kunst im l'art pour l'art glaubt Schickele in der Verwirklichung des ,Stirb und Werde'-Ideologems, also in der prozeßhaften Anthropomorphisierung der Natur und Naturalisierung des Humanums, die gesellschaftliche Realität für den Künstler als Aktionsraum zurückerobert zu haben: „Die Dichtung ist kein .schöner Schein, der über die öde Alltäglichkeit hinwegtäuscht'." (P., S. 12) Aber die „öde Alltäglichkeit" wird im Ausbruch aus den artifiziellen Räumen der remen Kunst, der Kunstwelt des Georgeschen .Algabal' zum Beispiel, nicht erreicht, noch nicht einmal die Realität in ihrer abstraktesten Bestimmung. Und trotzdem: das .Stirb und Werde'-Ideologem, die Reduktion der gesellschaftlichen Prozesse und Progresse auf die .Wiederkehr des Immer-Gleichen' im organizistischen Verständnis des Entstehens aus dem Vergehen — ja durch das Vergehen —, ist nicht identisch (in seiner Konsequenz für eine ,Anti-l'art-pour-l'art-Poesie') mit der wilhelminisch-preußischen Staatsdoktrin, die gerade in der neoklassizistischen (bildenden) Kunst jene Formationen von Ordnung und Harmonie fand, welche der scheinbaren inneren Harmonie, Größe, Erhabenheit und Disziplin in der wilhelminischen Klassengesellschaft adäquat schienen. 19 Differenziert werden muß, weil das sozialdarwinistische Theorem des .struggle for life' eine explizit nationalistische und in der Konsequenz rassistische Komponente hat, die auf eine .völkische' Ideologie abzielt. Entstanden im Umfeld des Historismus, ist das völkische Moment zunächst dem Vitalismus konträr entgegengesetzt; die .vitalistische' Lebens-Utopie versucht eine extrem individualistische Verwirklichung des Menschen trotz der Masse, des Volkes, der vereinnahmenden Gemeinschaft. Der Vitalismus hypostasiert das .herausgehobene Individuum', der Historismus sieht den Einzelnen verschmolzen in der organischen Einheit des Volkes, das nur im Zusammenfallen der Vielen zur geballten Kraft, zu einer scheinbar omnipotenten Macht wird. 19 Vgl. Hans Ulrich Wehler, Das deutsche Kaiserreich 1871-1918, S. 134f. Vgl. auch Helmut Böhme, Prolegomena zu einer Sozial- und Wirtschaftsgeschichte Deutschlands im 19. und 20. Jahrhundert, 3. Aufl., 17.-22. Tausend,Frankfurt am Main 1969 (= edition suhrkamp 253), S.96-110. Zum Verhältnis „Klassengesellschaft und Staat" vgl. auch Jürgen Kocka, Klassengesellschaft im Krieg. Deutsche Sozialgeschichte 1914-1918, Göttingen 1973 (= Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft, hg. von Helmut Berding u.a., Band 8), S. 96-137.

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Überschneidungsmerkmale existieren allerdings in der irrationalistischen Position, die beide Varianten der Verklärung gesellschaftlicher Prozesse kennzeichnet. Die Begrifflichkeit, die Rhetorik und zum Teil die Metaphorik weisen identische Elemente auf und sind in ihrer jeweiligen Kontextualisierung ambivalent. Abrufbereit liegt ein übergreifendes Arsenal von Bildern, Motiven, Topoi und Argumentationsmustern, die polysemantisch besetzt sind und variable Funktionen erfüllen können. Wenn im Lebensbegriff Nietzschescher Prägung die individualistische Komponente unterdrückt und in eine .volkhafte' umgebogen wird, dann kann die irrationale Substanz im ideologischen Verwertungszusammenhang des gesellschaftlichen Überbaus funktional werden. In der Insistenz auf den extremen Individualismus, der Verwirklichung des einzelnen trotz der ,dumpfen, amorphen Volksmasse', kann auch ein zumindest Jcultur-kritisches' Potential aufgehoben sein, das enttabuisierend und antimoralistisch die saturierten Konventionen herrschender Ethik anprangern will. Das ideologische Substrat ist letztlich nur aus der hermeneutischen Distanz eingrenzbar: nämlich aus der realen Geschichte, die das,Stirb und Werde'-Ideologem im historischen Prozeß als Verklärung eines millionenfachen Mordes konkretisierte. Die ideologische Valenz muß im historischen Kontext vermessen werden, in der Konfrontation mit der zeitgenössischen Anschauung einer affirmativen Kunstkritik, welche die Kunst zum Spiegel der herrschenden Legitimationsstrategien machen wollte, zur Hofberichterstattung und zum Décor der preußisch-wilhelminischen Monarchie. So erklärte Wilhelm II. unverhohlen: „Die Kunst soll mithelfen, erzieherisch auf das Volk einzuwirken, sie soll auch den unteren Ständen nach harter Mühe und Arbeit die Möglichkeit geben, sich an den Idealen wieder aufzurichten",20 was im Kontext des Rede-Anlasses21 heißt: an den Idealen der preußisch20 Kaiserreden, S. 110. 21 Nachdem „in der Siegesallee des Berliner Tiergartens die letzte Gruppe unter den Denkmälern der brandenburgisch-preußischen Herrscher enthüllt" worden war, lud Wilhelm II. alle Künstler, „die an der Schaffung der Denkmäler beteiligt gewesen waren", zu einem „Festmahl" (Kaiserreden, S. 106). Neben der ,Erziehungsfunktion' erläuterte der Kaiser den Künstlern auch den Zusammenhang von ,Kunst' und .Freiheit': „Wie ist es mit der Kunst überhaupt in der Welt? Sie nimmt ihre Vorbilder, schöpft aus den großen Quellen der Mutter Natur, und diese, die Natur, trotz ihrer großen, scheinbar

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brandenburgischen Geschichte aus der Sicht des wilhelminischen Erben, also an Zucht, Disziplin, Ordnung und Staatsraison. Schickele steht zu einer solchen Definition und Funktionalisierung von Kunst in einer emphatisch-radikalen Opposition: „Freiheit", fordert er pathetisch, „unbedingte Freiheit allem, was groß. Der Künstler ist Anarchist, der Gesellschaft gegenüber". (P., S.13f.) Festzuhalten bleibt die Ambivalenz zwischen utopischer Intention und ideologischen Implikationen im Versuch, aus der ästhetischen Opposition' vorzustoßen in jenen Zustand, den René Schickele „Natur sein" nennt: „ungekünstelte, selbstherrliche Natur, die sich nicht kümmert um das, was ,sein muß der Allgemeinheit wegen'", in jenen Zustand des ,sich Auslebens' „mit all seinen Himmeln und Höllen, dem nur Eines Gesetz ist, das Reale, das wirklich Seiende, Ewige, der Kosmos in seiner Schöpferkraft." (P., S. 13) Das .Stirb und Werde'Ideologem ist zu beschreiben als negative Radikalisierung der genuin bürgerlichen Utopie ,einer universalen Freiheit für die ganze Menschheit'; 2 2 eine Radikalisierung, die an dem Punkt der gesellschaftlichen Entwicklung entsteht, wo die utopische Intention endgültig an den realen Verhältnissen der bürgerlichen Gesellschaft korrigiert und innerhalb ihrer möglichen Staatsformen perspektivlos wird. In der latenten Anonymisierung der Macht- und Herrschaftsverhältnisse muß die allmählich verdrängte Vorstellung einer totalen Demokratisierung der gesamten Produktions- und Reproduktionssphäre des Menschen sublimiert werden. Ein abstrakter Begriff von ,Freiheit' wird aus der Trias ,liberté', ,égalité', .fraternité' ausgeklammert und transformiert in die Sehnsucht oder den Willen zur totalen Mobilisierung aller Erfahrungsmöglichkeiten — und sei es die dekadente Verklärung des Todes und Sterbens zur letzten, vielleicht sogar höchsten Vollendung aller enervierenden und endlich zu sich selbst gekommenen physischen und psychischen Reize, Spannungen und noch nicht ausgekosteten Erlebnisse. ungebundenen, grenzenlosen Freiheit, bewegt sich doch nach den ewigen Gesetzen, die der Schöpfer sich selbst gesetzt hat, und die nie ohne Gefahr für die Entwicklung der Welt überschritten oder durchbrochen werden können" (Kaiserreden, S. 109). 22 Vgl. dazu im Zusammenhang Emst Bloch, Gesamtausgabe, Band 6: Naturrecht und menschliche Würde, S. 1 7 5 - 2 0 6 („Aporien und Erbe an der Trikolore: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit"); besonders S. 1 7 6 - 1 8 6 .

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Anstatt die Voraussetzungen und Verhinderungen der universalen Selbstbefreiung des Subjekts zu reflektieren, das im Kampf um seine Emanzipation sich allmählich den gesellschaftlichen Raum produziert, in dem die Überführung der nur noch abstrakt vorhandenen Totalität menschlicher Erfahrung in eine humane Realisierung möglich wird, erscheint die Möglichkeit einer universalen Verwirklichung aller elementaren Bedürfnisse als individueller Akt der ,Selbstauflösung' im kosmischen Zusammenhang, wobei gleichzeitig die Totalität (und Fülle) des kosmisch-organizistischen .Werdens und Vergehens' als Grundprinzip des ,Lebens' verwirklicht werden soll: Der Aufbruch in die Realität endet im asozialen Raum entfremdeter Sublimation realer Bedürfnisse. Die totale Sublimation verweist auf den »Zustand der Utopie', die nur noch in der hohlen Phrase existiert: „Ewige Jugend" (P., S. 14) in einer „heroischen Lebenskunst" (P., S. 15). Signifikante vitalistische Metaphern einer individualistisch-artifiziellen,Lebens-Bejahung' geraten in Affinität zu Strategien der Verwertung irrationaler Sehnsüchte einer heroischen ,Lebens-Entgrenzung'. Diese prozessual schleichende Umpolung kann unter veränderten Bedingungen, im gewandelten historischen Kontext reaktionär virulent werden. Der ,Eskapismus' sperrt sich in seiner sozialpsychologischen Dimension gerade durch das Fehlen einer ausdrücklichen Politizität gegen den Heroismus und ist ein Element der Opposition im Kontext chauvinistischer Propaganda. Wird jedoch der artifizielle Individualismus in einem diffusen Kollektivgefühl aufgegeben, dann kann in einer latenten Krise innenwie außenpolitischer Spannungen, die zum Krieg eskaliert werden soll, ein allseits legitimierter, bejahter, national ummäntelter Initialfunke den Auslösungseffekt hervorrufen, der die scheinbar harmlose — wenn nicht sogar progressive — Beschwörung tes Lebensrausches zur Sakralisierung eines Todesrausches umfunktioniert und zu einem Moment aggressiver Ideologie komplettiert. Erst in der Symbiose des JErosThanatos'-Motivs, in der Zerstörung seiner Dialektik, entsteht als Werkzeug einer chauvinistischen Propaganda der ,bewußtlose Held', der sein ,Blutopfer auf dem Altar des Vaterlandes' als Selbstverwirklichung stilisiert: „Lebenswahnsinn! ... noch im Tod - " . („Gottsucher", P., S. 20) Diese Sentenz präfiguriert nicht die Physiognomie des ,Langemarck-Mythos', der auf dem Hintergrund der ,Ideen von 45

1914' dem Volk als Durchhalte-Parole anempfohlen wurde: Sinnbild sinnlosen Sterbens. René Schickele und der ,Stürmer-Kreis' in Straßburg intendierten eine antiphiliströse, vom Sexual-Tabu befreite antiklerikale Lebens-Utopie.23 Schickele organisiert nach 1914 in den „Weissen Blättern" eine der entschiedensten pazifistischen Kriegskritiken, die im Umkreis expressionistischer Literatur in Deutschland und über Deutschland hinaus wirksam geworden sind.24 Und doch: losgelöst von der autorspezifischen Intention in der Autonomie des Werkes gegenüber seinen Produktionsbedingungen werden im Gedichtband „Pan. Sonnenopfer der Jugend" schon 1902 Chiffren konturiert, gewinnen Vorstellungen eine fatale Präexistenz, die zumindest eine dynamische Evolution im ,Stirb und Werde'-Ideologem so zielorientiert entfalten, daß es im frühexpressionistischen ,Aufbruchs-Sujet' seine gegenutopische, vorkritische Ambivalenz transponiert - und so den Aufbruch nicht als radikalen Neubeginn, sondern als Kontinuität einer zwischen utopischer Intention und ideologischer Funktion oszillierenden ambivalenten Semantik erscheinen läßt. So heißt es paradigmatisch im Gedicht „Gott" (P., S. 21-34; ein Textzyklus, unterteilt in die Abschnitte 1. bis 6., S. 21-32, und „Erste Fahrt", S.33f.): „Und deine Sehnsucht war ein Stern, / der durch die Himmel sauste, / glühend jene großen Feuer suchte, / die in Gluten ihres Sonnensommers blühen, / wilder Wunsch nach Liebe, / die so rasend groß, daß ihr Berühren / Rausch und Tod und Aufgehn / in der jähen Blüte eines andern" (P., S. 22). Bestimmend für das im frühexpressionistischen ,Aufbruchs'-Thema sich entfaltende ,Stirb und Werde'-Basisideologem wird die Ambivalenz seiner Polyperspektivik, die sich im krisenhaft verdichtenden historischen Kontext vor 1914 immer mehr zu einer imperialistischchauvinistischen Komponente verengt. Das heißt, es muß im Konzept der vitalistischen Lebens-Utopie generell unterschieden werden jener 23 Vgl. dazu Gunter Martens, Vitalismus und Expressionismus, S. 130f. („Der Lebenskult des .Stürmer'-Kieises in Straßburg"). 24 Zu Schickeies unbestritten pazifistischer Position und seinem Anti-KriegsEngagement in den „Weissen Blättern" vgl. Lothar Peter, Literarische Intelligenz und Klassenkampf. „Die Aktion" 1911-1932, Köln 1972 (= prv, Sammlung Junge Wissenschaft), S. 78-80. Peter analysiert auch die politisch theoretische Position, die Schickele in der Anti-Kriegsbewegung vertrat.

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auf eine Kulturkritik abzielende Impetus gegen die moralischen Dogmen und gegen die Scheinliberalität eines saturierten Bürgertums von dem im ideologischen Kontext des Wilhelminismus verankerten Zug zum monumentalen Heroismus', zum ,neudeutschen Romantizismus' und in der Konsequenz zum ,sakralisierten völkischen Chauvinismus'. 2 5 Der radikale Individualismus im Kontext der Lebens-Utopie, mit der Tendenz der Umpolung in einen extremen ,Gefühls-Kollektivismus' — wie er für die »Ideen von 1914' charakteristisch wurde —, entsteht als Reaktion eines großen Teils der politisch heimatlos werdenden Intellektuellen in dem Moment, wo das Bürgertum die ,Utopie' einer politischen Emanzipation im wilhelminischen Deutschland aufgibt. Wenn für die einen im bürgerlichen Lager die Devise hieß, endlich vom Geldadel zum Blutsadel zu kommen, dann blieb fur die anderen kaum mehr als der Weg in die »machtgeschützte Innerlichkeit', allerdings mit der stillen oder offenen Sehnsucht, daß irgendetwas .Gewaltiges', ,Großes', Ungeheuerliches' sich ereignen möge: „Geschähe doch einmal etwas. Würden einmal wieder Barrikaden gebaut. Ich wäre der erste, der sich darauf stellte, ich wollte noch mit der Kugel im Herzen den Rausch der Begeisterung spüren. Oder sei es auch nur, daß man einen Krieg begänne, er kann ungerecht sein. Dieser Frieden ist so faul ölig und schmierig wie eine Leimpolitur auf alten Möbeln." 2 6 Exemplarisch für die skizzierte Ambivalenz des Basis-Ideologems kann der gegenüber anderen Abschnitten im Gedichtband „Pan. Sonnenopfer der Jugend" zentrale und mit einer Signalfunktion semantisierte 25 Vgl. Jost Hermand, Der Schein des schönen Lebens, S. 1 3 - 2 5 . 26 Aus der Eintragung Georg Heyms vom 6.7.1910 ins „dritte Tagebuch", 17. Juni bis 7. Dezember 1910, in: G.H., Dichtungen und Schriften, Gesamtausgabe, hg. von Karl Ludwig Schneider, Hamburg und München 1960, Band 3 (Tagebücher. Träume. Briefe, unter Mithilfe von Paul Raabe und Erwin Loewenson), S. 139. Vgl. auch Wolf Lepenies, Melancholie und Gesellschaft, Frankfurt am Main 1972 (= suhrkamp taschenbuch 63). Lepenies macht auf die „Handlungshemmung als Anlaß utopischen Denkens" (S. 1 9 0 - 1 9 2 ) aufmerksam und erläutert zur Referenz .Resignation', .Melancholie', .Sehnsucht' und .Tat contra ennui': „Utopisches Denken ist die Vorbereitung zur Darstellung einer Enttäuschung an der Welt, nach Sorel liegt einer der Züge der Utopie darin, daß ,1e monde présent peut être considéré avec tristesse'. Diese Traurigkeit der Welt setzt utopisches Denken in Gang, weil Handeln unmöglich ist, oder eine Aktion, die unter utopischer Flagge startet, aber bald scheitern mu£>, weil sie vergißt, daß es die Härte und Widerstandsfähigkeit des Realitätsprinzips gibt" (S. 190f.).

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„Christus"-Zyklus (P., S. 40—60) herangezogen werden, der den thematisch signifikanten Untertitel „Der Aufbruch" trägt. Gunter Martens sieht „besonders deutlich im Zyklus der ChristusGedichte" eine „Tendenz zur Ästhetisierung des Todes, zur Auflösung ins Dekorative", 27 chiffriert in den Bildern eines „orgiastischen Untergangstaumels", der „freilich den eigentlich destruktiven Vorgang durch Farbenrausch und Blutmystik" überdecke. 28 Zwar ergehe sich Schickele in „Tatenrausch und vitaler Ekstase, Heldenglorifiziening und Sonnenkult", so resümiert Martens, aber zugleich werde die „Abwendung von der Wirklichkeit, von der Grundproblematik der Zeit, die der Dichter durchaus" sehe, dominant. In der Konsequenz bedeute dies die „Weltflucht in einen Bereich des Ästhetischen und Imaginären", der keine „Auseinandersetzung mit der gesellschaftlich kulturellen Situation der Jahre um 1 9 0 0 " aufnehmen könne. 2 9 Eine Sequenz aus dem Abschnitt „Der Feuersegen" (P., S. 47—51) kann exemplarisch Schickeies Verfahren charakterisieren, ,individuelle Entgrenzung' und kosmische Einheit', das Programm einer heroischen Selbstverwirklichung poetisch zu kodieren: Gross ist die Welt, so leis der Ton, den sie summt durchs All der Mensch? Helden nur leben wie die letzte Blume, 27 Gunter Martens, Vitalismus und Expressionismus, S. 129. Vgl. auch Hugo Sonnenschein, Ichgott, Massenrausch und Ohnmacht, Gedichte. Die Utopie des Herostrat, Ein Akt, (Utopia) Paris und Wien 1910. Sonnenschein hält zwar in seiner Vorrede („Über Sein und Schaffen. Reflexion des Lyrikers") noch 1910 an Stereotypen des Vitalismussyndroms fest („Ich lebe - das ist: ich werde gejagt, gepeinigt, gestoßen, gequält und erhoben, gepeitscht und geküßt; ich schaffe - das heißt: ich siege", S . 8 ) , aber der Gedichtzyklus „Christus" ( S . 9 - 2 9 ) zeigt im Gegensatz zu Schickeies Aufnahme des Themas schon die tendenzielle Destruktion der ,Heroen'-Schablone und die allmähliche Konfiguration der Christus-Figur zum Protagonisten des .Sozialrebellen' und .Heiligen', des .outlaw' und .Erlösers': jene für den Expressionismus relevante Kontamination von Boheme und Anarcho-Vitalismus, Künstler und stigmatisiertem (politischem) Führer. Vgl. besonders für diesen Kontext die Gedichte „Ecce Homo" (S. 1 6 - 2 0 ) , „Des Menschen Sohn" ( S . 2 1 ) , „Der Heiland" (S. 26) und „Macht-Linie" (S. 27). 28 Gunter Martens, Vitalismus und Expressionismus, S. 129. 29 Gunter Martens, Vitalismus und Expressionismus, S. 130.

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die erblühen durfte, Heldenkönigen nur strömt der Wind, der Atem ihrer Welt, ums Haupt wie einer Rose, die in siegender Herrlichkeit steht zwischen vielen, über alle Farben ihren Glutton wirft gleich einem Herrschermantel — Wenn in ihrem schweren Atemzug die Nacht stöhnt, ringen tausend Pflanzen mit den Traumgewalten ihres Schlafs und siegen und der Mensch? Wenn der Erdball berstet, ist's wie Blut, das aus der kleinsten Ader springt: Vulkane sengen Menschen, Menschen ... Ein Gluthauch strich über Städte, Wälder ... So klein die Tat, wie jeder Menschentritt, der über Felder schonungslos vernichtend geht, und weil er gehen muss, nicht anders kann so lautlos ist der Tod. Und wenn des Erdballs Flamme wirr in eine Sonne sinkt, durchschwebt, durchdringt das All noch immer gleich und hehr der Ewigkeiten Hohelied. (P., S.49f.) Die Interpretation der „Weltflucht" in der Beschreibung eines relativ homogenen ,poetischen Modells' gilt es festzuhalten, weil Gunter Martens im späteren Werk Schickeies in einer analogen, oft identischen Metaphorik und Chiffrierung nur durch die kontextuelle Differenz eine E i n w e n d u n g zur Realität' feststellen kann. Für den thematischen Zusammenhang

dieses Abschnittes der Untersuchung interessieren

innerhalb des „Christus"-Zyklus im besonderen die Subsysteme „Christus" (P., S. 4 4 ) , „Die rote Nacht" (P., S. 4 5 f . ) und „Der Feuersegen" (P., S. 4 7 - 5 1 ) . 49

Die Verklärung des Todes in der Kontamination des Christus-Bildes mit einer dezidierten Katastrophenmetaphorik, die ihre Bildsequenzen aus Revolutionstopoi gewinnt, semantisiert die „Ästhetisierung des Todes" (Martens) aus einer latent .neutralen' „Weltflucht" zu einer .räumlich' konfigurierten Szenerie des Kampfes, Schlachtfeldes, der Revolutionsbarrikade: die ,Stirb und Werde'-Sehnsucht, der Aufbruch an die Grenzen menschlicher Erfahrungsmöglichkeiten, konnotiert die Bereiche .Krieg und Revolution'. Allerdings werden .Krieg und Revolution' — als Paradigmen für Kampf—nicht als gesellschaftliche Phänomene, als historische Ereignisse wahrgenommen: Die letzte Konsequenz antagonistischer Widersprüche, ihre Lösung oder Unterdrückung in der bewaffneten Auseinandersetzung, erscheint nicht als geschichtliche Faktizität auf der Basis sozialer Prozesse, sondern als Möglichkeit, in einem heroischen Moment, einem aus der Banalität und Mediokrität des Alltags herausgehobenen Augenblick, die Grenzen menschlichen Daseins zwischen Leben und Tod als Erfüllung zu erfahren. Im Subsystem „Christus" verklärt Schickele den 3arrikadenkampf — im rationalen Geschichtsverständnis dasSignum des revolutionären Aufbegehrens einer unterdrückten Klasse gegen illegitime Herrschaft und Ausbeutung — zu einer heroischen Szenerie, die um ihrer selbst willen, gerade unter Ausklammerung ihrer Ursachen und Wirkungen, zum Paradigma eines Panoramas höchster .Spannung' werden kann: „Nur einen Augenblick sah ich das Bild. / Die Feuerlachen, die in zitternden Gestalten / über Finsternisse schwammen, / hörte, wie der Brand der grossen Stadt / gen Himmel tönte .../ über eine Barrikade, / die in breiter Strasse an die Dächer reichte, / ging der Sang — / zu ihrem Grat empor / griff eine Sturmflut jäh / und schwand den andren Hang hinunter. / D a - aus dem schillernden Lavastrom, der über die Barrikade schwoll, I blieb die Gestalt zurück, die ich ersah: / Hellgoldene Locken glommen / um ein dämmernd Angesicht, / das einen Augenblick den Himmel ahnte, ... / der Sterne Licht brach sich in einem Schwert - / Und eine Welle schwang sich auf, / hob die Gestalt und riss sie nieder." (P., S. 44) Der Révolutionstopos im Bild der Barrikade wird in einer Metaphorik kodiert, die ein politisches Phänomen in die Vorstellung einer Naturkatastrophe' stilisiert oder genauer: verfälscht. Die Kämpfer (für was?, gegen wen?) erscheinen als „Feuerlachen", „Sturmflut" und „schillernder Lavastrom", als entfesselte Naturgewalt 50

also, welche die angreifende glasse' zu einer vitalen, ekstatischen, alle Widerstände brechenden Erhebung' ästhetisiert. Im Augenblick der Erstürmung der Barrikade läßt Schickele einen der Kämpfer aus der anonymen Masse zum Heroen werden, der auf dem „Grat" der Barrikade — tödlich getroffen — im Tode zur Christusfigur, zum Märtyrer und Heiligen verklärt wird; deshalb die Momentaufnahme: „Nur einen Augenblick sah ich das Bild" - „das einen Augenblick den Himmel ahnte". Weil die Situation des Kampfes niemals funktional gesehen wird fìir etwas, das sich lohnte zu kämpfen, sondern der Kampf und das heroische Sterben als Erlebnis um seiner selbst willen rezipiert werden, das in einem dramatischen Moment enervierendste Spannung und totale .Erlösung' zu einer .sakralen Gebärde' vereint, kann nur der rauschhafte Tod die Konsequenz einer auf die Entgrenzung aller Erfahrung abzielenden Utopie sein: hier liegt die irrationale, asoziale und zynische Komponente im ideologischen Substrat des ^Stirb undWerde'Ideologems, das in seiner zu Ende gedachten Essenz den .vitalen Aufbruch' immer zum völkisch-chauvinistischen Opfergang umfunktionieren kann. Auf der einen Seite ist der .Kampf ' Metapher für das Leben in einem vitalistisch-organizistischen Verständnis von »Entstehen und Vergehen': Leben als Einheit von Geburt und Tod, als Einheit von .Schönheit und Grausamkeit'; und so sollen die 3üder' gegen die in rigidester Konventionalität erstarrte Zeremonienmentalität des wilhelminischen Bildungsbürgertums einen vitalen Affront setzen, sie sollen im Kontext der Georgeschen Lyrik zum Beispiel schockieren. Anstatt .Zucht und Strenge' .Chaos und Neubeginn'; die Metaphorik des orgiastischen, ekstatischen und rauschhaften Kampfes, der Zerstörung und der Lust im Tode sind auch — auf dem Hintergrund der Décadenceproblematik und des Dilettantismussyndroms30 - Vehikel der Irritation innerhalb der literarischen Evolution. Auf der anderen Seite liegt jedoch in der Identifikation von ,Leben und Kampf', .Erfüllung und Tod', in der Verschmelzung von .Eros und Thanatos' eine jenseits der bloßen Kodierung von utopischem Vitalismus anzusetzende Eigendynamik der Bilder, welche über den metaphorischen Horizont hinausweist. Wo die Sehnsucht nach unentfremdeter Existenz nur den Bildbereich ,Krieg-Zerstörung-Katastrophe30 Vgl. Renate Werner, Skeptizismus, Ästhetizismus, Aktivismus, S. 16f.

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Tod' semantisiert, hat sich die utopische Intention schon ihrem Verwertungshorizont als ideologische Funktion überantwortet; und im potentiellen Mißbrauch entlarvt sich, durch die geschichtliche Konkretion bestätigt, der ästhetische Gehalt: die latente Affirmation der herrschenden entfremdeten Sehnsucht nach realem Glück statt Destruktion und Kritik der Bedingungen, welche im historischen Kontext Entfremdung und Herrschaft produzieren. So konnotiert das ,Aufbruchs'-Motiv auch im Subsystem „Die rote Nacht" (P., S. 45f.) das ,Stirb und Werde-Ideologen als Verklärung des Todes zum Fest: „In ihren Sinn riss Mutter Erde / ihre Kinder fürchterlich zurück. / Wut sind sie, Kraft, / selbstherrliche Gewalt und Trotz, ... / Natur - / Der Mutter Pulsschlag / klebt am Sturmschritt ihrer Massen, / dröhnt in ihre Stime, / alle Herzen pochen in dem Takt, / der schwer im Mutterleibe bebend / durch das Niederquadern stummt / von auseinanderspellenden Palästen, / deren Zinnen ein Jahrtausend / mit dem Herrscherreif umschloss, / und den ein Donner riss, / der jetzt durch Trümmer taumelt / und aufWogen schwingt und geht, ... / in wildem Wiegen greift er weiter — / und sie trinken Kugeln, trinken, / sehen nur in ihre rote Fahne,/ die in Riesenwellen sich entfaltet, / leuchtend in den Lüften steht." (P., S. 46) Der „Konfliktlosigkeit als Ideal" 3 1 über den „strukturbedingten Antagonismen der reichsdeutschen Gesellschaft" 32 steht im Aufbruchsmotiv aus dem ,Stirb und Werde'-Syndrom die einfache Negation gegenüber: und zwar in der Vorstellung des Lebens als Kampfes, des lustvollen Werdens als rauschhaften Vergehens. Hans-Ulrich Wehler erläutert, wie in das spezifisch preußische „Verhältnis von Obrigkeits- und Untertanengesinnung (...) die Wurzeln einer Vorstellung (hineinreichen), die man als Utopie der konfliktlosen Gesellschaft umschreiben kann. Regierung und Verwaltung werden darin als überparteiliche Hüter des Gemeinwohls, als ¿ein sachliche' Entscheidungsinstanzen, als — wenn man so will — technokratische Sachverständige begriffen, während unter ihnen alle sozialen Gruppen prinzipiell in harmonischen kooperativen Beziehungen miteinanderleben. Antagonismen und Klassenspannungen bleiben aus dieser Idylle 31 Hans-Ulrich Wehler, Das deutsche Kaiseneich 1 8 7 1 - 1 9 1 8 , S. 134. 32 Hans-Ulrich Wehler, Das deutsche Kaiserreich 1 8 7 1 - 1 9 1 8 , S. 135.

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verbannt, werden negiert oder als Ergebnis bösartiger Störversuche von außen verstanden. Diese Störenfriede, die ohnehin in jeder konservativen Verschwörertheorie ihren bevorzugten Platz innehaben, müssen dann bekämpft, vertrieben, notfalls ausgemerzt werden." 33 Die zwangsverordnete Idylle voluntaristisch aufbrechen zu wollen, in der Identifikation von Kunst und Leben gegen die naturalistische Priorität der .sozialen Frage', beinhaltet das Dilemma des ,um-seiner-selbstwillen' betriebenen Aufbruchs in den Tod: die reale gesellschaftliche Perspektivlosigkeit einer nicht bis in die Negative Dialektik' vordringenden poetischen Modellierung spiegelt sich in der Illusion, nur im Auslöschen der individuellen Existenz könne die alle Schranken überwindende organische Vereinigung in dem ,Hen kai pan' stattfinden. Zwar ist der Aufbruch der „Tausend" im paradigmatischen Text „Die rote Nacht" zielgerichtet: alle Herzen pochen in dem Takt, der schwer im Mutterleibe bebend durch das Niederquadern stummt von auseinanderspellenden Palästen, deren Zinnen ein Jahrtausend mit dem Henscherreif umschloss (P., S. 46).

Jedoch nicht die revolutionäre Überwindung der Herrschaft wird im poetischen Bild antizipiert. Die sich Opfernden „sehen nur in ihre rote Fahne", welche die Verklärung des elenden Krepierens („und sie trinken Kugeln"!) symbolisch überhöhen soll. Innerhalb der poetischen Modellierung ist das Ziel des Angriffs fakultativ, eme Leerstelle, die im veränderten historischen Kontext auch anders besetzt werden kann. Die semantische Ambivalenz im Bild zwischen der Möglichkeit eines inneren oder äußeren Feindes, zwischen imperialistischem Raubzug und Aufstand der unterdrückten Klasse ist Kennzeichen des Aufbruchs-Motivs, das den Kampf als Verherrlichung eines sich bis in die Natur entgrenzenden Daseins zum Inhalt hat. Die mögliche, aber extrem schwach semantisierte Allusion auf den politischen Konnex Revolution, wird nach 1914 offen und mühelos in ein reaktionäres, chauvinistisches Schema integriert, in das bruchlos das automatisierte Versatzstück des ,Stirb und Werde'-Ideologems aus der Lyrik der

33 Hans-Ulrich Wehler, Das deutsche Kaiserreich 1 8 7 1 - 1 9 1 8 , S. 134.

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Jahrhundertwende montiert werden kann. So kann der skrupellose Massenmord an Millionen zum ,Opfergang' gegen den .Erzfeind' losgelöst von allen nationalen Klasseninteressen —, zur heroisch vorbildlichen und somit sinnvollen Tat, zur metaphysischen, irrationalen Vollendung des Subjekts verklärt werden, also ideologisch funktional wirksam sich umsetzen. Wie ideologisch besetzt, von ihrem ästhetischen Gehalt her qualitativ bestimmt, die Momentaufnahme und symbolische Überhöhung des dynamischen Aufbruchs in das für den Heroen tödliche Gefecht sind, zeigt paradigmatisch und erschreckend anschaulich der explizit „Stirb und Werde" betitelte Text, den Paul Zech in den Gedichtband „Helden und Heilige. Balladen aus der Zeit" (1917) aufgenommen hat. Von .erschreckend' kann deshalb zurecht gesprochen werden, weil Paul Zechs Lyrik vor 1914 zumindest in der Tendenz einer offen reaktionären Apologetik des preußisch-wilhelminischen Systems widerspricht. — 3 4 Stirb und Werde Die Asine. Ein überqualmter Wald. Weiß, drohend aus dem Wipfelspalt feindliche Schanzen. Und unten aus der Furt herauf, herrollend in gestrecktem Lauf Ulanen. Hundert Lanzen. Die Pferdenasen flockten Schnee in den zerstampften roten Klee empor den Hügel. Wie Stein gehaun an Feuerstein schlug oben die Schwadron hinein die Eisenflügel. Die Salven strichen hageldicht und bliesen aus viel Augenlicht. Im Hussah weiter. Der Schanzendeich stand felsenschwer, den Schanzendeich zerbrach das Meer der Lanzenreiter. Doch der, der diesen Ritt befahl, der den ergrimmten Degenstahl voraufgeschwungen, lag unten im verbrannten Kraut 34 Vgl. zum Beispiel Paul Zechs Gedichtband „Die eiserne Brücke" (Neue Gedichte, Leipzig 1914).

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von Pferdeleibern Uberbaut, die Brust zersprungen. Und hob und hob die Zitterhand und schrieb mit Blut tief in den Sand, schrieb: „Stirb und Werde!" ... Das war sein Wappenspruch, sein Christentum, sein letzter Hauch, sein letzter Ruhm auf dieser Erde. 35

Die offen reaktionäre Tendenz dieses Textes und seine Epigonalität auf dem Hintergrund des schabionisierten Musters, das im Kontext der Balladentradition

nun aus dem lebensphilosophischen

(irrational-

metaphysischen) Begründungszusammenhang in die scheinbar Historizität verbürgende Fabel einer erlebten, bezeugten Begebenheit transponiert wird, dokumentiert die ,Archisemantik' der zitierten Folie, die in ihrer affirmativen und apologetischen Funktionalisierung den ästhetischen Gehalt offenlegt, der nicht jenseits des potentiellen Verwertungszusammenhanges diskutiert werden kann. Die ästhetische Struktur selber versperrt sich entweder vor einer reaktionären Kontextualisierung, indem ihr kritisches Potential nicht von der herrschenden Ideologie absorbiert werden kann, oder aber sie liefert sich dem falschen Bewußtsein über die wirklichen Prozesse aus — weil sie nicht bis zu dessen Negation vordringt, sondern in der Abbildung, der poetischen Reproduktion des falchen Scheins verbleibt. So mißbraucht Paul Zech im angeführten Beispiel nicht die an sich latent kritische oder neutrale Argumentationsfigur des ,Stirb und Werde'-Ideologems. In Schickeies Gedichtzyklus „Kain und A b e l " (P., S. 52—57) konkretisiert sich schon der Verwertungszusammenhang, weil die Geschichtlichkeit der Werke offenlegt, inwieweit sie in ihren Produktionsbedingungen bloß aufgehen und wieviel Überschuß an kritischem Potential sie gegen diese artikulieren. Wo die Produktionsbedingungen des Werkes identisch werden mit dessen Funktionieren im Geschichtsprozeß, dort kann von ästhetischer Qualität nicht mehr gesprochen werden. Perspektivlosigkeit ist die Quintessenz in der Synchronisation von Eros und Thanatos: „Alles unter allen Sonnen ist hochheilig, alles gut / und ewig, weil es einen Augenblick nur lebte, / weil es leben muß ... und Leben ist die Zeit vom Morgenrot / zum

35 Paul Zech, Helden und Heilige. Balladen aus der Zeit, Leipzig 1917, S. 14f.

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Abendrot, ist wütendes Genießen, Wunder leben, / Sonne schlürfen, bis wir taumeln ... niedertaumeln / in den großen Traum der Ewigkeit: / aus moderndem Gebeine blüht die Purpureóse, / die mit sehnsuchtheißen Küssen eine Liebende bedeckt ... / Alles gut und alles heilig — leben!" (P., S. 56f.) Die oben zitierte Sequenz ist die symbolistische' Aufhebung des Brudermordes aus Neid und Habgier und der Versuch, die moralische Dimension der Schuld, die ja noch im biblisch-religiösen Modell ihre soziale Kausalität hat, im kosmisch-organischen Rausch von .Geburt und Zerstörung' aufzulösen, die vom Humanum unabhängig nach eigenen, ewigen Gesetzen den Menschen zum Tier und zum Gott machen können; ihn als Werkzeug aber der nicht hinterfragbaren Eigengesetzlichkeit des kosmischen Werdens und Vergehens aus aller Verantwortung und somit aus aller Moral entlassen und ihn nur noch in die eine Jieilige' Pflicht stellen, sich zu verwirklichen — und sei es über die Leiche des Mitmenschen. Was es heißt, wenn für eine solche ,Lebensphilosophie' die individuellen Schranken fallen (zum Beispiel durch die herrschende Moral einer Staatsdoktrin oder durch bestimmte gesellschaftliche Interessen) und größere Dimensionen sich in die semantisch offenen Variablen transformieren, wenn die Individuen durch Staaten ersetzt werden, wenn der banale Mord zum legitimen, sanktionierten Krieg wird, dann erscheint auch hinter der Maske der utopischen Intention: Freiheit im ,hic et nunc' und nicht am St. Nimmerleinstag die Fratze der chauvinistischen Agitation. Zugleich aber inhäriert dem ,Stirb und Werde'Ideologem auch die reale Sehnsucht nach der letzten und endlichen Aufhebung aller Widersprüche, die es als falscher Schein eines konkreten Mangels artikuliert. So kann die Parabel vom Brudermord — über die moralische Befreiung durch die Gesetze der Natur — in den ungebrochenen Aufbruch ins Paradies umfunktioniert werden: „In den Winden schritten wuchtig die Posaunenchöre, / goldene Phalangen, schritten die Millionen, lachend sprang der Jubel, Blumen streuend und in roten, weißen, blühenden Gewanden vor den Reihen: ... Kinderlachen, Leuchten toller Mädchenaugen ... / golddurchflirrte grüne Banner in der Sonne und Musik, Musik vom Himmel nieder, / weit das tiefe Blau in Schwung... wie Grüße feiernder Planeten // Über Golgatha so stiegen die Millionen, millionen Tritte gingen übers Kreuz, / und in den Glanz des neuen Landes zogen Sonnenmenschen ein." (P., S. 57) 56

b) Ein Moment im literarischen Anspielungshorizont der Jahrhundertwende: Friedrich Nietzsche Auf den explizit geistesgeschichtlichen Zusammenhang des VitalismusSyndroms zwischen ,Lebensphilosophie' und »Literatur der Jahrhundertwende' im Kontext der Philosophie Friedrich Nietzsches hat die Forschung dezidiert hingewiesen. 36 Für Nietzsche ist das .Werden' — metaphorisiert: das ,Im-AufbruchSein' — zum konstitutiven Synonym für JLeben' geworden, wobei ,Leben' als ,Werden' immer die Einheit von Entstehen und Vergehen' meint. Aus der Fülle der möglichen - oft widerspruchsvollen — Beispiele zeigt sich diese Spezifikation des Begriffs .Werden' in der dritten von „Fünf Vorreden zu fünf ungeschriebenen Büchern" („Der griechische Staat"), weil Nietzsche hier für eine frühe Kulturstufe und Staatsform das immanente Prinzip der Reproduktion von Sozietäten paradigmatisch definiert: „Was in dieser entsetzlichen Konstellation der Dinge leben will, das heißt leben muß, ist im Grunde seines Wesens Abbild des Urschmerzes und Urwiderspruches, muß also in unsrer Augen ,welt- und erdgemäß Organ' fallen als unersättliche Gier zum Dasein und ewiges Sichwidersprechen in der Form der Zeit, also als Werden. Jeder Augenblick frißt den vorhergehenden, jede Geburt ist der Tod unzähliger Wesen, Zeugen, Leben und Morden ist eins. Deshalb dürfen wir auch die herrliche Kultur mit einem bluttriefenden Sieger vergleichen, der bei seinem Triumphzuge die an seinen Wagen gefesselten Besiegten als Sklaven mitschleppt". 37 36 Vgl. hierzu besonders Gunter Martens, Vitalismus und Expressionismus. Ein Beitrag zur Genese und Deutung expressionistischer Stilstrukturen und Motive, Stuttgart 1971 (= Studien zur Poetik und Geschichte der Literatur, hg. von Hans Fromm u.a., Band 22), S. 3 4 - 5 5 . 37 Friedrich Nietzsche, Werke, hg. von Karl Schlechta, 6., durchgesehene Aufl. München 1969, Band III, S. 278f. Vgl. auch Gunter Martens, Vitalismus und Expressionismus: „Die Lebensbewegung, das Werden, schließt die ständige Überwindung und Vernichtung des eben Erreichten ein; das Zerstören ist ein notwendiger Akt innerhalb eines Weltprinzips, in dem ,Zeugen, Lieben [sie] und Morden eins ist'" (S.51). - Festzuhalten bleibt die Kritik Walter Benjamins am Historismus, wenn er auf Nietzsche anspielend ausführt: „Die jeweils Herrschenden sind aber die Erben aller, die je gesiegt haben. Die Einfühlung in den Sieger kommt demnach den jeweils Herrschenden allemal zugut. Damit ist dem historischen Materialisten genug gesagt. Wer immer bis

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U n d N i e t z s c h e radikalisiert das Bild v o m „bluttriefenden Sieger", w e n n er das »geistige Selbstverständnis' des A b e n d l a n d e s umkehrt u n d auf die schockierende F o r m e l bringt: „Fast alles, was wir .höhere Kultur' n e n n e n , beruht auf der Vergeistigung u n d Vertiefung der Grausamkeit":38

dies ist die (lebens)philosophische Implikation im

.Stirb u n d Werde'-Ideologem; ein I d e o l o g e m , in dem Grausamkeit u n d S c h ö n h e i t , Liebe u n d Tod, E n t s t e h e n u n d Vergehen zur Totalität einer Wirklichkeit ,ohne R e s t e ' — o h n e die H o f f n u n g auf das sich potenzierende H u m a n u m in der Welt — zur i m m a n e n t e n Einheit aller potentiellen E m p f i n d u n g e n verklärt werden k ö n n e n . 3 9 In diesem skizzierten zu diesem Tag den Sieg davontrug, der marschiert mit in dem Triumphzug. der die heute Herrschenden über die dahinführt, die heute am Boden liegen. Die Beute wird, wie das immer so üblich war, im Triumphzug mitgeführt. Man bezeichnet sie als die Kulturgüter. Sie werden im historischen Materialisten mit einem distanzierten Betrachter zu rechnen haben. Denn was er an Kulturgütern überblickt, das ist ihm samt und sonders von einer Abkunft, die er nicht ohne Grauen bedenken kann. Es dankt sein Dasein nicht nur der Mühe der großen Genien, die es geschaffen haben, sondern auch der namenlosen Fron ihrer Zeitgenossen. Es ist niemals ein Dokument der Kultur, ohne zugleich ein solches der Barbarei zu sein" (W.B., Über den Begriff der Geschichte, VII, in: W. B., Gesammelte Schriften, unter Mitwirkung von Theodor W. Adorno und Gershom Scholem hg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt am Main 1974, Erster Band. Zweiter Teil, S. 696. 38 Friedrich Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse, 229, in: Werke, Band II, S. 129; vgl. dazu auch Monika Funke, Ideologiekritik und ihre Ideologie bei Nietzsche, Stuttgart/Bad Cannstadt 1974 (= problemata frommann-holzboog 35), S. 78f. 39 Philosophiegeschichtlich wird in solcher Denkhaltung der Übergang von der „Kritik der reinen Vernunft" zur ,Kritik der reinen Erfahrung' deutlich, d.h. der Versuch, die prinzipielle Differenz zwischen Subjekt und Objekt - als Erkenntniskategorien - aufzuheben. So formuliert Julius Hart schon 1899, im Kern die Philosophie Ernst Machs zusammenfassend: „Wo faßt du das Ich, wo hälst du es auf in dem ewigen Strom seiner Verwandlungen, wo kannst du es eingrenzen und absperren? Wo steht eine Einheit vor dir, wo ist deren Schranke? Überall sind sie und nirgends, immer sind sie da und niemals. Ein Ich und eine Einheit ist das Molekül, - und das ganze All, das dich umgibt, ist Einheit und Ich ... Eine nie zerreißende Kette hält alle Dinge zusammen, aufgeschnürt sind sie an einem Faden, wie schimmernde Perlen" (J. H., Der neue Gott. Ein Ausblick auf das kommende Jahrhundert, Florenz und Leipzig 1899, S.236). Vgl. in diesem Kontext auch Ernst Mach, Die Analyse der Empfindungen und das Verhältnis des Psychischen zum Physischen, 2., vermehrte Aufl. der Beiträge zur Analyse der Empfindungen, Jena 1900, S. 11. - Zur Diskussion des gesamten Problemkomplexes vgl. Manfred 58

Horizont liegt auch der Schlüssel zu jener Aporie, die den ,Aufbruch' — als vitalistische Entäußerung — mit dem Tod, dem Ort der Vollendung und Geburt in der letzten noch möglichen Empfindung, widerspruchslos versöhnen kann; gerade wenn die Radikalität des vitalistischen Aufbruchs ins ganze Leben jenseits von Médiocrité, Bigotterie und bourgeoiser Saturiertheit, jenseits von Gut und Böse', aufrechterhalten werden soll. „Der Todestrieb ist nicht um seiner selbst willen destruktiv, sondern um der Behebung von Spannung willen", erläutert Herbert Marcuse zur Dialektik von Eros und Thanatos: „Der Abstieg zum Tode ist eine unbewußte Flucht vor Schmerz und Mangel. Er ist ein Ausdruck des ewigen Kampfes gegen Leiden und Unterdrückung." 40 Für das utopisch intendierte Aufbruchs-Motiv im ,Stirb und Werde'Ideologem können Marcuses Überlegungen zur Dialektik von „Triebstruktur und Gesellschaft" die individualpsychologische Komponente erfassen, die sich konkretisiert aus der gesellschaftlichen Entfremdung von den realen Bedürfnissen und die sich nach wie vor realisiert als gesellschaftliche Entfremdung von eben diesen Bedürfnissen. Die Ästhetisierung des individualpsychologischen Moments — das auf einer bestimmten Kulturstufe konvergiert mit sozialpsychologischen Prozessen — sublimiert den zugrundeliegenden ,Mangel' im isolierten Individuum und ideologisiert dessen vergesellschaftete Existenz in die Sehnsucht einer objektiv abstrakten Bedürfnisbefriedigung, jenseits der Front, wo die realen gesellschaftlichen Verhältnisse als das Sein des historischen Subjekts ihre Konstanz behaupten oder den Fortschritt oktroyiert bekommen.

c) Die scheinbare .Hinwendung zur Realität' Die Gedichte in den Lyrikbänden „Sommernächte" und „Pan. Sonnenopfer der Jugend" sind in ihrer objektiv affirmativen Tendenz — als Diersch, Empiriokritizismus und Impressionismus. Über die Beziehungen zwischen Philosophie, Ästhetik und Literatur um 1900 in Wien, 2. Aufl. Berlin 1977 (= Neue Beiträge zur Literaturwissenschaft, hg. von Werner Krauss und Walter Dietze, Band 36), S. 1 3 - 8 2 . 40 Herbert Marcuse, Triebstruktur und Gesellschaft, S. 34.

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der sich konkretisierenden Geschichte der Werke — und in ihrer subjektiv utopischen Intentionalität beschrieben worden. Wird nur die Textgrenze als Barriere gegen die Wirklichkeit verstanden und baut sich keine reflexive Schranke im simultanen Raum des Werkes gegen die herrschende Weltanschauung auf, so verbraucht sich die poetische Konstruktion als sublime Objektivation von ideologischen Substraten, die als falscher Schein von realen Bedürfnissen zur poetischen Idee falscher, weil illusionärer, idyllischer oder inhumaner Bedürfnisse werden. Die Flucht in die scheinbar hermetischen Räume einer illusionären heroischen Entgrenzung, der Aufbruch in die Funktionslosigkeit der Kunst haben ihren Preis: Der ästhetische Gehalt als die Frage nach der Wahrheit, die Kunst im Gegensatz zur Ideologie gegen die herrschenden Verhältnisse behaupten muß, erscheint für Schickeies ,Frühwerk' fragwürdig; genauer: aus der hermeneutischen Distanz, in der die Werkgeschichte aufgehoben ist, erscheinen die Texte trivial. Dagegen interpretiert Ernst Stadler schon 1912 — exemplarisch für den heutigen Forschungsstand — Schickeies Lyrikband „Weiß und Rot" (1911) als Aufbruch in die ,Realität', als Wiederbelebung einer unmittelbaren Funktion von Kunst im Zusammenhang ihrer möglichen Soziabilität und Kommunikabilität:41 Schickeies Gedichte sollen nun — so Stadler — über „die nur ästhetisch zu wertende Verdichtung von Stimmungen und Bildern" hinausgehen (genau wie Stadler mit seinem Gedichtband „Der Aufbruch" die sogenannte ,Präludien-Phase', 1904-1905, überwinden will): „Sie wollen über das Artistische hinaus ins Leben selber greifen: erobern, bekämpfen, beglücken. Sie sind voll aktiven Dranges. Sie wissen, daß nicht das Schwelgen in Stimmungen und Träumen das Leben ausmacht, sondern Arbeit, Kampf, Aktivität. Sie sind menschlich, weil sie sich von nichts Irdischem wählerisch ausschließen. Weil sie keine Trennung des Alltäglichen und des 41 Karl Ludwig Schneider hat in seiner Einleitung zu den „Dichtungen" Einst Stadlers darauf hingewiesen, daß „Stadler sich überhaupt als Kritiker mittelbar stets auch über den Dichter Stadler ausspricht" (Ernst Stadler, Dichtungen. Gedichte und Übertragungen mit einer Auswahl der kleinen kritischen Schriften und Briefe, eingeleitet, textkritisch durchgesehen und erläutert von Karl Ludwig Schneider, Hamburg o.J. [1954], Erster Band („Das Leben und die Dichtung Ernst Stadlers"), S. 68.

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Dichterischen anerkennen und nichts von dem zu unterschlagen haben, was die Seele in der Werktagsarbeit und in dçn nicht erhobenen Stunden bewegt. Weil sie aus den Wolken der Träume herabgestiegen sind in den Bezirk einer fest umgrenzten, tätig regsamen, heilig nüchternen Welt. Sie sehen die Einheit des Lebens und sie malen sie in der Buntheit ihrer Aspekte. Das Feuer der politischen Passion ist in ihnen: der Kampf für die Freiheit, der Aufruhr gegen die Knechtung des Geistes, der Haß gegen autoritäre Privilegien, das soziale Mitleiden." 42 Offen bleibt allerdings, ob Gunter Martens als Ergebnis konkreter Interpretationen mit gutem Grund feststellen kann, „Ernst Stadler" habe „diese bedeutsame Entwicklung seines Freundes, diese Wendung vom ästhetisierenden Frühwerk zur aktiven Auseinandersetzung mit der alltäglichen Realität aufmerksam verfolgt und (...) treffend beschrieben". 43 Irritierend wirkt im Zusammenhang dieser bruchlosen Adaptation eines zeitgenössischen Urteils, daß Schickele anscheinend die sich im verändernden historischen Kontext immer schärfer konturierenden Implikationen — trotz seines pazifistischen Engagements — nicht kritisch aufgearbeitet hat. Noch in der zweiten veränderten und vermehrten Auflage des Gedichtbandes „Weiß und Rot" (1920), also nach der konkreten Erfahrung von Weltkrieg und fast schon gescheiterter Novemberrevolution, findet sich der heiter beschauliche Text „Serenade bei der letzten Flasche", die reflektierte Quintessenz auf die emphatische Vorrede zum Gedichtband ,,Pan. Sonnenopfer der Jugend" von 1902: Gestorben seiend werd ich tot sein. Doch ratzetot, wie Atheisten meinen? O nein, nur tot, schön tot. Ich werde mich hindurchverwandeln durch das, was blüht, befreit mit jedem Ding anbandeln, das zieht, das zieht. Die Zugkraft wird entscheidend sein, ich bin befreit! 42 Ernst Stadler, René Schickele, in: E. S., Dichtungen, Zweiter Band („Kleine kritische Schriften, Rezensionen und Essays"), S. 99. 43 Gunter Martens, Vitalismus und Expressionismus, S. 136.

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Mich badet warm der Morgen schein der Ewigkeit. 4 4

Vor allem die Gedichte „Großstadtvolk" (W.u.R., S . 9 5 f . ) und „Der rote Stier träumt" (W.u.R., S. 9 9 - 1 0 1 ) sollen signifikanter als andere Texte aus diesem Gedichtband die neue ästhetische Qualität — ihre gesellschaftskritische Valenz — offenlegen. Wenn hypothetisch davon ausgegangen werden kann, daß in diesen beiden Texten relevante Paradigmen der .Wendung zur Realität' vorliegen, dann muß der Dialog mit der Forschungsliteratur auch im Horizont der bereits vorliegenden Ergebnisse aufgenommen werden, wenn nicht die Kommunikation innerhalb der Wissenschaftsdisziplinen als entscheidendes Movens des Forschungsprogresses vernachlässigt werden soll. Schickeies Gedicht „Großstadtvolk" ist die Antwort auf Dehmels „Predigt ans Großstadtvolk": 45 deshalb setzt Schickele Teile (!) dieses Gedichtes seinem Text als Motto voran. Die Kompositionsstruktur des Gesamttextes konkretisiert die Momentaufnahme eines Dialogs, rhetorisch stilisiert als ,Rede' und .Gegenrede' in der Zusammen- und Entgegenstellung von zwei textuellen Subsystemen. Groß stadtvolk Ja, die Großstadt macht klein .. 4 6 „O laßt Euch rühren, ihr Tausende ... Geht doch hinaus und seht die Bäume wachsen: sie wurzeln fest und lassen sich züchten, und jeder bäumt sich anders zum Licht. Ihr freilich, ihr habt Füße und Fäuste, Euch braucht kein Forstmann erst Raum zu schaffen Ihr steht und schafft Euch Zuchthausmauern so geht doch, schafft euch Land! Land! rührt Euch! vorwärts, rückt aus! Richard Dehmel, Predigt ans Großstadtvolk. 44 René Schickele, Weiß und Rot. Gedichte, 2., veränderte und vermehrte Aufl. Berlin 1920, S.86 - zitiert im folgenden als W.u.R.; die erste Auflage erschien Leipzig 1911. 45 Richard Dehmel, Gesammelte Werke in drei Bänden, Berlin 1913, Erster Band, S. 160; vgl. das Gedicht ,,Είη Freiheitslied": ,,Es ist nun einmal so, / seit wir geboren sind: / die Blumen blühen wild und bunt, / wir aber mauern Wände / gegen den Wind. // Es wird wohl einmal sein, / wenn wir gestorben sind: / dann blühen die Blumen noch immer so, / und über unsre Mauern lacht der Wind" (S.160f.). 46 Schickele markiert in dieser und in der nächsten Zeile zwei Textauslassungen durch drei Punkte.

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Nein, hier sollt ihr bleiben! In diesen gedrückten Maien, in glanzlosen Oktobern. Hier sollt ihr bleiben, weil es die Stadt ist, wo die begehrenswerten Feste gefeiert werden der Macht und die blaß machenden Edikte erlassen werden der Macht, die wie Maschinen - ob wir wollen, oder nicht - uns treiben. Weil von hier die bewaffneten Züge hinausgeworfen werden auf mordglänzenden Schienen, die alle Tage wieder das Land erobern. Weil hier die Quelle des Willens ist, aufschäumend in Wogen, die Millionen Nacken drücken, Quelle, die im Takte der Millionen Rücken, im Hin und Her der Millionen Glieder bis an die fernsten Küsten brandet Hier sollt ihr bleiben! In diesen bedrückten Maien, in glanzlosen Oktobern. Niemand soll Euch vertreiben! Ihr werdet mit der Stadt die Erde Euch erobern. (W.U.R., S.95f.)

Im Basisideologem der frühexpressionistischen ,Aufbruchs'-Thematik mußte die ,Stirb und Werde'-Metaphorik eine Totalität aller potentiellen Erfahrungsmöglichkeiten ins Bild setzen, welche unter explizitem Ausschluß des sozialen Umfeldes in den scheinbar extremsten Grenzbereich menschlicher Existenz die verlorene Identität des Subjekts mit seinen verdinglichten Tagträumen — qua Poesie — herstellen sollte: im heroischen Augenblick des zum Rausch stilisierten Opfers, in der Konvergenz von Lust und Tod, sakraler Feier und mörderischem Kampf. Totalität wird hier als individueller Erlebnishorizont definiert; und mit dieser Definition ist ein entscheidendes Axiom der Lyrik der Jahrhundertwende benannt. In dem Augenblick, wo aber im Prozeß der extrem schnell voranschreitenden Vergesellschaftung des sich selbst noch isoliert begreifenden Subjekts dessen Realisationsbedingungen von Erfahrungen rigoros eingeschränkt werden, muß der Anspruch, die ganze Wirklichkeit total erfassen zu wollen, neu überdacht werden — gerade im sozialen Umfeld der Großstadt, deren bewußte Aufnahme als ein qualitatives Novum in intellektuellen Kreisen um sich greift. Die Großstadt verkörpert jenen Raum, wo die voluntaristisch funktionierende Identifikation mit der kosmischen ,All-Einheit', im .Stirb und Werde'-Ideologem die Vollendung der Totalität aller möglichen 63

Erfahrung, nicht mehr gelingt oder aber in offene Trivialität abgleitet. Soll die Utopie der ,Einheit des Lebens' aber unter den modifizierten Bedingungen aufrechterhalten werden, dann muß die individuelle Entgrenzung — als Zweck des vitalen, dynamischen Aufbruchs — in eine räumliche transformiert werden. Dort, wo die ,,klassifikatorische Grenze" der individuellen Möglichkeiten aufscheint, im existentiellen Rahmen der ,Tod', im sozialen Kontext die bewußte oder unbewußte— jedoch objektiv wirksame — Klassenschranke, dort wird das Ziel des Aufbruchs kodiert: so lange, wie die utopische Intention die umgreifende Realisation aller aufscheinenden und ins Bewußtsein rückenden Phänomene der Wirklichkeit autistisch und egotistisch auskosten will. Auf dem Hintergrund des sich tiefgreifend verändernden Produktionsund Sozialgefuges im wilhelminischen Deutschland 47 geraten auch die zunächst ,sozial' zu definierenden Räume, Quellen neuer, bizarrer und bisher verschlossener Erlebnisse, in die ,Umarmung' der Lebensphilosophie. In dem Moment, wo die moderne Großstadt als Paradigma, eines unter vielen (!), vitalistischen Lebensraumes entdeckt wird, können die nun begrenzten und schabionisierten Muster, die tradierten Versatzstücke zur Suggestion einer Totalität aller menschlichen Potenzen aus der Lyrik der Jahrhundertwende nicht mehr allein das Modell für die .Einheit des Lebens' konturieren: der Sprung über die gesellschaftliche Entfremdung durch den vitalistischen Aufbruch in die individualistisch hypostasierte ,Einheit des Lebens' — Schönheit und Grausamkeit — wird schwerer. Die Rekurrenz auf den sozialen Raum produziert eine neue Qualität von (latent antagonistischen) Widersprüchen, die nicht mehr ,ohne Rest' in das zugrundeliegende Basisideologem integriert werden können. Weil im sich verändernden historischen und sozioökonomischen, auch sozialpsychologischen Kontext die Kluft zwischen individuellem Tagtraum und potentieller kollektiver Verwertung immer größer wird, muß die utopische Intention ihren Verwirklichungsraum innovativ

47 Vgl. Friedrich Lütge, Deutsche Sozial- und Wirtschaftsgeschichte. Ein Überblick, 3. Aufl. Berlin/Heidelberg/New York 1966, S. 510. Vgl. auch Wolfgang Abendroth, Sozialgeschichte der europäischen Arbeiterbewegung, 5. Aufl. Frankfurt am Main 1969 (= edition suhrkamp 106), S. 68f.

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definieren: 48 weil eine Utopie, die von der Totalität aller Erfahrungsmöglichkeiten als Realisierung einer optimalen Bedürfnisbefriedigung im ,hic et nunc' ausgeht und nicht die Zielprojektion zu einer regulativen Idee gegen die herrschenden Verhältnisse ästhetisch modelliert, um in deren Negation nicht der Produktion und affirmativen Verwertung von Illusionen ausgeliefert zu werden, sich nur im latent geschichtslosen ,Raum' konkretisieren kann, nicht aber die Geschichte als Raum ihrer Realisation kennt. Schickele ersetzt den heroischen Augenblick der Schlacht durch einen vitalen Raum, der in seiner Eigendynamik die zuvor nur abstrakt individuelle Illusion des sich voluntaristisch entgrenzenden Subjekts als verdinglichte Macht hypostatisiert. „Die Großstadt wird (...) als zentraler Bereich vitaler Entfaltung des Menschen bejaht," 49 aber nicht, weil hier die „Auseinandersetzung mit der unausweichlichen Entwicklung der modernen Welt, mit ihrer Bedrohung" stattfindet, 50 sondern weil der ,Stadt'-Topos in seiner archisematischen Ausdifferenzierung alle diejenigen Qualitäten zur Erscheinung bringen kann, die zuvor in der Schablone, dem tradierten Muster der ,Stirb und Werde'Figur, zwar immer wieder reproduziert, jedoch mit dem sanktionierten Metaphernarsenal nur bedingt variiert werden konnten. Bedeutet aber der Wechsel der Requisiten in der ,Wendung' von der .Weltflucht' zur ,Realität' (?!) schon eo ipso, daß die relative Autonomie des Werkes die Intention des Autors auch objektiv konkretisiert? Daß nur ein Wechsel der Requisiten vorliegt, zeigen Texte wie „Potsdam" (W.U.R., S.83) und „Der Potsdamer Platz" (W.u.R., S.60) innerhalb des „Berlin"-Zyklus. Sie können nur über ihre Titel in den Kanon der sogenannten ,Großstadt'-Lyrik integriert werden und gehören von ihren poetischen Verfahren her zum konventionellen Standard-Repertoire der Lyrik der Jahrhundertwende: Der Potsdamer Platz Ich geh eine ganz vergoldete Straße entlang. Der Himmel zerfließt im Sonnenuntergang. 48 Vgl. Heinz Rölleke, Die Stadt bei Stadler, Heym und Trakl, Berlin 1966 (= Philosophische Studien und Quellen, hg. von Wolfgang Binder u.a., Heft 34), S. 7 - 4 9 . 49 Gunter Martens, Vitalismus und Expressionismus, S. 136. 50 Ebd.

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Da kommen Frauen, märchenschön, und bleiben vor glitzernden Läden stehn. In Blüten schwimmt der Potsdamer Platz, Er träumt vom Mond, dem Götterschatz.

Der ,Stadt'-Topos wird durch Umplakatieren in die Paradigmen-Klasse praeindustrieller Bildklischees aufgenommen. Die semantische Inkompatibilität zwischen Titel und folgendem Text verdeutlicht die bloße quantitative Erweiterung im Prozeß der literarischen Evolution. Und zwar wird der Titel nicht funktionalisiert für ein innovatives poetisches Modell, sondern ein konventionelles Modell soll über einen Innovation signalisierenden Titel modernisiert werden, ankoppelbar an einen veränderten historischen Kontext. Da der Titel fakultativ für ein Klischee gesetzt wird — über dem folgenden Text könnte auch ,Der Abend' stehen —, ist die Semantik primär auf den Anspielungshorizont der Jahrhundertwende rückkoppelbar und so auch epigonal: Potsdam Der Abend ist wie eine vierzigjährige Frau in goldgesticktem, rotem Kleid, blond, üppig, lau, sie geht in einem großen, leeren Park am Weiher: an den Hüften zwei brennende Tauben, ihr Schleier, ein brennender Schwan die Federn auf ihrem Hut, sie selber geht brennend in ihrem Blut.

Wie in den beiden eben zitierten Beispielen wird gerade im Gedicht „Großstadtvolk" die Stadt nicht wahrgenommen als sozialer Raum, in ihrer Soziabilität für den Menschen: sie wird als Naturphänomen rezipiert, aber nur in ihrer Wirkung. Der Topos selber verklärt sich zu einer undurchschaubaren anonymen Macht, einer Kraft, die noch im Gedichtband „Pan. Sonnenopfer der Jugend" von dem heroischen Charakter oder aber von der zur Einzelpersönlichkeit zusammenschmelzenden amorphen — entfesselten — Masse repräsentiert wurde. Die dem .Stirb und Werde'-Ideologem zugrundeliegende archisematische Basiskomponente erfaßt vor allem die Aspekte des .heroischen Aufbruchs', des .erfüllten Augenblicks' und des .Nirwanaprinzips';51 51 „Wenn außerdem der ,Regressionszwang' in allen organischen Lebensäußerungen nach völliger Ruhe strebt, wenn der Grund des Lustprinzips das Nirwanaprinzip ist, dann erscheint die Notwendigkeit des Todes in einem völlig neuen Licht" (Herbert Marcuse, Triebstruktur und Gesellschaft, S. 34).

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Momente, die als Attribute der ,Stadt' in deren Physiognomie signifikant werden: „Hier sollt ihr bleiben, weil es die Stadt ist, / wo die begehrenswerten Feste gefeiert werden der Macht" (W.u.R., S. 95). Die Sequenz enthält eine deutliche Allusion auf die Schlachtfeldmetaphorik und keineswegs eine konnotative Sensibilität für eine sublim politische Metaphorik. Nicht die Organe der Macht finden ihre Abgrenzung gegen jene, die Schickele evokativ und emphatisch auffordert, ,intra muros' zu verbleiben: gegen die Abhängigen der Macht. Wer feiert diese „begehrenswerten Feste der Macht"? Der Fest-Topos und der Topos der Macht konstituieren eine synonymische Äquivalenz. Wo aber die Herrschaft noch Macht zelebrieren kann, ohne daß nach den Kosten gefragt wird, dort existiert eine Form der akzeptierten Unterdrückung: „Hier sollt ihr bleiben, weil es die Stadt ist, / wo (...) die blaß machenden Edikte erlassen werden / der Macht, die wie Maschinen / - ob wir wollen, oder nicht - uns treiben." (W.u.R., S.95) Es konkretisiert sich in diesen Bildern nicht einfach ein Transformationsprozeß des ,Vitalismus-Syndroms' in einen nicht mehr natürlich-organisch, sondern technisch-produktiv sich reproduzierenden Raum. In der Antwort auf Dehmels emphatische Evokation („vorwärts, rückt aus! —") versucht Schickele zwar das beschriebene Basisideologem in einem neuen Büd als Attribut der Stadt zu integrieren: „Hier sollt ihr bleiben (...) / Weil von hier die bewaffneten Züge hinausgeworfen werden / auf mordglänzenden Schienen, / die alle Tage wieder / das Land erobern." (W.u.R., S.95) Jedoch wird auf der archisematischen Ebene dieser Sequenz bloß jene poetische Idee konstitutiv, die schon im „Christus"-Zyklus („Die rote Nacht") Organon der Kampf- und Schlacht-Metaphorik war: „Dann brechen flüssigeherne Fluten los, / die Tausend stürmen, / schwarz und schwer in ihrer Last, / die ersten Feuermale / flecken auf den blassen Stirnen, / die erste Kugel saust" (P., S. 45). Die qualitative Differenz zwischen „Weltflucht" und „Wendung zur Realität" wird nicht durch die Destruktion des tradierten Metaphernarsenals und durch dessen Substitution im Komplex der Technik realisiert (wobei die utopische Intentionalität, alle erreichbaren Paradigmen menschlicher Entfaltung, enervierendster Spannung, zu mobilisieren, innovativ transformiert wird). Die mögliche ästhetische Qualität jenseits einer affirmativen Verwertung innerhalb der wilhelminischen Gesellschaft liegt nicht in 67

der Abbildung und Aufnahme des bewußtwerdenden technisch-ökonomischen Fortschritts; denn — und dies gilt allemal für den Realitätsgehalt der Kunst als deren gesellschaftliche Verantwortung: „Im unfreien Zustand aber ist Kunst des Bildes der Freiheit mächtig nur in der Negation der Unfreiheit." 52 Aber neben der Transformation substantieller Aspekte des Basisideologems innerhalb der literarischen Evolution durch die Destruktion spezifischer poetischer Verfahren, die nur noch als Schablonen für Epigonales rezipiert werden können, entsteht auch in der Kontur der neuen, objektiv sozial definierten Räume eine bestimmte Eigendynamik der poetischen Idee, welche die Bilder in ihrer simultanen Referenz strukturiert. In der ausgreifenden Verwertung und innovativen Verortung von ,Lebens'-Metaphern ist um 1910 in der Lyrik die ,Technik' zum neuen Paradigma in den klassifikatorisch-semantischen Grenzen praeindustrieller Bildklischees geworden, und dies auf dem Hintergrund eines Prozesses der Fetischisierung von Technik und Großstadt. In die Äquivalenzreihen der Natur-Topoi (Feld, Wald, Land, Meer ...) werden ,Großstadt' und .Technik' gleichberechtigt eingereiht. Der .rauschenden Natur' korrespondiert nun die tauschende Maschine', dem Schlachtfeld als Schauplatz des Krieges die .Technik' und »Arbeit' als Kampf des Menschen mit der Natur. Ein neuer paradigmatischer Metaphernbereich erschließt sich (zum Beispiel die Großstadt als tauschende Naturkraft'), allerdings in der quantitativen Erweiterung des praeindustriellen Bildbereichs. Stadt und Land stehen nicht mehr unversöhnlich einander gegenüber, sondern der praeindustrielle Raum — das Land — wird durch die Großstadt, als vitalistische LebensMetapher, ergänzt, komplettiert. Die Integration der Stadt wird zur quantitativen Ausweitung des praeindustriellen Raumes. Die .Edikte der Macht', die „wie Maschinen — ob wir wollen, oder nicht — uns treiben", signalisieren die Dialektik des neuen, subjektiv vitalistisch, objektiv sozial erscheinenden Raumes. Die Großstadt als gesellschaftliche Architektur einer urbanisierten Landschaft kann nicht mehr als homogener Raum rezipiert werden, welcher der Wirklichkeit als hermetische Kunst-Landschaft polar entgegengesetzt ist. Zwar wird 5 2 Theodor W. Adorno, Die gegängelte Musik, in: Th.W. Adorno, Gesammelte Schriften Band 14: Dissonanzen. Einleitung in die Musiksoziologie, hg. von Rolf Tiedemann, Frankfurt am Main 1973, S. 5 1 - 6 6 ; Zitat S. 64.

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im Aufbruch aus den heroischen ,Gefilden' nicht die Realität erreicht, aber in den montierten Verweisen und ,Fragmenten' aus dem semantischen Affinitätsfeld gesellschaftlicher Konnotationen kann die Irritation sich befreien, die auf den Grad der kumulierenden Entfremdung und Verdinglichung des vergesellschafteten Individuums mit schärferem Akzent reagiert. In diesem Zusammenhang versucht Schickele auch eine erste — exemplarisch beobachtet — kritische Rezeption und Korrektur der im ,Frühwerk' bruchlos positiv semantisierten Jahreszeitenmotive und der Lichtsymbolik:53 „In diesen gedrückten Maien, in glanzlosen Oktobern." (W.u.R., S. 95) Aber die Schlußsequenz erinnert noch einmal an die Grenzen, welche der innovativen Spanne in der Destruktion des Aufbruchs-Themas gegeben sind, es zeigt die Negativfolie, welche die ideologischen Implikationen deutlicher werden läßt: „hier sollt ihr bleiben, (...) / Weil hier die Quelle des Willens ist, aufschäumend in Wogen, die Millionen Nacken drücken, / Quelle, die im Takte der Millionen Rücken, / im Hin und Her der Millionen Glieder / bis an die fernsten Küsten brandet" (W.u.R., S.95f.). Die naturmetaphorisch kodierte Instanz, welche nun die Totalität des ganzen Lebens, nicht Stadt, nicht Land, sondern ,Stadt und Land' als homogenen Raum aller Erfahrungsinhalte behaupten soll, konkretisiert sich als voluntaristisch versubjektivierte Macht, die anstelle einer realen Perspektive für die Funktion von Kunst wirkliche Ohnmacht in ihre polare Entgegensetzung, in scheinbaren ,Willen zur Macht' hypostasiert. Im poetischen Verfahren der Synekdoche wird die Stadt zur Quelle, die sich über .Menschen-Woge«' „bis an die fernsten Küsten" ihren Weg bahnt. Nicht Stadt oder Land als jeweilige, durch klassifikatorische Grenzen getrennte Räume werden zur Selbstverwirklichung zugelassen, sondern die Konvergenz der Räume im Aufbruchs-Motiv realisiert die analoge Totalität aller Bereiche menschlicher Erfahrung zur entgrenzenden Metaphorik im ,Stirb und Werde'-Basisideologem: „Ihr werdet mit der Stadt die Erde Euch erobern" (W.u.R., S. 96). Zu beobachten sind paradigmatische Erweiterungen in der ausgreifenden Suche nach neuen Lebens-Bildern; die archisematische Struktur der Äquivalenzklasse (die Gesamtheit der 53 Vgl. zum Beispiel im Gedichtband „Pan. Sonnenopfer der Jugend" den „Julian"-Zyklus (S. 3 7 - 3 9 ) .

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möglichen Paradigmen zur Konkretion des ,Vitalismus-Syndroms') hat sich jedoch nicht geändert. Nur weil neue paradigmatische Erweiterungen in der Äquivalenzklasse vorgenommen werden, vollzieht sich noch kein qualitativer Sprung in der literarischen Evolution. Während die vitalistische LebensUtopie noch in der Lyrik der Jahrhundertwende ausschließlich naturmetaphorisch kodiert ist, wird sie nun, quantitativ ergänzt, durch sozial konnotierte Bereiche erweitert. — Die Kontamination von ,Stadt und Land' zu einem homogenen Raum ist nicht nur für Schickele festzuhalten. Eine ähnliche Ausweitung der Paradigmen - in den Grenzen der tradierten Äquivalenzklasse — versucht auch Stadler in seinem Gedichtband „Der Aufbruch": „Manchmal bläst ein Wind die Gaslaternen auf. Dann zuckt / Über die untern Fensterreihen eine Welle dünnen Lichts und schießt zurück. Im Schreiten / Springen die Häuser aus dem Schatten vor wie Rümpfe wilder Schiffe auf entferntem Meer und gleiten / Wieder in Nacht. (...) / Ich schreite wie durch Gärten. Bin auf einem großen Platz" („Gang in der Nacht", D.A., S.41). „Gaslaternen", „Fensterreihen", „ H ä u s e r " , „Platz" werden nahtlos in den konventionellen Metaphernapparat aus der Lyrik der Jahrhundertwende integriert („Welle", „Licht", „Schiffe auf entferntem Meer", „Ich schreite wie durch Gärten"). Noch deutlicher wird die Ausweitung der Paradigmen in der vorgegebenen Schablone, wenn Stadler - wie im Text „Bahnhöfe" (D.A., S. 53) — den Bereich der ,Technik im Raum der Großstadt' auf die archisematische Folie der naturmetaphorisch kodierten Bilder für ein ,rauschhaftes, entgrenztes Leben' kopiert: „Und der wilde Atem der Maschine, die wie ein Tier auf der Flucht stille steht und um sich schaut, / Und es ist, als ob sich das Schicksal vieler hundert Menschen in ihr erzitterndes Bett ergossen hätte, / Und die Luft ist kriegerisch erfüllt von den Balladen südlicher Meere und grüner Küsten und der großen Städte. / Und dann zieht das Wunder weiter." An die toposartige signifikante ,Reihe' für Abenteuer, Ferne, Leben, Freiheit — aufgehoben in den „Balladen südlicher Meere und grüner Küsten" werden die „großen Städte" differenzlos angekoppelt. Das Abenteuer braucht nicht mehr als Raum die Ferne, die Stadt selbst kann nun die Funktion der exotischen Ingredienz wahrnehmen. In der Graduation von ,Land' (bei Dehrnel) zu ,Erde' bei Schickele 70

unter bewußtem Einbezug der Stadt, ja in der Auflösung des Gegensatzes in der Vorstellung der alles umfassenden ,Erde', die als Objekt der Eroberung mit neuen .Waffen' gesetzt wird, kann in dieser poetischen Struktur noch einmal der Anspruch der .Lebensphilosophie' formuliert werden — allerdings nicht mehr in der intratextuellen Realisation, sondern als Hoffnungspotential, als sichere Gewißheit einer unentfremdeten Zukunft. Inwieweit sich für Schickeies Text „Großstadtvolk" aber die Lesart eines unmittelbaren Realitätsbezuges oder einer eindeutigen politisch-sozialen Konnotation verbietet, zeigt eine Beobachtung am Rande, welche die intentionale Valenz des Textes in seiner Abgrenzung zu Dehmels Invokation an das ,Großstadtvolk' präzisiert und somit die utopische Implikation und das ideologische Substrat eindeutiger offen legt. Schickele zitiert aus Dehmels „Predigt ans Großstadtvolk" als Motto - oder Rede — zu seiner Gegenrede nur bestimmte Passagen, wobei die ausgewählten in der Realisation einer paradigmatischen Achse die (bewußt oder unbewußt) fortgelassenen in der semantisch gleichwertigen Minus-Realisation zum bedeutungsdifferenzierenden Äquivalent haben. Die erste Auslassung nach: „Ja, die Großstadt ist klein" variiert nur diesen Vers in einem Bild. Die zweite Auslassung hätte den von Martens interpretierten ,Realitätsbezug', wenn er als Referenz textuell in Schickeies Gegen-,Utopie' eingegangen wäre, kritisch fundieren können. Schickele zitiert noch: „O laßt Euch rühren, Ihr Tausende ..." und fährt fort mit dem Vers „Geht doch hinaus und seht die Bäume wachsen". Dazwischen stehen bei Dehmel die Verse: Einst sah ich euch in sternklarer Winternacht zwischen den trüben Reihen der Gaslaternen wie einen ungeheuren Heerwurm den Ausweg aus eurer Drangsal suchen; dann aber krocht ihr in einen bezahlten Saal und hörtet Worte durch Rauch und Bierdunst schallen von Freiheit, Gleichheit und dergleichen. 54

Wo Dehmel in Kontrafaktur zu dieser Alternative — die Stadt als sozialer Raum, wo die kritische politische Organisation der unterdrückten Klasse Formen ihrer Artikulation und Agitation erproben 54 Richard Dehmel, Gesammelte Werke in drei Bänden, Erster Band, S. 160.

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kann - die sozial-romantische, illusionäre, weil unerreichbare Idylle predigt, nimmt Schickele den Topos der Stadt in der Negation zur ländlichen ,Friedhofsruhe' auf und ,überfuhrt' Dehmel in der hyperbolischen Diaphora von .Land' zu ,Erde' (als Ziel des Aufbruchs) der Provinzialität. Anstatt einer ,Wen dung zur Realität' konkretisiert die Schlußsequenz die vermittelte Zitation der totalisierenden Monumentalität als Chiffre für die Einheit aller ,Räume', in denen der Mensch agiert, in denen er alle Erfahrungen auskosten kann. Grausamkeit und Schönheit, Liebe und Tod waren die konvergenten Surrogate im enthusiastischen Aufschwung um 1902; die .Stadt' und die ,Erde', Unterdrückung und Befreiung markieren die Entwicklung im Versuch, eine Totalität des Lebens als Raum von Erfüllung und Vollendung zu verteidigen. Der Text ist in seiner latenten Rückkoppelbarkeit auf die zugrundeliegende Folie tendenziell epigonal: er zeigt aber auch den Grad der Destruktion des .Stirb und Werde'-Ideologems in der Literarisierung innovativer Paradigmen, die in ihrer gesellschaftlich objektiven Dimension Widersprüche transportieren, welche nicht mehr aus ihrer Bildlichkeit eskamotiert werden können. In den Gedichtzyklen J u l i a n " (P., S. 3 7 - 3 9 ) , „Christus" (P., S. 4 0 - 6 0 ) und „Kain und Abel" (P., S. 5 2 - 5 7 ) wird das heroische' Abstraktum .Mensch' zum Eroberer dessen, was potentiell an Sinnlichkeit, Reizen, noch nicht gesättigter Lebensgier - und seien es die bizarresten Träume — gedacht werden kann. Die Großstadt als bewußte Wahrnehmung eines radikal veränderten Wahrnehmungshorizontes und Erfahrungspotentials produziert auf dem Hintergrund der Identifikation von persönlichem Erlebnis und poetischer Reflexion, objektiviert in der ästhetischen Struktur, den ,Chock'. Walter Benjamin spricht im Zusammenhang der Geschichtlichkeit von Baudelaires Lyrik — „Ein Lyriker im Zeitalter des Hochkapitalismus" 5 5 - über dessen „Emanzipation von Erlebnissen", 56 wobei die Großstadt jenen Erlebnisraum konturiert, der eine neue Qualität von 55 Walter Benjamin, Charles Baudelaire. Ein Lyriker im Zeitalter des Hochkapitalismus, in: W. B., Gesammelte Schriften, Erster Band. Zweiter Teil, S. 5 0 9 653. Vgl. auch Silvio Vietta, Großstadtwahrnehmung und ihre literarische Darstellung, in: DVjs, 48. Jg. (1974), S. 3 5 4 - 3 7 3 ; besonders S. 363f. 56 Walter Benjamin, Charles Baudelaire, S.615.

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ästhetischer Wahrnehmung — in Abgrenzung zur romantischen Schule - erzwingt. „Die Frage meldet sich an", so Benjamin, „wie lyrische Dichtung in einer Erfahrung fundiert sein könnte, der das Chockerlebnis zur Norm geworden ist. (...) Je größer der Anteil des Chockmoments an den einzelnen Eindrücken ist, je unablässiger das Bewußtsein im Interesse des Reizschutzes auf dem Plan sein muß, je größer der Erfolg ist, mit dem es operiert, desto weniger gehen sie in die Erfahrung ein; desto eher erfüllen sie den Begriff des Erlebnisses." 57 Erfahrung contra Erlebnis: Schickeies Abkehr von der personalisierten Macht, dem fiktiven Ort heroischen Daseins und großen Lebens' und seine ,Wendung' zum .machtvollen Raum', der Großstadt, restituiert das Erlebnis gegen das Bewußtsein erfahrener Entfremdung. Der ,Stadt'-Topos konvergiert mit dem ,Eroberungs'-Topos: die voluntaristische Kontrafaktur gegen die sinnenfeindliche Moral der Unterwerfung in Schuld und Reue wird, den expansiven Produktionskapazitäten analog, gigantischer dimensioniert. Sicherlich, so betrachtet dokumentiert dieser Text auch eine ,Wendung zur Realität', aber nicht deren kritische Erfahrung in ästhetischer Objektivation. Denn, so ist die Frage zuzuspitzen, warum sollen die, welche in „gedrückten Maien" und „glanzlosen Oktobern" leben, nicht aufs Land, nicht in die selbstgenügsame neoromantische Idylle? Weil sie mit der Stadt das Land erobern sollen. In dem Moment, wo die Vergesellschaftung aller Lebensräume eine Dimension angenommen hat, welche die Flucht zu den .seligen Inseln' oder in den heroischen Tagtraum eo ipso zur epigonalen Idylle verkommen läßt, müssen die ,Wut', die ,Gier' und die ,Kraft' — Attribute des,wütenden Genießens' — in eine instrumentelle Gewalt, in eine technische Verfügbarkeit transformiert werden. So konkretisiert der Text präzise und sublim zugleich den Willen zur Unterwerfung als Impetus der Erlebnissehnsucht oder: die Ästhetisierung der .extensiven Ausbeutung' in der Chiffre vom ,Aufbruch'. Die immanente Logik der warenproduzierenden Gesellschaft wird nicht im ,Chock' über die ihr wesensmäßige Reproduktionsstätte zur negativen Erfahrung in einem kritischen poetischen Modell, sondern das ökonomische Selbstverständnis dieser Produktionsform wird in 57 Walter Benjamin, Charles Baudelaire, S. 614.

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ihrer ideologischen Form widergespiegelt. In der Abbildung der dynamischen Potenzen wird — wiederum - das Erlebnis zum Inhalt der Erfahrung, die Erfahrung kann noch nicht das Erlebnis in seinem generellen Illusionscharakter destruieren. Analog der Funktion des ,Stadt'-Topos im Text „Großstadtvolk" und im Kontext der literarischen Evolution reprojizierbar auf die exzeptionelle Situation höchster Spannung zwischen Leben und Tod, wie sie im „Christus"-Zyklus(P., S.40—60) zur Momentaufnahme des entgrenzenden Aufbruchs wurde, konkretisiert Schickele im Text „Der rote Stier träumt" (W.u.R., S. 99-101) wiederum die Szenerie eines mit äußerster Spannung aufgeladenen Augenblicks — der Agitator auf der Tribüne, davor die Masse —, wobei zum Paradigma einer zwar perspektivlosen, jedoch vitalistisch entgrenzten Sehnsucht nach Erfüllung und Vollendung nun eine apokryph politische Chiffrierung gewählt wird. Schon die Attribute der Masse („apokalyptisch Tier", „mit tausend Herzen glühend", „zum Flug bereit") verweisen auf das Aufbruchs-Motiv. Aber die Physiognomie der potentiellen Subjekte des Aufbruchs zeigt den Deformationsprozeß, in dem die Heroen „Christus" (P., S. 44), „Julian" (P., S. 37-39) und „Kain und Abel" (P., S. 52—57) ihre natur-magische Kraft als Protagonisten gegenüber den im industriellen Produktions- und Verwertungsprozeß entfremdeten und verdinglichten gesellschaftlichen Verhältnissen verlieren. Ihre Stelle nehmen „brennende, todblasse und zerfreßne Mannsgesichter / und, in ihrem wilden Haar, halbirre Frauenköpfe" (W.u.R., S. 99) ein. Der heroische Aufbruch des ,großen Menschen' in Tod und Verklärung gelingt in der konkreter werdenden Krise der Gesellschaft nicht mehr. Das Schlußbild des Textes symbolisiert die Perspektivlosigkeit der ,Lebensutopie', wenn sie in den gesellschaftlichen Raum transponiert werden soll: Dreitausend Menschen standen dichtgedrängt. Die Stimme in der Ferne brach. Dreitausend Menschen schrien und weinten. (W.u.R., S . 1 0 1 )

Wo der Aufbruch in die Idylle als Sublimierung der realen Entfremdung des historischen Subjekts von seinen konkreten Bedürfnissen nicht stattfinden kann, weil die behauptete Identität von Kunst und Leben nur programmatisch die Differenz von Utopie und Wirklichkeit 74

zu nivellieren vermag, verbleibt als Ausweg, das Programm zur utopischen Intention, zur Zielprojektion zu verklären. Auf der Suche nach neuen Paradigmen, an welche die jenseits der Veränderung gesellschaftlicher Verhältnisse konturierte Lebensutopie angeschlossen werden kann: voluntaristisch und vitalistisch zu einem individuellen Akt verklärt, wird auch die politische Chiffre kommensurabel, wenn einmal der gesellschaftliche Raum als poetisches Bild (vgl. „Großstadtvolk") semantisiert worden ist. „Die gesellschaftlich-politische Situation in Deutschland hatte seit 1870/71 zum Aufbau einer Fassadenrealität gefuhrt, deren Scheinhaftigkeit von Expressionisten zwar in ihrer Faktizität, im allgemeinen aber nicht in ihrer Essentialität erkannt worden ist." 5 8 Schickele irritiert die Scheinhaftigkeit über den „verdeckten Basisrealitäten"59 zunächst in der Aufnahme politischer Topoi, welche die Rede von der Tribüne durchsetzen: „Recht des Stärkern, der die Arbeit in der Welt verrichtet"; „Mir gehört mein Werk" (W.U.R., S.99); „Verflucht sei, wer herrschen will"; „Die Sklaven befreien sich" (W.u.R., S. 101). Aber die Funktionalisierung der apokryph politischen Metaphorik im Textzusammenhang verdeutlicht ihre formale Qualität, die vitalistische Sehnsucht nach entgrenzendem Leben nun, da das mythologische Potential seme Funktionslosigkeit offenbart hat, auch politisch-sozial zu fundieren: „Mir gehört mein Werk. / Kein Mitleid und kein Herzerweichen. / Es lebe der Krieg! / Blut muß Gott geopfert sein: unserem Geist / und dem unsrer Kinder. Alle Menschen verbluten / täglich, langsam, in den Freuden, in den Schmerzen, / Arbeit ist Krieg! Wir werden unsre Signale haben, / die langen Märsche, die Zusammenstöße, / wo der Mensch seinen heimlichen größeren Geist gebiert, / seinen Gott, den uralten, in den Gewittern schreienden Gott!" (W.u.R., S. 100) Dies sind keine „sozial-revolutionären Thesen im Vokabular des Vitalismus".60 Schickele versucht an bestimmte politische Begriffe, die jedoch in ihrer gesellschaftskritischen Valenz fakultativ sind, die im tradierten Kontext gescheiterte vitalistische Lebensutopie, die endliche Einheit aller Erfahrungen zwischen Leid und Lust, anzuschließen. Die 58 Herbert Kraft, Kunst und Wirklichkeit im Expressionismus. Mit einer Dokumentation zu Carl Einstein, Bebenhausen 1971, S.6. 59 Ebd. 60 Gunter Martens, Vitalismus und Expressionismus, S. 139.

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politische Begrifflichkeit wird in das tradierte ideologische Archisem versatzstiickhaft montiert und entpolitisiert. Die Konnotation von gegriffener Ausbeutung' und .geforderter Rebellion' ist daher bloßes Etikett, unter dem es vielleicht doch noch möglich würde, den „uralten, in den Gewittern schreienden Gott" zu erreichen: sich mit ihm gegen die Herrschaft der Angst über die Fülle des Lebens zu verbünden.61 So wird die Evokation: „Es lebe die Freiheit" — zwischen Tribüne und Masse eine scheinbar revolutionäre Agitation — zur sublimen Legitimation des .bellum omnium contra omnes', zur gegenaufklärerischen Formel, die anstatt Gerechtigkeit schrankenlose Macht sanktioniert, also den Kontext der heroischen Eroberung aus dem Gedichtband „Pan. Sonnenopfer der Jugend" in einen innovativen Rahmen integriert: „Es lebe die Freiheit, / die des einen Kräfte / an die des andern bindet, / daß ein jed Geschlecht / im freien Wettbewerb / sein Parthenon errichtet... / Freiheit: allen Ehrgeiz weckende,/kraftentzückende, sehnsuchtstreckende / nach der Vollendung dieser unsrer Hände, / dieses unsres Herzens!" (W.u.R., S.100) Nicht die Abbildung von Ausschnitten der zeitgenössischen Wirklichkeit, die als lexikalischsemantische Affinitätsfelder toposartig in den Text modelliert werden, garantiert die .Wendung zur Realität'; ihre Funktion im Bedeutung erst konstituierenden Zusammenhang des Textes relativiert die isolierte Valenz einzelner Bilder, Begriffe und Metaphern. Die Bedeutung des Textes konstituiert sich über die simultane Referenz aller semantischen Elemente intra- wie extratextueller Art. Die beiden zuletzt besprochenen Texte von Schickele zeigen — unter literaturgeschichtlicher und literaturtheoretischer Fragestellung, nicht sozialgeschichtlicher und historischer — das diskutierte Problem der .Wendung zur Realität' als Antwort auf die .Weltflucht' in der Lyrik der Jahrhundertwende zunächst im Horizont der literarischen Evolution bestimmter poetischer Verfahren. Die poetische Idee auch gegen den sich verändernden historischen Kontext zu behaupten, scheitert, weil nicht die Destruktion, sondern die Integration 61 Die Allusion zum Gott ,Pan' ist über den Werkkontext objektiv gegeben. Allerdings ist hier keine Substitution vorzunehmen; daß eine Kodierung des Namens erfolgt, offenbart den Prozeß der Distanzierung vom Muster - und wie brüchig die .Utopie' geworden ist. Festzuhalten bleibt die Differenz, nicht die Identifikation.

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utopie-signiflkanter literarischer Verfahren innerhalb der möglichen Innovationsspanne eingeleitet wird. Der literarisierte ,Aufbruch in die Realität' — Realität als historisch-soziale Größe, nicht als Abbild ihrer Phänomenologie — findet in diesen paradigmatischen Texten Schickeies nicht statt. Dies ist jedoch nur das eine Moment. Auf der anderen Seite gelingt der Rückzug in die tradierte utopische Intention über den pseudo-innovativen Rahmen, den erweiterten Paradigmenbereich, nicht mehr ohne Widerspruch. Der Widerspruch wird zum Signal, zum Merkmal einer historischen Situation, welche die „verdeckten Basisrealitäten" nicht mehr vom „Schein des schönen Lebens" fernhalten kann. In Schickeies Gedichtband „Die Leibwache" (1914) 62 ist die Quintessenz des beschriebenen Dilemmas im Gedicht „Revolutionsball" (D.L., S.64—66) aus dem Zyklus „Elsässischer Bildersaal" (D.L., S. 51—100) als Modell aufgehoben. In der ästhetischen Struktur versucht Schickele aufzuzeigen, daß Konstituentien des Daseins ewig gleich bleiben: Es bleibt das,Ewig-Menschliche'. Durch Revolutionen, so Schickeies poetische Idee, können sich die Kulissen der Geschichte, die Szenerie ihrer Schauplätze verändern: die Sehnsucht des Menschen nach erotischem Rausch und vitaler Entgrenzung bleibt konstant; es bleibt die Gier, die Liebe, das Abenteuer. Der ,Revolutionsball' ist als Metapher nicht Stellvertreter für das JFest der Freiheit' - für die ,Feier der Gleichen' —, er wird zum gesellschaftlichen Ereignis, und die Revolution als geschichtliche Tat gibt die vitalistische Kulisse (und die vitalen Liebhaber). Der Revolutionstopos, das herausragende Paradigma für den Prozeß der Politisierung des literarischen Themas Aufbruch, wird zum Medium, mit dem die Archetypik des .Lebens' als Werden und Vergehen in ewigen Kreisläufen symbolisiert werden kann: „Es wechseln die Zeiten, es wechselt der Schatz, / das Herz bleibt immer am nämlichen Platz" (D. L., S. 66).

62 René Schickele, Die Leibwache, Berlin 1914 - im folgenden zitiert als D. L.

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3. Ernst Stadler: Versöhnung durch Identifikation a) Das literarische Thema , Aufbruch' und seine Affinitäten zum .lyrischen Sujet' als einer poetologischen Kategorie Die bisherige Analyse zur Utopie des, Aufbruchs'auf dem Hintergrund des ,Stirb und Werde'-Ideologems ließen Zweifel darüber zu, ob der ,Aufbruch' in die Realität,1 d.h. deren kritische ästhetische Aneignung und Reflexion in einem poetischen Modell, durch die Umfunktionalisierung einer relativ homogenen Metaphorik möglich ist, wenn diese in innovative thematische Paradigmen integriert wird.2 Es zeigt sich, daß eine poetologisch abgesicherte Heuristik für die Frage nach der utopischen oder aber ideologischen Valenz in der literarisierten , AufbruchsThematik, präziser als bisher geschehen, reflektiert werden sollte. Eine solche Heuristik könnte sich dabei zum Teil auf Lotmans Ausführungen zum „Problem des Sujets" 3 stützen, allerdings nur auf dem Hintergrund der generellen Vorbehalte, die Jurij N. Tynjanov schon 1924 in seiner Studie über ,J)as Problem der Verssprache" geltend gemacht hat. 4 Die Kategorie ,Aufbruch' — sowohl als literaturgeschichtliche Größe für den (Früh)expressionismus als auch als logische — ist mit der Vorstellung des ,Ereignisses'5 verbunden', eines Ereignisses, das seine immanente Eigengesetzlichkeit hinsichtlich des ,Ablaufes' hat und spezifiziert für das poetische Modell auch eine in bestimmten Grenzen sich konkretisierende Bildlichkeit, Metaphorik und Tropik. 1

Zwar analysiert Gunter Martens zunächst die Vitalismus-Problematik im Werkkontext René Schickeies („Vitalismus und Expressionismus", S. 1 2 8 143), jedoch werden für die literarischen Wertungen sowohl im Hinblick auf Schickele als auch auf Stadler die Arbeiten Karl Ludwig Schneiders zum Werk Stadlers im Ergebnis bestätigt: vgl. dazu auch S. 127, Anmerkung 1. 2 ,Umfunktionalisierung' ist hier konträr zur „semantischen Umkodierung" zu verstehen (vgl. Jurij M. Lotman, Die Struktur literarischer Texte, S. 5 5 - 8 0 ) . 3 Vgl. Jurij M. Lotman, Die Struktur literarischer Texte, S. 3 2 9 - 3 4 0 . 4 Vgl. Jurij N. Tynjanov, Das Problem der Verssprache. Zur Semantik des poetischen Textes, aus dem Russischen übersetzt, eingeleitet und mit Registern versehen von Inge Paulsen, München 1977 (= Theorie und Geschichte der Literatur und der schönen Künste, Texte und Abhandlungen, hg. von Max Imdahl u.a., Band 25), S. 102,118f., 129 und 127. 5 Vgl. Jurij M. Lotman, Die Struktur literarischer Texte, S. 3 3 0 - 3 3 2 .

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Die metaphorische Konkretion des ,Aufbruchs' als eines Ereignisses setzt einen ,Raum' voraus, in dem das .Ereignis* stattfinden kann: das .Ereignis' muß sich gegen die relative Homogenität des Raumes abheben, in dessen Dimensionen es als eine signifikante Störung des .ereignislosen Kontinuums' wahrgenommen wird. Das Ereignis als spezifische Qualität eines Vorgangs ist die Negation eines innerhalb bestimmter Grenzen differenz- und widerspruchslos wahrgenommenen .Raumes', wobei ,Raum' als poetologische Kategorie ein relativ homogenes lexikalisch-semantisches Affinitätsfeld meint, das in seiner Soziabilität durch „klassifikatorische Grenzen" stabil gehalten wird. Mit der Klassifizierung des ,Aufbruchs' zu einem ,Ereignis', das in einem sozial oder .asozial' konnotierten Raum seine bildliche Konkretion erfährt, ist darüberhinaus ein dynamischer Aspekt verbunden, welcher diesem .Ereignis' seine spezifische Qualität verleiht, seine einmalige Physiognomie zu anderen Irritationen, die auf einem akzeptierten oder kritisierten Hintergrund der Norm wahrgenommen werden können. Die poetische (und logische!) Kategorie ,Aufbruch' ist nur dann semantisch ausdifferenzierbar, wenn ein Ausgangspunkt und ein Endpunkt gedacht werden. Sie muß sich nicht nur gegen die signifikanten Merkmale eines ,räumlich'metaphorisierten Kontinuums oder bildlich konkretisierten Raumes abheben, sie muß auch dynamisch-intentional auf einen Horizont hin sich abgrenzen: sie ist — conditio sine qua non — zielorientiert. Die hier versuchte Operationalisierung des abgesteckten Problemfeldes bleibt jedoch solange abstrakt, wie nicht die Konkretisationsform als poetisches Modell einer ästhetischen Aneignung von Wirklichkeit in die Hermeneutik des Ansatzes eingebracht wird. Weil das poetische Modell entweder die Negation oder aber die Affirmation der herrschenden Ideologie ist, die seinen Produktionsbedingungen zugrundeliegt, so lange jedenfalls, wie Kunst und Wirklichkeit noch nicht identisch geworden sind, muß sowohl die Abbildung der Wirklichkeit als auch deren kritische oder legitimistische Verarbeitung ihren jeweiligen Raum der Artikulation im Werk haben. Das affirmative Werk reproduziert das Abbild der bestehenden Gesellschaft; das Abbild identifiziert den gesellschaftlichen Raum und legitimiert ihn in der Verdoppelung; die Idylle konvergiert mit dem falschen Schein und suggeriert .Fluchträume'; das kritische Werk 79

realisiert grundsätzlich beide ,Räume', um die „klassifikatorische Grenze" zwischen Utopie und Ideologie zu zeigen, sie signifikant werden zu lassen. So kann auch in der Umkehrung der Prämissen gefolgert werden: Werden beide ,Räume' durch eine „klassifikatorische Grenze" unversöhnlich voneinander getrennt, dann kann das Werk im Idealfall als Idee der Kunst die Negation zur Wirklichkeit in der Statthalterschaft der Wahrheit modellieren; werden beide ,Räume' identifiziert, dann wird das Werk funktional im Kontext der herrschenden Ideologie - des falschen Scheins der wirklichen Verhältnisse —; konvergieren sie aber, dann produziert das poetische Modell ein Moment des falschen Scheins. Es degeneriert zur Apologie dessen, was unter der Frage des ,cui bono' zur Legitimation des Unrechts wird. Gegenüber narrativen Texten wird das ,lyrische Ich' in der Poesie zum Inhalt jenes fiktionalen Ortes, der als räumliche Konfiguration entweder die akzeptierte und sanktionierte Weltanschauung reproduziert oder aber die „klassifikatorische Grenze" markiert, welche als bewußtwerdende die Möglichkeit zur Kritik schafft. Im lyrischen Text stehen .Räume' einander gegenüber — und deren abstraktester und zugleich konkretester ist das lyrische Ich. Die suggerierte Personifikation im lyrischen Ich ist nur eine scheinbare. Entscheidend für die Kompositionsstruktur des Gedichts wird der durch das lyrische Ich konturierte Reflexionsraum. Auf der lexikalisch-semantischen Ebene des lyrischen Textes wird Bedeutung generiert in der Zusammen- und Entgegenstellung von Versen, wobei in der Identifikation äquivalenter Einheiten das Verschiedene im Ähnlichen erkannt werden kann.6 Spiegelbildlich zur Zusammen- und Entgegenstellung von Versen ist auf der Kompositionsebene des Textes das Nebeneinander als Gegeneinander poetischer Räume'. Umfaßt das lyrische Ich den intratextuellen Raum als Reflexionsdimension oder Erfahrungskontinuum in toto, dann signalisiert die Textgrenze die gegenüber oder in Kongruenz zur herrschenden Weltanschauung errichtete oder verhinderte „klassifikatorische Grenze". Die Textgrenze kann dann identisch werden mit der „klassifikatorischen Grenze". 6

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Jurij M. Lotman, Vorlesungen zu einer strukturalen Poetik, S. 24f.

Der literarisierte Aufbruch als ein innovatives Ereignis, das ein „revolutionäres Element" 7 beinhaltet, kann nicht auf der Folie des normierten Raumes rezipiert werden, der innerhalb „klassifikatorischer Grenzen" den falschen Schein' der Wirklichkeit modelliert und als unentfremdeten Erfahrungsraum poetisch kodiert. Innerhalb der „klassifikatorischen Grenzen", die durch die herrschende Ideolqgie einer Gesellschaftsformation gesetzt werden, ist das »Ereignis' nur fakultativ und neben anderen, sanktionierten, quantifizierbar. 8 Der ,Aufbruch' als ein Ereignis — innerhalb der literarischen Evolution des Themas und im Kontext der Wirklichkeit - kann nur dann ein kritisches, irritierendes Moment freisetzen, wenn der dynamisch-zielorientierten Valenz eine intendierte oder versuchte Verletzung der ,.klassifikatorischen Grenze" oder aber deren In-FrageStellung als absolute Negation inhärieren. Die galante Überwindung dieses ,Lethe-Stromes', „der die Lebenden von den Toten trennt", 9 suggeriert indes die Realisation der Idylle im Jiic et nunc' und produziert als Extremform des .gelungenen Aufbruchs' Trivialität. Auf dem Hintergrund der inneren Organisation des Sujets für die 7

8 9

Jurij M. Lotman, Die Struktur literarischer Texte: „Das Sujet ist ein .revolutionäres Element' im Verhältnis zum .Weltbild'" (S.339). In der mechanizistischen Übertragung des Sujet-Begriffs, wie er an spezifischen narrativen Strukturen beobachtet werden kann, auf lyrische Texte, unterläuft Lotman allerdings eine unverständliche Fehleinschätzung, analysiert er doch zuvor mit unerbittlicher Präzision und Akribie die komplizierte innere Organisation der Versstruktur. Er behauptet: „Sujetlose Texte haben einen deutlich klassifikatorischen Charakter; sie bestätigen eine bestimmte Welt und deren Organisation. Beispiele für sujetlose Texte wären ein Kalender, ein Telefonbuch oder ein sujetloses lyrisches Gedicht" (S. 336). Demnach können nur lyrische Texte mit einem Sujet-Aufbau kritisch zur Wirklichkeit stehen, in der sie produziert werden. Im Idealfall wären dies dann Balladen, weil in ihnen am ehesten ein zu narrativen Strukturen analoges Sujet realisiert ist. Eine solche Annahme entbehrt aber jeglicher Grundlage. Richtiger ist, daß der SujetAufbau in narrativen Strukturen vielleicht mit der Kritik oder Bestätigung der herrschenden Weltanschauung in Verbindung gebracht werden kann, die einem lyrischen Text zugrundeliegende Weltanschauung aber sicher nichts mit dem Vorhandensein oder Fehlen eines aus narrativen Strukturen abgeleiteten Sujet-Aufbaus zu tun hat. - Gerade weil, und dies ist in Lotmans Untersuchung zu lernen, die Genese von Bedeutung in der Lyrik generell anders funktioniert als in der Prosa. Vgl. Jurij M. Lotman, Die Struktur literarischer Texte, S. 333f. Jurij M. Lotman, Die Struktur literarischer Texte, S. 337f.

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Aufbruchs-Thematik in der Lyrik, in der Konkretion des ,Aufbruchs'Sujets als eines prinzipiell negativ gegen den .Schein des schönen Lebens' und den falschen Schein der Wirklichkeit opponierenden ästhetischen Modelles kann Ernst Stadlers Lyrikband „Der Aufbruch" (1914) hermeneutisch-kritischer auf seinen Wahrheitsgehalt — als den Gehalt an konkreter Realität — befragt werden. Ob in der Tat „klassifikatorische Grenzen" gesprengt werden, also die ideologischen Implikationen sich verflüchtigen, wenn innerhalb der literarischen Evolution die ,Weltflucht' in ihre polare Entgegensetzung, in die .Wendung zur Realität', transformiert werden soll? Ob in der Tat im ,Aufbruch' als Zentrierung und Entfaltung eines lyrischen Sujets ein „revolutionäres Element" gegen die herrschende Weltanschauung gesetzt wird, was in letzter Konsequenz bedeutet, ob denn wirklich die .Realität' erreicht wird als Ziel, also der Mangel sich in ihr konkretisiert? 10 Nicht in der Abbildung der Oberflächenphänomene kann die Realität im poetischen Modell eingeholt werden und schon gar nicht in der Versöhnung mit ihr, wenn d e r , Aufbruch' in die Welt, wie im Märchen, zur Wirklichkeit stilisiert wird, in der das Leben zum Abenteuer und der Mangel zum stillen Glück, zur suchtlosen Zufriedenheit verklärt werden können - wohlgemerkt: im Kontext einer Klassengesellschaft, die sich anschickt, im Horizont neuer Ziele aufzubrechen und den Begriff Realität mit einem vollkommen neuen Inhalt zu versehen. Als Maßstab für die literarische Wertung bleibt der Text Kafkas 11 in seiner radikalen Vollendung des literarischen Themas ,Aufbruch' auch in seiner Geschichtlichkeit gültig. Seine Aussage wurde vom Geschichtsprozeß noch nicht eingeholt - im Gegenteil: die geschichtliche Wahrheit in ihm nimmt an erschreckender Konkretion zu. „Der Aufbruch ist unbedingt, er ist der messerscharfe Schnitt zwischen 10 Vgl. dazu Karel Kosiks Ausführungen zur gesellschaftlichen Praxis der Menschen, in welcher der Mangel subjektiv als tägliche „Sorge" erscheint (K.K., Die Dialektik des Konkreten. Eine Studie zur Problematik des Menschen und der Welt, aus dem Tschechischen von Marianne Hoffmann, Frankfurt am Main 1973, S. 6 2 - 7 1 ) . 11 Franz Kafka, Der Aufbruch, in: F.K., Gesammelte Werke, hg. von Max Brod, Frankfurt am Main 1976 (= Fischer Taschenbuchausgabe in sieben Bänden), Band 5 („Beschreibung eines Kampfes. Novellen. Skizzen. Aphorismen. Aus dem Nachlaß"), S. 86.

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den Zeitphasen; aus Vergangenem und Gegenwärtigem wird keine .materielle' Substanz in ein Zukünftiges übertragen — einzig das ,Ich' bleibt für die Zukunft als (notwendig) geprägtes. Als ,ZieP ist nur das ,Weg-von-hier' formulierbar: die radikale Kritik des Bestehenden."12

b) „Der Aufbruch" (1914) Bei keinem (früh) expressionistischen Literaten scheint die Utopie des .Aufbruchs' aus der l'art pour l'art-Poesie in den art social so widerspruchslos Wirklichkeit werden zu können wie im Werke Ernst Stadlers. Und die Utopie des Aufbruchs zielt hier auch nicht nur auf ein kunstimmanentes Programm, etwa auf den Prozeß der literarischen Evolution in ihrer Tendenz, durch die Dialektik von Transformation und Destruktion poetischer Verfahren innovative ästhetische Modelle der Wirklichkeit zu produzieren, die im sanktionierten Rahmen der Kunst, in ihrer akzeptierten Norm, irritierend wirksam werden können, also Kritik freimachen. Die ,Weltflucht' der „Praeludien"-Phase (1905) steht der .Lebensbejahung' im Kontext der ,Aufbruchs'-Gedichte (1914) 13 konträr gegenüber - auf der einen Seite die Illusion vom .Schein des schönen Lebens', auf der anderen Seite die Erkenntnis der .harten' Realität. Karl Ludwig Schneider hat den unversöhnlichen Bruch, der immer wieder in der Forschungsliteratur bestätigt wird, auf die prägnante Formel gebracht: „reinigende Wendung zu neuen Lebensinhalten".14 Das Werk wird zum repräsentativen Spiegel der Biographie; die exzeptionelle Persönlichkeit konkretisiert so im Besonderen ihrer — in Lyrik geformten — Erfahrungswelt das Allgemeine 12 Herbert Kraft, Kafka. Wirklichkeit und Perspektive, Bebenhausen 1972 (= Thesen und Analysen, Band 2). S.66. 13 Ernst Stadler, Der Aufbruch. Gedichte; vollständig abgedruckt in: E.S., Dichtungen, Erster Band, S. 1 0 7 - 1 8 1 . 14 Karl Ludwig Schneider, Die Dichtung, in: E.S., Dichtungen, Erster Band, S. 5 3 - 1 0 1 ; Zitat S. 74. Der Aufsatz wurde, unwesentlich verändert, unter dem Titel „Die Dichtungen Emst Stadlers" aufgenommen in K.L.S., Zerbrochene Formen. Wort und Bild im Expressionismus, Hamburg 1967, S. 1 3 5 - 1 7 1 . Vgl. dazu auch Werner Kohlschmidt, Ernst Stadler, in: Expressionismus als Literatur. Gesammelte Studien, hg. von Wolfgang Rothe, Bern und München 1969, S. 2 7 7 - 2 9 4 ; besonders S. 287.

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der Epoche. Zugespitzt bedeutet eine solche Reduktion des ästhetischen Gehalts auf die Identifikation der vermeintlichen Werkstruktur mit übertragbaren Momenten aus der Biographie zum Beispiel für das Gedicht „Form ist Wollust" (D.A., S.30): „Gegenüber der verbreiteten Auffassung, daß dieses berühmt gewordene Gedicht ein ProgrammGedicht des Expressionismus sei, muß auch hier geltend gemacht werden, daß es keineswegs als ein solches geschrieben wurde. Es verbleibt vielmehr mit jeder Zeile im Raum des persönlichen Erlebens. Nicht zwei Kunstprinzipien werden hier abstrakt konfrontiert, sondern der Vollzug der eigenen Entwicklung wird dichterisch ins Bild gesetzt. Diese Entwicklung freilich ist als schroffe Absage an eine absolut gewordene Kunst und als Bekenntnis des Künstlers zur Hingabe an das Leben repräsentativ für den Weg jener Generation, die den Expressionismus heraufgeführt hat." 1 5 Gunter Martens hat die für den Stand der Stadler-Forschung konstitutiven Untersuchungen Karl Ludwig Schneiders 16 paradigmatisch zusammengefaßt, wenn er für den leitmotivischen Text „Der Aufbruch" (D. Α., S. 31) resümiert, daß die „Loslösung von jeder Stagnation und wollüstigen Passivität (...) der Inhalt des hier dargestellten Neubeginns" sei.17 „Leben wird aus einem lebensfeindlichen Zustand befreit, Wirklichkeit wird wiederentdeckt und in eine ihr angemessene Stellung gerückt." 18 Die neue ästhetische Qualität liegt demnach — in 15 Karl Ludwig Schneider, Die Dichtung, S. 66. Vgl. auch Karl Ludwig Schneider, Der bildhafte Ausdruck in den Dichtungen Georg Hayms, Georg Trakls und Ernst Stadlers. Studien zum lyrischen Sprachstil des deutschen Expressionismus, 3., unveränderte Aufl. Heidelberg 1969, S. 149f. Die erste Aufl. erschien Heidelberg 1954. 16 Vgl. zu den genannten Arbeiten noch: Karl Ludwig Schneider, Kunst und Leben im Werk Ernst Stadlers, in: K.L.S., Zerbrochene Formen, S. 1 7 3 - 1 9 1 . Dort findet sich auch noch einmal die explizite Wiederholung der These zur Kongruenz von Biographie und Werk (S. 189). 17 Gunter Martens, Vitalismus und Expressionismus, S. 1 4 4 - 1 7 9 („Die Ausbildung eines vitalistischen Sprachstils in den Dichtungen Ernst Stadlers"), Zitat S. 144. 18 Gunter Martens, Vitalismus und Expressionismus, S. 160. Vgl. auch Helmut Uhlig, Vom Ästhetizismus zum Expressionismus, in: Expressionismus. Gestalten einer literarischen Bewegung, hg. von Hermann Friedmann und Otto Mann, Heidelberg 1956, S. 8 4 - 1 1 5 . Uhlig meint, „Ja-Sagen zum Leben" korrespondiere mit „Nein-Sagen zu den überkommenen Formen" (S. 89).

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Abgrenzung zur neoromantischen „Praeludien"-Phase — in der biographisch wie poetisch sich konkretisierenden Identifikation mit dem Leben, mit der Wirklichkeit, wobei vorausgesetzt werden darf, daß in der kategorialen Abgrenzung zwischen den hermetischen und im artifiziellen Décor erstarrten Fluchträumen der neoromantisch-symbolistischen Traumwelten und der Realität des ,ganzen Lebens', das eben die banale Alltäglichkeit als Komplettierung aller Erfahrungsmöglichkeiten (vgl. Schickeies Vorrede zu,,Pan. Sonnenopfer der Jugend") einschließt, nicht die Sozialität des gesellschaftlichen Raumes in seiner Widersprüchlichkeit gemeint ist: „Nichts, was zum Leben gehört, ist ausgeschlossen von dieser ekstatischen Weltfreudigkeit, die sich der Wirklichkeit ganz zu bemächtigen trachtet." 19 Allerdings ist die „ZweiPhasen-Theorie" in der Stadler-Forschung nicht unwidersprochen geblieben: „Man fragt sich heute wieder, ob am Aufbruch wirklich alles so .expressionistisch' ist, wie man bisher angenommen hatte", gibt Jost Hermand gegen den Ansatz Karl Ludwig Schneiders zu bedenken. „Denn schließlich macht es stutzig, daß es stets dieselben Beispiele sind, die für diese These angeführt werden: das Titelgedicht, Vorfrühling, Form ist Wollust und die Fahrt über die Kölner Rheinbrücke bei Nacht."20 ,Aufbruch' in die Realität oder aber der mißlungene ,Ausbruch' aus dem stilgeschichtlichen Konglomerat der Lyrik der Jahrhundertwende? 21 Diese Frage wird sich so lange als 19 Karl Ludwig Schneider, Die Dichtung, S. 73. Die Aussage steht im Kontext des Gedichts „Die Befreiung" (D. Α., S. 52), aber auch paradigmatisch für die gesamte .Aufbruchs'-Dichtung. 20 Jost Hermand, Stadlers stilgeschichtlicher Ort, in: J.H., Der Schein des schönen Lebens, S . 2 5 3 - 2 6 5 ; Zitat S.254f. Hermand betont die Heterogenität der späten Gedichte Stadlers und dessen kontinuierliche Bindung an symbolistische, impressionistische und neuromantische Tendenzen der Stilkunst um 1900. U.a. bezieht sich Hermand auf die Arbeiten von Karl Otto Conrady (Ernst Stadlers .Vorfrühling', in: Die deutsche Lyrik, hg. von Benno von Wiese, Düsseldorf 1956, Band II, S. 3 8 9 - 4 0 0 ) , Clemens Heselhaus (Deutsche Lyrik der Moderne von Nietzsche bis Yvan Göll, Düsseldorf 1961, S. 193f.), Arno Schirokauer (Über Ernst Stadler, in: Akzente, 1. Jg. [1954], S. 3 2 0 - 3 3 4 ) und Kurt Mautz (Die Farbensprache der expressionistischen Lyrik, in: DVjs, 31. Jg. [1957], S. 1 9 8 - 2 4 0 ) , die im wesentlichen gegenüber der scharfen Abgrenzung zwischen der „Praeludien"-Phase (1905) und der „Aufbruchs"-Phase (1914), wie sie Karl Ludwig Schneider und Gunter Martens sehen, mehr eine gegenseitige Durchdringung betonen. 21 Hermand z.B. beweifelt den „direkten Übergang" und „dramatischen Umbruch vom Jugendstil zum Expressionismus" (J.H., Stadlers stilgeschichtlicher Ort, S. 264f.).

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irrelevant erweisen, wie nicht die Funktion von Kunst in der Wirklichkeit als einer konkreten historischen Situation zum Gegenstand des hermeneutischen Horizontes wird. Hypothetisch kann zunächst gefolgert werden, daß die qualitative Differenz zwischen ästhetischem Gehalt und affirmativer Funktion im Kontext der ,Aufbruch'-Dichtung Stadlers nur im Zusammenhang des ,In-Frage-Stellens' „klassifikatorischer Grenzen" aufscheinen kann. Der Zugriff zur unbegrenzten Lebensbejahung, zur Totalität aller Erfahrungen, auch und eben der, die jenseits der hermetischartifiziellen, bizarren und exotischen Räume der l'art pour l'art-Poesie liegen, verletzt jedenfalls nicht die „klassifikatorische Grenze" zwischen den ideologischen Implikationen des Lebenspathos im ,Stirb und Werde'-Ideologem, wie sie im Werkkontext Schickeies aufgezeigt werden konnten, und der utopischen Intention, die den ,Aufbruch' als ein lyrisches Sujet zum „revolutionären Element" gegen die emphatische Bejahung der Wirklichkeit in ihrer Soziabilität - in ihren gesellschaftlichen Widersprüchen — machen müßte. Um die Kategorie , Aufbruch' in ihrem poetologischen Aspekt auf dem Hintergrund der literarischen Evolution, wie sie für René Schickele skizziert werden konnte, transparenter werden zu lassen, mußte ihre auf den thematischen Zusammenhang präzisierte literaturtheoretische Basis im Kontext einer kritischen Ästhetik und Hermeneutik erörtert werden. In Referenz auf den vorliegenden Forschungsstand kann nun die Differenz oder Analogie zum Werk Schickeies in der Eingrenzung auf die Gattung Lyrik erläutert werden. Zu bedenken gibt allerdings schon im Vorfeld der Analyse, daß Ernst Stadler noch 1914 in seinem Essay über „Fritz Lienhard" 2 2 eine Position zur ,Jüngsten Literatur' einnimmt, die René Schickele 1902 in seiner Vorrede zu „Pan. Sonnenopfer der Jugend", „dem ersten vitalistischen Manifest" (Martens), mit Emphase vorgetragen hatte: „Das, was heute unsere Besten immer leidenschaftlicher suchen, immer tiefer begreifen, die Hingabe an alles, alles Irdische, die Befreiung aus wählerischem Geschmäcklertum, die Heiligsprechung jeder Form des Lebens, dieser neue Glaube, diese neue Weltfreudigkeit, sie ist dem Lienhardschen Ideal fremd". 2 3 Wie hieß es schon bei Schickele? 22 Emst Stadler, Dichtungen, Zweiter Band, S . 6 1 - 7 8 . 23 Ernst Stadler, Dichtungen, Zweiter Band, S. 77.

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„Ein Idealismus ist: Natur sein, ungekünstelte, selbstherrliche Natur, die sich nicht kümmert um das, was ,sein muß der Allgemeinheit wegen', der sich auslebt mit all seinen Himmeln und Höllen, dem nur Eines Gesetz ist, das Reale, das wirklich Seiende, Ewige, der Kosmos in seiner Schöpferkraft. Freiheit!" (P., S. 13) Die gewollte, aber nicht mehr mögliche Identifikation mit der vitalistischen Lebensutopie produziert in Stadlers Gedicht „Worte" (D.A., S.11), dem Eingangstext des Lyrikbandes „Der Aufbruch", eine „potenzierte Reflektiertheit", 2 4 die in das Ennui-Syndrom und eine Médiocrité-Phobie umzuschlagen droht, weil die vom Subjekt intendierte Totalisierung sowie einzuholende Totalität aller Erfahrungsmöglichkeiten jenseits sozial konnotierter Räume den heroischen Kampf um die absolute Erfüllung aller individuellen Träume zum Inhalt haben — und der ist die Sublimation der realen Entfremdung: „Man hatte uns Worte versprochen, die von nackter Schönheit und Ahnung und zitterndem Verlangen übergiengen. (...) Sie versprachen Sturm und Abenteuer, Überschwang und Gefahren und todgeweihte Schwüre - / Tag um Tag standen wir und warteten, daß ihr Abenteuer uns entführe. / Aber Wochen liefen kahl und spurlos, und nichts wollte sich melden, unsre Leere fortzutragen" (D.A., S. 11). Renate Werner hat im Zusammenhang der „sozialgeschichtlichen Voraussetzungen" des Ästhetizismus um 1900 darauf hingewiesen, daß

„die Folge dieser potenzierten Geistigkeit, die auf geringste

intellektuelle, psychische und sensorische Reize durch Reflexion reagiert, (...) ein Zustand der Velleität, der Unfähigkeit zur Aktion (ist), die allererst die Voraussetzung für eine Rückbindung der Reflexion an das Leben w ä r e . " 2 5 Jedoch anstatt in der Kompositionsstruktur des Textes diese elegische Reminiszenz an eine nicht mehr mögliche Utopie im Horizont einer kritischen zu fundieren, die nicht nur literarisiert in „Worten" den Traum

idyllisierter Hoffnung besetzen kann, 2 6

konkretisiert

24 Renate Werner, Skeptizismus, Ästhetizismus, Aktivismus, S. 13. 25 Ebd. 26 Vgl. zum Beispiel: „Sie lebten irgendwo verzaubert auf paradiesischen Inseln in einem märchenhaften Frieden. / Wir wußten: sie waren unerreichbar wie die weilien Wolken, die sich über unserem Knabenhimmel vereinten" (D.A., S. 11).

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Stadler die Attitüde des dilettantistischen Literaten — ..Anempfindungsvermögen" und „Selbstvergessenheit":27 „Aber an manchen Abenden geschah es, daß wir heimlich und sehnsüchtig ihrer verhallenden Musik nachweinten." (D.A., S. I I ) 2 8 Die Suszeptibilität für das „autistische Auskosten" alter (!) „gedanklicher Reize" 29 verhindert leitmotivisch kodiert den Aufbruch aus dem hermetischen, noch immer als Identifikationsobjekt erinnerten Raum, der die im Kontext der Kunst als ästhetizistischer Rahmen abgesteckte ,Grenze' zur „Realität einer sozialen und ökonomischen Ordnung, in der es allein auf die Kriterien einer instrumentellen Praktikabilität und in Kapital umsetzbaren Effektivität" 30 ankommt, nicht ins Bewußtsein rückt. So verbleibt als Schein-Lösung, die utopistische Intention der Jahrhundertwende an ihr negatives Äquivalent, an ihre polare Entgegensetzung zu knüpfen, um die Totalität des ,ganzen, heiligen Lebens' nicht in partielle Erfahrungsräume aufspalten zu müssen, wenn noch der autistische Reiz der Traumwelt aus den „Praeludien" einen Teil der subjektivistisch besetzten ,Daseins'-Sphäre in Anspruch nimmt und wenn die vitalistische Lebensutopie der Jahrhundertwende noch als Basis einer möglichen Flucht erinnert werden soll. Stand in den „Praeludien" die sanktifizierte oder artifizielle Kunstlandschaft als Décor des entsoziologisierten und enthistorisierten Individuums für die reflexive Entgrenzung des lyrischen Ichs bereit, so gerät nun in der Negation des ,Scheins vom schönen Leben' das artifizielle und sakrosankt ,Häßliche', das aus der Perspektive des Vitalismus-Syndroms ,Verwerfliche', .Verruchte', ,Dumpfe' und ,Trieb- oder Tierhafte' im Ausleuchten der ganzen Wirklichkeit mit in die poetische oder besser: poetisierende Aneignung der gesellschaftlichen Oberflächenphänomene: „O Gelöbnis der Sünde! All' 27 Vgl. Renate Werner, Skeptizismus, Ästhetizismus, Aktivismus, S. 23. 28 „Endet dieser Abschied auch in Worten der Klage über den Verlust, so ist der Grundton doch Absage", meint Karl Ludwig Schneider (Die Dichtung, S.64), und auch Horst Fritz stellt auf dem Hintergrund seiner These von der tendenziellen Transformation des Jugendstils in den Expressionismus irritiert fest: „Der These vom Jugendstil als permanenter Hintergrund des Expressionismus scheint bei Stadler zunächst das Anfangsgedicht .Worte' zu widersprechen" (H. F., Literarischer Jugendstil und Expressionismus, S. 265). 29 Renate Werner, Skeptizismus, Ästhetizismus, Aktivismus, S. 13. 30 Renate Werner, Skeptizismus, Ästhetizismus, Aktivismus, S. 11.

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ihr auferlegten Pilgerfahrten in entehrte Betten! / Stationen der Erniedrigung und der Begierde an verdammten Stätten!" („Tage II", D. Α., S. 14); „In Blut und Marter aufgepeitschter Schwären / Erfüllt sich Liebe und erlöst sich Geist" („Tage IV", D. Α., S. 16). So konvergiert die Attitüde des rauschhaften Genusses und des aristokratischen Genießens mit der manieristischen Verklärung der Dulder-, Büßer- und Märtyrer-Perspektive. Nicht die „klassifikatorische Grenze" zwischen dem ideologischen Substrat der Idylle, die sich in der l'art pour l'art-Poesie hermetisch gegen die als häßlich und brutal behauptete industrielle Produktionssphäre stemmt, und der utopischen Negation dieser „rücksichtslosen Ökonomisierung aller Lebensbereiche"31 wird im Aufbruchs-Motiv signifikant: „Tag will herauf. Nacht wehrt nicht mehr dem Licht. / O Morgenwinde, die den Geist in ungestüme Meere treiben! / Schon brechen Vorstadtbahnen fauchend in den Garten / Der Frühe. Bald sind Straßen, Brücken wieder von Gewühl (...) versperrt - / O jetzt ins Stille flüchten! (...) / In Kirchenwinkeln knien! O, alles von sich tun, und nur in Demut auf das Wunder der Verheißung warten!" („Gegen Morgen", D. Α., S. 17) Die „klassifikatorische Grenze", die das lyrische Ich als Reflexionsraum zum poetischen Büd konkretisiert, wird um den ,culte du moi' 32 festgeschrieben. Das im Text folgende Bild der Version einer religiösen Verklärung, die nur in der Metamorphose des stigmatisierten ,Großstadt'-Individuums zur unschuldigen Kindheit mögliche wäre (also keine reale Basis hat), wird zur durchgehenden Metapher für die Sehnsucht nach dem einstmals in der Poesie zumindest konkret existierenden, gegen die Banalität des Alltags und seiner Sorgen geschützten Raumes, der Individualität und die erlesene Selbstentfaltung des Connaisseurs garantierte. Und zwar in Abgrenzung gegen die Vermassung, Entheroisierung, und Kollektivität der Bedürfnisse und ihrer Befriedigung, die zum Erfahrungspotential der Großstadt als deren beängstigende Physiognomie gehören. Der soziale Raum der Stadt in ihrer Organisationsform wird zum nivellierenden Faktor in der Reproduktion des Subjekts. Aber nicht die Einbindung des Abstraktums .Mensch' in sein soziales Umfeld, seine Konkretion als das Allgemeine

31 Renate Werner, Skeptizismus, Ästhetizismus, Aktivismus, S. 28. 32 Ebd.

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der gesellschaftlichen Verhältnisse, die in der konkreten Utopie nicht mehr seinen individuellen Bedürfnissen entgegenstehen sollen, ist Kennzeichen der individualistischen Entgrenzungssehnsucht, die in ihrer Konsequenz Egotismus und Autismus produziert, sondern die Realisation aller Momente der Außen- und Innenwelt, die das Potential aller Empfindungs- und Wahrnehmungsmöglichkeiten abdecken: 33 „Denn immer griffen meine Hände nach dem fernen bunten Ding, / Das einmal über meinem Knabenhimmel hieng. / Und immer rief mein Kiel nach Sturm — doch jeder Sturm hat mich ans Land geschwemmt,/ Sterne brachen, und die Flut zerfiel, in Schlick und Sand verschlämmt ..." („Metamorphosen", D. Α., S. 19). Die Klage um den Verlust der idyllischen Jugendstil-Perspektive bildet die „klassifikatorische Grenze" gegen die Wirklichkeit. Aber die (elegische) Klage wird nicht zur Negation des Mangels in der Wirklichkeit, sondern zum Stimulans, das ideologische Substrat des aus dem gesellschaftlichen Konnex gelösten ,hermetischen Fluchtraumes' für die Entfaltung des lyrischen Ichs wieder zuzulassen. So realisiert die Schlußsequenz des Textes die Metamorphose der erkannten Idyllen in eine scheinbar noch mögliche ,Utopie'; das ideologische Substrat potenziert sich aber in der auf Zukunft orientierten Traumsphäre: „Daran mußt'ich heute denken, und es fiel mir ein, / Daß alles das umsonst, und daß es anders müsse sein, / Und daß vielleicht die Liebe nichts als schweigen, / Mit einer Frau am Meeresufer stehn und durch die Dünen horchen, wie von fern die Wasser steigen" („Metamorphosen", D. Α., S. 19). Festzuhalten bleibt zunächst eine ambivalente Grundstruktur in den bisherigen Textparadigmen. Der erinnerte Traum von der vitalistischen Lebensutopie einer totalen Realisierung aller hedonistischen Erfahrungsmöglichkeiten, wie sie Schickele in der heroischen Individuation' metaphorisierte, und die Flucht in die aristokratische

33 Indirekt stützt Heinz Rölleke diese Beobachtung: „Die Stadt spielt eine gewisse Rolle bei Stadler, aber sie steht nur als beiläufig und überdies sparsam verwendetes Motiv unter anderen" (H.R., Die Stadt bei Stadler, Heym und Trakl, S. 57). Gunter Martens hat gegen Rölleke eingewandt, daß die Stadt nicht der Natur entgegengesetzt sei, sondern beide Bereiche sich „zur Gesamtheit des allumfassenden Lebens" zusammenschlössen (G. M., Vitalismus und Expressionismus, S. 159, Anmerkung 35).

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Gebärde, die ihren artifiziellen Raum in der hermetischen Jugendstillandschaft hat, sind im Kontext der neuen Wahrnehmungsräume, der qualitativ inkommensurablen Empflndungsquellen, wie sie die (objektiv) soziale Dimension der Großstadt darstellt, nur noch dann unentfremdet und im Ergebnis epigonal möglich, wenn der intentionale Horizont der Utopie — und hier liegt die Kongruenz zu Schickeies Gedichtband „Weiß und Rot" — aufgegeben wird: die voluntaristischaktionistische oder auch kontemplativ-rezeptible Sehnsucht „zum Eingehen in die Totalität des Lebens". 34 In diesem utopistischen Basisideologem aus der Lebensphilosophie liegt der Rückkoppelungsfaktor zur Lyrik der Jahrhundertwende. Durch den Versuch, das Basisideologem in einen innovativen Kontext zu transformieren, der durch generelle und einschneidende Veränderungen in der Sozialstruktur dem relativ autonomen Bereich der Kunst als einzig potentielles Aneignungsobjekt gegenübersteht, wenn sie nicht zur bloßen Funktion innerhalb eines Legitimationszusammenhanges degenerieren will, muß die Erweiterung des zuvor für die Utopie verbindlichen, semantisch kodierten und in einer akzeptierten Metaphorik schabionisierten Erfahrungsraumes sanktioniert werden. Die Großstadt als ein soziales Umfeld der Not, Angst, Entfremdung, der rapiden Pauperisierung eines Großteils der Bevölkerung und der sichtbaren Konfrontation von unermeßlichem. Reichtum und unvorstellbarer Armut, die Technik als Instrument der Verdinglichung, die Industrialisierung als Zerstörung homogener, gewachsener und Identität garantierender Lebensräume: dies sind keine Entdeckungen expressionistischer Literaten um 1910. Die Abbildung der Oberfläche dieser gesellschaftlichen Veränderungen seit der extensiven Kapitalisierung aller Produktionsverhältnisse und deren Kritik im sozial-pathetischen Mitleid der Kunst sowie die Solidarisierung mit den entrechteten und pauperisierten Schichten der Bevölkerung waren schon explizit als Kunstprogramm Gegenstand des Naturalismus. Aber die hier von der Kunst erschlossenen Räume gesellschaftlicher Entfremdung und Verdinglichung waren nicht Objekte der Identifikation, um die Totalität des letzten Standes im Geschichtsprozeß zum Gegenstand eines unteilbaren Erlebnisses machen zu 34 Gunter Martens, Vitalismus und Expressionismus, S. 150.

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können, es waren keine Räume der Selbstverwirklichung, sondern der Überwindung. Auf dem Hintergrund der Lebensphilosophie wird die .Selbstverwirklichung' als Ziel aller Aktion und Reaktion menschlicher Existenz - in Analogie zum biologischen Evolutionsschema — im ,hic et nunc', also in offener Opposition gegen eine religiös verklärte Vertröstungsideologie, vor allem auf dem Hintergrund der Kulturkritik Nietzsches, für einen Teil der Literatur der Jahrhundertwende als Identität von Kunst und Leben signifikant. Jedoch: der potentielle Verwirklichungsraum einer so qualifizierten Utopie ist durch die sozialen Antagonismen begrenzt. Er steht als unbegrenztes Feld aller im Tagtraum realisierbaren Erlebnisse schon lange nicht mehr zur Verfügung, denn die Aneignung der potentiellen Räume unentfremdeten Existierens im rationalisierten und technifizierten Verwertungszusammenhang der warenproduzierenden Gesellschaft zu Objekten profitorientierter Expansion ist abgeschlossen. Der Versuch, voluntaristisch die „klassifikatorische Grenze" zwischen utopischer Intention und potentieller Realisation zu überspringen, muß in der beschriebenen Konstellation zur ideologischen Verklärung des bereits eindeutig sozial konnotierten und in Besitz genommenen (gesellschaftlichen) Raumes werden. Deshalb, weil der intendierte ,Erlebnisraum ' ein realer Herrschaftsraum ist. Das unentfremdete ,Erlebnis' ist nur jenseits antagonistischer Widersprüche möglich, weil der gesellschaftliche Raum, dem diese ihre Physiognomie aufzwingen, unteilbar ist. Der im poetischen Modell realisierte Aufbruch in die Wirklichkeit des historisch Konkreten, das als Erlebnis gegen die Irrealität der Träume rezipiert werden soll, verschleiert das Objekt der Aneignung, das Ziel des Aufbruchs, zu einem Phänomen der freien, existentiellen Entfaltung, als ob denn das Subjekt des Aufbruchs außerhalb der Wirklichkeit stände, als ob es überhaupt sich auf den Weg machen könnte. Der voluntaristische Vorsatz, in die „Totalität des Lebens" (Martens) eingehen zu wollen, setzt jenen Standort voraus, der scheinbar außerhalb der wirklichen, realen Verhältnisse seinen perspektivischen Fluchtpunkt hat. 3 5 Hier haben die 35 Vgl. dazu Karel Kosiks Thesen zur „leeren", „abstrakten" Totalität" (Κ. K., Die Dialektik des Konkreten, S. 58f.).

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und

„falschen

ästhetizistische l'art pour l'art-Poesie und die ihr konträr entgegenstehende vitalistische Lebensutopie in der Lyrik der Jahrhundertwende ihren kleinsten gemeinsamen ideologischen Nenner: zu glauben, Kunst und Leben könnten identisch werden oder aber, die Realität könne erreicht werden, indem die autonome Hermetik der Kunst verlassen würde. Das Erfahrungspotential, die Erlebnisfulle der ,Totalität des Lebens' gegen die Verstümmelung des realen historischen Subjekts als regulative Idee zu behaupten, also die Degeneration der individuellen Entfaltung und Bedürfnisbefriedigung im Horizont der Kritik zu negieren, müßte die „klassifikatorische Grenze" zwischen Kunst und Wirklichkeit signalisieren. Dort, wo der Aufbruch gelingt, wo die Grenze übersprungen wird, eröffnet sich nicht der Raum unentfremdeten Erlebens, sondern der entfremdete Raum : gesellschaftlich figuriert oder traumadäquat aus dem Potential der Idyllen zitiert. Er wird in seiner Entfremdung zur jHeimat' stilisiert. Zwar ist die Totalität aller Erfahrungen — auch der sozial konnotierten - als Erlebnispotential gesichert, aber um den Preis, mit dem vorlieb nehmen zu müssen, was zum .Erlebnis' erklärt wird, d.h. was zur Reproduktion des ,Ensembles der gesellschaftlichen Verhältnisse' opportun erscheint. Ende Nur eines noch: viel Stille um sich her wie weiche Decken schlagen, Irgendwo im Alltag versinken, in Gewöhnlichkeit, seine Sehnsucht in die Enge bürgerlicher Stuben tragen, Hingebückt, ins Dunkel gekniet, nicht anders sein wollen, geschränkt und gestillt, von Tag und Nacht überblüht, heimgekehrt von Reisen Ins Metaphysische - Licht sanfter Augen über sich, weit, tief ins Herz geglänzt, den Rest von irrem Himmelsdurst zu speisen Kühlung Wehendes, Musik vieler gewöhnlicher Stimmen, die sich so wie Wurzeln stiller Birken stark ins Blut dir schlagen, Vorbei die umtaumelten Fanfaren, die in Abenteuer und Ermattung tragen, Morgens erwachen, seine Arbeit wissen, sein Tagewerk, festbezirkt, stumm aller Lockung, erblindet allem, was berauscht und trunken macht, Keine Ausflüge mehr ins Wolkige, nur im Nächsten noch sich finden, einfach wie ein Kind, das weint und lacht, Aus seinen Träumen fliehen, Helle auf sich richten, jedem Kleinsten sich verweben, Aufgefrischt wie vom Bad, ins Leben eingeblüht, dunkel dem großen Dasein hingegeben. (D.A..S.24)

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Gelungen ist nicht der Aufbruch in die ,Realität' als Interpretation des .realisierten Aufbruchs' im intratextuellen Raum des Gedichts, wenn aus der hermeneutisch-kritischen Distanz der Begriff der .Realität' aus seiner Hypostasierung gelöst und in der geschichtlichen Konkretion des Werkes in seiner metaphorischen Valenz transparent wird. Vollzogen wurde der Rückzug in die (epigonale) Lebens-Utopie der Jahrhundertwende: allerdings werden im Transformationsprozeß des Basisideologems die schabionisierten Requisiten destruiert. Nicht mehr die standardisierten Muster 36 des artifiziellen .schönen Scheins' oder der heroischen Szenerie drapieren das unentfremdete Erlebnis, sondern das „Tagewerk", das Produkt des,Tagelöhners', wird zu dessen Inhalt, „die Ende bürgerlicher Stuben" zum Décor, die „Gewöhnlichkeit" zur Staffage. 37 Modellierte Stadler in den „Praeludien" eine .hermeneutische Kunstwelt', eine Traumsphäre, erotisch-artifiziell, sinnlich-exotisch, organizistisch-floral, so konkretisiert er im Gedicht „Ende" das,Stirb und Werde'-Ideologem, wie es in der erweiterten Äquivalenzklasse (erweitert durch das sozial konnotierte semantisch-lexikalische Affinitätsfeld) im Werkkontext von René Schickele dargestellt worden ist. „Im Alltag versinken", „von Tag und Nacht überblüht", „ins Leben eingeblüht", „dunkel dem großen Dasein hingegeben" sind konkrete Allusionen im Kontext des .Entstehens und Vergehens', der naturmetaphorisch kodierten ,All-Identität' des Individuums. Die organizistische Metaphorik verweist zudem in ihrer Funktion, das lyrische Subjekt

36 Vgl. dazu zum Beispiel die Subsysteme der Anthologie „Lyrik des Jugendstils", mit einem Nachwort hg. von Jost Hermand, Stuttgart 1964 (= Reclams Universal-Bibliothek Nr. 8928): „Tanz und Taumel", „Lebensrausch", „Der große Pan", „Monistisches Verwobensein", „Frühlingsgefühle", „Blütenzauber", „Weiher und Kahn", „Schwäne", „Traum durch die Dämmerung", „Schwüle Stunde", „Das Wunder des Leibes", „Künstliche Paradiese". 37 Zu einem direkt entgegengesetzten Urteil kommt Gunter Martens (Vitalismus und Expressionismus, S. 150). Vgl. mit ähnlichem Ergebnis wie Martens Karl Ludwig Schneider (Ernst Stadler, Dichtungen, Erster Band, S . 6 8 und: Kunst und Leben im Werke Ernst Stadlers, S . 1 8 6 f . ) . Vincent J. Cosentino sieht sogar (neben der „Worttrunkenheit") „den Aufbruch in eine ethische Interpretation der Dichtung", wie sie Walt Whitman repräsentiere (V.J.C., Walt Whitman und die deutsche Literaturrevolution. Eine Untersuchung über Whitmans Einfluß auf die deutsche Dichtung seit Arno Holz, [Diss.] München 1968, S. 91).

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absolut mit seiner Umwelt zu identifizieren, es in einer harmonistischen Metamorphose durch Aufgabe der Individuation zu integrieren, auf die trivial-mystizistische Tradition der kosmischen Entgrenzung'. Die verdinglichende Identifikation des lyrischen Subjekts mit den entfremdeten Verhältnissen - in der banalen Verklärung des .kleinen Lebens' zum ,stillen Glück' — statt einer radikalen Insistenz auf die negierende Autonomie repräsentiert auch im Umfeld der fortschrittlichen Literatur am Vorabend des Ersten Weltkriegs den Verfall der progressiven Latenz in der bürgerlichen Utopie', welche die Autonomie des sich von seinen Fesseln emanzipierenden bürgerlichen Subjekts in und gegenüber den von ihm geschaffenen Verhältnissen zum Inhalt der ökonomischen und der politischen Legitimation hatte. Hinwendung zur Realität durch Kunst ist nur in deren kritischer Negation der Wirklichkeit zu erreichen. Wo im poetischen Modell das Abbild historisch sich konkretisierender Entfremdung, die Verklärung der „Enge bürgerlicher Stuben" zum konkret utopischen Horizont, mit der totalisierenden Metaphorik des ,Stirb und Werde'-Ideologems kontaminiert wird, offenbart der Widerspruch zwischen utopischer Intention und noch möglicher stofflicher Realisation den ästhetischen Gehalt des ,Aufbruch'-Themas. Die utopische Intention zielt ab auf die vitalistische Entfaltung über alle „klassifikatorischen Grenzen" objektiver gesellschaftlicher Bedingungen, während die noch mögliche stoffliche Realisation schon die vom isolierten Individuum unabhängige Soziabilität des gesellschaftlichen Raumes umgreift, der in seiner anonymisierten bedrohlichen Dominanz nicht mehr aus dem thematischen Rahmen der Kunst eskamotiert werden kann. Der Wunsch, „irgendwo im Alltag versinken", korrespondiert in Stadlers Text mit seiner Erfüllung; und der objektive Widerspruch zwischen utopischer Intention und stofflicher Realisation wird aufgehoben in einer subjektivistischen Verklärung: „Hingebückt, ins Dunkel gekniet, nicht anders sein wollen, geschränkt und gestillt, von Tag und Nacht überblüht, heimgekehrt von Reisen / Ins Metaphysische — Licht sanfter Augen über sich, weit, tief ins Herz geglänzt, den Rest von irrem Himmelsdurst zu speisen". Ludwig Klages hat dies später mit der Sehnsucht nach dem „kosmogonischen Eros" und seiner vitalen Präsenz im Humanum umschrieben, wenn er den „Eros" mit „elementar oder kosmisch" definierte, „sofern das von ihm ergriffene 95

Einzelwesen sich erlebt als durchpulst und durchflutet von einem gleichsam elektrischen Strom, der wesensähnlich dem Magnetismus unbekümmert um ihre Schranken einander fernste Seelen im verbindenden Zug sich gegenseitig erspüren läßt, das Mittel selber alles Geschehens, welches die Körper trennt, den Raum und die Zeit, in das allgegenwärtige Element eines tragenden und umspülenden Ozeans wandelt und dergestalt unbeschadet ihrer nie zu mindernden Verschiedenheit zusammenknüpft die Pole der Welt. Und er heißt kosmogonisch, weil er ein Zustand sich ergießender Fülle ist, welchem gemäß das Innere — sofern sich auch ausgebärend — augenblicklich ein Äußeres, Welt und erscheinende Wirklichkeit wird." 3 8 Der .dionysische Rausch' in der „Enge bürgerlicher Stuben", der „kosmogonische Eros" im „Tagewerk" — in der erbärmlichen Existenz des Tagelöhners — : 3 9 der Aufbruch in die Realität erweist sich als „Flucht" 40 in die Epigonalität, wobei im Destruktionsprozeß der Folie, die ja nur noch über innovative Elemente (zum Beispiel die Applikation auf das sozial konnotative Umfeld) transformiert werden kann, die Entwicklung innerhalb der literarischen Evolution vom Ä sthetizismus zum Expressionismus deutlich wird. Auf dem Hintergrund einer so chiffrierten und apokryph transformierten Basis lebensphilosophischer Ideologeme war die Destruktion der ,Weltflucht' im l'art pour l'art und der bloßen Abbildung der Oberfläche gesellschaftlicher Phänomene im Naturalismus nicht möglich. Das Verschmelzen signifikanter Elemente aus beiden genannten Kunstprogrammatiken ergibt zwar nicht als Konglomerat den Expressionismus, es zeigt jedoch das Dilemma, in dem der (Früh)expressionismus im Widerspruch zwischen utopischer Forderung und ideologischer Basis als Klärungsprozeß verständlicher wird. Auf dem Hintergrund der so in ihrer literarischen Evolution als Transformation des Basisideologems und Destruktion seiner paradigmatischen Entfaltungsräume prozessual erfaßbaren .Aufbruchs'38 Ludwig Klages, Vom kosmogonischen Eros, 2., erweiterte Aufl. Jena 1926, S 58. Die 1. Aufl. erschien 1918. 39 Vgl. zur gesellschaftlichen Dimension der „menschlichen Subjektivität" als „Armut, Bedürftigkeit, Entleertheit", als „bloß abstrakte Möglichkeit" und „Sehnsucht" Karel Kosik, Die Dialektik des Konkreten, S. 121. 40 So der Titel des ersten Abschnitts im Gedichtband „Der Aufbruch" (5.9-31).

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Thematik können die für Stadlers expressionistischen .Neubeginn' zitierten Texte „Fahrt über die Kölner Rheinbrücke bei Nacht" (D. Α., S. 64), „Form ist Wollust" (D. Α., S. 30) und „Der Aufbruch" (D. Α., S. 31) in der zur Schablone werdenden Modellierung des oben skizzierten Dilemmas interpretiert werden. Wenn das Basisideologem des .Werdens', des ,Sich-Verwirklichens', als Vergehen und Entstehen im Zusammenhang der Totalität des Lebens, in der bedingungslosen Identifikation mit allen realen und potentiellen Erfahrungen der Wirklichkeit zur Grundlage der poetischen Idee wird, dann können die Paradigmen ihrer poetischen Modellierung — in Grenzen — fakultativ werden. Der Aufbruch selber, hypostasiert in der Antizipation seiner befreienden, entgrenzenden Wirkung, realisiert die utopische Intention. Die Aufbruchs-Thematik ist bei Stadler immer schon kodiert in die Metaphorik der realisierten Ankunft, der entspannenden Versöhnung mit der Lebensgier im Augenblick höchster Erfüllung: Weil jeweils das Basis-Ideologem des ,Stirb und Werde' die Grundlage des poetischen Modells ist, erscheint dessen Realisation in einer relativ homogenen und analogen Metaphorik als Variation des Immergleichen. Dabei müssen die möglichen synonymischen Äquivalenzen des ,Stirb und Werde'-Musters für die Variationsbreite der ästhetischen Strukturierung mitbedacht werden. .Sterben und Werden', ,Niederlage und Sieg', .Vergehen und Entstehen', .Vereinigen und Entgrenzen', .Verschenken und Empfangen' varüeren das Grundmodell in der .Krieg und Kampf'-, ,Natur und Jahreszeiten'-, ,Eros und Thanatos'-Metaphorik. So heißt es im Gedicht „Vorfrühling" (D.A., S.27): „Die Schleusen knirschten. Abenteuer brach aus allen Fernen. / Ueberm Kanal, den junge Ausfahrtwinde wellten, wuchsen helle Bahnen, / In deren Licht ich trieb. Schicksal stand wartend in umwehten Sternen. / In meinem Herzen lag ein Stürmen wie von aufgerollten Fahnen" (D.A., S.27). Die Schlußsequenz des Textes „Die Befreiung" (D.A., S.52) zitiert als Paradigma anstatt,Kampf',,Natur' oder ,Eros' das Vereinigungs-Motiv im Kontext der gesellschaftlich Depravierten, der Geächteten und aus dem sanktionierten sozialen Rahmen Ausgeschlossenen, aber nicht aus sympathetischem Mitleid oder Sozialpathos, sondern weil im Erlebnisspektrum des totalen Erfassens aller exzeptionellen Augenblicke, 97

aller enervierenden Spannungen die Bedingung des Außergewöhnlichen erfüllt ist (was in der Destruktion des .Erlesenen, Erhabenen, Weihevollen, Traumadäquaten' selbst die ,Not' und die Médiocrité sein können, wie im Gedicht „Ende"): „Mir aber brach die Liebe alle Türen auf, die Hochmut mir gesperrt: / In Not Gescharte, Bettler, Säufer, Dirnen und Verbannte / Wurden mein lieb Geschwister. Meine Demut kniete vor dem Licht, das fern in ihren Augen brannte, / Und ihre rauhen Stimmen schlossen sich zum himmlichen Konzert. / Ich selbst war dunkel ihrem Leid und ihrer Lust vermengt — Welle im Chor / Auffahrender Choräle. Meine Seele war die kleinste Glocke, die im Dorfkirchhimmel der Gebete hieng / Und selig läutend in dem Uberschwang der Stimmen sich verlor / Und ausgeschüttet in dem Tausendfachen untergieng" (D. Α., S. 52). Die in der Forschungsliteratur berühmt gewordene Absage an den ,Asthetizismus' — die Invektive gegen Georges ,Zucht und Strenge' im Verfertigen von Reimen —, das Bekenntnis zum ,Expressionismus' (?), zur ,ganzen Wirklichkeit', erfaßt die »Schablone' in der antithetisch modellierten Rhetorik einer begrifflichen Argumentation: Form ist Wollust Form und Riegel mußten erst zerspringen, Welt durch aufgeschlossne Röhren dringen: Form ist Wollust, Friede, himmlisches Genügen, Doch mich reißt es, Ackerschollen umzupflügen. Form will mich verschnüren und verengen, Doch ich will mein Sein in alle Weiten drängen Form ist klare Härte ohn' Erbarmen, Doch mich treibt es zu den Dumpfen, zu den Armen, Und in grenzenlosem Michverschenken Will mich Leben mit Erfüllung tränken. (D.A..S.30)41

Die Aufbruchs-Metaphorik konkretisiert nicht das Leid des Subjekts, die Distanz zu seiner Verwirklichung in unentfremdeter Existenz: nicht die realen Bedingungen seiner Entfremdung werden im Aufscheinen 41 Vgl. dazu auch Karl Ludwig Schneider, Die Dichtung, S. 100. Vgl. auch die kritische Interpretation dieses Textes bei Hans-Georg Kemper, Vom Expressionismus zum Dadaismus. Eine Einführung in die dadaistische Literatur, Kronberg/Taunus 1974 (= Scriptor Taschenbuch 50), S. 6 0 - 6 4 ; besonders S. 63.

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der „klassifikatorischen Grenze" zu seinen Möglichkeiten reflektiert und in ästhetische Erfahrung umgesetzt. Wird das lyrische Ich als Erfahrungsraum in seiner ästhetischen Funktion zur kritischen, negativen Instanz in einer entfremdeten und verdinglichten und gegen eine entfremdete und verdinglichte Wirklichkeit gemacht, dann kann die Aufbruchs'-Thematik nur noch das ,Wegvon-hier' (Kafka) zum parabolischen Ziel ausformen, indem die Unmöglichkeit der Bedingungen deutlicher wird, die das lyrische Subjekt nicht mehr als möglichen Raum der Existenz, der Identifikation, des ,Verweilens' akzeptiert. Und ist in Kafkas Prosastück ,,Der Aufbruch" als „ ,Ziel' (...) nur das ,Weg-von-hier' formulierbar: die radikale Kritik des Bestehenden", dann ist die Realität in ihren historisch objektiven Bedingungen als konkrete Totalität aller Erscheinungen — durch das poetische Modell erfaßt, weil im Werk nicht die Versöhnung des lyrischen Subjekts durch den scheinbaren Aufbruch in die abstrakte Faktizität geleistet wird, sondern weil der Mangel, das Synonym für Wirklichkeit, als Faktum erkannt ist, das es zu überwinden gilt. 42 Wenn in Stadlers Konkretisation des ,Aufbruchs' die Ankunft in dieser Realität, in der Alltäglichkeit der ,Sorge' (Kosik), als Fest des Subjekts, als emphatische, ekstatische Feier des lyrischen Ichs Wirklichkeit werden kann, zum kindlichen Erlebnis', dann wird die Geschichtlichkeit des Augenblicks zu einer ungewordenen, unveränderlichen, ja unentstandenen Größe hypostasiert, die in einer irrational-mystizistischen Verklärung identisch wird mit dem eigenen ,Leben'. 43 Wo aber die subjektiven Bedingungen des lyrischen Ichs' und die objektiven Bedingungen seiner potentiellen Identifikationsräume im intentionalen Horizont einer alle Entfremdung und Verdinglichung eskamotierenden Idylle zusammenfallen, dort kann eine 4 2 Vgl. zur Dialektik der „Faktizität der Fakten" und der „Wirklichkeit der Fakten" Karel Kosik, Die Dialektik des Konkreten, S.51. 43 „Der Standpunkt der konkreten Totalität hat nichts gemein mit dem holistischen, dem organizistischen oder dem neuromantischen Ganzheitsbegriff, der das Ganze gegenüber den Teilen hypostasiert und eine Mythologisierung des Ganzen durchführt. Die Dialektik kann die Totalität nicht als fertiges oder formalisiertes Ganzes begreifen, das die Teile bestimmt, denn in die Bestimmung der Totalität selbst gehört die Genesis und Entfaltung der Totalität" (Karel Kosik, Die Dialektik des Konkreten, S. 53 f.).

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konkret auf Herrschaft und Unterdrückung sich stützende Gesellschaftsform ihre Praxis zum Paradies auf Erden ideologisch überhöhen. Stadlers Bild des,Aufbruchs' schließt das Bild der .Ankunft' ein: die logische Implikation im ,Stirb und Werde'-Ideologem wird rekapituliert. Die Realität als eine in ihren objektiven Bedingungen zu überwindende kann zu einem ßrlebnis' stilisiert werden: „Der Schnellzug tastet sich und stößt die Dunkelheit entlang. / Kein Stern will vor. Die ganze Welt ist nur ein enger, nachtumschienter Minengang /(...) Wir fliegen, aufgehoben, königlich durch nachtentrissne Luft, hoch übern Strom. (...) Und dann die langen Einsamkeiten. Nackte Ufer. Stille. Nacht. Besinnung. Einkehr. Kommunion. Und Glut und Drang / Zum Letzten, Segnenden. Zum Zeugungsfest. Zur Wollust. Zum Gebet. Zum Meer. Zum Untergang" („Fahrt über die Kölner Rheinbrücke bei Nacht", D.A., S.64). Wenn die ideologische Valenz des .Erlebnisbegriffs' mit der utopischen Intention des Autors verwechselt wird, 44 kann selbst „die Identifikation von höchster Selbstverwirklichung und Untergang" noch „sinnbildlich" gedeutet werden: als „Bewährung des .Mensch, werde wesentlich' (,Der Spruch') vor jeder begegnenden Wirklichkeit" 4 5 Auch Helmut Uhlig weist zunächst darauf hin, man habe „das Titelgedicht des , Aufbruch' oft im Sinne eines patriotischen Ja-Sagens zum Kriege verstehen wollen. Sein Vokabular — Fanfaren, Tambourmarsch, Kugelregen, Biwakfrühe, Helm und Bügel, Siegesmärsche —" mute „in der Tat sehr militärisch, sehr kriegerisch an." Betrachte „man hingegen die Aussage der Versfolge unter dem Gesichtspunkt des Bewegungsmoments, so" trete „hinter dem Bekenntnishaften gerade hier ganz deutlich das Biographische — der Kampf gegen die Widerstände der Zeit, Selbstentäußerung und Selbstbesinnung, 44 Vgl. z.B. Emst Schiirer, Ernst Stadler. Der Spruch, in: Gedichte der „Menschheitsdämmerung". Interpretationen expressionistischer Lyrik mit einer Einleitung von Kurt Pinthus, hg. von Horst Denkler, München 1971, S. 1 - 1 7 , besonders S. 14. 45 Werner Kohlschmidt, Ernst Stadler, in: Expressionismus als Literatur, S. 290f. Werner Kohlschmidt hat allerdings an anderer Stelle auch hinsichtlich dieses Textes einen Zug zum Irrationalismus festgestellt: „Es ist mythisches Nennen, magischer Ruf, syntaktische Parataxe: kein Schrei", eine „Verwandlung stark naturalistischer Wirklichkeit in Expression" (W.K., Die Lyrik Ernst Stadlers, in: Der deutsche Expressionismus. Formen und Gestalten, hg. von Hans Steffen, Göttingen 1965, S. 25-43;Zitat S. 40f.

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Erkenntnis des Zwiespalts und Sehnsucht nach seiner Überwindung als eigentliches Thema hervor." 46 Gerade im leitmotivischen Text „Der Aufbruch" aber eliminiert Stadler alle sozial konnotativen Referenzen. Auch hier realisiert die Schlußsequenz im Beispiel der Schlacht und des Kampfes — .zitiert' aus der von Schickele schon 1902 analog eingesetzten Metaphorik das ,Stirb und Werde'-Ideologem, allerdings unverschlüsselt: Vorwärts, in Blick und Blut die Schlacht, mit vorgehaltnem Zügel. Vielleicht würden uns am Abend Siegesmärsche umstreichen, Vielleicht lägen wir irgendwo ausgestreckt unter Leichen. Aber vor dem Erraffen und vor dem Versinken Würden unsre Augen sich an Welt und Sonne satt und glühend trinken. (D. Α., S. 31)

Dort, wo der ,Aufbruch' im Bild des Kampfes und der Schlacht das abstrakte Modell schaffen soll, welches die subjektive Entgrenzung des Individuums aus der Potentialität in die Realität überführt, wird der Text ideologisch funktional. Wieder — und hier ist die Epigonalität eindeutig — wird das von seinem sozialen Konnex isolierte Individuum zum heroischen Einzelkämpfer, dessen Vision eines rauschhaften Untergangs zum romantizistisch drapierten Ziel, das diffus jenen Bereich einer Emotionalität spiegelt, die im verklärenden Pathos das Feld der realen Bedürfnisse zudeckt. (Baudelaire hat in seinem Gedicht „Le coucher du soleil romantique" die irreversible Absage an die .romantische Schule' in dem Moment der historischen Entwicklung festgeschrieben, wo der sich entwickelnde „Hochkapitalismus" ein Bildpotential destruierte, welches unter anderen Produktionsverhältnissen noch ein utopisches Moment freisetzen konnte: ,,— Bienheureux celui-l'à qui peut avec amour / Saluer son coucher plus glorieux qu'un réve!" 47 ) Die Identifikation des , Aufbruchs' mit vitalster Entgrenzung, erregendstem Erlebnis und dem impliziten Ziel der größten Entspannung, der latenten ,Eros-Sexus'-Symbolik, wird zum Modell der poetischen 46 Helmut Uhlig, Vom Ästhetizismus zum Expressionismus, S. 89. Zu einem ähnlichen Ergebnis kommt Helmut Thomke, Hymnische Dichtung im Expressionismus, Bern 1972, S. 106f. 47 Charles Baudelaire, Le coucher du soleil romantique, in: C. B., Die Blumen des Bösen. Deutsch und Französisch, übertragen von Carl Fischer, Nachwort von Herbert Cysarz, 5. Aufl. Darmstadt 1966, S. 262.

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Idee. Aber gerade das paradigmatische Modell des , Außruchs' greift auf das Bild vom Sturmangriff zurück, analog der Schablone aus René Schickeies „Christus"- und )rJulian"-Zyklen, um die von der Singularität und Partialität der Abbildung eines alltäglichen Ereignisses befreite abstrakteste und zugleich in ihrer Allgemeinheit für andere Paradigmen konkreteste Figur eines vitalistischen Spannungsbogens zu erfassen. „Sie trinken Kugeln", heißt es bei Schickele („Die rote Nacht", P., S.46), und Stadler rekapituliert als literarisches Zitat' im Anspielungshorizont der Jahrhundertwende-Lyrik: „Einmal schon haben Fanfaren mein ungeduldiges Herz blutig gerissen, / Daß es, aufsteigend wie ein Pferd, sich wütend ins Gezäum verbissen. / Damals schlug Tamburmarsch den Sturm auf allen Wegen, / Und herrlichste Musik der Erde hieß uns Kugelregen" (D.A., S.31). Selbst Schickeies Verklärung der entfremdeten Sehnsucht nach einer unentfremdeten Erfüllung in eine chthonische Urgewalt („In ihren Sinn riß Mutter Erde / ihre Kinder fürchterlich zurück"; P., S. 46) ist als Allusion bei Stadler in der metaphorischen Kontamination von „Musik der Erde" und „Kugelregen" aufgenommen worden. Daß die ,Aufbruchs'-Thematik in ihrer abstraktesten Modellierung den ,Kampf' und die ,Schlacht' als heroisch konnotiertes lexikalischsemantisches Affinitätsfeld abruft, zeigen die reale Distanz von der ,Realität' und das ideologische Substrat, welches ohne Modifikationen — im veränderten historischen Kontext nach 1914 — im Horizont des Hurra-Patriotismus funktional werden konnte. Der Text ist nicht konzipiert worden, um Kriegsbegeisterung zu schüren: allerdings ist die ästhetische Qualität nicht von seiner Geschichtlichkeit zu trennen; und die Transformation des literarischen Anspielungshorizontes — die Lyrik um 1900 — ohne das signifikante Abstecken „klassifikatorischer Grenzen", welche eine reaktionärapologetische Lesart verhinderten, enthistorisiert die utopische Intention. Das Modell wird anschließbar an einen beliebigen historischen Kontext. Als unbedingter Wille zum Erfassen des ganzen .großen wie kleinen Lebens' ist die Kampf-Metaphorik interpretiert worden: „Aber eines Morgens rollte durch Nebelluft das Echo von Signalen, / Hart, scharf, wie Schwerthieb pfeifend. Es war wie wenn im Dunkel plötzlich Lichter aufstrahlen. / Es war wie wenn durch Biwakfrühe Trompetenstöße 102

klirren, / Die Schlafenden aufspringen und die Zelte abschlagen und die Pferde schirren. / Ich war in Reihen eingeschient, die in den Morgen stießen, Feuer über Helm und Bügel" (D.A., S.31). - Die Geschichtlichkeit des Textes konkretisiert sein ideologisches Substrat, und dies vielleicht am deutlichsten an der Biographie Stadlers: nicht etwa, weil die in der Stadler-Forschung vertretene These von der Konvergenz des Werkes mit dem Leben auch in Stadlers eigenem Tod zum letzten Male sinnfällig werden könnte, sondern weil die Beschreibung seines sinnlosen Krepierens am 30. Oktober 1914 „südöstlich von Ypern bei Zandvoorde" den gegen einen heroischen Heldentod und seiner Verklärung zum ,Stirb und Werde' stehenden austauschbaren, im anonymen millionenfachen Massensterben real und im alltäglichen Ereignis banal gewordenen ,Opfergang fürs Vaterland' deutlicher werden läßt. Dr. Koch, ein Freund Stadlers, an dem dieser noch drei Stunden vor seinem Tod vorbeigeritten war — in die ^Schlacht'-, berichtete 1915 in den „Weißen Blättern": „Kam einer hereingegangen mit fragenden Augen und leicht vornübergeneigt. ... Es war ein Offizier aus dem Regiment meines gefallenen Freundes. Meines Freundes, den ich aufrechter Haltung und knabenhaft melancholisch drei Stunden vor seinem Abgang wie ein Phantom aus Morgengrauen und banger Ahnung zur Grenze hatte reiten sehen. Ein hämischer Zufall hatte ihn wie eine lebendige Puppe flüchtig noch einmal an mir vorbeigleiten lassen. Der Offizier erzählt: Es war ein Grauen damals. Schwerste Granaten stoben wie Sternschnuppenfall. Die Batterien waren eben ganz vorn in Stellung gegangen. Schon brachten wir die ersten Zünder heraus. Doch ihn — er hielt sich knapp dahinter, er setzte vor einem anspringenden satanischen Gesumme durch eine offne Haustür, der eiserne Höllenschreck tanzte hinterdrein, legte dem Ärmsten das Kleinhirn auf, setzte ihm den Vorderarm ab und schlug seinen Körper in die Düsternis eines offenen Kellerlochs ... Ich hatt einen Kameraden". 48 Der Bericht ist zynisch: aber er legt offen, wieviel noch an utopischem Potential Stadlers Gedicht „Der Aufbruch" gegen die Zeit freisetzen konnte - „Vielleicht würden uns am Abend Siegesmärsche umstreichen, / Vielleicht lägen wir irgendwo ausgestreckt unter Leichen. / 48 Karl Ludwig Schneider, Das Leben, in: Ernst Stadler, Dichtungen, Erster Band, S. 9 - 5 2 ; Zitat S.49f.

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Aber vor dem Erraffen und vor dem Versinken / Würden unsre Augen sich an Welt und Sonne satt und glühend trinken" - ! „Die Nähe zum Verklärungspathos des Jugendstils läßt es fraglich erscheinen", hat Horst Fritz zurecht klargestellt, „ob bei Stadler , Aufbruch' tatsächlich den ,Ersatz des unwirklich Gewordenen durch eine neue Wirklichkeit' (...) 49 darstellt. Vielmehr scheint es, daß der subjektivistische Entwurf bei Stadler nur von der Introversionstendenz der Präludien' zur Extroversion des,Aufbruchs' umschlägt, ohne daß jedoch die subjektivistische Haltung der Realität gegenüber sich geändert hätte, da beide Verhaltensweisen (...) einen gemeinsamen Bezugspunkt haben." 5 0 Es ist jedoch nicht nur ein bloßes ,Umschlagen' von ,Introversion' in ,Extroversion' konstatierbar, weil so die literarische Evolution in der durchaus widersprüchlichen Einheit von Transformation und Destruktion zu mechanizistisch geglättet wird, obgleich der Kern der Kritik festgehalten werden sollte. Der Anspruch, den hermetisch artifiziellen Raum der funktionslos zum Décor erstarrten Kunst — die auserlesene Staffage der Geldaristokratie — wieder in Kommunikabilität und Soziabilität aufzulösen, ohne in der naturalistischen Abbildung der sozialen Oberflächenphänomene steckenzubleiben, und dies auf der Folie einer vitalistischen Lebens-Utopie, welche auch die Emanzipation der Sinnlichkeit in ihren Horizont aufgenommen hat, kann nicht mehr zurückgenommen werden. Allerdings trägt in der Stadlerschen Modellierung der ,Aufbruchs'-Thematik, womit nicht alle seine Texte erfaßt sind, sl die nur noch ,zitierte' Schablone aus dem ideologischen Kontext der Lyrik der Jahrhundertwende das Konzept der utopischen Intention nicht.

4 9 Horst Fritz grenzt sich hier ab gegen Werner Kohlschmidt, Die Lyrik Ernst Stadlers, S. 35. 50 Horst Fritz, Literarischer Jugendstil und Expressionismus, S. 2 6 6 f . 51 Vgl. zum Beispiel den Text „Ballhaus", in: Ernst Stadler, Dichtungen, Erster Band, S. 195 f.

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4. Ernst Wilhelm Lötz: Kritische Kontrafaktur - und falsche Konsequenzen a) Biographische Notizen und Thesen aus dem Forschungsstand Ernst Stadler fiel am 30. Oktober 1914; Ernst Wilhelm Lötz schon am 26. September als Leutnant und Fjührer der 1. Kompanie des Infanterie-Regiments Nr. 143 bei einem Sturmangriff „(Gewehrschüsse in Kopf und Brust) im ersten französischen Schützengraben südlich der Hurtebise-Ferme südwestlich Bouconville" (Departement Aisne/ Frankreich), 1 nachdem ihm am 7. September das Eiserne Kreuz II. Kl. ,wegen hervorragender Tapferkeit vor dem Feinde' zuerkannt worden war: ,,Neun Kreuze dieser Klasse sind dem Regiment verliehen worden für die Offiziere, die sich bisher im Feldzug durch besonderen Heldenmut ausgezeichnet haben. Es ist mir eine Genugtuung, zu diesen Ausgezeichneten zu gehören; ich bin der jüngste dieser Zahl; der Orden - sicherlich der schönste - ist eine Quittung für den schweren Kampf auf der Höhe bei Raon-l'Etape, wo meine Kompanie allein gegen dreifache Übermacht siegreich standgehalten hat, leider aber 87 tapfere Leute einbüßen mußte." 2 Der hier im Jargon des preußischen Offizierkorps über Ruhm und Ehre berichtet, hatte schon als 21 jähriger Leutnant zu Beginn seiner militärischen Karriere den Kasernenhofton und den öden Drill satt, der ihn doch nur von seiner eigentlichen Arbeit als ,Literat' abhielt („soll ich wieder wie voriges Jahr die Winternächte hindurch bis ein, zwei Uhr wachbleiben und arbeiten, weil mir am Tage keine Zeit gelassen wird, und früh morgens todmüde zum Dienst gehen?" 3 ), und quittierte den Dienst in der Armee, um „Schriftsteller, d.h. Boëhmien < sic) in München" zu werden. 4 Denn „wenn der ganze materielle Ertrag meines Berufslebens hier der ist, 1

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Horst W, Müller, Die Briefe von und an Ernst Wilhelm Lötz. Ein Verzeichnis mit biographischem Abriß und einem erstveröffentlichten Brief, in: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft, 11. Jg. (1967), S. 568. Brief vom 9.9.1914 an Henny Lötz, in: Ernst Wilhelm Lötz, Prosaversuche und Feldpostbriefe. Aus dem bisher unveröffentlichten Nachlaß, hg. von Hellmut Draws-Tychsen, München 1955, S. 8 0 f . Brief vom 23.9.1911 an die Eltern, in: Horst W. Müller, Die Briefe von und an Ernst Wilhelm Lötz, S. 570. Brief vom 23.9.1911, S. 571.

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daß ich eine angesehene Stellung bekleiden und eine kleidsame Uniform tragen darf", teilt er seinen Eltern 1911 nach langem Zögern aber entschlossen mit, „sonst aber sehr eingeschränkt leben muß, daß ich dabei noch oft sehr unwürdig behandelt werde, - o so will ich lieber: auf die angesehene Stellung und schöne, stolze Kleidung verzichten, will dafür aber meine Arbeitskraft und -Zeit frei für mich haben; will eingeschränkt leben und wohnen, mich bescheiden kleiden, mich aber nicht unwürdig behandeln lassen. Was für ein Amt ich versehen werde, ist mir gleichgültig, und wäre es noch so bescheiden, wenn ich es nur schnell wechseln kann, falls es mir nicht behagt, und wenn ich meine mir zukommende, mir eigentümliche Arbeitsanlage verwenden kann. — ..." s Ernst Wilhelm Lötz distanziert sich in diesem Dokument offensichtlich von der extremsten Erscheinung preußischwilhelminischer Autorität, die für ihn kein Identifikationsobjekt mehr darstellen kann, obgleich seine Sozialisation das Gegenteil hätte erweisen müssen: schon mit 15 Jahren tritt er in die Kadettenanstalt Plön ein und mit 16 in die berühmt-berüchtigte Hauptkadettenanstalt Groß-Lichterfelde, 6 wo unter dem Deckmantel des preußischen Ehrenkodexes und wilhelminischen Elitebewußtseins aus Kindern Pflicht, Disziplin und Gehorsam gemacht wurden. Fast genau auf den Tag drei Jahre später scheint die Identifikation wiederhergestellt und der ,Geist' von Berlin-Lichterfelde gesiegt zu haben: „Wir hier vorne haben alle Hurrahbegeisterung verloren, aber keineswegs den Mut. Im Gegenteil, unser Mut ist ernst und eisern, wir gehen an den Feind heran und siegen, es koste, was es wolle. Einen herrlichen Moment will ich Dir mitteilen: Es war am häßlichsten Tage, den ich erlebt habe. Mittags war unser Hauptmann gefallen und beerdigt worden, den Nachmittag und den Abend glitten die französischen Granaten über uns hin; wir lagen in Reserve und konnten uns nicht wehren. Da, als schon die Dunkelheit hereingebrochen war, hörten wir vorn, in der ersten Linie, das Hurrahrufen des deutschen Sturmangriffs, Hörnerblasen und Trommelschlag. Vorn erstürmten sie die französischen Schützengräben, raffiniert angelegte Dinger. Und dann auf einmal erbrauste durch das Tal eine herrliche Musik, wie ein Choral, wie

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Brief vom 23.9.1911, S . 5 7 0 . Horst W. Müller, Die Briefe von und an Emst Wilhelm Lötz, S. 567.

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das Aufatmen von Tausenden: Die braven Leute vor uns, die siegreich gestürmt hatten, sangen .Die Wacht am Rhein' in die französische Sternennacht hinein, eine Sternennacht wie im Märchen. Ich sage Dir, das Wasser trat mir in die Augen, ich hätte aufschluchzen mögen vor Rührung, vor Befreiung. Ich glaube, dieser Gesang muß das Herz der Franzosen zerschnitten haben, wirksamer als unsere Kugeln und Bajonette!" 7 Wenn Stadler in seinem paradigmatischen Text „Der Aufbruch" den ,Ritt in die Schlacht' (und in den möglichen Tod) noch zum Glück und Erfüllung konkretisierenden .Erlebnisinhalt' verklären kann und so durch die imaginierte, fiktionale Realisation im poetischen Modell die ideologischen Implikationen dieses Erlebnispotentials als ästhetischen Schein einer latent aggressiven Tendenz im preußisch-vitalistischen Wilhelminismus objektiviert, dann realisiert Lötz, der Literat, die Objektivation der ideologischen Implikationen als konkretes ,Erlebnis'. Der Aufbruch hat nicht nur intratextuell in der Metaphorik des entgrenzenden .Kampfes' stattgefunden, sondern der Kampf wird Wirklichkeit — verklärt, ideologisiert in der Metaphorik des Aufbruchs'. Wie wenig allerdings eine Identifikation von Werk und Biographie als hermeneutischer Horizont der Interpretation einen tragfähigen Ansatz liefern kann, zeigen sowohl unzulässige Übertragungen konnotativer Referenzen aus der Retrospektive seiner Feldpostbriefe auf die relativ autonomen Werkstrukturen seiner Gedichte als auch die scheinbare Identität der Gedicht-,Inhalte' mit dem Leben, das Lötz als avantgardistischer Literat, „Bohemien" 8 und Protagonist der .revolutionären' expressionistischen Lyrik zwischen 1911 und 1914 geführt haben soll.9 So bemerkt Franz Leschnitzer anläßlich der .Expressionismusdebatte', die „Bejahung der Humanität, die Bejahung sogar schon der sozialistischen Revolution (Aufbruch der Jugend) bildeten den Hauptinhalt vieler Lotzscher Gedichte." 10 Und Klaus L. Berghahn folgert 7 Brief vom 25.8.1914 an Henny Lötz, in: E.W.L., Prosaversuche und Feldpostbriefe, S. 74f. 8 Klaus L. Berghahn, Ernst Wilhelm Lötz, Aufbruch der Jugend, 1913, in: Gedichte der „Menschheitsdämmerung", S. 1 0 6 - 1 2 4 ; Zitat S. 107. 9 Vgl. Klaus L. Berghahn, Ernst Wilhelm Lötz, Aufbruch der Jugend, 1913, S. 1 0 7 - 1 0 9 . 10 Franz Leschnitzer, Über drei Expressionisten, in: Das Wort, 12. Jg. (1937), S . 4 4 - 5 3 ; wieder abgedruckt in: Die Expressionismusdebatte, S . 6 1 - 7 4 ;

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in seiner Interpretation des Gedichtes „Aufbruch der Jugend" (W., S. 56) im Forschungskonsens mit Leschnitzer: „Dieser Titel entsprach dem Selbstverständnis und dem revolutionären Anspruch dieser Generation, deren Protest sich in gleicherweise gegen die Gesellschafts- und Herrschaftsformen der Wilhelminischen Ära wie gegen die herrschende Literatur richtete." 1 1 Franz Leschnitzers Beitrag zur ,Expressionismusdebatte' (1937), die beiden Miszellen von Horst W. Müller (1967/68) — im Zusammenhang einer geplanten Edition des Briefnachlasses 12 — und die Interpretation des Gedichtes „Aufbruch der Jugend" von Klaus L. Berghahn kennzeichnen den Forschungsstand; abgesehen von den Marginalien in Gesamtdarstellungen zum Expressionismus, wo in der extensiven und relativ beliebigen Akkumulation von Autoren-Namen ganze Werkkontexte ,en passant' abgehandelt werden. 13 Diese eher bescheiden zu nennende Aufnahme des Literaten Lötz muß wohl mit dem qualitativen Umfang seines Werkes erklärt werden. Zu Lebzeiten erschien nur - außer den 21 separat publizierten Gedichten im „Sturm" - das „Lyrische Flugblatt": „Und schöne Raubtierflecken ..."; postum wurde dann 1917 die noch von Lötz im Sommer 1914 zum Druck vorbereitete Gedichtsammlung „Wolkenüberflaggt" als 36. Band der Bücherei „Der jüngste Tag" veröffentlicht. 14

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Zitat S. 71 f. - Ernst Wilhelm Lötz, Aufbruch der Jugend, in: E.W.L., Wolkenüberflaggt. Gedichte, Leipzig 1917 (= Band 36 der Bücherei „Der jüngste Tag"), S. 56 - der Gedichtband im folgenden zitiert als W. Klaus L. Berghahn, Aufbruch der Jugend, S. 109f. Vgl. noch Horst W. Müller, Richard Dehmel und Emst Wilhelm Lötz. Mit zwei erstveröffentlichten Lötz-Briefen an Dehmel, in: Jahrbuch der Deutschen Schülergesellschaft, 12. Jg. (1968), S. 8 8 - 9 3 . Vgl. zum Beispiel Silvio Vietta/Hans-Georg Kemper, Expressionismus, S . 4 1 . Ernst Wilhelm Lötz, Und schöne Raubtierflecken ..., Ein lyrisches Flugblatt, Berlin-Wilmersdorf 1913 - im folgenden als U.s.R. (das „lyrische Flugblatt" ist im Original nicht paginiert). Vgl. auch das Nachwort von Henny Lötz zum Gedichtband „Wolkenüberflaggt": „Das Gedichtbuch .Wolkenüberflaggt' wurde von E. W. Lötz im Sommer 1914 für den Druck vorbereitet. Es enthält im wesentlichen Gedichte aus seinem letzten Lebensjahr" (S. 57).

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b) Elegische Retrospektive und utopischer Horizont: ,Der Aufbruch findet nicht statt' Die tendenzielle Versöhnung des lyrischen Subjekts mit der zur Totalität des Lebens verklärten Wirklichkeit war das Ergebnis im Transformationsprozeß des ,Stirb und Werde'-Ideologems, welches in den Werkkontexten von Schickele und Stadler in seiner dominanten Funktion für die .Aufbruchs'-Thematik analysiert werden konnte. Weil der intendierte und poetisch realisierte Aufbruch den ideologischen Schein der Wirklichkeit zum Ziel hatte, anstatt die „klassifikatorische Grenze" zwischen der realen Entfremdung des lyrischen Subjekts und dessen realen Bedürfnissen aufscheinen zu lassen, konnten die interpretierten poetischen Modelle sich nicht aus der Basis des literarischen Anspielungshorizontes der Lyrik der Jahrhundertwende qualitativ lösen: die quantitative Differenz in der Integration innovativer Themenbereiche wurde erläutert. Im thematischen Zusammenhang der hier zur Diskussion stehenden Gedichte von Lötz kann die Kontrafaktur innerhalb der literarischen Evolution beschrieben werden: das Scheitern des Aufbruchs in die Totalität des Lebens und die Zurücknahme der bedingungslosen Identifikation mit einer Realität, deren Horizont als Erlebnispotential immer fragwürdiger wird. Ins ,Leben' aufzubrechen und vom ,Leben' angenommen zu werden, sich der .Realität' — anstatt der Kunst — zuzuwenden und in der Wirklichkeit einen Ort der Identifikation zu finden, einen Raum, der nicht durch die Entfremdung des historischen Subjekts zu seiner von ihm selbst produzierten Umwelt gekennzeichnet ist, kann als archisematische Basis des poetischen Modells substrahiert werden, dem als poetische Idee der ,erfüllte Augenblick', die Koinzidenz von Aufbruch und Ziel, von sehnsuchtsvoller Spannung und seliger Entspannung zugrundeliegt. Aber: „Realisierung, so sehr sie den kontemplativen Abstand aufhebt, wirkt nie schon gänzlich als Realisierung, weil im Subjektfaktor der Realisierung selbst etwas ist, das sich noch nirgends verwirklicht hat. Der Subjektfaktor der Daseinsgebung ist selber noch nicht da, er ist nicht prädiziert, nicht objektiviert, nicht realisiert; das zuletzt kündet sich im Dunkel des gelebten Augenblicks. Und dies Inkognito bleibt noch das mitgehende Grundhindernis in jeder Verwirklichung, als einer vollen. Es zu 109

entfernen, den Erzieher selbst zu erziehen, den Erzeuger selbst zu erzeugen, den Realisierenden selbst zu realisieren, darauf gehen alle humanistischen Wunschträume; sie sind die radikalsten wie die praktischsten." 15 Wo das „Grundhindernis" aus der utopischen Intention eskamotiert wird, entsteht die Illusion, in ihrer Funktion der falsche Schein der wahren Verhältnisse, als ob denn das Subjekt sich ,νοη außen' in die Welt hineinwerfen könnte, wie die Metaphorik des »Kampfes' im Bild des sich in die Schlacht werfenden Kriegers suggeriert: „Das Carpe diem oder Präsens des absoluten Zielinhalts steht aber in dem gleichen Grund, in dem das Subjekt des Existierens steht, und aus dem gleichen Grund wie dieses steht der Zielinhalt als realisierter noch aus: aus dem Grund jenes ungelichteten Existenzherds, der mit unmythologischer Bezeichnung Agens wie Kern der sich entwickelnden Materie ist."16 Lötz hat schon in seinem „Lyrischen Flugblatt" von 1913 versucht, dies „Grundhindernis" als destruktives Moment in die auch bei ihm zitierte Folie aus der vitalistischen Lebensutopie zu montieren: also eine Kontrafaktur zu integrieren, welche im Widerspruch zur poetisch modellierten .Erfüllung' die Distanz zur Identität mit der Zielprojektion reflektiert, wobei die Zielprojektion selber ambivalent wird. Sie kann noch als Inhalt der Sehnsucht — welche die materielle Substanz des lyrischen Ichs bei Lötz ist — die illusionistische Realisation des Aufbruchs in das unentfremdete Erlebnis sein, also eine epigonale Retrospektive, sie kann aber auch schon über die Folie aus der ideologisch besetzten Lebens-,Utopie' hinaus den in seiner Geschichtlichkeit virulent werdenden gesellschaftlichen Raum konnotieren, der dann erst nicht mehr nur soziale und politische Paradigmen für das Basisideologem bereitstellt (vgl. hier Schickeies Text „Großstadtvolk" und Stadlers Text „Ende"), sondern Phänomene der Soziabilität und Politizität zu Paradigmen der Zielprojektion macht. Da sind die Straßen ... Da sind die Straßen weit und Licht-durchschrieen, 15 Ernst Bloch, Gesamtausgabe, Band 5: Das Prinzip Hoffnung, In fünf Teilen, Kapitel 1 - 3 2 , S. 349. 16 Ernst Bloch, Gesamtausgabe, Band 5: Das Prinzip Hoffnung, In fünf Teilen, Kapitel 1 - 3 2 , S. 347.

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hoch wölkt der Staub und breitet aus den Schein, durch den gehetzt Kolonnen Wagen fliehen in violette Dunkelheit hinein. Und Menschen, massenhaft und schwarz, durchstürmen die Straßen, vorgebeugt und frongebannt. Und Feierabend läutet von den Türmen der Stadt, verloren, hoch und unerkannt. Lärm stößt an Lärm. Schmerzhelle Klingeln schellen, zersägend das Gehör. Wagen mit Eisen erschüttern. Die Elektrische mit grellen Schleiftönen nimmt die Kurve in den Gleisen. Und meiner Nerven Netz, so fein besaitet, drin Perlen hängen aus dem ewigen Meer: es ist als Teppich in den Staub gebreitet, und gräßlich wälzt der Tag sich drüberher. (U.S.R., S. [ 1 2 ] )

Der introspektive Raum des lyrischen Ichs bewahrt noch Konturen des artifiziellen Décors aus der ästhetizistischen Hermetik einer antiindustriellen, erlesenen Kunstlandschaft — Topoi wie „Perlen", „Meer" und „Teppich" signalisieren den literaturgeschichtlichen Ort —, aber was zuvor noch Staffage eines Raumes war, in dem sich das lyrische Subjekt verwirklichen konnte, ist nun ins lyrische Subjekt verbannt: Der potentielle Entfaltungsraum des Subjekts wird besetzt durch die nur noch fragmentarisch perzipierte Erfahrung der Großstadt. Signifikant wird, daß das lyrische Ich nicht mehr wie bei Stadler und Schickele dem Raum möglicher Erfahrung gegenübersteht, ihn als Erlebnis aneignen kann, d.h. zu ihm als einem herbeigesehnten Abenteuer aufbricht, sondern in ihm integriert ist und durch ihn beherrscht wird. Das lyrische Subjekt ist nicht in der entgrenzenden Vereinigung mit dem Identifikationsobjekt zu einem Teil der Wirklichkeit geworden, wie die Wirklichkeit dann ein Teil von ihm wäre. In der Schlußsequenz des Textes (IV, 3f.) wird die polare Entgegensetzung zur Figur des ,Werdens im Vergehen', der Realisation in der Identifikation, zum poetischen Bild: das potentielle Subjekt der Entfaltung wird zum realen Objekt der Beherrschung, der Erlebnisraum zum Herrschaftsraum, verdinglicht in der alptraumadäquaten Vision von der allen individuellen Widerstand zermalmenden Dampfwalze. Die Allusionen der Isolation und Anonymität korrespondieren mit Perspektivlosigkeit, wobei die „klassifikatorische Grenze" zwischen dem kostbaren 111

Intérieur des lyrischen Ichs, hinübergerettet aus den artifiziellen Räumen der l'art pour l'art-Programmatik, und der barbarischen Umwelt absolut trennt. Wo das Subjekt zum Objekt wird, ist der voluntaristisch-versubjektivierte Aufbruch in einen ,Erfüllung' und ,Abenteuer' garantierenden Erlebnisraum nicht mehr möglich. Weil der schon gesellschaftlich konturierte Raum nicht mehr als Objekt der Aneignung und Entgrenzung bereitsteht, sind die,Negation' oder die ,Flucht' mögliche Alternativen, àie Resignation oder Kapitulation des lyrischen Subjekts in den übermächtigen Verhältnissen zu poetischen Modellen der Wirklichkeit zu formieren. Der Text „Schlaf - wach" (U.s.R., S. [ 14]) zeigt im Kontext des ganzen „Lyrischen Flugblattes" deutlicher als das oben interpretierte Beispiel die Ambivalenz zwischen Negation und Flucht, Resignation und Kapitulation; also jenes Moment innerhalb der literarischen Evolution von der Lyrik der Jahrhundertwende zur expressionistischen, wo die Transformation epigonaler Momente und deren Destruktion noch als polare Entgegensetzungen relativ homogener Bildsequenzen die Komposition der ästhetischen Struktur bestimmen. Wenn die Realität des Tages zum Entfremdung signalisierenden Alptraum wird, dann kann die ,Nacht' zum Tagtraum stilisiert werden, in dem jene Idylle erlebt wird, die in der Lyrik des Jugendstils Inhalt der kindlich-heiteren „Tanz und Taumel"-Atmosphäre war, eme Idylle freilich, die schon im Kontext ihrer Entstehungsbedingungen trivial und für 1913 mehr als epigonal war. Allerdings ,tanzt und taumelt' das lyrische Ich in dem genannten Lotz-Text nicht durch eine ,Licht- und Sonnenlandschaft auf grüner Flur', 17 sondern ruft die Vorstellung einer so skizzierten Szenerie als Ersatz für die Schrecken des Tages ab: „Zum Schlag der Nachtuhr schwingt mein Blut das Pendel. / Ich liege ausgereckt. / Und warte atmend. Stunden rauschen auf. (...) Nachthelle Stunden! / Ihr könntet schaukelnde Schmetterlinge sein, / maibunt bemustert und Pfauenaug-gefiedert. // Ihr könntet summen, getragen auf Akkorden, / Dom-hallend, weit durch Türen, Läden und Stille, / herschwingende, versponnene Musik" (U.s.R., S. [ 14]). 17 Vgl. zum Beispiel im Text „Liebe kleine Melodie" von Emil Alfred Herrmann: „Auf einer grünen Wiese im Sonnenschein, / w o die Gänse watscheln;/ am Erlenbach - / Ein kleines blondes Mädchen, das Blumen pflückt / auf einer grünen Wiese ..." (in: Lyrik des Jugendstils, S. 12).

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Der conjunctivus irrealis — als eine mögliche Lesart — verweist auf die reflexive Instanz, die eine Identifikation des lyrischen Subjekts mit der ,Illusion vom schönen Schein' verhindern könnte. In der Schlußsequenz des Textes verselbständigt sich jedoch die Irrealität zur sublimierenden Potentialität; die .bunten Bilder' verdrängen die realen Bedürfnisse, anstatt in der Destruktion der Idylle den Mangel der Wirklichkeit und die Insistenz auf eine konkretere Utopie kenntlich zu machen: „Die Nacht ist bunt und glücklich. / Vor meinen Augen baut sie ein taumelndes Kugelspiel aus Glaskugeln. // Mit weichen Glöckchen macht sie ein Ohrengeklingel. // Dann zupft sie hoch von wasserrauschenden Bäumen / — das wogt und fächert - / viel erdbeergroße rote Beeren herab. / Sie spielt damit umher und schnellt sie und fängt sie / und singt verweht einen Kinderreim. / Und nimmt sie zusammen und reiht sie und schwingt sie / im Kreis bunt rund / und wirft sie um meinen Mund. // Rotglühend brennt ein lutschend-süßer Kuß! II Die Nacht ist bunt und zeitlos glücklich" (U.s.R., S. [14]). Lötz versucht in der Montage die zitierte Folie durch den Austausch antonymischer Äquivalenzen zu destruieren: in der ästhetischen Konstruktion entsteht so nur eine polare Entgegensetzung. Es ist die Nacht — in ihrer Allusion zu Einsamkeit und Melancholie —, die jene kindlich-heitere Welt' vorgaukelt, während im Jugendstil die naturmetaphorisch kodierte Lichtsymbolik integraler, ja konstitutiver Bestandteil der Imitation des „Tanzliedes" ist.18 Paradigmatisch kann der zitierte literarische Anspielungshorizont in der letzten Strophe des Gedichtes „Links und rechts und Wende" von Ludwig Finckh verdeutlicht werden: Die Welt ist voll Gold und Licht Und voll von Sonnenblende Wir wollen spielen und flatterhaft sein Und tanzen einen lieben Reihn 19 Links und rechts und Wende (IV; ).

Lötz versucht noch die Identität mit einer schon verlorenen Idylle herzustellen, aber die ästhetische Struktur konkretisiert die reflexiv gebrochene Sehnsucht; zunächst noch in der Retrospektive auf eine 18 Vgl. Otto Julius Bierb^um, Tanzlied, in: Lyrik des Jugendstils, S. 9 f . 19 In: Lyrik des Jugendstils, S. 9.

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Jugendstilidylle, die freilich schon keinen Platz mehr in der JRealität des Tages' finden kann. Ernst Bloch hat im „Prinzip Hoffnung" auf die Referenz zwischen der „Abbildlichkeit des schönen Scheins" und „dem Ort seines ObjektKorrelats" hingewiesen, wobei „Utopie als Objektbestimmtheit, mit dem Seinsgrad des Realmöglichen" definiert wird. 20 In der Retrospektive auf den .schönen Schein' der Jugendstilidylle, die als Versatzstück transformiert wird, kann die ,Utopie' kein „Objekt-Korrelat (...) mit dem Seinsgrad des Realmöglichen" finden; 21 deshalb modelliert Lötz die Destruktion der ,Licht- und Sonnenwelt' in der Verknüpfung mit der ,Nacht-Symbolik', welche als Allusionshorizont Isolation, Anonymität, Resignation und Melancholie abruft. Wird das Versatzstück in seiner Traumadäquanz als real-unmöglich auch erkannt, so kann an seine Stelle noch nicht ein gegenüber der zitierten Folie qualitativ sich abhebendes ,Novum' treten, welches jenseits einer bloßen Sublimation im poetischen Bild den qualitativen Sprung zur Negation des ,RealWirklichen' konturierte. Reflektiert wird das ,Real-Wirkliche' als Mangel, antizipiert wird kein ,Real-Mögliches' als Perspektive, zitiert wird das ,Real-Unmögliche', das schon im historischen Kontext seiner Entstehungsbedingungen in der Lyrik um 1900 den Ersatz in der Kunst für den Mangel in der Wirklichkeit bereitstellen mußte. 22 Im 1917 postum erschienenen Gedichtband „Wolkenüberflaggt", der im wesentlichen Gedichte aus der Zeit von Mitte 1913 bis Mitte 1914 enthält, modelliert Lötz die Utopie des Aufbruchs, indem er nicht einfach den literarischen Anspielungshorizont der Jahrhundertwende mit seinen beschriebenen Basis-Ideologemen in innovative Paradigmen transformiert, sondern indem er den Widerspruch zwischen utopischer Intention und nicht mehr möglicher Realisation zum Kompositionsprinzip der ästhetischen Struktur macht. Bei Stadler und Schickele konnte die kontinuierliche Transformation 20 Einst Bloch, Gesamtausgabe, Band 5: Das Prinzip Hoffnung, In fünf Teilen, Kapitel 1 - 3 2 , S. 247. 21 Ernst Bloch, Gesamtausgabe, Band 5: Das Prinzip Hoffnung, In fünf Teilen, Kapitel 1 - 3 2 , S. 247. 22 Hier muß freilich differenziert werden. Dagegen stünde zum Beispiel die These von der „ästhetischen Opposition", wie sie Gert Mattenklott vertreten hat (G.M., Bilderdienst. Ästhetische Opposition bei Beardsley und George, München 1970).

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der fakultativ variablen Paradigmen für eine Denkschablone erläutert werden, die das ,Werden' als ,Entstehen und Vergehen' in den Bildern des ,Aufbruchs' (und der impliziten ,Ankunft') metaphorisierte. In der Übertragung dieser Schablone auf innovativ wahrgenommene Erfahrungsräume, wie sie beispielhaft die Physiognomie der Großstadt bereitstellt, versucht das lyrische Ich weiter die tradierte ,poetische Figur' umzusetzen: also die Wirklichkeit zum Erlebnis der Totalität zu stilisieren, was die bedingungslose Identifikation mit der — schon sozial in ihren Widersprüchen aufscheinenden — Realität zur Folge hat. Gegen die illusionäre und ideologisch funktionale Identifikation mit dem ,ganzen vollen Leben' — was im historischen Kontext das Synonym für die wilhelminische Gesellschaftsordnung ist — setzt Lötz die Kontrafaktur des Scheiterns: die Inkompatibilität zwischen Utopie und Wirklichkeit. Während das lyrische Subjekt bei Stadler noch seine Identität sucht von der „Enge bürgerlicher Stuben" (so im Text „Ende") bis zum rauschhaften Genuß der vitalistisch-erotisch entfesselten Natur (so im Text „Vorfrühling"), verlagert Lötz schon tendenziell das ,Aufbruchs'-Motiv aus der nur abstrakt an die Verhältnisse herangetragenen Sehnsucht nach einer absoluten Symbiose mit der Realität in die Frage nach den (gesellschaftlich relevanten) Protagonisten, die in der Solidarität mit dem lyrischen Subjekt dessen Isolation durchbrechen könnten. 2 3 In der schon latenten Personifikation des Identifikationshorizontes mit gesellschaftlichen Gruppen, welche die Realität gegen den Totalisierungsaspekt als widersprüchliche kenntlich machen, wird die Akzeptabilität politisch-sozialer Konnotationen größer als ihre Suszeptabilität auf dem Hintergrund einer Adaptation des ideologischen Substrats, welches mit dem schablonisierten und abrufbereiten Bild-Arsenal aus der Lyrik der Jahrhundertwende verschmolzen ist. Die Bildbereiche JCampf', .Krieg', ,Eros-Sexus', ,Natur' können in ihren lexikalisch-semantischen Affinitätsfeldern aus einer immanenten Dynamik die Imagination und (in der reaktionären Variante wie in Stadlers ,Titelgedicht') die Suggestion eines unentfremdeten Erlebnisses, eines erfüllten Augenblicks strukturieren. 23 Vgl. die Texte „Erster Mai" (W., S . 3 1 ) und „Aufbruch der Jugend" (W., S.56).

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Lötz kann die immanente Dynamik der fakultativen Paradigmen für den ,Aufbruch' nicht mehr ungebrochen in die innovativen Themen integrieren: er zitiert noch ganze Bildsequenzen aus dem literarischen Anspielungshorizont der Lyrik der Jahrhundertwende, aber dies gelingt nur als versatzstiickhafte Montage in schon sozial konnotierte Bildbereiche — die tradierte literarische Norm wird funktionalisiert für die ästhetische Komposition, statt eine bloße epigonale Rückkoppelung zu leisten. Das destruktive Moment wird in der literarischen Reihe Schickele Stadler — Lötz bei diesem gegenüber dem transformativen dominant. Diskontinuität statt Kontinuität innerhalb der literarischen Evolution kündigt eine reflektierte Distanz an zur akzeptierten und ideologisch besetzten poetischen Norm. „Glanzgesang" (W., S. 5—7), der leitmotivisch gesetzte Eingangstext in der Gedichtsammlung „Wolkenüberflaggt", konkretisiert die skizzierte Kontrafaktur, weil nun die „klassifikatorischen Grenzen" zwischen der Entfremdung des lyrischen Subjekts, seiner voluntaristischen Tat-Bereitschaft und seinen realen Möglichkeiten zum Kompositionsprinzip der poetischen Struktur werden. Zwei Identifikationshorizonte einer Harmonie von Utopie und Wirklichkeit werden konturiert, der eine als Retrospektive in die Jugend (I—III), der andere als Tagtraum in exotische Fernen (V—IX). Getrennt sind beide durch die Realität des Tages, die nicht mehr als Jcleines Glück' in der „Enge bürgerlicher Stuben" verklärt wird, sondern ihr Merkmal findet in entfremdeter Arbeit, die in ihrem unversöhnlichen Gegensatz zu einer vitalistischen, entgrenzenden Lebensutopie die voluntaristische Tat-Bereitschaft zum Bruch mit bürgerlichen Konventionen und Normen produziert, Normen, welche durch die hierarchische Struktur der Gesellschaft legitimiert werden und Bescheidenheit, Disziplin, Arbeitswillen zu Tugenden hypostasieren, um die Entfremdung von der Arbeit und den Produkten erträglicher zu machen: Vom blauen Tuch umspannt und rotem Kragen, Ich war ein Fähnrich und ein junger Offizier. Doch jene Tage, die verträumt manchmal in meine Nächte ragen, Gehören nicht mehr mir. Im großen Trott bin ich auf harten Straßen mitgeschritten,

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Vom Staub der Märsche und vom grünen Wind besonnt, Ich bin durch staunende Dörfer, durch Ströme und alte Städte geritten, Und das Leben war wehend blond. (I—II) (...)

So kam ich, braun vom Sommer und hart von Winterkriegen, In große Kontore, die staubig rochen herein, Da mußte ich meinen Rücken zur Sichel biegen Und Zahlen mit spitzen Fingern in Büchern reihn. Und irgendwo hingen die grünen Küsten der Fernen, Ein Duft von Palmen kam schwankend vom Hafen geweht, Weiß rasteten Karawanen an Wüsten-Zisternen, Die Häupter gläubig nach Osten gedreht. ( I V - V ) (...)

So hab ich nachbarlich alle Zonen gesehen, Rings von den Pulten grünten die Inseln der Welt, Ich fühlte den Erdball rauchend sich unter mir drehen, Zu rasender Fahrt um die Sonne geschnellt. (IX)

Die ,,klassifikatorische Grenze" für das lyrische Subjekt zwischen der melancholischen Retrospektive in eine Jugendidylle und den Tagträumen in exotische, Abenteuer versprechende Fernen wird in dessen realen Existenzbedingungen als ,Bureau-Gehülfe' oder ,Kommis', also als Objekt eines wilhelminisch geführten ,Kontors', unmißverständlich gezogen. Der Ausbruch aus den für das lyrische Subjekt festgeronnenen gesellschaftlichen Verhältnissen und der realisierte Aufbruch in die exotischen Fernen, in das Abenteuer, zu den ,Zonen', wo noch gelebt wird, anstatt in .stickigen Produktionsverhältnissen' dahinzuvegetieren, reproduzierte das ideologische Substrat der idyllisierenden Identifikation mit der real-unmöglichen ,Utopie', denn die konkrete — und hier sei an Bloch erinnert — hat ihre Basis in eben den Verhältnissen, unter denen das Subjekt leidet. Wenn auf der einen Seite der Widerspruch zwischen Utopie und Wirklichkeit nicht mehr aufgehoben werden kann, auf der anderen Seite aber die , ,klassifikatorische Grenze" zur bloßen Identifikation mit einer imaginierten Idylle nicht übersprungen werden soll, weil die bewußt werdende Objektivation der Entfremdung in den gesellschaftlichen Verhältnissen eine illusionäre Sublimation nicht mehr zuläßt, und gleichzeitig keine politisch-soziale Dimension gesellschaftlicher Praxis als Perspektive subjektiv zur Verfügung steht, dann wird die abstrakte Negation der bürgerlichen ,Kontor-Welt' zum Ziel des 117

Ausbruchs: die voluntaristische Tat-Bereitschaft und ihre Konkretion im Aufbruch finden ihre Grenzen in dem Milieu, das die gesellschaftlichen Verhältnisse als Freiraum zulassen, ohne in ihrer Substanz angetastet zu werden: Da warf ich dem Chef an den Kopf seine Kladden! Und stürmte mit wütendem Lachen zur Türe hinaus. Und saß durch Tage und Nächte mit satten und glatten Bekannten bei kosmischem Schwatzen im Kaffeehaus. (X)

Die polare Entgegensetzung zur erniedrigenden Abhängigkeit einer .Schreiber-Existenz' ist die scheinbare Freiheit des Bohemien; allein die ,Café-Haus-Literaten' und das sich um diese gruppierende übrige intellektuelle .Strandgut' der bürgerlichen Gesellschaft — die an der sanktionierten Norm der Karriere gescheiterten Bürgersöhne und Bürgertöchter — können ihre scheinbare Freiheit höchstens literarisieren und selten davon leben. 24 Der Aufbruch in die Freiheit scheitert, weil .Freiheit' in der warenproduzierenden Gesellschaft teuer ist; die Organisation der Boheme ist nicht profitorientiert — Jobber und Spekulanten halten sich vornehmlich an der Börse auf —, und nur der Rentier kann es sich leisten, ohne Sorge in solchem Milieu zu verkehren: als Attitude. 2 5 Selbst die Illusion einer momentanen Befreiung läßt die Schlußstrophe dieses Textes nicht aufkommen: der Bruch mit der bürgerlichen Gesellschaft endet — im Horizont eines exotisch-vitalistischen Tagtraums nach Abenteuer und produktiv schaffender Arbeit — in radikaler Perspektivlosigkeit; deshalb, weil es jenseits der sanktionierten und legitimierten Normen der Gesellschaft keine Existenzbedingungen gibt — nur die politische Alternative. Und einmal sank ich rückwärts in die Kissen, Von einem angstvoll ungeheuren Druck zermalmt. — Da sah ich: Daß in vagen Finsternissen Noch sternestumme Zukunft vor mir qualmt. (XI)

Der Text „Glanzgesang" kann in seiner poetischen Struktur die Destruktion der noch bei Schickele und Stadler transformativ 24 Vgl. zu den Existenzbedingungen in der Boheme Helmut Kreuzer, Die Boheme. Analyse und Dokumentation der intellektuellen Subkultur vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Stuttgart 1971. 25 Vgl. Helmut Kreuzer, Die Boheme, S. 2 5 3 - 2 6 9 .

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umgesetzten Basisideologeme aus dem Kontext der ,Lebensphilosophie' und der Jahrhundertwende verdeutlichen. Wo die konkrete Totalität der gesellschaftlichen Verhältnisse keine Identifikationsobjekte mehr bereitstellt, die als Freiräume den vitalistischen Anspruch auf unentfremdete Existenz in Wirklichkeit umsetzen könnten, weil die Wirklichkeit der gesellschaftlichen Verhältnisse in toto entfremdet ist, dort verbleibt als allein noch nicht gänzlich verwerteter Raum der Entfaltung die Zukunft. Diese Alternative ist freilich abstrakt — solange, wie nicht die gesellschaftlichen Verhältnisse in ihren Bedingungen als Ursache dafür erkannt werden, daß die Lebensräume der historischen Subjekte und Objekte der Geschichte, ihre Produktions- und Reproduktionssphäre, nicht Freiräume zur Entfaltung einer schon in Utopie konkretisierten vitalen, ungebundenen Bedürfnisbefriedigung sind. Daß das historische Subjekt sich in der Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse diese Freiräume erkämpfen und im Kampf sich selber von der bloßen Verdinglichung zu Objekten der Herrschaft emanzipieren muß, ist die aus der hermeneutisch-kritischen Distanz mögliche Antwort auf die Perspektivlosigkeit des voluntaristischversubjektivierten ,Aufbruch'-Syndroms, welches dem Ausbruch aus den sanktionierten und legitimierten Normen der Gesellschaft zugrundeliegt: die einfache Negation der Herrschaft stabilisierenden Norm endet dort, wo Normlosigkeit die Strukturen der Herrschaft nicht mehr tangiert - in der Boheme, in den Literatenzirkeln der CaféHäuser (nicht umsonst hieß das „Café des Westens" in Berlin auch im Jargon: ,Café Größenwahn') 26 Die Abstraktion der politischen 26 „Charakteristisch ist auch eine paradoxe Verbindung von Geltungsverlangen und Publikumsverachtung. Phasen der Depression und der euphorischen Selbstüberschätzung wechseln ab; nicht zufällig tragen die beiden wohl berühmtesten reichsdeutschen Bohemecafes (das Berliner ,Café des Westens' und das Münchener ,Café Stefanie') den Übernamen ,Café Größenwahn' " (Helmut Kreuzer, Die Boheme, S. 50). Vgl. auch die prägnante Reminiszenz von Ernst Blass: „Ja, es war schon ein seelenvoller Kampf gegen die Ergebnislosigkeit, gegen die Stumpfheit, Trägheit, Gemeinheit der Philisterwelt. Im Café, da war noch die Seele etwas wert. Ja, es war eine Erziehung zum Künstler in dieser Institution, an die ich wie an eine herbe Schule zurückdenke,· nicht ohne ein Gefühl des Stolzes, sie durchgemacht zu haben. Wir waren ausgesprochen in der Opposition. Es gab getrennte Lager. Es gab Feinde und Widerstände. Man konnte sich damals den Luxus leisten, den Spießer

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Alternative von der gesellschaftlichen Praxis ihrer Protagonisten hypostasiert die ,Revolution', den ,Umsturz', die ,Revolte' — Barrikadenkampf und Straßenschlacht - zu ,Ereignissen', die wie von ,außen', von jenseits der gesellschaftlichen Totalität, wie Naturphänomene in die Wirklichkeit des sich isoliert begreifenden Subjekts einbrechen. Wenn der Anspruch auf unentfremdete Existenz nicht durch eine Flucht in die Literatur-Zirkel der Boheme verwirklicht werden kann, weil diese selbst ein Produkt der Entfremdung des bürgerlichen Intellektuellen von seinen Produktions- und Reproduktionsbedingungen ist, so kann der ,Wille zur Tat' jenseits des dezidiert politischen Protagonisten in einem säkularisierten, entpersonalisierten Messianismus aufgehoben werden, der die reale politische Indifferenz und Perspektivlosigkeit einerseits und den absoluten Anspruch auf die radikal sich freisetzende momenthafte Erfüllung des vitalistisch entgrenzenden Augenblicks andererseits zu einem neuen Horizont der Identifikation verschmilzt. Begreift! Von Dumpfheit summt das halbe Kaffeehaus, Das halbe ist getaucht in leichtes Glühen Und flackert in den Lampentag hinaus, Wo dünne Nebel an die Scheiben sprühen. Es wollen ernste Freunde mir bedeuten, Ich sei zu leicht für diese Gründerjahre, Weil ich, statt kampfgenössisch Sturm zu läuten, Auf blauer Gondel durch den Äther fahre. Ich sah bisher nur Zeitungsfahnenwische Und warte längst auf Barrikadenschrei, Daß ich mich heiß in eure Reihen mische, Besonnt vom Wind des ersten Völkermai! Den Kopf ganz rot, malt ihr Kulissenbrand Und überträumt die Zeiten mit Besingung. Begreift: Ich wirke, spielend freier Hand, Mein helles Ethos silberner Beschwingung! (W..S.13)

zu verachten, nicht nur mit der Faust in der Tasche; man konnte ihn schneiden. Man konnte sich ganz antikapitalistisch und akapitalistisch separieren. Man dachte nicht an Karrieren und Einnahmen" (E. B., Das alte Café des Westens, in: Die literarische Welt, 4. Jg. [1928], Heft 35, S. 3f.).

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Helmut Kreuzer hat im Zusammenhang von „Boheme und Politik" 27 die Differenz zwischen den „praktizierenden ,Artisten der Revolution'" (Aleksandr Herzen) „unter den Intellektuellen" und den „meist theoretisierenden Revolutionären des artistisch-bohemischen Milieus" analysiert: zwei Gruppen, die „im Idealtyp klar zu unterscheiden" seien.28 Das lyrische Subjekt im Text „Begreift!" reflektiert schon im institutionalisierten Zirkel der Kaffeehaus-Literaten, die mit bürgerlichen Normen und Konventionen gebrochen haben. Im Text „Glanzgesang" versucht der protagonist des Aufbruchs' noch diesen scheinbaren ,Raum der Freiheit' zum Fluchtpunkt seines Aufbruchs zu machen, der in seiner absoluten Perspektivlosigkeit entlarvt wird. Der Text „Begreift!" reproduziert gleichsam auf einer höheren Stufe die Perspektivlosigkeit als Produkt des vollzogenen ,Aufbruchs', der nicht „die grünen Küsten der Fernen" („Glanzgesang", V,1;W., S.5) zum Ziel hat, sondern „bei kosmischem Schwatzen im Kaffeehaus" („Glanzgesang", X,4; W., S.6) endet. Dort findet das Subjekt nämlich nicht das wirkliche Äquivalent zum utopischen Tagtraum, die Freiheit von der ,Enge bürgerlicher Kontor-Stuben', sondern die Substitution der realen Freiheit (des großen Lebens, des erfüllten Augenblicks) durch deren theoretische Beschwörung. Manifest, Programm und Appell — die Literarisierung der Revolution' und die Poetisierung der Agitation, die ,Revolution in der Poesie' — werden als „Zeitungsfahnenwische" (111,1) und „Kulissenbrand" (IV, 1) verworfen. Sie müssen verworfen werden, weil der innerhalb der literarischen Evolution seit der Jahrhundertwende automatisierte Fetisch des ,großen Lebens im heroischen Augenblick', der ein Maximum an Lebensfülle eruptiv freisetzt, als positives Äquivalent des „Begreift!" noch in der extratextuellen Struktur des Werkes realisiert ist. In Schickeies Text „Christus" — aus dem Zyklus „Christus" — (P., S. 44) wird die Revolutionsmetaphorik im Topos der .Barrikade' zum paradigmatischen, aber fakultativen Bild für den ,erfüllten Augenblick', um das ,Stirb und Werde'-Ideologem in eine Kampfszene umzusetzen. 27 Helmut Kreuzer, Die Boheme, S. 2 7 9 - 3 6 3 . 28 Helmut Kreuzer, Die Boheme, S. 308.

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Die so funktionalisierte Revolutionsmetaphorik verhinderte explizit eine - im weitesten Sinne! — politische Allusion oder gar Konnotation des archisematischen Kerns der ästhetischen Struktur (der synonym gesetzt werden kann mit dem erläuterten Basisideologem). Das lyrische Subjekt in Lötz' Text „Begreift!" kann den erfüllten Augenblick', die Identitätsfindung in der vitalistischen, voluntaristischaktivistischen Tat, nur als ein zukünftiges Ereignis herbeisehnen und antizipativ gegen dessen Sublimierung in der pathetischen Theorie setzen: dies bedeutet jedoch für die ,Revolutionsmetaphorik' eine latente und tendenzielle Transformation aus der bloßen Faktizität in Historizität. Es wird nicht das geschichtliche Ereignis .Revolution' antizipiert — die radikale Umwälzung der gesellschaftlichen Verhältnisse —, sondern der deautomatisierte Identifikationshorizont, der , Aufbruch' wird latent politisiert („Daß ich mich heiß in eure Reihen mische, / Besonnt vom Wind des ersten Völkermai!"; 111,3f.). Indem, zwar abstrakt („eure Reihen"), die Protagonisten des Aufbruchs als Identifikationsträger eines politisch konnotierten Hintergrundes benannt werden („Völkernlai"), muß die Revolutionsmetaphorik im ,Aufbruchs'-Motiv als fakultative Variante eines umfassenden Paradigmenarsenals aufgegeben werden. Wird der , Aufbruch' aus der räumlichen Vorstellung in eine zeitliche Vorstellung transformiert, dann selektiert die hinzutretende ,historische Dimension' - in der dialektischen Wendung des oben Erläuterten — das politisch besetzte Ereignis Revolution' aus dem automatisierten Paradigmenarsenal, welches in der Räumlichen Vorstellung' vom ,Aufbruch', der bedingungslosen Identifikation mit der,Realität', herausgebildet worden war. Nur dieses »Ereignis' - als Metapher für das heroische Werden in einem Augenblick (und diese Vorstellung wird auch bei Lötz beibehalten!) — hat in seiner strukturellen Eigendynamik die Potenz einer historischen Dimension, eines utopischen Horizontes, welche die vitalistisch-hedonistische Komponente gegen eine religiös verklärte Heilserwartung abgrenzen. Jedoch gelingt bei Lötz noch nicht die „Umpolung der ästhetischen Opposition in eine ,aktivistische' ,Tat'Ideologie", 29 wie sie im folgenden Kapitel im Werkkontext von 29 Renate Werner, Skeptizismus, Ästhetizismus, Aktivismus, S. 18. Die Ausnahme bildet der Text „Aufbruch der Jugend"; siehe auch S. 129f. dieser Arbeit.

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Ludwig Rubiner dargestellt werden wird, sondern die einzig mögliche Alternative für das lyrische Subjekt im Dilemma zwischen Utopie und Wirklichkeit liegt in der Rolle des „praktizierenden .Artisten der Revolution' " (Herzen). Weil das herbeigesehnte Ereignis Revolution' nicht als geschichtliches im gesellschaftlichen Raum gesehen wird, sondern in einem diffus zukünftigen, hypostasiert zu einem ,Jüngsten Tag', an dem schlagartig die Utopie (der exotische Tagtraum) Wirklichkeit, die Tat zum Erlebnis, das Erlebnis zum ,großen Leben' wird, zieht sich das lyrische Subjekt bis zu diesem Tag ,in die ästhetische Opposition zurück': „Ich wirke, spielend freier Hand, / Mein helles Ethos silberner Bestimmung" (IV,3 f.) - „Weil ich, statt kampfgenössisch Sturm zu läuten, / Auf blauer Gondel durch den Äther fahre" (11,3 f.). Lötz setzt in Abgrenzung des lyrischen Subjekts zu den „ernsten Freunden" (11,1) jene .ästhetische Opposition' - wie sie zum Beispiel noch Stadlers „Praeludien" kennzeichnet - nicht mehr gegen die als Jiäßlich', ,technifiziert', nationalisiert', .ökonomisiert' und ,profitorientiert' pejorisierte Industrialisierung aller Lebensbereiche, sondern gegen die Sublimation des heroischen Augenblicks in seinem theoretischen Abbild. 30 In dem Gedicht „Begreift!" ist die Grenzscheide markiert zwischen dem Rückzug in die .ästhetische Opposition' und dem .voluntaristischversubjektivierten Aufbruch', wobei das ,Aufbruchs'-Motiv im Gegensatz zu Stadler und Schickele einen innovativen, latent politisch konnotierten Identifikationshorizont einbezieht. Der Rückzug ist nur noch in Abgrenzung zu den theoretisierenden .Revolutionären' möglich, der Aufbruch noch nicht, weil die Identifikation mit dem Naturereignis' Revolte die Zukunft initiieren muß. Weil sie das .Abbild' m i t dem,Original'verwechseln, „überträumen" (IV.2) die Provokateure „die Zeiten" (IV,2); und deshalb „wirkt" (IV,3) der Poet, weil er in der Kunst die Differenz zwischen Utopie 30 Klaus L. Berghahn meint allerdings zur letzten Strophe dieses Gedichtes, losgelöst aus ihrem textuellen Kontext und projiziert auf die .Aufbruchs'Thematik im Text , Aufbruch der Jugend": „Das ist noch jener dem Symbolisten eigene l'art pour l'art-Adel, der es dem Dichter verbietet, sich seine Hände an politischer Lyrik schmutzig zu machen" (K.L.B., Aufbruch der Jugend, S. 109).

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und Wirklichkeit bewußt macht, um die totale Erfüllung des ,ganz Anderen', das im Bild des „Barrikadenschreis" (111,2) aufgehoben ist, zu bewahren gegen die Wirklichkeit in ihrem Mangel, die keine Freiräume mehr kennt, gegen die Sublimation des Mangels in ,Theorie', .Agitation' und ,Programmatik', welche die Revolte emphatisch fordern, aber nicht machen.31 Erst die Kollektivierung des lyrischen Subjekts, die Transformation des ,Ichs' in ein ,Wir', nivelliert auch in Lötz' Gedichtband „Wolkenüberflaggt" die „klassifikatorische Grenze" zwischen Entfremdung und voluntaristisch-versubjektivierter Aufhebung. Aber nicht mehr die Identifikation mit der ganzen Realität, mit der Totalität des Lebens wird zum Produkt des initiierten Aufbruchs, sondern die Identität mit einem diffusen Protagonisten der ,Erneuerung' zentriert die ,Aufbruchs'-Thematik in einem latent politisch konnotierten utopischen Modell, das aus dem katastrophalen Untergang der,alten Gesellschaft' das abstrakt neue ,Reich der Freiheit' entfaltet. Im Text „Erster Mai" gelingt zwar der Aufbruch in den abstrakt utopischen Horizont einer von allem ,Alten' gereinigten ,Neuen Zeit' noch nicht, aber das Kollektiv formiert sich, welches die Anonymität des lyrischen Subjekts aufbricht — und die subjektivistisch-voluntaristische Tat-Ideologie impliziert: Erster Mai Gesang der Scharen, vom Frühling geschürt, das wiegende Schreiten gegliederter Prozessionen, Schwank durch die Gartenbäume flammten ihre Farben, heiß und vom Winde geschleift, Irr in den Lüften taumelten ihre Worte, ihr Haß und ihr Traum von zerbrechenden Thronen, Kühn, maßlos war der Frühling zum Blühen und war verwintertes Blut zu drohendem Atem gereift! Klirrend erwachten aus Häuserfronten verziekelte Bärte, Kaum erfühlbar geschüttelt von blaß gerötetem Staunen ihr schüchterner Halt, Brillenbepanzerte Professoren blinzelten schreckliche Härte Und kauten manierliche Worte, belegt mit Attacken, mit Waffen, Qualm und Gewalt! Aber die Jünglinge, wirr entsprungene Söhne der fenstergehaltenen Alten,

31 Vgl. Helmut Kreuzer, Die Boheme, S. 305.

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Folgten mit ängstlichen Wundern von ferne den schwer Fortziehenden nach, Und sie fühlten sich heldisch durchglüht, als sie verstohlene Fäuste in Taschen ballten, Leuchtend von Träumen des Tages, der Barrikaden und Flammen versprach. (W., S. 31)

Drei sozial konnotierte Gruppierungen innerhalb der Gesellschaft stehen einander gegenüber: die Remonstrierenden Arbeiter', die Klischees des »morbiden Bürgertums' und die zwischen beiden noch festgehaltenen Protagonisten der ,Neuen Zeit'. Die „fenstergehaltenen Alten" in der ,Enge ihrer bürgerlichen Stuben', metaphorisiert im Bild der geifernden Philister, Stellvertreter einer hohlen, degenerierten Ordnung, bilden die Negativ-Folie der vitalistisch-entgrenzten Sehnsucht in den Träumen der „Jünglinge" nach jenem Tag, „der Barrikaden und Flammen" verspricht. Die vorbeiziehenden und bewunderten ,Arbeiter' konturieren jedoch nicht ein Identifikationsobjekt, das für eine konkrete politische Utopie steht: Die ,Demonstration' wird zur paradigmatischen Metapher für das semantische Affinitätsfeld ,Leben — Jugend — Dynamik — Kampf — Revolte', das in seiner politischen Konnotation (in der Entgegenstellung zum saturierten Bourgeois) das ,Vitalismus-Syndrom' der Jahrhundertwende transformieren kann, ohne in eine idyllische Identität mit der ganzen Wirklichkeit — als Raum der intendierten Verwirklichung — zurückzufallen. Die Identifikationsbasis gegenüber Schickele und Stadler wird schmaler; und im Gegensatz zur Verklärung der Wirklichkeit in toto wird nun der schon in den Blick tretende politische Faktor einer gesellschaftlichen Veränderung ,verklärt'. Die Sakrifizierung der .Demonstration' zu einer „Prozession", die Naturmetaphorik des „Blühens" in der Kontamination mit dem Jahreszeitenmotiv und in der Allusion zur ,heroischen Tat' {„Kühn, maßlos war der Frühling zum Blühen und war verwintertes Blut zu drohendem Atem gereift") verweisen auf den literarischen Anspielungshorizont der Jahrhundertwende-Lyrik. Nicht die Revolution als ein geschichtliches Ereignis, das die soziale und ökonomische Struktur der Gesellschaft verändert, wird in den Protagonisten der Arbeiterklasse' herbeigesehnt, denn die Korrespondenz der „Träume" zwischen dem IdentifikationsSubjekt und dem Identifikations-Objekt, zwischen den sakrifizierten 125

(messianisch überhöhten) Scharen von , Arbeitern' und den heroisierten, glorifizierten Scharen der ,Jünglinge', konkretisiert die Revolte als ein ahistorisches, abstraktes Ereignis, in dem .Abenteuer' und ,Erfüllung' aufgehoben sind, das nicht Mittel und Zweck ist, sondern Realisation der Utopie: die exotische Ankunft an den „grünen Küsten der Fernen" („Glanzgesang", V,1 ; W., S. 5). „Irr in den Lüften taumelten ihre Worte, ihr Haß und ihr Traum von zerbrechenden Thronen": Ein solcher Traum umreißt schon den Untergang der , al ten Gesellschaft'; aber die semantische Ausdifferenzierung des ,Traumes' in der lexikalisch-semantischen Ebene des Textes durch die Äquivalenzrelation der Schlußsequenz in ihrer Funktion einer analogen Parallelisierung archisematischer Elemente amalgamiert die politischen Implikationen im Kontext der herbeigesehnten heroischen Tat', der spontanistischen, voluntaristischen Revolte ,um ihrer selbst willen', nämlich der Überwindung der morbiden Médiocrité, des ,EnnuiSyndroms' im Moment des Kampfes, in der situativ verdinglichten Befreiung durch den heroischen Augenblick: „Und sie fühlten sich heldisch durchglüht, als sie verstohlene Fäuste in Taschen ballten, / Leuchtend von Träumen des Tages, der Barrikaden und Flammen versprach": Die Identifikationssehnsucht des lyrischen Subjekts, das in der Kollektivierung zum Topos der ,Jugend' nicht mehr auf den introvertierten Raum des lyrischen Ichs verwiesen ist, erhält eine latent politische Implikation, die freilich auf kein geschichtliches Korrelat verweist. Indem aber die „klassifikatorische Grenze" — Signal der Entfremdung — zwischen dem ,lyrischen Ich' (in seiner Isolation) und einer nur als anonyme Bedrohung und erdrückende Macht perzipierten Umwelt sich öffnet, wächst auch die voluntaristisch versubjektivierte Tendenz zum spontanistischen ,Aufbruch'. Die „Umpolung der ästhetischen Opposition in eine ,aktivistische' ,Tat'-Ideologie" 32 tritt in eine neue Phase; am Vorabend des Ersten Weltkrieges ist die Destruktion des ,Stirb und Werde'-Ideologems in der ,Aufbruchs'Thematik abgeschlossen. Ihre „semantische Umkodierung" auf den Konnex der ,Neuen Zeit' reflektiert in der literarischen Reihe ,Schickele — Stadler — Lötz' den Bruch mit einem utopischen (genauer: utopistischen) Modell der Aufhebung von Entfremdung und

32 Renate Werner, Skeptizismus, Ästhetizismus, Aktivismus, S. 18.

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Verdinglichung, das in seinen signifikanten Merkmalen nur auf das ideologische Substrat aus der (lebensphilosphisch fundierten) Lyrik der Jahrhundertwende rückgekoppelt ist.

c) „Aufbruch der Jugend" — Die falsche Konsequenz Noch deutlicher wird die Tendenz zur „Umpolung der ästhetischen Opposition in eine ,aktivistische' ,Tat'-Ideologie" (Renate Werner), wenn der Schlußtext des Lyrikbandes „Wolkenüberflaggt", „Aufbruch der Jugend" (W., S. 56), exakter als bisher geschehen analysiert wird; 33 denn gegenüber dem Text „Erster Mai" löst sich schon der Protagonist des , Aufbruchs' — die Jugend - von seinem politisch konnotierten Identifikationsobjekt: den demonstrierenden Arbeitern. 34 Die regressive Emanzipation des Jugendlichen kollektiven lyrischen Subjektes' vom realen Träger des politischen Kampfes kann die Sehnsucht nach einem Aufbruch in die ,Neue Zeit', die Differenz zwischen Wirklichkeit und Utopie im Bild der voluntaristisch versubjektivierten Tat nivellieren. In der Metamorphose der Unterdrückten, Entfremdeten, im gesellschaftlichen Raum Heimatlosen, der BohemeExistenzen, zu den Erlösern — verklärt im Modell der biblisch-religiösen Christussymbolik zu Protagonisten einer eschatologischen Dimension — wird die utopische Intention aus ihrer Basis eskamotiert, die in der radikalen Verweigerung gegenüber der Wirklichkeit verankert war, und ersetzt durch ein ideologisches Potential, das in seiner Funktionalität die Geschichtlichkeit der historischen Situation in ihren Widersprüchen zudeckt und im geschichtlich perspektivlosen Büd der ,selbstgenügsamen' spontanistischen Revolte zum Paradigma des Umsturzes einer jeden Ordnung werden kann. Beglänzt von Morgen, wir sind die verheißnen Erhellten, Von jungen Messiaskronen das Haupthaar umzackt, Aus unsern Stirnen springen leuchtende, neue Welten, Erfüllung und Künftiges, Tage, Sturmüberflaggt! (VI)

Die Identifikation mit der „Erfüllung" (VI,4) garantierenden heroischen Situation antizipiert nicht die ,neue Gesellschaftsordnung' in 33 Vgl. besonders Klaus L. Berghahn, Aufbruch der Jugend, S. 121. 34 Vgl. Klaus L. Berghahn, Aufbruch der Jugend, S. 114f.

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den Metaphern der „neuen Welten" (VI,3), des „Künftigen" (VI,4), sondern mobilisiert den ,Rückzug in die falsche Konsequenz', die im poetischen Bild - aus dem literarischen Anspielungshorizont der Jahrhundertwende — jenseits der Erfahrung von Leid, Entfremdung und Unterdrückung den Kampf zum Inhalt der Freiheit macht: Grell wehen die Fahnen, wir haben uns heftig entschlossen, Ein Stoß ging durch uns, Not schrie, wir rollen geschwellt, Wie Sturmflut haben wir uns in die Straßen der Städte ergossen Und spülen vorüber die Trümmer zerborstener Welt. Wir fegen die Macht und stürzen die Throne der Alten, Vermoderte Kronen bieten wir lachend zu Kauf, Wir haben die Türen zu wimmernden Kasematten zerspalten Und stoßen die Tore verruchter Gefangnisse auf. Nun kommen die Scharen Verbannter, sie strammen die Rücken, Wir pflanzen Waffen in ihre Hand, die sich fürchterlich krampft, Von roten Tribünen lodert erzürntes Entzücken, Und türmt Barrikaden, von glühenden Rufen umdampft. (1I1-V)

Die reale Isolation des zum ,Erlöser' stilisierten kollektiven lyrischen Subjekts reduziert die Reaktion auf ein bloßes Reagieren,, auf eme scheinbar tatsächliche Ohnmacht, die der Freisetzung des paradiesisch ,Neuen' nichts anderes entgegensetzen kann als einen schon gebrochenen Widerstand. So degeneriert die politische Konnotation zur vitalistisch-ästhetischen Überwindung des ,Alten': die voluntaristisch versubjektivierte Tat schüttet die Erkenntnis ihrer Unmöglichkeit zu. Noch im Text „Glanzgesang" scheitert der Aufbruch, gerade weil die reale Entfremdung von den gesellschaftlichen Produktionsbedingungen (in der stickigen, aber disziplinierten Luft' wilhelminischer Kontor-Herrschaft) Basis des Ausbruchs ist, der in den gesellschaftlich sanktionierten ,Freiräumen', die eben keine sind, sein Ende findet. Und weil dies Ende keine Versöhnung mit der Wirklichkeit zuläßt — nicht mit den Orten der Unterdrückung und nicht mit dem folgenlosen „Schwatzen" über Unterdrückung —, erscheint um so nachdrücklicher die Insistenz auf die Inhalte der utopischen Tagträume, die Resistenz gegen den Mangel der Realität. Die Anfangsstrophen des Gedichtes „Aufbruch der Jugend" kennzeichnen eine andere Basis; literaturgeschichtlich wie sozialgeschichtlich: Die flammenden Gärten des Sommers, Winde, tief und voll Samen,

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Wolken, dunkel gebogen, und Häuser, zerschnitten vom Licht. Müdigkeiten, die aus verwüsteten Nächten über uns kamen, Köstlich gepflegte, verwelkten wie Blumen, die man sich bricht. Also zu neuen Tagen erstarkt wir spannen die Arme, Unbegreiflichen Lachens erschüttert, wie Kraft, die sich staut, Wie Truppenkolonnen, unruhig nach Ruf der Alarme, Wenn hoch und erwartet der Tag überm Osten blaut. ÍI-II)

Nicht die Entfremdung in der Gesellschaft wird zum Ausgangspunkt des ,Willens zur Tat', sondern die Velleität und das ,Ennui-Syndrom' als Folge eines übersteigerten Autismus und Egotismus, die gegen die Abstumpfung aller Sinne durch die Perzeption immer gleicher wiederkehrender und immer fader werdender Vergnügungen die Reizschwelle' permanent erhöhen müssen, um die sensualistisch geprägten Bedürfnisse des — von der Reproduktion seines Lebens durch Arbeit freigesetzten — Subjekts durch immer neue enervierende Spannungen befriedigen zu können. Renate Werner hat den sozialgeschichtlichen Zusammenhang des „dekadentistischen Egotismus", der „autistischen Ich-Steigerung" und der voluntaristisch versubjektivierten ,Tat' im Kontext der Literatur der Jahrhundertwende am Beispiel des frühen Heinrich Mann analysiert. 35 „Inhärent ist diesen neuen Ideologien sehr oft eme emotionalistische Theorie der ,Tat' als kämpferisches Wollen, das eher auf eine Ich- und Lebenssteigerung aus ist als auf konkrete, durch die ,Tat' gesetzte Ziele." 3 6 Der Versuch, aus den Müdigkeiten" auszubrechen in eine vitalistische Entgrenzung garantierende aktivistische Spontaneität, ist — nolens volens — eine der möglichen Charakterrollen des Dilettanten oder des Dandy. Auszubrechen aus einer so beschriebenen Basis reproduziert die falsche Konsequenz, denn der Aufbruch intendiert die Totalität des Lebens als Erfüllung aller Erfahrungen, das geschichtlich konkretisierte revolutionäre Ziel aber die Gleichheit der Erfahrungsmöglichkeiten: es steht der abstrakten utopischen Intention, dem konkreten Egoismus partikularer Interessen entgegen. Klaus L. Berghahn sieht Lötz „zwischen den Extremen der frühexpressionistischen Weltuntergangsvision, die bei Heym, van Hoddis und Trakl auftauchen, 35 Renate Werner, Skeptizismus, Ästhetizismus, Aktivismus, S. 16 f. 36 Renate Werner, Skeptizismus, Ästhetizismus, Aktivismus, S. 17.

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und einem politischen Engagement, das wir bei Rubiner antreffen." Auch lasse sich „die Revolutionsthematik (...) in diesem Gedicht klar erkennen, wenn sie auch stark noch idealistisch-utopische Züge" habe. „Daß Lötz die Schriften von Marx nicht gelesen" habe, disqualifiziere „ihn nicht eo ipso als revolutionären Dichter." 3 7 Wenn die hermeneutisch-kritische Distanz zum Analyseobjekt nivelliert und es selber aus der literarischen Evolution eskamotiert wird, müssen zusätzliche Quellen herangezogen werden. Und so bezieht sich Berghahn denn auch nicht so sehr auf den Text „Aufbruch der Jugend", sondern adaptiert die Meinung Kurt Hillers, 3 8 der zu den engeren Freunden von Lötz gehörte: „Hätte er überlebt — er wäre fraglos Mitträger, vielleicht Führender, einer fortschrittlichen, einer sehr sozialen und radikal freiheitlichen Bewegung geworden. (...) Lötz repräsentiert unter den expressionistischen' Dichtern, zusammen mit Walter Hasenclever und Ludwig Rubiner, eindeutig den aktivistischen Typ."39 Wie wenig die (relative) Autonomie des Werkes in seiner ästhetischen Struktur mit der Erinnerung von Zeitgenossen und selbst mit der Biographie des Autors zu tun hat, wenn das Literaturprodukt aus der Hand gegeben und in den Rezeptionsprozeß gestellt worden ist, kann eine ,unzulässige' Reminiszenz belegen, die in ihrer Unzulässigkeit die Methodologie einer kritischen Hermeneutik deutlicher macht. Am 6. August 1914 schreibt Lötz von der Westfront an seine Frau: „Und auf allen Gesichtern sieht man eine groß leuchtende Begeisterung, es gibt keine Unterschiede mehr zwischen Socialdemokraten, Elsässern und Patrioten, überhaupt kaum Hurrah-Patrioten, nur freudig ernste Verteidiger des Vaterlandes. Das Wort ,Vaterland' ist mir in diesen Tagen bedeutend geworden, denn wie mächtig muß ein Wort, ein Begriff sein, wenn die, die daran glauben, trotz ihres bedrückenden Wissens um die Not und Verlassenheit von Frau und Kindern (wir haben hier Reservisten, die 8—12 Kinder zurücklassen), daß ernste Leute, nicht sowohl dem Zwange gehorchend, sondern mit 37 Klaus L. Berghahn, Aufbruch der Jugend, S. 122. 38 Vgl. Horst W. Müller, Die Briefe von und an Ernst Wilhelm Lötz, S. 568. 39 Kurt Hiller, Begegnungen mit Expressionisten, in: Expressionismus. Aufzeichnungen und Erinnerungen der Zeitgenossen, hg. von Paul Raabe, Ölten und Freiburg 1 9 6 5 , S . 3 2 f .

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Wärme sprechen und handeln, um dieses Unsichtbare, Mystische, das auch ihnen erst in diesen Tagen aufgegangen ist, groß zu erhalten? Geliebte Henny, es gibt wirklich ein Vaterland trotz der Skepsis einiger Intellektueller und so groß und so stolz ist es, daß es nicht nötig hat, die Künstler und Dichter, die kleinen Blüten, so von einem Wesen künden dürfen, zu verschonen. Das Vaterland ist auch die unsichtbar schwebende Wohnung der Nation; süße Henny, ich bin Dichter und, wirklich, ich kann sie auch sehen, jetzt, da man sie niederzureißen versucht. Die Skeptiker mögen sagen, was sie wollen, aber ein Land, das wie unseres Unsterbliches gezeugt hat und heute noch Starkes hervorbringt (ich meine unsere junge, aufgehende Kunst, deren einer Vertreter ich selbst zu sein glaube), vor allem aber ein Volk, das sich wie im jetzigen Kriege so einmütig bejaht (und die Spione und Verräter sind mir eine Bestätigung dafür), ein solches Volk und Land darf sein mächtiges schlagendes Herz mit den kleinen Herzen seiner Vertreter panzern. Ich, der ich oft und vielleicht nicht mit Unrecht mich einer großen persönlichen Zukunft stolz bewußt fühlte, als Faktor einer neuen hellen Kultur: heute bin ich nichts als Soldat, als Waffe, als ein wichtig-unwichtiger Führer einer kleinen Zahl von Kameraden; und noch eine andere Unsichtbarkeit, die Pflicht, kann ich heute Daseins groß sehen; ich konnte mein eigenes Schicksal lässig sich selbst seinen glücklichen Weg suchen lassen, aber für das Geschick des Vaterlandes fühle ich, im kleinen Teile, mich mit verantwortlich, so wie jeder gemeine Mann, der in meinem Zuge unter meiner Führung dient." 40 Auch dies ist ein Dokument politischen Bewußtseins und belegt zumindest ideologiegeschichtlich die Unangemessenheit einer ex post Reihung, in der u.a. Namen wie Rubiner, Hasenclever, Toller und Becher genannt werden.41 Innerhalb der literarischen Evolution ist im Kontext der Utopie des,Aufbruchs' die Ambivalenz der Lötzschen Position umrissen worden: In Texten wie „Glanzgesang" und „Begreift!" kann die Kontrafaktur zur bloßen Transformation des ,Stirb und Werde'-Ideologems in innovative Themen nachvollzogen werden; die expressionistische Irritation zur automatisierten Folie. Der Text 4 0 Brief vom 6.8.1914 an Henny Lötz, in: E.W.L., Prosaversuche und Feldpostbriefe, S. 64 f. 41 Vgl. Friedrich Albrecht, Deutsche Schriftsteller in der Entscheidung, S. 3 0 33.

131

„Aufbruch der Jugend" enthält jedoch schon ideologische Implikationen, die das beschriebene Basisideologem aus der Lebensphilosophie und Literatur der Jahrhundertwende in einer neuen Qualität abrufen: im Kontext eines politisch konnotierbaren, jedoch zugleich auch verklärenden säkularisierten Messianismus.

132

III. Die Dialektik von Utopie und Ideologie: Ludwig Rubiners aktivistische Manifeste, Appelle und Programme

Täglich dröhnt vor uns das Jüngste Gericht auf. Täglich müssen wir uns dem Gerichtsspruch des Absoluten stellen. Einst war diese Gewissensstunde der Menschheit fürchterlichste Drohung und Henkersangst. Heut ist sie die letzte, die einzige Rettung. Trostreichste Rettung ist es, daß wir unsere grausamsten Henker hinter uns lassen, die Ausflüchte, die Zweideutigkeiten, die Versteckspiele. Das Jüngste Gericht brüllt hinaus zur Welt mit allen Gigantenchören sternzitternder Wunderposaunen den schrillend hellen Schrei: E n t scheidung! Vor unsern Herzen ist kein Zweifel mehr möglich. Die Welt ist Gut oder Böse. Recht oder Unrecht. Liebe oder Gewalt. Freiheit oder Sklaverei. Alles was darüber, darunter, dazwischen ist, ist Betrug. Betrug zugunsten von Böse, Unrecht, Gewalt, Sklaverei. Entscheidung! Und jeder Mensch muß auf alle Ewigkeit sich entscheiden, täglich neu, für das Recht, die Hingabe, die Freiheit. Ludwig Rubiner (1917)

Im vorangehenden Abschnitt der Untersuchung wurden Texte interpretiert, die — als Paradigmen der ,Aufbruchs'-Thematik - Elemente einer kompliziert strukturierten thematischen Invarianz sind und in ihrer jeweiligen kontextuellen Referentialität Zusammenhänge zwischen utopischer Intention und ideologischem Substrat verdeutlichen konnten. Alle Texte sind vor dem August 1914 geschrieben worden und gehören somit, vermittelt über die thematische Invarianz, zu einem qualitativ homogenen Abschnitt in der Chronologie expressionistischer Lyrik: Für den Frühexpressionismus Thema das signifikante

ist das literarisierte

Utopie-Modell.

,Aufbruchs'-

Generell verändert sich nach

August 1914 die utopische und ideologische Valenz des ,Aufbruchs'Themas im Kontext anderer, dominanter werdender Utopie-Modelle. Ein Beispiel hierfür liefert der Werkkontext Johannes R. Bechers, der in seinen frühen leitmotivischen Bänden „Verfall und Triumph" (1914) 133

die Polarität von ,Untergang und Neubeginn', die Erlösung durch die Katastrophe in einem apokalyptischen Strafgericht für die bürgerliche Gesellschaft skizziert und bis zu seiner sogenannten ,Um-Gott'-Phase nur bedingt im sich verändernden historischen Kontext variiert.1 Im Modell einer Utopie der ,Untergang-Aufgang'-Polarität wäre die Funktionalisierung des Aufbruchs-Motivs weiter zu verfolgen. Hypothetisch kann gefolgert werden, daß die ästhetische Gültigkeit der frühexpressionistischen , Aufbruchs'-Utopie im radikal nach 1914 sich wandelnden Geschichtsprozeß, im Voranschreiten auf eine revolutionäre Lösung gesellschaftlicher Widersprüche, immer mehr an Substanz verliert. Die ästhetische Gültigkeit nimmt in dem Maße ab, wie der individualistische oder kollektiv versubjektivierte , Aufbruch' in Widerspruch gerät zum gesellschaftlichen Äquivalent dieser poetisch-utopischen Modellierung: dem politischen Kampf um die Reorganisation der gesellschaftlich-sozialen Basis, der Umwälzung der Produktionsverhältnisse und Verkehrsformen allgemein. Eine neue Qualität in der literarischen Evolution utopischer Modelle für die expressionistische Lyrik nach dem August 1914 kennzeichnet die aktivistischen Programme, Manifeste und Appelle, und zwar in ihrer latenten Identifikation von Kunst und Politik, Utopie und Wirklichkeit als - idealtypisch abstrahiert — Antwort auf die Identitätssuche, wie sie in Lötz' Gedicht „Aufbruch der Jugend" bis an eine dem Modell der Utopie vom , Aufbruch' immanente Grenze vorangetrieben worden war. Und in dieser neuen Qualität gewinnt ein Problem an Konturen, das für den folgenden Abschnitt der Untersuchung die Fragestellungen strukturieren wird: Die „ästhetische" (Mukarovsky)2 oder „poetische Funktion" 3 (Jakobson) der Sprache 1

Vgl. hier Johannes R. Becher, Verfall und Triumph, 2 Bände, Berlin 1914 (Erster Teil: Gedichte; Zweiter Teil: Versuche in Prosa); J.R.B., Verbrüderung. Gedichte, Leipzig 1916 (= Band 25 der Bücherei „Der jüngste Tag"); J.R.B., An Europa. Neue Gedichte, Leipzig 1916; J.R.B., Die heilige Schar. Gedichte, Leipzig 1918; J.R.B., Päan gegen die Zeit. Gedichte, Leipzig 1918; J.R.B., Gedichte für ein Volk, Leipzig 1919; J.R.B., An Alle! Neue Gedichte, Berlin 1919; J.R.B., Zion. Gedichte, München 1920 (= Band 8 2 der Bücherei „Der jüngste Tag"); J.R.B., Ewig im Aufruhr. Gedichte, Berlin 1920; J.R.B., Um Gott, Leipzig 1921 (Erster Teil: Gedichte, Zweiter Teil: Arbeiter Bauern Soldaten. Der Aufbruch eines Volks zu Gott. Ein Festspiel, Dritter Teil: Klänge im Vorlaut, Vierter Teil: Triumph des Todes, Gebet, Gang, Apotheose, Fünfter Teil: Urach).

2

Vgl. Jan Mukafbvsky, Ästhetische Funktion, Norm und ästhetischer Wert als

134

in der Textsorte ^Manifest, Appell, Programm' wird zeigen, daß die hierunter zu subsumierenden Paradigmen aus dem Kanon der eindeutig diskursiven, nicht-literarischen Texte auszugliedern sind und nur in ihrer spezifischen Bedeutung erfaßt werden können, wenn sie in einer übergreifenden Textsorte integriert werden, die den ,aktivistischen Appell' und das ,aktivistische Agitationsgedicht', das ,aktivistische Manifest' und dessen .Transformation in Verse', das ,aktivistische Programm' in Form eines Essays und seine .poetische Modellierung' als generative Einheit erfaßt. Diese generative Einheit könnte die Notwendigkeit eines neuen Werkbegriffs für bestimmte komplexere Zeichen in der Literatur verdeutlichen. Diese komplexeren Zeichen wären analog den einfacher strukturierten Texten zu hierarchisieren: es entstünde eine Textsortenhierarchie, die die Einheit zunächst relativ verschieden anmutender Texte umschlösse; diese Einheit wäre nicht gattungsspezifisch strukturiert, sondern baute sich auf durch ein — hierarchisch sequentierbares — Anwachsen von Literarizität als Merkmal einer sukzessive dominanter werdenden „poetischen Funktion" gegenüber anderen, der „emotiven", „referentiellen", „phatischen", „metasprachlichen", „konativen".4 Im ganzen wäre die Hierarchie gekennzeichnet durch eine fortlaufende „DenotationsabSchwächung zugunsten eines Konnotationsaufbaus". 5 Vorwegnehmend kann angedeutet werden, daß die scharfe Trennung zwischen Aktivismus und Expressionismus, zwischen Politik und Kunst, essayistischer Weltanschauung und ingeniöser Poesie, wie sie Wolfgang Paulsen für die Forschung verbindlich gemacht hat, die Dialektik von Utopie und Ideologie in dieser übergreifenden Textsorte zugunsten eines ,Entweder-Oder' nivelliert hat. Und die ästhetische Gültigkeit leitete sich dabei mechanizistisch aus Gattungskonstituentien ab. Entweder äußert sich der Protagonist diskursiv-analytisch,

3

4 5

soziale Fakten, S. 1 1 - 3 4 ; Zitat zum Beispiel S. 11. Roman Jakobson, Linguistik und Poetik, in: Jens Ihwe (Hrsg.), Literaturwissenschaft und Linguistik. Eine Auswahl zur Theorie der Literaturwissenschaft, Band 1, Frankfurt am Main 1972 (= Fischer Athenäum Taschenbücher Literaturwissenschaft 2015), S. 108. Roman Jakobson, Linguistik und Poetik, S. 109. Wolfgang Iser, Der Lesevorgang. Eine phänomenologische Perspektive, in: Rainer Warning (Hrsg.), Rezeptionsästhetik. Theorie und Praxis, München 1975 (= UTB 303), S. 255.

135

essayistisch-programmatisch oder in der poetischen Entäußerung der erlebten Welt, deren Demiurg der Dichter wird in der F o r m u n g seiner ästhetischen

Aneignung

der Wirklichkeit. Prägnant faßt Wolfgang

Paulsen dieses Mißverständnis z u s a m m e n , w e n n er folgert: „Entweder m a c h t m a n die Welt z u m Objekt — u n d dann wird m a n (unter anderem) z u m Aktivisten — oder m a n löst sie auf — u n d dann ist m a n (unter anderem) Expressionist." 6

1. Die „ästhetische Funktion" aktivistischer Manifeste, Appelle und Programme a) Die subpoetische Struktur der T e x t s o r t e .Manifest, Appell, Programm' Mit dem Maßstab einer normativen Poetik, die für d e n ausgegrenzten literarhistorischen Zusammenhang auf gattungsgeschichtlich .verbindliche' Werke zurückgreifen kann, sind die Manifeste, gramme7

Appelle,

Pro-

in ihrem t e x t t y p o l o g i s c h e n Aspekt aus d e m K a n o n der

6

Wolfgang Paulsen, Expressionismus und Aktivismus. Eine typologische Untersuchung, Bern und Leipzig 1935, S. 15. - Adorno hat jenseits apriorischer Gattungskonstituentien den Rahmen abgesteckt, in dem das Problem einer in ihrer „ästhetischen Funktion" komplizierten Textsorte adäquater diskutiert werden kann, wenn er den „Essay als F o r m " beschreibt: „Die Regungen der Autoren erlöschen in dem objektiven Gehalt, den sie ergreifen. Die objektive Fülle von Bedeutungen jedoch, die in jedem geistigen Phänomen verkapselt sind, verlangt vom Empfangenden, um sich zu enthüllen, eben jene Spontaneität subjektiver Phantasie, die im Namen objektiver Disziplin geahndet wird. Nichts läßt sich herausinterpretieren, was nicht zugleich hineininterpretiert wäre. Kriterien dafür sind die Vereinbarkeit der Interpretation mit dem Text und mit sich selber, und ihre Kraft, die Elemente des Gegenstandes mitsammen zum Sprechen zu bringen. Durch diesen ähnelt der Essay einer ästhetischen Selbständigkeit, die leicht als der Kunst bloß entlehnt angeklagt wird, von der er gleichwohl durch sein Medium, die Begriffe, sich unterscheidet und durch seinen Anspruch auf Wahrheit bar des ästhetischen Scheins" (Theodor W. Adorno, Der Essay als Form, in: Th.W.A., Noten zur Literatur I, Frankfurt am Main 1958 [= Bibliothek Suhrkamp 47], S. 9 - 4 9 ; Zitat S.12f.).

7

Eine Zusammenstellung der für dieses Kapitel herangezogenen Quellen findet sich in chronologischer Anordnung mit den bibliographischen Nachweisen an

136

Kunst ausgegliedert worden: sie waren niemals Gegenstand der Untersuchung im ,Rahmen der Literatur'. Wenn eine Literaturgeschichte davon ausgeht, daß für die Zeit von 1890 bis 1925 einerseits George, Rilke und Hofmannsthal in ihrer Lyrik die Kriterien für die Bewertung von hoher Literatur bereitstellen, andererseits eine beachtenswerte Avantgarde sich formiert, die innovative poetische Verfahren in einer akzeptierten, noch Kunst signalisierenden Norm zur Diskussion stellt, und mit Autoren wie Heym, Trakl, Benn, Werfel, Stadler, aber auch noch van Hoddis, Becher, Zech, Göll, Ehrenstein identifiziert wird, dann ist die Essayistik und appellativ-programmatische Agitations-Lyrik des Aktivismus, wie ihn Ludwig Rubiner in seinem Werk verkörpert, höchstens unter ideologiegeschichtlichem Blickpunkt relevant. Aber nicht das politische Programm des Aktivismus, dessen exemplarischer Protagonist Ludwig Rubiner neben Kurt Hiller war, soll einer ideologiekritischen Prüfung unterzogen werden, denn das politische Programm des Aktivismus hat seine pragmatische Grenze innerhalb des Systems der Kunst, wie zu zeigen sein wird. Jeder Versuch, diese Heuristik einer „Änderung der Welt" 8 (Ludwig Rubiner) auf einer Vergleichsgrundlage zu diskutieren mit Parteiprogrammen, mit gesellschaftswissenschaftlichen Grundtheoremen oder philosophischen

8

entsprechender Stelle im Literaturverzeichnis. Ludwig Rubiner selbst hat einen Teil seiner Publikationen, die bis 1916 erschienen waren, unter dem Titel „Der Mensch in der Mitte" zusammengestellt; diese Auslese wurde in Franz Pfemferts Sammlung „Politische Aktionsbibliothek" als zweiter Band im April 1917 herausgebracht (L. R., Der Mensch in der Mitte, Verlag der Wochenschrift „Die Aktion", Franz Pfemfert, Berlin-Wilmersdorf 1917). Zuvor war von Ludwig Rubiner im Verlag Kurt Wolff, Leipzig, der Gedichtzyklus „Das himmlische Licht" als Band 33 der Bücherei „Der jüngste Tag" im September 1916 erschienen - zitiert im folgenden als D.h.L. Eine Auswahl wichtiger Arbeiten Rubiners stellte Klaus Schuhmann zusammen: L.R., Der Dichter greift in die Politik. Ausgewählte Werke 1 9 0 8 - 1 9 1 9 , hg. und mit einem Nachwort von Klaus Schuhmann, Frankfurt am Main 1976 (= Röderberg Taschenbuch Band 44) - zitiert im folgenden als AW. Ludwig Rubiner, Die Änderung der Welt, in: Das Ziel. Aufrufe zu tätigem Geist, hg. von Kurt Hiller, München und Berlin 1916 (= Das Ziel 1, 1916), S. 9 9 - 1 2 0 ; aufgenommen in: L.R., Der Mensch in der Mitte, S. 8 4 - 1 1 1 (der Essay wird im folgenden nach dieser Ausgabe zitiert); wieder abgedruckt in: Der Aktivismus 1 9 1 5 - 1 9 2 0 , hg. von Wolfgang Rothe, München 1969 (= dtv Dokumente' 625), S. 5 4 - 7 2 .

137

Modellen, scheitert an der Literarizität dieses Textsortenkomplexes und der „ästhetischen Funktion" in ihm. Bisher ist in der Forschung die Textsorte Manifest, Programm, Appell' — worunter auch der Textzyklus „Das himmlische Licht" zu subsumieren ist — in ihrem abstrakt diskursiven, nicht-literarischen Gehalt auf theoretische Positionen projiziert und in ihrer defizitären Valenz kritisiert worden. Weil die Argumentation weder auf dem Boden des historischen und dialektischen Materialismus noch in Kongruenz mit relativ konsistenten Staatsphilosophien stehe, vor allem anarchistischer Varianten von Blanqui über Bakunin, Kropötkin bis zu Landauer, sei die aktivistische Position, wie sie Rubiner vertrete, polysemantisch,

kontextuell

offen,

damit weltanschaulich suspekt;

9

also literarisch-essayistisch und

so könnte ein Grundzug der For-

schungslage charakterisiert werden, auf die im einzelnen während der Analyse umfassend eingegangen werden wird. Zu differenzierteren Ergebnissen, als sie der bisherige Forschungsstand bereitstellt, führt eine methodologisch reflektierte Heuristik, welche die Funktion

von Sprache

in komplizierteren Kommunika-

tionsstrukturen berücksichtigt und zunächst einmal davon ausgeht, daß Sprache — ob sie in primär modellierenden oder in sekundär modellierenden Systemen (vom Typ Kunst) eingesetzt wird 10 — 9 Lothar Peter hat in seiner materialreichen Untersuchung („Literarische Intelligenz und Klassenkampf") die explizit parteipolitischen und organisatorischen Bindungen im Zusammenhang des geistesgeschichtlichen Hintergrundes für wichtige Vertreter des Aktivismus analysiert. Allerdings bestätigt Peter noch einmal ausdrücklich Lukács' historische und tendenziell falsche Ideologie-Einschätzung, wodurch die Einzelergebnisse der Arbeit in wesentlichen Zügen immer vorprogrammiert sind. Vgl. zum Beispiel: „Lukács (gelang es) trotz einer oftmals vergröbernden Begrifflichkeit und eines schwerfälligen Sprachduktus die Abhängigkeit der antibürgerlichen Tendenzen des Expressionismus von ideologischen Strukturen des Bürgertums nachzuweisen und noch in den augenscheinlich systemfeindlichen Äußerungen des Expressionismus (Pazifismus, Republikanismus, ethischer Sozialismus etc.) jene Momente zu benennen, die allgemein den Übergang der Expressionisten zur sozialistischen, auf der Seite des Proletariats am Klassenkampf aktiv teilnehmenden Intelligenz blockierten" (S. 183). - Zum Begriff ,Aktivismus', zu seiner Entstehung und Geschichte sowie seinem philosophiegeschichtlichen Kontext vgl. auch Renate Werner, Skeptizismus, Ästhetizismus, Aktivismus, S. 277 Anmerkung 68. 10 Vgl. Jurij M. Lotman, Die Struktur literarischer Texte, S. 1 9 - 5 4 .

138

bestimmte Faktoren beinhaltet, die den Kommunikationsprozeß strukturieren. Nach Jakobson lassen sich diese Faktoren schematisch darstellen: „Kontext Empfanger

Nachricht

Sender

Kontaktmedium Kode Jeder dieser sechs Faktoren bestimmt eine andere Funktion der Sprache. Wenn wir auch sechs grundlegende Aspekte der Sprache unterscheiden, werden wir doch kaum eine sprachliche Nachricht finden, die nur eine Funktion erfüllt." 11 Für das genuin sekundär modellierende System vom Typ ,Wortkunst' stellt Jakobson heraus, daß hier der Faktor .Nachricht' gegenüber den anderen eine relative Autonomie gewinnt. „Die Einstellung auf die Nachricht als solche, die Zentrierung auf die Nachricht um ihrer selbst willen, ist die poetische Funktion der Sprache. Die Funktion kann nicht mit Gewinn außerhalb der allgemeinen Probleme der Sprache untersucht werden, und es muß - auf der anderen Seite jede genauere Untersuchung der Sprache ihre poetische Funktion eingehend berücksichtigen. Jeder Versuch, den Wirkungsbereich der poetischen Funktion auf Dichtung zu reduzieren oder Dichtung auf die poetische Funktion zu begrenzen, wäre eine irrige Vereinfachung. Die poetische Funktion ist nicht die einzige Funktion der Wortkunst, sondern nur ihre dominante, determinierende Funktion, während sie in allen anderen Sprechaktivitäten eine untergeordnete, akzessorische Rolle spielt. Indem diese Funktion die unmittelbare Erfahrbarkeit der Zeichen ermöglicht, vertieft sie die fundamentale Dichotomie von Zeichen und Objekten." 1 2 Den Grundfaktoren einer jeglichen Sprachkommunikation korrespondieren in der ,Wortkunst' demnach folgende Funktionen:

11 Roman Jakobson, Linguistik und Poetik, S. 104. 12 Roman Jakobson, Linguistik und Poetik, S. 108.

139

„Referentiell Emotiv

Poetisch

Konativ

Phatisch Metasprachlich"13 Für die Analyse der hierarchisch gegliederten Textsorte .Manifest, Programm, Appell' — auf der untersten Ebene wäre der literarische Essay anzusetzen, auf der obersten zum Beispiel der Textzyklus „Das himmlische Licht" — wird nun die Einsicht Jakobsons konstitutiv, daß „die Sprachstruktur einer Nachricht vor allem von der prädominanten Funktion ab(hängt)." 14 Um vor allem das methodische Vorgehen in der folgenden Analyse zu verdeutlichen, kann vorwegnehmend hypothetisch formuliert werden: Auf allen Ebenen der Textsortenhierarchie Manifest, Programm, Appell' ist die poetische Funktion signifikant. Dabei ist zu berücksichtigen, daß „der Vorrang der poetischen Funktion vor der referentiellen die Referenz nicht aus(löscht)." 15 Verwirrung entsteht erst dann, wenn die literarischen Essays wie diskursive, nicht-literarische Texte rezipiert werden, weil die Genese von Bedeutung in dieser Textsorte so gar nicht erfaßt werden kann. Allerdings ist bisher eine Schwierigkeit nicht berücksichtigt worden: Offensichtlich ist zum Beispiel Ludwig Rubiners literarischer Essay „Die Änderung der Welt" hinsichtlich seiner semantischen Struktur nicht auf einer Ebene zu betrachten mit der semantischen Struktur des Textzyklus „Das himmlische Licht". Trotzdem wird behauptet, daß auch im Essay die „poetische Funktion" — wie im Gedicht — gegenüber anderen zwar nicht „prädominant" sei, jedoch so dynamisierend, daß der Rezeptionsprozeß im Horizont der Literarizität des Textes vorstrukturiert wird. Trifft für die Textsorte Manifest, Appell, Programm' zu, daß sie nur über den Rahmen ,Kunst' semantisch signifikant wird,16 so muß 13 14 15 16

Roman Jakobson, Linguistik und Poetik, S. 109. Roman Jakobson, Linguistik und Poetik, S. 104. Roman Jakobson, Linguistik und Poetik, S. 127. Vgl. Peter Bürger, Theorie der Avantgarde: „Die Kunst in der bürgerlichen Gesellschaft lebt von der Spannung zwischen institutionellem Rahmen (Freisetzung der Kunst von gesellschaftlichen Verwendungsansprüchen) und möglichen politischen Gehalten der Einzelwerke. Dieses Spannungsverhältnis

140

fìir die Hierarchie innerhalb der Textsorte gesehen werden, daß die Potenz an Literarizität, Poetizität und Ästhetizität von der untersten Ebene zur höchsten graduell wächst. Deshalb kann im literarischen Essay von einer subpoetischen Struktur gesprochen werden und im lyrischen Text von einer poetischen. Die Frage, wann von einer WerkStruktur auszugehen ist und wann nicht, wann ein Text als ein künstlerischer' rezipiert werden muß und wann als ein ,nicht-künstlerischer', wann nur von einer quantitativen Graduation an Poetizität gesprochen werden kann und wann die qualitative Differenz der Poesie gegenüber diskursiven Texten behauptet werden muß, ist nicht ontologisch zu entscheiden; sie ist auf dem Hintergrund konkreter Analysen nur vermittelt einzubringen und dann allerdings mit allem Nachdruck zu diskutieren. Wenn in den literarischen Essays von einer subpoetischen Struktur ausgegangen wird und in den lyrischen Texten von einer poetischen, dann ist auf der einen Seite die qualitative Differenz der Textsorte .Manifest, Appell, Programm' gegenüber diskursiven, nicht-literarischen Texten begrifflich erfaßt und auf der anderen Seite die quantitative Abstufung der verschiedenen Ebenen in der Hierarchie der Textsorte selber. Die subpoetisch strukturierten Texte und die poetisch strukturierten als Einheit — hierarchisch gegliedert zu einer Textsorte — zusammenzufassen, ist deshalb gerechtfertigt, weil auch der untersten Ebene in dieser Hierarchie, den subpoetisch organisierten literarischen Essays, Polysemantizität als Merkmal zukommt. 17 Ist für poetische Strukturen innerhalb ,sekundär modellierender Systeme vom Typ Kunst' (Lotman) ein prädominantes Merkmal die Polysemantizität, so ist diese für subpoetische Strukturen ein differenzierendes Merkmal neben anderen. Das differenzierende Merkmal beinhaltet eine „klassifikatorische Grenze" gegenüber diskursiven, nicht-literarischen semantischen Strukturen. Diese „klassifikatorische Grenze" zwischen literarischer und nicht-literarischer Struktur darf jedoch nicht ahistorisch hypostasiert werden. Sie ist jeweils in ihrer

ist jedoch keineswegs stabil, vielmehr unterliegt es (...) einer geschichtlichen Dynamik, die auf seine Aufhebung hindrängt" (S. 32). 17 Vgl. Roman Jakobson, Linguistik und Poetik, S. 126. 141

Geschichtlichkeit zu verifizieren: somit Gegenstand literaturgeschichtlicher Kritik. Schon Friedrich Schlegel fordert programmatisch im 116. „Athenäums-Fragment" (nach der Zählung von Minor) als definite Qualität einer „progressiven Universalpoesie" die Nivellierung der Grenzen zwischen poesie und Philosophie', künstlerischer Modellierung und diskursiver, analytischer Argumentation'; 18 und seit Nietzsches literarisch-essayistischer Philosophie, 19 seit der literarisch-künstlerisch organisierten Kulturkritik als einer Artisten-Metaphysik' wird die Scheidelinie zwischen literarischem und nicht-literarischem Text im institutionalisierten Rahmen der Produktions- und Reproduktionssphäre von Kunst für die Epoche nach 1890 tendenziell fließend. So kann Mukarovsky zu Recht hervorheben, daß „einige Künste ein Glied in einer kontinuierlichen Reihe (bilden), in der sich auch außerkünstlerische, ja außerästhetische Erscheinungen befinden. (...) Es gibt eine Kategorie von sprachlichen Äußerungen, die auf der Grenzlinie zwischen Mitteilungen und Kunst liegt, nämlich die Rhetorik. Das eigentliche Ziel der Rhetorik, besonders in ihren typischsten Produkten, z.B. der politischen oder kirchlichen Eloquenz, ist es, auf die Überzeugung der Zuhörer einzuwirken. Hierfür ist das wirkungsvollste Mittel die emotionale Sprache (deren Bestimmung der Ausdruck von Gefühlen ist). Da jedoch die emotionale Sprache - als fester Bestandteil des Sprachsystems — oft der Dichtung Gestaltungselemente verleiht, verschiebt sich die Rhetorik, besonders mit einigen ihrer Gattungen und zu gewissen Zeiten ihrer Entwicklung, so weit auf das Gebiet der Poesie, daß sie als Kunst begriffen und gewertet wird. Es gibt aber auch Gattungen und Entwicklungsperioden, die den 18 Vgl. Friedrich Schlegel, Schriften zur Literatur, hg. von Wolfdietrich Rasch, München 1972 (= dtv 6006): „Die romantische Poesie ist eine progressive Universalpoesie. Ihre Bestimmung ist nicht bloß, alle getrennten Gattungen der Poesie wieder zu vereinigen und die Poesie mit der Philosophie und Rhetorik in Berührung zu setzen. Sie will und soll auch Poesie und Prosa, Genialität und Kritik, Kunstpoesie und Naturpoesie bald mischen, bald verschmelzen, die Poesie lebendig und gesellig und das Leben und die Gesellschaft poetisch machen, den Witz poetisieren und die Formen der Kunst mit gediegnem Bildungsstoff jeder Art anfüllen und sättigen und durch die Schwingungen des Humors beseelen" (S. 37). 19 Vgl. Walter Jens, Der Rhetor Friedrich Nietzsche, in: W. J., Republikanische Reden, München 1976, S. 1 0 1 - 1 1 2 .

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mitteilenden Charakter der Rhetorik betonen. Ein ähnliches Schwanken zwischen Dichtung und Mitteilung charakterisiert auch den Essay." 20 Vermieden werden muß jedoch trotz der Affinitäten zwischen subpoetisch-essayistischen und — im Falle Rubiners — poetischlyrischen Texten eine Kontamination der verschiedenen Ebenen in der hierarchisch strukturierten Textsorte .Manifest, Appell, Programm' mit dem Ziel, die semantischen Ambiguitäten und konnotativen Interferenzen der relativ autonomen poetischen Struktur, deren Polysemantizität also, auf der Folie extratextueller Bezüge zu ,glätten', ,eindeutig' zu machen, indem vermeintliche „Leerstellen"21 durch eine Identifikation rückkoppelbarer Äquivalente aus dem Werkkontext, dem subpoetisch-essayistischen Material, gefüllt werden. 22 Bei einem solchen analytischen Vorgehen der Identifikation von polysemantischen Elementen aus der poetischen Struktur mit scheinbar äquivalenten aus der subpoetischen könnten nur die Erkenntnisform und -leistung des substituierten Abstraktions- und Konkretionssystems bewußt werden, nicht aber der Inhalt der prädominanten „poetischen" (Jakobson) oder „ästhetischen" (Mukarovsky) Funktion der Kunst als semantische Differenz, die als qualitative Größe inkommensurabel ist mit anderen Faktoren aus Formen der Wirklichkeitsaneignung und -modellierung, welche primär „auf Analyse und Schlußfolgerungen basieren". 23 Richtig ist, daß „die Kunst kein geschlossener Bereich ist", 24 was die dialektische Einheit der hierarchisch gegliederten Textsorte Manifest, Appell, Programm' verdeutlicht in ihren heterogenen 20 Jan MukafovskJ?, Ästhetische Funktion, Norm und ästhetischer Wert als soziale Fakten, S. 20. 21 Zum Begriff der .Leerstelle' im poetischen Text, wie er von der sogenannten Rezeptionsästhetik verwendet wird, vgl. Wolfgang Iser, Der Akt des Lesens. Theorie ästhetischer Wirkung, München 1967 (= UTB 636), S. 267. 22 Silvia Schlenstedt meint in ihrem Aufsatz „Tat vermähle sich dem Traum", daß Rubiners Essay „Die Änderung der Welt" in seinen „unlösbaren" „Widersprüchen" (S. 149) die beweiskräftige Erläuterung für den „Widerspruch im Denken" (ebd.) sei, wie er im Gedichtband „Das himmlische Licht" offen zu Tage trete. 23 Jurij M. Lotman, Vorlesungen zu einer strukturalen Poetik, S. 21. 24 Jan Mukafovsky, Ästhetische Funktion, Norm und ästhetischer Wert als soziale Fakten, S. 28.

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Ebenen, die in der ,Über- oder Unterordnung' der poetischen Funktion geschieden sind, denn „es gibt weder strenge Grenzen noch eindeutige Kriterien, die die Kunst von dem unterscheiden würden, was außerhalb von ihr ist. Im Laufe ihrer Entwicklung verändert die Kunst unaufhörlich ihre Ausdehnung: sie erweitert und verengt sich. Dennoch — und gerade deshalb — bewahrt die Polarität von Über- und Unterordnung der ästhetischen Funktion in der Hierarchie der Funktionen ihre uneingeschränkte Gültigkeit; ohne diese Polarität würde die Entwicklung des ästhetischen Bereichs ihren Sinn verlieren, denn gerade sie zeigt die Dynamik des kontinuierlichen Entwicklungsprozesses an." 2 5 Diese zunächst einmal hypothetisch formulierte Ableitung des Problemfeldes als einer poetologischen Fragestellung zielt ab auf die Genese von Bedeutung in der hierarchisch gegliederten Textsorte Manifest, Appell, Programm'. Die subpoetisch-essayistischen Beiträge Rubiners in der „Aktion", anderen literarischen Zeitschriften des Expressionismus sowie in den „Ziel"-Jahrbüchern bilden nämlich als untere Ebene in ihrer Zusammenstellung mit den poetisch-lyrischen Texten eine Vergleichsgrundlage. Rubiners Utopie einer „Änderung der Welt", so der programmatische Titel eines seiner Essays aus dem Jahre 1916 — im gleichen Jahr publiziert er den Gedichtzyklus „Das himmlische Licht" —, hat eine referentielle oder latent begrifflich-analytische Basis, obgleich diese Basis nicht verwechselt werden darf mit einer systematischen, erkenntnistheoretisch widerspruchsfreien, logisch operationalisierbaren Theorie oder mit wissenschaftlich sich entfaltender Argumentation. Rubiner versucht, in der Auflösung des Widerspruchs zwischen Kunst als politischer Aktionsform und der politischen Aktion als Inhalts von Kunst die politisch-programmatische Rhetorik des subpoetisch organisierten essayistischen Manifests umzusetzen in eine „prädominant" poetische Struktur als neue Rhetorik der Kunst, die nicht mehr jenseits von Politik steht, sondern Politik sinnlich-konkret vermittelt — und als Ergebnis der Vermittlung zu Politik werden soll. Allerdings geht der Transformationsprozeß dieser latent begrifflich-analytischen,

25 Jan Mukafovsky, Ästhetische Funktion, Norm und ästhetischer Wert als soziale Fakten, S. 28f.

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nur subpoetischen Fixierung einer utopischen Position in eine relativ autonome ästhetische Struktur nicht ohne Rest auf. Im Transformationsprozeß konkretisiert sich die utopische Valenz des Modells und zugleich sein ideologisches Potential: darüberhinaus verändert sich auch die utopische Valenz des Modells, weil in den konnotativen Affinitätsfeldern zur Komplettierung der intratextuell realisierten Bedeutungselemente die Ausdrucksebene des poetischen Textes nun gleich der Inhaltsebene informativ wird, und zwar ungleich stärker als bei den subpoetisch-essayistischen Texten. 26

b) „Ästhetische Funktion" oder Klassifikation als Ideologie? Nachdem in den methodologischen Ansatz primär die Frage nach der „ästhetischen Funktion" in den ,Manifesten, Appellen und Programmen' eingebracht worden ist, wird deutlicher, warum nicht das politische Programm des Aktivismus, zu analysieren mit dem Instrumentarium der Gesellschaftswissenschaften, Gegenstand der Interpretation sein kann. Der Aktivismus war — nolens volens — ein ästhetisches Programm,27 deshalb führt die typologische Trennung von Expressionismus und Aktivismus als Gegensatz von Kunst und Politik auf dem Hintergrund einer falschen Fragestellung in ein vorprogrammiertes Ergebnis. Schon 1935 hat Wolfgang Paulsen kategorisch zwischen dem „Expressionisten" und dem „Aktivisten" unterschieden. „Der Expressionist" sei „der Dichter, der Schöpfer seiner eigenen Welt, der Träumer und der 26 Vgl. Jurij M. Lotman, Zur Distinktion des linguistischen und des literaturwissenschaftlichen Strukturbegriffs, in: Formalismus, Strukturalismus und Geschichte, hg. von Aleksandar Flaker und Viktor 2mega£, Kronberg/Taunus 1974 (= Scriptor Taschenbuch 22), S. 1 0 5 - 1 2 0 ; besonders aber: „In der Sprache entsteht die Struktur elementar und ist geschichtslos, sie fungiert als Mittel der Informationsübertragung. In der Literatur ist die Struktur das Mittel eines schöpferischen Aktes und stellt den Inhalt der Information, ihr Ziel dar. In diesem Fall wird die Struktur zum Modell der vom Schriftsteller reproduzierten Lebenserscheinungen, indem sie mit allen erkenntnistheoretischen Eigenschaften des Modells versehen wird" ( S . I I S ) . 27 Dies hat für den heutigen Forschungsstand überzeugend am Frühwerk Heinrich Manns Renate Werner nachgewiesen. Vgl. zum Beispiel R.W., Skeptizismus, Ästhetizismus, Aktivismus, S. 1 8 - 2 2 .

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Visionär, der von der Zeit Vertriebene, der Ekstatiker, aus bodenloser und grenzenloser Sehnsucht und des Gottsuchens. (...) Der Aktivist" dagegen sei „nicht Künstler, sondern Politiker, Politiker des Geistes und der Idee." 2 8 Solange nämlich das Selbstverständnis Rubiners zur methodischen Grundlage einer Untersuchung gemacht wird, 29 kann niemals die poetische Dimension der in einem utopischen Modell kodierten Kulturkritik erfaßt werden, die vornehmlich in der ästhetischen Antizipation einer extremen Menschheitsveränderung die zivilisatorische Degeneration ins Barbarentum demaskieren zu können glaubte. Daß auch die neuere Forschungsliteratur zum Werk Rubiners ihr Erkenntnisziel nicht wesentlich gegenüber der politischen Programmatik des Aktivismus im allgemeinen differenziert, so Rubiner immer im homogenen Kontext einer spezifischen Gruppenbildung diskutiert, 30 hat seine Ursache in der unzulässigen Kontamination verschiedener Ebenen in der hierarchisch strukturierten Textsorte. Die Subsumtion des ästhetischen Gehalts der lyrischen Texte, vor allem des Gedichtzyklus„Das Himmlische Licht", unter die politische Relevanz der p r o g r a m m e , Manifeste, Appelle' reproduziert nur im Ansatz Paulsens These vom Zerfall der literarischen Bewegung in Kunst (das Synonym für Expressionismus) und Politik (das Synonym für Aktivismus): „Dem pathetisch-visionären, auf das Metaphysisch-Religiöse gerichteten Irrationalismus tritt als aufgeklärter, provokatorischer 28 Wolfgang Paulsen, Expressionismus und Aktivismus, S. 14f. 29 Vgl. zum Beispiel diese typische Selbsteinschätzung Rubiners: „Die heutige Dichtung wird wieder eine Dichtung der Werte. Sie wird auch schon, in einem erneuten Sinn, politisch" (L. R., Lyrische Erfahrungen [1913], in: A W , S . 1 9 9 f . ; Z i t a t s . 200). 30 „So sind auch die sozialkritisch-aktivistischen Tendenzen dieser Lyrik: Karl Ottens ,Für Martinet', seine .Thronerhebung des Herzens', Ludwig Rubiners ,Die Ankunft' und sein programmatischer Prosatext ,Der Mensch in der Mitte', Johannes R. Bechers .Mensch stehe auf!' und ,Hymne auf Rosa Luxemburg', Alfred Wolfensteins ,Der gute Kampf' und Rudolf Leonhards ,Prolog zu jeder kommenden Revolution' (...) letztlich Ausdruck jenes vagen und allgemeinen Gemeinschaftspathos. (...) Die Umkehr einer nach innen gekehrten Mystik in den sogenannten Aktivismus ist in der Ideologie und Pathetik von innerer Erweckung und Menschheitsverbrüderung selbst angelegt, wie umgekehrt jene Ideologie letztlich die gedankliche Grundlage des expressionistischen Aktivismus blieb" (Silvio Vietta/Hans-Georg Kemper, Expressionismus, S. 192).

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Intellektualismus und Realismus der radikale ,Aktivismus' (seit 1915 von Kurt Hiller als Schlagwort eingeführt) gegenüber, dessen Ziel nicht die Dichtung, sondern der politisch-sozial aktivierte Geist ist". 31 Daß diese deflatorische Abgrenzung als Versuch einer typologischen Klassifikation noch um ihren erkenntnisdifferenzierenden Kern verkürzt werden kann, was im Ansatz einer solchen typologischen Abgrenzung begründet liegt, demonstriert Reinhard Weisbachs Arbeit „Wir und der Expressionismus" (1972), wenn die Problematik der literarischen Wertung ohne Rest in die weltanschaulichen Voraussetzungen aufgelöst wird. Reinhard Weisbach will gegenüber Paulsen die ganze literarische Bewegung expressionistischer Kunstproduktion und -rezeption nur noch als ein „politisch-ideologisches Phänomen" 32 begriffen wissen: „Es geht um den Expressionismus als ein ideologisches Problem, dessen weltanschauliche und ästhetische Spezies nur im Zusammenhang mit diesem ideologischen Wesen, von ihm aus und auf es hin, richtig interpretiert werden können." 33 Weil Literaturgeschichte nicht identisch ist mit Ideologiegeschichte, muß gegen Weisbachs Definition ex cathedra noch einmal die für den Literaturwissenschaftler einzig legitime Ausgangsposition formuliert werden: es geht um ein poetologisches Problem. Dabei bleibt die Argumentation innerhalb dieser Untersuchung beschränkt auf den Werkkontext Rubiners hinsichtlich der thematischen Abgrenzung des Problemfeldes ,Utopie und Ideologie', wobei gegenüber dem Aspekt des breiten Spektrums aktivistischer Autoren und Programme, welche in ihren typischen Mustern zu erläutern wären, die Einsicht Benjamins — als methodische Reflexion — rekapituliert wird, „daß im Werk das Lebenswerk, im Lebenswerk die Epoche und in der Epoche der gesamte Geschichtsverlauf aufbewahrt 31 Wolfgang Paulsen, Expressionismus und Aktivismus, S. 14. 32 Reinhard Weisbach, Wir und der Expressionismus, S. 54. 33 Reinhard Weisbach, Wir und der Expressionismus, S. 53. - Kritisch ist mit Jürgen Habermas hier einzuwenden, daß „die Einheit von Erkenntnis und Interesse sich in einer Dialektik (bewährt), die aus den geschichtlichen Spuren des unterdrückten Dialogs das Unterdrückte rekonstruiert" (J.H., Erkenntnis und Interesse [Frankfurter Antrittsvorlesung vom 28.6.1965], in: J. H., Technik und Wissenschaft als .Ideologie', S. 164).

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ist und aufgehoben", 34 und so auch das Allgemeine im Besonderen — und Einmaligen — aufscheint. 35 Erst auf dem Hintergrund der Fragestellung nach dem ästhetischen Gehalt der poetischen Struktur kann z.B. die extratextuelle Referenz des Gedichtzyklus „Das himmlische Licht" im essayistisch subpoetischen Werkkontext als Aufriß einer poetischen Idee bewußt werden. Freilich kann dann die poetische Idee, als der poetischen Strukturierung vorgelagert, auch aus ihrem latent metaphysischen Assoziationsfeld befreit werden und in ihrer ,evolutiven Plastizität' als prozessualer ,Dialog' zwischen produktiver Umsetzung und rezeptiver Aneignung der Wirklichkeit, in ihrer Stofflichkeit für den Künstler, deutlicher hervortreten. 36 Die poetische Idee, die ästhetische Realisation und ihre kontextuelle Ausdifferenzierung haben in ihren dynamischen Rekurrenzen jedoch — gegenüber einer primär ideologiegeschichtlichen Aufbereitung des Problemfeldes, wie sie Lukács verbindlich machte — zunächst die autokommunikative Hermetik der Kunst als struktural begrenztes Verweisungsgeflige zum Argumentationsraum. „Die Umpolung der ästhetischen Opposition in eine ,aktivistische' ,Tat'-Ideologie", 37 das Bild des Dichters als eines aktivistischen Kämpfers im Kontext des intellektualistischen Dilettantismus der Jahrhundertwende verorten — neben dem Frühwerk Heinrich Manns — auch die radikal-rhetorischen Manifestationen und poetischen Transformationen dieser ,Ideen' Rubiners im hermeneutischen Horizont der ,Kunst-Leben-Problematik', 38 deren Abstraktionsniveau zur Bewußtwerdung gesellschaftlicher Widersprüche der aktivistische Versuch einer Destruktion des l'art pour l'art nach der Verschärfung politischer 34 Walter Benjamin, Über den Begriff der Geschichte, S. 703. 35 Vgl. Herbert Kraft, Kunst und Wirklichkeit im Expressionismus, S. 1. 36 „Ein Literaturwissenschaftler, der hofft, die Idee eines Werkes losgelöst von der Modellierung der Welt durch den Autor, losgelöst von der Struktur des Werkes zu erfassen, erinnert an einen idealistischen Gelehrten, der versucht, das Leben von jener biologischen Struktur zu isolieren, deren Funktion es doch ist" (Jurij M. Lotman, Die Struktur literarischer Texte, S. 26). 37 Renate Werner, Skeptizismus, Ästhetizismus, Aktivismus, S. 18. 38 Der Bedeutungszusammenhang zwischen den „artistischen Theorien" und ihren „Negationen in einer .aktivistischen' Theorie der ,Tat' " ist in der ex post-Perspektive unteilbar (Renate Werner, Skeptizismus, Ästhetizismus, Aktivismus, S. 22).

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und sozialer Gegensätze in der programmatischen Inthronisation eines art social adäquat widerspiegelt. Die Negation der artistisch-ästhetizistischen Poesie in einer voluntaristischen Tat-Ideologie als prozessualer Zusammenhang innerhalb der literarischen Evolution hat die Identifizierung der semantischen Poetizität in den Manifesten, Programmen, Appellen, Kritiken und der semantischen Soziabilität in den lyrischen Texten zur methodologischen Konsequenz. Erst auf der Folie einer so vermittelten Argumentation ist die apriorische und nicht definitorische — also nicht typologisierbare — Scheidung von Kunst und Politik in der prinzipiellen Differenz von Kunst und Wirklichkeit' aus der hermeneutischen Differenz entwickelter ästhetischer Theorie wieder anzusetzen.39 Rubiner will die prinzipielle Aufhebung der Differenz zwischen Kunst und Politik: er will die Wirklichkeit als Kunst und die Kunst als Wirklichkeit. Der art social ist Politik, weil der Dichter zum Politiker wird: „Der Dichter greift in die Politik" - „Politik ist die Veröffentlichung unserer sittlichen Absichten" 40 wird als Programm zitiert. Die Zitation — nicht etwa die poetische Realisierung der ästhetischen Prämissen — ist Indiz für den letzten, in jedem Fall aber verzweifelten Versuch, das Ziel der .ästhetischen Erziehung des Menschen' ohne den Umweg über die Kunst in dem Augenblick zu realisieren, wo innerhalb der wilhelminischen Gesellschaft das Potential der bürgerlichen Utopie, verstanden als andauernde Insistenz auf die Universalität individueller Freiheit als Form der allgemeinen, sich im historischen Kontext nach 1910 durch das Selbstverständnis der Bourgeoisie immer mehr ad absurdum führt. „Die Dissoziation von Bourgeoisie und Volk", die Entfernung des Vorkämpfers für Menschheit' von der .Menschheit', „provozierte das Dekadentwerden eines Bürgertums, das sich der Denaturierung und Spiritualisierung durch Technik, Kunst und Wissenschaft und der Ökonomisierung durch den bürgerlichen Handelsgeist überließ." 41 Daß die Differenz zwischen Kunst und Wirklichkeit, zwischen utopischem Schein und realem Mangel aufgehoben werden könnte, 39 Vgl. Herbert Kraft, Kunst und Wirklichkeit im Expressionismus, S. 2 - 5 . 4 0 Ludwig Rubiner, Der Dichter greift in die Politik, in: Die Aktion, 2. Jg. (1912), Heft 21 vom 22. Mai, Sp. 6 4 5 - 6 5 2 ; Zitat Sp. 645. 41 Renate Werner, Skeptizismus, Ästhetizismus, Aktivismus, S. 171.

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wenn der hinter dem Begriff bürgerlicher Kunst 42 stehende ethische Rigorismus konstitutiv für die Politik würde, wenn die Implikationen des art social anstelle des realen Funktionsverlustes eines sublimierenden l'art pour l'art wirksam würden, erscheint als Maxime in der Katastrophensymbolik, die an die Stelle der ,unendlichen Progression' getreten ist, welche auf dem Hintergrund bürgerlich-reformerischer Positionen die Menschheit im Gang durch den Geschichtsprozeß — asymptotisch — an das Ideal heranführen sollte: „Es kommt auf die Umwandlung der Energie an. Sittlich ist es, dass Bewegung herrscht. Intensität, die unser Leben erst aus gallertiger Monadigkeit löst, entsteht nur bei der Befreiung psychischer Kräfte. Umsetzung von Innenbildern in öffentliche Fakta. Kraftlinien brechen hervor, Kulissen werden umgeschmissen, Räume werden sichtbar. Platz, neue Aufenthaltsorte des Denkens; bis zur nächsten Katastrophe. Wir leben erst aus unsern Katastrophen, Störer ist ein privater Ehrentitel, Zerstörer ein religiöser Begriff. Und darum ist es gut, dass die Literatur in die Politik sprengt." 43 Rubiner argumentiert konsequent gegen ein lineares Entwicklungsdenken, gegen die Annahme, zivilisatorischer Fortschritt wachse kumulativ im Gang durch die Geschichte; eine Vorstellung, die durch verschiedene mechanizistische Evolutionstheorien populär wurde, weil die bürgerliche Utopie der Entwicklung zu einer universalen Menschheit in einen Fortschrittsfetischismus degenerierte, der seinen Optimismus allein aus der Entwicklung des technisch-industriellen Komplexes legitimierte. Allerdings wird hier keine erkenntnistheoretische Position vorgetragen — vergleichbar im weitesten Sinne mit dem systematischen Denken, das den verschiedenen Modellen der klassischen deutschen Philosophie zugrunde lag. In der Variation des Immergleichen: durch die .spielerische' Reihung sich selbst identifizierender Bildsequenzen, durch die Suggestionskraft der Hyperbolismen und die Radikalität der Vehemenz in der Rhetorik wird das Wissen um die bessere Moral aus der Argumentation in die subpoetische Struktur der Überzeugung qua artistischer Bildlichkeit genommen. 4 2 Vgl. Peter Hahn, Kunst als Ideologie und Utopie, S. 1 6 5 - 1 8 9 . 43 Ludwig Rubiner, Der Dichter greift in die Politik, Sp. 649.

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Natürlich hat auch die poetische und die subpoetische Struktur ihre Logizität". und diese erscheint, reproduziert innerhalb einer literaturtheoretischen Methode und Hermeneutik, in der argumentativ vermittelten Interpretation als Bedeutung der Texte. Aber es besteht ein qualitativer Unterschied zwischen der Logik der Bilder, Topoi, Sujets, ja der Gesamtheit der eingesetzten literarischen Verfahren, welche die Semantik des Textes in verschiedensten kontextuellen Denotaten ausdifferenzieren, und der Logik in diskursiven, nicht-literarischen Texten, die über den Versuch einer äußersten begrifflichen Schärfe zusätzlich .bildliche' Konkretionen - als semantische Kooppositionen — abrufen, weil das angestrebte Sinnpotential kein unmittelbares sprachliches Äquivalent bereitstellt und die begrifflichen Möglichkeiten zur Differenzierung des Sachverhalts ausgeschöpf sind. Der Übergang freilich von stilistischen oder rhetorischen Merkmalen zu poetischen Verfahren ist fließend. Irrelevant ist der Versuch einer Definition a priori von subpoetisch, poetisch, nicht-poetisch; relevant wird die Frage nach der Genese von Bedeutung und ihrer Realisation im Text. Somit müssen Rubiners augenscheinlich .theoretische Texte' zunächst einmal aus dem Kanon parteiprogrammatischer Äußerungen, erkenntnistheoretischer Abhandlungen und gesellschaftswissenschaftlicher Modelle entlassen und in den Kontext bürgerliche Kunst und ihre Reproduktion' integriert werden. Lothar Peter erläutert Rubiners .Theoreme' zum Beispiel als Argumente innerhalb eines relativ konsistenten, stringenten erkenntnistheoretisch abgesicherten ,Denkgebäudes';und dann scheitert Rubiners .essayistischer Kampf' für eine „Änderung der Welt" — als theoretisches Modell für eine Pragmatik politischen Handelns - kläglich: „Da Rubiner dem System der .Civilisation' pauschal", so Peter, „eine materialistische Ideologie zuordnete, ohne streng zwischen Positivismus und dialektischem Materialismus zu unterscheiden, extrapolierte er seine Zivilisationsphobie auf eine Polemik gegen die marxistische Theorie, deren angeblich naturwissenschaftlich verflachten Evolutionskult er ebenso wie die Strategie und politische Praxis der Sozialdemokratie verurteilte." 44 Lothar Peter kritisiert in seiner Arbeit über 44 Lothai Peter, Literarische Intelligenz und Klassenkampf, S. 25.

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„Schriftsteller, Politik und Literatur in der ,Aktion' " 4 S vor allem den antimarxistischen Affront und die „verbale Radikalität", 46 die als „Rebellionsstimmung" 47 zwischen einer „Zivilisationsphobie" 48 und ihrer polaren Äquivalenz, einer „Moral der Katastrophe" 4 9 oszilliere, wobei keine „praktischen Schlußfolgerungen" 50 für eine Rückkoppelung vorhandener Einsichten an eine politisch relevante Basis gezogen würden, sondern lediglich der „angeblich kathartisch wirkende .intensive Geist' des Dichters" 51 „an der Spitze der Arbeitslosen, Vagabunden, Prostituierten und Bettler zum Erlöser von zivilisatorischer Knechtschaft" avanciere. 52 Silvia Schlenstedt hat für diese BasisÜberbau-Dialektik die ideologiegeschichtlich scheinbar exakte theoretische Begründung formuliert: „Utopisches Denken war nach Marx bereits theoretisch prinzipiell überwunden, aber es konnte für bürgerliche Oppositionelle noch Vehikel kritischer Gesellschaftssicht und humaner Zukunftshoffnungen sein". 53 Eine solche Kritik verfehlt jedoch den Kern der Problematik, weil auf dem Hintergrund der Marxschen Theorie jene „Bewußtseinsklasse, die selber nicht als gefüllte, sondern als antizipatorische zu bezeichnen ist", 54 gar nicht Gegenstand der Kritik bürgerlicher Gesellschaft im dialektischen und historischen Materialismus geworden ist. „Die Wachträume ziehen, sofern sie echte Zukunft enthalten, allesamt in dieses Noch-NichtBewußte, ins ungeworden-ungefüllte utopische Feld." 5 5 Wenn Rubiner kategorisch feststellt: „Politik ist die Veröffentlichung unserer sittlichen Absichten", 56 so erscheint in der bewußten Kontrafaktur der Maxime, Politik sei (immer) die Optimierung von

45 46 47 48 49 50 51 52 53 54

Lothar Peter, Literarische Intelligenz und Klassenkampf, S. 18. Lothar Peter, Literarische Intelligenz und Klassenkampf, S. 27. Ebd. Lothar Peter, Literarische Intelligenz und Klassenkampf, S. 25. Lothar Peter, Literarische Intelligenz und Klassenkampf, S. 26. Lothar Peter, Literarische Intelligenz und Klassenkampf, S. 27. Ebd. Ebd. Silvia Schlenstedt, Tat vermähle sich dem Traum, S. 157. Ernst Bloch, Gesamtausgabe, Band 5: Das Prinzip Hoffnung, In fünf Teilen, Kapitel 1 - 3 2 , S. 128. 55 Ebd. 56 Ludwig Rubiner, Der Dichter greift in die Politik, Sp. 645.

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Partikularinteressen mit dem Ziel einer instrumentellen Verfügungsgewalt über alle Staatsorgane, die Wirkungsästhetik der bürgerlichen Kunst - in ihrer Idealität: Die Konkretion des Mangels der Wirklichkeit in der Negation ihrer Unveränderbarkeit vom Standpunkt einer — vermöge ihrer Form — autonomen moralischen Instanz, die an einem bestimmten Punkt der Emanzipation des Bürgertums dessen Legitimation gegen die feudale Tyrannei mit der,Freiheit',,Gleichheit' und 3rüderlichkeit' der ganzen Menschheit unlösbar verknüpfte. Bürgerlich ist zweifelsohne jene Position zu nennen, die sich an den Anspruch einer Utopie erinnert — in dem Moment, wo der Träger dieser Utopie, die bürgerliche Klasse, sich anschickt, die letzten Reste ihrer humanistischen Tradition zu verleugnen. Wo die Utopie in ihrer Statthalterschaft 57 eingeklagt wird gegen das Ergebnis des realen Geschichtsprozesses, weil der utopische Anspruch, „die sich selbst bestimmende Allgemeinheit", 58 stellvertretend solange für unentfremdete Praxis auf deren Konstitution insistiert, wie nicht Wirklichkeit und Kunst identisch sind, wird aber auch der bürgerlichen Klassengesellschaft ein radikal-demokratisches Gewissen 59 entgegengehalten, das hinter ein Wissen um formulierte emanzipatorische Maximen, die noch nicht eingelöst sind, nicht mehr zurückfallen kann — auch nicht vorübergehend in jener Gesellschaftsform, welche die „Einsicht in die Notwendigkeit" als Freiheit deklariert. 60 57 Vgl. Theodor W. Adorno, Ästhetische Theorie, S. 26. 58 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Werke, Band 7: Grundlinien der Philosophie des Rechts oder Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundrisse, mit Hegels eigenhändigen Notizen und den mündlichen Zusätzen, Frankfurt am Main 1970 (= Theorie Werkausgabe in zwanzig Bänden), § 21; Zitat S. 71. 59 Vgl. zum Beispiel Walter Jens, Literatur: Möglichkeiten und Grenzen, in: W.J., Republikanische Reden, S . 5 9 - 7 5 : „Wovor, in Gottes Namen, also fürchten sich die Feinde der Poesie? (...) Es ist die Angst, die alte, unausrottbare Furcht der etablierten Macht vor dem Geist und seiner subversiven Tätigkeit - eine Angst, die (dies den Orthodoxen ins Stammbuch) im sozialistischen nicht anders als im kapitalistischen Lager regiert" (S. 62). 60 Friedrich Engels, Herrn Eugen Diihrings Umwälzung der Wissenschaft („AntiDühring"), in: MEW, Band 20, S. 1 - 3 0 3 ; Zitat S. 106. Engels zitiert in diesem Zusammenhang Hegel und referiert im wesentlichen dessen (historisch) zu kritisierenden Erkenntnisstand; vgl. dazu Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Werke, Band 8: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse (1830). Erster Teil. Die Wissenschaft der Logik, mit den mündlichen Zusätzen, § 147, Zusatz.

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Den intentionalen Inhalt der Kunst, nämlich Wahrheit, für den Inhalt der Politik zu reklamieren, setzt gegen die Forderung nach Praktikabilität eine kom promißlose Radikalität; denn Funktion der Kunst ist nicht, wenn sie nicht dem Schein bloßer herrschaftsstabilisierender Ideologie zu nahe kommen wÜl, das Praktikable — als handlungsorientierende Qualität — zu propagieren, sondern den realen Mangel der Wirklichkeit im Horizont der jeweils historisch fortgeschrittensten (Gesellschafts)-Utopie aufzuzeigen und das als Kontur unentfremdeten Glücks zu umreißen, was im hic et nunc nicht möglich ist. Nur auf der Folie bürgerlicher Utopie, die Kunst und Wirklichkeit als Zielprojektion identisch werden läßt, weil das in Kunst schon vermöge ihrer spezifischen Formqualität aufscheinende Reich der Freiheit anstatt der bloßen Notwendigkeit, aber nicht als regulative Idee, sondern materialiter Realität werden soll, wird Rubiners Metaphorik der Hoffnung deutlicher — als Kunst der Überredung gegen erfahrene Entfremdung in aussichtsloser Lage: „Unsere Hoffnung ist unermesslich, dass die übermässige Pressung der Seligkeit das tägliche Leben der Civilisation in Trümmer sprenge." 61 Die Zielprojektion der bürgerlichen Kunst — verstanden als Ideal ihrer ästhetischen Theorie - 6 2 verlegt das Paradies' als Ende des Geschichtsprozesses in die Immanenz der einen unteilbaren Welt, säkularisiert somit das Recht auf ein ungeteiltes Glück von der Vertröstungsfunktion zu einer andauernden Kampflosung: „Klipp und klar sei es ausgesprochen", schreibt Kurt Hiller, „wir wollen, bei lebendigem Leibe, ins Paradies." 63 Die utopische Intentionalität hat allerdings in Rubiners subpoetisch-aktivistischer .Philosophie der Tat' 6 4 dort ihre Grenze, wo der über die Wirkungsästhetik der Kunst funktionale Impetus, den ,Traum' 61 Ludwig Rubiner, Der Dichter greift in die Politik, Sp. 648. 62 Vgl. Peter Hahn, Kunst als Ideologie und Utopie, S. 1 7 2 - 1 7 9 . 63 Kurt Hiller, Philosophie des Ziels, in: Der Aktivismus 1 9 1 5 - 1 9 2 0 , S. 2 9 - 5 4 ; Zitat S. 36. 64 Vgl. zur Terminologie und zum philosophischen Hintergrund der Position Rubiners Theodor Lessing, Philosophie als Tat, Erster Teil, Göttingen 1914: „Meine Philosophie, die ich Aktivismus nannte, ist keine Erkenntnistheorie, sondern das Streben, alle philosophische Gedankenarbeit wissend an den Wert, an die Idee zu binden und in einem einheitlichen Sammelpunkt zu vereinen, nicht aber sich etwa auf die Aktualitäten der sogenannten realen Welt zu beschränken" (S. 13).

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gegen die Möglichkeiten der Gegenwart zu bewahren, auf den Anspruch der unmittelbaren Umsetzung jenseits derjenigen gesellschaftlichen Kräfte stößt, die mit ihren Organisationsformen überhaupt erst einmal Widerstand artikulieren können. Rubiners Position ist in die „Reform des Bewußtseins nicht durch Dogmen, sondern durch Analysierung des mystischen, sich selbst unklaren Bewußtseins, trete es nun religiös oder politisch auf", 6 5 freilich miteinzubeziehen, wenn nicht das ideologische Substrat in dieser Position verklärt werden soll. „Es wird sich dann zeigen," schreibt Karl Marx an Arnold Ruge im September 1843, „daß die Welt längst den Traum von einer Sache besitzt, von der sie nur das Bewußtsein besitzen muß, um sie wirklich zu besitzen. Es wird sich zeigen, daß es sich nicht um einen großen Gedankenstrich zwischen Vergangenheit und Zukunft handelt, sondern um die Vollziehung der Gedanken der Vergangenheit. Es wird sich endlich zeigen, daß die Menschheit keine neue Arbeit beginnt, sondern mit Bewußtsein ihre alte zustande bringt." 66 — Allerdings, so hat die Erfahrung gelehrt, darf im materialiter sich konkretisierenden Bewußtwerdungsprozeß der ,Traum' nicht wegrationalisiert werden, wenn die einzelnen Momente dieses Bewußtwerdungsprozesses sich nicht verdinglichen sollen; und als ewiger Widersacher dessen, was durch eine konkrete Herrschaftsform noch sanktioniert werden muß, ist der ,Traum' allemal mehr als die Mystifikation realer Bedürfnisse: er ist ihr Katalysator. Obwohl „die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft",67 sowohl für die gesellschaftliche als auch für die 65 Karl Marx, Briefe aus den „Deutsch-Französischen Jahrbüchern", in: MEW, Band 1, S. 3 3 7 - 3 4 6 (Brief an Arnold Ruge vom September 1843, S . 3 4 3 346); ZitatS. 346. 66 Ebd. 67 Der Titel dieser von Engels 1880 verfaßten Schrift hat gerade in der sogenannten .materialistischen' Literaturwissenschaft und Erkenntnistheorie eine noch immer nicht wissenschaftlich reflektierte und revidierte Dogmatisierung initiiert: „Noch in dem von Ernst Bloch gegenwärtig unternommenen Versuch, den .marxistischen' Begriff der Utopie mit dem ahistorischen spätbürgerlichen zu verschmelzen, zeigt sich, welche Verbreitung dieser spätbürgerliche Utopie-Begriff gefunden hat", heißt es im Philosophischen Wörterbuch, hg. von Georg Klaus und Manfred Buhr, 7. berichtigte Aufl. Leipzig 1970, Band 2: Stichwort ,Utopie', S. 1113, Sp. 1. Keineswegs belegt jedoch Engels Schrift das praktizierte Verfahren, unter dem Deckmantel einer quasi apriorischen Definition von .Wissenschaftlichkeit' jegliche Kritik am herrschenden

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ästhetische Theorie, im Prinzip nach Marx abgeschlossen ist, ,Utopie' als soziologische und ästhetische Kategorie mithin immer dem Ideologiepotential der (bürgerlichen) Gesellschaft zugeschlagen werden müßte, hat Silvia Schlenstedt in ihrer Untersuchung zum „Utopischen in expressionistischer Literatur" 6 8 die pauschalierende Verdammung expressionistischer Autoren als durchweg kleinbürgerliche Opponenten', also die Lukács-These von 1934, nicht wiederholt, wie sie im Ansatz von Reinhard Weisbach noch 1972 reproduziert wurde. Zumindest läßt Silvia Schlenstedt den Untersuchungsgegenstand selber zu, wenn auch in der Konsequenz zur Apologie Bechers, der nun über den latent positiv-kritischen Inhalt utopischen Bewußtseins, gegenüber dem latent negativ-apologetischen — der für Rubiner konstitutiv wird —, ohne Widersprüche, gleichsam kontinuierlich im allmählich konkreter werdenden Bündnis mit der Arbeiterklasse zum historischen und dialektischen Materialismus vorstoßen kann. Silvia Schlenstedt unterscheidet daher generell zwei relativ konsistente Modelle utopischen Denkens voneinander, welche einmal die Tat, das aktive .Strafgericht',69 und zum zweiten die passive Wandlung zum Guten im Menschen als strukturelle Basis-Invarianzen haben. Becher, Zech und Hasenclever sollen diejenige Gruppe bürgerlicher Literaten repräsentieren, welche tendenziell auf dem Weg zu einem historisch-materialistischen Geschichtsverständnis und zu einem Bündnis mit der Arbeiterklasse war, weil im ,Aufbruch" die „Überwindung des Alten durch die Tat" zwischen den Verfall der bürgerlichen Welt und das Paradies tritt 7 0 — Becher symbolisiert dann geradezu im Titel seines Gedichtbandes „Verfall und Triumpf" (1914) diesen ,Aufgang' im ,Untergang'. „Aus der Kampflosung" wird zwar eine „Metapher", 71 aber das

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,realen Sozialismus* schon im Vorfeld der Diskussion entweder zu disqualifizieren oder gar nicht erst zuzulassen. Vgl. aber primär: Friedrich Engels, Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft, in: MEW, Band 19, S. 1 7 7 - 2 8 8 . Silvia Schlenstedt, Tat vermähle sich dem Traum, S. 129. Silvia Schlenstedt, Tat vermähle sich dem Traum: „Da ist zum ersten ein Komplex von Vorstellungen, wonach die Zeit der Leiden und der Zerstörung des Menschen in eine Katastrophe, ein Strafgericht münden müsse, wodurch erst ein neues Reich der Harmonie und einer Gemeinschaft in Liebe und Brüderlichkeit beginnen könne" (S. 139). Silvia Schlenstedt, Tat vermähle sich dem Traum, S. 145. Silvia Schlenstedt, Tat vermähle sich dem Traum, S. 141.

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aus der Renaissance tradierte, säkularisierte und politisierte ChiliasmusModell kann in den ,plustern" hin auf ein reales Bündnis zwischen Proletariat und bürgerlicher Intelligenz „differenziert, erweitert, gesprengt" werden. 72 ,,Der Mensch befreit sich selbst und er öffnet sich selbst" in der ,Tat' den Zugang zu den „friedlich erlösenden Gefilden." 73 Dem „mehr oder weniger säkularisierten und politisierten Chiliasmus-Modell" steht nach Schönstedt „ein anderer Komplex utopischer Vorstellungen (gegenüber), er unterscheidet sich vom ersten prinzipiell durch den empfohlenen Weg zu einer glücklichen Zukunft. ,Tat vermähle sich dem Traum' — dieser Imperativ emes Becher-Gedichts kann als Leitidee der ersten Gruppe gelten, die zweite Gruppe aber ist gekennzeichnet dadurch, daß sie die Tat nicht will." 74 Diese zweite Gruppe wird vornehmlich repräsentiert durch Autoren wie Rubiner, Otten und Werfel.75 Sie konstruieren in ihrem poetisch-utopischen Modell das „Paradies nicht nach der Umwälzung, der Schlacht", „sondern die ,Auferstehung' der Menschheit wird ermöglicht durch die Erhebung der Bedrückten und durch die Wandlung im Menschen." 76 Daß die Differenzierung der utopischen Valenz expressionistischer Lyrik in ein latent metaphysisches und ein latent revolutionäres Geschichtsverständnis die Genese des sozialistischen Realismus anhand der Lyrik Bechers — als ein organisches Produkt aus der Abgrenzung fortschrittlicher utopischer Modelle zu reaktionären (ideologischen) Modellen mit pseudo-utopischem Bildarsenal erscheinen läßt, muß Zweifel am nicht ausgewiesenen Zusammenhang von ,Erkenntnis und Interesse' der Untersuchung aufkommen lassen, denn das Interesse darf nicht in der nach (historisch) rückwärts geklärten, beerbbaren, ,tendenziell' richtigen Perspektive liegen (mit dem Ergebnis einer linear geglätteten [Literatur-] Geschichte), sondern die gegenwärtige gesellschaftskritische Perspektive als fortgeschrittenes methodisches Bewußtsein sollte die hermeneu tische Distanz zum Untersuchungsgegenstand, dem Erkenntnis- nicht Interesseotytkt, deutlicher machen. Wird der Expressionismus zu einem bloßen Interessenobjekt 72 73 74 75 76

Silvia Ebd. Silvia Silvia Silvia

Schlenstedt, Tat vermähle sich dem Traum, S. 145. Schlenstedt, Tat vermähle sich dem Traum, S. 147. Schlenstedt, Tat vermähle sich dem Traum, S. 155. Schlenstedt, Tat vermähle sich dem Traum, S. 147. 157

gemacht, dann erst kann behauptet werden, daß die „utopischen Versprechungen und die Forderungen einer Verinnerlichung bei Rubiner, Otten und Werfel" nicht die „Bereitschaft der Massen zum revolutionären Handeln" reflektieren konnten, 77 daß Rubiners „Predigt der Güte und Liebe (...) religiöses Abwiegeln" im Gegensatz zum „religiösen Aufwiegeln" bei Becher, Zech und Hasenclever war, also eine „bürgerliche Reaktion auf die sich ankündigende proletarische Umwälzung", die als Reaktion „in ihrem Kern gegenrevolutionär" war und „mit Konsequenz zur Verdammung revolutionärer Gewaltanwendung" geführt haben soll.78 Eine solche Differenzierung in tendenziell utopisches und latent ideologisches Bewußtsein — läßt man sie einmal hypothetisch zu — muß eine prinzipielle Inkompatibilität zwischen ,Utopie' und .Ideologie' voraussetzen, auch wenn sie nur als Begriffe aufeinander bezogen Bedeutung haben.

2. Radikale Rhetorik: Sozialpathetik und Metapher der Revolution a) Der ,Geist'-Topos: Regulative Idee contra politischen Inhalt Rubiners Rhetorik in ihren gedanklichen Figuren verstehen zu wollen, setzt zunächst einmal voraus, die Topographie der Rede nicht mit ihrem vermeintlich politischen Inhalt zu identifizieren: „Seit einigen Wochen dürfen wir wissen, daß Deutschland existiert. In einem Lande, das bevölkert war von industrialisierten Kegelklubs und ihren gerad so hochnäsigen Gegnern: schwermütig fettansetzenden Einzelgängern, ist das Wunder da. Menschenstimmen wurden hörbar. Seien Sie irgendwo auf Java in einem fernen runden, einsamen Waldloch; vielleicht kurze Zeit nur allein, aber fühlen Sie sich abgetrennt vom Willen und vom Leben anderer, weit von jeder Hülfe — und finden Sie plötzlich, kaum sichtbar hinter Stämmen und Blättern, ein kleines Haus, in dem 77 Silvia Schlenstedt, Tat vermähle sich dem Traum, S. 155. 78 Ebd.

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Leute leben, die schon sehr lange da wohnen, zu Ihnen sprechen und alles rings kennen. Wenn Sie noch Zeit haben, dann heulen Sie los." 7 9 Der Artikel über „Die Anonymen" kulminiert in der lapidaren (,Falsch')-Meldung: „Ist es denn nicht zu merken? Muß es gesagt werden? Die Revolution ist da. (...) Die Menschlichkeit, das Gestaltende, geht gegen die starre, widerstrebende, viehische Gewohnheit; gegen den Weltbauch. Es gibt keine Materie mehr." 8 0 Lothar Peter kommt zu dem Ergebnis, Rubiner entdecke „in der programmatischen Erklärung des ersten Heftes der Zeitschrift („Der lose Vogel"; KHH) Parallelen zu seiner Forderung, durch Konzentration aller geistigen Potenzen die Materie aufzuheben und die sich bereits ankündigende Revolution des Geistes zu vollenden", 81 und versteht Rubiner so wörtlich, aber falsch: nämlich ohne die Argumentation in ihrer stilistisch-rhetorischen Zuspitzung als heuristische Dimension zu erfassen, die im aktivistischen appellativ-programmatischen Manifest durch eine extreme Überzeichnung beim Rezipienten einen Minimalkonsens erzwingen will, der zur handlungsanweisenden Verpflichtung hochstilisiert werden kann. Die rhetorische Figur und das poetische Bild sind in ihren Ausdrucksebenen nicht identisch mit der Bedeutung, die sie als Informationsträger innerhalb eines Kommunikationszusammenhanges transportieren, der hoch organisierte und komplexe Zeichen in einem sekundär modellierenden System, dem Verstehenshorizont der Kunst, kodiert und dekodiert. 82 Hyperbeln und Emphasen als Wortfiguren, Akkumulationen, Amplifikationen und Graduationen als Satzfiguren charakterisieren die zwischen Stilmitteln und subpoetischen Verfahren wechselnden und einander ergänzenden Merkmale der radikalen Rhetorik' in ihrem sozialpathetischen Gestus: „Nur darum geht es, dass man zu jeder Zeit die Grundantriebe unsrer überhaupt möglichen Existenz der Oeffentlichkeit bloss zeigt. Meinetwegen in der schmierigsten Illumination eines billigen Transparents. Oder mit dem Pathos. Oder mit 79 Ludwig Rubiner, Die Anonymen, in: Die Aktion, 2. Jg. (1912), Heft 10 vom 4. März, Sp. 2 9 9 - 3 0 2 ; Zitat Sp. 299. 80 Ludwig Rubiner, Die Anonymen, Sp. 300. 81 Lothai Peter, Literarische Intelligenz und Klassenkampf, S. 26. 82 Zum Problem der Kodierung und Dekodierung vgl. Jurij M. Lotman, Die Struktur literarischer Texte, S. 4 3 - 4 6 . 159

Sentimentalität. Oder mit irgendeinem Mittel, das den Körper in Erschütterung bringt; ihn ahnen lässt, dass der mittelmässigste Tod — der nur uns alle eine Sekunde besonnen zittern macht — besser ist als die mirakelvollste Hinauf stufung." 8 3 Durch die Kumulation rhetorischer Suggestionsfiguren', in ihren hyperbolisch-amplifikativen Reihungen soll das Bewußtsein der Rezipienten mit den Intentionen des Agitierenden synchronisiert werden: Die Reizstimuli einer auf Massensuggestion zielenden Konzeption basieren jedoch vornehmlich auf den Verfahren der Reklamestrategien zur Bedürfniserzeugung industriell produzierter Massenartikel und ihrer vom Gebrauchswert unabhängigen Verwertungsmechanismen: nämlich als bloße Tauschwerte verfertigt worden zu sein. In der massenhaften Reproduktion der ,Wahrheit' — mit welchen Mitteln auch immer — liege, so meint Rubiner, auch die Möglichkeit einer massenhaften Rezeption. Mit dem von Georg Bühler entwickelten Verfahren zur Analyse von Sachtexten, welches den Zeichencharakter von Texten als Basis hat, wird deutlich, daß die usdrucksfunktion' (die Relation von ,Zeichen zu Sender') gegenüber der ,.Darstellungsfunktion' (der Relation von ,Zeichen zu Objekt') relativ dominant ist: Die ,Appellfunktion' (die Relation von ,Zeichen zu Empfänger') jedoch in Hinsicht auf die Ausgewogenheit der drei verschiedenen Funktionen die absolute Dominanz gegenüber den beiden anderen genannten hat.84 Roman Jakobson hat das Bühlersche Schema um die „poetische Funktion" erweitert: 8 5 Mit ihr ist es möglich, die subpoetische Dimension der Rubinerschen ,Sachtexte' in ihrer Funktionalität zu erfassen. In der Dominanz bestimmter Funktionen kann ά&τ Manipulationsgrad des Textes bestimmt werden. Während die .Darstellungsfunktion' am schwächsten ausgeprägt ist, also der Informationsgehalt relativ gering angesehen werden muß, erscheint die Appellfunktion' am 83 Ludwig Rubiner, Brief an einen Aufrührer, in: Die Aktion, 3. Jg. (1913), Heft 12 vom 19. März, Sp. 3 4 1 - 3 4 7 ; Zitat S p . 3 4 2 . 84 Bühlers sprachtheoretisches Funktionsmodell wird referiert und analysiert bei Georg Klaus, Semiotik und Erkenntnistheorie, 3. unveränderte Aufl. Berlin 1972, S. 18f. 85 Vgl. Roman Jakobson, Linguistik und Poetik, S. 106.

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stärksten wirksam: die Suggestionskraft ist groß, gerade weil eine hinlängliche Menge an Informationen fehlt. Mit bewußtseinstötenden Überredungskünsten, mit denen die Konjunktur alltäglicher Konsumartikel angeheizt wird, will Rubiner den ,Geist' verkaufen. Nur das Zerschlagen der ,Aura' in der massenhaften Produktion und Konsumtion garantiere die massenhafte Didaktisierung hin auf den intentionalen Horizont der Argumentation; darum also sei jedes Mittel' recht, das den ausgewiesenen Zweck erfülle. Allein: wenn die Verfahren der Rezeptionssteuerung aber mit „schmierigen", „billigen", „pathetischen" und „sentimentalen" Identifikationsmustern arbeiten, dann ist das Ergebnis dem eingesetzten Medium äquivalent: die Trivialität des Warenfetischismus verdeckt das Kritikpotential realer Bedürfnisbefriedigung. Obwohl der Vergleich mit den Strategien der Werbung einen Teil der Rubinerschen Verfahren deutlicher werden läßt, so ist doch die ,Bedeutung' auf dem Hintergrund des Bühlerschen Schemas - das im übrigen nur skizziert wurde für eine präzisere Fragestellung — nicht erschöpft. Die ,poetologische Funktion' im Kontext der ^usdrucksfunktion' rekurriert nämlich — im Gegensatz zur Werbung in ihrer historischen Gestalt — auf den ,Rahmen Kunst' als ein System, das in seiner evolutionären Spannung gerade die Destruktion des nur noch sich selber reflektierenden bürgerlichen Bewußtseins über die tradierte Schablone .Kunst' mit Vehemenz betrieb. Die Irritation und der ,Choc' als ,poetologische Funktion' finden in der Deautomatisierung des l'art pour l'art ihren Verweisungshorizont. In kritischer Reflexion der hermeneutischen Distanz ist es nämlich im Hinblick auf das Ideologiepotential — den Manipulationsgrad — nicht einerlei, ob der Aktivist Rubiner die Wahrheit wie einen Warenhausartikel verkaufen will, oder ob ein Stratege der Werbung Warenhausartikel ,wie die Wahrheit' verkauft, weil die Identifikationsmuster in der vorangeschrittenen — warenproduzierenden — Gesellschaft dies möglich machen. Unter dieser Voraussetzung erscheinen Sentenzen wie „Die Revolution ist da" und „Es gibt keine Materie mehr" in einem ganz anderen Zusammenhang: Mit den Mitteln einer sensualistisch orientierten Wirkungsästhetik soll in einem rezeptiblen Illusionsraum der Mangel der Wirklichkeit so stark nivelliert, so absolut als überwundener Zustand ,ausfabuliert' werden, daß im moralisierenden Pathos der 161

absolute Wille zur realen Überwindung der Wirklichkeit allmählich immer stärker, suggestiv wirksam, aufgebaut wird. Wenn Rubiner ausführt, es gelte „zu überzeugen, daß ein Jahrhundert, dessen Aufgabe war, uns Eßnäpfe, Einheitsstiefel, Wagnerpartituren herzustellen, nicht mehr als ein Hindernis für den Geist" bestehe, 86 so ist im zentralen begrifflichen Topos des Aktivismus, Geist, jene absolute Instanz — eine amorphe, semantisch offene und doch nicht beliebige Abstraktion — benannt, die den Prozeß der zerstörerischen Demontage der als .barbarisch' apostrophierten „Civilisation" 87 vorantreibt, eine fortwährende subversive Infiltration in die von Albert Einstein mit „angestammter Knechts-Seele" 88 charakterisierte bürgerliche Selbstgenügsamkeit versucht, ja die jenen schon in poetischen Bildern (und rhetorischen Figuren) existierenden Illusionsraum in einer katastrophalen Verwandlung oder Überwindung zur Wahrheit werden läßt. Aber auch die Vorstellung — sichere Gewißheit, mit den Qualitäten eines Glaubensinhaltes — einer anderen menschlichen Praxis, jenseits der Verdinglichung und Entfremdung einer warenproduzierenden Gesellschaft, als potentielle Form der Realität ist ein Stück Wirklichkeit - und so ist für Rubiner jener andere Zustand immer schon Wirklichkeit in der Un-Wirklichkeit. Heinrich Mann hat in seinem Essay „Geist und Tat" (1910) diese definitorische Abgrenzung für die links-aktivistischen bürgerlichintellektuellen Literaten und Kritiker paradigmatisch formuliert; er hat einen argumentativen Rahmen geschaffen, den auch Rubiner nur begrenzt variierte: „Der Geist, die Revolte des Menschen gegen die Natur, ihre Langsamkeit und Härte: der Geist, der in einer Stunde den Himmel verschenkt, verschwendet Generationen für einen Funken vom Brand des Ideals" — „Der Geist ist nichts Erhaltendes und gibt kein Vorrecht. Er zersetzt, er ist gleichmacherisch; und über die Trümmer von hundert Zwingburgen drängt er den letzten Erfüllungen

86 Ludwig Rubiner, Die Anonymen, Sp. 300. 87 Ludwig Rubiner, Der Dichter greift in die Politik, Sp. 6 4 6 - 6 4 9 ; Zitat Sp. 646. 88 Brief von Albert Einstein an Max Born vom 9.12.1919, in: Albert Einstein Hedwig und Max Born. Briefwechsel 1916—1955, kommentiert von Max Born, Geleitwort von Bertrand Rüssel, Vorwort von Werner Heisenberg, München 1969, S. 39.

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der Wahrheit und der Gerechtigkeit entgegen, ihrer Vollendung, und sei es die des Todes." 89 Rubiner selber hat die Funktion des heuristischen Werts einer Argumentation beschrieben, die ihre Inhalte nicht als Deskriptionen eines Sachverhalts versteht, sondern die in ihrer Rhetorik über die positive Behauptung von Inhalten, die nur stellvertretenden Charakter haben, paradigmatische Bilder für eine Intention sind, welche der Inhalt der zu vermittelnden Information ist: eine Zielvorstellung aufscheinen zu lassen, die in ihrer qualitativen Differenz kein Äquivalent in der Wirklichkeit hat. „Man sagt, die Unterscheidung: hier Geist dort Materie - sei eine nur schulmäßige Bequemlichkeit, Sehr gut! Jene Scheidung ist auch falsch, solange sie nur deskriptiv gemeint ist und behaupten will, sie stelle vollzogene Tatsachen dar. Aber sie ist herrlich: sie ist schöpferisch, wenn sie eine Forderung ist. Nur mit dieser Forderung, allein durch sie, leben wir: Seid geistige Wesen!" 90 Rubiners Denken ist teleologisch und entelechial zugleich, wobei ein aporetisches Grundmuster das Geschichtsverständnis, sowohl in der Interpretation historischer Ereignisse als auch in der Perspektivierung der Utopie, bestimmt: Die Utopie als Zielvorstellung, wie sie Kurt Hiller in der „Philosophie des Ziels" als „Paradies" skizziert hat, 91 ist nicht das Resultat eines Entwicklungsprozesses der Geschichte, sondern die Negation des vorgefundenen Gesellschaftszustandes in einem positiven Äquivalent zu dieser Gesellschaft; in der Positivität erscheint als fortwährendes Bezugsfeld die Negativität, obwohl die Utopie der ganz andere Zustand sein sollte.92 Zugleich aber ist die Utopie im ,Geist' als Initiator aller Prozesse, die auf dieses Ziel ausgerichtet sind, Keim eines sich in der Wirklichkeit schon entfaltenden Progresses auf das Ziel. (Hiller hat die Schwierigkeit gesehen, konnte sie aber auch nicht auflösen: „Jener Augenblick, da, in höchster Inbrunst, sich Alle 89 Heinrich Mann, Geist und Tat (1910), in: H.M., Ausgewählte Werke in Einzelausgaben, hg. von Alfred Kantorowicz, Berlin 1954, Band XI (Essays, Erster Band), S. 8 f . und S. 14. 90 Ludwig Rubiner, Der Kampf mit dem Engel, in: L.R., Der Mensch in der Mitte, S. 1 5 5 - 1 9 0 ; Zitat S. 179. 91 Kurt Hiller, Philosophie des Ziels, S. 37. 9 2 „Nämlich das Paradies ist kein Garten Eden, es sieht eher aus wie eine schöne ganz große Stadt. Aber es ist ein Ort, der allen seinen Bewohnern erlaubt, nichts denn vital zu sein" (Kurt Hiller, Philosophie des Ziels, S. 36).

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verantwortlich fühlen, wäre der, in welchem der Geist seine Aufgabe vollendet hätte und überflüssig würde; es wäre: der Moment der Geburt des Paradieses. Liegt er — wie man sagen muß — im Unendlichen, so hat der Geist eine unendliche Aufgabe." 93 ) Weil der ,Geist-Topos' in seiner Doppelfunktion, Statthalter und Initiator zu sein, nur als Widerspruch zu vermitteln ist, müssen die poetischen Bilder und rhetorischen Figuren seinen Inhalt erläutern wobei die Semantik der Ausdrucksebenen (der sekundär modellierten Elemente) sich immer mehr verselbständigt. Die poetischen Bilder und rhetorischen Figuren — vor allem die Amplifikationen — sind Variationen auf ein immer um die archisematischen ,Figuren' (oder: Archiseme) kreisendes Problembewußtsein, das in der bildlichen Konkretion metaphorisiert wird, jedoch niemals schärfere begriffliche Abgrenzungen erfährt. Weil die Unscharfe des eigenen Standortes in der Gesellschaft und deren totale Kritik den Inhalt der politischen Perspektive charakterisieren, müssen die Bilder (z.B. der Katastrophe, Zerstörung einerseits und der paradiesischen Zustände andererseits) als Konfigurationen einer Intention die Konturlosigkeit eines gesellschaftlichen Vakuums ersetzen, das durch die Totalität und Radikalität der intendierten ,intellektuellen Revolution' notwendigerweise immer wieder von neuem mit Bitterkeit wahrgenommen wird, denn es gibt keine reale gesellschaftliche Kraft - keine Protagonisten des,Geistes' —, die eine solche Veränderung herbeiführen könnte. Der Topos ,Geist' fungiert als instrumentelle Verfügungsgewalt des Intellekts. Mit diesem Topos können die verschiedensten — auch widersprüchlichen - Paradigmen einer als revolutionäre Gewalt apostrophierten Kraft organisiert werden. In der historischen Realität allerdings findet diese ,Kraft' kein Äquivalent, weil die Radikalität der angestrebten Erneuerung nicht in Einklang zu bringen ist mit den gesellschaftlichen Gruppen, die zunächst ihre Partikularinteressen gegen die herrschenden durchsetzen wollen — und müssen. So ist der ,,Kern dieses ,Geist'-Begriffes" auch weder als „eine Art johanneischer Pneumatologie" 94 anzusehen, die den „Gemeinschaftsbegriff der 93 Kurt Hüler, Philosophie des Ziels, S. 39. 94 Wolfgang Rothe, Einleitung, in: W. R., Der Aktivismus 1 9 1 5 - 1 9 2 0 , S. 7 - 2 1 ; Zitat S. 15.

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Expressionisten (und der ihnen in diesem Betracht subsumierbaren Aktivisten)" aus „eindeutig religiöser Herkunft" identifiziert, 95 wie Renate Werner gegen Wolfgang Rothes „theologischen Kern des Aktivismus" 96 kritisch eingewandt hat, 9 7 noch ist dieser Topos als Ausdruck einer allgemeinen „Zivilisationsphobie" 98 hinreichend erklärt, die „gegen das System der Zivilisation und die Sachwalter eines geistlosen Materialismus, gegen das Dogma des Fortschritts und gegen politische Apathie" eine „Moral der Katastrophe" setze, „die der Geist als Feind alles Affirmativen initiiere", wie Lothar Peter in der Kritik des Rubinerschen „Antimaterialismus" gegen den Aktivismus allgemein geltend gemacht hat. 9 9 Der Begriff ,Geist' ist keine Kategorie innerhalb einer erkenntnistheoretischen Argumentation: Als instrumenten verfügbarer Topos wird sein Gebrauch zum sublimierenden Fetisch, der das Fehlen einer außerhalb des ,Rahmens Kunst' und seiner Reproduktion liegenden Perspektive in Paradigmatisierungen auffangen soll, die in ihren sinnlichen Konkretionen, in ihrer Poetizität, die Widersprüche zudecken, welche sich aus der utopischen Intention „Humanozentrismus" und dem Zustand der Gesellschaft ergeben: aus der Verdinglichung des Subjekts, aus der Entfremdung des Vereinzelten' zu seiner Arbeit und seinen Verhältnissen, in denen er sich konkret reproduziert. 100 Gegen die Praktikabilität politischer Theoreme, die nur innerhalb der sanktionierten Normen des durch Herrschaft stabilen gesellschaftlichen Systems akzeptabel sind, setzt Rubiner den utopischen Druck der immer jenseits einer realen Verwirklichung stehenden regulativen Idee', die aus dem Horizont der qualitativ absoluten Differenz zwischen Sein und Sollen entspringt. Die Rigorosität der enthusiastischvitalistischen Lebensutopie der Jahrhundertwende — in ihrem hedonistischen Jiic et nunc' gegen alle Vertröstungsideologien — stellt in ihrem Metaphernarsenal das Bildpotential bereit, welches zunächst die

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Ebd. Wolfgang Rothe, Einleitung, S. 19. Vgl. Renate Werner, Skeptizismus, Ästhetizismus, Aktivismus, S. 208. Lothar Peter, Literarische Intelligenz und Klassenkampf, S. 25. Lothar Peter, Literarische Intelligenz und Klassenkampf, S. 26. Vgl. Ludwig Rubiner, Neuer Beginn, in: L. R., Der Mensch in der Mitte, S. 191.

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philiströsen Moralvorstellungen des scheinhaft rigiden Bürgertums in der Maske der Amoralität kritisierte, als ,Choc' jedoch nur begrenzt irritieren konnte, weil nur die Innovation ästhetisch sensibilisiert'. Dies kann an der Transformation utopie-signifikanter Elemente erläutert werden. Wenn René Schickele in seinem Gedichtband „Sommernächte" (1902) im Abschnitt „Nocturnes" (S. 11-21) die kosmische Erotik des ,Stirb und Werde' sanktifiziert, dann erscheint in der ,FeuerMetaphorik' und der Katastrophensymbolik allgemein die Sehnsucht nach einem rauschhaften Untergang, wobei die alles zerstörende Katastrophe zugleich die vitalistisch besetzte alles erneuernde Wiedergeburt ist: Hinauf zu all den Sternen, die ihr Feuer durch den Weltraum schwingen Und dachte, daß auch unsere Erde einmal so geglüht durch die Nacht, bis sie Dann reif geworden fiir den Menschen, in dem ihr Feuer weiter brennt und schafft, Bis zum sich-selbst-Verzehren schafft... daß einmal dann wohl alle diese Sterne ihren Erntetag, Den großen Tag erleben ... und daß dann die Erde jäh zersplittern würde Und ich - ich würde wiederwerden auf der neuen Erde und so weiter meine Sehnsucht, Meine unermeßlich tiefe Sehnsucht tragen durch die Welten (S., S. 17f.).

Schickeies vitalistische Katastrophensehnsucht, die nur über den Prozeß der Zerstörung und Erneuerung in einer immer wieder sich vollziehenden Selbstverwirklichung befriedigt werden kann, wird im veränderten historischen Kontext als „dekadentistischer Egotismus" 101 und „autistische Ich-Steigerung"102 destruiert, jedoch als Bild- und Metaphernarsenal in die Rubinersche Ethik transformiert, wobei in der „Umkodierung" der utopischen Valenz nun der traditionelle — schabionisierte — Bildbereich die zunehmende Politisierung des ,zitierten' Modells transportieren soll: „Ich weiss Einiges, über das zu diskutieren ich nicht mehr bereit bin", ,doziert' Rubiner. „Ich weiss, dass es nur ein sittliches Lebensziel gibt: Intensität, Feuerschweife der Intensität, ihr Bersten, Aufsplittern, ihre Sprengungen. Ihr Hinausstieben, ihr Morden und ihr Zeugen von ewiger Unvergessenheit in einer Sekunde. Ich kenne die Kanonaden der Erdkruste, 101 Renate Werner, Skeptizismus, Ästhetizismus, Aktivismus, S. 16. 102 Renate Werner, Skeptizismus, Ästhetizismus, Aktivismus, S. 17.

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Staub zerfliegt, alte Dreckschalen werden durchschlagen, heraus siedet das Feuerzischen des Geistes." 103 Es handelt sich in dieser paradigmatischen Gegenüberstellung nicht um eine biographische Rekurrenz (Schickele — Rubiner) oder um eine textuelle („Nocturnes" - ,.Der Dichter greift in die Politik"), sondern um eine strukturale, von einzelnen .beliebigen' Konkretisationen unabhängige, also objektive Referenz, die den Transformationsprozeß innerhalb der literarischen Evolution von der Jahrhundertwende zum Expressionismus als einen Zusammenhang mit Rückkoppelungseffekt kenntlich macht. Auch in Rubiners essayistischen Texten funktioniert die „semantische Umkodierung" 104 als „Überschneidung zweier Strukturketten in einem beiden gemeinsamen Punkte", dem „Zeichen", „wobei die zweite Kette, diejenige, zu der eine Entsprechung hergestellt wird, als Inhalt erscheint, und die erste als Ausdruck." 105 In Schickeies paradigmatischem Text aus der Lyrik der Jahrhundertwende wird das Archisem der ,vitalistischen Entgrenzung durch eine katastrophale Zerstörung und Wiedergeburt' aus der Analogie zwischen dem kosmisch-chthonischen ,Reifen-Vollenden-VergehenWiederentstehen' und der ins lyrische Subjekt projizierten unstillbaren Sehnsucht nach Vollendung im organizistischen ,Stirb und Werde' aufgebaut; zugrunde liegt dieser Vorstellung eine Kontamination des Jahreszeitenmotivs mit dem individualisierten Stigma des ewig unvollendeten Daseins.106 Rubiner stellt eine Äquivalenz her zwischen der katastrophalen Überwindung als zerstörerischem Neubeginn, dem traditionellen Bildbereich, und der bewußten Initiation dieser Umwälzung auf dem Hintergrund einer sittlich-moralischen Weltanschauung mit dem Ziel einer totalen Ethisierung aller Verhältnisse. Das neue zeichenhafte Verweisungsgefüge mit dem Zentraltopos ,Geist' ist das Ergebnis einer „Umkodierung" der extratextuellen 103 104 105 106

Ludwig Rubiner, Der Dichter greift in die Politik, Sp. 646. Jurij M. Lotman, Die Struktur literarischer Texte, S. 77. Jurij M. Lotman, Die Struktur literarischer Texte, S. 60. „Bei der Umkodierung stellen sich zwischen bestimmten Paaren von ihrer Natur nach verschiedenen Elementen Entsprechungen her, wobei jeweils ein Element in seinem System als Äquivalent eines anderen Elements in dessen System aufgefaßt wird" (Jurij M. Lotman, Die Struktur literarischer Texte, S. 60).

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Denotate, die dem semantischen Affinitätsfeld ,Zerstörung-Katastrophe-Umwälzung-Überwindung' zuzuordnen sind. Als Ergebnis der heuristischen Zusammen- und Entgegenstellung von Momenten aus der literarischen Evolution kann für die Spezifik der aktivistischen Position Rubiners hinsichtlich der sub-poetischen Struktur der programme, Manifeste und Appelle' festgehalten werden, daß das Katastrophensyndrom tendenziell in seiner Ausdrucksebene transformiert und in seiner Inhaltsebene destruiert wird. Während in der „Umkodierung" die Denotate nun den gesellschaftlichen Kontext konnotieren sollen, rekurrieren die schabionisierten und automatisierten Äquivalenzen auf das System der Kunst, welches für die Lyrik der Jahrhundertwende die hermetische Abgrenzung versuchte; zumindest im l'art pour l'art-Ideal als einer ästhetischen Opposition', auf die der Aktivismus explizit reagiert. „Der Mangel an Konkretion in den utopischen Entwürfen", 1 0 7 wie sie Rubiner vorlegt, rührt also folglich daher, daß die Ausdrucksebene in den subpoetische Texten nicht aus ihren schabionisierten Konnotationen zum ästhetischen Konnex der Jahrhundertwende gelöst, sondern in ihrer Rückkoppelung auf den pseudo-kulturkritischen und sozial-pathetischen Geist-Topos zur außergesellschaftlichen .regulativen Idee' verklärt wird. Dieses Verfahren der Identifikation in ihrer amorphen Stereotypie erlaubt — in der Konsequenz nach Renate Werner — „eine Umkehrung der Relation von Zweck und Mittel", wobei „der Zweck, die Errichtung eines sozialen Gemeinwesens, in dem ,liberté', ,égalité' und .fraternité' als letzte menschliche Ziele endlich verwirklicht sind, zurücktritt hinter der schöpferischen Aktivität kämpferischen ,Wollens', die zu seiner Verwirklichung notwendig ist, aber am Ende nur sich selber, und das heißt ,Intensität' und ruhelose Bewegung an sich meint." 1 0 8 Die utopische Valenz des Rubinerschen Geist-Topos, unter der die Negation der Wirklichkeit ohne Rest, den es zu bewahren gälte, organisiert werden kann, als heuristische Qualität zu interpretieren, die jenseits aller Zweck-Mittel-Relationen den Vorschein der Utopie immer wieder gegen die Realität in ihrem sanktionierten und

107 Renate Werner, Skeptizismus, Ästhetizismus, Aktivismus, S. 208. 108 Ebd.

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legitimierten Mangel einklagt, reflektiert die Geschichtlichkeit dieser Position in ihrem unabgeschlossenen Prozeßcharakter: denn auch die historisch gegenwärtige Antwort auf die Definitionen von Freiheit kann nur ihr Inhalt sein — und das ist deren Konkretion. Die Subsumtion des aktivistischen Flügels im Expressionismus unter bloße, ziel- und richtungslos anarchistische Voluntarismen (TatTopos) verkennt im „Mänadentanz des Geistes" 109 den Versuch, in der aktivistischen Tat-Ideologie (als Negation der ästhetischen Opposition) auch eine Affinität zur gescheiterten (bürgerlichen) Revolution von 1848 herzustellen; und es ist nur folgerichtig auf dem Hintergrund des verabsolutierten moralischen Maßstabs gegen die im Kontext realer politischer Auseinandersetzungen sich immer mehr demaskierenden Taktiken einer von utilitaristisch bis national-chauvinistisch reichenden ,Volks-Ethik', wenn die Ideale der Revolution von 1848 noch einmal in der Zuspitzung der historischen und gesellschaftlichen Krise nach 1910 virulent werden - zumindest attraktiv für einen Teil der politisch heimatlosen Intellektuellen. Die revolutionäre Hoffnung von 1848 zeigt nämlich in ihrem Identifikationshorizont — ähnlich der didaktischen Funktion eines art social — den scheinbar außerhalb der Gesellschaft noch einzig vorfindlichen Ort einer unkorrumpierten, moralisch-integren Position, die in ihrem Anspruch nur das Äquivalent ist zur Forderung nach einer ungeteilten, universellen Freiheit als Synonym für die Aufhebung der gesellschaftlichen Entfremdung und Verdinglichung, welche die inhaltliche Konkretion der partikularen ,Freiheit' als einer ökonomischen Marktform sind: „Aber ,Der freie Geist!' - ist das nicht die Rede von 1848? Ja. Die gewohnte Abkürzung der Polemik mit Hinrichtungsabsichten ist, einen Gegner als aufrechten Achtundvierziger auszuläuten. Das bedeutet einen dicken Mann mit grauem Bart und Brille, wie etwa Franzosen den deutschen Professor denken. Und es ist ein Mensch, der sich an der Einbildung Demokratie vollsäuft, um beim Kegelspielen mit dem Trinkglas auf flacher Hand gegen Minister zu poltern. Aber was geht uns ein Datum an? Nun, dieses centriere eine Zeit, in der Tagesschreiber dicke Romane fertigten, Reporter Gedichtbände ausgaben, Pauker Philosophie mimten. Sehr merkwürdiges Datum — ein 109 Renate Werner, Skeptizismus, Ästhetizismus, Aktivismus, S. 2 0 1 - 2 1 5 .

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Schimpfwort für Künstler, eine Verlegenheit heute fur die Bürger, eine Lächerlichkeit für die geordneten Systematiker der proletarischen Umwälzung (durch Abwarten). Offenbar ein Protest-Datum." 1 1 0 Allerdings vermischen sich in der Rubinerschen Position zwei prinzipielle Standpunkte zu einem unlösbaren Widerspruch: nämlich die Rekurrenz auf eine fortschrittliche politische Tradition und die Rekurrenz auf ein vitalistisches, ahistorisches Revolutionsbild, das in seiner spontanistischen und romantizistischen Katastrophensehnsucht das Erlebnis der Zerstörung zum politischen Inhalt verklärt, anstatt die Gewalt in ihrer politischen Funktion — im Kampf gegen diktatorische Herrschaftssysteme - zu rationalisieren: „Dass es nichts zu lehren, zu verbessern, zu entwickeln gilt — sondern zu beseitigen. Zu stören. Zu zerstören: Hindernisse zu sprengen; die Klumpen der Materie zur Explosion zu bringen. Auf dass ein Funke, ein Wissen ums Erste, eine Gewissheit vom Geist in uns allen plötzlich und gemeinsam hinaufspringe. Ho, was nachher ist, das ist gleich; es gilt nur einmal, einmal an unser wahrhaftes Dasein in uns — und in allen — zu erinnern. Wann gab's das bei Deutschen, wenn nicht um jene Zeit." 1 1 1 Die utopische Valenz einer solchen Position vitalistischer Entgrenzung hat dort ihre eindeutige Grenze, wo das Bild nicht bedeutungsdifferenzierende Funktion hat, sondern neben der rhetorischen Phrase („Ho, was nachher ist, das ist gleich") den politischen Inhalt der Rede verdecken soll: „Die Klumpen der Materie zur Explosion" bringen, ist prägnant, akustisch und visuell anschaulich: als Revolutionsmetapher konkretisiert das Bild freilich den apolitischen Schein der qualitativen Veränderung gesellschaftlicher Prozesse in ihrer sozio-ökonomischen Basis. Weil nämlich nicht „gleich ist", „was nachher ist", wenn nicht die Revolution um ihrer selbst willen betrieben werden soll, ist auch die Gesellschaftsveränderung nicht mit der Gesellschaftsbeseitigung identisch. Die Gesellschaft ist in ihrer hochorganisierten Strukturierung nicht im Bild von den,Materie-Klumpen'zu erfassen; im Gegenteil: die visuelle Konkretion der hochkomplexen Abstraktion (Gesellschaft), die poetische Kodierung realisiert eine semantische Äquivalenz zu einer Merkmalsmatrix, die das genaue Gegenteil der inhaltlichen

110 Ludwig Rubiner, Brief an einen Aufriihrer, Sp. 343 f. 111 Ludwig Rubiner, Brief an einen Aufrührer, Sp. 344.

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Bestimmung des Begriffs .Gesellschaft' umfaßt: .anorganisch', Jeblos', .starr', ,roh',,einfach strukturiert', dann aber auch: ,ungeworden', .unveränderlich' - .wertlos'. Das absolut statische Gesellschaftsbild produziert auch die absolute Perspektivlosigkeit, die nach dem befreienden Erlebnis nur die Reproduktion des Immergleichen zuläßt - und das ist: die Katastrophe in Permanenz. „Bedeutung entsteht durch externe Umkodierung", indem eine „Äquivalenz zwischen zwei Strukturketten verschiedener Art und ihren einzelnen Elementen hergestellt" wird, 112 z.B. dem positiv semantisierten Katastrophensyndrom und der gescheiterten Revolution von 1848 (als historischem Ereignis). „DieKontaktherstellung zwischen zwei verschieden strukturierten Bereichen" sei der „verbreitetste Fall der Bedeutungsbildung in den natürlichen Sprachen", erläutert Lotman in Abgrenzung zu „sekundären modellbildenden Systemen", da in diesen auch „multiple externe Umkodierungen" anzutreffen seien, nämlich „die Herstellung von Kontakten nicht nur von zwei, sondern von vielen selbständigen Strukturen, wobei das Zeichen nicht mehr ein äquivalentes Paar darstellt, sondern ein Bündel einander wechselseitig äquivalenter Elemente verschiedener Systeme." 113 Gegen eine vorschnelle Klassifizierung des Rubinerschen Revolutionsbildes als Ideologie — in ihrer Funktion als falsches Bewußtsein in einer historischen Situation — ist geltend zu machen, daß in einer dialektischen Einheit — die nur analytisch zu trennen ist — mit der ideologischen Identifikation eines ,Humanums' (Sozietät) durch ein Statuarisches auch eine „multiple externe Umkodierung" steht. Die Merkmale .starr', ,roh', unveränderlich', .wertlos' als semantisches Affinitätsfeld für einen gesellschaftlichen Konnex realisieren in Allusionen die entfremdete Erfahrung des preußisch-wilhelminischen Staates, dessen Physiognomie „durch ständische Traditionen und neue klassengesellschaftliche Schranken (...) schroff markiert" 114 wurde. Im historischen Kontext von 1913 — mit stärkerer Referenz auf den Titel: „Brief an einen Aufrührer" - verändert sich durch die subpoetische Kodierung und Strukturierung des Textes (die kumulative Häufung von Bildern, Metaphern, versteckten literarischen Zitaten und anderen literarischen 112 Jurij M. Lotman, Die Struktur literarischer Texte, S. 62. 113 Jurij M. Lotman, Die Struktur literarischer Texte, S . 6 3 . 114 Hans Ulrich Wehler, Das Deutsche Kaiserreich 1 8 7 1 - 1 9 1 8 , S. 149.

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Verfahren sprengt den Rahmen der ,stilbildenden Ebene' in der Texthierarchie) auch die eindeutige Konnotation dieser Textstelle — und ihre Umgebung — auf die Revolution von 1848' und .Gesellschaft allgemein'. 115 Rubiner insistiert in der Metaphorik der rigorosen Vernichtung und radikalen Zerstörung auf der generellen Unreformierbarkeit des wilhelminischen Staates — und propagiert somit auch die weitreichende politische Einsicht, daß eine Scheinüberwindung dieses Staates nur die soziale Ungerechtigkeit unter anderen Vorzeichen reproduziert. Die „zerebralen Gourmandisen" 1 1 6 des bourgeoisen Publikums durch schockierende Irritationen zu ersetzen, war deshalb eine der dringlichsten Aufgaben aktivistischer Publizistik, die sich doch als politische verstand. So erscheint auch im apolitischen Revolutionsbild' der (quasi apokalyptischen) Gesellschaftsveränderung als „Sprengen" von „Klumpen der Materie" in der Dekodierung der Metaphorik dieses Bildes die von den nicht Privilegierten erfahrene Härte, Kälte, Rohheit, ja starreste Verfestigung der sozialen Ungleichheit und — sozialpsychologisch argumentiert — die ,Unwirtlichkeit' und Heimatlosigkeit der kritischen Intellektuellen in diesem wilhelminischen System der Unterdrückung; es erscheint auch — kodiert im poetischen Bild — der pathetische Schrei, dies alles von Grund auf radikal zu ändern. Das scheinbare ideologische Substrat dieser ,sozial-pathetischen Gebärde' ist nicht identisch mit einem reflektierten „Antimaterialism u s " 1 1 7 — als erkenntnistheoretische Kategorie. (Inwieweit Rubiner hier auch eine „Projektion der eigenen Erfahrungen als einer minoritären sozialen Gruppe, die sich scheinbar ganz außerhalb der Gesellschaft befand, auf die von Bakunin als ,Blume des Proletariats' gefeierten subproletarischen Schichten" 1 1 8 realisiert, ist für die 115 Hinzuweisen ist auf Lotmans Unterscheidung zwischen der „Welt der Denotate des sekundären Systems" und der „Welt der Denotate des primären Systems": Ein „sekundäres modellbildendes System vom Typ Kunst konstruiert sein eigenes System von Denotation, das nicht etwa eine Kopie, sondern ein Modell der Welt der Denotate in allgemeinsprachlicher Bedeutung darstellt" (Jurij M. Lotman, Die Struktur literarischer Texte, S. 77). 116 Kurt Hiller, Es ist an der Zeit (1912), in: Literatur-Revolution 1 9 1 0 - 1 9 2 5 , Band 2 (Zur Begriffsbestimmung der Ismen), S. 387. 117 Lothar Peter, Literarische Intelligenz und Klassenkampf, S. 27. 118 Ebd.

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Identifikation der verschiedensten Protagonisten bei Rubiner höchst fragwürdig.)

b) Kunst als Politik oder: Politik ohne Kunst Rubiner transponiert den politischen Inhalt der herbeigesehnten Katastrophe, der Zerstörung, den Untergang der ganzen morbiden Gesellschaft in einen kulturkritischen Rahmen, der die Revolution in einem fiktional ausgegrenzten Illusionsraum als subjektives Erlebnis faktisch möglich macht: er produziert somit in der radikalen Rhetorik als Kommentar nicht vollzogener, sondern herbeigesehnter Veränderungen, die jedoch als vollzogene suggeriert werden, eine Faktizität des schon Erreichten, welche die objektive Folgenlosigkeit artistisch auffängt und in den subpoetischen Modellierungen aufhebt. „Maler bauen Barrikaden", 119 erklärt Rubiner enthusiastisch und apodiktisch in der Besprechung der „Neuen Secession", 120 denn „eine wirkliche Ausstellung ist immer eine wirkliche Polemik, und Politik heißt höchste Begabung, höchster Wille, unsere Erstmaligkeit auf der Welt organisch werden zu lassen." 121 Die Kunst übernimmt so in ihren Inhalten tendenziell eine entlastende, sublimierende Aufgabe, während sie ihrer Funktion nach genau das Gegenteil leisten soll — nicht als Kunst auch noch politische Tat zu sein, sondern als politische Tat nicht mehr Kunst: „Ganz große Künstler, Antikünstler schon, sind Politiker mit umgekehrten Vorzeichen. Warum sind sie nicht lieber Politiker mit direkter Aktion. (...) Wir brauchen keine Messiasse. Seid Politiker. Seid Handelnde!" 122 Weil die undifferenzierte Radikalität überhaupt keine politischen Diskussionsprozesse, Gruppierungen, Widersprüche in den Blick kommen läßt, gesellschaftliche Prozesse und ihre Antagonismen mit obrigkeits-staatlicher Autorität und Machtausübung verwechselt, Kultur und Politik im alles umfassenden Begriff der Zivilisation 119 Ludwig (1914), 120 Ludwig 121 Ludwig 122 Ludwig

Rubiner, Maler bauen Barrikaden, in: L.R., Die Aktion, 4. Jg. Heft 17 vom 25. April, Sp. 3 5 3 - 3 6 4 ; Hervorhebung von mir, KHH. Rubiner, Maler bauen Barrikaden, Sp. 359. Rubiner, Maler bauen Barrikaden, Sp. 359. Rubiner, Die Änderung der Welt, S. 100.

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nivelliert, die „diese Welt um uns" ist, „diese Welt des Angeschwemmten, Versandeten, des seelig Breiartigen, des Ruhenden", 1 2 3 muß die Kunst zu jener Macht stilisiert werden, zu einer umfassenden Volksdidaktik ähnlich der frühbürgerlichen Wirkungsästhetik, die den ,Geist' als Revolution des Bewußtseins und politische Tat freisetzt: „Wenn sich nach dem Werther die Leute totschießen, so ist das Buch gut; wenn sie auf andere schießen, besser. (...) Heinrich Mann, zufällig, kann das. Früher gingen Nebenwirkungen von ihm aus, zur Radikalisierung; junge Herren, hoffnungslos frisiert nach Claude Marehn, waren zwar Mißverständnisse, aber zersetzend. Jetzt, unter dem unverpackten, von draußen drängenden politischen Willen des,Untertans'werden in Deutschland viele tausend ahnungslose Frauen und Männer politisches Blut eingespritzt bekommen." 1 2 4 Intentional richtet sich Rubiners Literaturkritik vehement gegen die Rezeptionsform Kunst als didaktisches Verfahren einer Politisierung: objektiv läßt er jedoch die Kunst zu der Waffe werden, welche als unmittelbare politische Aktion identisch wird mit dem ,Geist': „Wir müssen Heinrich Mann für den ,Untertan' danken. So lange, bis er einen Jioman' schreibt, der selbst Aufrührer ist. Wonach, als Wirkung des Buches, nicht mehr gewählt, sondern getan wird. ,Kunst' kann nie diese Wirkung haben, nur der Geist. Dann wird auch unser Dank für den (vorhergehenden) ,Untertan' ganz überflüssig sein. Dann wird nämlich Heinrich Mann im Gefängnis sitzen, und seine Leser wissen, daß sie vorstoßen müssen." 1 2 5 Über den Umweg der Metamorphose von JCunst' zu ,Geist', vom Künstler zum politischen Täter werden die Maler, Literaten, Komponisten und Bildhauer doch Protagonisten des Umsturzes und der Erneuerung. „Maler, du willst; du stürzest die Welt um; du bist Politiker! oder du bleibst Privatmann." 1 2 6 Rubiners Reaktion auf Heinrich Manns Roman „Der Untertan" 123 Ludwig Rubiner, Maler bauen Barrikaden, Sp. 355. 124 Ludwig Rubiner, Untertan, in: Die Aktion, 4. Jg. (1914) Heft 16 vom 18. April, Sp. 3 3 4 - 3 3 7 ; der Essay ist gegliedert in I und II: I (Sp. 334f.) verfaßte Friedrich Markus Huebner ( 1 8 8 6 - 1 9 6 4 ) , II (Sp. 3 3 5 - 3 3 7 ) Ludwig Rubiner; Zitat Sp. 337. - Heinrich Manns Roman „Der Untertan" wurde zuerst veröffentlicht im „Simplicissimus" (27.11.1911 bis 9.9.1912). 125 Ebd. 126 Ludwig Rubiner, Maler bauen Barrikaden, Sp. 355.

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(„Eine Schrift, nicht der Unzufriedenheit, sondern der Deutlichkeit. Ein Buch, wirkend, daß die Bourgeoisie, die es lesen muß, sich selbst ins Gesicht kotzt" 1 2 7 ) zeigt in ihrer Argumentation ein invariantes Strukturmerkmal, das leitmotivisch den Prozeß der Genese des utopischen Modells, absolut gegen die Realität gesetzt, erhellen kann: Die Nivellierung der Differenz zwischen Kunst und Wirklichkeit in der spontan-aktivistischen Tat. Während zum Beispiel bei Schiller in seinem Konzept der „ästhetischen Erziehung des Menschen" 128 die Kunst das Ideal so lange repräsentiert, wie die Realität im Gang durch den Geschichtsprozeß nicht selbst idealischen Charakter hat und aus dem ,Reich der Notwendigkeit' das,Reich der Freiheit' geworden ist, weil die Freiheit der Kunst vermöge ihrer Form zur Form der Wirklichkeit vermöge ihrer Freiheit geworden ist, reduziert sich in der aktivistischen Utopie die teleologische Dimension - als Perspektive einer Entfaltung der Utopie im Geschichtsprozeß — auf die voluntaristische Umkehrung der antizipativen Axiome: „Aber gerade das äußerste, beschränkteste, unmittelbarste und glühendste Jetzt ist das Sprungbrett, das uns im Sturmschwung in die Ewigkeit trägt, und selbst, unter dem Anprall unserer Füße, in Trümmer fliegt."129 127 Ludwig Rubiner, Untertan, Sp. 336. 128 Es kann hier nur ein Zusammenhang angedeutet werden, der eine detailliertere Untersuchung notwendig machte: Zurecht hat Peter Fischer darauf insistiert, „den Expressionismus als spätzeitliche Erscheinung mit seiner Herkunft, der Ästhetik der deutschen Klassik, zusammenzudenken und ihn als Endpunkt der Geschichte von Bildung und Revolution zu begreifen" (P. F., Alfred Wolfenstein. Der Expressionismus und die verendende Kunst, München 1968, S. 19). Schiller hat im zweiten der Briefe „Ueber die ästhetische Erziehung des Menschen" auf die Funktion der Kunst als Horizont einer politischen Instanz hingewiesen, welche die .Utopie der Freiheit' gegen die .Bedürfnisse der Zeit' aufbewahrt und immer wieder einklagt; deshalb muß „die Schönheit", und das ist die Kunst, „der Freiheit vorangehen", da „man, um jenes politische Problem in der Erfahrung zu lösen, durch das ästhetische den Weg nehmen muß, weil es die Schönheit ist, durch welche man zu der Freiheit wandert" (Friedrich Schiller, Ueber die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen, in: Schillers Werke. Nationalausgabe, Zwanzigster Band: Philosophische Schriften. Erster Teil, unter Mitwirkung von Helmut Koopmann hg. von Benno von Wiese, Weimar 1962, S. 3 0 9 - 4 1 2 ; Zitat S.312). Vgl. auch Peter Hahn, Kunst als Utopie und Ideologie, S. 1 7 5 - 1 7 9 („Kunst versus Realität" im Kontext: „Schillers Ästhetik in politischer Absicht", S. 1 7 2 - 1 7 9 ) . 129 Ludwig Rubiner, Aktualismus, in: L.R., Der Mensch in der Mitte,

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Wenn das Ideal, repräsentiert in den Formen der Kunst, zum Inhalt momentaner Politik werden kann, aus der Statthalterschaft für eine bessere Praxis die praktikable Negation der momentanen wird, 1 3 0 dann verkehrt sich subjektivistisch die regulative Idee zum politischen Willen: repräsentiert in der Kunst; und die Kunst wird - in der Metamorphose zum inkommensurablen Geist — zum Täter. In der Konsequenz: der Raum der Kunst wird zum Schauplatz der Revolution. Die abstrakt-utopische Gesellschaftsveränderung wird vollzogen in der ästhetischen Überwindung der bürgerlichen Welt. Wo die bürgerliche Literatur in ihrer Funktion als Gradmesser der Differenz von bürgerlicher Utopie und bürgerlicher Wirklichkeit allmählich beim Übergang in die imperialistische Phase ihre Basis verliert, erklären die letzten (ehrlichen) Protagonisten dieser bürgerlichen Utopie die Differenz für prinzipiell aufhebbar im Jiic et nunc', und zwar per Manifest. 131 In der Deklamation manifestiert sich aber gerade das Scheitern dieser bürgerlichen Utopie (der universalen Menschheit), weil ihr Inhalt nicht per Dekret gegen bestehende politische Macht durchgesetzt werden kann; oder dialektisch gewendet: in der Deklamation — als subpoetischen Form — entlarvt sich auch das Scheitern dieser wilhelminischen Gesellschaftsform als realen Existenzraums des Bürgertums, das in

S. 1 0 - 1 3 ; Z i t a t s . 13. 130 Vgl. Theodor W.Adorno, Ästhetische Theorie: „Das Moment objektiver Praxis, das der Kunst einwohnt, wird zu subjektiver Intention, wo ihre Antithese zur Gesellschaft, durch deren objektive Tendenz und durch die kritische Reflexion der Kunst, unversöhnbar wird. Der gängige Name dafür lautet Engagement. Engagement ist eine höhere Reflexionsstufe als Tendenz; will nicht einfach mißliebige Zustände verbessern,obwohl Engagierte allzu leicht mit Maßnahmen sympathisieren; es zielt auf Veränderung der Bedingungen von Zuständen, nicht auf den blanken Vorschlag; insofern neigt Engagement der ästhetischen Kategorie des Wesens z u " (S. 365). 131 Zu negativ apostrophiert Helmut Kreuzer die Attitüde der radikal verbalen Insistenz auf eine Protagonistenrolle, die sich nicht .pragmatisch', sondern .moralisch' oder .geistig' legitimiert: „Vom Selbstverständnis des Künstlers als des .genialen Menschen' war für viele nur ein Schritt zum politischen Macht- und Führungsanspruch der literarisch-künstlerischen Intelligenz; die .Aristokratie der Geistreichen' (um an das jungdeutsche Schlagwort zu erinnern), die ,Herrschaft des Geistes' (d.h. der .Geistigen') war das Postulat zahlreicher Autoren der Wilhelminischen Epoche und das praktisch-politische Ziel des bohemischen .Aktivisten' Kurt Hiller und seiner Gesinnungsgenossen aus der .kulturpolitischen Radikale' " (H.K., Die Boheme, S. 289).

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der unheilvollen Allianz mit dem Adel sich zwar die ökonomische Emanzipation erkaufte, aber eben die politische dabei verkaufte, wobei die Utopie der .Freiheit', .Gleichheit', ,Brüderlichkeit' zur hohlen Phrase wurde. Die Sprengung des autokommunikativen Rahmens der Kunst, zumindest der Versuch, die bloße „ästhetische Opposition" zu überwinden, konfiguriert in der „Tat-Ideologie" eben deshalb für die bürgerliche Utopie den letzten verzweifelten Versuch einer Realisierung innerhalb ihrer eigenen Legitimationsbasis, nämlich der bürgerlichen Gesellschaft, weil diese Legitimationsbasis im realen Geschichtsprozeß selber durch eine qualitativ ganz andere Macht bedroht wird. Daß Rubiner in nicht mehr lösbare Widersprüche gerät — gerade auf dem Hintergrund realer Gesellschaftsprozesse - , wenn die Funktion der Literatur (oder Kunst allgemein) mit ihrer Leistung verwechselt wird, ist evident: „Wir wollen, dass der Dichter hineinstösst in die kommerziellen Gleise, diese Eckchen voll Augenzwinkern, diese Pressfehden voll geschwindelter Aufregung, diese Geheimnis'chen, wo alles längst klar ist, dieses Verschleppen von Krisen. In die Sordinen dieser Immer-ruhig-Blut-Taktik nebst diätarisch bezahlter Aufregung auf Wochen, Tage und Stunden. In diese Bergwerks-, Eisenbahnen-, Petroleum-Interessenschübe. Hinein soll er in die Pathetophon-Vorstellung, so man Politik nennt." 1 3 2 - „Herrlich, wer die Kontinuität stört. Höhnungen gegen Gewöhnungen. Krater gegen Demokrater." 1 3 3 „Der Dichter wirkt tausendmal stärker als der Politiker, der im Moment vielleicht fetter effektuiert. Der Dichter ist der einzige, der hat, was uns erschüttert, Intensität." 1 3 4 Idealistisch ist die Flucht in einen subjektiven Voluntarismus zu nennen, der glaubt, Kunst könne mit der kontradiktorischen Negation, der sinnlich-konkreten Utopie, die instrumentelle Verfügbarkeit realer politischer Macht tangieren, gar unmittelbar überwinden. Das Paradigma der Kunst als regulativer Idee einer letzten moralischen Instanz, welche die republikanische Tugend, „öffentlich sich zu äußern", 1 3 5 132 Ludwig (1912), 134 Ludwig 135 Ludwig 51 vom

Rubiner, Der Dichter greift in die Politik. II, in: Die Aktion, 2. Jg. Heft 23 vom 5. Juni, Sp. 7 0 9 - 7 1 5 ; Zitat Sp. 712. 133 Ebd. Rubiner, Der Dichter greift in die Politik. II, Sp. 713. Rubiner, Aufruf an Literaten, in: Die Aktion, 3. Jg. (1913), Heft 20. Dezember, Sp. 1 1 7 5 - 1 1 8 0 ; Zitat Sp. 1175.

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„pathetisch rhetorisch, mit Lärm" 136 gegen die zensierte .öffentliche Meinung' ins Feld fuhrt, kann eher den Maßstab einer Kritik als das Wissen um ihre prinzipielle Undurchfiihrbarkeit, eher das Unzeitgemäße im Zeitgemäßen objektivieren. Und so gesehen, trifft der Vorwurf des idealistischen Voluntarismus nur das eine Moment in der Geschichtlichkeit aktivistischer Theoreme, nämlich das, was in der scheinbaren Konkretion realpolitischer — oft tagespolitischer — Aktivitäten vom historischen Kontext, von der Historizität seiner Bedingungen, bestimmt wird und sich in seiner Charakterisierung erschöpft. Hier liegt auch die ideologische Schwäche aktivistischer Theoreme. Jenes andere Moment aber, das die Kritik nicht zuerst an ihrem Inhalt mißt, sondern ihre Funktion in einer bestimmten geschichtlichen Situation zunächst analysiert, kann von der Geschichtlichkeit der Position nicht eingeholt, gar überholt werden; es sei denn, jemand träte auf und behauptete, wir wären schon „bei lebendigem Leibe" im Paradiese.

136 Ebd. - „Listig macht der Essay sich fest in die Texte, als wären sie schlechterdings da und hätten Autorität. So bekommt er, ohne den Trug des Ersten, einen wie immer auch dubiosen Boden unter die Füße, vergleichbar der einstigen theologischen Exegese von Schriften. Die Tendenz jedoch ist die entgegengesetzte, die kritische: durch Konfrontation der Texte mit ihrem eigenen emphatischen Begriff, mit der Wahrheit, die ein jeder meint, auch wenn er sie nicht meinen will, den Anspruch von Kultur zu erschüttern und sie zum Eingedenken ihrer Unwahrheit zu bewegen, eben jenes ideologischen Scheins, in dem Kultur als naturverfallen sich offenbart. Unterm Blick des Essays wird die zweite Natur ihrer selbst inne als erste. Bewegt sich die Wahrheit des Essays durch seine Unwahrheit, so ist sie nicht im bloßen Gegensatz zu seinem Unehrlichen und Verfemten aufzusuchen sondern in diesem selber, seiner Mobilität, seinem Mangel an jenem Soliden, dessen Forderung die Wissenschaft von Eigentumsverhältnissen auf den Geist transferierte. Die den Geist glauben gegen Unsolidität verteidigen zu müssen, sind seine Feinde: Geist selber, einmal emanzipiert, ist mobil" (Theodor W. Adorno, Der Essay als Form, S. 42f.).

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3. Die Dialektik von Utopie und Ideologie in der hierarchischen Struktur der Textsorte ,Manifest, Appell, Programm' „In Ludwig Rubiners ,Der Mensch' gar,Sprang der Mensch in die Höh'. Aber laute Emphase, extreme Bildlichkeit, die vor allem und immer wieder die steil aufsteigende ,Empor'-Bewegung und die Lichtmetaphorik bemüht, können über das Ungerichtete und daher Ziellose der Appelle und Ausrufe nicht hinwegtäuschen. Das eben bedingt den Klischeecharakter der religiösen Wortschicht in diesen Gedichten: ihr Inhalt hat sich verflüchtigt, geblieben ist die bloße Beschwörungsgeste." 1 3 7 Wenn die Ebene der Textparaphrase verlassen wird, können die objektiven semantischen Rekurrenzen das Material für eine kontextuelle Ausdifferenzierung bereitstellen. Rubiner hat 1916 nicht nur den Gedichtzyklus „Das himmlische Licht" veröffentlicht, sondern auch den programmatischen Essay „Die Änderung der Welt", und zwar im ersten der ,Ziel'-Jahrbücher, wo Kurt Hiller die ,Aufrufe zu tätigen Geist" — so der Untertitel dieser Reihe - zu einer Bestandsaufnahme der Diskussion um den Aktivismus zusammenfaßte und herausgab. In diesem Essay heißt es unter der Überschrift „Ein sehr großes Erlebnis": „Im Jahre 1882 flog durch vulkanische Eruption die Südseeinsel Krakatao in die Luft. Viele hunderttausend Menschen wurden von der Flutwelle getötet. Eine Riesenwolke feinen Staubes blieb in der Luft, umkreiste mehrmals die Erde und brachte die tiefen farbigen Dämmerungserscheinungen hervor, die von jener Zeit bis Mitte der neunziger Jahre in der ganzen Welt sichtbar waren" (S. 94). 1 3 8 Dieses „sehr große Erlebnis" wird im Titel des Gedichtbandes symbolisch festgehalten und als leitmotivische Invarianz zum strukturierenden Kompositionsmerkmal des Gesamtzyklus. Fast schon zitathaft erscheint so im ersten Text des Zyklus, im Abschnitt „Das himmlische Licht" (D.h.L., S.5f.), das Denotat des im Titel 137 Silvio Vietta/Hans-Georg Kemper, Expressionismus, S. 191. 138 Alle Seitenangaben im folgenden zum Essay „Die Änderung der Welt" beziehen sich auf die zitierte Ausgabe: L.R., Der Mensch in der Mitte, S. 8 4 - 1 1 1 .

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vorstrukturierten »literarischen Symbols'. 139 „ O mein Freund, glauben Sie nicht, was ich Ihnen sagen werde, sei neu oder interessant. / Alles was ich Ihnen zurufe, wissen Sie selbst, aber Sie haben es nie aus rundem Mund laut bekannt. / Sie haben es zugedeckt. Ich will Sie erinnern. Ich will Sie aufrufen. / Denn Gott rief die Erde für uns alle auf. Seine Stimme hauchte aus dem Untermeer Vulkan, der in der Südsee in die Luft flog. / Die kleine Kraterinsel Krakatao stieß den brennenden Atem Gottes aus der Erde. / Explosion. Der Ozean spritzte über die Erde, unvergessen in dreißig Menschenjahren. / Neues Menschengeschlecht, und das Jahrhundert war lang zu Ende. / Aber aus dem Pazifik brannte der Feuerwind des Krakatao lang in unsere Herzen." (D.h.L., S . 5 f . ) Der direkte Bezug auf die Kommentierung dieses .Ereignisses'140 im Essay „Die Änderung der Welt" schafft eine kontextuelle Referenz, welche die Frage der Transformation einer für die Literatur dieser Epoche relevanten, kulturkritisch sozialutopischen Weltanschauung in eine ästhetische Struktur ,en passant' beantworten könnte. Im Essay „Die Änderung der W e l t " folgt nämlich nach der kurzen Skizze dieses „sehr großen Erlebnisses": „Es ist mir immer klar gewesen, daß die Farbenwolken des Krakatao in innigster Beziehung stehen zu den neuen Malerfarben, den bunten Worten, den Neonbildern, den Nuancen dieser Jahre. Das ist ein Erlebnis, ein tellurisches. Objektiv, real, nicht abzustreiten. Ist das nun groß genug? Und alles, damit unser Sicherheitsgefühl in Europa steigt, einige Bilder mehr an den Wänden hängen, einige Bücher mehr erscheinen, L o i e Fuller unter Beifall Farben-Variéte machte, die Fabriken bunte Blusenstoffe in die 139 Zur poetologischen Kategorie des .literarischen Symbols' vgl. Jürgen Link, Die Struktur des literarischen Symbols. Theoretische Beiträge am Beispiel der späten Lyrik Brechts, München 1975 (= Wilhelm Fink Verlag Kritische Information 24), S . 8 - 3 6 . 140 Wie elementar die für endzeitliche Motive jeder Art höchst empfänglichen Zeitgenossen Rubiners die noch sichtbaren Auswirkungen dieser Explosion kommentierten, belegt anschaulich Alfred Wolfensteins Würdigung „Georg Heym. Zum zwanzigsten Todestag (1932)". Dort heißt es unter anderem: „Über der Erde dieser Dichtung, über der von dämonischem Elend wimmelnden Erde lag der sinkende Himmel der Zeit. Es war der vom Ausbruch des Krakatao noch glutrot gefärbte Himmel der Dämmerungen von 1911. Es war die Maske einer schon sichtbaren Zukunft" (Georg Heym, Dichtungen und Schriften, Band 6: Dokumente zu seinem Leben und Werk, hg. von Karl Ludwig Schneider und Gerhard Burckhardt, München 1968, S. 179-182; ZitatS. 180).

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Welt setzen, Genießer vom ,Farbenfleck' reden? Darum? Diese flach teleologischen Fragen sind notwendig, solange wir noch an das Erlebnis glauben. Und als die Malerfarben wieder blasser wurden, die Gedichte schilderungsfreier, da: ein europäischer Krieg, um das Erlebnis zu erneuern? Kameraden, ewiger Weltboykott diesen Teleologen! (Meyerbeer mietete sich ein Hausorchester, weil er sich Klangkombinationen nicht denken konnte, sondern sie praktisch erleben mußte. Wer aber hat sich den Weltkrieg gemietet? Wir, zum Teufel, wir leben nicht für Schilderungen der Komponisten, Maler, Lyriker oder Romanciers!)" (S.94f.) Die mit Textkompilationen arbeitende Interpretation hätte in diesem Zitat die ,Bedeutung' des literarischen Symbols „Das himmlische Licht" erfaßt. Da jedoch die Bedeutung innerhalb eines poetischen Textes immer nach dem Prinzip der „semantischen Umkodierung" generiert wird und nicht nach dem Prinzip der Identifikation äquivalenter Bedeutungseinheiten (hier aus verschiedenen Ebenen einer Textsortenhierarchie), muß zunächst die Kontamination der verschiedenen Ebenen in der hierarchischen Struktur der Textsorte Manifest, Programm, Appell' verhindert werden. Die Ähnlichkeit zweier identischer Problemkonstellationen soll nicht aufgehoben, sondern als Vergleichsgrundlage bewußt gemacht werden. Erst auf der Vergleichsgrundlage kann die spezifische Differenz zwischen der ,prädominant poetischen' und der bloß subpoetischen Modellierung und somit die Leistung oder das Versagen von Poesie unter bestimmten historischen Bedingungen sichtbar werden. Gelingt es nämlich nicht, das latent inkommensurable ,Surplus' der Kunst zu zeigen, dann leistet die diskursiv-argumentative Erkenntnisform allemal mehr. Um das .Verschiedene im Ähnlichen' (Lotman) kenntlich machen zu können, wird daher zunächst die Utopie einer „Änderung der Welt" in ihrer argumentativ-subpoetischen Struktur analysiert.

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a) Der literarische Essay )r Die Änderung der Welt": Zur Argumentation in der subpoetischen Vergleichsebene „Nieder das Erlebnis" (S.95), agitiert Rubiner in konsequenter Abgrenzung zu allen kontemplativen, passiv distanzierten Formen der Wirklichkeitsbewältigung, weil „die Ideen unserer Zeit vom Erlebnis (...) Besitzaberglaube s i n d " ( S . 9 4 ) . 1 4 1 Die kontemplative Wirklichkeitsrezeption, die nämlich immer nur passiv auf das außerhalb des Bewußtseins wie ein Film sich abspulende Dasein reagiere, kulminiere im Fetisch vom „Besitz"; denn „das ewige Aufsaugen fremder Wesen, und von fremden Wesen ewig Sich-Aufsaugen-Lassen, beides steht auf demselben vakuumhaften Plan der traditionellen Idee fixe vom Besitz. Nicht eintauchen! Nicht aus fremdem Munde reden! Einzig von Wert ist: Mitteilen, Überreden, Aussagen. Überzeugnis ablegen von unserer Gewißheit Zu Sein." (S. 95) Rubiner wehrt sich dagegen, die Welt als fertiges Produkt hinnehmen zu müssen; überhaupt davon auszugehen, die Realität sei in ihrem jeweiligen geschichtlichen Zustand die objektive Instanz, der Fluchtpunkt, an dem die eigene Existenz vermessen werden könnte, sei falsch: „Gewißheit zu sein. Geboren zu sein. Einfach genug nur: zu existieren. Diese Gewißheit ist die tobendste, brisanteste, unaufhaltsamste Umwälzungsenergie; rasender als alle Sprengstoffe, blutiger, vernichtender,

141 Vgl. auch Ludwig Rubiner, Der Maler vor der Arche. André Derain [gefallen] im Kriege. Dem Naturforscher Jakobus van Rees in Hilversum gewidmet, in: Die Aktion, 6. Jg. (1916), Heft 1 und 2 vom 8. Januar, Sp. 1 - 7 : „Die Welt hat den Mythos vom Erlebnis aufgestellt, um euch leichter unter ihre Maschinengewehrkugeln zu kriegen. Wenn Ihr erst glaubt an die Notwendigkeit der Beweise, der Dokumentationen, der Belege für das Leben, an die Erforderlichkeit des Erlebnisses: dann seid Ihr schon hilflos eingewickelt, dem Sklaventode verfallen. Seid Ihr denn nicht Wesen, durchschienen vom Strahlen des Geistes? Seid Ihr nicht da, das Göttliche zu verwirklichen? Ihr habt nicht das Leben zu dokumentieren, denn da bliebet Ihr immer noch bloße Vegetation. Ihr habt den Geist zu dokumentieren, mit der Durchsetzung, der Realisierung des Geistigen in der Welt, in der Vegetativwelt, gegen sie. Ihr seid Menschen, das heißt Schöpfer. Ihr dürft nicht straflos abgeschnitten werden wie Gewächse: Ihr habt das Hebelwerk des Geistes zur Verfügung, den Willen!" ( S p . 4 f . ) - Der Nachruf beruhte auf einer Falschmeldung: Derain war „1916 irrtümlich als gefallen erklärt" worden (AW, S. 374).

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fatumhafter als alle Weltkriege. So durch alle Minen der Erde hindurch zerstörend, wie nur Schaffendes sein kann" (S. 96). 1 4 2 Erkenntnistheoretisch versucht Rubiner in Analogie zu Descartes' Grundaxiom (Je pense donc je suis) jene letzte Gewißheit gegen die scheinbar festgeronnenen Verhältnisse zu formulieren, die Ausgangspunkt eines jeden absoluten subjektiven Wert- und Wahrheitsmaßstabes ist: „Einen Standpunkt haben, heißt: Es kommt darauf an, zu wissen, daß man außerhalb steht. Einzig, unter dem Notwendigkeitsgebundenen dieser Erde, steht der Mensch außerhalb, überraschend ein Überfluß. Die geistige Betrachtung geht vom einzig darstehenden Menschen aus" (S.86). Nur indem das Individuum, das „Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse", 143 wieder aus seiner Dialektik, Subjekt und Objekt des Geschichtsprozesses zu sein, in das ,Abstraktum Mensch' entlassen wird, das nicht Teil der Realität ist, sondern dieser substantialiter entgegensteht, kann im Spannungsfeld von ,Geist' und ,Materie' die totale „Änderung der Welt" in Angriff genommen werden. Weil der Mensch nicht als Teil der Wirklichkeit agiert, sondern diese dichotomisch in ,Geist' und ,Materie' zerfällt, kann auch die Erneuerung in einer zerstörerischen Katastrophe, initiiert durch das qualitativ höhere Prinzip ,Geist', als intentionaler, subjektiv-voluntaristischer Akt gedacht werden. Der Mensch wird zum Träger der schöpferischen Potenz des Geistes, wenn er nicht passiv ,Erlebnisse' konsumiert, sondern seiner ,wesensmäßigen' Bestimmung nach aktiv in der befreienden Tat die schlechte (geistlose) Wirklichkeit - sprunghaft — überwindet. Weil die Polaritäten (,Geist' und .Materie') als statische Größen einander unvermittelbar entgegenstehen, kann es überhaupt keine prozessuale Entfaltung geben. 144 Der statischen Entgegensetzung 142 Vgl. auch: „Das Schöpferische ändert die Welt und zersprengt immer gleich wieder sich selbst. Es ist da, um unablässig wieder ganz von vorn anzufangen. Eine schreckliche, hoffnungsraubende Idee für alle Machtgläubigen" (S. 89). 143 Karl Marx, Thesen über Feuerbach. 6, in: MEW, Band 3, S . 6 . 144 Silvia Schlenstedt meint, der „Marxismus (werde) hier gleichgesetzt mit seiner reformistischen Verwässerung, der These vom allmählichen Hineinwachsen in den Sozialismus" (S. S., Tat vermähle sich dem Traum, S. 150). Richtiger ist es, davon auszugehen, daß der Marxismus - nicht als Etikett

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zweier in sich ruhender, unveränderlicher Größen, die nur in der katastrophalen Überwindung, der gänzlichen Zerstörung der einen durch die andere bewegt werden können, korrespondiert der Versuch einer Soziologisierung und Historisierung des ,an sich' revolutionären Geistes im ^eiligen Mob'. Rubiner sanktifiziert in Analogie zum erkenntnistheoretischen Prozeß des sich Zurückziehens auf eine Außenperspektive' jene gesellschaftlichen Kräfte, die auch scheinbar außerhalb des Geschichtsprozesses als ewige und unveränderliche Wesenheiten Fluchtpunkte einer letzten, unkorrumpierten Instanz markieren, weil sie nicht in das Funktionieren der Sozietät integriert sind: „Ein furchtbares Symptom ist die Vernachlässigung der untersten, elendesten Gesellschaftsschicht. Der Unorganisierbaren. Der ganz Unbedingten, die nichts zu verlieren haben, der stets Außerhalb Stehenden, zu jeder Änderung Bereiten, und die die unheimlichste, feinste Witterung für den Änderungsmoment haben. Das ist derMob.(...)Es ist zu erinnern, daß das organisierte Proletariat dem Kapitalisten vergangener Jahre genau so mystisch unfaßbar war, wie heute der Mob dem Organisierten. (...) Die Reaktionsart des Mobs, seine Wirkungsfähigkeit, hat ihre putschistischen Formen seit dem Altertum nicht verändert" (S. 106f.). In der vergleichenden Zusammenstellung des Essays mit dem Gedichtzyklus muß zunächst für den Essay festgehalten werden, daß der revolutionäre, alles zerstörende Impetus von einem ,Subjekt' ausgeht: Der voluntaristisch versubjektivierte ,Tat'-Topos wird in der Immanenz der Welt zur materiellen Gewalt. Die zur Deformation erstarrten Verhältnisse produzieren in ihrer Unerträglichkeit die Notwendigkeit zu verändern: deshalb muß der .Mensch' alle .fatalistischen' Zwänge und die Hoffnung auf den .mechanischen' Umschlag des Jammertals ins Paradies — also die Erlösung durch einen Gott — endgültig überwinden. Appellativ-programmatisch wird im Essay „Die Änderung der Welt" für die Sozialdemokratie, sondern als wissenschaftliche Theorie - für Rubiner erst nach der Russischen Oktoberrevolution, vor allem aber im historischen Kontext der Novemberrevolution in den geistigen Horizont rückt. Es liegt keine Kontamination vor, sondern eine polemische, verbalradikale Abgrenzung gegen den reformistischen Flügel der SPD, und das aus gutem Grund. 184

gefordert: „Nieder das Erlebnis" (S. 111), und zwar mit der Alternative: „Ändern wir" (S. 110). Nicht der passive Weltbesitz in der kontemplativen Rezeption, nicht das voyeurhafte Mitnehmen ' eines Kunstgenusses sind noch mögliche Attitüden des von der unmittelbaren Reproduktion freigesetzten Intellektuellen. Nur wenn die ,Tat' des unbedingt handelnden Subjekts in der verändernden Kraft ganz aufgeht und kein Erlebnispotential mehr freisetzen kann, weil die Veränderung der Welt und das Erleben der Welt identisch geworden sind, steht der Mensch in der ,Mitte der Welt', jenseits des introvertierten und jenseits des kosmischen Bewußtseins. Dann erst ist der ,Humanozentrismus', so kann ergänzend gefolgert werden, das herrschende Prinzip der Wirklichkeit. „Wir lassen uns noch alles, alles vom Fatum bieten" (S. 110), beklagt Rubiner, aber, so fragt er, „Kameraden, stehen wir nicht im großen Bund des Geistes? Sind wir nicht Geschütz und Sprengstoff zugleich", denn „mit unserer Geburt bekamen wir die Gabe, die Welt zu ändern. Ändern wir" (S. 110): „Seien wir Weltverbesserer, alle. Wir haben es nötig. Vielleicht wird dann kein Genießer mehr unsere Toten mit ihrem .Erlebnis' überrumpeln. Nieder das Erlebnis! Wir haben genug. Seien wir Politiker, trocken, hart, listig, gütig, erschütternd. Verantwortlich für alle Menschen dieser Erde" (S. 111).

b) Der Gedichtzyklus „Das himmlische Licht": Zur Differenz in der Ähnlichkeit In der Zusammenstellung aufeinander beziehbarer archisematischer Einheiten kann ihre Entgegenstellung als bedeutungsdifferenzierende Operation bewußt werden. Das Muster des hier angewandten Verfahrens hat Lotman in der Analyse von Verstexten expliziert, allerdings im Zusammenhang der Parallelisierung äquivalenter Positionen in Versen, die aufgrund der Kompositionsstruktur des Textes einander zuzuordnen sind: — wobei im Vergleich des ,Ähnlichen' die Differenz die Spezifik einer ,Klasse' von Bedeutungen, kodierten Informationen, realisiert, welche niemals in der begrifflichen Abstraktion, sondern nur in der poetischen Modellierung aufgebaut werden können. Diese Prämissen einer strukturalen Poetik ergeben für die hier anstehende 185

Diskussion um den Transformationsprozeß einer aus dem subpoetischessayistischen Werk Rubiners in Umrissen konturierbaren .poetischen Idee' in eine explizit .poetische Struktur' kein Interpretationsverfahren: Aber die Heuristik der sich durchziehenden Fragestellungen kann so vorab transparenter werden. Den Polaritäten ,Geist' und .Materie' im Essay „Die Änderung der Welt" korrespondieren für die Weltanschauung Rubiners signifikante, textkonstitutive Oppositionen im Gedichtzyklus „Das himmlische Licht", 145 die (zum Teil) als aufeinanderfolgende Texte entgegengestellt sind 146 und als strukturelle archisematische Einheiten oder thematische Invarianzen in der Zusammenstellung das kohärierende Kompositionsprinzip ergeben. Textuell verteilt, steht die Lichtmetaphorik der Dunkelmetaphorik entgegen, 147 das paradiesische ,Oben' dem höllischen ,Unten', dem Bild der Armut — „Unterste, Sarglose, ewig Halbeingegraben in kalten saugenden Dreck" (S. 18) - das Bild des Reichtums: „schmatzende Jobber" (S. 21). Im Kontext der,Vergleichsgrundlage' wird zunächst das Äquivalent für den ,Geist'-Topos signifikant im Hinblick auf die utopische Valenz, welche der Gedichtzyklus rezeptibel macht. Rubiner hypostasiert die in zehn Abschnitten leitmotivisch variierte thematische Invarianz der Lichtsymbolik zu einem „göttlichen Zeichen", was die autoritätsgläubige Absicherung durch eine absolute Instanz nahelegt: „denn Gott rief die Erde für uns alle auf" (S. 5). In der pathetischen Rhetorik der direkten appellativen Evokation erscheint für den subpoetisch-essayistisch semantisierten ,Geist'-Topos 145 Alle Seitenangaben im Text beziehen sich auf die zitierte Ausgabe. 146 Vgl. zum Beispiel: „Dieser Nachmittag" (S. 1 7 - 2 0 ) steht in Opposition zu „Die feindliche Erde" (S. 21 f.), „Sieg der Trägheit" gegen „Der Mensch" (S. 2 7 - 2 9 ) . 147 Vietta/Kemper interpretieren die Funktive in der Kompositionsstruktur immer unter der Fragestellung des .wortwörtlichen' Sinns, wie er in der .natürlichen Sprache' zur Diskussion stehen kann. Aber der wortwörtliche Sinn existiert in sekundär modellierenden Systemen (vom Typ Kunst) gar nicht, weil das Problem der Bedeutung zunächst über die Funktionalisierung bestimmter poetischer Verfahren anzugehen ist. Vgl. paradigmatisch: „Das Moment der Regression unterscheidet die ekstatische Empor- und Ins-Licht-Metaphorik des Expressionismus aufs deutlichste von entsprechenden Vorbildern in der Gnosis und Mystik" (V./K., Expressionismus, S. 194).

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eine Metaphorisierung, die den diskursiv-analytischen Kern des Topos durch eine „semantische Umkodierung" zum literarischen Symbol' latent in sein Gegenteil ,verklärt'. Mit anderen Worten: durch die poetische Kodierung in einer ästhetischen Struktur werden bedeutungsdifferenzierende Merkmale,umgepolt'. Daß der ,Geist-Topos' in die Lichtsymbolik und -metaphorik transformiert wird und als .poetische Idee' der ästhetischen Strukturierung vorausgelagert ist, demonstrieren jene Operationen, die einen Rückkoppelungseffekt von der Ebene der Vorstellung in die Ebene des Begreifens leisten sollen. In dem »Kommentar' zwischen den beiden Texten 1 4 8 „Sieg der Trägheit" (S. 23-25) und „Der Mensch" (S. 2 7 30) heißt es decouvrierend, als ob die Rückkoppelung auf den theoretischen Hintergrund aktivistischer Utopie und Gesellschaftskritik vielleicht nicht unmittelbar vollzogen werden könnte, als ob das Bild sich vielleicht doch schon zu weit von seiner Funktion entfernt hätte: O kleine Erde, was hast du vergessen! Du feindliche hast das Licht Gottes gefressen. Die Sterne wehren dein gieriges Kreisen mit strahlendem Dorn, Aus deinen Wunden bricht in Blutsäulen der himmlische Zorn. Deine Städte und Berge rollen taumelnd im nächtlichen Rund, Bis unter deinen dumpfen Menschen gesiegt hat der geistige Bund. (S. 26)

Im Subsystem „Die Ankunft" (S.41—45) wird die Synchronisation der Begriffe ,(Neue) Menschen' und „geistiger Bund" - als utopischer Horizont des ,Geist-Topos' direkt vollzogen: „Ihr seid das Licht. Ihr seid der Mensch. Euch schwillt neu die Erde aus Eurer Hand." (S.42) Im Lichtsymbol, so kann abstrahierend gefolgert werden, soll in der sinnlichen Konkretion als Ergebnis der poetischen Strukturierung die Koinzidenz des (1) göttlichen Ursprungs,149 (2) des utopischen Horizonts 150 148 Formal könnte der Text auf S. 26 auch unter den Titel „Sieg der Trägheit" subsumiert werden, die Textgrenzen wären dann zwischen S. 23 und 26 anzusetzen. Richtiger ist, daß Rubiner zwischen die durch Titel eindeutig geschiedenen Subsysteme des Gesamttextes „Das himmlische Licht" zum Teil kommentierende .Rezitative* ohne Titel eingeschoben hat. Von solchen ist auszugehen auf den S. 24f., 26, 30, 40. 149 Oder: inkommensurabel mit den herrschenden politischen und sozialen Kräften. 150 Oder: der »geistige Bund der Menschheit'.

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(3) und der Protagonisten151 als Inhalt des Geist-Topos hergestellt werden. 1 5 2 Dieser intendierte und in der ästhetischen Strukturierung versuchte Prozeß der Transformation von der begrifflichen Abstraktion in die sinnliche Konkretion ist von Rubiner schon 1914 in einem anderen Zusammenhang reflektiert worden: „Körperlich wahrnehmbar wird uns dies alles1 s 3 nur durch unsere Beziehungen zum Licht. Das Licht und der Tag; das Fehlen des Lichts; das Feuer. Unser Denken als Licht, unsere Vorstellungen vom Licht, unsere Einbildungen. Alle Akte unseres Willens sind auf der Raumwelt dieser Erde unlöslich verbunden mit dem Licht. Wie etwas aus dem Dunkel kommt und ins Dunkle zurückgeht, das Formwerden im Licht — hier sind die unmittelbarsten Zeichen zum Aufschluß von unserm Willen über andere und anderer Willen über uns." 1 5 4 Allerdings gerät der Transformationsprozeß von der abstrakten Vorstellung eines Prinzips, das selber unbewegt den Prozessen als Beweger innewohnt, durch die Metaphorisierung zur sinnlichen Konkretion, zur visuellen Empfindung, in eine Aporie: die Rezeption der visuellen Empfindung — kodiert als Erlebnis — verbannt den Rezipienten, der einem ,Natur'-Phänomen ausgesetzt, wenn nicht sogar ausgeliefert ist, in einen passiven, konsumptiven Status: „Wir wurden geboren, Strahlenlicht kreiste abends über unseren Mündern" (S. 8) — ,,Die Menschen gingen schwer. / Kamerad, sie waren allein. Niemand hatte das Licht gesehen" (S.9): „0 vielleicht stand das feurige Licht gleich an unserer Haut: uns allen!" (S. 10) — „Warum sieht niemand das Licht? Um uns ist das Licht" (S. 11). Nicht der Protagonist des Geistes und der revolutionären Tat bricht aus seiner ,Außenperspektive' - der nicht korrumpierten letzten, 151 Oder: der .heilige Mob'. 152 Auch Klaus Schuhmann hypostasiert die Funktion der Metaphorik zum metaphysischen Ereignis: „Das .himmlische Licht', das Rubiner leuchten läßt, ist demzufolge nicht nur der rote Schein, den das Feuer eines Vulkans an den Himmel wirft, sondern zugleich auch ein metaphysisches Ereignis, das die Menschen mit ungewöhnlicher Gewalt ergreift. Denn diejenigen, die es gesehen haben, werden .erleuchtet'. Die Illumination macht sie zu neuen Menschen, die in die .Gemeinschaft' aufgenommen zu werden verdienen" (AW, Nachwort, S. 360). 153 Das Bewußtsein einer Subjekt-Objekt-Relation. 154 Ludwig Rubiner, Homer und Monte Christo, in: L. R., Der Mensch in der Mitte, S. 4 8 - 6 6 ; Zitat S. 49.

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absolut moralisch integren Instanz — über die ganze Zivilisation herein, um sie in der totalen Zerstörung qualitativ zu erneuern, sondern das alle Menschen erlösende Ferment ergießt sich über die passiv in gläubiger Erstarrung harrenden Menschen, die Objekt einer von ihnen gar nicht initiierten .Bewegung zum Paradies' werden. Die erlösende Tat, die doch einen revolutionären Protagonisten braucht, verschwindet in der Allgegenwart der Katastrophe, die wie die apokalyptische Vorstellung vom Ende der Tage über die ganze Erde synchronisiert wird. Verblendung und Hoffnung als Topoi markieren nun — in der ästhetischen Struktur — den Widerspruch zwischen Materie und Geist. Das unbedingte Wissen um die potentielle Macht ,des Menschen' zur Initiation einer neuen Welt aus der katastrophalen Zerstörung der alten schlägt zurück in den Glauben an die Erlösung, die den Gerechten im letzten Gericht widerfahren wird. So sehen natürlich in Analogie zum tradierten biblisch-religiösen Modell die Verstockten die Zeichen des Endes nicht: die Wandlung bleibt aus; die Erleuchteten aber nehmen sie blind an — und werden gerettet werden. Wenn im essayistischen Manifest „Die Änderung der Welt" der zentralen These: „Nieder das Erlebnis" (S. 111) die Alternative: „Ändern wir" (S. 110) entgegengestellt wird, so bleibt kein Raum für eine — wie auch immer geartete — Instanz, welche zur Hoffnung für die eigene Tatenlosigkeit werden könnte: anstatt der eigenen ,Befreiung' also ^Erlösung' durch /remde Hand' sich anböte. Diese Rigorosität und Radikalität wird im Gedichtzyklus in einer ambivalenten Entgegensetzung von voluntaristisch versubjektivierten ,Tat-Topoï und einem dem ,Apokryph-Relisiösen' zugrundeliegenden Erlösungsmechanismus aufgelöst, wobei im Gegensatz zum subjektiv-voluntaristisch vermittelten Tat-Topos in seiner .zivilisationskritischen', sanktionierte und legitimierte Herrschaft negierenden Aufbruchsmetaphorik die fatalistisch semantisierte Endzeitmetaphorik Priorität gewinnt und strukturdominant wird: indem Rubiner die erlösende Tat wie eine von außen hereinbrechende Naturkatastrophe kodiert. Im Subsystem „Das Licht" (S. 13—15) wird die sinnliche Konkretion eines über den ganzen Erdball wie ein Naturereignis hereinbrechenden Zeichens vom ,Ende der Tage' noch hyperbolisch gesteigert. Die Metaphorisierung entnimmt die rhetorische Figuration der Bilder 189

aus dem tradierten Kanon biblisch-religiöser Motivik für die Universalität, die Radikalität und die Vergeblichkeit aller Anstrengungen, sich dem drohenden Unheil apokalyptischer Heimsuchung, die auch das Heil der Geretteten ist, entziehen zu können. Allein: funktional für die utopische Valenz ist aber das heraufbeschworene Stigma, einem übermächtigen, nicht kontrollierbaren, letztlich unbegriffenen Schicksal ausgeliefert zu sein: „ 0 helle Himmelssäge hinein nach London, wie ein Bergwerk liegt die Stadt unterm fallenden Licht" (S. 13) — „Boston, Chicago, über nackte Arme und Zylinderhüte hin zischt das Licht wie Riesenfunken von elektrischen Schnellbahnen" (S. 14) — „Berlin, hinter schmalen grauen Asphaltgassen flog das rote brennende Fenster himmelsoben zu uns her, o unsere Herzen" (S. 14). Die Schlußsequenz im Subsystem „Das Licht" (S. 13—15) faßt das ,Unbegriffene' und das ,Schicksal-Haben' noch einmal zu einer Einheit: „Aber die neue Zeit ist da. Ihr saht nicht das Licht durch das feurige Fenster der Erde!" (S. 15) Im kompatiblen Text „Die Stimme" (S. 31—35) bekommt die visuell sinnliche Konkretion ,Licht' ihr akustisches Äquivalent; in der Textkomposition wird aus dem Widerschein des Lichts auf der Erde ein Echo, das die latent revolutionäre oder präziser: endzeitliche Situation archisematisch umfassen soll: „O Licht im Menschen an allen Orten der Erde, in den Städten fliegen Stimmen auf wie silberne Speere" (S. 31) — „O Mund, der nun spricht, hinschwingend in durchsichtigen Stößen über die gewölbten Meere" (S.31). „Aber der Lichtmensch sprüht aus der Todeskruste heraus. In den Fabriken heulen Ventile über die Erde hin. Er hat seine Stimme in tausend Posaunen geschrien" (S.31) - „Eine Stimme las das Flüsterwort: Streik! in den roten Schächten der Coloradominen" (S.32). Was im aktivistischen Kontext Produkt der befreienden Tat aller erniedrigten und geknechteten Kreaturen sein müßte, scheint wie eine prophetische Erlösung, wie ein Geschenk, über den Köpfen der Protagonisten auf. Das poetische Bild des .himmlischen Lichts' und das subpoetische Bild zerstörerischen Geistes' haben differierende semantische Affinitätsfelder und antonymische Konnotationen. Während der zerstörerische Geist' als republikanische Tugend zur Waffe wurde als (staatsund herrschafts-)zersetzende Kritik in der intellektuell-brillanten, immer den ideologischen Schein decouvrierenden Rhetorik der 190

öffentlichen Anklage und in dieser Konnotation auch in der Rubinerschen Terminologie ,Freiheit', .Öffentlichkeit', Fortschritt', ,Wissenschaftlichkeit' (als utopischen Horizont) realisiert, hat das himmlische Licht' als bildliche Konkretisation einer .überirdischen' Hoffnung die Vertröstungsideologie zum pragmatischen Kern: denn ihr Kanzel-Gebrauch ist nicht aus der Ausdrucksebene des Bildes zu eskamotieren, obwohl doch Rubiner entgegen der kirchlichen Okkupation des Hoffnungspotentials gerade den Inhalt dieser Hoffnung — qua Okkupation des Bildes — säkularisieren will. Der hier manifest werdende Widerspruch innerhalb des poetisch-utopischen Modells kann von Rubiner nicht gelöst werden. Das Kritikpotential der radikal-demokratischen, republikanischen Argumentationsstrategien von 1848 als Allusionshorizont des ,Geist'-Topos, der zwar in Rubiners Zivilisationskritik trivialisiert nur noch schwach auf dezidiert theoretisch-politische Positionen und Programme rückkoppelbar ist, wird in der ,sanktifizierten' Umkodierung überlagert. Die Semantizität der Metaphorisierung dynamisiert — entgegen der formal vollzogenen Identifikation — einen anderen Traditionskomplex: anstatt die intensive Sprengkraft des ,Geistes', des Zerstörers der morbiden Zivilisation ins Bild zu setzen, modelliert Rubiner die biblisch-religiöse Endzeitvorstellung, die damit verknüpfte alptraumartige Katastrophenphobie und implizit: die Vision vom Jüngsten Gericht. Zwar wird der Weg zum Paradies nicht in einem apokalyptischen „Strafgericht" 155 freigekämpft, aber der katastrophale Zusammenbruch der bestehenden Ordnung, von außen initiiert, ist der Vorstellung vom Strafgericht' äquivalent: Geburt Vor unsrer Geburt, in der grünen Südsee platzte die Erde und das Wasser, Tausend Menschen saßen wie Schnecken auf großen Blättern in Hütten und versanken keuchend. Vor Marseille fielen die roten Schiffe um, das Meer schlug vom Mond herab. Die Dampfer schnurrten in den Abgrund, lächerliche Insekten. Als wir geboren wurden, zog Feuer durch die Luft. Die Schwärme des Feuers flogen um die Erde. Wehe, wer nicht sehen wollte! Tausend Menschen, stillhockende Schnecken, waren zu Staub zerplatzt. (S.7) 155 Silvia Schlenstedt, Tat vermähle sich dem Traum, S. 147.

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Dem ,passiven Erleben' dieses Ereignisses, dem .Hereinbrechen' der ,Neuen Zeit' — die Konsequenz aus der visuellen Variation der Lichtmetaphorik, der Perspektive des hereinfallenden Lichts' - , ja der allen Bildern konstitutiven Entgegensetzung von ,Oben' und ,Unten', ,heU' und ,dunkel' korrespondiert der Aufbruch der .Untersten' in der gesellschaftlichen Hierarchie nach ,Oben', der Auszug des Mobs in die verbotenen Gefilde' — auf ein Zeichen hin — : „0 unsicherer Marsch der Halbtoten, Nächtigen, ewig Versteckten. Blaßweiße Wurzelmienen, o Letzte, Unterste, Sarglose, ewig Halbeingegraben in kalten saugenden Dreck, tastender Zug in spähender Unsicherheit, die Nacht ist nicht da, sie dürfen sehen. Sie sehen. // Sie sehen. // (...) Das himmlische Licht bergan schmolz mild zur rötlichen Kugel halb hinter Dächern auf. II Es war eine Orange, wie in dem vornehmen, betteln verboten, Eßwarenverkauf, / Es war ein wildes Zehnmarkstück wie hinter dem Fenster der Wechselbank, / Ein rotes rundes Glas Bier aus einem Aschingerschank, // Ein Schinken, ein Mund, Weiberbrust, ein Hut mit 'nem Band, ein Loch das rot klafft, // Ein weiches buntes Kissen. Ein Vogel im Käfig. / Eine Tabakpfeife pafft. / Ein Tür offen zu 'nem menschenleeren Kleiderladen, / Ein rotes Boot am lauen Fluß zum Baden." (S.18) Das Lichtsymbol, so wurde in einem ersten Abstraktionsschritt gefolgert, konkretisiert die Koinzidenz zwischen »göttlichem Ursprung' (Dignität), atopischem Horizont' (Paradies) und .Protagonisten' (heiliger Mob). Allerdings muß das Symbol in seiner Widersprüchlichkeit belassen werden, um die Ambivalenz zwischen ,Erlösungssehnsucht' und ,Aufbruchswillen' als Bedeutungskern zu erkennen, der auf die fehlende politische Perspektive in Rubiners utopischem Modell verweist, zumindest für 1916. Einerseits sind die Protagonisten' Objekte der Befreiung aus unmittelbarer Not — in Allusion zur Armenspeisung —, wobei die vegetabilisch-animalische Metaphorik der Morbidität und Verwesung, welche die .Objekte' jenseits aller gesellschaftlichen Verortungen charakterisiert, im idyllischen Raum des kleinen Glücks' ihr ideologisches Korrelat erhält: Die „Halbtoten", „(b)laßweiße(n) Wurzelmienen", die „ewig Halbeingegrabenen(en) in kalten saugenden Dreck" sehen „das himmlische Licht" als „Orange", „wildes Zehnmarkstück", als „rotes rundes Glas Bier aus einem Aschingerschank". Die utopische Valenz des .kleinen Tagtraums' 192

findet ihr ideologisches Substrat in der möglichen Wunscherfüllung, welche die „verdeckten Basisrealitäten" 156 nicht tangieren, aber die Differenz von „Kunst und Wirklichkeit" in ihrer Historizität charakterisieren. Die so metaphorisierten ,Protagonisten' produzieren sich nicht zum revolutionären Subjekt der Geschichte, indem sie sich, am Widerstand der Gesellschaft abarbeitend, auf das Ziel der Utopie zuarbeiten, das noch in der Befriedigung einer,Warengier' liegt, die vor den Erfahrungen einer warenproduzierenden Gesellschaft in den Tauschwerten das Glück des unentfremdeten Gebrauchs sucht. Aber bis hier ist nur das eine Moment der Widersprüchlichkeit beschrieben, die Rubiners Versuch der poetischen Kodierung eines für ihn — in dieser historischen Lage — nicht lösbaren Problems umfaßt. „Aus der Ohnmacht des Protestes entstand als Reaktion auf die Gegenwart eine Flucht in die Zukunft"; 1 5 7 und die Gegenwart hielt im Deutschland des Jahres 1916 nicht das sich seiner historischen Mission bewußte Proletariat', also das aus dem Willen zur Selbstbestimmung sich definierende revolutionäre Subjekt, als Identifikationsmöglichkeit bereit. So überdeckt Rubiner die Ziellosigkeit der utopischen Intentionalität in einer die Alltäglichkeit transzendierenden Mystifikation, welche die sich ihrer Würdelosigkeit bewußtwerdenden Subjekte mit einem Identifikationshorizont konfrontiert, der jenseits des Jcleinen Glücks' noch die totale Erlösung als Ziel bewahrt, denn die synonymischen Äquivalenzen zum ,LichtsymboF von: Es war eine Orange, wie in dem vornehmen, betteln verboten, Eß waren verkauf

bis: Ein rotes Boot am lauen Fluß zum Baden

können in ihrer quantifizierenden Reihung nur die Differenz zwischen den Träumen der subproletarischen Schichten und den Möglichkeiten der kleinbürgerlichen innerhalb der bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse ins Bild setzen. Der qualitative Sprung in jene Utopie qua 156 Herbert Kraft, Kunst und Wirklichkeit im Expressionismus, S. 6 - 1 0 . 157 Herbert Kraft, Kunst und Wirklichkeit im Expressionismus, S. 12.

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Poesie mißlingt, weil sie nicht aus den Verhältnissen, welche sie negiert, die Bilder abruft, die den Mangel der Gegenwart in ihrer Idyllisierung zum Inhalt haben. An die Stelle der möglichen Kritik des Mangels tritt die Vertröstungsideologie, welche das sich in der Auseinandersetzung mit konkreter Herrschaft schaffende Subjekt der wirklichen Veränderung nicht braucht: „An diesem Nachmittag sah der arme Mob das Licht. / Es lief vor ihm her. Die anderen sahen es nicht" (S. 19). Der Aufbruch, Ausbruch und Durchbruch, der subproletarischen Schichten konnotiert in der (notwendigen) Verselbständigung der biblisch-religiösen Bildsphäre den Erlösungstopos, der in seiner pragmatischen Ebene die Vertröstungsideologie als herrschaftsstabilisierendes Instrumentarium beinhaltet: 1 5 8 „Aus zerschlissenen Winkeln in den Städten der Welt brach göttlicher Glockenschwung. / O seliges Fliegen: Pustblumen im Hauch, die Stengel gefesselt und kahl, / Die zitternden Heere zerlumpten Leibs reckten gedunsene Köpfe zum himmlischen Strahl. / Um die ganze Erdkugel schwang tief durch die Winkel wie ein Klingelblitz das Licht. / Der Mob auf dem bewachsenen Ball hob hoch sein Kellergesicht. (...) Sie schluchzten faltig und heiser, Riesenstimmen schrien über die Erde: die Zeit ist erfüllt! / Sie hatten wie Tote am Dunkel gesogen, sie warteten auf das Wunder und waren stinkend verreckt. (...) Sie marschierten rund über die Erde. Nun gab es ewig Musik und warmes Essen und das tausendjährige Reich!" (S. 19 f . ) 1 5 9

158 Klaus Schuhmann interpretiert Rubiners Kampfziel explizit politisch; aber obgleich sich Rubiner einer tendenziell politischen Metaphorik bedient, muß gesehen werden, daß die politischen Implikationen des vorgestellten utopischen Modells ihre semantischen Ausdifferenzierungen aus der metaphorischen und nicht analytischen Heuristik beziehen. Vgl. z.B.: „Das Kampfziel heißt: Zerstörung der .Zivilisation' " (K. Sch., Nachwort, in: AW, S. 347). Auch Klaus Schuhmann versteht Rubiner zum Teil ,wörtlich' und damit falsch. Rubiner selber hat schon 1912 auf die Funktion einer radikalen Rhetorik hingewiesen: „Es gilt hier nicht, gegen die Zivilisation zu sein. Dies wäre ein entsetzlicher Unsinn. Ebensogut könnte man gegen .Quantität' oder .Materie' sein wollen. (...) Die Zivilisation ist etwas Vorhandenes. Aber dies Vorhandene ist eine sehr partielle Angelegenheit der Welt. Im Uebrigen gibt es noch den Geist, den Geist, den Geist" (L. R., Der Dichter greift in die Politik. II, Sp. 711). 159 Edgar Lohner hegt Zweifel, ob ein solcher Text überhaupt Gegenstand der Literaturwissenschaft sein kann: „Aber ist das noch Dichtung? (...) Wir

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Wo das Bild der Auferstehung' das Durchbrechen der sozialen Hierarchie erfassen soll, wird aus den Bedürfnissen der Gegenwart die Erfüllung des »Jüngsten Tages'. Allerdings ist auch in der so polarisierten Widersprüchlichkeit noch nicht die ganze Schwierigkeit Rubiners aufgehoben, den Protagonisten der intendierten Veränderung konkreter zu erfassen als im alles zerstörenden ,Geist' oder im alles überflutenden Jiimmlischen Licht'. In der für den Gedichtzyklus ,gesamttextuellen' Schlußperspektive im Subsystem „Die Ankunft" (S. 41—44) wird der Erlösungsgedanke in seiner Tendenz, die Individuen zu Objekten zu machen, von der Vorstellung konterkariert, die Subjekte selbst könnten jene Stelle einnehmen, die in ihrer Funktionalität zuvor vom Symbol des .himmlischen Lichts' besetzt worden war: „Ihr Mob, die Ihr klein seid und zu heißen Risenmassen schwellt, wenn das Wunder durch die Straßen geht, / (...) / Ihr tragt die Kraft des himmlischen Lichts, das über Dächer in euer Bleichblut schien" (S.41). So erscheint in der Schlußperspektive eine doppelte Brechung des Problems, aus der intellektuellen Vorstellung durch die ästhetische Modellierung im Transformationsprozeß die Widersprüche zu konkretisieren, welche die poetische Struktur als ihre Entstehungsbedingungen offenlegt. Denn in Rubiners Appell, sich der Kraft bewußt zu werden, die das historische Subjekt gegen die Mystifikation des Willens zur Selbstbefreiung setzen kann, liegt auch das Wissen um die Ersatzfunktion, die das Symbol vertreten soll. Jedoch scheitert die .ästhetische Form' dort, wo sie nicht mehr die reale Differenz zu ideologischen Formen der Wirklichkeitsverklärung bewußtmachen kann. Keinen Protagonisten einer auf die gesellschaftlichen Verhältnisse bezogenen Veränderung zu haben — denn die Vorstellung des Mobs, wie ihn Rubiner als Intellektueller konfiguriert, endet beim „roten, runden Glas Bier aus einem Aschingerschank" — und diesen .Protagonisten der Tat' doch in seiner Notwendigkeit schon zu sehen, realisiert können nicht umhin, das Pathos dieses auf die Weltrevolution hinarbeitenden politischen Stürmers als nichts anderes anzusehen als zeitbedingtes politisches Gebläse. Uns heute noch künstlerisch zu überzeugen, braucht es mehr als Aufschrei, Brüderlichkeit und Menschenliebe" (E. L., Die Lyrik des Expressionismus, S. 67).

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aber auch jenen Überschuß an Utopie, der weder in ihren historischen Bedingungen aufgegangen ist, noch in der Geschichtlichkeit des Werkes sich verbraucht hat, weil die Realität den Vorrat an Utopie eingeholt hätte. Der Erlösungstopos in seiner apokryph-religiösen Metaphorik ist schon in den Entstehungsbedingungen des Werkes ideologisch besetzt: Das sich an seiner Emanzipation abarbeitende Subjekt, das sich mit der Freiheit als Einsicht in die Notwendigkeiten — welche ihre Instanzen haben — nicht zufriedengibt, hat gerade auf dem Hintergrund der hermeneutischen Distanz kaum an Konkretion gewonnen. Daß Rubiner die Suche nach den Protagonisten immer in den untersten Schichten beläßt, bewahrt einen untrüglichen Maßstab für den jeweiligen Zustand der Differenz zwischen Utopie und Wirklichkeit in den auf Fortschritt bedachten Gesellschaftsformationen. Denn gerade das erkenntnisleitende Interesse aus der hermeneutischen Differenz — in der Qualifizierung der utopischen Valenz des in seiner Widersprüchlichkeit bleibenden Protagonisten bei Rubiner - macht das Problemfeld in seiner Geschichtlichkeit bewußter, weil der Prozeß der Identitätsfindung noch nicht abgeschlossen ist.

c) Gedicht und Gedichtzyklus: Utopische Konstruktion und ideologische Implikationen Wenn Silvia Schlenstedt freilich in der Analyse des Textes „Dieser Nachmittag" (S. 17-20) zur Schlußsequenz 160 bemerkt, nun sei „das Wunder (...) geschehen", 161 so werden die textuelle Kohärenz der einzelnen Subsysteme des Zyklus und die dadurch entstehenden semantischen Kooppositionen 162 ausgeklammert. Dem chiliastischen Topos vom .Tausendjährigen Reich' korrespondiert als Parallelismus auf der Kompositionsebene des Gedichtzyklus die Schlußsequenz des folgenden Textes („Die feindliche Erde", S. 21 f.), wo die realistischere Momentaufnahme vom Aufbruch des 160 „Sie marschierten rund über die Erde. Nun gab es ewig Musik und warmes Essen und das tausendjährige Reich!" (S. 20) 161 Silvia Schlenstedt, Tat vermähle sich dem Traum, S. 148. 162 Vgl. Jurij M. Lotman, Die Struktur literarischer Texte, S. 233.

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heiligen Mobs ins Paradies', die Korrektur der prophetischen Vision von der mühelosen (mechanischen) Überwindung der qualvollen Gegenwart, ins Bild gesetzt wird. Die negative Antizipation verortet jenen Zustand der „Kurierung aller Leiden" 1 6 3 nicht als vollzogenes Ereignis affirmativ in der Gegenwart, indem der idyllische Fluchtraum über der Realität als reale Möglichkeit angepriesen und vorgegaukelt wird, sondern versucht, den Vorschein des Ideals festzuhalten - „bei lebendigem Leib ins Paradies" (Kurt Hiller) —, weil eben die Realität noch als Negation des Ideals erfahren wird: „Als die mürben Armen ohne Essen und Trinken zum göttlichen Himmel marschierten, wurden sie mit hartreißenden Flintenkugeln empfangen." (S. 22) So nivelliert Rubiner nicht, wie es Silvia Schlenstedt interpretiert, die Differenz zwischen Utopie und Wirklichkeit. Das Subsystem „Dieser Nachmittag" (S. 17—20) ist das Bild der Utopie als visionäre Antizipation des utopischen Ziels; „Die feindliche Erde" (S. 21 f.) steht als Bild für den Widerstand, der dieser Utopie entgegensteht: es ist der Versuch, die Wegstrecke auszuleuchten, die den ^eiligen Mob' vom Paradies trennt. Rubiner gestaltet im Textabschnitt „Die feindliche Erde" (S. 21 f.) die polare Entgegensetzung zu den Protagonisten des Aufbruchs, das negative Äquivalent auf der Ebene der Erscheinungen: „Der Eiter der Erde lag in den Häusern. Unter hellen Lichtern saßen schmatzende Jobber. // In Nebenzimmern ragten gelangweilt lange schwarze Strümpfe, trägzuckende Schenkel über schwere geile Rücken. // Hintern tanzten vor polierten Klavieren, dunkle Langhaare geigten. / Kluge hielten in seidnen Salons Vorträge, daß alles auf Erden immer gleich bleibe. / Weiche Bartlose sprachen unter sich von dem Ekel am Weibe. / In steinernen Museen schritten sanft die ausgeschlafenen Kenner. / In heißen Redaktionen schrieb man die Lebensläufe berühmter Männer." (S. 21) Prinzipiell ist es aber die ganze Gesellschaft, sind es alle Schichten und Stände, welche die Sozietät repräsentieren, alle Träger der herrschenden Moral, die als Barriere von den .outcasts', den nicht integrierten „Sozialrebellen" 164 überwunden werden muß: „Tänzerinnen, 163 Silvia Schlenstedt, Tat vermähle sich dem Traum, S. 149. 164 Vgl. zur Geschichte dieses Topos im Kontext seiner Funktionalisierung für die Protagonistenfrage Eric J. Hobsbawm, Sozialrebellen. Archaische Sozialbewegungen im 19. und 20. Jahrhundert, Neuwied und Berlin 1962 (= Soziologische Texte Luchterhand Band 14).

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Barone, Agenten, Geheimräte, Schutzleute, Ehefrauen, Studenten, Hauswirte freuten sich auf ihre dampfende Nacht. // Aber der arme Mob schaute das Wunder und war zur neuen Zeit aufgewacht." (S. 22) Diese „feindliche Erde" (S. 21 f.) hat den „Sieg der Trägheit" (S. 2 3 25) über „Das Licht" (S. 13—15) zu verantworten. Für das Kompositionsprinzip der utopischen Valenz des Gedichtzyklus wird nun deutlicher, warum keines der ,Subsysteme' aus seiner Kohärenz gerissen werden darf, wenn nicht die Bedeutung auch und gerade der einzelnen Texte verändert werden soll. Erst der Zyklus als integrative Zusammen- und Entgegenstellung aller Subsysteme repräsentiert die Bedeutung in ihrer poetischen Kodierung. Rubiner modelliert in Antinomien; und die antinomische Struktur dieser Utopie wird realisiert in den konterkarierenden Entgegenstellungen einzelner Texte. Für sich genommen sind sie leer und (relativ) bedeutungslos. Wenn Rubiners poetisch-utopisches Modell durch die Rezeptionsgeschichte anhand der Anthologien

expressionistischer Lyrik festge-

schrieben worden ist, dann hat eine quellenorientierte Untersuchung die im unmittelbaren

textuellen Zusammenhang innerhalb des Werk-

kontextes mögliche Differenzierung, die der Autor vorgegeben h a t , 1 6 s

165 Dies gilt es gegen die konkrete Werkgeschichte festzuhalten, die über den Rezeptionsprozeß in verschiedenen Anthologien gesteuert oder präziser: verhindert wurde. Die Werk-Konkretisation wurde durch isolierte Textabschnitte präformiert und in wenigen Zitaten dann standardisiert. Pinthus' „Menschheitsdämmerung" (1920 und 1959) dokumentiert in ihrem Subsystem „Aufruf und Empörung" die Textabschnitte „Die Stimme" (S. 234-236) und „Der Mensch" (S. 273f.), im Subsystem „Liebe den Menschen" den Textabschnitt „Die Ankunft" (S. 301-305). In der Anthologie „Expressionismus. Lyrik" finden sich die Textabschnitte „Die Frühen" (S. 395-397), „Das himmlische Licht" (S. 428), „Dieser Nachmittag" (S.452-454). Dietrich Bode nimmt in seine Sammlung (Gedichte des Expressionismus, hg. von D.B., Stuttgart 1966 [= Reclams UniversalBibliothek Nr. 8726-28]) den Textabschnitt „Die Ankunft" auf (S.9094), Silvio Vietta den Textabschnitt „Der Mensch" (Lyrik des Expressionismus, hg. und eingeleitet von S.V., Tübingen 1976 [= dtv Wissenschaftliche Reihe 4189], S. 231-233). - Neben der Veröffentlichung in der Bücherei „Der Jüngste Tag" publizierte Rubiner den Zyklus auch als Einheit in den von René Schickele hg. „Weissen Blättern" (L. R., Das himmlische Licht. An F.H. gewidmet, in: Die Weissen Blätter 3,11 [1916], S. 91-114). Rubiner selber hat vor der Zusammenstellung seiner Anthologie „Kameraden der Menschheit" (1919), wo er die Textabschnitte „Dieser

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zur Grundlage ihrer Interpretation zu machen. Die Veränderung des Gesamt-wie des Einzelwerkes im Rezeptionsprozeß—als die Geschichtlichkeit literarischer Texte, die „weder zeitlos noch zeitgebunden" sind, sondern in ihrer konkreten Existenz historisch 166 —, welche gerade für die expressionistische Literatur ein Selektionsprozeß nach verschiedensten normativen Prämissen der literarischen Wertung war, hat die ,ziellosen Appelle und Ausrufe" in ihrem „Klischeecharakter", 1 6 7 der den ,neuen Menschen' gleichsam wie eine creatio ex nihilo ins Paradies verzauberte, als Paradigmen .naiver' Gläubigkeit aus ihrem historischen und Werk-Kontext gelöst, womit der Ideologiecharakter offenkundig war: denn die ,aktivistische Position' schien doch direkt zu sagen — auch in ihrer lyrischen .Verbrämung' —, was sie ,meinte', gegenüber anderen komplizierten Verschlüsselungen, wie sie anscheinend als Garant für den Kunstcharakter auch noch existieren sollen. So verschwand im Rezeptionsprozeß — gesteuert über die mannigfachen Anthologien zum Expressionismus, in denen Rubiner immer mit denselben Texten vertreten ist - das Subsystem „Sieg der Trägheit" aus dem Zyklus „Das himmlische Licht". Aber „wo die Möglichkeit der Rekonstruktion künstlerischer Form besteht, ist die Gelegenheit geboten, durch Verlängerung der Geschichte der Kunst nach rückwärts das utopische Bewußtsein zu bestärken; indem die geschichtliche Entwicklung der Kunst in der idealen Verlängerung der Kunstgeschichte weiter veranschaulicht wird, gelingt Bestärkung der Utopie des Wahren, trotz ihrer Ohnmacht gegenüber der Macht des (jeweiligen) Bestehenden." 1 6 8 Sieg der Trägheit Die armen Buckel, demütige Schultern, zogen selig zur neuen Zeit und wußten nur dies. Die Erdschale blätterte zitternd vor ihnen ab, ein Nachmittag" - unter dem Titel „Der Marsch" (S. 1 1 7 - 1 1 9 ) - , „Die feindliche Erde" (S. 120f.) und „Die Ankunft" (S. 1 4 4 - 1 4 7 ) aufnimmt, die Textkohärenz des Zyklus als semantische Einheit aufgelöst: Der Textabschnitt „Die Ankunft" erschien auch in der Zeitschrift „Der Orkan", 1. Jg. (1917), Heft 1, S. 37. 166 Herbert Kraft, Die Geschichtlichkeit literarischer Texte, S. 9. 167 Silvio Vietta/Hans-Georg Kemper, Expressionismus, S. 191. 168 Herbert Kraft, Die Geschichtlichkeit literarischer Texte, S. 13.

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Schlammgeschwüi schwoll auf, klebrige Barrikaden liefen ins Dunkel um, weich drohende Saugnäpfe wie ein gieriger Blutegelfries. Die armen Menschenköpfe und Leiber stießen an die mächtige Mauer von grauzitterndem Brei, Ein Schleim flöß wie fette Aale nächtlich um sie und vergurgelte ihr Geschrei. Das schwarze Gebirg von langsamem Leim schloß hinter ihnen sein triefendes Tor, Durch träge Blasen klatschten strudelnde Glieder wie versinkendes Stroh im Moor. Schwankend bebt es herab und fließt zäh ab. Ein schwarzes Loch dreht sich schluckend und faul, Eine kalte Riesenfresse wälzt auf, Bergfalten um ein zahnloses saugendes Maul. Die Menschenwälder zappelnd zum Tod trieben erstickt mit sausendem Kreis hinab in den dunklen Schlauch. O Aufstand zum Licht! o Erdengesicht! O Endnacht im trägen riesigen Bauch! ( S . 2 3 )

Während das Subsystem , f i e s e r Nachmittag" (S. 17—20) die (antizipative) Vision der konkret werdenden Utopie umreißt, das Subsystem „Die feindliche Erde" (S. 21 f.) die Reaktion der Kräfte schlaglichtartig beleuchtet, welche die sich konkretisierende Utopie zerschlügen, wenn sie denn j e t z t ' von dem Protagonisten des Aufbruchs ins Paradies ,bei lebendigem Leibe', dem Mob, versucht würde, so erscheint im Bild von der alptraumhaften Existenzbedrohung in einer übermächtigen, molochhaften Wirklichkeit, die als ,Horrorlandschaft' metaphorisiert ist, das Wissen um den realen Abstand zwischen Utopie und historischem Augenblick, zwischen dem absoluten Ideal einer erlösten und befreiten Menschheit und dem Tod und Verderben, die aus Europa um 1916 ein Massengrab machten. Die Metaphorik der „Trägheit" in ihrer naturhaften, menschenfeindlichen, alles verschlingenden Substantialisierung als Ungeheuer, das in seiner Verwesung, Erstickung und Ekel assoziierenden Physiognomie individuelle Angst und universelle Bedrohung suggeriert, ist aber zugleich auch Indiz fur eine latent metaphysische Geschichtserfahrung und -bewältigung. Das hoffnungslose Ausgeliefertsein erscheint als Invarianz der einzelnen Bilder und ist die historische Wahrheit für alle diejenigen, die an diesem Krieg nichts zu gewinnen hatten. Aber indem die assoziativ absolut statische Struktur des Alptraums 200

mit seiner ,in Schlamm und Schleim Erstickungsphobie' 169 die poetische Kodierung der gesellschaftlichen Statik ohne jegliche Progressionshoffnung signalisiert, konkretisiert sich auch - über die Ästhetisierung — der Grad an Abstraktheit innerhalb der utopischen Valenz, welche die emphatische Evokation am Schluß des Textabschnittes „Sieg der Trägheit" (S.23) gegen die hoffnungslose Perspektivlosigkeit in den vorangehenden vier Paarreimen behaupten soll. Während die „Bildwelt von Schlamm, Morast, wild wuchernden Pflanzen und Bäumen, grün schillernder Feuchte und Sumpf" als „Topos der Literatur der Jahrhundertwende für die chthonischen Tiefen des Lebens, für grausame Lebensfülle und -Zerstörung" 170 grundsätzlich ambivalent semantisiert ist, hat Rubiner in der Verkürzung des Topos auf das ausschließlich alptraumhafte vegetabilischanimalische Ekelsyndrom paradigmatisch die literarische Evolution der vitalistischen Lebensutopie von der Jahrhundertwende zum Expressionismus modelliert: er hat den für diesen Abschnitt innerhalb der Literaturgeschichte typischen Transformationsprozeß der negativ semantisierten Destruktion und Irritation relativ homogener und automatisierter Topoi bei gleichzeitiger Transformation ihrer amplifikatorisch hyperbolisierten Bildlichkeit als literarisches Verfahren zur Konnotation einer neuen Qualität von Utopie eingesetzt. Während nämlich in der Literatur der Jahrhundertwende noch die Einheit des ganzen Lebens als dionysisch-rauschhafte Fülle und zugleich alles zerstörende Gier nach artifizielleren Genüssen den Inhalt 169 Vgl. auch zur metaphorischen Kodierung politisch-gesellschaftlicher Zusammenhänge in vegetabilisch-animalischen Topoi und zur Vorstellung einer ,organizistischen' Bedrohung: „Es ist aber besser, den Ruf der Unerträglichkeit auf sich zu nehmen, als zu dulden, daß die Menschenerde von dem dichten, in grüner Pflanzlichkeit treibenden Urwalde des Vergessens ganz umschlungen werde, in dem nur schattenhaft letzte Fetzen von Mißverständnissen aus einer Atmosphäre von Sumpfgasen hochschwirren, wie lichtgestäubte, willenlos sterbende Riesenschmetterlinge" (Ludwig Rubiner, Vorbemerkungen, in: Der Mensch in der Mitte, S . 8 ) . - Walter Schmähling will nachgewiesen haben, daß schon vor dem Ersten Weltkrieg sich „grausige, ekelhafte und ordinäre Motive" häufen (W.S., Die Darstellung der menschlichen Problematik in der deutschen Lyrik von 1 8 9 0 1914, München 1962, S . 5 ) . Für ihn ist es unverständlich, wieso solche Verse voller Ekel und Grauen „eine vom Schicksal bevorzugte Zeit" hervorgebracht hat (S. 6). 170 Renate Werner, Skeptizismus, Ästhetizismus, Aktivismus, S. 122.

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der vitalistischen Lebensutopie charakterisiert, wird das Bildpotential, welches diese Einheit noch repräsentieren kann, im System expressionistischer Utopievorstellungen, wie sie Rubiner im veränderten historischen Kontext unter dem Eindruck des Weltkrieges zeitkritisch einsetzt, in antinomische Blöcke dividiert, die entweder positive oder negative Semantisierungen begrenzen. Die unvermittelten appellativprogrammatischen Evokationen, zum Beispiel: „O Aufstand zum Licht" (S. 23), „Aber die neue Zeit ist da" (S. 15), „0 neue Zeit! Zukunft! Preiselbeerrote Feierlichkeit! 0 Preis" (S. 11), signalisieren den Destruktionsgrad der vitalistisch entgrenzten Lebensutopie der Jahrhundertwende. Unter den veränderten historischen Bedingungen kann die ambivalente Struktur der Utopie als Einheit des Lebens, die es zu bewahren oder herzustellen gilt, nicht mehr im Bild eines durch „klassifikatorische Grenzen" hermetisch ausgegrenzten Raumes symbolisiert werden: an die Stelle des Bildes — als Konkretion einer homogenen zerebralen Landschaft 171 - tritt die Antinomie der Bilder: als Reaktion auf die sich immer mehr in krassen und schroffsten Antinomien präsentierende Wirklichkeit des geschichtlichen Moments. Und dort, wo die Negation der Wirklichkeit im absolut negativ semantisierten Bild nicht mehr ihr Äquivalent im positiv (utopisch) semantisierten Bild finden kann, weil die Vermittlungsebene — im Aufsprengen der statisch einander entgegengestellten Räume — als reflektierte Instanz der Geschichtlichkeit eines historischen Moments den Zustand der katastrophalen Wirklichkeit mit der Möglichkeit einer vorgestellten Überwindung versöhnen müßte, wird der rhetorische Appell, der programmatische Ausruf, der manifestartige Befehl zum einzig noch möglichen Ersatz. Angst, Isolation und Hoffnungslosigkeit spiegeln sich in der Rhetorik der Hoffnung, weil die geschichtliche Situation in ihrer Perspektivlosigkeit auf der phänomenologischen Ebene nur Bilder des Grauens oder aber, in der Ideologisierung des Grauens, nur Bilder der Idylle noch bereitstellen kann. 1

171 Vgl. paradigmatisch für das entgegengesetzte Modellierungsprinzip einer ästhetizistisch überhöhten, sakrifizierten neoromantischen Idylle Stefan George, Der Tag des Hirten, in: St.G., Werke. Ausgabe in zwei Bänden, 3. Aufl. Düsseldorf und München 1 9 7 6 , Band 1, S . 6 6 f . (der Text ist aus dem Gedichtband „Die Bücher der Hirten- und Preisgedichte, der Sagen und Sänge und der Hängenden Gärten" [ 1 8 9 5 ] ; vollständig aufgenommen in der zitierten Ausgabe S. 6 1 - 1 1 5 ) .

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Rubiners Geschichtsverständnis interpretiert den historischen Prozeß als mechanizistische Verlängerung des Immergleichen, als perennierende Wiederkehr derselben barbarischen Zustände unter dem Deckmantel der Zivilisation. Die Lösung des so sich abzeichnenden Dilemmas liegt dann in der katastrophalen Vernichtung, Zerstörung und gänzlichen Überwindung aller Widersprüche, im plötzlichen metaphysischen Akt der Verkehrung von Geist in Materie — wenn die individuelle Existenz nicht in Absurdität, Nihilismus oder Zynismus umschlagen soll. Daß die Vermittlungsebene der statisch einander entgegengestellten Räume, welche die Perspektivlosigkeit und deren Aufhebung, die ,Hölle' und das .Paradies' ins Bild setzen, in Rubiners Utopie-Konzeption als Konkretion eines Geschichtsmodells nicht erfaßt werden kann, erläutert das textuelle Subsystem „Der Mensch" (S. 2 7 - 2 9 ) , das in seiner äquivalenten Funktion zum Subsystem „Dieser Nachmittag" (S. 17-20) die Möglichkeit des Menschen in .unmöglicher Zeit' visionär antizipieren soll: Der Mensch Im heißen Rotsommcr, über dem staubschäumenden Drehen der rollenden Erde, unter hockenden Bauern, stumpfen Soldaten, beim rasselnden Drängen der runden Städte Sprang der Mensch in die Höh. O schwebende Säule, helle Säulen der Beine und Arme, feste strahlende Säule des Leibs, leuchtende Kugel des Kopfes! (...) (S. 27)

Der „Sieg der Trägheit" (S. 23) in seiner Metaphorisierung eines ungeheuerlichen Gebildes, welches die Umwelt des Menschen zu einem lebensfeindlichen, alles verschlingenden Moloch stilisiert, die Sozietät in eine grausame, alptraumartige, latent personifizierte (magische) Naturlandschaft zurückentwickelt, scheidet nicht wie die Siege auf den Schlachtfeldern den Zustand der Opfer und die Unmenschlichkeit des Feindes in Nationalitäten: weil die ganze erfahrbare Wirklichkeit als Basis des Elends erkannt wird, kann auch das Subjekt mit dieser Basis nicht mehr versöhnt werden; im emphatischen utopischen Desiderat, das nicht in das sukzessive aufgebaute Bild einer totalen Bedrohung integriert werden kann, erscheint auch die Hoffnungslosigkeit des Augenblicks, der keine Bilder der Hoffnung mehr bereitstellt. 203

Aber indem Rubiner im folgenden Text „Der Mensch" (S. 27—29) den Protagonisten der Utopie, das Subjekt der Veränderung, schon im Texteingang wieder voluntarisiisch-spontanistisch aus der Basis absoluter Verzweiflung eskamotiert, indem er die Möglichkeit des Menschen als radikales .Dennoch' seiner Wirklichkeit entgegenhält und ihn gerade durch die Poetisierung im Bild das Problem der Vermittlung von Utopie und Wirklichkeit überspringen läßt, wird die revolutionäre Kraft, welche allein den ,Geist' in seiner alles zerstörenden Potenz beheimaten kann, aus der Ebene des Kampfes, aus dem Feld der realen Auseinandersetzung, aus seinen antagonistischen Verhältnissen entlassen. Der Mensch wird analog dem hereinfallenden Licht' in seiner symbolischen Bedeutung zum erlösenden Heilsgeschehen verklärt: „Er schwebte still, sein Atemzug bestrahlte die treibende Erde" (S. 27). Die semantische Umkodierung der zumindest pseudo-axiomatischen Kategorien und ,Philo sop heme' in eine poetisch-metaphorische Struktur mit der Tendenz einer Symbolisierung der sinnlichen Konkretionen' verändert die utopischen Funktive latent zu ideologisch besetzten Korrelaten eines im historischen Kontext von 1916 virulent werdenden metaphysischen Geschichtsbewußtseins, das in der absoluten Rekurrenz auf den subjektiven Faktor den historischen Prozeß individualisiert, so Veränderungen personalisiert und die abstrakten Personalitäten als Erscheinungen sanktifiziert.172 So wird der zerstörerische Geist in der Umkodierung als hereinfallendes ,Licht' zum passiven Erlebnis für die Auserwählten; die Vorstellung des spontan-aktivistisch sich vollziehenden Aufstands ist fast gänzlich nivelliert. Und so wird in der Analogisierung zum ,Lichtsymbol' aus dem .politischen Menschen', dem potentiellen Zerstörer' der barbarischen Zivilisation, der von einem (quasi)transzendenten ,Außen'oder,Oben'sich realisierende divinatorische Wille, die absolute Macht und Vollkommenheit: „Das Denken flöß in brennendem 172 Vgl. auch Kail Otten, Thronerhebung des Herzens, Berlin-Wilmersdorf 1918 (= Band 4 der Bücherei „Der Rote Hahn" im Verlag „Die Aktion", hg. von Franz Pfemfert): „Was du auch immer tust an Menschlichem: Künstler, Kaufmann, Gelehrter, Minister, Kaiser, Präsident und Soldat: Erkenne deine Verantwortung ganz persönlichste Verpflichtung gegen die Menschheit, die, ein Zukünftiges, aus dieser heutigen geschlagen werden soll ein reiner Quell aus starrem Fels. Bekenne deine Schuld und Haftung" (S. 8).

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Schaum um ihn, / Das lohende Denken zuckt durch ihn, / Schimmernder Puls des Himmels, Mensch!" (S. 27) — ,,0 Blut Gottes, flammendes getriebnes Riesenmeer im hellen Kristall" (S. 28) - „Der Mensch in Strahlenglorie hebt aus der Nacht seine Fackelglieder und gießt seine Hände weiß über die Erde aus" (S. 29). Die metaphorische Entgegensetzung von „Strahlenglorie" (S. 29) und „Schlammgeschwür" (S.23) als jeweiligen antonymischen Äquivalenzen für den .Mensch'-Topos, die seinen archisematischen Kern ausdifferenzieren, kann nicht mehr aus ihrer mechanizistischen Schablone gelöst und in eine bildliche oder argumentative Verknüpfung modelliert werden. Im poetischen Verfahren analog der Montagetechnik setzt Rubiner Unvereinbares einander gegenüber: gegliedert in zyklisch angeordneten Texten, wie aus anderen homogeneren BildZusammenhängen zitiert. Die utopisch intendierte Kontrafaktur des in einer alptraumartigen Irrealisierung der Realität versinkenden Bilds vom ,Alles verschlingenden ekligen Schleim-Moloch' mißlingt, weil die Traumstruktur nur unter positiven Vorzeichen reproduziert wird. Sie muß mißlingen, weil die einfache Negation, die mechanische Umkehrung des Bildpotentials in sein Gegenteil, immer als räumliche Struktur einer sinnlichen Konkretion erscheint: So ,treiben' „die Menschenwälder zappelnd zum Tod (...)", „erstickt mit sausendem Kreis hinab in den dunklen Schlauch" (S.23). Die einfache Negation, jedoch intendiert als inhaltliche Aufhebung, kehrt die Vorstellung vom Versinken in einem höllischen Strudel um in die Vorstellung vom Aufsteigen in himmlische Sphären: „In fliegenden Leuchtnetzen aufglühend und löschend wie Pulsschlag schwebt der Mensch" (S. 28). Die utopische Dimension in ihrer Struktur als Kategorie Möglichkeit 1 7 3 hat aber - conditio sine qua non - die Zeit in ihrer Geschichtlichkeit als Raum, in dem sich Prozesse entfalten, weil ihre einzelnen Momente sich aufheben, qualitativ verändern; wobei allerdings in der ,Negation der Negation' — bezogen auf die dialektische Gesetzmäßigkeit des Progresses - nur dann eine Positivität erreicht wird, wenn einzelne Momente im Geschichtsprozeß final verklärt werden, wenn der momentane Zustand einer Gesellschaftsformation mit der Ideologie 173 Vgl. dazu Ernst Bloch, Gesamtausgabe, Band 5: Das Prinzip Hoffnung, In fünf Teüen, Kapitel 1 - 3 2 , S. 2 5 8 - 2 8 8 .

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seiner Herrschaftssicherung verwechselt wird, die immer im Interesse der Legitimation des erreichten Zustands seine Substantialisierung zum Ziel der Entwicklung betreibt. Die Kategorie Möglichkeit modelliert Rubiner in seinem Menschenbild jedoch nicht als Realisierung der Geschichtlichkeit des historischen Subjekts, sondern als statische Potentialität in der (negativ erfahrenen) Realität. Die bildliche Konkretion einer solchen abstrakt-utopischen Negation der Wirklichkeit gelingt nur noch über die abstrakt-montierte Entgegenstellung einander sinnlich äquivoker räumlicher Verweisungszusammenhänge, die ein zeichenhaft stilisiertes Bildmaterial immer mehr automatisiert und schabionisiert zusammenfassen. Der aus einem Gedichtzyklus herausgelöste Text hat eine objektiv andere Bedeutung als der durch Rückverweisungen in eine hierarchisch organisierte Kompositionsstruktur eingebundene. Dieser Befund gilt auch für den Zusammenhang von Gedicht und Gedichtband, wenn die Kohärenz der in zugeordneten Texten integrierten extratextuellen Merkmalsbündel nicht so groß ist wie in einer artifiziell konstruierten zyklischen Anordnung, die in bestimmten leitmotivischen Invarianzen textuell übergreifende Sujets konturiert. Diese Auflösung des ,Einzeltextes' in einem jeweils zu problematisierenden ,Werkbegriff', wobei die Grenzen des Werkes in seinen intratextuellen Relationen neu zu bestimmen sind, ist ein spezifisches Merkmal expressionistischer Lyrik. Die „historischen Avantgardebewegungen antworten" nach Peter Bürger auf „die volle Ausdifferenzierung des Phänomens Kunst", die „(erst) in der bürgerlichen Gesellschaft mit dem Ästhetizismus" erreicht wird, 174 indem „die Gemeinsamkeit künstlerischer Mittel", die „als Mittel verfügbar" sind, 17S zu einem Instrumentarium wird, das eine bewußte „Wahl zwischen verschiedenen Verfahrensweisen (...) im Hinblick auf eine zu erreichende Wirkung" 176 möglich macht. Weil nicht das ,organische Kunstwerk' als explizit begrenzter Text mehr zum Modell der organisch-naturhaften, explizit begrenzten Wirklichkeit erfahrener Welt werden kann, werden die ,Texte' zu Fragmenten einer verlorengegangenen Totalität von poetischer Modellierung. 174 Peter Büiger, Theorie der Avantgarde, S. 22. 175 Peter Bürger, Theorie der Avantgarde, S. 23. 176 Ebd.

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Indem das Bild nicht mehr die Differenz zwischen Utopie und Wirklichkeit erfassen kann, weil die Wirklichkeit der erfahrenen Existenz die Widersprüchlichkeit der Verhältnisse in ihrer konkreten Gestalt ist, müssen die Bilder in ihrer qualitativen Differenz, die Texte in ihrer bedeutungsdifferenzierenden Komposition jenes Sinnpotential bereitstellen, das nicht die Widersprüche in den Verhältnissen zudeckt, sondern qua Widersprüchlichkeit in der nicht mehr .organisch' poetischen Modellierung bewußt macht. Hier wäre der poetologischen Dimension der Montagetechnik in ihrer Historizität als Reflexion auf eine nur noch fragmentarisch erscheinende Welt nachzugehen. Wenn Adorno ausführt, „ein Aspekt der Ismen" gewinne „heute erst seine Aktualität", dann ist die „Organisation der Kunstwerke in sich" für die noch mögliche Organisation der Wahrheit im Kontext der klassischen' Avantgardebewegung nach 1900 benannt: „Was wahr sein mag am Vergleich der Kunst mit dem Organismus, wird vermittelt durchs Subjekt und seine Vernunft. Jene Wahrheit ist längst in den Dienst der irrationalistischen Ideologie der rationalisierten Gesellschaft getreten: darum sind die Ismen wahrer, welche ihr absagen." 177 Wenn die ,intratextuellen' Grenzen des Werkes den isolierbaren Einzeltext hier im Gedichtzyklus „Das himmlische Licht" — nur noch als Moment integrieren, das in seiner fragmentarischen Bedeutung die Suche nach der ganzen als Inhalt hat, dann muß die Frage nach der literarischen Qualität als die des ästhetischen Gehaltes auf einer anderen Ebene gestellt werden, einer Ebene, welche nicht die Individuation eines .utopischen Bildes' mit dessen atopischer Intentionalität' identifiziert. „Der Wahrheitsgehalt mancher künstlerischer Bewegungen kulminiert nicht durchaus in großen Kunstwerken; Benjamin hat das am deutschen Barockdrama dargetan. Vermutlich gilt Ähnliches für den deutschen Expressionismus und den französischen Surrealismus, der nicht zufällig den Begriff Kunst selbst herausforderte - ein Moment, das seitdem aller authentischen neuen Kunst beigemischt blieb. Da sie aber gleichwohl Kunst blieb, wird man als Kern jener Provokation die Präponderanz der Kunst übers Kunstwerk suchen dürfen. Sie verkörpert sich in den Ismen. Was unterm Aspekt des Werks als mißlungen 177 Theodor W. Adorno, Ästhetische Theorie, S. 44.

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oder bloßes Beispiel sich präsentiert, bezeugt auch Impulse, die kaum mehr im einzelnen Werk sich objektivieren können; solche einer Kunst, die sich selbst transzendiert; ihre Idee wartet der Rettung." 1 7 8

d) Visuelle Konkretion und poetische Abstraktion Die Montage imaginärer Räume zur „Zeichensetzung einer neuen Welt", zur Bewußtwerdung einer „neuen Optik" 1 7 9 in der Destruktion der traditionellen ist gerade auch für die Lyrik und ihre Bildlichkeit nur im Bezugsfeld der ganzen Kunstströmung Expressionismus als historisches Phänomen präziser zu erfassen. So ist für den Transformationsprozeß der poetischen Idee in die poetische Struktur bei Rubiner die Rekurrenz auf den bildkünstlerischen Bereich der expressionistischen Malerei ein objektiv extratextuelles Moment der Werkstruktur (z.B. im Gedichtband „Das himmlische Licht"). Dies wird deutlicher, wenn Rubiners Versuch der Verbalisierung von Eindrücken herangezogen wird, die er im Betrachten von Bildern des französischen Malers André Derain (1880—1954) hatte, und die wie Illustrationen zu Rubiners Konzept der Befreiung des,Geistes' im Menschen interpretiert werden; oder: Rubiners tendenzielle subpoetische Strukturierung in den Essays, Aufsätzen, Appellen und Programmen, vor allem aber die Bildlichkeit und Metaphorisierung im Gedichtband „Das himmlische Licht" sind vermittelte Transpositionen visueller Erfahrungen, der Rezeption von Malerei, in eine lyrische Struktur, die aufgrund ihrer spezifischen Elemente in der Ausdrucksebene die poetische Idee der Bilder erfassen und transformieren soll. Derain schuf „schnell und viel, Jahre noch vor der Tatsache des Krieges, seine Paradiesbilder für Menschen. Hier sind die Bäume Kristallgewächse, die einzigen Bäume, die wir lieben können. Dabei Kristallhäuser, die einzigen, in denen wir wohnen mögen. Kristallkräfte schießen wie Lichtleiter von allen Dingen aus, und etwas glitzernd Sprießendes tieft sich kurvend, brüstet sich in weißer Hitze eckig um zu neuen Räumen, heraus aus denen sprudeln

178 Theodor W. Adorno. Ästhetische Theorie, S. 4 4 f . 179 Ludwig Rubiner, Der Maler vor der Arche, Sp. 7.

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Stalaktitensonnen wie Weinfontänen: hier fehlt der Mensch, der selige Mensch! Derains Mensch kommt. Der Mensch des Wunsches: o könnte er so leben, Wesen des Glanzes, der Lichtzeugung, des höchsten NurWollens! Die Beine Säulen zum Gehen, der Leib Säule des Wachsens und der Fortpflanzung; Kopf kegelschnitthafte Funktion des göttlichen Willens, Nase zylindriger Befehl in die Welt einzudringen. Dies alles ist Überwindung, Befreiung von der Billigung des Gegebenen. Untertanlosigkeit gegen alle bloße Dolmetschung des Lebens. Nein, hier sind Zuchtpläne für ein Menschengeschlecht, das in den Paradiesplänen dieses utopischen Genies einzig wohnen darf. Eine noch nicht ersehene Entschleierung unserer Kräfte ist da vorgenommen, ein Wissender zeigt sie uns: Wenn ihr wirklich sein wollt, sein, sein, sein! so müßt ihr ganz unzufällig, ganz unbedingt sein; nicht Sklaven, Bürger, Kanaillen, Gewächse; nicht interessant, absonderlich; nicht Wesen eurer Umwelt, nicht ,in den Raum gestellt'. Ihr müßt sein eure eigenen Schöpfer, ganz göttlich. Ganz Willen. Ihr Menschen, göttliche Glanzwesen, geschaffen für Paradiese!" 180 Es ist in der Forschung zum Expressionismus immer wieder darauf hingewiesen worden, daß die poetischen Verfahren der Irritation und Destruktion — sowohl in der Literatur als auch in der Malerei, bildenden Kunst und Musik — signifikante Merkmale der bewußten Zerstörung jener Sphären sind, die im Kontext der Literatur der Jahrhundertwende ,paradis artificiels' genannt wurden. Daß innerhalb der literarischen Evolution als eines prozessualen Zusammenhanges gerade das Verfahren der Destruktion automatisierter und tradierter Muster poetischer Konkretion auch das Verfahren der Konstruktion eines neuen Musters beinhaltet, zeigt Rubiners zeitgenössische Interpretation deutlicher als entsprechende Kommentare aus der hermeneutischkritischen Distanz. Rubiner rezipiert in den Bildern Derains nicht so sehr die Deformation konkret-gegenständlicher Malerei, die an einem im weitesten Sinne ,mimetischen' Kunst-Ideal orientiert ist, obwohl Derain zur Gruppe der ,Fauves' gehörte, 181 sondern betont ausdrücklich das konstruktive Element, die schöpferische Phantasie gegenüber der schlechten Wirklichkeit, die nicht mehr Gegenstand der Kunst sein 180 Ludwig Rubiner, Der Maler vor der Arche, Sp. 6. 181 Vgl. hierzu Deny s Sutton, André Derain, Köln 1960, S. 16.

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darf, weil sie nicht mehr zu,retten' ist. Konstruktion einer,Gegenwelt', planvolle Phantasie, utopisches Bild eines Raumes und einer Zeit, die nichts (mehr) gemein haben mit dem historisch .Gewachsenen', dem „Gewächs", das in der pejorativen Metaphorisierung zur Inkarnation einer monsterhaften, alptraumadäquaten Umwelt wird. So werden die Bilder der ,Wilden' auch verstanden; und im strukturalen Zusammenhang zu den Utopie-Komplexen der Jahrhundertwende, vor allem zu den hermetisch abgegrenzten, artifiziell-ästhetizistisch ausgegrenzten .künstlichen Paradiesen' erscheint in deren Negation aus gesellschaftlicher Verantwortung eine analoge Modalität in der intendierten neuen Qualität von Utopie: der Charakter des hermetisch Abgeschlossenen — die aus der Wirklichkeit ausgegrenzte Utopie. In einer der letzten Untersuchungen zum Expressionismus' allgemein, die explizit den Zusammenhang gerade von Literatur und Malerei zum Gegenstand hat, verfällt Jost Hermand dem verbreiteten Irrtum, die „aggressive Deformierung" 182 als .typisches' poetisches Verfahren im Expressionismus aus ihrer strukturellen Funktionalisierung innerhalb der künstlerischen Evolution zu entlassen — obwohl die „Epochen deutscher Kultur von 1870 bis zur Gegenwart" den Rahmen der Diskussion abstecken — und die Bedeutungsanalyse zur Inhaltsparaphrase zu machen, wobei alles das zum Inhalt wird, was der Interpret sieht, hört und fühlt. „Aus dieser sprachlichen, malerischen und musikalischen Ballungstendenz, diesem Renommieren mit Wortbomben, Farbklecksen und Dissonanzen ergibt sich notwendig eine fortschreitende Form- und Gestaltzertrümmerung, die auch die menschlichen Inhalte nicht unversehrt läßt. Und damit stellt sich die Frage, ob man in einem solchen Stil überhaupt etwas schlechthin Positives darzustellen vermag oder ob der Expressionismus nur dann seine volle Vehemenz entfaltet, wenn er sich auf dem Gebiet der Travestie und Satire austoben kann. Denn eine so radikale Aufhebung aller formalen Restriktionen — verbunden mit einer konsequenten Zerreißung und Zerstückelung der äußeren Erscheinungswelt — geht nun einmal nicht ohne eine weitgehende Verzerrung und Verbeulung der wiedergegebenen Menschen und Gegenstände ab. Wer so wild um sich schlägt und im Sinne einer 182 Richard Hamann/Jost Hermand, Expressionismus, S. 48.

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apokalyptisch gestimmten ,Menschheitsdämmerung' alles Bestehende niederzureißen versucht, schlägt zwangsläufig auch seinen eigenen Idealen und damit sich selbst ins Gesicht. Es gibt deshalb kaum ein expressionistisches Bild, das nicht durch seine kraß vergröbernde Manier den Eindruck des Verbeulten, Zerlaufenen und Zerquetschten erweckt, wo nicht durch Wüstheit, Gedunsenheit und grelle Übersteigerungen sogar das an sich positiv Gemeinte ins Karikaturistische verzerrt wird. Statt impressionistischer Farbdelikatessen und jugendstilhafter Ornamentfreudigkeit herrscht auf den Gemälden dieser Richtung weitgehend das Barbarische und Archaisierende. Unter Verzicht auf die einst so geliebten Nuancen und Valeurs werden meist nur unbehauene Kuben, Klötze und Blöcke aufeinandergetürmt. Alles wird so lange zusammengeschlagen oder zermanscht, bis es wie ein chaotischer Farbsalat oder Bildkompott wirkt. Stimmungsvolles, Gemüthaftes oder Intim-Persönliches verschwindet fast ganz. Wohin man auch blickt, sieht man sich mit Masken, Fratzen und Fetischen konfrontiert, die alle spezifisch Rumänen' Züge vermissen lassen. Manchmal hat man geradezu den Eindruck, als solle dem Betrachter durch weitaufgerissene Augen, bleckende Zähne und wildeste Gebärden ein solcher Schock versetzt werden, daß es ihm kalt den Rücken hinunterläuft. (...) Die gleichen Tendenzen zeigen sich in der expressionistischen Literatur, wo die dargestellten Figuren durch rapide Temposteigerung, krassen Ausdruckswillen und übermäßige Wortballungen oft so stark ins Karikaturistische gezogen werden, daß sie den Eindruck hilflos zerquetschter und verbeulter Wesen erwecken. Wer immer schreit (...) kann ebenso wenig erhaben wirken wie eine Gestalt auf einem expressionistischen Gemälde, die wie ein gewaltsam zertrümmerter Kubus aussieht oder gleichsam zu einem Klumpen Lava erstarrt ist." 1 8 3 Es lohnt nicht, darüber zu streiten, wie realistisch eigentlich' dieses menschlich, auch menschlich, vielleicht trotz allem noch menschlich zu nennende „Verbeulte, Zerlaufene und Zerquetschte" war, nicht selten freilich „gewaltsam zertrümmert" oder „gleichsam zu einem Klumpen Lava erstarrt", wenn der Alltag auf den Schlachtfeldern Europas dokumentiert werden müßte, um den Maßstab zu finden, mit 183 Richard Hamann/Jost Hermand, Expressionismus, S. 4 8 f .

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dem die Gestaltung des Menschlichen' oder was noch von ihm übrig geblieben war in diesem historischen Moment überprüft werden könnte. Es ist nicht den Malern vorzuwerfen, daß der systematische Einsatz von Flammenwerfern und Giftgas es den verantwortlichen Politikern und Militärs technisch ermöglichte, nun auch im großen Maßstab zu „Klumpen Lava" erstarren zu lassen, was einmal ein Mensch' war — und vor Verdun wurde tatsächlich „alles (...) so lange zusammengeschlagen und zermanscht, bis es wie ein chaotischer Farbsalat oder Bildkompott wirkte". Aber in der Umkehrung der Hermandschen Bildeindrücke zu ihrem richtigeren Gegenteil liegt nicht das Problem, denn auch die polemische Kontrafaktur einer unkritischen Nivellierung der hermeneutischen Differenz kann nur der Ausgangspunkt einer genaueren Bestimmung der historischen Valenz sein, weil in der bloßen Umkehrung der Argumente zu schnell und zu simplifizierend die materielle Basis aller künstlerischen Produktion ,ins Bild springt', zu unvermittelt der historische Kontext gegen die relative Autonomie der Werke in ihrer Geschichtlichkeit ausgespielt wird und zu direkt jene Bestimmungen als allgemeines Basis-Überbau-Verhältnis widergespiegelt werden, die doch erst ,in letzter Instanz' richtig sind: allerdings gegenüber allen Pseudo-Konkretionen von Kunst als geschmäcklerischer Urteilsfindung in letzter Instanz auch richtig bleiben. Die Utopie gleichsam aus der verbeulten' Wirklichkeit herauszumodellieren, in der Deformation der ,paradis artificiels' die .paradis socials' zu finden, wird gegenüber der Kunst-Leben-Dichotomie in der Literatur der Jahrhundertwende nun von Rubiner zum Inhalt der Kunst bestimmt. So liegt in der Analogie zu den utopischen Räumen der fin de siècle-Literatur auch die Differenz begründet: die Beschreibung, ja fast enthusiastische Feier der Bilder André Derains, die Rubiner als neues Kunst-Ideal preist, eröffnet gegenüber der gegenständlichen Welt, gegenüber dem, was als technisch verfügbare Zukunft aufscheint, auch ein .Paradies', einen gegenüber der Historizität ausgegrenzten Raum, einen hermetisch gesicherten anderen Zustand menschlicher Existenz. Es ist in der Funktion dieser Räume auch nicht entscheidend, daß sich ihre Physiognomie so gänzlich geändert hat, daß anstatt „Weiher und Kahn", „Schwäne" und „Traum durch die 212

Dämmerung" 184 nun kosmische Räume', paradiesische Sphären und ,azurne Höhen' das Material für die utopie-signifikante Bildlichkeit liefern. Entscheidend wird innerhalb der literarischen Evolution, daß die Utopie nicht mehr textuell begrenzt wird, indem das jeweilige Werk die Negation zur Wirklichkeit realisieren muß, sondern daß die reflexive Vermittlung von Utopie und Wirklichkeit konstitutiver Bestandteil des Werkes selber wird: zwar auch ähnlich anderen literarischen Epochen, die nicht in einem autistischen Hermetismus, einem artifiziellen Décor oder ästhetizistischen Egotismus degenerierten, aber doch qualitativ einmalig und unwiederholbar geschieden. Die reflexive Vermittlung von poetisch kodierter Wirklichkeit und poetisch kodierter Utopie gelingt nur (noch) über die räumlich strukturierte Montage homogener und konsistenter Bildsequenzen.185 In der Montagetechnik als Zusammen- und Entgegenstellung von nicht mehr organisch' sich entwickelnden und genetisch sich bedingenden Elementen reflektiert der expressionistische Künstler in einem beständigen Widerspruch die Bedingungen der Notwendigkeit von Kunst (weil nämlich das Paradies noch nicht Wirklichkeit geworden ist) und die Bedingungen der Möglichkeit von Kunst: den Raum un Bild zu umreißen, der als Traum der Wirklichkeit entgegengestellt werden soll — und schon jetzt Statthalter einer anderen Praxis ist, nicht etwa wie die ideologische Form der Idylle diese ,andere' ersetzt; gerade aber die sinnliche Konkretion in der bildlichen — nicht abbildlichen — Antizipation ist die Inkompatibilität gegen den ,schönen Schein', der immer die Kompatibilität der Utopie mit der Realität .vorzeigt'. So versucht Rubiner im übergeordneten Kompositionsprinzip der Zusammen- und Entgegenstellung der einzelnen Textabschnitte die Utopie als das ganz Andere auszugrenzen, sie nicht mit der médiocren, stumpfen und morbiden Gegenwart zu versöhnen, indem er das Subsystem „Der Mensch" (S. 27—29) subtextuell abgrenzt und in einer homogenen, fast schon homöostatischen Bildlichkeit mit hoher 184 Es handelt sich um paradigmatische Titel von Subsystemen aus der Anthologie „Lyrik des Jugendstils", 185 Zu einfach, weil mechanizistisch und linear, entwickelt Norbert Hopster die hier diskutierte Problematik. Vgl. N . H . , Kunst und Aufhebung der Kunst im expressionistischen Jahrzehnt, in: Wirkendes Wort, 20. Jg. (1970), Heft 5, S. 3 3 1 - 3 3 9 .

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utopie-signifikanter Metaphorik strukturiert; und er versucht zugleich die Hermetik des so geschaffenen Kunst-Raumes stehenzulassen und durch die textuelle Kohärenz mit dem vorangehenden Subsystem „Sieg der Trägheit" (S. 23) die polare Entgegensetzung der Utopie, den Mangel in der Wirklichkeit — in seiner poetischen Kodierung als alptraumartige Bedrohung —, für die Begründung einer radikalen Veränderung geltend zu machen. Das zugrundeliegende Geschichtsverständnis ist statisch und kann die antinomischen Blöcke — hier repräsentiert durch die beiden Subsysteme — nicht in einen gemeinsamen antizipativen Horizont einmünden lassen. So wird die absolut antinomische Struktur auch nur scheinbar in den beiden letzten Subsystemen („Die Frühen" [S. 3 7 - 3 9 ] und „Die Ankunft" [ S . 4 1 - 4 5 ] ) dynamisiert. „Kamerad, Sie dürfen nicht schweigen. O wenn Sie wüßten, wie wir geliebt werden!" (S.43) lautet einer der textkonstitutiven Appelle am Schluß, die wie ,Autorenkommentare' immer wieder versuchen, die absolut perspektivlose (und latent pessimistische!) Unversöhnbarkeit der anscheinend grenzenlosen Möglichkeiten und der grenzenlosen Verkommenheit des einzelnen Menschen — der die Sozietät vertritt — und der Menschheit allgemein aufzusprengen. Gegenüber einer vorschnellen Reklamierung der Rubinerschen Position als „messianischer Expressionismus" 186 oder allgemeiner als „utopischer Messianism u s " 1 8 7 ist anzumerken, daß die Jculturpessimistische' Ebene der Argumentation immer so stark bleibt, wie die utopie-signifikante nicht als schon in der Realität wirksame suggeriert wird. Aber bei Rubiner ist die Utopie noch nicht von der Wirklichkeit eingeholt; und nur in der Kunst ist das Ideal als Vorschein schon wirksam, was Rubiner aus den Bildern Derains in den Assoziationen auf den historischen Kontext heraussieht: Derain „wird die Welt ändern, ganz von Anfang an. Er wird sie unsterblich, unmörderisch, unverwesbar machen. Er wird Pläne entwerfen, für Häuser, Wolken, Bäume, paradiesische Dinge, die nicht Geld wert sind, drum zu morden. Führt man etwa Krieg um Eisblumenwälder? Paradiese zu bauen, so fruchtbar schießend wie Eisblumen, Palmen des Kristalls und leuchtend wie assyrische Ufer.

186 Silvio Vietta/Hans-Georg Kemper, Expressionismus, S. 192. 187 Silvia Schönstedt, Tat vermähle sich dem Traum, S. 149.

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Die Menschen wird er ändern, die Menschen darin, jeder wird eine Lichtsäule, jeder schießt seine Lichtstrahlen aus. Aber die Arche, aus der diese Welt quellen wird, ist noch verschlossen. (...) Der Prophet will ändern? so muß er mitten durch die Welt. Mitten in das Getürm des sich befriedigt Wälzenden. Er will zum Geist? so muß er hindurch durch die klebrige Schlaraffenmauer der Körper, durch die Verwesungsgebirge des Gegebenen, durch die grünliche Leichennacht des Daseins. In die Zukunft will der Prophet: hinunter muß er, sausender Sturz vorbei an den letzten schwimmenden Regenbogenrändern der Zeit; durch finster aufklaffende Vergangenheit, er eilt durch trübwarme Unterwelt, Sarghöhlen schwärzlich gilbend in schwachen Funzeln von Großmutterlampen; er keucht durch die widerliche Anmut des Gewesenen, er fährt durch die Abgestorbenheit der Welt mit der scheuen Eile, wie durch eine riesige staubige fremde Wohnung die Vermieter möbliert vermieten." 1 8 8 So wie sich die Bilder in den hyperbolischen Amplifikationen allmählich verselbständigen — anstatt auf einer subpoetischen Ebene die begriffliche Schärfe der Argumentation weiter zu differenzieren und zur Variation des Immergleichen werden, ohne den operationalen Schritt der fortwährenden Identifikation einer archisematischen .Grundbedeutung' mit homonymen Metaphern überspringen zu können, so konstruiert Rubiner auch im Gedichtband „Das himmlische Licht" zwei archisematische polare Entgegensetzungen (.paradiesischer Raum', höllischer Raum' — oder: Utopie und Wirklichkeit), die innerhalb einer homogenen Metaphorik nur hyperbolisierend und amplifikatorisch variiert werden. Dynamisiert wird der Text nur über den Appell, die „klassifikatorische Grenze" zwischen den beiden Räumen zu überspringen. Jener Dynamisierungsprozeß ist jedoch innerhalb der utopischen Valenz bei Rubiner nicht eindeutig festgelegt: er umfaßt sowohl die Vorstellung einer Katharsis im Einzelnen als auch die Reinigung der Menschheit vom ersten Minister bis zum letzten Polizeibeamten, 189 er intendiert die Vorstellung vom mechanischen Umschlag des .Untergangs' in einen ,Aufgang' 190 — und insistiert daneben auf die aktive, schöpferische Kraft des Subjekts der 188 Ludwig Rubiner, Der Maler vor der Arche, Sp. 2f. 189 Vgl. den Textabschnitt „Die Ankunft", S. 44. 190 Vgl. den Textabschnitt „Dieser Nachmittag", S. 17.

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Revolution, des Protagonisten des geistigen Putsches. 191 Das ,Wie' ist letztlich unspezifisch, mit Ausnahme des thematisch invarianten Metanoiete. Und es muß letztlich in Rubiners Konzeption einer Veränderung der Welt unspezifisch sein, weil das statische Geschichtsbild gar keine prozessuale Entfaltung zuläßt — ja weil Rubiner permanent an seinen eigenen Prämissen scheitert, nämlich von den gesellschaftlichen Möglichkeiten der Kunst auszugehen und die realen Wirkungen der Politik ins Kalkül zu ziehen. Daß die poetische Struktur gerade nicht das ,Wie' einer prozessualen Entfaltung der Antinomien zum Gegenstand hat, obwohl die Rhetorik der Ausdrucksebene dies suggerieren möchte, sondern das JDaß' - als prophetische Gewißheit' —, verweist auf die aus der biblisch-religiösen Tradition entlehnten Implikationen des Erlösungsglaubens, der die Geschichte latent zum ,Heilsgeschehen' verklärt: „Augen wollen Licht nicht sehen. Ohren hören keinen Hall. / Träge Erde war verstoßen, Feindschaft schuf den neuen Ball. / Die Menschenkugel zersprang. / O seht den göttlichen Lichtschein um Euch, dann dauert der Krieg nicht mehr lang!" (S. 40) Die Verklärung der .Geschichte' zum ,Heilsgeschehen', zwar säkularisiert, aber dennoch in seiner rezeptiblen Struktur nur auf dem Hintergrund des religiösen Erlösungsmodells kenntlich, stigmatisiert die „Frühen" (S.37-39) zu Märtyrern. Die „Frühen" sind die ,Zu-frühGekommenen', die im permanenten Kampf um die Inthronisation des Geistes in dieser Welt Umgekommenen, die sich nicht passiv in ihr Schicksal ergeben haben, sondern im Wissen um die Vergeblichkeit des voluntaristischen Widerstands, des subjektiven Aufbegehrens, die Idee einer besseren Gesellschaft durch ihren Tod aufbewahrten: „Sie lachten laut über die elektrischen Bogenlampen, über die Cafés, über die stumpfen genährten Armeen, über die zischelnden Börsenhallen. / Ihre Worte einzeln und dünn, tropften ab wie Perlengekicher von den Fenstern der steinernen Parlamente." (S.37) - „Sie lebten nicht weiter, sie wurden verraten, guillotiniert, oder krepierten in den Flammen" (S. 39) - „Sie ergaben sich nicht" (S. 39). „Blieb bei den Utopien mit dem Modell des Jüngsten Gerichts das Gesellschaftsbild häufig noch sozial undifferenziert, so wird bei dieser 191 Vgl. den Textabschnitt „Die Frühen", S. 37.

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Utopie die Negation sozialer Differenzierung programmatisch", folgert Silvia Schlenstedt in der Charakterisierung des ideologischen Gehalts eines solchen „philanthropisch-illusionären Zukunftdenkens": „wurde dort die Aktivität des Menschen, sein Anteil an der Verwirklichung eines künftigen neuen Reichs illusorisch gefaßt, so wird hier die Aktivität verinnerlicht, war dort die Revolution die im freudig-entschlossenen Ansturm vollbrachte Tat, so wird hier die Wandlung evolutionär verstanden." 192 Dies ist nur insoweit richtig, wie unter dem Begriff der „sozialen Differenzierung" die antagonistischen Widersprüche der bürgerlichen Klassengesellschaft verstanden werden, vor allem der Widerspruch zwischen gesellschaftlicher Produktion und privater Aneignung, also zwischen dem Besitz an Produktionsmitteln und dem Nichtbesitz. Der Vorwurf trifft dann aber nicht mehr, wenn die Kodierungen in der säkundär-modellierten Struktur nicht als begriffliche Notation mit expositorischem Charakter mißverstanden werden. Der „geistige Bund" (S.43) als Utopie einer abstrakten Gesellschaftsveränderung ist die Metapher für die Aufhebung aller gesellschaftlichen Widersprüche und für den Zustand des überwundenen Staates als eines Instruments der Herrschaftssicherung. Wenn eine solche Abstraktion den definitorischen Rahmen der utopischen Valenz und ihre ideologische Implikation kenntlich macht, so ist die konkretisierende Amplifikation in ihrer variierenden Identifikation des „Ihrπ' nicht als Denotat für eine soziale Differenzierung anzusehen: „Ihr steht herrlich auf sausender Kugel, wie Gottes Haare im Wind, denn Ihr seid im Erdschein der geistige Bund" (S. 43). So faßt Rubiner selbst noch einmal die Amplifikation der AntiProtagonisten zusammen, die als klassentranszendierendes Bild den intendierten gesellschaftlichen Zustand jenseits der sozio-ökonomischen Widersprüche kodieren: „dürftige Mädchen", „fiebrige Mütter", „Schüler", „Fünfzehnjährige", „Zuhälter", „Mob", „Ihr, die ihr nichts wißt, nur daß euer Leben das Letzte ist", „dämliche Gelehrte", „Börsenspieler", „Generäle", „Soldaten", „Dichter", „borgende Beamte", „unruhige Weltreisende", „reiche Frauen ohne Kind", „Weise", „höhnische Betrachter, die aus ewigen Gesetzen den kommenden Krieg 192 Silvia Schlenstedt, Tat vermähle sich dem Traum, S. 152.

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lehren: Japan-Amerika", „Kamerad, Sie, einsam unter tausend Brüdern Kameraden" (S.41f.). Auch solche „Adressaten (...) einer Erneuerung des gesellschaftlichen Lebens" 193 sind sozial bestimmt, entgegen der Interpretation Silvia Schlenstedts: denn der archisematische Kern einer Parallelisierung der sozialen Hierarchie in fakultativen situativen Personifikationen ist der Versuch einer sinnlichen Konkretion der Gesellschaftsform, in der die soziale Hierarchie oder die Klassenzugehörigkeiten nicht mehr die Struktur der Sozietät markieren. In ihrer die sozialen Differenzen nivellierenden Parallelität liegt die neue soziale Dimension und die utopische Valenz: Sie umfaßt zeichenhaft kodiert die Vision einer klassen- und herrschaftsfreien Gesellschaft, die nicht mehr vorgibt, das Ideal der bürgerlichen Utopie mit den Instrumenten des vorbürgerlichen Staates durchsetzen zu müssen. In der Analyse von Rubiners Gedichtband „Das himmlische Licht" zeigt sich generell, daß Silvia Schlenstedts ,Zweiteilung' des „Utopischen" auf der Folie der zunehmenden oder abnehmenden ideologischen Implikationen in der zitierten Rigorosität nicht haltbar ist. Gerade Rubiners Revolutionsbild in seiner unspezifischen Diffusität läßt auch neben der ,verinnerlichten Aktivität' 194 im ,Metanoiete' die illusorische Aktivität' 195 der spontan sich erhebenden Protagonisten zu: „O die Erde wegrollen! Aufreißen die schlammige Erdkugel, Löcher eintreiben, Schächte zum Licht! / Auseinanderballen den Erdklumpen, der feuchte Dunkelheit über die Augen schattet! / Hinein in die Erde, Sturmlauf, Ihr Brüder, an die starre gefräßige MordErde, / O die Erde zersprengen zu Milliarden Staubplaneten in Brand, / Die Erde sprengen mit einem Ruck der göttlichen Hand in alle Höhlungen des schimmernden Himmels, / O Gottes brennender Finger sein, der das Träge winzig zerstäubt, // O leben im himmlischen Licht, Gemeinsamkeit mit dem göttlichen Menschen des Himmels, Bruderschaft, zu ihm, Chorgesang einer hellsteigenden Vielmundstimme durch das Sonnen-Universum!" (S. 38) Aus dem ethisch-utopischen Entwurf einer versöhnten und geläuterten Menschheit entwickelt Rubiner die Vision vom Untergang der 193 Silvia Schlenstedt, Tat vermähle sich dem Traum, S. 149. 194 Vgl. Silvia Schlenstedt, Tat vermähle sich dem Traum, S. 152. 195 Vgl. ebd.

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bürgerlichen Gesellschaft in einer katastrophalen Zerstörung: die endzeitliche Hoffnung radikalisiert sich in der hyperbolischen Struktur der Ampliflkationen zur apokalyptischen Sehnsucht. Klaus Schuhmann unterschätzt die Resistenz der Katastrophensymbolik, wenn er Rubiners ,Aktivismus' nach 1914 generell in den neuen leitmotivischen Appellen an die .menschliche Liebestätigkeit' und .europäische Gesinnung' korrigiert, ja zum Teil aufgehoben sieht. „Der anarchistisch motivierte Wille zur Katastrophe, dem er in den Vorkriegsjahren das Wort geredet hatte, war auf den Schlachtfeldern Europas in einem Ausmaße Wirklichkeit geworden, die der erklärte Kriegsgegner verabscheuen und mißbilligen mußte. Zerstörerische Katastrophen in einer Zeit zu fordern, in der das Handeln von Millionen Menschen an der Kriegsfront von bedingungsloser Gewaltanwendung bestimmt wurde, wäre barbarisch gewesen und hätte Rubiner ungewollt auf die Seite derer gebracht, gegen die er zum Kampf angetreten war." 1 9 6 Allerdings ist die Katastrophensymbolik innerhalb der utopischen Valenz nach 1914 unlösbar mit dem Wandlungsmotiv verbunden: die pazifistische Kriegskritik war für Rubiner Agitation zur Wandlung jedes Einzelnen: „ 0 wir müssen den Mund auftun und laut reden für alle Leute bis zum Morgen. / Der letzte Reporter ist unser lieber Bruder, / Der Reklamechef der großen Kaufhäuser ist unser Bruder! / Jeder, der nicht schweigt, ist unser Bruder!" (S. 4 3 ) 1 9 7 Aber die Agitation zur Wandlung ist zugleich ein Manifest zum Aufbruch. Geändert hat sich in der Sujetfügung dieses Motivs — wenn einmal die Entwicklung vom Aktions-Beitrag „Der Dichter greift in die Politik" (1912) bis zum Gedichtband „Das himmlische Licht" einbezogen wird — die „klassifikatorische Grenze", die Gut und Böse, Utopie und Wirklichkeit voneinander schied. „Es gibt Helden", schreibt Rubiner 1912, „und noch wenn sie krepieren, drohen sie Bewegungen des Schreckens an. Die Scharen der Civilisation, 196 Klaus Schuhmann, Nachwort, in: AW, S. 354. 197 Rubiner zitiert indirekt Heinrich Mann und den Anspielungshorizont seines Essays „Geist und Tat" (1910): „Das Genie muß sich für den Bruder des letzten Reporters halten, damit Presse und öffentliche Meinung, als populärste Erscheinungen des Geistes, über Nutzen und Stoff zu stehen kommen, Idee und Höhe erlangen" (S. 14).

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dröhnende Legionen von Gemüsehändlern, Portiers, Journalisten, Bankbeamten, Premierenbesuchern, unglücklichen Lotteriespielern und patriotischen Hurenwirten treten ihre Leichen mit den Stiefelabsätzen zu Brei. ,Wir?' Nein. Ich bin nicht allein. Obzwar dies kein Beweis ist. Aber eine Freude. Wer sind Wir? Wer sind die Kameraden? Prostituierte, Dichter, Zuhälter, Sammler von verlorenen Gegenständen, Gelegenheitsdiebe, Nichtstuer, Liebespaare inmitten der Umarmung, religiös Irrsinnige, Säufer, Kettenraucher, Arbeitslose, Vielfrasse, Pennbrüder, Einbrecher, Erpresser, Kritiker, Schlafsüchtige. Gesindel. Und für Momente alle Frauen der Welt. Wir sind Auswurf, der Abhub, die Verachtung. Wir sind die Arbeitslosen, die Arbeitsunfähigen, die Arbeitsunwilligen." 198 1916, nach zwei Jahren Krieg, ist dies Feindbild von 1912 nivelliert: die Gesellschaft dividiert sich nicht mehr in Gut und Böse: die ganze Wirklichkeit — und das ist die Gegenwart des Krieges — erscheint wie ein furchterregender Alptraum, dem alle Menschen, vom „besorgten Feldherrn" bis zum „zerzausten Arbeitslosen" (S.44), vom „abgesetzten Minister" bis zur „frierenden Wanderdirne" (S.44), wie paralysiert unterliegen. Die Radikalität — aber auch Diffusität - des utopischen Gegenmodells im ,geistigen Bund der Menschheit' ist im konkreten historischen Kontext so absolut, daß die Wahrheit, die die Utopie auf dem Hintergrund der .Unwahrheit' als des historisch 198 Ludwig Rubiner, Der Dichter greift in die Politik, Sp. 6 4 7 . Helmut Kreuzer weist zurecht darauf hin, daß „diese Parteinahme für die Asozialen' ohne gesellschaftliches Ziel, für den .fünften Stand', auf den die Boheme ihr Ideal unbürgerlichen Daseins leichter als auf sonstige Klassen oder Schichten zu projizieren vermag, (...) häufig von einer Kritik, die unbohemischbürgerlichen Normen verpflichtet ist, als pathologisch beurteilt (wird), von einer unbohemisch-sozialistischen Kritik als pseudorevolutionär" (H.K., Die Boheme, S. 284). So entrüstet sich Jost Hermand, weniger um eine Analyse bemüht als vielmehr um die Verkündigung kleinbürgerlicher Prüderie und bigotter Selbstgefälligkeit: ,.Allenthalben stößt man auf Dreckigstes, Übelstes, Kriminellstes. Und zwar äußert sich dabei - schon um den Schockeffekt zu verstärken - immer wieder ein gewisses Einverständnis mit diesen sozialen Randerscheinungen. Ja, manche Expressionisten suhlen und sielen sich geradezu in diesen Gammler- und Bummlerbereichen, als sei das Untertauchen im Anarchismus das einzige Heil der kommenden Menschheit" (Richard Hamann/Jost Hermand, Expressionismus, S . 2 6 ) . Eine solche pauschalisierende Diffamierung und die »reale Bücherverbrennung' trennen keine ,Welten' mehr.

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unzulänglich Erreichten aufscheinen läßt, die Wahrheit der Utopie also umschlägt in eine rhetorische Beschwörung, an der gemessen die Realität augenscheinlich zum Traum, zum bösen Alptraum wird, aus dem der Mensch nur aufzuwachen braucht, um die Wirklichkeit geradezu mit einem Augenaufschlag ins Paradies zu verwandeln: „Träumen Sie, wie eingeschlossen Sie waren. Träumen Sie den Krieg, das Bluten der Erde, den millionenstimmigen Mordbefehl, / Träumen Sie ihre Angst; Ihre Lippen schlossen sich eng, Ihr Atem ging kurz wie das Blätterbeben an erschreckten Ziergesträuchen. / Schwarzpressender Traum, Vergangenheit, o Schlaf im eisernen Keuchen! / Aber dann wachen Sie auf, und Ihr Wort sprüht ums Rund in Kometen und Feuerbrand. / Sie sind das Auge. Und der schimmernde Raum. Und Sie bauen das neue irdische Land." (S.44f.)

4. Utopische Valenz und politische Konkretion: die Veränderung des utopisch-poetischen Modells im sich verändernden historisch-politischen Kontext a) Der Literat als Protagonist der absoluten politischen Moral oder: Die Herrschaft der geistigen Elite In dem appellativ-programmatischenManifest-Gedicht „HörenSie!" 1 9 9 wiederholt Rubiner seine frühe theoretisch fixierte Position aus dem Aktions-Beitrag „Der Dichter greift in die Politik", daß nämlich die moralische Instanz, Protagonist des Geistes und der Tat zu sein, der sich als politischer Aktivist definierende Literat ist. Und während im Gedichtband „Das himmlische Licht" noch die amorphe Masse der Elendsten Träger des revolutionären Willens war bezogen auf die realisierte Utopie: die neue Sozietät der sozialen Indifferenz —, eines revolutionären Willens, der sich universal, spontan und synchron durchsetzt, „Menschen aus aller Welt sind es (...), die, als sie das »himmlische Licht' erleuchtet hat, zu sprechen beginnen 199 Ludwig Rubiner, Hören Sie!, in: Die Aktion, 6. Jg. (1916), Heft 27 und 28 vom 8. Juli, Sp. 3 7 7 - 3 8 0 .

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und ihre Vereinzelung und Einsamkeit durchbrechen", 2 0 0 wendet sich Rubiner nun direkt an den Literaten als paradigmatischen Protagonisten und ,Führer' der geistigen Elite, die den Prozeß der weltweiten .Kameradisierung' initiieren soll, indem die kunstimmanente Hermetik von Autoren-Aktion und Publikums-Reaktion, das Produzieren hin auf den Publikumsgeschmack und das Goutieren des sich Verbeugens vor dem Publikum radikal durchbrochen werden. Rubiner ruft den Literaten unmißverständlich auf, Position zu beziehen, und zwar eine parteiliche gegen die Barbarei des Krieges und alle Versuche seiner Rechtfertigung und für eine Neuordnung Europas als ,Bund einer geistigen Menschheit': „Ihr Platz ist, / Worte zu machen für Dinge, die gut sind. Für Menschliches, das kommen soll. / Worte zu machen gegen Schändung des Geistes, / Worte zu machen gegen Verrat am göttlichen Menschen, / Worte zu machen! / Denn Würste zu geben, Anzüge, Handschuhe, Schränke, Bier, Stiefel, Semmeln kann der andere besser als sie. / Aber ihre Sache ist es, das Wort zu machen, das diese Menschen treibt und selig auf der Erdkugel macht, / Das Wort, nach dem die Generation handelt, / Das Wort, das sie, Literaten, besser wissen als ihre Leser. / Ihre Aufgabe: Nicht Erklärer, sondern Führer zu sein. / Wer das nicht ist - Abtreten!"201 Rubiner läßt den Text mit einem ,Hoch' auf die neue geistige Führerschaft enden („Es lebe der Führer! / Es lebe der Literat" 2 0 2 ) — und das Programm reproduziert die schon diskutierte kunstimmanente Problematik: gegen den l'art pour l'art und gegen den geschmäcklerischen Applaus des Publikums jenen art social durchzusetzen, der als absolute moralische (und das heißt: geistige!) Instanz den geistigen (und das meint im intentionalen Horizont der Utopie: politischen) Führungsanspruch in der tagtäglich sich vollziehenden gewaltsamen, kriegerischen Auseinandersetzung um die Hegemonie in Europa noch formulieren kann, ohne in 200 Klaus Schuhmann, Nachwort, in: AW, S. 362. 201 Ludwig Rubiner, Hören Sie!, Sp. 380 - Hervorhebung von mir, KHH. Vgl. auch Karl Otten, Die jungen Dichter, in: K.O., Thronerhebung des Herzens: „Sagt endlich A und Nein und Niemals" (S. 22). „Schaut auf! Redet! Sprecht! Fangt an!" (S. 22) „Daß es sich nicht handelt um die Grenzen sondern um das Grenzenlose, nicht um den Staat sondern um die Menschheit, nicht um das Vaterland sondern um den Erdball, nicht um Geld, Schiffe, Waren, Verträge, Märkte sondern um die ewige Seeligkeit der gesamten Erdballmenschheit" (S. 24). 202 Ludwig Rubiner, Hören Sie!, Sp. 380.

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die moralischen und finanziellen Korruptionen der staatstragenden Gruppen verstrickt zu werden. Klaus Schuhmann hat darauf hingewiesen, daß die Widmung unter dem Titel für den Gesamt-Text 203 „Zurufe an die Freunde" (1917): „Für K. L." jene Nahtstelle im Schaffen Rubiners markiert, die ihn tendenziell - entgegen der Einordnung Silvia Schlenstedts - 2 0 4 als Repräsentanten einer Gruppe von Literaten zeigt, die über den desillusionierenden Politisierungsprozeß, den der Erste Weltkrieg erzwungen hat, vor allem in der Zuspitzung der latent revolutionären Situation nach 1916 sich immer bewußter an politische Aktionsbündnisse innerhalb der organisierten Arbeiterbewegung anlehnte. 205 „Der Text des Gedichts läßt keinen Zweifel daran, wer gemeint ist: Karl Liebknecht. Welche Bedeutung dieser Widmung beizumessen ist, wird vollends ersichtlich, wenn man weiß, daß Rubiner in den Jahren zuvor fast ausschließlich die Namen von Kautsky und Bernstein nannte, wenn von Marxismus und Arbeiterbewegung in Deutschland die Rede war. Mit dem Namen von Karl Liebknecht verbanden (sie) sich für ihn (...) auch ein anderes Bild von der Arbeiterklasse als bei den Namen von Kautsky und Bernstein: nicht das einer passiven Masse, die, durch die Reformpolitik ihrer Führer bewerkstelligt, wie von selbst in den Sozialismus hineinwächst, sondern mehr und mehr das einer geschichtsbildenden Kraft, deren historischer Auftrag es ist, die alte Gesellschaft von Grund auf zu verändern." 2 0 6 Inwieweit Rubiner — in Analogie zu Bechers „Hymne auf Rosa Luxemburg" 2 0 7 — aber noch den politischen Protagonisten, der immer deutlicher den Platz des politischen Literaten einnimmt, zum Heiligen verklärt, verdeutlicht die durchgehende Stilisierung Liebknechts zum Messias, die mit Rekurrenz auf den Hintergrund des poetisch-utopischen 203 Auch der Text „Zurufe an die Freunde" (in: Das Aktionsbuch, hg. von Franz Pfemfert, Berlin 1917, wieder abgedruckt in: AW, S . 4 1 - 4 6 ) ist in betitelte Subsysteme unterteilt: (I) Führer ( S . 4 1 ) , (II) Wort (S. 41 f.), (III) Eine Botschaft ( S . 4 2 - 4 4 ) , (IV) Die Engel (S. 4 4 f . ) , (V) Denke (S. 45f.). 204 Vgl. Silvia Schlenstedt, Tat vermähle sich dem Traum, S. 155. 205 Vgl. Friedrich Albrecht, Deutsche Schriftsteller in der Entscheidung, S. 7 0 - 7 3 . 206 Klaus Schuhmann, Nachwort, in: AW, S. 368f. 207 Johannes R. Becher, Hymne auf Rosa Luxemburg, in: J.R.B., Die Weissen Blätter, 6. Jg. (1919), S. 2 3 2 - 2 3 4 .

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Modells im Gedichtband „Das himmlische Licht" Veränderungen im geschichtlichen Prozeß als Offenbarungen in einem Heilsgeschehen ideologisiert. Führer (I) Du fährst auf aus dir wie ein entflammtes Zündholz, schwankend dünn im großen Taglicht-Umkreis Vor dir atmet das Völkergeschöpf vorfühlend und rück die Glieder in brauner Angsteshaut. O steh grade, halte die Augen entgegen, streck die Hände. (

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Wort (II) Du sprichst. Dein Blut erduftet den Armen in levkojischen hellen Beeten Deine Finger ziehen breit Sonnenstrahlen für erstickte Proleten

In der Verlagerung des poetischen Bildes von der Lichtsymbolik — für die universelle Kraft und Intensität des Geistes — zur Christussymbolik - als der biblisch-religiösen Verklärung des isoliert gedachten politischen Protagonisten — erscheint auch in der hymnisch überhöhten Karl Liebknecht Verehrung, wie sie Friedrich Albrecht im Zusammenhang analysiert hat, 2 1 0 eine qualitative Veränderung der rigoros pazifistisch orientierten Kriegskritik mit der Perspektive schärferer organisatorischer Bindungen und der generellen Ausweitung der Kontakte zu den antiimperialistischen Massenbewegungen. Der Textabschnitt „Führer" aus dem Gesamt-Text „Zurufe an die Freunde" ist identisch mit dem einleitenden, versifizierten Schlußmanifest des Essays „Der Kampf mit dem Engel", während der,explizite' Schlußabschnitt dieses Essays noch in Prosa gehalten ist („Der Führer steht klein, eine zuckende Blutsäule, auf der schmalen Tribüne"). 211 Rubiner hat diesen Schlußabsatz — unwesentlich verändert — verifiziert und unter dem Titel „Die Engel" als vierten Textabschnitt in den

208 Ludwig Rubiner, Zurufe an die Freunde, AW, S . 4 1 . 209 Ludwig Rubiner, Zurufe an die Freunde, AW, S . 4 1 f. 2 1 0 Vgl. Friedrich Albrecht, Deutsche Schriftsteller in der Entscheidung, S . 6 9 f . Vgl. auch Christoph Eykmann, Die Christus-Gestalt in der expressionistischen Dichtung, in: Wirkendes Wort, 23. Jg. (1973), Heft 6, S . 4 0 0 410, besonders S . 4 0 2 und 410. 211 Ludwig Rubiner, Der Kampf mit dem Engel, in:L.R., Der Mensch in der Mitte, S. 190.

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Gesamt-Text „Zurufe an die Freunde" eingefügt. Der unmittelbare Kontext, in dem Rubiner das Problem der »geistigen Führerschaft' auch direkt theoretisch abhandelt, ist somit textphilologisch vorgegeben und muß in die Analyse der einzelnen Textabschnitte aus dem Text „Zurufe an die Freunde" einbezogen werden. In diesem Essay hat Rubiner die Idee des „Humanozentrismus", die Forderung, der Mensch müsse „die Mitte der Welt" sein, dargestellt: 212 Rubiner gerät wiederum sehr schnell in eine nicht mehr lösbare Aporie, die paradigmatisch die Widersprüchlichkeit dieser abstrakt-utopischen Position kennzeichnet, die sich nur von außen an die Gesellschaft heranträgt: 213 ,, Wir sind gegen die Musik - für die Erweckung zur Wir sind gegen das Gedicht - für die Aufrufung zur Wir sind gegen den Roman - für die Anleitung zum Wir sind gegen das Drama - für die Anleitung zum

Gemeinschaft. Liebe. Leben. Handeln".214

So deklamiert Rubiner emphatisch und ,besingt' zugleich, hymnisch, in der Kopie des religiös-poetischen Psalmenstils, 215 das MessiasStigma des politischen Führers. Er fordert die Abschaffung der Poesie zugunsten der politischen Aktion und produziert in seiner Forderung neue Kunst: „Sieh den Mund, der faltig blieb von den Flammen der Scheiterhaufen, den Mund, der dünn ist von den Überfällen der Truppen, er Schloß sich nicht seit den Handschellen der Gerichtsdiener". 216 Während in dem Manifest „Hören Sie!" (1916) noch aus der Opposition gegen den .unpolitischen Dichter' der Auftrag des geläuterten politischen Dichters umrissen wird, „nicht Erklärer, sondern Führer zu sein", 2 1 7 und der politische Dichter als der,Führer' gefeiert wird, „Es 212 Ludwig Rubiner, Vorbemerkungen, in: L. R., Der Mensch in der Mitte, S.5. Vgl. auch „Neuer Beginn": „Der Mensch ist um des Menschen willen da. Zukunft des nächsten Weltalters: Der Mensch in der Mitte!" (S. 191) 213 Vgl. Ernst Bloch, Gesamtausgabe, Band 13: Tübinger Einleitung in die Philosophie, S. 9 2 - 9 8 . 214 Ludwig Rubiner, Der Kampf mit dem Engel, S. 164. 215 Vgl. dazu auch Klaus Schuhmann, Nachwort, in: AW, S. 361. Reinhard Weisbach spricht in diesem Zusammenhang von „allgemein-demokratischen Illusionen, liberalen Halbheiten, anarchistischen Resten, subjektiv-idealistischen und religiösen Verkleidungen" (R. W., Wir und der Expressionismus, S. 67). 216 Ludwig Rubiner, Zurufe an die Freunde (I: Führer), AW, S, 41. 217 Ludwig Rubiner, Hören Sie!, Sp. 380.

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lebe der Führer! / Es lebe der Literat!", 2 1 8 radikalisiert Rubiner in der Verschärfung der politischen Auseinandersetzungen nach 1916 das Modell der geistigen und politischen Führerschaft immer mehr. Auch im Essay „Der Kampf mit dem Engel" läßt Rubiner in einer ermüdenden Aufzählung die Phalanx der,Mode-Literaten' Revue passieren, die sich an den .wirklichen' Erfordernissen der Zeit versündigt haben: „Der unschöpferische Schreiber, der Phantasielose, der Talentarme; das grobe ungefüge Handgelenk; der ungeistig Geistgelähmte. Der literarische Couleurfriseur im Renommierschmiß-Stil. Der gebildete Reisebrief-Lakai der Zeitungen. Gasmaske her vor den Feuilletonrülpsern des vollgeschlemmten Kajütenbauches aus finnigem Ferkelchenmaul. Die religiösen Reiseredner fürs Hapag-Dessert. Die Antithetiker des Lebens: Zionisten aus Judenhaß. Imperialisten aus barbarossaschem Humpenrittertum. Der ärmliche Passagierpublizist, der die Erde aufgeteilt hat nach Novellenmotiven, Romanstoffen, Journalbriefen, und zähneknirschend sie zeilenmessend absuchen muß, um amtlich nachweisbar überall seinen Bleistift aufgepflanzt zu haben. (...) Droschkenkutscher her, Straßenreiniger her, Steinsetzer her, Dienstmädchen her, Waschweiber her; Mob, Unterproletariat, Verzweifelte, Unorganisierte her, die nichts zu verlieren haben; Besitzlose, ganz Besitzlose her! Menschen her! Her zu uns, wir sind für euch da! Die Zeit geht dem Ende entgegen. Einmal wird der himmlische Horizont wieder an die Erde stoßen, und der Umkreis unserer Augen wird wieder den Glauben sehen, das Wissen von göttlichen Werten. Dann werden die, welche in Europa ihren Mund auch nur ein einziges Mal haben das Unrecht sprechen lassen, für immer in der Jauchegrube des Vergessens ersticken. Aber sie sind keine Gegner. Nur Mitläufer der vergangenen Zeit; Mitwürmer der Verwesung; Mitgerüche der Auflösung." 2 1 9 Nun baut Rubiner nicht mehr die Alternative zu denen auf, die „endlich offen in die Reklamebureaus der imperialistischen Warenhäuser eintreten (mögen), die uns diesen Krieg geliefert haben", weil „dort ihr Platz (ist), als Preistitelschreiber für Massengrabsteine, als Drogenverkäufer von echtem Aasgeruch und als Schmuckhändler an 218 Ebd. 219 Ludwig Rubiner, Der Kampf mit dem Engel, S. 170f.

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den Leibern ihrer Mitmenschen", 220 indem der Literat zum „lieben Bruder" des „letzten Reporters" wird, wie noch das versteckte Heinrich Mann-Zitat in der Schlußsequenz des Gedichtbandes „Das himmlische Licht" vehement fordert: Der ^îeilige Mob' selber tritt immer stärker aus seiner Rolle des ,Erlöst-Werdens' in die des ,Erlösers'. Er nimmt — allerdings immer von der Tendenz her argumentiert — die Position ein, die dem politischen Dichter und dem politischen Führer — als dessen Konkretisation im sich verändernden historischen Kontext nach 1916 — allein vorbehalten war.

b) Die .Masse' als Protagonist und Objekt der Erlösung oder: Tendenzen einer radikalen Demokratie In Analogie zum Prozeß der Nivellierung der geistigen Eliten in Rubiners Sammelbewegung der .Unorganisierten', also der immer direkteren Reprojektion der Utopie auf eine unterste Massenbasis, ohne verstärkende Multiplikatoren, muß auch der Versuch verstanden werden, die ausgrenzenden Qualifikationen des .Führers' in einem kleinsten gemeinsamen Nenner für jeden Einzelnen innerhalb der .Masse' aufzulösen: „Es gibt schon Führer. Also wird es auch in allen Ländern der Erde bald mehr geben. Jeder Mensch ist geschaffen, ein Führer zu sein. Jeder Mensch ist unersetzlich. Der öffentliche Mensch kennt die Unersetzlichkeit des Bruders. Der öffentliche Mensch führt uns zum Leben im Geiste. Aber Leben im Geiste ist zuerst Leben auf der Erde, wirkliches Leben, Lebendigsein im Fleisch. Und nur wenn wir zuerst selig sind über die Existenz des Nebenmenschen, werden wir dem Nebenmenschen Führer sein." 221 „Der Führer" ist „kein besonderer Mensch, er denkt einfacher ist nicht merkwürdig und schön", 222 doziert Rubiner, um im Bild vom .Zellkern', einer ideologisch besetzten biologisch-organizistischen Metaphorisierung, den größtmöglichen Abstand zu Vorstellungen einer hierarchisch-zentralistisch organisierten Kader-Elite mit straffer militärischer Disziplin und absoluter 220 Ludwig Rubiner, Blätter für die Kunst, in: Zeit-Echo, 3. Jg. (1917), Maiheft, S. 1 4 - 1 7 ; wieder abgedruckt in: AW, S. 2 1 3 - 2 1 6 , Zitat S. 216. 221 Ludwig Rubiner, Der Kampf mit dem Engel, S. 173 f. 222 Ludwig Rubiner, Der Kampf mit dem Engel, S. 174.

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BefehJskompetenz deutlich zu machen: „Der Führer ist überall von dem großen, bebenden Völkeigeschöpf umgeben, das unaufhörlich seine Gestalt und seine Substanz ändert. Immer liegt es zitternd um ihn."223 Aber der Versuch, gegenüber der autoritären Bestimmung des Begriffs ,Führer' die demokratische Alternative zu formulieren, scheitert in der metaphorischen Konkretion, weil die demokratische Alternative niemals die Personifikation der Autorität zum Inhalt hat, sondern die Repräsentation der Autorität durch Personen, und das poetische Bild vom ,Zellkern', um den sich die ,Zelle' schmiegt, als Beschreibung der unauflöslichen Symbiose, die ,Führer' und ,Volk' eingegangen sind, erläutert nur die Untauglichkeit, hochorganisierte soziale Komplexe und gesellschaftliche Strukturen in Analogie zu biologisch-organischen Funktionszusammenhängen zu bringen, wobei die gesellschaftliche Dimension verschwindet und die Legitimationszusammenhänge der ,Natur' erscheinen, die in der latent offenen Funktionalisierung der so kodierten poetischen Bilder in anderen Kontexten potentiell immer die ideologische Verklärung offen reaktionärer Herrschaftsformen — wie der des Faschismus — bereitstellten. Wenn Rubiner meint, „immer wieder steht der einfache Mann — auf den wir herabsehen — als Führer da", 2 2 4 der uns „zum Geist führt", 2 2 5 denn „Führer sein, heißt, zum Geist führen", 2 2 6 so liegt in der einfachen Negation der Schablone, der wahrhafte Führer sei der ,große Mann', der das Volk in der Stunde der höchsten Gefahr zum militärischen Sieg führe, im historischen Kontext die Kontrafaktur auf den Hindenburg-Mythos also, nicht der utopische Horizont eines qualitativ so aufgeklärten Geschichtsverständnisses, das den Mythos überwinden muß, um überhaupt sich verständlich zu machen, um argumentativ gegen reduktionistische Verfahren das Komplizierte in den Problemen zu bewahren. Der Mythos vom .einfachen Mann als Führer' ist in letzter Konsequenz als kleinbürgerlicher Wunschtraum genauso ideologisch belastet wie die Funktionalisierung des Mythos vom .grossen Mann' als Retter des Vaterlands. Wie latent offen und semantisch 223 224 225 226

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Ebd. - Hervorhebungen von mir, KHH. Ludwig Rubiner, Der Kampf mit dem Engel, S. 181. Ludwig Rubiner, Der Kampf mit dem Engel, S. 178. Ebd.

beliebig die Vorstellung ist: „Immer wieder steht der einfache Mann auf den wir herabsehen — als Führer da", demonstriert der sich verändernde historische Kontext, wenn er in der Realität auf zynische Weise die in einem ganz anderen Zusammenhang stehende Utopie einholt und, bezogen auf Rubiners Argumentation, bei weitem überholt: Die ideologischen Implikationen eines solchen poetisch-utopischen Bildes werden dann vollends deutlich, wenn denn „der einfache Mann - auf den wir herabsehen —" wirklich „als Führer" dasteht — und nicht müde wird zu betonen, er sei in Wirklichkeit ein einfacher Mann geblieben. Allerdmgs muß auch gesehen werden, daß in der Negation des großen, aus der Masse herausragenden Führers — auch wenn es nur die mechanizistische Umkehrung ist —, in der Subsumtion der Führerqualitäten unter die Physiognomie des alltäglichen Menschen als des Repräsentanten der zu erkämpfenden Freiheit, der in seiner depravierten Existenz Maßstab der Utopie ist, ein positiver Widerspruch — wie idealistisch auch immer — zu den Elitetheorien formuliert wird, die die revolutionäre Überwindung der wilhelminischen Gesellschaftsordnung mit dem politischen Anspruch praxiskonformerer autoritär bestimmter Kader begründen. Wie resistent und argumentativ besetzt Rubiners Utopie-Modell ist, letztlich wie latent voluntaristisch offen für alle Ereignisse, die von ihrer Phänomenologie her in das Szenarium der katastrophal sich vollziehenden Endzeit passen („O sinnlosestes, chaotisch blutendes Zeitalter, das nun zusammenbricht" 2 2 7 ), zeigt die Rezeption der russischen Oktoberrevolution als Beleg gegen die leninistische Theorie vom Staatsstreich durch eine Kader-Elite; ja als Beleg sogar gegen die Tatsache, daß diese Revolution überhaupt etwas mit dem historischen und dialektischen Materialismus zu tun hat: „Es ist" nämlich nach Rubiners Auffassung in seinem Beitrag „Mitmensch" (zur Zeitschrift „Zeit-Echo" 2 2 8 ) „heute nicht mehr zweifelhaft, was eine geistige Tat ist. Diese Frage kann gar nicht mehr ehrlich gestellt werden. Sie ist uns allein durch die Tat eines Volkes in ungeheuerster Weise beantwortet worden. Vor unsern Augen." 2 2 9 227 Ludwig Rubiner, Der Kampf mit dem Engel, S. 179. 228 Ludwig Rubiner, Mitmensch, in: Zeit-Echo, 3. Jg. (1917), Maiheft, S. 1 0 13; wieder abgedruckt in: AW, S. 3 0 6 - 3 1 0 . 229 Ludwig Rubiner, Mitmensch, S. 306.

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Es handelt sich schlicht um die beschworene „Erhebung für den Geist", die „Entscheidung gegen die Macht, die Gewalt, die Unterdrückung: zum Geist, zur Freiheit und zum Menschenrecht nach dem Plane der Idee." 2 3 0 Rubiners Utopie-Modell ist so semantisch offen für eine permanent sich korrigierende Integration des historischen Kontextes, daß die,Ereignisse' in Analogie zum Offenbarwerden eines Heilsgeschehens — hier in seiner säkularisierten Variante - als Probe aufs Exempel erscheinen und nicht umgekehrt, wie es zu erwarten wäre, das Modell am ,Original' präzisiert wird: „Diese wahrhaft Freiwilligen, die ihr Gesetz diktiert fanden von der Bruderliebe, schufen an der Verwirklichung einer Idee. Diese wahrhaft Tapferen waren nicht gedeckt durch Befehl und Massenzwang, sondern jeder wußte sich in jedem Augenblicke des Lebens ungeschützt, preisgegeben. Sie waren gestützt nur auf das Vertrauen zu ihrem Gewissen, auf ihren festen Willen zur Unbedingtheit, auf ihren Glauben an die dereinstige Leibwerdung ihrer Idee, auf ihren Glauben an die neue Auferstehung des Geistes auf Erden. Sie waren gestützt auf ihren Glauben an die Heiligkeit des Mitmenschen." 231 Spätestens in der Rezeption der russischen Oktoberrevolution, ihrer freudigen Bejahung als Bestätigung der eigenen Theoreme, feiert Rubiner nicht mehr den großen politischen Führer — als den paradigmatischen Protagonisten der Utopie, der doch in Gestalt Lenins und seines Charismas zur Verfügung gestanden hätte. „Diese wahrhaft Tapferen" sind nämlich die „Hunderttausende", welche „ihre Familie, ihr Vermögen, ihre Bequemlichkeit, ihre Genüsse" usw. „für nichts erachtet" haben: es ist also die Masse, die die Revolution getragen hat, welche nun endgültig den Platz des auserwählten, zum Messias stilisierten Führers eingenommen hat. Mit dem Begriff ,Masse' steht Rubiner nun eine Vokabel zur Verfügung, die in ihrer Funktionalisierung ähnlich wie der ,Geist'-Topos eine Konzentration all derjenigen Kräfte symbolisieren soll, welche über allen Klassenschranken und sozialen Differenzierungen den spontan voluntaristisch verkürzten, ins entindividualisierte Subjekt zurückgenommenen Willen zur Revolution, die Intensität der putschistischen Energie also, in der Tat umsetzen sollen. 230 Ebd.

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231 Ludwig Rubiner, Mitmensch, S. 307.

Die Masse, und nach 1918 von Rubiner synonym verwendet: das Volk, 2 3 2 wird zum Antipoden der isoliert gedachten, abgegrenzten Fiihrerfigur; die Vorstellung der direkten Demokratie, die ohne jegliche Hierarchisierungen die beschließenden und ausführenden Organe als Einheit sieht, steht im scharfen Widerspruch zur personalisierten Macht. Während Rubiner noch 1917 die Qualitäten des,Führers' als Qualitäten des ,einfachen Mannes' definiert haben will, was einer tendenziellen Mystifikation gleichkommt, transponiert er nun die Funktion des politischen Protagonisten auf die Masse, auf den Volkskörper: „Das Volk, noch eine Millionenzahl von einzelnen, unverbundenen, stecknadelgroßen Individuen, strömt aus unendlich vielen Flußläufen seine Willenskräfte zusammen, mächtig steigt sein Wille auf, ein riesenhafter griffbereiter Arm aus zahllosen Menschenleibern. Die Führer sind verstört: Hier will etwas, das mehr ist als sie, höher, sicherer und drängender ungeduldig nach vorwärts. Weiß nicht dieser Schrei der Masse, der in die Welt auffliegt, unendlich genau das Ohr, zu dem er stößt: das Ohr der Masse irgendwo auf Erden, der Brüder, der Kameraden, Helfer? Weiß nicht der Riesenfuß der Masse, der über die Straßen stampft, warum er Häuser zertritt, die Hindernis zum Ziel sind? Weiß nicht die gespannte Riesenhand so sicher, wohin sie greift, was sie zerdrückt und was sie bewahrt, um es über ihre Menschen auszuschütten? Hier ist das Volk und der strahlende lebendige Gigantenkörper seines Willens ist unendlich mehr als das Geschöpf eines einzigen, zufälligen Moments". 2 3 3 Die Mystifikation der Masse zum gigantischen ,Volks-Körper' kann im historischen Kontext von 1918 allerdings keinen utopischen Horizont mehr aufscheinen lassen; im Gegenteil: die subpoetische Struktur der Rubinerschen Metaphorik legt den ideologischen Kern der auf den politischen Konnex übertragenen Bilder offen. Rubiners Intention ist es, gegen die Personifikation der Macht, des revolutionären Willens, gegen die Individuation des politischen Führungsanspruches die Kraft der gleichen Interessenlage, die Solidarität derjenigen zu setzen, die nicht mehr unter einer Herrschaft, wie immer sie sich auch legitimieren möge, existieren wollen, weil sie selber der Souverän 232 Vgl. Ludwig Rubiner, Die Erneuerung, in: Das Forum, 3. Jg. (1918/19), S. 5 8 - 6 7 ; wieder abgedruckt in: AW, S. 3 1 1 - 3 1 7 . 233 Ludwig Rubiner, Die Erneuerung, S. 313.

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sind: ein Souverän, der den Staat als Instrument der Herrschaftssicherung nicht mehr nötig hat, wenn alle antagonistischen Widersprüche aufgehoben sind. Das poetische Bild reproduziert aber in der sinnlichen Konkretion dieser Abstraktion die Personifikation und Individuation der Macht, wie sie im politischen Führer zusammenfallen soll. „Ein riesenhafter griffbereiter Arm aus zahllosen Menschenleibern", der „Riesenfuß der Masse", die „gespannte Riesen/?anDer gefesselte Prometheus', uns erhalten blieb, (...) das SichAufbäumen und der trotzige Kampf gegen ungerechte Gewalthenschaft, die schließlich siegreich bleibt". 8 3 In der Konfrontation des von Heynicke durch den Titel „Prometheus" zitierten mythologischen Anspielungshorizontes mit dem Erlösungsklischee und der Idylle vom Paradies auf Erden, in der Transformation der mythischen Figur in ein Analogon des christlichen Gottes — also in der verklärenden, sanktifizierenden Kontamination des Christusbildes mit einem ,pseudomythologischen' Inhalt — kann die illusionäre Maskerade einer weinerlich bis hymnisch sich prostituierenden ,Gefühlskultur' deutlich werden, die das „Führertum der Seele" unter dem Etikett rational-politischer Abstinenz und gläubiger Hingabe zur poetisch kodierten ästhetischen Weihe umfunktionalisiert: „Die Gemeinschaft der Seelen ist ein Meer, das an toten Ufern frißt und immer mehr hineinzieht in den blauen Kreis seiner Unendlichkeit. Die Gemeinschaft ist nicht allgemein, nur strömt aus ihrer unsichtbaren Besonderheit Kraft auf die Allgemeinheit, suchende Kraft, die Sehnsucht weckt nach der Kraft." 8 4

83 Herbert Hunger, Lexikon der griechischen und römischen Mythologie. Mit Hinweisen auf das Fortwirken antiker Stoffe und Motive in der bildenden Kunst, Literatur und Musik des Abendlandes bis zur Gegenwart, um den Bildteil gekürzte Ausgabe nach der 6. erweiterten und ergänzten Aufl. Reinbek bei Hamburg 1974 (= rororo 6178), S. 353. 84 Kurt Hey nicke, Der Willen zur Seele, S. 210.

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4. Tendenzen einer .völkischen' Sehnsucht a) Irrationalismus statt Geschichtsbewußtsein „Rings kreist die Welt. / Und Sterne um die Welt, / und Schicksal rundgehetzt um Welt und Sterne. / Ich bin die Bitte" - „Ich bin der Jüngling" — „Gott sinkt in mich, / ich bin Geheimnis" — „Ich bin ein Teil der Welt" (D.n.A., S. 12-14). Wo die Einheit allen (materiellen?) Seins konstatiert ist, der Mensch aus seiner Abstraktion scheinbar in die wirklichen Verhältnisse - zumindest symbolisch — entlassen wird, wäre die Basis geschaffen, die aus der affirmativen Versöhnung zum Konfliktpotential der Realität führen könnte. Und an eben jener Stelle („Ich bin ein Teil der Welt") bricht Heynicke in dem Text „Der Jüngling" (D.n.A., S. 12-14) den Vorstoß in die Soziabilität menschlicher Existenz ab; in der Verdrängung — durch rhetorisches Fragen — erscheint das trivial-mystizistische Versöhnungsmodell: „Ich fliege, / fliege einsam auf zu Gott. / In sein uraltes Antlitz stürzt mein Schrei. / Ich Ebenbild,/ du Bild, / die Millionen unten Ebenbild???" (D.n.A., S. 14) Wo die Frage im Argumentationszusammenhang der poetischen Bilder nur ,Nein' lauten kann, weil die Wirklichkeit und ihre Widersprüche doch offensichtlich das andere belegen, wird die Stereotype eingesetzt: „Es regnet Sterne. / Starr steh ich. / Es regnet Sterne über mich. / Und mich bedecken alle Sterne. / Rings fällt das Leid. / Aufsteht dein Lächeln über Zeit und Raum: / O Traum, du Leben / und o ihr Wurzeln, / hoch in Gott! II Ich bin der Jüngling und meine Seele will gen Mittag" (D.n.A., 5. 14). Für Heynicke ist die Natur als ewige Metamorphose des Lebens nur Spiegelbild des personifizierten christlichen Gottes und die Göttlichkeit — freilich nicht die hedonistisch-dionysische, ,antinazarenische' drapiert alles ,Leid', nicht nur das individuelle, sondern vor allem das geschichtliche, in ein zweifelhaftes ,Sternen-Kostüm'. Die Identität des Menschen mit der Natur, seine Reduktion auf ein biologisches Organon ( „ 0 wir, / die leben dürfen, / um eins zu sein mit jedem kleinsten Korn der Erde", [D.n.A., S. 10]) schaffen erst die Kongruenz mit Gott in der Versöhnung mit jeder Wirklichkeit, mit jedem Zustand menschlicher Gesellschaft, weil letztlich alles nur Spiegelbild der 275

großen Weltharmonie, der Verbrüderung und Sphärenharmonie, kosmisches Gleichnis für die schon erlöste Menschheit ist. Wo die Erlösung - als Symbol der Aufhebung einer ,noch nicht fertig gewordenen Welt' - mit dem Gleichnis verwechselt wird, das der Kosmos in seiner Harmonie vorstellen kann, entsteht die Affirmation des Bestehenden. Die Versöhnung mit der schlechten Realität ist der Preis für die zweifelhafte Erlösung in der kosmischen All-Verbrüderung': der Verzicht auf eine Perspektivierung der Sehnsucht nach dem ,Garten Gottes' als Lebensraum für den Menschen innerhalb des Geschichtsprozesses — was die Kosmos-Metaphorik ja auch umfaßt — produziert die kontemplative Ohnmacht des lyrischen Subjekts, wie des geschichtlichen, das nur noch in der Deklamation sich selber betrügen kann. Die falsche Identifikation in der herrschaftsstabilisierenden Apologie von falscher Versöhnung läßt auch die aus der pazifistisch legitimierten Kriegskritik erwachsene Verbrüderungsformel - im Kontext von 1919 — zum kritiklosen Zitat verkommen. An Heynicke kann paradigmatisch nachvollzogen werden, wie die im Kriege, zumindest auf dem theoretischen Hintergrund einer internationalen Solidarität aller sozialistisch-humanistischen Kräfte, 8 5 funktionale Irritation konventionalisierter Feindbilder in einen larmoyant-trivialen Horizont der ,süßen, weiten Kameraderie' transformiert wird, der mehr sprachliche Gebärde als humanistischer Anspruch ist: „So nahe du bist, / Bruder Mensch, / die Ferne, die den Bogen um uns schlägt, / eint unsern Traum, / wenn das Angesicht Gottes sich über uns wölbt" (D.n.A., S. 8), „Freund / (...) 0 , daß wir DU sind einander, / daß wir dies du / tragen dürfen in jedes Herz — / das ist was uns eint" — „Heilig / ist der Mensch! / Knieen sollen wir einander vor dem Leid, / erheben soll uns die Freude, / wir schenken einander das Ich und das Du - / ewig eint uns das Wort: / MENSCH. // Immer können wir glücklich sein" (D.n.A., S. 15). Im Augenblick, wo die Revolution als Alternative gegen die sich weder moralisch noch politisch legitimierende wilhelminische Herrschaft erscheint, schlagen die utopistisch-poetischen Modelle in Glaubensinhalte um. Die an die christliche Erlösungshoffnung von Endzeit 85 Vgl. Friedrich Albrecht, Deutsche Schriftsteller in der Entscheidung, S. 6 2 73 („Die demokratischen Schriftsteller im ersten Weltkrieg").

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geknüpften Erwartungen können die politische Dimension der immer mehr in rechtsstaatlichen Ordnungsprinzipien rationalisierten Revolution überhaupt nicht erfassen, weil das utopistisch-poetische Modell „sich nur unmittelbar, abstrakt an die Verhältnisse" herangebracht hatte. 8 6 Und wo die Revolution als gesellschaftliche Umwälzung auf dem Hintergrund eines mystifizierenden Geschichtsbildes gar nicht wahrgenommen werden kann, erscheint die individuelle Wandlung als überzeitliche Alternative zu den tagespolitischen Kämpfen, die in der entpolitisierten Interpretation allemal nur Vexierbild teuflischer Intrigen sind: „Erhebe dich in dir zu dir" (D.n.A., S. 20). Wenn die Gesellschaft als alleiniger Raum einer möglichen Selbstverwirklichung des Subjekts nicht in den Horizont utopischen Bewußtseins aufgenommen wird, müssen die existentiellen Grundformen über die Realität wirklicher Bedürfnisse hinwegtäuschen. „Der Tod ist Liebe, / Süß-sanfter Mantel und Vergessen" (D.n.A., S.88); „Frohlockt, / und streut lebendig Blumen über meinen Leib, / ich bin gestorben, / ihr Menschen. / Ich habe den Schmerz ausgezogen, / die Begierden, die Qualen der täglichen Stunden, / die Wunden der jeglichen Schlachten sind nun vernarbt. / Ich bin aufgeflogen" (D.n.A., S.94). Der Tod als radikales Ende dimensioniert das Leben als Ganzheit — wenn alles, was Gegenstand der Erfahrung sein kann, in die eine, unteilbare Immanenz des Materiellen genommen wird. Die Vorstellung einer temporalen Verlängerung der Existenz über den Tod hinaus — wie auch immer begründet - eröffnet von rückwärts eine Perspektive, welche die Sublimation des nicht realisierten, aber erhofften Glücks im Leben über das Sterben hinaus ermöglicht. Erst wenn der Tod keine temporale Bedeutung für ein Weiterleben mehr hat, weil die Realisierung des wirklichen Glücks und nicht dessen Sublimierung in einer zweifelhaften Hoffnung zur Praxis wird, kann er die ihm einzig gemäße Bedeutung für das Leben in seinen existentiellen Grenzen annehmen: Als endgültige Zäsur beendet er, was keine Fortführung mehr erfährt, und macht somit das Leben — vom Ende her — zu einem Kontinuum, in dem alle Möglichkeiten aufgehoben sind. Die Verklärung des Todes zum Eingang in die wirkliche Heimat, 86 Ernst Bloch, Gesamtausgabe, Band 13: Tübinger Einleitung in die Philosophie, S. 95.

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nach der Erlösung vom ,unwirtlichen Jammertal', ist das bisher in der Ideologiegeschichte wirksamste Modell der Entrealisierung einer in Kritik aufgehobenen Negation realer politisch-ökonomischer Herrschaftsstrukturen, die das Jammertal, unter Verhinderung der Frage nach dem ,cui bono', zu einem solchen machen. Und in der Verklärung des Todes verkennt Heynicke auch die Radikalität des Prinzips Hoffnung' auf das ungeteilte Glück im Jiic et nunc', das ohne sein großes Äquivalent, den Himmel, auskommen muß: „All-Vater gießt dich in den Strom der Welt, / hinfließend Welle Mensch zu sein. / Erkennend deinen Ursprung ahnen dich die tiefsten Stunden. // Wirf deines Blutes Fackel in den dunklen Fluß des Leidens! / Aus deiner Mutter Schoß gehst du mit Schmerzen in die Welt, / dein letzter Atemzug ist deines letzten Leidens Augenblick. / Stumm öffnet sich das Sternentor. / Du gehst entsühnt aus deinem Menschenweg in neuen Kreis" (D.n.A., S. 95).

b) Vom „Führertum der Seele" zur Volksgemeinschaft' Wo der Identifikationshorizont noch im ,abstrakten Ich' verbleibt, kann noch in der Verklärung das Subjekt — ehemals in der bürgerlichen Utopie auch das Objekt der Emanzipation - sich artikulieren. Indem aber analog der Trivialisierung der klassensprengenden Utopie von .universaler Freiheit' in der inflationär und stereotyp nichts und alles besetzenden Metaphorik der kosmischen Entgrenzung auch die Transformation des sanktifizierten ,Ich' in den naturhaft-organischen Topos ,Volk' vollzogen wird — in der Konsequenz der Reduktion von Utopie auf die Hypostasierung einer ,beseelten Substanz' nur geradlinig —, indem entgegen der Soziabilität der Klassenhierarchie die Reduktion auf biologische Konstanten statt der Kritik gesellschaftlicher Divergenzen betrieben wird, entsteht im Ansatz die „Erneuerung des hymnischen Stils aus dem Mythus des Volkes": 8 7

87 Ernst Retschek, Die Erneuerung des hymnischen Stils aus dem Mythus des Volkes. Zur hymnischen Lyrik des nationalsozialistischen Aufbruchs, Reichenberg 1941 (= Prager Deutsche Studien, begründet von Carl v. Kraus und August Sauer, hg. von Ernst Schwarz und Erich Trunz, 51. Heft).

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Volk Mein Volk, blüh ewig, Volk. Strom, ausgespannt von Mitternacht zu Mitternacht, Strom, groß und tief von Meer zu Meer, aus deiner Tiefe stürzen Quellen, urewig speisend dich, das Volk. Mein Volk, blüh ewig, Volk. Du träumst dir Zukunft an die Brust. Einst wird kein Tag mehr deinen Traum zerschlagen, Die Berge deiner Seele werden in den Himmel ragen und uns erheben, uns, das Volk. Mein Volk. Ich bin ein Baum im Walde Volk. Und meine Blätter speist die Sonne. Doch meine Wurzeln schlafen ihren Schlaf der Kraft in dir, mein Volk. Mein Volk, einst werden alle Dinge knien vor dir. Denn deine Seele wird entfliegen hoch über Schlote, Städte in dein eigenes Herz. Und du wirst blühn, mein Volk. Mein Volk. In Dir. (D.n.A., S.5f.)

Die kontextuelle Offenheit der utopistischen Versatzstücke (zum Beispiel des Topos ,Volk') für eine (faschistoid) völkische ,Blut und Boden'-Rezeption ermöglicht es Retschek, Heynicke in die „Wiedergeburt des deutschen Hymnus aus dem Erlebnis des Weltkrieges"88 einzubeziehen, denn „die hymnisch ausgerichtete Lyrik Max Bartels, Kurt Heyrtickes, das herbere, sich selten hymnisch aufschwingende Lied Brögers und die dem schlichten Volks- und Kirchenliedton nahen 88 Ernst Retschek, Die Erneuerung des hymnischen Stils aus dem Mythus des Volkes, S. 2 4 - 3 2 .

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Verse H. Claudius' führen (...) aus der Arbeiterdichtung über revolutionäres Ethos zum Morgen der nationalen Erhebung." 8 9 Es ist folgerichtig, daß Retschek in der Apologie des „Weihestils im Zusammenhang mit der Entwicklung auf die nationalsozialistische Erhebung des Jahres 1933" auch Heynicke unter das „gläubige Erfassen dessen" subsumieren kann, „was über den greifbaren Dingen steht", weil so Lyrik wieder zur „Feier und Formung der Gemeinschaft als gläubiger Gemeinschaft" werden kann. 9 0 Und es liegt kein so erzwungenes Erbe darin, wenn diese im faschistischen Größenwahn sich erschöpfende Gesinnungsschrift, die den Glauben an die Auferstehung des Volkes zum ,Großdeutschen Reich' als Thema hat, Heynicke positiv gegen die Expressionisten abgrenzen kann, die „eigenwillige mythische Reiche aufbauten" und „sehend die ganze Welt in der hingebenden Liebe zu Gott, der Natur und den Menschen zu umfassen (suchten). Besonders die pazifistisch eingestellten Expressionisten, wesentlich jüdisch beeinflußt, feiern das Ich im All und das Ich in der Masse, in ekstatisch hymnischem Überschwang. Das Ich verflüchtigt sich ins All oder besingt alle Widerlichkeiten und das Materiellste als höchsten Ausdruck brüderlichen Einsseins." 91 Die auf Verdrängung realer Willkür-Herrschaft und deren Legitimation, ja Mystifikation ausgerichtete Rezeptionssituation und die semantische Offenheit der utopistischen Klischees Heynickes für beliebige Kontexte erklären die unmittelbare ideologische Verwertung einer solchen Lyrik. Es gibt in Heynickes Gedichten keine kritischen Sperren, welche die Funktionalisierung der Texte für reaktionärste Apologien verhindern könnten. Daß bei Heynicke die Metaphorik der kosmischen Entgrenzung als durchgehende utopistische Valenz nicht das ,Ich im All' auflöst, sondern tendenziell die Individuen jenseits der Klassen zum Volkskörper mystifizierend vereinigt, belegt auch der letzte — gegenüber „Rings Fallen Sterne" (1917); „Gottes Geigen" (1918); 89 Ernst Retschek, Die Erneuerung des hymnischen Stils aus dem Mythus des Volkes, S. 29 f. 9 0 Ernst Retschek, Die Erneuerung des hymnischen Stils aus dem Mythus des Volkes, S. 9. 91 Ernst Retschek, Die Erneuerung des hymnischen Stils aus dem Mythus des Volkes, S. 27.

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„Das namenlose Angesicht" (1919) —, noch in den Expressionismus gehörende Gedichtband „Die hohe Ebene" (1921). 92 Im „Lied der Armen" (D.h.E., S.40) wird aus der Erlösungssehnsucht schon der ,Führerkult' antizipierbar: „O, daß Einer käme mit jubelnder Fackel / und schenkte uns wieder Licht. / Aber die Erde dreht sich höhnisch vorbei" (D.h.E., S.40) und im „Sturmgesang" (D.h.E., S. 52) die Grenze zur völkischen Ideologie überschritten: „Wir waren verschüttetes Laub im Herbst. / Volk! / Wir sind jetzt Frühling und dampfende Scholle, / Volk" - „Besinne dich, Volk! / Erblühe und sei! / Erlöse dich selbst! / Dann ist es Mai!" (D.h.E., S. 52).

„Als Lyriker verstummte Heynicke nach 1933 für die literarische Öffentlichkeit, weil er sich nicht an die Blut- und Bodenlyrik, die Marsch- und Hurrapoesie des Dritten Reiches anpassen konnte. Er wich auf das Gebiet des Erzählens aus und schrieb heitere Romane mit ernstem Untergrund; auf diesem Wege versuchte er, sein Menschheitsideal in kleinerer Münze für den Alltag des geschundenen Menschen nutzbar zu machen." 9 3 Bruno Berger interpretiert in seinem biographischen Abriß allerdings erstaunlich frei, obwohl doch die lückenlose Bibliographie von Hedwig Bieber im selben Band mitgeliefert wird. 1936 erscheint der Gedichtband „Das Leben sagt Ja" und 1941 die dritte, vermehrte und veränderte Auflage des Bandes „Die hohe Ebene". 94 Festzuhalten bleibt, daß die beiden Gedichtbände 1936 und 1941 erschienen sind: im faschistischen Deutschland, und daß „für den Alltag des geschundenen Menschen" zum zweiten Mal die ,Kunst' den Ersatz für das wirkliche Glück bereitstellen mußte; der idyllische Fluchtraum die schamlose Herrschaft des Nationalsozialismus kompensieren half, anstatt die protestation gegen das wirkliche Elend' zu betreiben: „Herz, wo liegst du im Quartier? Ein heiterer Roman" 92 Kurt Heynicke, Die hohe Ebene. Gedichte, Berlin 1921; zitiert im folgenden als D.h.E. 93 Bruno Berger, Kurt Heynicke, in: Dichter und Denker unserer Zeit, S. 1 1 17; Z i t a t s . 13. 94 Hedwig Bieber, Kurt Heynicke-Bibliographie, in: Dichter und Denker unserer Zeit, S. 1 9 - 4 6 ; vgl. hier S. 20.

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(1938), 95 „Der Baum, der in den Himmel wächst. Ein heiterer Roman" ( 1 9 4 0 ) 9 6 und „Rosen blühen auch im Herbst" (1942). 9 7 Wo die triviale und gefährliche Sehnsucht nach einer heilen Welt, nach Erlösung im Kollektiv und in Geborgenheit, in mystizistischirrationaler Größe scheinbar Wirklichkeit wird, wo der falsche Schein im Gewände der ,Kunst' von 1921 nach 1933 mit dem alltäglichen Leben zusammenfällt, braucht 1941 nur das Faktische, der Traum von einst, bestätigt zu werden. Dann aber verkommt die Kunst zum idyllisierenden, heiteren Décor der Barbarei, wenn sie nicht die prinzipielle Differenz zu dem im Bewußtsein aufrecht erhält, was jenseits der Apologie oder stillen Duldung von Unterdrückung, Terror, Größenwahn: von nicht legitimierter Herrschaft liegt. Heynickes Weg in die Verfertigung des ,heiteren Décors' für den Faschismus war weder tragisch noch existentiell erzwungen: er hatte seine Wurzeln.

95 Kurt Heynicke, Heiz, wo liegst du im Quartier? Ein heiterer Roman, Stuttgart 1938. 96 Kurt Heynicke, Der Baum, der in den Himmel wächst. Ein heiterer Roman, Stuttgart 1940. 97 Kurt Heynicke, Rosen blühen auch im Herbst, Stuttgart 1943.

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Litera turverzeichnis

I Quellen (primär) René Schickele, Sommernächte. Gedichte, Strafeburg 1902. Rene' Schickele, Pan. Sonnenopfer der Jugend, Straßburg 1902. René Schickele, Der Ritt ins Leben, Stuttgart/Berlin/Lcipzig 1906. René Schickele, Weiß und R o t . Cedichte, 2., veränderte und vermehrte Aufl. Berlin 1920 (die erste Auflage erschien Leipzig 1911). René Schickele, Die Leibwache, Berlin 1914. E m s t Stadler, Praeludien, Straßburg 1905. Ernst Stadler, Der A u f b r u c h . Gedichte, Leipzig 1914. Ernst Stadler, Dichtungen. Gedichte und Übertragungen mit einer Auswahl der kleinen kritischen Schriften und Briefe. Hingeleitet, textkritisch durchgesehen und erläutert von Karl Ludwig Schneider, Hamburg o.J. < 1954>, Lrster Band: Das Leben und die Dichtung Ernst Stadlers, Zweiter Band: Kleinere kritische Schriften, Rezensionen und Essays. E m s t Wilhelm Lötz, Und schöne Raubtierflecken ..., Ein lyrisches Flugblatt, Berlin-Wilmersdorf 1913. Ernst Wilhelm Lötz, Wolkenüberflaggt. Gedichte, Leipzig 1917 (=Band 36 der Bücherei „Der jüngste Tag"). Ernst Wilhelm Lötz, Prosaversuche und Feldpostbriefe. Aus dem bisher unveröffentlichten Nachlaß, hg. von Hellmut Draws-Tychsen, München 1955. Horst W. Müller, Richard Dehmel und Ernst Wilhelm Lötz. Mit zwei erstveröffentlichten Lotz-Briefcn an Dehmel, in: Jahrbuch der deutschen Schillergcsellschaft, 12. Jg.