Der Poststalinismus: Ideologie und Utopie einer Epoche 9783412506490, 9783412505264

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Der Poststalinismus: Ideologie und Utopie einer Epoche
 9783412506490, 9783412505264

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Der Poststalinismus

Zeithistorische Studien Herausgegeben vom Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam Band 57

Pavel Kolář

Der Poststalinismus Ideologie und Utopie einer Epoche

2016 BÖHLAU VERLAG KÖLN WEIMAR WIEN

Pavel Kolář ist Professor für Vergleichende und Transnationale Geschichte am Europäischen Hochschulinstitut in Florenz.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://portal.dnb.de abrufbar.

Umschlagabbildung: Die Karlsbrücke in Prag vom Kreuzherrenplatz, ca. 1962–1965 (Foto: Marie Šechtlová; Digital Archive of Šechtl & Voseček Studios, Prag)

© 2016 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln Weimar Wien Ursulaplatz 1, D-50668 Köln, www.boehlau-verlag.com Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Lektorat und Satz: Waltraud Peters, Potsdam Druck und Bindung: Strauss, Mörlenbach Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier Printed in the EU ISBN 978-3-412-50526-4

Inhalt

Einleitung .............................................................................................................................. 7 Die Geburt des Poststalinismus ............................................................................... 10 Die Utopie von unten ................................................................................................ 14 Gliederung des Buches ............................................................................................... 22 I.

Nach Stalins Tod: Die Revolution der Tatsachen ............................................. 27 Chruschtschows Historical Turn............................................................................. 30 Welch ein Galimathias! Die Geheimrede unter den Parteimassen.................. 41 Die Archivratten schlagen zurück ........................................................................... 52 Geschichte zwischen Ideologie und Authentizität .............................................. 67

II.

Die Partei macht Geschichte ................................................................................. 91 Im Kampf gegen den Personenkult......................................................................... 94 Die Partei als Demiurg.............................................................................................109 Das Dilemma der Diktatur und der Gewalt........................................................122

III. Die Nation: mit oder gegen die Partei?...........................................................143 Der Kampf der Meistererzählungen: Nation gegen Klasse ..............................147 Die Partei für die Nation retten! ...........................................................................158 Zwischen Klasse, Volk und Heimat ......................................................................177 Überlappende transnationale Parteigeschichten................................................188 IV. Die Feinde der Partei ............................................................................................. 201 Der Feind schläft nie ................................................................................................207 Die inneren Feinde ...................................................................................................219 Das Feindbild des Zionismus .................................................................................237 V. Die Sehnsucht nach dem Goldenen Zeitalter ............................................... 255 Der Verlust der Linearität .......................................................................................259 Die Rehabilitierung des Gedächtnisses ................................................................270 Die Geborgenheit der Vergangenheit...................................................................290 Die Zukunft funktioniert noch nicht...................................................................301

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Inhalt

Epilog: Der diskrete Charme der Ideologie ............................................................317 Rituale der Macht – Macht der Rituale ...............................................................318 Die Sprache zwischen Wahrheit und Lüge .........................................................320 Der ideologische Konsens ist überall ....................................................................324 Von programmatischer zu prozessualer Utopie .................................................328

Quellen- und Literaturverzeichnis.................................................................................331 Anmerkung zu Ortsnamen, zur Übersetzung und zur Transkription ..................361 Abkürzungsverzeichnis ....................................................................................................363 Danksagung ........................................................................................................................365 Personenregister.................................................................................................................367

Einleitung

„Die Geschichte der KPdSU ist die Geschichte des Sturzes des Zarismus, des Sturzes der Macht der Gutsbesitzer und der Kapitalisten, die Geschichte der Zerschmetterung der auswärtigen bewaffneten Intervention während des Bürgerkrieges, die Geschichte des Aufbaus des Sowjetstaates und der sozialistischen Gesellschaft in unserem Lande.“ (Geschichte der KPdSU (B). Kurzer Lehrgang,1938)1 „Die Geschichte der Partei ist die Geschichte unserer Revolution. Das ist die Geschichte vom Steigen und Fallen der Revolutionswelle, von Siegen und Niederlagen, von Schwankungen und großen Umwegen, von Konflikten und Ideenkämpfen gegen die Feinde des Leninismus, von Bündnisschlüssen, von taktischen Wenden. Das ist die Geschichte eines ungewöhnlich komplizierten und widerspruchsvollen Weges.“ (Nová mysl, Theoretische Zeitschrift der KSČ, April 1956)2

Der Kommunismus ist Geschichte. So sehr diese Feststellung stimmt, ist sie nicht selbstverständlich, zumal die Redewendung „Geschichte sein“ in diesem Zusammenhang eine mehrfache Bedeutung trägt. Zum einen, der historische Kommunismus besteht nicht mehr, weder als reales Herrschaftssystem in Osteuropa noch als eine ausschlaggebende politische Bewegung in Westeuropa. Der Kommunismus ist deshalb „Geschichte“, weil er offenbar keine Zukunft hat: Es gibt im heutigen Europa keine bedeutenden Zukunftsvorstellungen, die sich auf irgendeine Form von Kommunismus berufen würden. Dennoch bleibt die Idee von der „Geschichtlichkeit“ des Kommunismus im Sinne seiner zeitlichen Abgeschlossenheit irritierend. Es ist nach wie vor schwer, unter den Kommunismus einen „dicken Strich“ zu ziehen und eine absolute moralische Distanz zu ihm aufzubauen, wie es mit dem Faschismus und dem Nationalsozialismus der Fall gewesen ist. Der Kommunismus erscheint nicht als geschichtlich abgeschlossen, auch weil er kaum mit Tabus belegt ist. Man darf über den Kommunismus lachen, und viele Anekdoten aus der Zeit vor 1989 gelten noch heute als witzig. Und das, worüber man lachen kann, ist nie tot, verweisen doch Ironie und Persiflage darauf, dass das Verspottete wieder aufleben kann, ja sie erhalten oft eine Prise Sympathie gegenüber dem Verspotteten. Das Unbehagen mit der Geschichtlichkeit des Kommunismus wird zusätzlich dadurch gesteigert, dass gerade die kommunistische Doktrin den Begriff der Geschichte, diesen Grundstein der westlichen Moderne, viel deutlicher in den

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Geschichte der KPdSU (B). Kurzer Lehrgang, 13. Auflage, Berlin 1952, S. 6. Dějinná cesta KSČ, in: Nová mysl 10, 1956, Nr. 5, S. 402–409, S. 406.

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Einleitung

Vordergrund stellte als andere Ideologien.3 Sowohl die Theorie als auch Praxis des Kommunismus basierten auf einer spezifischen Vorstellung des geschichtlichen Prozesses. Von den Begründern des „wissenschaftlichen Kommunismus“ Marx und Engels bis zu den Hinterbliebenen des „Realsozialismus“ im späten 20. Jahrhundert glaubten die Kommunisten daran, als die Einzigen den gesetzmäßigen Gang der Geschichte „wissenschaftlich“ begriffen und ihr Handeln diesen Gesetzen so angepasst zu haben, dass die Entstehung einer sozial gerechten Gesellschaft möglich würde. Sie glaubten, dass alles geschichtlich und daher gestaltbar sei; dass aufgrund des richtigen Begreifens der historischen Gesetze sich die Geschichte durch entsprechendes Handeln beschleunigen lasse;4 dass jedes Individuum und jede gesellschaftliche Erscheinung einen geschichtlichen Zweck zu verfolgen hätten. Das Denken und das Handeln der Kommunisten war von ihrem Glauben an die Zukunftsutopie der herrschaftsfreien Gesellschaft bestimmt – einer Utopie, die aus ihrer Sicht gerade keine Utopie im üblichen Sinne als etwas „Unrealistisches“ war, sondern das unausweichliche, „wissenschaftlich“ nachgewiesene Ergebnis der Geschichte. Die gesamte Vergangenheit zerfiel somit in bloße Vorgeschichte, die in allen ihren Äußerungen dem finalen Zweck der Geschichte – dem „Königreich der Freiheit“ – untergeordnet war.5 Wie es Reinhart Koselleck treffend ausdrückte, wurde in der kommunistischen Geschichtslehre die Erfahrung von der Erwartung „vollends geschluckt“.6 Neben der radikalen Beschleunigung der Geschichte bestand die Einzigartigkeit des Kommunismus in der Überzeugung von der vollständigen Zwangsläufigkeit des historischen Prozesses. Kommunist im 20. Jahrhundert zu sein bedeutete zu glauben, dass es kein anderes sinnvolles Leben gebe als eben Kommunist zu sein, denn der Fortschritt der Geschichte hin zum kommunistischen 3

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Stefan Plaggenborg bezeichnete die Idee vom „Vollzug von Geschichte“ als das konstitutive Element der Moderne und plädierte für eine ganzheitliche Betrachtung des Kommunismus und der westlichen Entwicklung. Stefan Plaggenborg, Experiment Moderne. Der sowjetische Weg, Frankfurt a. M. 2006, S. 7. Zum Zusammenhang zwischen der Entfernung des Ziels und dem Tempo der Erzählung siehe Lucian Hölscher, Die verschobene Revolution. Zur Generierung historischer Zeit in der deutschen Sozialdemokratie vor 1933, in: Wolfgang Hardtwig (Hg.), Utopie und politische Herrschaft im Europa der Zwischenkriegszeit, München 2003, S. 219–231. Hölscher charakterisiert moderne Geschichte als „Produktion historischer Zeit“, ebenda, S. 230. Andrzej Walicki, Marxism and the Leap to the Kingdom of Freedom. The Rise and Fall of the Communist Utopia, Stanford 1995. Reinhart Koselleck, Geschichte, Historie, in: Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 2, Stuttgart 1975, S. 593–717, S. 705. Siehe auch Martin Sabrow, Chronos als Fortschrittsheld. Zeitvorstellungen und Zeitverständnis im kommunistischen Zukunftsdiskurs, in: Igor Polianski/Matthias Schwartz (Hg.), Die Spur des Sputnik. Kulturhistorische Expeditionen ins kosmische Zeitalter, Frankfurt a. M. 2009, S. 117–134.

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Idealzustand sei unabwendbar. Das menschliche Leben habe aus dieser Sicht nur dann einen Sinn, wenn es im Einklang mit dem objektiven Gang der Geschichte abläuft. Auch wenn die Stärke dieser Überzeugung in den verschiedenen Phasen des europäischen Kommunismus schwankte und besonders nach den einzelnen Erschütterungen wie 1956 und 1968 bezweifelt wurde, blieb die Vorstellung des „dabei sein zu müssen“ und „mit dem Kollektiv zu marschieren“ für die Kommunisten bis zum bitteren Ende im späten 20. Jahrhundert prägend. Den Höhepunkt erreichte die kommunistische Zukunftssicherheit im Stalinismus. Wie Jochen Hellbeck in seiner Studie über das Tagebuchschreiben in Stalins Sowjetunion zeigte, wurde die Sehnsucht der jungen Kommunisten, ihre Biographien in die große Geschichte der sowjetischen Revolution einzuschreiben, zum Kern der kommunistischen Subjektivität.7 Auch wenn dieser Eifer nach Stalins Tod nachließ, blieb der Wille, sich dem überpersönlichen Kollektiv zu unterwerfen, für das kommunistische Selbstverständnis weiterhin zentral. Und während die heutzutage vorherrschende Interpretation des Kommunismus als „Niedergang“ gerade das Stalinsche Geschichtsverständnis als das „eigentlich Kommunistische“ am Kommunismus darstellte, sei im poststalinistischen „Realsozialismus“ dieser Kern der kommunistischen Identität allmählich zerbröckelt, um schließlich dem „opportunistischen“ Verhalten den Weg zu ebnen. An den „echten Kommunismus“ habe nach 1956 kaum jemand mehr geglaubt. Gerade über die poststalinistische Denkwelt der Kommunisten wissen wir aber sehr wenig. Die meisten Diskussionen in der historischen Kommunismusforschung sind nach wie vor durch ein bipolares Verständnis der kommunistischen Subjektivität beherrscht. Diesem zufolge wurde das Engagement der Kommunisten im Stalinismus durch „ideologischen Fanatismus“ vorangetrieben, den im Realsozialismus Anpassung und Karrierismus der Parteimitglieder ersetzten. Man versteht diese entgegengesetzten Haltungen als zwei Sinnwelten, zwischen denen es keine Überschneidungen gab. Dabei haben neuere Studien sowohl über den Stalinismus (Sarah Davies) als auch über den Spätsozialismus (Alexei Yurchak) die Eindeutigkeit der Haltungen bezweifelt und ihren widersprüchlichen und ambivalenten Charakter hervorhoben. Die Ablehnung eines Aspekts der offiziellen Politik des Regimes war durchaus kompatibel mit der Unterstützung eines anderen Aspekts.8 Dieses Buch wendet sich der poststalinistischen „Zwischenphase“ des Kommunismus zu, indem es den Wandel der kommunistischen Sinnwelten nach dem Zerfall der geschichtsoptimistischen Aufbauvision des Stalinismus Mitte der 7 8

Jochen Hellbeck, Revolution on My Mind, Cambridge, Mass. 2006. Sarah Davies, Popular Opinion in Stalin’s Russia. Terror, Propaganda and Dissent, 1934– 1941, Cambridge 1997, S. 6; Alexei Yurchak, Everything Was Forever, Until It Was No More. The Last Soviet Generation, Princeton 2006.

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fünfziger Jahre untersucht. Im Mittelpunkt steht die Frage, wie sich die kommunistischen Vorstellungen vom Zweck der Geschichte und ihre utopische Dimension nach 1956 veränderten. Was geschah mit den utopischen Energien, die die kommunistische Mentalität unter Stalin dominiert hatten, wie wurden die utopischen Visionen nach der Erschütterung von 1956 umgedeutet und neu konstruiert? Über die Kommunismusforschung hinausgehend will ich die allgemeine Frage beleuchten, wie moderne Herrschaftsregime Krisen überwinden und einen neuen Konsens etablieren. Meine Ausgangsthese ist, dass mit dem Ende des Stalinismus die kommunistische Utopie nicht verschwand, sondern sich wandelte: Die radikale Zukunftsvision, die auf der Vorstellung der unumkehrbaren, linearen Geschichte gründet, machte einer prozessualen Utopie Platz, die auf räumlich wie zeitlich fragmentierten Erzählungen basierte und neben der Zukunftsvision die Idee der „Rückkehr“ in den Vordergrund stellt. Diese prozessuale Utopie bildete das Fundament einer eigenartigen poststalinistischen Sinnwelt.

Die Geburt des Poststalinismus Als die Gründungsmomente des Poststalinismus gelten die Umbruchereignisse des Jahres 1956: der XX. Parteitag der KPdSU mit der „Geheimrede“ Chruschtschows, der „polnische Oktober“ mit der Rückkehr Gomułkas an die Macht, sowie der Ungarnaufstand. Sie leiteten eine epochemachende Wende in der Geschichte des europäischen Kommunismus ein. Nicht nur Losungen wie „Kritik des Personenkultes“, „friedliche Koexistenz“ oder „nationale Wege zum Sozialismus“ etablierten sich. Zugleich wurde auch das stalinistische Geschichtsmodell, das auf dem Wirtschaftsdeterminismus und dem Klassenkampf basierte, in Frage gestellt.9 François Furet bezeichnete das Jahr 1956 als den „Anfang vom Ende“ des Kommunismus und legte somit eine teleologische Deutung der Kommunismusgeschichte als eine „schwindende Illusion“ (le passé d’une illusion) vor.10 Ohne die Fruchtbarkeit dieser Interpretation in Frage stellen zu wollen, strebe ich hier eine andere Perspektive an. Das Umbruchsjahr von 1956 betrachte ich nicht nur als den Anfang vom Ende, sondern zugleich als den Beginn einer neuen, mehr als drei Jahrzehnte andauernden Ära des europäischen Kommunismus. Einige Abschnitte des „Realsozialismus“ zeichneten sich dabei durch eine bemerkens9 Vgl. Roger D. Markwick, Rewriting History in Soviet Russia. The Politics of Revisionist Historiography 1956–1974, Hampshire 2001; Polly Jones, Myth, Memory, Trauma. Rethinking the Stalinist Past in the Soviet Union, 1953–1970, New Haven 2013, S. 57ff. 10 François Furet, Das Ende der Illusion. Der Kommunismus im 20. Jahrhundert, München 1996.

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werte Stabilität aus, zum Beispiel die sogenannte „kleine Stabilisierung“ der Gomułka-Ära in Volkspolen, Husáks „Konsolidierung“ in der Tschechoslowakei nach 1969, der Großteil der Kádár-Zeit in Ungarn oder Honeckers „entwickelter Sozialismus“ in der DDR. Aus dieser langfristigen Perspektive erscheint das Jahr 1956 nicht als ein Endpunkt, sondern vielmehr als ein Übergangsmoment von einer Form kommunistischer Herrschaftslegitimation zu einer anderen. Es wandelte sich nicht nur das Verhältnis zwischen den herrschenden Parteien und der Gesellschaft, vor allem infolge der Beendung der exzessiven Gewalt, der Liberalisierung des Kulturlebens und der Verstärkung der Konsumpolitik. Auch der Legitimitätsglaube der Kommunisten selbst unterlag einem tiefen Wandel. Ungeachtet der fortbestehenden sowjetischen Machtpräsenz, die den Status Quo in Osteuropa sicherte, sahen sich die herrschenden Staatsparteien nach 1956 dazu gezwungen, nach neuen Identitätsbildern zu suchen, die eine Alternative zum Stalinschen Modell darstellen würden. Der Poststalinismus war damit, wie ich zeigen werde, viel komplexer als ein einfacher Übergang vom „utopischen Sozialismus“, der sich nach dem Stalinschen Imperativ des forcierten Anstrebens des kommunistischen Zielzustandes richtete, zum „Realsozialismus“, der sich scheinbar nur an den weltlichen Bedürfnissen orientierte und die kommunistische Idealvision beiseite schob. Auch der „Realsozialismus“, wie jedes Herrschaftssystem, erforderte einen die Gegenwart überschreitenden utopischen Erzählrahmen. Eine solche Perspektive macht es erforderlich, über den Begriff der Utopie zu reflektieren. Der tschechische Literaturwissenschaftler Vladimír Macura unterscheidet in seinem Buch Das glückliche Zeitalter zwischen zwei Bedeutungen der Utopie: Neben der in die Zukunft verlagerten Idealvision des Kommunismus, die sich in der Literatur, den bildenden Künsten und der Wissenschaft widerspiegelte, gab es auch eine „gelebte Utopie“ (žitá utopie), die auf der Überzeugung fußte, dass die Zukunft bereits vorhanden ist und man sie selbst gestalten kann.11 Dadurch verschwimmt die Grenze zwischen der Gegenwart und der Zukunft. War diese „Aufhebung“ der Gegenwart charakteristisch für die optimistische Frühphase des Staatssozialismus, so deutet sie eine Spannung zwischen Zukunft und Gegenwart an, die für den Sinn der Utopie im Allgemeinen von Bedeutung ist. Mit diesem Argument wird nämlich die Auffassung des Utopismus in Frage gestellt, die ihn auf abstrakte, statische Modelle des „perfekten Zustandes“ begrenzt, die von sozialen Eliten konstruiert und der „unordentlichen Wirklichkeit“ auferlegt wurden.12 Utopie ist in diesem Verständnis kein normativer Blueprint, den der folgende Verlauf der Geschichte entweder bestätigt oder widerlegt. Tatsächlich war die frühe Phase der kommunistischen Herrschaft in der Sowjetunion der 11 Vladimír Macura, Šťastný věk (a jiné eseje o socialistické kultuře), Praha 2008, S. 14ff. 12 Michael Gardiner, Critiques of Everyday Life, London 2000, S. 17.

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zwanziger und im Osteuropa der frühen fünfziger Jahre in vielen Bereichen von einer Welle utopischer Visionen überflutet, die sich auf die Gesellschaftsordnung, Privatbeziehungen, die Raumordnung und Architektur oder die Beherrschung der Natur bezogen.13 Es wird oft argumentiert, dass gerade mit dem Jahr 1956 diese kommunistische Utopie und die auf ihr basierende kommunistische Identität kollabierte. Nach Andrzej Walicki, neben Furet einem der eloquentesten Vertreter der These vom zwangsläufigen Niedergang des Kommunismus, befand sich die kommunistische Identität seit 1956 in der Defensive, so dass der Weg für einen „nichtideologischen Pragmatismus“ seitdem frei war: „Die marxistische Zivilisation“, so Walicki, „brach zusammen, weil sie die unvermeidliche Schwächung des ideologischen Eifers nicht überwinden konnte.“14 So gesehen resultierten die poststalinistischen Reformen aus dem schmerzhaften Prozess der „Ent-Utopisierung“, was zum Verlust der kommunistischen Identität geführt habe.15 Ähnlich wie Walicki sieht auch Vladimir Tismăneanu im Jahr 1956 und der Entstalinisierung eine Öffnung für die – angeblich bereits vorher latent existierenden – Häresien und die Erosion des „ideologischen Kitts“, der für das Bestehen des Herrschaftssystems unentbehrlich sei.16 Unlängst schlossen sich auch Stephen Kotkin und Jan T. Gross dem Furetschen Niedergangs-Paradigma vom naturgesetzlich verlaufenden Verfallsprozess an, indem sie den Zusammenbruch des Systems ausschließlich auf die moralische Verarmung der Herrschenden, der „unzivilen Gesellschaft“ (uncivil society), zurückgeführt haben.17 Alle diese linear aufgebauten Deutungen verbindet die Vorstellung vom „Glaubwürdigkeitsverlust“ der kommunistischen Ideologie nach 1956, der durch die Einführung neuer „ErsatzIdeologien“ – allen voran des „Nationalkommunismus“ und des „humanen Sozialismus“ – kompensiert werden musste. Diese Deutung greift aber deshalb zu kurz, weil sie die Ideologie durchaus altmodisch als Kaschierung betrachtet, die ganz in der Tradition der Marxschen Deutschen Ideologie die „tatsächlichen Verhältnisse“, das heißt das „Legitimitätsdefizit“ der kommunistischen Herrschaft zu verschleiern hatte. Die „Ideologie“ hat aus dieser Sicht bloß eine kompensierende, keine produktive Rolle. Während 13 Richard Stites, Revolutionary Dreams. Utopian Vision and Experimental Life in the Russian Revolution, Oxford 1990; Karl Schlögel, Utopie als Notstandsdenken – einige Überlegungen zur Diskussion über Utopie und Sowjetkommunismus, in: Hardtwig, Utopie und politische Herrschaft, S. 77–96. 14 Walicki, Marxism, S. 497. 15 Ebenda, S. 504. 16 Vladimir Tismăneanu, The Crisis of Marxist Ideology in Eastern Europe. The Poverty of Utopia, London 1990, S. 114. 17 Stephen Kotkin, Uncivil Society. 1989 and the Implosion of the Communist Establishment, New York 2009.

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diese „ideologische Manipulation“ unter Stalin noch gut funktionierte, so die These, waren die oben genannten „Ersatz-Utopien“ nicht imstande, integrativ zu wirken, vor allem weil sie das utopische Ziel vermissen ließen. Hierzu nochmal Tismăneanu: „Ideologie liefert die Masken, die für die Perpetuierung der historischen Travestie, genannt ‚Sozialismus vom sowjetischen Typ‘ notwendig sind.“18 Ob ein Herrschaftssystem mehr als drei Jahrzehnte lang nur dank „Masken“ existieren kann, ist durchaus fraglich. Eine weitere, und bedeutendere Schwierigkeit besteht jedoch darin, dass der eng verstandene Begriff der Utopie als eine von oben festgeschriebene, ideologische Programmatik, an die entweder geglaubt wird oder nicht, wenig zu der Frage beiträgt, warum die meisten Menschen, und vor allem die Kommunisten, nach Stalin noch so lange „mitmachten“. Bereits auf den ersten Blick sieht man, dass einige Aspekte der Utopie aus der kommunistischen Denkwelt nach 1956 nicht verschwanden. Der Chruschtschowsche Impetus trug radikalutopische Züge, sei es in den wirtschaftlichen Planungsvorstellungen oder im Fortschrittsoptimismus der wissenschaftlich-technischen Revolution. Den Höhepunkt erreichte diese neue Utopiewelle (zusammen mit einer neuen Antistalinismus-Kampagne) mit dem XXII. Parteitag der KPdSU von 1961, auf dem der sowjetische Parteiführer das baldige Erreichen des Kommunismus offiziell verkündete.19 Auch bei den Satellitenstaaten, vor allem der DDR und der Tschechoslowakei, stieß dieser Impuls auf starke Resonanz. Im Jahr 1960 haben die tschechoslowakischen Kommunisten das Adjektiv „sozialistisch“ in den Staatsnamen eingefügt, um die imaginäre Annäherung an den kommunistischen Zielzustand zu verdeutlichen. In der DDR brach, so Martin Sabrow, die fortschrittsoptimistische Euphorie des „Aufbruchs in die Zukunft“ erst in den ausgehenden sechziger Jahren zusammen, um durch eine verstärkte Gegenwartsbis sogar Vergangenheitsorientierung des Honeckerschen „entwickelten Sozialismus“ ersetzt zu werden.20 Ich will mich der Frage widmen, inwieweit diese utopische Energie, die die offizielle Programmatik unter Chruschtschow noch durchdrang, sich im Denken und Handeln „der Vielen“ widerspiegelte. Im Mittelpunkt steht die Frage, wie sich 18 Tismăneanu, The Crisis of Marxist Ideology, S. 67. 19 William Taubman, Khrushchev. The Man and His Era, New York 2003, S. 507–528; David Crowley/Susan E. Reid, Introduction, in: Dies. (Hg.), Socialist Spaces. Sites of Everyday Life in the Eastern Bloc, Oxford 2002, S. 1–22, hier S. 11. 20 Martin Sabrow, Zukunftspathos als Legitimationsressource. Zu Charakter und Wandel des Fortschrittsparadigmas in der DDR, in: Heinz-Gerhard Haupt/Jörg Requate (Hg.), Aufbruch in die Zukunft. Die 1960er Jahre zwischen Planungseuphorie und kulturellem Wandel. DDR, ČSSR und Bundesrepublik Deutschland im Vergleich, Weilerswist, 2004, S. 165–184; Sigrid Meuschel, Legitimation und Parteiherrschaft. Zum Paradox von Stabilität und Revolution in der DDR 1945–1989, Frankfurt a. M. 1992.

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in den Augen der Kommunisten das Verhältnis zwischen Gegenwart und Zukunft gestaltete, nachdem der normative Blueprint mit seiner radikalen Planungskultur („mit Volldampf der Industrialisierung zum Sozialismus“21) und der absoluten Sicherheit über die Erreichbarkeit des Kommunismus die Geltung verloren hatte. Was geschah, nachdem die Zeitstruktur „Kommunismus als Ziel“,22 die durch menschliches Handeln in Übereinstimmung mit dem objektiven Gang der Geschichte die Denkwelt der Kommunisten weitgehend bestimmte, zerfiel? Was für Folgen hatte für die utopische Mentalität der Kommunisten die Tatsache, dass die Sowjetunion infolge der Zulassung von „nationalen Wegen zum Sozialismus“ nicht mehr als das verbindliche Vorbild für die kommunistischen Parteien in Osteuropa funktionierte, keine „real existierende Utopie“ mehr war? All diese Fragen betreffen das Schlüsselthema des Verhältnisses zwischen der zukunftsorientierten Programmatik und der gegenwartsorientierten Prozessualität. In anderen Worten, mich interessiert die sich ändernde Beziehung zwischen Programm und Prozess, zwischen Endziel und Weg.

Die Utopie von unten Mit dem Begriff der Prozessualität knüpfe ich an das Verständnis der Utopie an, das um 1956 vor allem im Umkreis der marxistischen „Revisionisten“ entstanden ist. Ernst Bloch kritisierte den teleologischen Geschichtsbegriff des Stalinismus als eine „von Blatt zu Blatt schreitende Lektüre eines längst beendeten Manuskriptes“ und plädierte dagegen für eine Auffassung der Geschichte als „offene ProzessMöglichkeit“.23 In diesem neuen Geschichtsverständnis ist die Utopie stets das Vorhersehen dessen, was „noch nicht ist“, eine der menschlichen Natur eigene „Tendenz zu Etwas“, zu einem Ziel, das jedoch nie erfüllt wird. Bloch macht eine wichtige Unterscheidung zwischen „abstrakter“ und „konkreter“ Utopie: während die erstere auf eine kompensatorische Fantasie begrenzt ist (und somit die Zukunft nicht unbedingt ändern muss), besitzt die letztere einen Transformationscharakter und formt das menschliche Handeln.24 In eine ähnliche Richtung wie Bloch argumentierte fast zu gleicher Zeit auch Michail Bachtin. In seinen Studien zur mittelalterlichen Karnevalkultur arbeitete er die subversive, 21 22 23 24

Plaggenborg, Experiment Moderne, S. 89. Ebenda, S. 94. Ernst Bloch, Subjekt-Objekt. Erläuterungen zu Hegel, Berlin 1952, S. 215ff. Somit erinnert Blochs Unterscheidung von abstrakter und konkreter Utopie an Karl Mannheims Begriffspaar von Ideologie und Utopie. Vgl. Ruth Levitas, Educated Hope. Ernst Bloch on Abstract and Concrete Utopia, in: Utopian Studies 1, 1990, Nr. 2, S. 13– 26, hier S. 17f.

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antiautoritäre Seite der utopischen Imagination heraus, die die sozialen Unterschichten gegen die herrschenden Klassen richteten.25 Gerade in den Rabelaischen grotesken Bildern, so Bachtin, konkretisiert sich die Utopie, indem sich der visionäre Universalismus mit konkreten Praktiken im Alltag verbindet.26 Das Utopische versteht Bachtin keineswegs als eine „totale Utopie“, die darauf abzielt, die bunte Wirklichkeit in ein homogenes sinnweltliches Ganzes ohne jede Abweichung einzuschließen. Stattdessen hebt er die widersprüchlichen Aspekte der sozialen Welt sowie die Unabgeschlossenheit des menschlichen Handelns hervor, das stets mit mehreren Bedeutungen versehen wird. Utopie muss demnach nicht unbedingt ein statischer Zukunftsentwurf sein. Sie kann ebenso gut als eine skeptische Haltung gegenüber dem Bestehenden auftreten, die vom Glauben an einen stetigen Wandel ohne ein bestimmbares Ziel geprägt wird. Ausgehend von diesem differenzierten Verständnis von Utopie unterscheidet Richard Stites für die Frühgeschichte des bolschewistischen Russlands (1917– 1928) zwischen totalitären Visionen einer statischen, harmonischen, in maschinenartige Prozesse eingeschlossenen sozialen Welt und der „von unten“ kommenden utopischen Praktiken der menschlichen Vervollkommnung, die im Alltagsleben der Vielen entstanden, zum Beispiel im kollektiven Studentenleben oder an der Kriegsfront. Im Einklang mit Bachtin bezeichnet Stites gerade das „praktische Moment“ als das, was die „Utopie“ zu einem untersuchungswerten Gegenstand macht: One must make the distinction between a “mental model” or “blueprint” (utopia) on the one hand and the “practical enactment” or “experiment” (utopian community) on the other. But experiment in this sense is to be sought not only in the isolated subcultures of small groups, but in the vast tableau of revolutionary life itself – from the onset of the Revolution in 1917 up into the Stalinist period when it was drastically transformed into something else.27

Stites differenziert somit zwischen den „genuin utopischen“ zwanziger Jahren mit ihrer Vielfalt an Visionen und Experimenten, und der „administrativen Staatsutopie“ des Stalinismus, für welche die von oben geleitete, gewaltsame Transformation, die Militarisierung der Gesellschaft und die Akzentuierung von Wohlstand und Disziplin charakteristisch waren. Diese Doppeldeutigkeit von Utopie bestand, in sich verändernder Gestalt, über die gesamte Geschichte des Kommunismus hindurch. In den osteuropäischen „Satellitenstaaten“ vollzog sich der Zusammenstoß vom kreativen und 25 Zu Bloch siehe die Diskussion bei Michael Gardiner, Bakhtin‘s Carnival. Utopia as Critique, in: Utopian Studies 3, 1992, Nr. 2, S. 21–49, hier S. 40. 26 Gardiner, Critiques of Everyday Life, S. 66. 27 Stites, Revolutionary Dreams, S. 7.

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administrativen Utopismus anders, etablierte sich hier doch das sowjetische System bereits in seiner spätstalinistischen, überwiegend konservativ-reproduzierenden Form. Trotzdem entfachten sich auch hier Konflikte, vor allem in der Kulturpolitik, zwischen radikal-bolschewistischen Positionen und kulturkonservativen Kräften, die auf die Kontinuität des Kommunismusprojekts mit der jeweiligen Nationalkultur Gewicht legten. Somit befand sich die utopische Imagination der osteuropäischen Kommunisten, die nach dem Zweiten Weltkrieg den „Sozialismusaufbau“ anstrebten, im Spannungsfeld zwischen der zeitlichen Utopie, die sich auf die Fortbewegung in die Zukunft im eigenen Land bezog, und der räumlichen Utopie, die auf das bereits vorhandene Ideal – die Sowjetunion – verwies. Um die von Thomas Kroll ausgearbeitete Unterscheidung aufzugreifen, handelte es sich um eine Zusammenfügung der zeitlich-utopischen (der Bezug auf die nationale Zukunft) und der „sakralen“ Dimension des kommunistischen Glaubens (der Bezug auf die Sowjetunion als Heilsbringer).28 Wie in der Sowjetunion verschmolz auch in den osteuropäischen Diktaturen in der radikalen Phase des „Sozialismusaufbaus“ bis Mitte der fünfziger Jahre die Handlungszeit der Akteure mit der historischen Zeit des „großen Planes“: Die Ankunft des Kommunismus wurde sowohl erwartet als auch nach dem bestehenden sowjetischen Modell aktiv vorangetrieben und „gelebt“. In den bisherigen Darstellungen des osteuropäischen Staatssozialismus fallen zwei Tendenzen auf. Die erste könnte man als chronologische Verzerrung bezeichnen, d. h. die einseitige Akzentuierung der frühen Aufbauphase einerseits und der späteren Untergangsphase andererseits. Die Zeit nach 1956 stand hingegen stets im Schatten des Stalinismus, teleologisch als „Entstalinisierung“ zu einer leeren Übergangsperiode herabgesetzt, die passiv auf bedeutendere Ereignisse wartet. So tritt diese Zeit in der tschechoslowakischen Geschichte als ein Warteraum für den Prager Frühling auf, der wiederum als „der Ausgang, die Vollendung der Prozesse, die in der tschechoslowakischen Gesellschaft in den sechziger Jahren abliefen“, betrachtet wird, wie es der führende tschechische Historiker Karel Kaplan formulierte.29 Auch in der polnischen Kommunismusforschung wurde das sogenannte „mittlere PRL“ (środkowy PRL), d. h. der Zeitabschnitt zwischen 1956 und 1976, in den neueren Diskussionen als ein Forschungsdefizit beklagt, das mit vielen zeitgenössischen Stereotypen belastet ist.30 Diese chronologische Verzerrung geht mit einer interpretativen Verzerrung 28 Thomas Kroll, Kommunistische Intellektuelle in Westeuropa. Frankreich, Österreich, Italien und Großbritannien im Vergleich (1945–1956), Köln 2007, S. 11. 29 Karel Kaplan, Kořeny československé reformy 1968, Brno 2000, S. 7. 30 Jerzy Eisler, Jakim państwem była PRL w latach 1956–1976? in: Pamięć i Sprawiedliwość 2, 2006, Nr. 10, S. 11–23; Marcin Zaremba/Błażej Brzostek, Polska 1956–1976. W poszukiwaniu paradygmatu, in: Pamięć i Sprawiedliwość 2, 2006, Nr. 10, S. 25–37.

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hinsichtlich der Handlungsmotivationen der Kommunisten einher: Während in der Aufbauphase das Handeln der Kommunisten durch ideologischen Fanatismus vorangetrieben wurde, speiste sich im Spätsozialismus das „Mitmachen“ der Parteimitglieder aus Konformismus und zynischer Berechnung. Deshalb nehme ich die Zeit „dazwischen“ ins Visier und versuche, diese erstarrten Gegensätze in Frage zu stellen. Mein Ausgangspunkt ist die tschechoslowakische Erfahrung: Wie kam es, dass die Kommunistische Partei der Tschechoslowakei (KSČ), in den frühen fünfziger Jahren die treueste im Ostblock, mit ihren aggressiven Kampagnen, harten Säuberungspraktiken und einer unbegrenzten Loyalität der Sowjetunion gegenüber, sich innerhalb eines Jahrzehnts in die Partei verwandelte, die den „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“ anstrebte? Die zweite Tendenz in der Forschung besteht in der Reduktion des „Kommunismus“ auf die Herrschaftsgeschichte, die Politik der Parteispitzen und die sie bedienenden Parteiintellektuellen. Dabei wurden „Kommunisten“ entweder als ideologische Fanatiker pathologisiert oder als rein machtorientierte Vollstrecker höherer Aufträge („Transmissionsriemen“) entmenschlicht. In beiden Fällen wurden sie als Subjekte dargestellt, die an sich keine historische Untersuchung wert sind. Dadurch wurden die Mentalität der gewöhnlichen Kommunisten, ihre Lebensentwürfe sowie ihre „Motive der Fügsamkeit“ (Max Weber), also das eigennützige Einvernehmen, beherrscht zu werden, vernachlässigt. Daher wissen wir nicht, wie die Kommunisten jenseits der Politbüros über den Kommunismus, Geschichte, Gesellschaft und nicht zuletzt auch über die Partei selbst dachten. Wir wissen kaum etwas darüber, wie sich ihre Imaginationskraft entwickelte, die letztendlich die Binnenlegitimität der herrschenden Parteien gewährleistete.31 Für den parteiinternen Konsens war besonders wichtig, wie die Spannung zwischen ideologischen Vorgaben und dem Alltag an der „Schnittstelle“ von Herrschaft und Gesellschaft, d. h. in den lokalen Parteistrukturen, bewältigt wurde.32

31 Unter letzterer verstehe ich dabei einen Konsens, der durch den Glauben der Parteianhänger an den legitimen Führungsanspruch der Partei gesichert war und durch auf das Gefühl der Gemeinschaft und die Zugehörigkeit zum Großkollektiv ausgerichtete symbolische und narrative Praktiken zementiert wurde. Zum Begriff der Legitimität im Staatssozialismus siehe Winfried Thaa, Die Wiedergeburt des Politischen. Zivilgesellschaft und Legitimitätskonflikt in den Revolutionen von 1989, Opladen 1996, S. 15–21; Rolf Reißig, Dialog durch die Mauer, Die umstrittene Annäherung von SPD und SED, Frankfurt a. M. 2002, S. 359ff. Vgl. auch Jeff C. Pratt, Class, Nation and Identity. The Anthropology of Political Movements, London 2003. 32 Hervorzuheben ist vor allem die französische DDR-Forschung. Siehe z. B. Florian Escudié, Le fonctionnaire et la machine bureaucratique. Contrôle biographique et construction des carrières dans l’appareil régional du SED, in: Genèses 53, 2003, S. 93–112; Sandrine Kott, Le communisme au quotidien. Les entreprises d'état dans la société est-allemande, Paris

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Gerade in den kleinräumigen Lebenswelten der Kreis-, Betriebs- und Grundorganisationen, in den Parteiversammlungen und „Aktivs“ fand das Aushandeln zentraler Parteipolitik statt. Sie wurde von örtlichen Funktionären weiter vermittelt, die wiederum den Forderungen „von unten“ ausgesetzt waren. Eben hier begegneten nach 1956 die neuen Losungen den Wertvorstellungen und Sinnhorizonten der einfachen Kommunisten, hier wurden überkommene Utopieentwürfe verteidigt und umgedeutet. Vor allem im lokalen Raum etablierte sich der poststalinistische Konsens, der der kommunistischen Herrschaft weitere Existenz ermöglichte. Das markanteste Zeichen der neuen Situation war die Verve, mit der sich die Parteimitglieder mit ihrer eigenen Vergangenheit, vor allem mit dem Trauma des Stalinismus, auseinandersetzten. Im Machtzentrum wie an der Peripherie, in offiziellen Texten wie im eigensinnigen Räsonieren der einfachen Kommunisten: Überall waren die Parteigenossen mit den auf dem XX. Parteitag der KPdSU „entdeckten“ Tatsachen konfrontiert. Die von Chruschtschow ausgelöste kritische Betrachtung der Parteivergangenheit hatte eine Umgestaltung der Parteigeschichte zur Folge, das heißt, wie der historische Prozess in seiner Gesamtheit von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft aufgefasst wurde, wie sich die „Produktion der historischen Zeit“ (Lucian Hölscher) veränderte. Diese „Rückkehr der Geschichte“ bedeutete eine grundsätzliche Umformung des Zukunftsbildes. Sowohl in den offiziellen Parteideklarationen als auch in der Alltagssprache wimmelte es von Redefiguren wie „Rückkehr zur authentischen Partei“, zum „wirklichen Leninismus“ oder zur „authentischen Parteidemokratie“. Diese poststalinistische Transformation untersuche ich in dieser Studie anhand der Länder des „nördlichen Dreiecks“ – der DDR, der Tschechoslowakei und Volkspolens.33 Diese Staaten nahmen eine Schlüsselposition in der Machtpolitik der Sowjetunion als Bollwerke gegen den imperialistischen Feind ein. Zugleich erlebte jedes dieser drei Länder die „Entstalinisierung“ auf eine spezifische Weise, die in den jeweiligen nationalen Bedingungen und Traditionen begründet lag. Die nationalen Besonderheiten sind deshalb bedeutend, weil die Poststalinisten ihre „authentische Partei“ vor allem in der eigenen Nationalgeschichte suchten. Demnach griffen die tschechoslowakischen Kommunisten auf die althergebrachte Selbstbeschreibung der „demokratischen Traditionen“ der kommunistischen Bewegung zurück, die auf die vorstalinistische Aufbauzeit der „Volksdemokratie“ der Jahre 1945–1948 sowie auf die demokratische Tschecho-

2001; Jay Rowell, Le pouvoir périphérique et le „centralisme démocratique“ en RDA, in: Revue d’histoire moderne et contemporaine 49, 2002, S. 102–124. 33 Beate Ihme-Tuchel, Das „nördliche Dreieck“. Die Beziehungen zwischen der DDR, der Tschechoslowakei und Polen in den Jahren 1954 bis 1962, Köln 1994.

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slowakei der Zwischenkriegszeit besonderes Gewicht legte. Die Aufnahme der „authentischen“ Arbeit an der Parteigeschichte verlief allerdings unter starker Kontinuität mit dem Stalinismus (ein schwieriger Prozess, den der Reformkommunist Čestmír Císař als „mühseliges Tauwetter“ bezeichnete34) bis mindestens in die frühen sechziger Jahre hinein: Den symbolischen Abschluss des Stalinismus stellte erst die Sprengung des Stalin-Denkmals in Prag im November 1962 dar. Es war dann allerdings dieser langen Zeit mangelnder Entstalinisierung zu verdanken, dass spätestens seit Mitte der sechziger Jahre die KSČ zu der Partei mit der vielfältigsten historischen Selbstrepräsentation im Ostblock wurde. In Polen war die Lage nach 1956 angesichts der wechselhaften Geschichte der dortigen kommunistischen Bewegung schwieriger. Der neuralgische Punkt war die delikate Geschichte der Kommunistischen Partei Polens, die in der Zwischenkriegszeit unter inneren Richtungskämpfen zwischen gemäßigter Mehrheit und der sektiererischen Minderheit litt und am Ende von Stalin 1938 aufgelöst wurde. Für die polnischen Kommunisten war es nach 1956 schwieriger zu entscheiden, welche Tradition als „authentisch“ gepflegt werden sollte; sicher war nur, dass sie irgendwo in der Vergangenheit lag. Andererseits führten die Dramatik des polnischen Jahres 1956 und die Wiederaufnahme der kritischen Diskussion zur neuesten Vergangenheit (neben den Stalinschen KPP-Repressionen auch z. B. über den Katyn-Mord) sogar in den Parteidebatten eine scharfe antistalinistische Einstellung herbei. Trotzdem musste die Polnische Vereinigte Arbeiterpartei (PZPR) dauernd mit den Schwierigkeiten der eigenen Geschichtsidentität ringen, die mit der niedrigen Unterstützung der Partei in der Gesellschaft sowie mit den komplizierten national-ethnischen Verhältnissen innerhalb der Arbeiterbewegung zusammenhing. Die ostdeutschen Kommunisten stilisierten sich schließlich als die Partei, die durch die Ereignisse von 1956 am wenigsten betroffen war und in der es den Stalinismus eigentlich nie gegeben habe. Trotzdem ergriffen auch sie, nachdem später die strenge Abhängigkeit von den sowjetischen Vorbildern beendet worden war, die Gelegenheit, die eigene Geschichte in die Hand zu nehmen und die nach Stalins Verbannung entstandene ideologische Lücke mit neuen Inhalten zu füllen. Mit der Hinwendung zur Parteigeschichte versuchten die SED-Ideologen neben der Wiederaufwertung des Antifaschismus-Mythos vor allem die KPD-Tradition im eigenen Geschichtsbild zu stärken. Diese Geschichtskampagnen waren aber nicht ohne Risiko für die Parteiführung, denn die offiziellen „Meistererzählungen“ kollidierten oft sowohl mit lokalen Geschichtsbildern als auch mit auseinandergehenden Auffassungen in der Nationalfrage. Wie in den Bruder-

34 Čestmír Císař, Paměti, Praha 2005, S. 403ff.

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parteien wurde auch in der SED die eigene Vergangenheit, am Anfang als eine Chance für die Erneuerung gesehen, zunehmend zur Last. Diese Umgestaltung des kommunistischen Selbstbildes und der kommunistischen Utopie nach 1956 erforsche ich anhand des weiter gefassten Umgangs der Kommunisten mit ihrer eigenen Geschichte und beschränke deshalb den Blickwinkel keineswegs auf die Parteigeschichtsschreibung. Vielmehr beziehe ich ein möglichst breites Spektrum von kommunistischen Darstellungen der Vergangenheit, von institutionellen Kontexten und diskursiven Situationen ein. Dem entspricht auch die Breite und Vielfalt der Quellen. Um die Wechselwirkung zwischen dem Zentrum und der Peripherie zu beleuchten, habe ich die zentralen Parteibeschlüsse, Reden und richtunggebenden Artikel und ihre Rezeption auf der mittleren und lokalen Parteiebene untersucht; die zentrale Parteigeschichtsschreibung, wie sie sich nach 1956 formierte mit ihren Lehrbüchern und Zeitschriften, mit ihren Museen und Archiven, habe ich mit der geschichtlichen Imagination der einfachen Parteimitglieder im lokalen Raum konfrontiert. Ich versuchte damit in den ideologischen Alltag zu gelangen, im Zentrum wie vor Ort, und zog daher auch Quellen heran, die nicht nur das ideologische Ergebnis präsentierten (Beschlüsse, Erklärungen, Zeitungsartikel, Lehrbücher usw.), sondern auch jene, die die ideologischen Entstehungs- und Aushandlungsprozesse dokumentierten: Entwürfe, Arbeitspläne, Berichte und Korrespondenz. Als die ergiebigste Quelle erwiesen sich jedoch die Sitzungsprotokolle der regionalen, lokalen und betrieblichen Parteiversammlungen. Sie geben ein plastisches Bild der kommunistischen Sinnwelt ab, indem sie sowohl heterodoxe Äußerungen der einfachen Mitglieder als auch die Disziplinierungsstrategien der Parteileitungen wiedergeben. Gerade die Versammlungsprotokolle stellen eine Quellenart dar, die denjenigen eine Stimme geben, die sonst kaum schriftliche Überlieferungen hinterließen. Sie geben uns Einblick darin, wie die offizielle Sprache aktiv verstanden und verwendet wurde, wie die langue du bois der Ideologie von den einfachen Parteimitgliedern im Bachtinschen Sinne karnevalisiert wurde, indem Hierarchien verkehrt und ideologische Sakramente durch ihre Beziehung zum „schmutzigen“ Alltag und zur Körperlichkeit profaniert wurden.35 Die Authentizität der Aussagen verstehe ich allerdings nicht normativ als die Übereinstimmung zwischen Äußerung und Überzeugung; vielmehr beziehe ich sie auf die Durchsetzungs- und Geltungskraft der Aussagen, die in den Auseinandersetzungen zwischen verschiedenen Polen der Parteihierarchie,

35 Davies, Popular Opinion, S. 8.

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zwischen „oben“ und „unten“, „Zentrum“ und „Peripherie“, Leitung und Basis, Apparat und Aktiv auftraten.36 Mit der Einbeziehung der zentralen Herrschaftsebene, die den offiziellen Parteidiskurs produzierte, und den „Schnittstellen“ an der Peripherie, an welchen er angeeignet wurde, strebe ich ein Gleichgewicht an zwischen dem, was Bachtin „autoritären Diskurs“ (autoritetnoje slovo) nannte,37 und seiner produktiven wie subversiven Aneignung im Alltagsleben der Vielen. Dadurch versuche ich mich von einer vorwiegend ideengeschichtlichen Betrachtung abzugrenzen, die Furet, Walicki oder Tismăneanu vertreten. Sie betonen zwar die „Wirkung“ des ideologischen Diskurses, reduzieren diesen jedoch auf seinen vermeintlich stabilen Inhalt, der durch die Geschichte voranschreitet, Individuen wie Kollektive verführt und sein Unwesen in der Welt treibt. In ihrer Deutung besitzen kommunistische Ideen ein „totalitäres Potential“,38 das unabhängig von der Handlung konkreter Menschen existiert und zwangsläufig Indoktrination und Manipulation bewirkt. Zu einem ähnlichen Narrativ führen letztendlich auch verschiedene semiotische Konzeptionen, die die marxistische Ideologie als ein geschlossenes Zeichensystem auffassen, das sich lediglich aufgrund seiner inneren Dynamik verändert.39 In den sozialhistorischen Sichtweisen wurde der Rolle der Sprache, Ideen und Repräsentationen wiederum nur eine Randbedeutung zugewiesen, denn im Mittelpunkt standen soziale Großprozesse, die auf „Interessen“ basierten und in denen Denken und Reden eine untergeordnete Rolle spielten. Dagegen schöpfte ich Inspiration aus denjenigen Konzeptionen der Beziehung zwischen Diskurs und Akteur, die die homogenisierende Wirkung der autoritären Ideologien nicht ignorieren, zugleich aber die schöpferische „Praxis der Vielen“ in den Blick nehmen – also aus jener Traditionsrichtung der Sozial- und Kulturgeschichte, die neben anderen Michail Bachtin, Edward P. Thompson, James C. Scott oder Alf Lüdtke vertreten. Mein Interesse für die kreative Rezeption der ideologischen Vorgaben knüpft an die Kritik der Gegenüberstellung von Hochund populärer Kultur an, wie sie Michel de Certeau, Roger Chartier oder Carlo 36 Zur Methodologie der Erforschung von „popular opinions“ in kommunistischen Diktaturen vgl. ebenda, S. 9ff. 37 Zur Anwendung für die post-Stalinsche Sowjetunion siehe Yurchak, Everything Was Forever, S. 14ff. Vgl. auch das Konzept von „Herrschaftsdiskurs“, das Parallelen mit dem Bachtinschen Begriff aufweist, ohne auf ihn direkt Bezug zu nehmen. Martin Sabrow (Hg.), Geschichte als Herrschaftsdiskurs. Der Umgang mit der Vergangenheit in der DDR, Köln 2000. 38 Walicki postuliert eine klare Entwicklungslinie: 1. totalitäres Potenzial bestimmter Ideen (Marx); 2. totalitärer Charakter der organisierten Revolutionsbewegung (Lenin); 3. totalitärer Charakter des Staates (Stalin). Walicki, Marxism, S. 425. 39 Dazu kritisch Michal Kopeček, Hledání ztraceného smyslu revoluce. Zrod a počátky marxistického revizionismu ve střední Evropě 1953–1960, Praha 2009, S. 29f.

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Ginzburg in der Geschichte des vorrevolutionären Zeitalters formulierten. Ich folgte Gramscis Überlegungen zur kulturellen Hegemonie, laut welchen die hegemoniale Ideologie, in diesem Fall die vom Zentrum produzierten Deutungen der kommunistischen Ideologie, das populäre Bewusstsein nicht durch Auferlegung konkreter „Ideen“ beeinflusste, sondern es durch das Gestalten der Fragestellungen und Probleme bestimmte, die diskutiert werden durften. So funktionierten auch die wegweisenden Reden Chruschtschows oder des polnischen Parteiführers Gomułka von 1956: Sie waren zwar stets der Aneignung von unten ausgesetzt, aber dies geschah immer in einem vorgegebenen ideologischen Rahmen. Erst wenn dieser Rahmen gesprengt wurde, war die Legitimität der Partei grundsätzlich gefährdet.

Gliederung des Buches Das Buch besteht aus fünf Kapiteln, die jeweils ein semantisches Feld des Ideologiediskurses untersuchen und dabei Aspekte der „prozessualen Utopien“ ausarbeiten. Das erste Kapitel behandelt die unmittelbare Wirkung der Ereignisse der Jahre 1953–1956 auf den kommunistischen Begriff der Geschichte. Es beleuchtet die Herausbildung von neuen diskursiven und institutionellen Grundlagen, die das poststalinistische Geschichtsverständnis bestimmten. Die Auseinandersetzung mit der stalinistischen Vergangenheit, die sich im allgegenwärtigen Topos der „Rückkehr“ veranschaulicht, zeigt, wie tiefgreifend der Erneuerungsgedanke die Denkwelt der „Parteimassen“ durchdrang und wie die Hinwendung zur Geschichte das innere Selbstbild der Partei zugleich vervielfältigte und anzweifelte. Ein Zustand, der bis zum Ende der sechziger Jahre anhielt. Das zweite Kapitel untersucht die historische Selbstdarstellung der Partei als des erneuerten Haupthelden der kommunistischen Großerzählung. Das Selbstverständnis der Kommunisten bewegte sich im Spannungsfeld zwischen der nach 1956 wiederhergestellten Bedeutung der Partei und den neuen Losungen wie „Parteidemokratie“ oder „kollektive Führung“, die im Zuge der Diskussionen um den „Personenkult“ auftauchten. Eine zentrale Rolle in diesen Kontroversen spielten die Auseinandersetzungen um das Verständnis von Gewalt und der „Diktatur des Proletariates“, auch unter dem Gesichtspunkt, wie die poststalinistischen Repräsentationen das Verhältnis zwischen der Partei und dem Staat darstellten. Dabei schlage ich die Auffassung der poststalinistischen Partei als eines „Demiurgen“ vor – des Gestaltenden, der unter der Last von vergangenen Traumata und Selbstzweifeln in seiner Gestaltungsfreiheit stark eingeschränkt ist. Das dritte Kapitel beschäftigt sich mit der Nation als jenem historischen Subjekt, das nicht immer unbedingt auf der „richtigen Seite“ stand. Die National-

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geschichte befand sich stets in einem Spannungsverhältnis zur klassenzentrierten Parteigeschichte, das ich am Beispiel der poststalinistischen Betrachtung der Geschichte der polnischen kommunistischen Bewegung und der Beziehung zwischen der Klasse und „Heimat“ in der DDR in den sechziger Jahren untersuche. Diese Perspektive wird durch einige lokalhistorische Sonden in die Grenzgebiete ergänzt, wo ich transnationale, „überlappende“ Identitäten der Kommunisten betrachte, die das Geschichtsbild der Partei verkomplizierten. Darauf folgt im vierten Kapitel eine Darstellung der poststalinistischen Feindschaftserzählungen. Die verschiedenen Wandlungen des Feindbegriffes verdeutlichen die Brüche im kommunistischen Selbstbild, vor allem infolge der Ereignisse wie Ungarnaufstand von 1956 („Konterrevolution“), der Beziehung zu Jugoslawien und der sich wandelnden deutsch-deutschen Spannung. Vor diesem Hintergrund untersuche ich anschließend die Bilder von inneren Feinden, vor allem von Revisionisten, Dogmatikern, Sektierern und Sozialdemokraten. Die „Zionisten“ als ein in allen kommunistischen Parteien mit unterschiedlicher Stärke auftretendes Feindbild komplettieren das Feindpanorama. Im letzten Kapitel greife ich den Topos der „Rückkehr“ wieder auf, um die Besonderheiten poststalinistischer Zeitvorstellungen zu erörtern. Im Mittelpunkt stehen dabei die nostalgischen Vorstellungen der „Wiedergeburt“ und des „goldenen Zeitalters“ als die Quelle der poststalinistischen Utopie. Sie veränderten die Fortschrittswahrnehmung der Kommunisten, ihr Verständnis der Geschwindigkeit der Geschichte, des Tempos und des Rhythmus, die Schwankungen zwischen Revolution und Reform sowie zwischen Dynamik und Stabilität, zwischen Brüchen und Dauer. Die in den sechziger Jahren zunehmende Ritualisierung und Homogenisierung der ideologischen Parteisprache, vor allem im Hinblick auf die historischen Jubiläen, bereiteten den Weg für die im Spätsozialismus vorherrschende zyklische Auffassung der Geschichte. ***** Dieses Buch unternimmt eine Reise in die aus heutiger Sicht so exotischen Sinnwelten der damaligen Kommunisten. Ihre eigensinnigen Deutungen des historischen Ablaufs und Auseinandersetzungen mit der Ideologie waren kein bloßer Widerhall der von oben auferlegten Doktrin, sondern Teil ihres whole way of life (Raymond Williams), der stets utopische Elemente behielt. Die Kraft, sich die Wirklichkeit anders vorstellen zu können, diese universelle menschliche Energie, die Bloch als Urhunger bezeichnete.40 Mein Ziel war es, anders als in der wie eine „Gipfelwanderung“ verstandenen Ideengeschichte, das utopische Denken und Glauben, die Hoffnungen und Werte der einfachen „Gläubigen“ zu erfassen, 40 Ze’ev Levy, Utopia and Reality in the Philosophy of Ernst Bloch, in: Utopian Studies 1, 1990, Nr. 2, S. 3–12, hier S. 6f.

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die aus den meisten Geschichtsdarstellungen herausfallen. Der Poststalinismus, so meine Annahme, stellte dabei einen der letzten Versuche in der Moderne dar, eine authentische politische Sprache zu entwickeln, indem er in seinem Bemühen, den Stalinismus zu „reparieren“, eine alternative Ordnung anstrebte, ohne nur bereits existierende Modelle nachzuahmen. Die Herrschaftsdauer und der Herrschaftswandel des Kommunismus nach 1956 ergaben sich gerade aus dem Wechselspiel zwischen autoritativer Ideologie und ihrer Artikulation von unten. Im Mittelpunkt stehen hier die sprechenden und handelnden Menschen: Meine Absicht ist, die Kommunisten aus dem verengenden Bild des „totalitären“ Verbrechers oder bornierten Parteiapparatschiks zu befreien und ihnen stattdessen ein menschliches Antlitz zu geben. Nur so können wir ihr Engagement für die Partei und die Sache des Sozialismus begreifen. Dies spiegelt sich in den Schicksalen jener Menschen wider, die auch nach den tiefsten Erschütterungen nicht nur den Legitimitätsglauben an die Partei nicht verloren, sondern sich sogar mit einer neuen Entschlossenheit in die „Parteiarbeit“ warfen. Die wachsenden Schwierigkeiten, „Unklarheiten“ und Konflikte, die in der Folgezeit in den Parteireihen auftraten, veranschaulichen die Mannigfaltigkeit der Herrschaftsbeziehungen im Staatssozialismus nach Stalin, auch innerhalb der herrschenden Parteien selbst. Den Poststalinismus als eine eigenständige, durch eine charakteristische Sinnwelt gebundene Epoche darzustellen, ist das Anliegen dieses Buches. Dabei gehe ich von einer einfachen Annahme aus: Eine Epoche ist, was als Epoche gilt. Damit will ich sagen, dass über die Aufteilung der geschichtlichen Zeit in Epochen nicht nur der Historiker aufgrund der von ihm ex post definierten Maßstäbe entscheiden kann. Nicht minder wichtig für die Konstruktion einer Epoche sind die Denkhorizonte der damaligen Zeit, die die Selbstwahrnehmung der Menschen gestalteten und ihrem politischen wie tagtäglichen Handeln einen geschichtlichen Sinn verliehen: die Epochen-Erfahrung, das Bewusstsein einer Epochenschwelle. Ein uneingeschränkter Verlass auf die Meinungsäußerungen der Zeitgenossen wäre natürlich epistemologisch naiv – eine „Epochenillusion“, wie František Graus bemerkte. Die Ansichten der Zeitgenossen sollten nicht als „schlüssige ‚Beweise‘ für unsere Einteilungsversuche der Vergangenheit in Epochen herangezogen werden; wir können nichts anderes tun, als unser Koordinatensystem auf die Vergangenheit zu applizieren und versuchen, dadurch größere Zeiträume unter dem Begriff Epochen zusammenzufassen“.41 Wenn wir jedoch die zeit41 František Graus, Epochenbewusstsein – Epochenillusion, in: Reinhart Herzog/Reinhart Koselleck (Hg.), Epochenschwelle und Epochenbewusstsein, München 1987, S. 531–533, hier S. 533 (Hervorhebung im Original). Zur Frage der Historisierung der Epochenbegriffe siehe Hartmut Westermann, Epochenbegriffe und Historisierung. Ein Gespräch mit Kurt Flasch, in: Internationale Zeitschrift für Philosophie 2, 2004, S. 193–209. Flasch spricht

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genössischen Aussagen und Wertungen als eine aufschlussreiche Angabe für die Mentalitätsgeschichte einer bestimmten Zeit auffassen, so bietet der Poststalinismus doch eine außerordentliche Gelegenheit, eine – wenn auch eher momentane – geistige Wesenseinheit zu begreifen: Das Bewusstsein einer Epochenschwelle wurde in diesem Fall nicht nur von der intellektuellen Elite ausgedrückt, sondern war in der breiten, durch die „Partei“ vertretenen Gesellschaft vorhanden. Es entstand eine situative Geistesgemeinschaft, in der sich die Stimme der Denkavantgarde mit der Stimme der Vielen vorübergehend auf ein gemeinsames Motiv, eine gemeinsame Sorge einigte. Mit dem Begriff des Poststalinismus, so hoffe ich, wird hier deshalb mehr als ein literarisches Motiv oder ein didaktischer Zugriff angeboten. Eher kommt es mir darauf an, überlieferte Periodisierungsschemata in Verlegenheit zu setzen und eine neue Reflexion über die Kontinuität und Brüche in der Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts anzuregen.

sich gegen den Gebrauch des Epochenbegriffes aus, der nicht mehr zeitgemäß sei. Stattdessen plädiert er für „Begriffe mittleren Umfangs“, die er als „geschichtliche Tendenzen“ versteht, hier S. 196–198.

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„Erinnern wir uns an einige historische Tatsachen.“ (Nikita S. Chruschtschow, Generalsekretär der KPdSU, 25. Februar 1956)1 „Was der Gegner sagte, entsprach den Tatsachen.“ (Genosse Pfeiffer, SED-Betriebsorganisation Brauerei Artern, 14. April 1956)2

Es mag verwundern, wenn ein Buch, das eine Geschichte „von unten“ verspricht, mit einem Rekurs auf „große Männer“ und „große Ereignisse“ beginnt. Doch das Ende des Stalinismus bietet dem Historiker die seltene Gelegenheit, die Geschichte der politischen Macht mit dem Denken und Handeln „der Vielen“ in Beziehung zu setzen. Nur wenige Ereignisse nach 1945 wirkten sich so tiefgreifend auf die alltäglichen Wahrnehmungshorizonte so vieler Menschen aus wie das doppelte Ende der Stalin-Herrschaft durch seinen Tod 1953 und seine symbolische Entthronung drei Jahre später. Bereits der nach 1953 eingeleitete „Neue Kurs“ Malenkows mit den ersten Liberalisierungsmaßnahmen, jedoch vor allem die Geheimrede Chruschtschows von 1956 veränderten den Massenglauben an die kommunistische Zukunft. Die Abrechnung mit dem Stalinismus forderte die kommunistische Identität weltweit heraus. Chruschtschows Rede war das Ereignis, das die Entstalinisierung als „eine grundlegende Revision der Rolle, der Ziele und der Geschichte“ der kommunistischen Parteien in Gang brachte, wie Eric Hobsbawm feststellte.3 Denn obwohl viele bereits vor dem XX. Parteitag 1956 von Stalins Verbrechen gewusst oder sie geahnt hätten, so Hobsbawm, wurde die Wirkungswelle erst durch Chruschtschows denunziatorischen Sprechakt ausgelöst: durch die nackte Brutalität, mit der das Ausmaß des Terrors dargelegt wurde, und durch die Tatsache, dass diese Worte vom Generalsekretär ausgesprochen wurden. Die

1 Die Geheimrede Chruschtschows. Über den Personenkult und seine Folgen, Berlin 1990, S. 19. 2 LHASA, MER, SED-Kreisleitung, Artern IV/401/26, Plenarsitzung 14.4.1956, Bl. 181. 3 Eric J. Hobsbawm, Gefährliche Zeiten. Ein Leben im 20. Jahrhundert, München 2003, S. 238. Im „Postcript“ zu seinem Essay „Poverty of Theory“ hebt auch Edward P. Thompson die Wirkung von Chruschtschows Rede hervor. Es handele sich um einen Text „which still requires a close and symptomatic reading“. Edward P. Thompson, The Poverty of Theory or an Orrery of Errors, London 1995 (1978), S. 291; vgl. Dennis Dworkin, Cultural Marxism in Postwar Britain. History, the New Left, and the Origins of Cultural Studies, Durham 1997, S. 45ff.

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Rede beraubte, wie François Furet bemerkte, die Geschichte einer universalistischen Utopie.4 In den osteuropäischen Satellitenstaaten riefen die „Enthüllungen“ Chruschtschows keinen geringeren Schock hervor als in der Sowjetunion selbst. Die anfängliche Verwirrung über Gegenwart und Zukunft des Sozialismus weitete sich bald in eine Unsicherheit über die Vergangenheit aus. Die gleich im Frühling 1956 in den Parteien ausgebrochene Kritikwelle bezog sich zunächst auf die jüngste Zeit, die „Periode des Personenkultes“. Doch kurz darauf wurde die im Stalinismus entstandene Großerzählung der kommunistischen Bewegung in ihrer Gesamtheit angefochten. Die Wahrnehmung der Geheimrede war in den einzelnen Ländern zwar unterschiedlich,5 doch die Kommunisten (wie auch ihre Gegner) erkannten, dass Chruschtschows Stalin-Hinrichtung über den sowjetischen Horizont hinaus weitreichende Folgen im universalen Maßstab haben würde. Wenn es einen Begriff gab, mit dem die kommunistischen Führer die Wirkung des XX. Parteitages am häufigsten beschrieben, dann war es „neu“. So sprach der KSČ-Generalsekretär Novotný im März 1956 über „all das Neue, Revolutionäre, was der XX. Parteitag brachte“ und betonte die Bedeutung von „neuen Ereignissen und Fakten“: Der Parteitag sei „eine profund wissenschaftliche Antwort auf die Grundfragen der Menschheitsgeschichte“.6 Der Parteitag wurde von den Zeitgenossen augenblicklich als fundamentale Geschichtszäsur erkannt. Diese Zeitenwende brachte die Parteiführungen in eine schwierige Lage. Obwohl sie sich am Anfang bemühten, Chruschtschows Stalin-Kritik auf die sowjetischen Verhältnisse zu beschränken und von den eigenen Nationalkontexten fernzuhalten, wurden sie bald mit Zweifeln der Parteimitglieder an der eigenen Vergangenheit konfrontiert. In der Tschechoslowakei stand das Schicksal der gesam4 François Furet, Das Ende der Illusion. Der Kommunismus im 20. Jahrhundert, München 1996, S. 457. Einen interessanten Ansatz für die Interpretation von Chruschtschows Geheimrede bietet John L. Austins Theorie der performativen Sprechakte (Zur Theorie der Sprechakte, Stuttgart 1972). Demnach ist die Geheimrede eine Mischung aus konstativen und performativen Akten: „Stalin führte den Begriff ‚Volksfeind‘ ein.“ ist ein konstativer Akt. „Erinnern wir uns an einige historische Tatsachen“ oder „Bei der Erörterung der Frage des Personenkults müssen wir vor allem klären, welchen Schaden er den Interessen unserer Partei zugefügt hat“ sind hingegen performative Akte, die nicht auf die Wahrhaftigkeit ihres Inhaltes geprüft werden können, sondern nach ihrer Wirkmächtigkeit beurteilt werden sollten. 5 Jerzy Holzer, Die Geheimrede Chruschtschows und ihre Rezeption in Ostmitteleuropa, in: Hans Henning Hahn/Heinrich Olschowsky (Hg.), Das Jahr 1956 in Ostmitteleuropa, Berlin 1996, S. 13–17. 6 Antonín Novotný, XX. sjezd KSSS a závěry vyplývající pro práci naší strany, in: Ders., Projevy a stati, Bd. 1, Praha 1964, S. 257–307, hier S. 257f.

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ten Parteispitze um Novotný, die in die stalinistischen Verbrechen verwickelt gewesen war, auf dem Spiel. Die Prager Machthaber bemühten sich, die Diskussion über den „Personenkult“ in der Partei einzudämmen, indem sie den Schwarzen Peter des Personenkultes einigen während des Stalinismus „liquidierten“ Parteifiguren zuspielten und die etablierte Erzähllinie der Parteigeschichte seit der Zwischenkriegszeit unangetastet ließen. Sie versuchten, taktisch die Schuld auf das prominenteste stalinistische Opfer des Stalinismus, den 1952 hingerichteten KSČ-Generalsekretär Rudolf Slánský zu schieben, der vier Jahre zuvor noch als „Agent des Imperialismus“ zum Tod verurteilt und nunmehr als „Berija-Agent“ gebrandmarkt wurde.7 Während die tschechoslowakische poststalinistische Kritik eine deutliche Kontinuität mit dem Stalinismus bewahrte, ging in Polen die Umdeutung der jüngsten Vergangenheit mit der Rehabilitierung des nach 1948 unterdrückten Parteiflügels um Władysław Gomułka einher, die bereits 1954 behutsam eingesetzt hatte. Die neue Sicht auf die Vergangenheit wurde auch durch die gewaltige Politisierung der Parteibasis nach dem Poznań-Aufstand im Juni weiter gestärkt und mit Gomułkas Rückkehr im Oktober 1956 besiegelt. Wie wir später sehen werden, strebte die polnische Parteiführung eine Abschottung von der stalinistischen Vergangenheit an – personell wie auch geschichtspolitisch. Dagegen herrschte in der SED-Spitze, deren Legitimität auf der Unterdrückung des Juni-Aufstandes von 1953 beruhte, Angst vor einer solchen Rückkehr der Geschichte. Für Ulbrichts Führung wäre eine Umschreibung der jüngsten Vergangenheit nach dem polnischen Vorbild gefährlich gewesen. Die ostdeutschen Kommunisten mussten eine Sprache der selektiven Kontinuität mit der vorherigen Ära entwickeln und bemühten sich deshalb, unerwünschte Effekte der Chruschtschowschen Stalin-Kritik auf die DDR herunterzuspielen. Jegliche Übertragung der Begriffe wie „Personenkult“ oder „Stalinismus“ auf die DDRVerhältnisse sollte verhindert werden. Die Einhegung von Kritik wurde für die Parteiführungen aber schwierig, nachdem in der kommunistischen Weltbewegung ernsthafte Zweifel an Chruschtschows Stalinismus-Deutung auftauchten. Am deutlichsten formulierte sie der KPI-Vorsitzende Togliatti in seinem viel beachteten Interview für Nuovi Argomenti im Mai 1956, in dem er die Möglichkeit und gar die Notwendigkeit von abweichenden Deutungen des Personenkultes befürwortete: „Wir müssen offen und ohne Zögern gestehen“, argumentierte Togliatti, „dass obwohl der zwanzigste Parteitag das richtige Verständnis und die Lösung von vielen wichtigen und neuen Problemen, mit welchen die demokratische und sozialistische Bewegung konfron7 Zu Slánský siehe Jiří Pernes/Jan Foitzik (Hg.), Politické procesy v Československu po roce 1945 a „případ Slánský“, Praha 2005.

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tiert war, sehr unterstützte, und obwohl er den wichtigsten Meilenstein in der Entwicklung der sowjetischen Gesellschaft bedeutet, es unmöglich ist, den Standpunkt des Parteitages zu den Fehlern Stalins und zu den Bedingungen, die ihn ermöglicht hatten, der heutzutage von der sowjetischen Presse völlig übernommen wird, als befriedigend zu betrachten.“8 Durch seinen Verweis auf die „unbefriedigende“ Stellungnahme der KPdSU zum Stalinismus deutete Togliatti an, dass eine andere Geschichte des Kommunismus möglich ist. Ob die Parteiführungen es wollten oder nicht, erweiterte diese Öffnung der Geschichte im Frühling 1956 den Erfahrungsraum der „Parteimassen“ beträchtlich. Bereits seit März setzte sich das „Aktiv“ aller Parteien mit der Geheimrede auseinander; dabei entstand eine zuvor unbekannte Vielfalt an Vergangenheitsdeutungen, die individuelle Erinnerungen und früher tabuisierte Erfahrungen umfasste, vor allem solche, die von der eisernen Logik der „historischen Entwicklungsgesetze“ abwichen. Damit fragmentierte und destabilisierte sich der bestehende kommunistische Erwartungshorizont. Diese Erschütterungen leiteten eine „historische Wende“ im kommunistischen Weltbild ein, an deren Anfang Chruschtschows Stalin-Kritik stand.

Chruschtschows Historical Turn Was wurde aber tatsächlich zerstört, wenn vom „Kollaps“ des stalinistischen Geschichtsbildes die Rede ist? Diese Frage ist umso dringender, fasst man die nationalen Besonderheiten der einzelnen Parteien ins Auge. Auch die jüngste Kommunismusforschung hat die Akzente verstärkt auf die Unterschiede statt auf das vereinheitlichende Muster der „Sowjetisierung“ gesetzt.9 Vor allem der letztge-

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Zit. n. Robert V. Daniels (Hg.), Documentary History of Communism, Hannover 1993, S. 228. Zu den Reaktionen in Westeuropa vgl. Thomas Großbölting, Entstalinisierungskrisen im Westen. Die kommunistischen Bewegungen Westeuropas und das Jahr 1956, in: Roger Engelmann u. a. (Hg.), Kommunismus in der Krise. Die Entstalinisierung 1956 und die Folgen, Göttingen 2008, S. 233–249, hier S. 239–242 und 247–248; Patrick Modreau u. a. (Hg.), Der Kommunismus in Westeuropa. Niedergang oder Mutation? Landsberg 1998. Michael Lemke (Hg.), Sowjetisierung und Eigenständigkeit in der SBZ/DDR (1945– 1953), Köln 1999. Zum Begriff der Sowjetisierung besonders die Einleitung von Michael Lemke, S. 11–30. Kritisch zum Begriff „Sowjetisierung“ aus sozialgeschichtlicher Perspektive Peter Heumos, Stalinismus in der Tschechoslowakei. Forschungslage und sozialgeschichtliche Anmerkungen am Beispiel der Industriearbeiterschaft, in: Journal of Modern European History 2, 2004, S. 82–109; Ders., Zum industriellen Konflikt in der Tschechoslowakei 1945–1968, in: Peter Hübner u. a. (Hg.), Arbeiter im Staatssozialismus. Ideologischer Anspruch und soziale Wirklichkeit, Köln 2005, S. 473–498. Vgl. auch John Connel-

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nannte Begriff selbst geriet unter Beschuss und wird eher als ein Versuch der Parteiführungen betrachtet, die einheimischen Ursachen des Stalinismus zu verschleiern. Damit wurde die These in Frage gestellt, die Entstalinisierung hätte die nationale Vielfalt im Ostblock wiederhergestellt, denn Unterschiede hatten auch im Stalinismus immer bestanden. War also der „Stalinismus“ bloß ein im Nachhinein konstruiertes Feindbild der Reformkommunisten? Es drängt sich die Frage auf: Falls es keinen einheitlichen „Stalinismus“ gab, warum machte die Entthronung Stalins einen solchen Krach im „Lager des Friedens“? Hierzu folge ich dem Argument von Katherine Verdery, dass man trotz nationaler Unterschiede neue Forschungsfragen auf die systemische Ähnlichkeit der Blockstaaten richten sollte. Wenn wir die historische Vorstellungskraft der Kommunisten als Lackmuspapier der „Sowjetisierung“ betrachten, so ergibt sich ein über die nationalen Grenzen hinweg vergleichbares Grundschema. Demnach lassen sich die poststalinistischen Geschichtsbilder und Identitätsmuster in verschiedenen Nationalkontexten in ihren diskursiven Grundstrukturen als vergleichbar betrachten, auch wenn sie in ihren konkreten inhaltlichen Ausprägungen unterschiedlich waren. Der Drang nach Kohärenz und Integrität zum Beispiel sowie der Glaube an die Partei als eine übergeordnete Größe waren allen Kommunisten eigen. Und gerade diese Identitätskomponenten unterschieden die Kommunisten von den Nicht-Kommunisten.10 Die poststalinistische Geschichtskritik der osteuropäischen Kommunisten bezog sich auf einen gemeinsamen Gegenstand: die Grundlinien des stalinistischen Geschichtsbilds. Am ausdrücklichsten wurden sie im berüchtigten Kurzen Lehrgang der Geschichte der KPdSU verkörpert, der seit 1938 bis zu Stalins Tod als das maßgebende Vorbild für jede kommunistische Geschichtserzählung galt.11 Diese Geschichtsauffassung bestand aus folgenden Bausteinen:

ly’s Begriffsvorschlag der „Selbst-Sowjetisierung“ in: Captive University. The Sovietization of East German, Czech and Polish Higher Education, Chapel Hill 2000, S. 45–50. 10 Zum kommunistischen Glauben an die Fortschrittsgeschichte vgl. Jochen Hellbeck, Revolution on My Mind. Writing a Diary Under Stalin, Cambridge, Mass. 2006; Cris Shore, Italian Communism. The Escape from Leninism. An Anthropological Perspective, London 1990, S. 25–69; Jeff C. Pratt, Class, Nation and Identity. The Anthropology of Political Movements, London 2003; Maud Bracke, Which Socialism, Whose Détente? WestEuropean Communism and the Czechoslovak Crisis 1968, Budapest, New York 2007, S. 17–20; Marie-Claire Lavabre, Le fil rouge: sociologie de la mémoire communiste, Paris 1994, S. 223–241. 11 Zum Entstehungskontext des Kurzen Lehrgangs vgl. Roger D. Markwick, Rewriting History in Soviet Russia. The Politics of Revisionist Historiography 1956–1957, Hampshire 2001, S. 42–47.

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Erstens basierte dieses Narrativ auf einem manichäischen Freund-FeindWeltbild, das den geschichtlichen Prozess in die Kräfte des Guten (Fortschritt) und die Kräfte des Bösen (Reaktion) teilte. Die Ausdrucksweise war entsprechend kriegerisch: Die Geschichte der Partei war eine der „Bekämpfung und Vernichtung“ von Feinden, die „geschlagen“ oder „liquidiert“ werden mussten: „Gegen die Bourgeoisie“, proklamierte der Kurze Lehrgang, „auf Leben und Tod kämpfen und Kapitulanten und Verräter in seinem eigenen Stabe, in seiner eigenen Festung haben – heißt in die Lage von Leuten geraten, die sowohl von der Front wie vom Rücken her beschossen werden. Es ist nicht schwer zu begreifen, dass ein solcher Kampf nur mit einer Niederlage enden kann.“12 Zweitens beruhte das stalinistische Geschichtsbild auf einem spezifischen Verständnis der Zeit und des Fortschritts als eine zwangsläufige, „gesetzmäßige“ Entwicklung hin zur kommunistischen Zukunft. Die ausdruckvollste Verkörperung dieser Zeitauffassung war das Periodisierungsmodell des historischen Materialismus, die berühmt-berüchtigte Piatitschlenka (Fünf-Stufen-Modell). In diesem Entwicklungsschema durchlief jede Nation die unwandelbare Abfolge von „Gesellschaftsformationen“, vom primitiven Kommunismus über Sklavenhalterordnung, Feudalismus, Kapitalismus hin zum Endziel der Geschichte, der klassenlosen Gesellschaft des Kommunismus. Die Piatitschlenka ordnete jedes historische Ereignis einer bestimmten Entwicklungsstufe zu und konstruierte somit eine Hierarchie von „fortgeschrittenen“ und „rückständigen“ Gesellschaften. Die Vergangenheit diente demnach hauptsächlich der Glorifizierung und Ratifizierung der Gegenwart und Zukunft.13 Nach Bedarf konnte der Zeitfluss beschleunigt oder verlangsamt werden, z. B. durch Stalins berühmte „Sprünge“ (skatschki) oder „Explosionen“ (wsrywy).14 Da gerade die Piatitschlenka als das hervorstechende Symbol des stalinistischen Geschichtsbildes wahrgenommen wurde, geriet sie ins Kreuzfeuer der Kritik der „revisionistischen“ Historiker.15 Drittens setzte sich die stalinistische Geschichtserzählung aus streng typisierten Handlungssubjekten zusammen, angeführt von der Kommunistischen Partei. Ausschlaggebend war dabei der leninistische Glaube, dass die kommunistische Zukunft nur unter der Führung eines streng disziplinierten Kollektivs von Gleichgesinnten – der Partei, der Vorhut der Arbeiterklasse und der Avantgarde der 12 Josif Vissarionovič Stalin, Geschichte der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (Bolschewiki), Berlin 1946 („Kurzer Lehrgang“), S. 436. 13 Markwick, Rewriting History, S. 43. 14 Klaus Mehnert, Weltrevolution durch Weltgeschichte. Die Geschichtslehre des Stalinismus, Stuttgart 1953, S. 40. 15 Eduard Thaden, Marxist Historicism and the Crises of Soviet Historiography, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 51, 2003, S. 16–34, hier S. 25.

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Geschichte, zu erreichen war. In Was Tun (1902) formulierte Lenin die Auffassung, dass der Klassenkampf durch eine militaristisch organisierte und mit der fortschrittlichsten Theorie bewaffneten Partei geführt werden muss. Diese Idee wurde in den Grundsätzen des „demokratischen Zentralismus“ und der „Parteilichkeit“ (partiinost‘) weiterentwickelt, die der X. Parteitag der KPR (b) 1921 verabschiedete.16 Stalin spitzte die absolute Vorherrschaft der Partei weiter zu: Die Partei trat als das zentrale Handlungssubjekt indirekt auch dort auf, wo sie historisch noch gar nicht existierte, indem zukunftsorientierte Hinweise in die Darstellungen älterer Zeitabschnitte eingebaut wurden.17 Im Unterschied zu Lenins Staat und Revolution verabschiedete sich, viertens, das Stalinsche Geschichtsbild von der These vom „Absterben“ des Staates. Der neuen Lehre zufolge sollte der Staat nach der Vollendung der proletarischen Revolution keineswegs untergehen. Stalins These von der Verschärfung des Klassenkampfes beim Aufbau des Sozialismus folgend nahm man an, die Notwendigkeit eines schlagkräftigen Staatsapparats würde angesichts der steigenden Bedrohung durch verschiedene äußere wie innere „Feinde“ wachsen. Stalin deutete die Rolle des „Überbaues“ schlechthin um, indem er ihm eine „schöpferische Funktion“ zuschrieb. Die Bedeutung des Überbaues, so Stalin, läge „in der Schaffung, Stärkung und Entwicklung der neuen Basis“.18 Dieser Hervorhebung des Staatsapparates entsprechend wurde die Idee der spontanen Revolution abgelehnt und durch „Sprünge“ ersetzt, die sich unter der Aufsicht der weisen Parteiführung ereigneten.19 Fünftens, mit der Rettung des Staates kehrte ebenso der Begriff der Nation ins Zentrum der kommunistischen Geschichtserzählung zurück und stellte die Produktionsverhältnisse als den eigentlichen Motor der Geschichte in den Schatten. Dies bedeutete einen Abschied von Marx, für den Nationen an sich keinen Wert besaßen. Und schließlich sechstens spiegelte sich in der Rückkehr der „großen Männer“ das zeitgenössisch am stärksten empfundene Merkmal des Stalinismus 16 Andrzej Walicki, Marxism and the Leap to the Kingdom of Freedom. The Rise and Fall of the Communist Utopia, Stanford 1995, S. 292–302. 17 Zu dieser narrativen Hierarchisierungsstrategie vgl. Pavel Kolář, Die nationalgeschichtlichen master narratives in der tschechischen Geschichtsschreibung der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts: Entstehungskontexte, Kontinuität und Wandel, in: Christiane Brenner u. a. (Hg.), Geschichtsschreibung zu den böhmischen Ländern im 20. Jahrhundert, München 2006, S. 209–241. 18 J. W. Stalin, Über die Basis und den Überbau, in: Prawda vom 5.10.1950, zit. n. Mehnert, Weltrevolution, S. 38. 19 Vgl. Árpád von Klimó, Helden, Völker, Freiheitskämpfe. Zur Ästhetik stalinistischer Geschichtsschreibung in der Sowjetunion, der Volksrepublik Ungarn und der DDR, in: Storia della Storiographia 52, 2007, S. 83–112.

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wider: der Personenkult. Während die frühere bolschewistische Geschichtsschreibung historische Persönlichkeiten als bloße Vollstrecker der überpersönlichen Gesellschaftskräfte darstellte, rückten nun die großen Helden der Geschichte in den Vordergrund und prägten die „historischen Gesetze“ mit. Dabei wurde stets auf die Volksverwurzelung der Einzelgestalten geachtet, entsprechend dem spätstalinistischen Prinzip der „volksnahen Obrigkeit“.20 Für die Bedeutung der Geschichte, die der Stalinismus zum Rang des politischen Katechismus erhob, war nur bezeichnend, dass gerade ein Geschichtslehrbuch, der Kurze Lehrgang, als die „Enzyklopädie des Marxismus-Leninismus“ bejubelt wurde.21 Das Gespenst des Kurzen Lehrgangs ging in den kommunistischen Parteien auch nach seiner Einstampfung 1956 um. Bis zum Ende der kommunistischen Diktaturen waren die marxistischen Historiker mit der Bekämpfung der „falschen Schemata“ des Kurzen Lehrgangs beschäftigt. Hauptsächlich dank der Anschaulichkeit der Piatitschlenka blieb jedoch sein Einfluss in der osteuropäischen Geschichtsschreibung bis 1989, und oft auch darüber hinaus, spürbar.22 Stalins zweifacher Tod von 1953 und 1956, Chruschtschows Kritik am „Personenkult“ und neue Losungen wie „nationaler Weg zum Sozialismus“ und „friedliche Koexistenz“ lösten diese Erzählordnung auf. Als Chruschtschow in der Nacht vom 24. zum 25. Februar 1956 seine Stalin-Denunziation verkündete, wollte er allerdings nicht die bestehenden Grundsäulen der kommunistischen Großerzählung anzweifeln. Das Ziel der Rede war es vielmehr, die Partei selbst als eine unbefleckte geschichtliche Kraft und Trägerin der Leninschen demokratischen Traditionen darzustellen. Die Partei erschien deshalb als Widersacherin und Opfer des stalinistischen Terrors. Mit der „Geheimrede“ versuchte Chruschtschow, der Partei die Verantwortung für die vorherigen Ereignisse abzunehmen, weshalb er sie als Märtyrerin abbildete, malträtiert durch die korrupten Staatsorgane, die „Berija-Gang“ und andere Schurken, aber vor allem: durch Stalin selbst. Chruschtschows Bemühen, eine reine Opfergeschichte der Partei zu entwerfen, scheiterte jedoch, nachdem in den Parteien Forderungen nach einer kritischen historischen Überprüfung der Stalin-Ära laut wurden. Heftige Debatten entflammten im März 1956 besonders in der PZPR, deren Mitglieder im Unterschied zu anderen „Bruderparteien“ mit der vollständigen Fassung der Geheimrede vertraut waren. Wie Karol Modzelewski und andere Zeitzeugen berichten, rief das 20 Dietrich Beyrau, Das bolschewistische Projekt als Entwurf und als soziale Praxis, in: Wolfgang Hardtwig (Hg.), Utopie und politische Herrschaft im Europa der Zwischenkriegszeit, München 2003, S. 13–39, hier S. 20. 21 Markwick, Rewriting History, S. 42. 22 Kolář, master narratives, S. 229ff.

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Referat bei den Zuhörern einen „tiefen Schock“ und eine „Glaubenskrise“ hervor.23 Eine kritische Auffassung der „vergangenen Periode“ (okres miniony) avancierte zum offiziellen Standpunkt der Partei, nachdem Gomułka, selbst Opfer des Stalinismus, im Oktober 1956 zum Generalsekretär der Partei gewählt wurde. In seiner Version der jüngsten Parteigeschichte, die er in seiner maßgeblichen Rede auf dem VIII. ZK-Plenum am 21. Oktober vorlegte, erweiterte Gomułka die Trennung zwischen den „stalinistischen Deformationen“ und der authentischen Partei um eine chronologische Unterscheidung, indem er den Stalinismus als eine Epoche charakterisierte, die „unwiderruflich der Vergangenheit angehörte“ (okres ten przeszedł w niepowrotną przeszłość).24 Diese Wendung deutete jedoch an, dass eine Epoche, die zu Ende ist, aus sich selbst heraus verstanden und erklärt werden kann. Damit eröffnete sich die Möglichkeit, den Stalinismus unterschiedlich zu interpretieren. War der Stalinismus – um mit Ranke zu sprechen – wie jede andere Epoche „unmittelbar zu Gott“, so wurde er nun zu einer Geschichte, die verschiedenen Auslegungen zugänglich war. Stalinismus war eine „Etappe“, mit Anfang und Ende. „Der Personenkult“, beteuerte 1963 der tschechoslowakische Ministerpräsident Široký auf einer Bezirkskonferenz, „muss als ein gegebenes System in einer bestimmten Etappe der Entwicklung unserer Partei und der internationalen kommunistischen Bewegung gesehen werden. Damit betrügen wir niemanden und sagen der Partei einzig und allein die Wahrheit.“25 23 Karol Modzelewski, Zajeździmy kobyłę historii. Wyznania poobijanego jeźdźca, Warszawa 2013, S. 83–84. Ähnliche Zeugenschaft gab rückblickend auch der Erste Sekretär der PZPR Edward Ochab: „Das war ein schrecklicher Schlag über den Kopf. Wir wußten zwar von Entstellungen oder Verbrechen, aber nicht von diesem Ausmaß und dieser Schändlichkeit. Für uns alle war die Rede Chruschtschows ein Schlag, der uns völlig unvorbereitet traf.“ Zit. n. Teresa Torańska, Die da oben. Polnische Stalinisten zum Sprechen gebracht, Köln 1987, S. 56. 24 Władysław Gomułka, Przemówienia. Październik 1956 – wrzesień 1957, Warszawa 1957, S. 7. 25 Státní oblastní archiv Litoměřice [Staatliches Gebietsarchiv Litoměřice; im Folgenden abgekürzt: SOA Litoměřice], KV KSČ Nordböhmen, k. 16, Plenarsitzung 3.–4.4.1963, Bl. 91. Allerdings bedeutet Historisierung einer Epoche zugleich auch ihre Wertneutralisierung. Eine Epoche wird zur Geschichte, wenn sie nicht mehr als eine negative Kontrastfolie erscheint, gegen welche die Gegenwart gemessen wird. Hier ist der Vergleich zum Nationalsozialismus richtungsweisend: Im berühmten Austausch mit Saul Friedländer argumentierte Martin Broszat, dass Ende der achtziger Jahre das NS-Regime nicht mehr als der negative „identitätsstiftende Andere“ auftreten, sondern wie jede andere geschichtliche Epoche aus ihren eigenen Zusammenhängen und Denkhorizonten heraus verstanden werden sollte. Der Vergleich mit der Historisierung des Stalinismus um 1956 ist allerdings problematisch, weil dieser zeitgleich sowohl als der signifikante Andere wie auch als ein interpretationsoffener geschichtlicher Zeitabschnitt betrachtet wurde. Vgl. Norbert Frei

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Die Historisierung des Stalinismus, die mit seiner Proklamation zu einer abgeschlossenen Epoche begann, öffnete die Büchse der Pandora: Die Auseinandersetzungen über „Fehler“ und „Deformationen“ vom Frühling 1956 gingen weit über die Beschäftigung mit Stalin allein hinaus. Debattiert wurde über die allgemeinen Merkmale der Zeit und über die „objektiven gesellschaftlichen Voraussetzungen der Entstehung des Personenkultes“, das heißt über die Wurzeln des Stalinismus in der Partei und Gesellschaft. Dieser Verschiebung lag der offensichtliche Widerspruch zwischen dem erzählerisch-beschreibenden, individualisierenden Charakter von Chruschtschows Kritik am Personenkult einerseits und der ausbleibenden Erklärung seiner Ursachen andererseits zugrunde. Das Bemühen der Parteiführungen, den Personenkult ausschließlich anhand von Stalins Taten („Übergriffe“) zu deuten, erschien bereits vielen zeitgenössischen Beobachtern angesichts der fehlenden Analyse der „Produktionsverhältnisse“ und „Gesellschaftskräfte“ als auffallend „unmarxistisch“. Treffend bezeichnete François Furet Chruschtschows Rede als einen Angriff auf Stalin mit stalinistischen Mitteln.26 Die Forderungen nach einer weiterführenden Auseinandersetzung mit dem Stalinismus wurden sowohl in den intellektuellen Parteieliten als auch in der Parteibasis stärker. Sie lehnten die von Chruschtschow angebotene individualisierende Geschichtsauffassung ab und forderten stattdessen eine „echte marxistische Analyse des Personenkultes“. Zum Beispiel bezeichnete der polnische Philosoph Adam Schaff in seinem Artikel Wofür kämpfen wir und was streben wir an in der Auseinandersetzung mit dem Personenkult, der in der Aprilausgabe des „Theorieorgans“ der PZPR Nowe Drogi (Neue Wege) erschien, den Personenkult als ein „kompliziertes theoretisches Problem“ und eine „komplexe soziale Erscheinung“, die nur mit Hilfe einer vertiefenden historisch-soziologischen Analyse begriffen werden könne.27 Nicht nur Stalins Taten müssen kritisch untersucht werden, sondern auch, und vor allem, die „tief liegenden Ursachen“, die „breiten Zusammenhänge“ und die „Mechanismen und Gesetzmäßigkeiten“. Das Bild Stalins als (Hg.), Martin Broszat, der „Staat Hitlers“ und die Historisierung des Nationalsozialismus, Göttingen 2007 (darin vor allem der Beitrag von Saul Friedländer und die nachfolgende Diskussion, S. 188–213); vgl. Pavel Kolář, Historisierung, in: Frank Bösch/Jürgen Danyel (Hg.), Zeitgeschichte. Konzepte und Methoden, Göttingen 2012, S. 131–143. Zur Frage der Historisierung einzelner Epochen siehe Hartmut Westermann, Epochenbegriffe und Historisierung. Ein Gespräch mit Kurt Flasch, in: Internationale Zeitschrift für Philosophie 2, 2004, S. 193–209. Flasch spricht sich gegen den Gebrauch des Epochenbegriffes aus, der nicht mehr zeitgemäß sei. Stattdessen plädiert er für „Begriffe mittleren Umfangs“, die er als „geschichtliche Tendenzen“ versteht, hier S. 196–198. 26 Furet, Ende der Illusion, S. 559ff. 27 Adam Schaff, Z czym walczymy i do czego dążymy występując przeciwko „kultowi jednostki“, in: Nowe Drogi 10, 1956, Nr. 4, S. 18–29.

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genialer und unfehlbarer Führer wie auch – in kritischer Sicht – als verbrecherischer Gestalter der Geschichte, sei durchweg ein „altes idealistisches und antimarxistisches Erklärungsmuster“.28 Der offizielle Standpunkt der PZPR war zwar weniger radikal, doch verlangte z. B. der ZK-Sekretär Jerzy Morawski nach einer „historischen Untersuchung der gesellschaftlichen Voraussetzungen des Personenkultes“.29 Den Personenkult solle man als Geschichte analysieren, aber nach anderen Regeln als es die stalinistische Piatitschlenka vorsah. Man suchte ein Gleichgewicht zwischen der Erforschung gesellschaftlicher Strukturen und menschlicher Handlung, und bekannte sich damit zum Marxschen Diktum aus dem Achtzehnten Brumaire, dass die Menschen zwar ihre eigene Geschichte machen, aber nur unter gegebenen, überlieferten Umständen. Daraus folgte, dass nicht einmal die „Gesetze des historischen Materialismus“ die Geschichte ganz frei machen können. Kein geschichtliches Subjekt, sei es Mensch oder Struktur („Gesetz“), sei frei in seiner geschichtlichen Wirkungsmächtigkeit, sondern bleibe der Kraft der historischen Kontingenz ausgesetzt. In der KSČ blieb eine ähnliche Kritik am Personenkult zunächst aus; die Diskussion konzentrierte sich zu Beginn vorsichtig auf die Kritik des „bürokratischen Systems“ und des „Subjektivismus“.30 Die historische Komplexität des Stalinismus wurde jedoch klar erkannt. Der Leitartikel des Theorieorgans Nová mysl (Neues Denken) vom April 1956, betitelt Der geschichtliche Weg der KSČ, fasste den Personenkult „keineswegs als eine Frage der persönlichen Eigenschaften, der Mentalität oder des politischen Profils der führenden Funktionäre“ auf, sondern als „das gesamte politische und ideologische Herrschaftssystem (celý politický, mocenský a ideologický systém), das in der internationalen Arbeiterbewegung vor allem durch J. V. Stalin durchgesetzt“ wurde.31 Zwar blieb die althergebrachte Deutungslinie der Parteigeschichte, die auf der „Bolschewisierung“ der KSČ nach dem V. Parteitag 1929 und besonders der Symbolfigur des stalinistischen Parteiführers Klement Gottwald ruhte, unversehrt. Aber die Auflockerung der bisher geschichtssicheren Sprache war nicht zu übersehen. So wurde nunmehr die „Stählung“ der Partei (zocelení strany, d. h. der Bolschewisierungsprozess seit 1929) weder als geradlinig noch als einfach beschrieben. Die Geschichte der Partei war demnach nicht frei von „Niederlagen“, „Schwankungen“ (výkyvy), „großen Umwegen“ (velké okliky), „Konflikten“ (ein Ausdruck, der anstelle des bisherigen Monopolbegriffes des 28 Ebenda, S. 19. 29 Komunikat o VI Plenum KC PZPR, in: Nowe Drogi 10, 1956, Nr. 3, S. 34. 30 František Šamalík, Za leninský styl práce státního aparátu, in: Nová mysl 10, 1956, Nr. 4, S. 333–346; Dějinná cesta KSČ, in: Nová mysl 10, 1956, Nr. 5, S. 402–409. 31 Ebenda, S. 405.

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„Klassenkampfes“ vorübergehend auftritt), von taktischen Wendungen und Rückschlägen (zvraty) und „widerspruchsreichen Entwicklungen“ (protikladné cesty). Die stalinistische Semantik der Geradlinigkeit und Irreversibilität war dahin. Die ersten Reaktionen in der überraschten SED-Führung waren weniger kritisch und lassen sich als eine Mischung von Schuld-Leugnung und behutsamer Vergangenheitsrevision bezeichnen. Ulbricht wendete die Gefahr einer „Fehlerdebatte“ in der Partei durch seine schnelle Reaktion im Neuen Deutschland vom 4. März ab, in der er lapidar feststellte, dass Stalin nicht mehr zu den Klassikern des Marxismus zu rechnen war. Dennoch kam es seit März 1956 zu semantischen Verschiebungen im offiziellen Parteivokabular, die das bisherige Geschichtsbild modifizierten. Ulbricht sprach von „Korrektur“ und „Revision“, die sich auf die Fehler der KPdSU-Parteiführung und besonders auf die von Stalin bezog. Kritischer war der Ton des zweiten Mannes der SED Karl Schirdewan. Auf der richtungsgebenden Dritten Parteikonferenz der SED Ende März 1956 sagte er: „Was die Würdigung Stalins anbelangt, so müssen wir unsere bisherigen Anschauungen einer Revision unterziehen. […] In den letzten fünfzehn Jahren seiner leitenden Arbeit sind Fehler und Irrtümer in seinem Wirken aufgetreten, durch die der Sache des Sozialismus Schaden entstanden ist.“32 Im Allgemeinen wurden in der SED Zweifel an der Geschichtssicherheit und die Enttäuschung über die eigene Vergangenheit weniger laut als in den anderen Ostblockländern. Den Anspruch auf die Souveränität über die eigene Geschichte drückte das SED-Politbüro am prägnantesten im Neuen Deutschland am 8. Juni 1956 aus. Zwar wurde weiterhin empfohlen, „Lehren zu ziehen“, aber nicht, „indem wir unseren Blick in der Hauptsache auf die Vergangenheit richten, sondern indem wir nach vorn schauen und vorwärts schreiten.“33 Obwohl die offene Stalinismus-Kritik durch den Beschluss des ZK der KPdSU Über die Überwindung des Personenkultes und seiner Folgen vom Juni 1956 teilweise eingehegt wurde und die aktivsten Kritiker verschiedenen disziplinären Parteimaßnahmen unterzogen wurden, konnte der einmal geöffnete Raum der parteiinternen Debatte nicht mehr geschlossen werden. Roger D. Markwick schrieb über eine ähnliche Entwicklung in der poststalinistischen Historiografie in der Sowjetunion: „Zwar [hat man] die halbgeöffnete Tür in die Vergangenheit den ‚Kindern des XX. Parteitages‘ vor der Nase zugeschlagen – aber sie hörten nicht auf zu klopfen.“34 In den Parteien fing ein Suchen und Ausprobieren an, das sich in Forde32 Zit. n. Hermann Weber, Geschichte der DDR, München 2000, S. 190. 33 Zit. n. Andreas Malycha/Peter Jochen Winters, Geschichte der SED. Von der Gründung bis zur Linkspartei, Bonn 2009, S. 127. 34 Markwick, Rewriting History, S. 49.

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rungen niederschlug, die eigene Geschichte neu zu schreiben. Die Entstalinisierung erschien somit auch als eine Rückkehr der Geschichte. Die Vergangenheit versuchte sich vom Joch der Zukunft zu befreien, die im stalinistischen Geschichtsbild den Gang der Geschichte uneingeschränkt bestimmte.35 Während im Stalinismus Geschichte immer auf „fortschrittliche“, zukunftsorientierte Kräfte eingeengt wurde und das gesamte „heterogene Kontinuum“ der Vergangenheit (Max Weber) zum bloßen Vorwort einer glänzenden Zukunft verkam, mussten im Zuge der Auseinandersetzungen mit dem Personenkult die Parteien das Verhältnis zwischen der Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft neu ordnen. Im Unterschied zum Paradigma des Kurzen Lehrgangs, demzufolge Geschichte die Gesetze des historischen Materialismus zu erfüllen hatte, öffnete Chruschtschows Betonung der „Fehler“, „Irrtümer“ und „falschen Entwicklungen“ den Raum für Unregelmäßigkeit und Zufall. Dabei stützte sich Chruschtschows Angriff auf Stalin auffällig oft auf den Begriff der „Tatsachen“ (fakty), und zwar vor allem auf jene, die von den ratifizierten „Gesetzen der historischen Entwicklung“ abwichen, einschließlich Verbrechen, „Übergriffe“ und Fehlentscheidungen in der Partei. Mit seiner lakonischen Phrase, „erinnern wir uns an einige historische Tatsachen“ (Obratimsja k nekotorym faktam istorii),36 die den erschreckenden Katalog der Verbrechen Stalins eröffnete, sowie mit weiteren Bezügen auf „Tatsachen“37 rief Chruschtschow ein neues Erzählmuster ins Leben, das die Vergangenheit vom Diktat der Zukunft befreite. Wie Ranke in der akademischen Historiografie ein Jahrhundert zuvor, löste Chruschtschow einen historical turn in die marxistisch-leninistische Geschichtserzählung aus. Chruschtschows Rhetorik erinnert an Rankes Fakten-Zentrierung. Als Ranke feststellte: „Strenge Darstellung der Tatsache, wie bedingt und unschön sie auch sei, ist ohne Zweifel das

35 Nach Martin Sabrow herrschte in der kommunistischen Geschichtserzählung das Erzählprinzip der „Futurität“ über die „Historizität“ vor. Martin Sabrow, Auf der Suche nach dem materialistischen Meisterton. Bauformen einer nationalen Gegenerzählung in der DDR, in: Konrad H. Jarausch/Martin Sabrow (Hg.), Die historische Meistererzählung, Göttingen 2002, S. 33–77, hier S. 64ff. 36 Chruschtschow, Geheimrede, S. 19. 37 Insgesamt verwendet Chruschtschow den Begriff der Tatsache/des Faktums in der Geheimrede fünfzig Mal, in Wendungen wie „So sehen nur einige historische Fakten aus“, „Die Tatsachen beweisen“, „Diese und viele andere Fakten zeugen davon, dass …“, „Wie sind die Tatsachen in dieser Angelegenheit?“, „offenkundige Tatsache“, „bekannt ist auch die folgende Tatsache“, „Das Ignorieren offenkundiger Fakten“, „Im Gegensatz zu den Tatsachen, im Widerspruch zur historischen Wahrheit“, „die Möglichkeit, Fakten zu prüfen“, „So sind die Tatsachen, Genossen. Man muss es geradeheraus sagen, die schmachvollen Tatsachen.“

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oberste Gesetz“,38 meinte er nicht, dass die Tatsachen autonom wären. Doch im Zuge der „Verwissenschaftlichung“ der Geschichtsschreibung und durch den Aufstieg des empirischen Positivismus im 19. Jahrhundert etablierte sich die Vorstellung einer unabhängigen Existenz der Fakten. Man zeigte den Fakten gegenüber größeren Respekt, da sie weniger durch den Erzähler manipulierbar schienen. Der Erzähler tritt hier als Beobachter auf, als Sammler und auch Trauernder, der die Fakten nicht mehr gestaltet, sondern gleichsam wahr- und hinnimmt. Chruschtschows Geschichtsauffassung trägt Züge dieser Faktengläubigkeit, die keinerlei Interpretation erfordert. Bei Fustel de Coulanges hieß es einst: „Ich bin es nicht, der spricht, sondern die Geschichte spricht durch mich.“39 In Chruschtschows Geheimrede klingt es ganz ähnlich: „Genossen! Ich werde diese Dokumente nicht kommentieren. Sie sprechen für sich selbst.“40 Die Neuartigkeit von Chruschtschows historical turn zeigt sich, wenn wir Stalins Geschichtsdiskurs zum Vergleich heranziehen. Stalin verwendete den Begriff der Tatsache in einem anderen Sinne. In seiner Rede Über die Mängel der Parteiarbeit und die Maßnahmen zur Liquidierung der Trotzkisten und sonstigen DoppelZüngler von 1937 bedeutete „Tatsache“, dass die Partei naturgegebenen, unbezweifelbaren Entwicklungsgesetzen zu folgen hat, die ausschließlich die marxistisch-leninistische Weltanschauung zu erkennen im Stande ist. Stalins Bezüge auf „grundlegende“, „wesentliche“, „unbestreitbare“ Tatsachen sollten die etablierte ideologische Geschichtserzählung bestätigen. „Tatsachen“ sind somit die von Stalin selbst bescheinigten sacro sancta, die nur innerhalb des ideologischen Deutungssystems bestehen.41 In seinem Angriff auf die sowjetische Geschichtsfor38 Leopold Ranke, Vorrede zu den „Geschichten der romanischen und germanischen Völker von 1494 bis 1535“ (1824), in: Wolfgang Hardtwig (Hg.), Über das Studium der Geschichte, München 1990, S. 44–46, hier S. 46. 39 Zit. n. Karl Dietrich Bracher, Schlüsselwörter in der Geschichte. Mit einer Betrachtung zum Totalitarismusproblem, Düsseldorf 1978, S. 44. 40 Chruschtschow, Geheimrede, S. 13; zum positivistischen Begriff des Fakts siehe Harry Ritter, Dictionary of Concepts in History, Westport 1986, S. 153–160; Karl-Georg Faber, Theorie der Geschichtswissenschaft, München 1982, S. 62–65; vgl. auch Chris Lorenz‘ Kapitel „Was ist ein Faktum?“ in: Ders., Konstruktion der Vergangenheit. Eine Einführung in die Geschichtstheorie, Köln 1997, S. 18–22. Lorenz vergleicht Faktum, Ereignis und Begriff. Aus seinen Deutungen lässt sich schlussfolgern, dass während Stalin vor allem auf den ontologischen Status eines Fakts zielte, auf den Wahrheitsgehalt und die „Gewissheit“ (als Gegensatz zur Fiktion), stand bei Chruschtschow die narrative, zeitliche EreignisDimension im Vordergrund. Fakten sind demnach vor allem menschliche Taten und Ereignisse, die Anfang und Ende, eine Dauer haben, die „stattfinden“. Sie können auch als „Sachverhalte“ verstanden werden. Ebenda, S. 20–22. 41 Z. B.: „Das sind die drei unbestreitbaren Tatsachen, die sich zwangsläufig aus den Berichten und den Diskussionsreden ergeben.“ J. W. Stalin, Über die Mängel der Parteiarbeit und

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schung in der Zeitschrift Proletarskaja Revolucija von 1931 versetzte Stalin nicht nur den „Archivratten“, wie er die Geschichtsforscher nannte, einen schweren Schlag, sondern führte ein neues Prinzip der „geltenden“ historischen Wahrheit ein: Mit der Gegenüberstellung von „Taten“ (der Parteiführer) und deren „bloßen Erklärungen“, wie sie in den Dokumenten überliefert sind, näherte sich Stalin der vorhistoristischen Auffassung der Geschichte an, in welcher „Tatsachen“ zunächst als die „Sachen der That“ Gottes verstanden wurden, d. h. als Erscheinungen, an denen sich göttliches, übernatürliches Wirken in der Geschichte aufweisen lässt.42 Während Stalins Begriff der „grundlegenden Tatsachen“ konfirmativ ist, haben Chruschtschows fakty dagegen den Charakter der Entdeckung. Nun schienen Chruschtschows fakty, hervorgehend aus aufbewahrten Archivdokumenten, Stalins „Thaten“ als einzig gültiger Beleg historischer Wahrheit zu verdrängen.

Welch ein Galimathias! Die Geheimrede unter den Parteimassen Obwohl sich die einzelnen Parteien in unterschiedlichen Situationen befanden, lassen sich im Hinblick auf die „Rückkehr der Geschichte“ und die Chruschtschowsche Wendung zur Faktizität ähnliche Argumentationsmuster ausfindig machen. Überall prägte das Reden über die Geschichte den Parteialltag. In Versammlungen, Sitzungen, Komitees und „Aktiven“ wurde leidenschaftlich über die Vergangenheit und Zukunft der Partei und des Sozialismus diskutiert. Allerdings sollte man dieses neue Handlungsvermögen nicht mit Widerstand gleichsetzen, denn es wurden keine alternativen Utopien im Sinne einer neuen Großerzählung entworfen. Ins Auge fällt zunächst die Vielfalt eigensinniger Deutungen der Vergangenheit, die durch den Chruschtschowschen historical turn hervorgerufen wurde. Diese neue Imagination war von Geschichtsskepsis, Heterogenität und antiteleologischer Orientierung gekennzeichnet. Im Frühjahr 1956 hat demnach der Erfahrungsraum den Erwartungshorizont vollends verschluckt, um Koselleck zu paraphrasieren. Die Momentaufnahme der Diskussionen zeigt vor allem Verunsicherung und Widersprüche. Die früher übliche Praxis der „Standardisierung“ der lokalen Parteisitzungen durch autoritative Parteitexte war dadurch erschwert, dass zuerst keine Richtlinien vorlagen und in der Parteipresse zeitweilig gegensätzliche Stellungnahmen erschienen. Die Machtkämpfe in den Parteiführungen, vor allem in Polen und Ungarn, kündigten das die Maßnahmen zur Liquidierung der Trotzkisten und sonstigen Doppel-Züngler, in: Ders., Werke/14 Februar 1934–April 1945, Bd. 14, Dortmund 1976, S. 119–160. 42 Arndt Brendecke, Tatsache, in: Stefan Jordan (Hg.), Lexikon Geschichtswissenschaft. Hundert Grundbegriffe, Stuttgart 2002, S. 282–285, hier S. 282.

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Ende der Einheit der Parteien an. Streitigkeiten zwischen Konservativen und Reformern brachen aus – zwischen Ochab und Morawski in Polen, zwischen Novotný’s stalinistischer Parteiführung und den reformistischen Intellektuellen in der Tschechoslowakei wie auch zwischen Ulbricht und den Reformern um Schirdewan und Intellektuellen wie Wolfgang Harich. Diese Richtungskämpfe waren mit einem semantischen Wandel unterfüttert, da zwischen März und Juni 1956 neben „Personenkult“ weitere Begriffe in der Parteisprache auftauchten, wie z. B. „friedliche Koexistenz“, „Dogmatismus“, „Revisionismus“, „sozialistische Demokratie“ oder „Verletzung der sozialistischen Gesetzlichkeit“, deren Bedeutung lange unklar blieb. Diese zeitweise Lockerung des Ideologiediskurses sprengte die etablierte Sprachordnung der Parteiversammlungen. Während vor 1956 die Sitzungen, die meistens aus einem langen Referat des leitenden Sekretärs bestanden, worauf der Beifall der Komitee-Mitglieder folgte, einer strengen Hierarchie unterworfen waren, fand nach 1956 zum ersten Mal ein offener Meinungsaustausch statt. Die Funktionäre nahmen diese neue Situation mit unverhülltem Erstaunen wahr, wurde doch gerade die „Ungewöhnlichkeit“ und „Präzedenzlosigkeit“ der neuen Entwicklung betont. Sie bezeichneten die Parteidebatten als „ungewöhnlich offen“, „kritisch und neugierig“, „fruchtbar und reichhaltig“ oder „stürmisch wie in der Zwischenkriegszeit“. Die tschechischen Kommunisten beispielsweise fühlten sich regelrecht in das „goldene Zeitalter“ der Ersten Republik und der demokratischen Verhältnisse in der Partei hineinversetzt. Die Debatten haben sich, so ein Resümee aus Katowice, in einer „ungewöhnlich angespannten ideologischen Atmosphäre“ entfaltet (w niezwykle napiętej atmosferze ideowej).43 Für die meisten Parteigenossen stand außer Frage, dass sich Ereignisse von weltgeschichtlicher Bedeutung vor ihren Augen abspielten. Der Erste Sekretär des KSČ-Bezirks Ostrava sprach von einer „absoluten Veränderung im Leben unserer Grundparteiorganisationen“ und von „weitreichenden Veränderungen im Parteileben“.44 Sicherlich hatte es auch in den stalinistischen Parteien „Spannungen“ gegeben, aber sie waren von einer anderen Art. Sie wurden von den Erwartungen und der Unsicherheit darüber geprägt, was die neuen Schritte Stalins als des Master Editors des Ideologiediskurses und seiner nationalen Pendants bringen werden. Die neue Spannung nach 1956 wurde dagegen gerade durch das Ausbleiben der Diskurssteuerung hervorgerufen und durch die neu entstandene Vielfalt der Parteidiskussionen genährt. 43 Archiwum Akt Nowych [Archiv der Neuen Akten Warschau, im Folgenden abgekürzt AAN], KC PZPR 237/VII-2952, KW PZPR Katowice, Plenarsitzung 11.7.1956, Bl. 7. 44 Zemský archiv v Opavě [Landesarchiv Opava, im Folgenden abgekürzt ZA Op], KV KSČ Ostrava, Plenarsitzung 29.4.1956, Bl. 28.

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Die Kritik der lokalen Kommunisten zielte zunächst vor allem auf die eigenen Fehler. In der SED-Bezirksleitung Halle, wo man noch Mitte Januar 1956 Stalin ausführlich zitierte,45 sprach der Erste Sekretär Anfang März von vielen „negativen Erscheinungen“ in den Parteiversammlungen, wie: „Klatschen und Beifallovationen“ oder „Buchstabengelehrtheit und Talmudismus“.46 In Polen kritisierten die PZPR-Mitglieder die „Fehler“ (błędy) und „Verzerrungen“ (wypaczenia), sprachen aber auch von „Überraschung“, „Orientierungslosigkeit“ sowie der „schweren Situation“.47 Die gesamte Partei warf sich in die Diskussion über die eigene jüngste Vergangenheit, um das schwere Trauma zu überwinden: Wir sind Zeugen eines Fegefeuers, dem alles, was unsere Partei und wir alle in der vorherigen Ära gemacht haben, ausgeliefert ist. Sowohl in der Partei als auch im Volk gibt es jetzt eine große Aufregung, einen großen Drang nach Diskussion, es entwickelt sich eine Stimmung von Kühnheit und Ehrlichkeit. Es überwiegen vor allem schmerzhafte und tragische Akzente, es überwiegen Probleme, die mit der Frage des Personenkultes verbunden sind.48

Vom „Fegefeuer der Diskussion“ zeugen ebenso die ungewöhnlich hohe Anzahl der Diskussionsteilnehmer und die Ausführlichkeit ihrer Beiträge: Die Protokollbände aus dem Jahr 1956 sind viel umfangreicher als diejenigen aus der Zeit davor. Revolutionär war aber außerdem, dass die meisten Parteimitglieder nach dem XX. Parteitag ihren ersten Diskussionsbeitrag lieferten. Offensichtlich gab der Ausnahmezustand vom Frühling 1956 Anlass zur Überwindung von Hemmungen. Bei genauerem Hinsehen auf die Sitzungsprotokolle kommen verschiedene Rednerhierarchien zum Vorschein, die nicht unbedingt die Trennlinie zwischen den Führungsfunktionären und Hinterbänklern nachzeichneten. Einige Parteifunktionäre und -funktionärinnen weigerten sich vor 1956 zu sprechen, etwa weil sie von ihrer „ungenügenden theoretischen Bildung“ überzeugt waren. Die „Unterdrückung von Kritik“ ging nicht auf die Angst vor Repression zurück, sondern auf Unsicherheit bezüglich ideologischer Kompetenzen, die als kulturelles Kapital im Parteileben fungierten. Sie umfassten die Kunst des Redens, Überzeugens, Verfassens und der Reproduktion von Texten.49 Zum Beispiel hätte eine KSČ-Parteifunktionärin vor 1956 das Wort in den Versammlungen deshalb nicht ergriffen, weil „früher nur die Sekretäre oder Funktionäre, die eine Schulung durchgemacht 45 Landeshauptarchiv Merseburg (im Folgenden abgekürzt LHASA, MER), SED-Bezirksleitung Halle, IV/2/1/15, Plenarsitzung 13.1.1956, Bl. 56. 46 LHASA, MER, SED-Bezirksleitung Halle, IV/2/1/15, Plenarsitzung 2.3.1956, Bl. 115. 47 AAN, KC PZPR, 237/VIII-3010, KW PZPR Katowice, Narady aktywu partyjnego, Sitzung 29.3.1956, Bl. 198. 48 Ebenda, Bl. 215. 49 Zu diesen „ideologischen Kompetenzen“ siehe Alexei Yurchak, Everything Was Forever, Until It Was No More. The Last Soviet Generation, Princeton 2006, S. 47ff.

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hatten, diskutierten. Deshalb haben wir nicht diskutiert, weil wir glaubten, wenn wir etwas falsch gesagt hätten, hätten die Genossen über uns gelacht, und dann haben wir Lampenfieber bekommen.“50 Die Versammlungen nach 1956 waren für die meisten Parteimitglieder die erste Diskussionserfahrung. Eine Sitzung der SED-Kreisleitung in Artern Mitte März 1956 zeigt, wie die etablierten Rednerhierarchien samt der Führungsautorität der leitenden Parteifunktionäre, zumindest vorübergehend, zerfielen. Diskutiert wurden die Entstehungsumstände des Personenkultes, wobei wiederholt die Frage nach der Verantwortung von Stalins Umfeld laut wurde.51 Nachdem einer der leitenden Funktionäre eine kritische Äußerung aus dem Plenum auf Linie zu bringen versucht hatte („das ist keine Diskussion eines Genossen“, „eine unwürdige Behauptung“), wurde aus den Reihen der Versammlungsteilnehmer zurückgeschlagen: „Diese Methoden, immer auf den Schädel zu hauen, wenn ein Diskussionsbeitrag nicht so ausfällt, wie es dem Gen. Kleine passt, müssen aufhören. Gen. Pfeiffer hat nur mit seinem Diskussionsbeitrag betr. den XIX. Parteitag zum Ausdruck bringen wollen, wie Stalin verherrlicht wurde, so habe ich das aufgefasst und wohl die anderen Genossen auch.“52 Semantisch wurde der Bruch der bisherigen Diskussionsordnung durch die oftmalige Verwendung der Begriffe der Wahrheit (pravda, prawda) und Wirklichkeit (skutečnost, rzeczywistość) unterstrichen, die dem neuen Sprechregime der „Faktizität“ entsprangen.53 Eine KSČ-Funktionärin aus Ústí nad Labem/Aussig widmete Ende April 1956 ihren Beitrag den Schwierigkeiten beim Vertrieb von Süßspeisen und appellierte an die neu entdeckte Notwendigkeit, die Wahrheit auszusprechen: „Den Menschen soll man die Wahrheit sagen. Heute habe ich zum ersten Mal diskutiert. Ich weiß nicht, ob es richtig war, aber ich sagte es so gut ich konnte, und glaubt mir, ich habe von ganzem Herzen gesprochen.“54 Das Verlangen nach Wahrheit signalisierte die Distanzierung von der mit „Verzerrungen“ belasteten jüngsten Vergangenheit. Für die tschechoslowakischen Kommunisten war es unfassbar, dass nur ein Jahr zuvor eine „wahrhaftige Diskussion“ noch nicht

50 SOA Lit, KV KSČ Ústí nad Labem, k. 7, Plenarsitzung 28.4.1956, Bl. 33 und 53. 51 Kritisiert wurde vor allem Mikojan und seine Stalin-Lobrede auf dem XIX. Parteitag der KPdSU. 52 LHASA, MER, SED-Kreisleitung Artern, IV/401/26, Plenarsitzung 14.4.1956, Bl. 181– 183. 53 Vgl. das Kapitel „The Party Is Always Right“ in: Sheila Fitzpatrick, Everyday Stalinism, Ordinary Life in Extraordinary Times. Soviet Russia in the 1930s, New York 1999, sowie Martin Sabrow, Das Wahrheitsproblem in der DDR-Geschichtswissenschaft, in: Tel Aviver Jahrbuch für deutsche Geschichte 25, 1996, S. 233–257. 54 SOA Lit, KV KSČ Ústí nad Labem, k. 7, Plenarsitzung 28.4.1956, Bl. 54.

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möglich gewesen wäre.55 Die neue kritische Einstellung bezog sich jedoch nicht nur auf die Wirtschafts- und Versorgungsprobleme, die seit Mai 1956 erneut im Mittelpunkt der Versammlungen standen, sondern auch auf die ideologischen Grundfragen: Die Parteimitglieder fragten nach dem Inhalt der ideologischen Grundbegriffe, allerdings weniger im Lichte der kommunistischen Zukunft, sondern vielmehr der – nicht ganz unbefleckten – Vergangenheit. Der abstrakten und unbezweifelbaren Wahrheit der Zukunft stand die konkrete und unsichere Wahrheit der Vergangenheit gegenüber.56 Am stärksten ergriff der Hunger nach Wahrheit die polnischen Kommunisten, deren Vergangenheit durch die stalinistischen Verfolgungen am schwersten betroffen war. Wahrheit, prawda, war der Gegensatz zum Personenkult. Sie stand im Mittelpunkt der vielbeachteten Rede von Gomułka bei der Großkundgebung in Warschau am 24. Oktober 1956: „Die Parteiführung hat der Arbeiterklasse und dem ganzen Volk die ganze Wahrheit gesagt, unverhüllt und ohne Missverständnisse, die Wahrheit über unsere wirtschaftliche und politische Situation, über die Schwierigkeiten, die zu überwinden sind, um nach vorne zu gehen und eine dauerhafte Verbesserung der Lebensverhältnisse von Arbeitern in Polen zu erreichen.“57 Wahrheit war der Gegenbegriff zu „Deformationen“, sie verkörperte den „Antidogmatismus“; der XX. Parteitag habe eine „Wahrheitsoffensive“ (ofen-

55 Státní okresní archiv Liberec [Staatliches Kreisarchiv Liberec, im Folgenden abgekürzt SOkA Lib], KV KSČ Liberec, k. 6, Plenarsitzung 14.5.1956, unpag., Diskussionsbeiträge Táborský und Jung. 56 Dagegen war im stalinistischen Diskurs der Wahrheitsbegriff fest an die Deutung Stalins und des Zentralkomitees gebunden. Das zeigt sich in Stalins Rede „Über die Mängel der Parteiarbeit“ anhand seiner Darstellung der Verhältnisse in der Kiever Parteiorganisation. Die „Wahrheit“ wurde erst durch das Zentralkomitee entdeckt. „Wer ist Genossin Nikolaenko? Genossin Nikolaenko ist ein einfaches Parteimitglied. Sie gehört zu den gewöhnlichen ‚kleinen Leuten‘. Ein ganzes Jahr lang gab sie Signale über die schlimme Lage in der Parteiorganisation von Kiev, enthüllte die Sippenwirtschaft, das kleinbürgerlich-spießerhafte Herangehen an die Funktionäre, die Unterdrückung der Selbstkritik, das Überhandnehmen der trotzkistischen Schädlinge. Man suchte sie sich vom Leibe zu halten wie eine zudringliche Fliege. Und um sie schließlich loszuwerden, schloß man sie kurzerhand aus der Partei aus. Weder die Kiever Organisation noch das CK der Kommunistischen Partei der Ukraine (Bolschewiki) halfen ihr, die Wahrheit an den Tag zu bringen. Erst das Eingreifen des Zentralkomitees der Partei half, diesen verworrenen Knäuel zu entwirren.“ Stalin, Über die Mängel der Parteiarbeit, S. 155. 57 Władysław Gomułka, Przemówienie na wiecu ludności Warszawy wygłoszone 24. X. 1956 r., in: Gomułka, Przemówienia, S. 53–61, hier S. 55. Gomułka spricht auch von „harter Wahrheit“ (twarda prawda), ebenda, S. 56.

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sywa prawdy) ausgelöst.58 Die örtlichen Funktionäre fühlten sich angesichts der ungenügenden Informationspolitik von der Parteiführung zunehmend mit den Forderungen nach „Wahrheit“ aus der Parteibasis bedrängt: „Die Menschen wollen die Wahrheit kennen – keine Wahrheit darf man zu spät und in kleinen Dosen servieren.“59 Die Wahrheit wurde mit der „wirklichen Partei“ identifiziert, vor allem mit den Massen: Die Massen glaubten an und forderten die Wahrheit. Die Zeit nach dem Oktober 1956 feierte man als „Epoche der Wahrheit“, Gomułkas Rückkehr an die Macht als „Rückkehr der Wahrheit“. Sein berühmtes Diktum, die Zukunft lasse sich nur „auf der Wahrheit aufbauen“, fand in der Partei breite Resonanz.60 In den Gießwerken „Blachonia“ in Częstochowa begrüßte man im November 1956 die neue Entwicklung nach Gomułkas Machtantritt als wirkliche Liberalisierung des Parteilebens, weil „heutzutage alles möglich ist, weil niemand den Menschen die Zügel kurz hält“ („bo nie trzyma się ludzi za mordę“, wörtlich „weil niemand die Menschen an der Fresse hält“). Der neue innerparteiliche Konsens wurde somit vornehmlich auf dem Begriff der Wahrheit aufgebaut, die die verlorene Bindung zwischen der Partei und dem Volk wiederherstellte: „Die Partei hat“, meinte ein Redner aus den Gießwerken, „dem Volk die lange nicht gehörte Wahrheit gesagt, das polnische Volk konnte sich überzeugen, dass die politische Führung bereit ist, seiner Stimme zuzuhören und seinen Kampf zu verwirklichen.“61 Damit setzte sich auch eine neue Zeitwahrnehmung durch, die zwischen der Zeit der Lüge und Heuchelei und der Zeit der Wahrheit unterschied. Die Partei musste dem Volk die „ganze Wahrheit“ sagen, die Parteifunktionäre mussten die Wahrheit den Parteimitgliedern „vor Augen halten“.62 Ebenso ging die Wiederentdeckung der Wahrheit mit Forderungen nach Genugtuung für frühere „Übergriffe“ einher: Die Wahrheit war in diesem Licht vor allem kompliziert und verwi58 AAN, KC PZPR, 237/VII-3179, KW PZPR Wrocław, Protokół narady aktywu partyjnego, 29.3.1956, Bl. 63; Archiwum Państwowe w Katowicach [Staatsarchiv Katowice, im Folgenden abgekürzt AP Kat], KW PZPR, 313/II/6, KP PZPR Częstochowa, Plenarsitzung 6.4.1956, Bl. 72. 59 AAN, KC PZPR, 237/VII-3179, KW PZPR Wrocław, 29.3.1956, Bl. 43. 60 AP Kat, KW PZPR, 313/I/3, KP PZPR Częstochowa, Materiały z VIII Konferencji Sprawodawczo-Wyborczej, 11.–12.12.1956, Bl. 20: „Die heutige Konferenz unterscheidet sich von den bisherigen dadurch, dass wir alles ehrlich aussprechen, indem wir die Wahrheit sagen, Mängel und Fehler anprangern, die wir begangen haben. Wie der Gen. Wiesław sagte, nur in Wahrheit können wir unsere Zukunft bauen.“ 61 AP Kat, KW PZPR, 313/XXVII/2, KP PZPR Częstochowa, Protokół z zebrania wyborczego POP przy Odlewni i Emalierni „Blachonia”, 25.11.1956, Bl. 49. 62 AAN, KC PZPR, 237/VII-2953, KW PZPR Katowice, Plenarsitzung 12.–13.10.1956, Bl. 155.

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ckelt, unangenehm und mit ambivalenten Erfahrungen belastet. So erschien es einem älteren Parteimitglied aus Kielce, der in der „vorherigen Ära“ unter Parteistrafe gestellt wurde: „Wir haben früher die Wahrheit gesagt, und heutzutage sehen wir, dass es an der Wahrheit auf allen Ebenen der Partei von oben nach unten mangelt. Ich bin dem Wojewodschaftskomitee dafür dankbar, dass ich nach unten geschickt wurde, wodurch ich sowohl die Stimmungen und Beschwerden der Massen als auch die Heuchelei kennenlernte.“63 Mit der Wahrheit, wie unklar und unschön sie auch sein mochte, kam die Hoffnung auf die Wiederherstellung ordentlicher Verhältnisse und die Erneuerung des Wegs zum richtigen Sozialismus. Erst die Läuterung durch „Wahrheit“, dann die Verbesserung: Dieser Grundsatz stärkte das Bewusstsein der eigenen Unvollkommenheit und der notwendigen Vervollkommnung. Die neue Erfahrung von Unsicherheit und Unberechenbarkeit der Geschichte wirkte jedoch zugleich bedrückend. Viele Parteimitglieder waren bestürzt, aufgeregt oder sogar fassungslos. In den Berichten ist vom „Schock“, von „großer Tragödie“ oder „riesiger, schmerzhafter Erschütterung“, „Leiden“ und „Missbehagen“64 die Rede; es sei unmöglich gewesen, über die unheimlichen Tatsachen überhaupt zu reden. Ein KSČ-Funktionär aus Liberec berichtete, der vorgelesene Bericht habe auf die Parteimitglieder „deprimierend gewirkt, es war schwierig zu diskutieren“.65 Viele Kommunisten nahmen die „großen Ereignisse“ nicht als äußerliches Geschehen wahr, sondern als Anlass, über eigene Identität zu reflektieren. Sie bezogen die historischen Vorgänge auf ihr früheres Verhalten und offenbarten dabei eine tiefe Verzweiflung: Diese ist allerdings mit der stalinistischen „Selbstkritik“ nicht gleichzusetzen, die viel stärker als eine durch höhere Führungsinstanzen inszenierte Parteiöffentlichkeit, als Raum für Denunziationskampagnen fungierte.66 Die Selbstaussagen der Kommunisten glichen weniger „Schuldgeständnissen“, vielmehr offenbarten sie Enttäuschung, Frustration, Ver63 AAN, KC PZPR, 237/VII-3020, KW PZPR Kielce, Plenarsitzung 28.10.1956, Bl. 283. 64 Beispiele: „Der XX. Parteitag verursachte eine riesige und schmerzvolle Erschütterung.“ AAN, KC PZPR, 237/VII-3719, KW PZPR Wrocław, 29.3.1956, Bl.41; „Als Genosse Kolář uns den Bericht des Zentralkomitees über die Beschlüsse des XX. Parteitages vorgetragen hat, haben manche Passagen tatsächlich Ekel erregt.“ ZA Op, KV KSČ Ostrava, Plenarsitzung 3.–4.4.1956, Bl. 15; „Nicht wenige Parteimitglieder haben mit unverhohlenem Leiden die Art und Weise wahrgenommen, wie der XX. Parteitag die Frage des Genossen Stalin und der ganzen Partei behandelte.“ ZA Op, KV KSČ Ostrava, Plenarsitzung 29.4.1956, Bl. 28. 65 SOA Lit, KV KSČ Liberec, k. 54, Sitzung des Büros 24.5.1956. 66 Zur „Selbstkritik“ in der stalinistischen Sowjetunion siehe Lorenz Erren, „Selbstkritik“ und Schuldbekenntnis. Kommunikation und Herrschaft unter Stalin (1917–1953), München 2008, bes. S. 93–133; Fitzpatrick, Everyday Stalinism, S. 198f.

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unsicherung und Verwirrung. Das galt besonders für die Propagandisten, die ihr bisheriges Werk in Trümmern liegen sahen. Anfang April 1956 gestand ein KSČPropagandist in Ostrava, dass er „gestern nur schwer einschlief“, weil er an viele seiner Referate dachte, „die ich als Propagandist vortrug, als ich über die Fragen des XX. Parteitages sprach, über Stalin, über die Fragen des Weges zum Sozialismus und der Entwicklung der Welt überhaupt“.67 Der Unterschied zu den stalinistischen Selbstkritik-Ritualen bestand darin, dass die Verantwortung entpersonalisiert und die Fehler einer höheren Ebene – der Partei als Ganzem – zugeschrieben wurde. Besonders empfindlich für die Kritik an Stalin waren oft die weiblichen Parteimitglieder. In Ostrava mussten laut Berichten einige Genossinnen während der Verlesung des Referates den Saal verlassen, „weil es ihr Herz nicht vertragen konnte“.68 In Wrocław berichtete eine gerührte Parteifunktionärin, dass ihr Sohn, der während der Stalin-Zeit als Propagandist gearbeitet hatte, und „die ganze Zeit unsere Linie verteidigte“, zusammenbrach.69 Deutliche Risse bekam neben dem Bild der Kommunistin als unerschrockener Aufbau-Kämpferin an der Seite des Mannes auch die Vorstellung von der Jugend als Zukunftsträgerin der Partei. Betroffen waren junge Parteifunktionäre, deren ideologische Weltsicht sich erst während des Stalinismus herausgebildet hatte. Sie waren besonders stark in der „Parteiarbeit“ engagiert und umso schwerer wog ihr Schock und Unverständnis. Ein junger Klubhausleiter, der in „unserer Ordnung“ groß geworden war und wie viele andere Jugendliche „um das Stalin-Banner gekämpft“ hatte, fragte Mitte April 1956 in der SED-Kreisleitung von Mansfeld, wie es möglich gewesen sei, „dass sich so etwas hat entwickeln können und warum […] hier die KPdSU, deren Mitglied doch Genosse Stalin war, nicht [hat] erziehen können. Das ist die Frage, die mich bewegt als jungen Menschen“.70 In der SED-Kreisleitung Artern lamentierte ein junger Lehrer über die schwierige Situation in der Kindererziehung, wo Stalin früher im Mittelpunkt der Lehrpläne gestanden hatte: „Uns jungen Genossen sitzt der Kloß genauso in der Kehle wie den alten Genossen.“71 Diese Verzweif67 ZA Op, KV KSČ Ostrava, Plenarsitzung 3.–4.4.1956, Bl. 7. 68 Archiv města Ostravy [Stadtarchiv Ostrava, im Folgenden abgekürzt MA Ost], MV KSČ Ostrava, Plenarsitzung 5.5.1956, unpag. 69 AAN, KC PZPR, 237/VII-3719, KW PZPR Wrocław, 29.3.1956, Bl. 64. 70 LHASA, MER, SED-Kreisleitung Mansfeld, IV/413/2/17, Plenarsitzung 12.4.1956, Bl. 23. 71 LHASA, MER, SED-Kreisleitung Artern, IV/401/26, Plenarsitzung 14.4.1956, Bl. 183. Dennoch waren die einzelnen Generationen anders vom Trauma der Vergangenheit betroffen und arbeiteten es auf unterschiedliche Weise auf. Die Auseinandersetzung mit der Kritik am „Personenkult“ bedrohte den Generationszusammenhalt der Partei, der gerade im Poststalinismus zu einem gewichtigen Problem des „Parteilebens“ wurde und schließ-

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lung zeigt, wie sehr die kommunistischen Selbstentwürfe vom Drang nach Einheit und Integration geprägt waren und wie sehr das Sich-Verlassen auf die Partei eine existenzielle Bedeutung für die Kommunisten hatte.72 Zugleich wird deutlich, dass das Potential utopischer Energien bei den Parteimitgliedern noch nicht erschöpft war: Vor allem die Partei als eine unerschütterliche Autorität schien oft bestätigt. Die Sehnsucht nach Kohärenz und Schlüssigkeit wird nur angesichts der vorherigen Verwirrung und Orientierungslosigkeit verständlich, die nach der Offenbarung der bestürzenden „Tatsachen“ folgte. Eine beliebte Beschreibung der neuen unbegreiflichen Situation sowohl in den höheren Machtetagen als auch bezüglich der „Missstände“ im Alltagsleben vor Ort war dabei der Ausdruck „Galimathias“ (tschechisch galimatyáš, polnisch galimatias).73 Er charakterisierte sowohl die Verwirrung und Machtlosigkeit, wurde aber auch zur Kritik benutzt. „Galimathias“ bezog sich auf die verlorene Einheit der Parteipolitik beim Aufbau des Sozialismus und beschrieb den Zerfall des kohärenten Verlaufs der Geschichte. Die Verschränkung dieser beiden Dimensionen, Orientierungsverlust und Erneuerungshoffnung, illustriert der folgende Beitrag eines nordböhmischen LPGLeiters (JZD) von Anfang April 1956: Wir in der Partei erfahren nicht, wie es auf dem Land aussieht. Für mich lohnt es sich, an den „Abenden des Erfahrungsaustausches“ teilzunehmen. Wenn ich dort als Parteifunktionär des Kreisausschusses auftrete, dann werden die Leute die Klappe halten. Jetzt habe ich im Kopf ein Galimathias daraus … Ihr bereitet den Beschluss schon vor der Sitzung vor. Ein

lich eine entscheidende Rolle beim finalen Zusammenbruch des Staatssozialismus spielte. Besonders seit den sechziger Jahren klaffte die Lücke zwischen den älteren Kommunisten und den jüngeren Parteimitgliedern, die die Wirtschaftskrise und den Krieg nicht mehr als Erwachsene erlebten, auseinander. Jiří Maňák zeigte das Wachstum der „neuen Intelligenz“, vor allem im Parteiapparat, in der KSČ nach 1950: Proměna dělnické strany v organizaci moci, in Zdeněk Kárník/Michal Kopeček (Hg.), Bolševismus, komunismus a radikální socialismus v Československu, Bd. 1, Praha 2003, S. 157–199, hier S. 185ff. Michel Christian stellt in seiner Genfer Dissertation fest, dass der Parteiapparat von SED und KSČ sich in der poststalinistischen Ära weitgehend stabilisierte und durch die steigende Anzahl der beruflichen Klassen und Intelligenz auch in die Gesamtgesellschaft integrierte. Michel Christian, Parti et société en RDA et en Tchécoslovaquie. Une histoire sociale comparée des partis communistes au pouvoir du début des années 1950 à la fin des années 1970, Diss. Genf 2011, S. 409–421. 72 Hellbeck, Revolution on My Mind, S. 9f. 73 Vgl. Pavel Kolář, Welch ein Galimathias! Die Auseinandersetzungen in den regionalen und lokalen Organisationen der Kommunistischen Partei der Tschechoslowakei nach dem XX. Parteitag der KPdSU, in: Ulf Brunnbauer (Hg.), Alltag und Ideologie im Realsozialismus, Berlin 2005 (Berliner Osteuropa Info 23), S. 34–42.

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Beschluss soll aber während der Sitzung gemacht werden und nicht vorher. Wenn wir Unsinn reden, wird auch der Beschluss unsinnig.74

Ähnlich äußerte sich ein PZPR-Jugendfunktionär aus Kielce: Wir sind uns bewusst, dass der Jugendverband selbstständig sein muss, aber seine politische Linie darf nicht von der Linie der Partei abweichen. An diesem Galimathias hat unsere Presse nicht gerade einen geringen Anteil. Die Presse hat darauf zu achten, dass es ihre Aufgabe ist, unser Bewusstsein, unsere Weltanschauung zu gestalten, und dass wir keine andere Politik in unserer Organisation sehen wollen, als die Politik der Partei.75

Was die lokalen Parteifunktionäre „Galimathias“ nannten, hieß in der offiziellen Parteisprache „ideologische Unklarheiten“ (ideologické nejasnosti; niejasności ideologiczne). Diese galt es aus der Sicht der Parteizentren zu bekämpfen, aber nicht mehr mit Hilfe von Repressionsmaßnahmen, sondern durch systematische „Überzeugungsarbeit“. Auch darin sah man den Abschied von der „vorherigen Periode“, wie es im SED-Kreisparteiaktiv in Leuna im September 1956 hieß: Wir haben in der Vergangenheit viele Genossen ausschließen müssen auf Grund von Unklarheiten und dergleichen, ich erinnere mich nur an die Überprüfungen 1950–51. Damals sind Hunderte ausgeschlossen worden, oftmals nur wegen unklarer Kenntnis der Notwendigkeit der DAF, der Oder-Neiße-Grenze usw. Damals war es vielleicht richtig, aber heute haben wir erkannt und können es uns erlauben, dass wir die Menschen, die nicht ganz klar zur Partei stehen, bei denen ideologische Schwächen vorhanden sind, durch ständige Aufklärung für uns gewinnen.76

Aufklärung statt Repression: Den momentanen Orientierungsverlust nahmen die Parteimitglieder meistens als überwindbar wahr. Sie deuteten die eigene Verwirrung als einen vorübergehenden Schwächeanfall, den man mit eigenen Kräften sowie mit Hilfe der Partei zu bewältigen glaubte. Ein KSČ-Funktionär in Ostrava führte an, er kam sich nach dem Bericht über die Geheimrede „wie verprügelt vor. Diesen Persönlichkeitskult habe ich nie gepflegt, aber gestern wurde er in mir endgültig zerschlagen. Das Gedankenchaos, das in meinem Kopf entstand, muss ich irgendwie bewältigen, ich muss eine Lösung finden“.77 Die Kommunisten glaubten, dass die Unordnung wieder in Ordnung gebracht werden könne, und zwar mit Hilfe der mit einer welthistorischen Sendung betrauten Partei, der mittels neuer Losungen wie „kollektive Führung“ und „Rückkehr zu Lenin“ der Rü74 SOkA Lib, OV KSČ Liberec, k. 6, Plenarsitzung 7.4.1956, unpag. 75 AAN, KC PZPR, 237/VII-3015, KW PZPR Kielce, Protokół z VI. Statutowej Konferencji Partii, 18.–19.12.1956, Bl. 30. 76 LHASA, MER, SED-Kreisleitung Leuna, IV/412/71, Kreisparteiaktiv, Sitzung 14.9.1956, Bl. 90. 77 ZA Op, KV KSČ Ostrava, Plenarsitzung 3.–4.4.1956, Bl. 4.

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cken gestärkt werden sollte. Die Aufarbeitung von Verunsicherungen verstanden die Kommunisten als einen mühsamen Prozess hin in eine offene Zukunft. Diese Wahrnehmung schlug sich in den Forderungen nach einem „sicheren Weg“ nieder: „Natürlich ist die Sache hart und nicht einfach,“ führte ein SED-Funktionär aus Artern an, „wir sind letzten Endes alle auf der Grundlage der Werke von Stalin auf den Parteischulen erzogen worden. Es hat jedem ein bitteres Gefühl in der Kehle gesessen, man muss aber diese Selbstbetrachtung intensiver tun und bei den Auseinandersetzungen einsehen, dass die KPdSU hier bei der Aufdeckung dieser Fehler einen Schritt getan hat, der von welthistorischer Bedeutung ist für die Stärkung und Festigung der Arbeiterparteien der Welt, um die Parteien, die sich auf den gleichen Weg begeben haben, davor zu wahren. Wir brauchen einen festen Pfad für die Errichtung des Sozialismus.“78 Doch der Blick in die Vergangenheit blieb düster und beängstigend, vor allem dann, wenn die Parteimitglieder über die Entstehung des Stalinismus räsonierten. Chruschtschows Aufforderung, sich den historischen Tatsachen zuzuwenden, hatte einen eher widersprüchlichen Effekt. „Fakten“ und „Wahrheit“ konnten mehrere Gesichter annehmen. Viele Kommunisten haben Chruschtschows harte Kritik faktisch nicht akzeptiert. Oft bezweifelten sie den Wahrheitsgehalt der Kritik am Personenkult und den Verbrechen Stalins an sich und desavouierten die ganze Anklage als eine ex-post fabrizierte Denunziation oder als Ergebnis von Machtkämpfen innerhalb der KPdSU-Führung und der persönlichen Ziele Chruschtschows. Hierbei handelte es sich um eine zuvor kaum vorstellbare Kritik an der Deutungshoheit des ZK der KPdSU und seinem Generalsekretär. Ein KSČMitglied lehnte die Stalin-Kritik ganz offen ab, und zog dabei deren Faktizität schlechthin in Zweifel: „Ich muss aber nicht gleich alles hinunterschlucken, was gesagt wird. Wo wurden die Materialien gefunden, anhand derer heutzutage geurteilt wird, bei Stalin oder Berija?“79 Hier galten „Fakten“ mehr als das Urteil des Zentralkomitees. Dem Fichtschen Diktum „Schlimm für die Fakten“ und seiner bolschewistischen Neuaufladung, laut welcher die Fakten und die historische Wahrheit immer auf der richtigen Seite der Revolutionsgeschichte zu stehen hatten, wurde zeitweise rotes Licht erteilt. Die Fakten konnten nun auch unabhängig vom Willen des gestaltenden Geschichtssubjekts, ja gar im Gegensatz zu den einst heraufbeschworenen eisernen Entwicklungsgesetzen bestehen. So konnte ein SED-Parteifunktionär aus Artern im April 1956 feststellen, dass „gegnerische Berichte“ über Stalin „den Tatsachen entsprachen“.80 78 LHASA, MER, SED-Kreisleitung Artern, IV/401/26, Plenarsitzung 14.4.1956, Bl. 182. 79 MA Ost, MV KSČ Ostrava, Plenarsitzung 5.4.1956, unpag., Diskussionsbeitrag Penkala. 80 LHASA, MER, SED-Kreisleitung Artern, IV/401/26, Plenarsitzung 14.4.1956. Bl. 181.

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Die Archivratten schlagen zurück In seinem berühmten „Leserbrief“ an die Redaktion der Zeitschrift Proletarskaja Revolucija aus dem Jahr 1931 rechnete Stalin mit der von ihm missachteten, auf Details und Einzelfakten beschränkten Geschichtsschreibung gnadenlos ab: „Wer, außer hoffnungslosen Bürokraten, kann sich auf papierne Dokumente allein verlassen? Wer, außer Archivratten, begreift nicht, dass Parteien und Führer vor allem auf Grund ihrer Taten geprüft werden müssen und nicht nur auf Grund ihrer Deklarationen?“81 Darauf folgte die „Stalinisierung“ der sowjetischen Geschichtswissenschaft, die mit dem „Dekret über Geschichtsunterricht“ vom Mai 1934 offiziell angekündigt wurde. Sie bedeutete einen radikalen Bruch mit dem bisherigen, von Michail N. Pokrovskij und seinen Schülern eingeführten soziologisch-evolutionistischen Geschichtsmodell, das Russland als einen rückständigen „Fall“ der Universalgeschichte darstellte. Das Stalinsche Geschichtsbild hingegen verschränkte den gesetzmäßigen Ablauf von „Gesellschaftsordnungen“ hin zum Kommunismus mit einer mythischen Nationalisierung und verstärkten Akzentuierung von großen Persönlichkeiten. Wichtig war neben der inhaltlichen Änderung – der Verknüpfung der Nation mit dem historischen Materialismus – die strengste Verbindlichkeit des Lehrbuchs und das Verbot jeglicher abweichenden Interpretation. Stalin wurde zur einzigen Quelle der historischen Wahrheit erklärt. Der ZK-Beschluss vom 14. November 1938 kündigte das „Ende der Beliebigkeit und Konfusion“ in der Darstellung der Geschichte an. Seitdem entschied nur Stalin über Fakten und Wahrheit, änderte unerwartet ihre Bedeutungen.82 Wie bereits erwähnt, galten im stalinistischen Diskurs „Fakten“ als die Übereinstimmung mit den historischen Gesetzen und somit auch mit dem Willen der Partei. Fakten bestätigten den „richtigen“ Gang der Geschichte, auch wenn es sich um negative Tatsachen handelte: In diesem Sinne behandelte der Kurze Lehrgang auch „Schwierigkeiten“, „Fehler“ und „Mängel“. Sie stellten aber den richtigen Gang der Geschichte keineswegs in Frage, sondern geradezu im Gegenteil unterstrichen sie den heroischen geschichtlichen Kampf der Partei. Die unveränderliche Natur der Fakten zeigte sich dadurch, dass diese Geschichte im wahrsten Sinne des Wortes ohne das menschliche Subjekt auskam. Der „menschliche Faktor“ – bis auf den Willen des großen Führers, der die historischen Gesetze bekräftigte –

81 J. V. Stalin, Über einige Fragen der Geschichte des Bolschewismus, Berlin 1950 (1931), S. 14. 82 Markwick, Rewriting History, S. 42; Yurchak, Everything Was Forever, S. 39–44.

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blieb aus, stattdessen agierten namenlose Kräfte, die die Geschichte ihres menschlichen Antlitzes beraubten. Mit dem XX. Parteitag und der Stalinismus-Kritik kam auch die Hoffnung auf die Wiederherstellung dieser „authentischen Geschichte“, also solcher, die aus der von Stalin verbannten schriftlichen Überlieferung spricht. Viele sowjetische Historiker nahmen deshalb den XX. Parteitag als die „zweite Oktoberrevolution“ wahr, die eine Welle von Diskussionen über das Wesen der Geschichte hervorbrachte. Sie strebten eine Entideologisierung der Geschichte, eine schöpferische Historiografie an.83 In Ostmitteleuropa war der Drang nach authentischer Geschichte und nach historischer Wahrheit nicht geringer, auch wenn das Ausmaß der vorherigen „Stalinisierung“ der Geschichtsschreibung in den einzelnen Ländern unterschiedlich war. In der Forschungsliteratur bleibt vor allem die Frage der Kontinuität mit der früheren „bürgerlichen“ Geschichtsschreibung offen. Oft wird darauf hingewiesen, dass die „Sowjetisierung“ der Geschichtswissenschaft, die Aneignung des marxistisch-leninistischen Vokabulars mit einer starken Kontinuität von Erzählmustern und methodischen Arbeitsweisen einherging.84 Die marxistischen Historiker übernahmen die narrativen Fundamente der Geschichte aus der Historiografie des 19. Jahrhunderts – von Lelewel, Palacký oder Arndt – und verzierten sie mit der marxistisch-leninistischen Klassenkampf-Rhetorik. Das führte, so Maciej Górny, „zu einer Situation, in welcher verschiedene Elemente der ‚bürgerlichen Historiografie‘ in das marxistische Geschichtsbild aufgenommen wurden und mit den von ‚Klassikern‘ oder sowjetischen Historikern ausgeliehenen Elementen zusammenlebten“.85 Zugleich sind aber auch Zeichen des Traditionsbruches nicht zu übersehen. Die Auffassung der Stalinschen Geschichtsschreibung als bloße Verlängerung der nationalen Geschichtstradition mit marxistischem Anstrich unterschätzt sowohl die zukunftsradikale Aufbruchsstimmung der unmittelbaren Nachkriegszeit und der früheren fünfziger Jahre als auch die bedeutenden Veränderungen in der Komposition der nationalen Geschichtserzählungen. Die stalinistischen Historiker suchten nach einem zukunftsoptimistischen Geschichtsbild, das mit monumentalem Pathos gepaart werden sollte. Und obwohl das Konfliktverhältnis zwischen Nation und Klasse im Begriff des „Volkes“ und der „Volksmassen“ erfolgreich aufgehoben schien, bereitete das marxistische Grundkonzept des Klassenkampfes den Nationalhistorikern viele Bauchschmerzen.86 Zum Beispiel gingen in 83 Markwick, Rewriting History, S. 49. 84 Maciej Górny, Przede wszystkim ma być naród. Marksistowskie historiografie w Europie Środkowo-Wschodniej, Warszawa 2007, S. 403–428. 85 Ebenda, S. 425. 86 Siehe dazu Kapitel 3.

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der Schilderung der sozialen und nationalen Bewegungen des 19. Jahrhunderts (der Revolutionen von 1848) die Auffassungen verschiedener Autoren trotz der „Gleichschaltung“ erheblich auseinander.87 Auch die radikale Aufteilung der Welt in Freund und Feind, die Reduzierung der historischen Vielfältigkeit auf „zukunftsweisende Elemente“, die „Entmenschlichung“ und Subjektlosigkeit der Geschichte sowie der strenge sozioökonomische Determinismus waren stark dem Paradigma des Kurzen Lehrgangs verpflichtet. Dies waren Erzählelemente, die deutlich von der „bürgerlichen Geschichtsauffassung“ abwichen. Das stalinistische Bild der Nationalgeschichte besaß also klare Konturen und auch deshalb nahmen die ostmitteleuropäischen Historiker den XX. Parteitag als einen Wendepunkt wahr. In der DDR konnte Ulbrichts lakonischer Ausschluss Stalins aus dem Kreis der Klassiker die Aufbruchsstimmung in der Parteihistoriografie nicht verbergen. Besonders für die Historiografie der Arbeiterbewegung brachen schwierige Zeiten an, nachdem fast alle historischen Leittexte, aus denen „der Geist des Personenkultes“ sprach, über Nacht zu Makulatur geworden waren.88 Die SED fiel in eine „Orientierungskrise“ bezüglich ihrer eigenen Vergangenheit, die mindestens bis zum 28. ZK-Plenum im Juni 1956 andauerte, auf dem Ulbricht eine Revision des Geschichtsbildes der Partei proklamierte und den Personenkult-Vorwurf gegen seine Opponenten geschickt ausnutzte. Dies betraf den Luxemburg-Biograph Fred Oelßner, der vordem versucht hatte, Ulbricht selbst des Personenkultes zu bezichtigen.89 Im Allgemeinen setzte sich die Rhetorik der „Überwindung des Dogmatismus und der Buchstabengelehrtheit“ durch, die sich gegen die blinde Nachahmung von sowjetischen Vorbildern richtete. Die Kritik des Personenkultes hatte für die SED-Historiografie ein zweifaches Ergebnis: Zum einen bewirkte die „Orientierungskrise“ eine Öffnung hin zum größeren Respekt vor „Fakten“ und Quellenüberlieferung. Zum anderen brachte Ulbrichts Revision eine größere Unabhängigkeit von den Schwankungen der Moskauer Vorgaben und somit auch einen Handlungsspielraum für die Schaffung eines autonomen SED-Geschichtsbildes. Generell setzte sich in der Gestaltung des neuen Geschichtsbildes Skepsis gegenüber der uneingeschränkten Vorherrschaft der „Theorie“ über „Fakten“ durch. Auf der KSČ-Parteikonferenz im März 1956 kritisierte der Generalsekretär 87 Pavel Kolář, Rewriting National History in Post-War Central Europe. Marxist Syntheses of Austrian and Czechoslovak History as New National Master-Narratives, in: Stefan Berger/Chris Lorenz (Hg.), Nationalizing the Past. Historians as Nation Builders in Modern Europe, Basingstoke 2010, S. 319–340. 88 Siegfried Lokatis, Der rote Faden. Kommunistische Parteigeschichte und Zensur unter Walter Ulbricht, Köln 2003, S. 37ff. 89 Ebenda, S. 40.

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Novotný die „Scholastik, Schablonen und Schemata“, in welche die Propagandisten und Historiker früher geraten seien. Die Theoriebildung müsse die „neuen Tatsachen“ berücksichtigen: „Es ist nicht so, dass wir nichts zum theoretischen Nachdenken hätten. Im Gegenteil, nicht alle Fragen sind völlig geklärt, und wir müssen daher weiter diskutieren, damit einige Fragen tiefer durchgearbeitet werden, als es die frühere Praxis erlaubte.“90 Mit der „früheren Praxis“ sollte Schluss gemacht werden. Die Reforminitiative übernahmen die „Theorieorgane“ der Parteien, indem sie kritische Artikel zur Frage der Geschichtsschreibung veröffentlichten. Das KSČ-Theorieorgan Nová mysl schloss sich im Mai der Chruschtschowschen „historischen Wende“ energisch an, indem es die „Oberflächlichkeit in der Untersuchung der Tatsachen“ anprangerte und gleichzeitig „mehr Wahrheit im Umgang mit den Fakten“ forderte.91 Ein weiterer Artikel in Nová mysl vom Juni 1956 mit dem Titel Zu einigen Problemen unserer Geschichtswissenschaft monierte den „Dogmatismus“, „charakterlose Kriecherei und unkritische Lobhymnen auf die sowjetische Geschichtswissenschaft“ sowie „das Aussuchen von Tatsachen für bereits vorgegebene Thesen“.92 In Polen sprachen sich die Parteihistoriker im Frühling 1956 am offensten für einen „wahrheitsgetreuen Umgang“ mit der Vergangenheit aus, der auf „unverzerrten Fakten“ gründet. Gewisse Reformtendenzen im Umgang mit der Geschichte waren bereits früher sichtbar, besonders im Zusammenhang mit dem III. Plenum des ZK der PZPR vom Januar 1955, das eine erste behutsame Kritik des Personenkultes formulierte. Der eigentliche „Kampf um die völlige Erkenntnis der historischen Wahrheit in der Forschung“, wie ihn ein internes Diskussionspapier der Abteilung für Parteigeschichte im ZK PZPR vom Dezember 1955 forderte,93 brach allerdings erst im Anschluss an die Geheimrede aus. Die Parteihistoriker nahmen Chruschtschow beim Wort und wandten sich den Tatsachen zu, indem sie die stalinistischen Falsifizierungen beklagten. Sie störten sich am „Verbessern“ der Quellendokumente, das zur stalinistischen Editionspraxis gehörte: Zitate wurden geändert, unpassende Passagen retuschiert. Der stellvertretende Direktor der Instituts für Parteigeschichte beim ZK PZPR (Wydział Historii Partii, WHP), 90 Antonín Novotný, Projevy a stati, Bd. 1, Praha 1964, S. 266. 91 Nová mysl 10, 1956, Nr. 5, S. 407. 92 Koloman Gajan u. a., K některým problémům naší historické vědy, in: Nová mysl 10, 1956, Nr. 6, S. 636–640, hier S. 637; Vítězslav Sommer, Angažované dějepisectví. Stranická historiografie mezi stalinismem a reformním komunismem (1950–1970), Praha 2011, S. 158ff. 93 Zit. n. Tadeusz Paweł Rutkowski, Nauki historyczne w Polsce 1944–1970. Zagadnienia polityczne i organizacyjne, Warszawa 2007, S. 276.

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Józef Kowalski, verurteilte diese Praxis sowie die „fabrizierten Thesen“, vor allem im Hinblick auf die wohl brennendste Frage der jüngsten Vergangenheit der polnischen Arbeiterbewegung – die Auflösung der KPP 1938 und die anschließende Verfolgung der polnischen Kommunisten durch Stalin („Die in der Ära der Jeschow-Herrschaft (okres jeżowszczyzny) fabrizierte verleumderische These von angeblicher Unterwanderung der KPP-Führung durch provokatorische Elemente“).94 Die „fortschrittlichen“ und „patriotischen“ Elemente seien unter diesen abnormalen Bedingungen „in falsches, sektiererisches Licht“ gerückt worden. Zugleich äußerte Kowalski die Hoffnung auf eine Zukunft der Parteihistoriografie, die auf dem „Streben nach Wahrheit“ gründen sollte.95 Genauso wie an der Parteibasis war „historische Wahrheit“ das Zauberwort des Augenblicks, wie es der Direktor des PZPR-Instituts Daniszewski im Dezember 1957 formulierte: „Die Wahrheit über die Arbeiterbewegung, ihre Höhe- und Tiefpunkte, ihre Niederlagen und Triumphe ist so bezaubernd, dass sie weder rosa Puder noch weiße Schminke braucht. Sie braucht keine überzogenen und verfälschten Urteile. Die Griechen stellten die Wahrheit als eine nackte Frau dar. Die Marxisten brauchen keine Angst vor der Wahrheit zu haben, denn sie steht auf der Seite des Sozialismus; mögen wir also die nackte Wahrheit über die revolutionäre Vergangenheit unseres Volkes zeigen. Der Weg dazu ist noch lang.“96 Vor allem die jüngeren Historiker der Arbeiterbewegung, wie Feliks Tych oder Jan Kancewicz, traten mit der Kritik an „Fälschungen“ auf einzelnen Forschungsgebieten auf. Das Gebot der Stunde lautete: Zurück zu den Quellen, zu den Parteidokumenten, wo die historische Wahrheit vergraben liegt.97 Ähnlich deutet der „Geschichtsbeschluss“ des ZK der SED vom Juli 1955 („Die Verbesserung der Forschung und Lehre in der Geschichtswissenschaft der DDR“98) durch seine Länge (zweiunddreißig Seiten) sowie Detailliertheit auf die erneuerte Rolle der Geschichtswissenschaft in der SED hin, dabei vor allem auf die Rolle der „Forschung“, die zum Schlüsselbegriff des Poststalinismus wurde (man bemängelte vor allem die „unzureichende Arbeit mit dem Quellenmaterial in den 94 Ebenda, S. 279. 95 Ebenda. 96 AAN, KC PZPR, ZHP, XXII-734, Protokoły POP ZHP, Referat Daniszewski, 16.12.1957, Bl. 11. 97 Peter Heumos, Geschichtswissenschaft und Politik in der Tschechoslowakei. Forschungen zum 19. und frühen 20. Jahrhundert in den Jahren 1950–1975, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 30, 1982, S. 575–601, hier S. 578f. Vor allem Karel Kosík und Leszek Kołakowski kritisierten den poststalinistischen Rückzug in die „gelehrte Quellenkritik“. 98 Ulrich Neuhäußer-Wespy, Die SED und die Historie. Die Etablierung der marxistischleninistischen Geschichtswissenschaft der DDR in den fünfziger und sechziger Jahren, Bonn 1996, S. 26ff.

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Archiven“).99 Ein internes IML-Material vom Mai 1956 formulierte die Quintessenz der „historischen Wende“, indem es forderte, „von der allseitigen Erforschung der Tatsachen und den entsprechenden Quellen auszugehen, nicht aber von vorgefassten Thesen und von Zitaten der Klassiker und der Parteiführer, denen oft die Tatsachen angepasst und zurechtgestutzt würden“.100 Aus dem Reich der „Sachen der Tat“ der Parteiführer und Klassiker sollten die Tatsachen in das Reich der sterblichen Menschen überführt werden, wie sie in der schriftlichen Überlieferung bewahrt sind. Das „Tauwetter“ öffnete den Geschichtsdiskurs in den Ostblockländern einer Revision sowohl thematischer Schwerpunkte als auch narrativer Strukturen.101 Das zeigte sich in einer andauernden Umgestaltung der Institutionen den gesamten Zeitraum des Poststalinismus hindurch, was ebenso für die Parteigeschichtsschreibung galt, die sich unter der Ägide der ZK-angebundenen Institute entfaltete.102 Man orientierte sich dabei an der „Verwissenschaftlichung“. So erhielt z. B. das ÚD KSČ eine „forschungsorientierte“ Organisationsstruktur nach dem Vorbild der Akademie der Wissenschaften und wurde in chronologische Arbeitsbereiche aufgeteilt.103 Die Botschaft dieser Umgestaltung war, dass empirische Quellenforschung im Mittelpunkt stehen soll. Ähnlich wurde das Warschauer WHP (Wydział Historii Partii) 1956 in das „Institut für die Geschichte der Partei“ (Zakład Historii Partii, ZHP) umgebildet, wobei der Wechsel von „Abteilung“ (Wydział) zum „Institut“ (Zakład) den Trend zur Verwissenschaftlichung und mehr Autonomie signalisierte.104 Im Großen und Ganzen blieben die Parteiinstitute über den gesamten „langen“ Poststalinismus hinweg ihren Neugründungsidealen von 1956 treu. Trotz aller Schwankungen der Politik und der verschiedenen „ideologischen Offensiven“ hielten sie daran fest, „gültige“ Leittexte (Lehrbücher, Biographien usw.) zu produzieren, die ständig umgeschrieben werden mussten. Sie arbeiteten an ihrer empirizistischen „Utopie des Konkreten“, indem 99 Ebenda, S. 28. 100 Ebenda. 101 Górny, Wahrheit; Martin Sabrow, Das Diktat des Konsenses. Geschichtswissenschaft in der DDR 1949–1969, München 2001; Bohumil Jiroušek (Hg.), Proměny diskursu české marxistické historiografie, České Budějovice 2008. 102 Gründungen der Institute für Parteigeschichte: PZPR 1946, SED 1949 (gegründet als Marx-Engels-Lenin-Institut, 1953 unbenannt in Marx-Engels-Lenin-Stalin-Institut), KSČ 1950. Dieser Trend war auch in den westlichen kommunistischen Parteien vorhanden, am stärksten in der PCI. Vgl. Cris Shore, Italian Communism. The Escape from Leninism. An Anthropological Perspective, London 1990, S. 83–87. 103 Inventář fondu ÚD KSČ, zpracoval Fr. Železný, Praha 1981, S. 3; Sommer, Angažované dějepisectví, S. 182. 104 Rutkowski, Nauki historyczne, S. 570ff.

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sie immer weitere Quelleneditionen herausgaben, in der Hoffnung, im Lichte der unverfälschten Tatsachen werde sich die kommunistische Zukunft besser widerspiegeln als in den Zitaten von Klassikern. Zwar ließ die Prominenz der Parteigeschichte in den sechziger Jahren etwas nach – z. B. wurde die Bedeutung der „Geschichte“ in den kommunistischen „Theorieorganen“ durch die wachsende Präsenz von ökonomischen und soziologischen Fragen etwas geschmälert. Die späten fünfziger Jahre erlebten jedoch ein Geschichtsfieber, das vorübergehend die Parteien als Ganze erfasste: Die Geschichte der Partei nahm eine Zentralstellung in der Ausbildung der Parteimitglieder ein, indem sie zum Pflichtfach im „Parteilehrjahr“ für alle Parteimitglieder erhoben wurde; die Parteiführungen riefen jubiläumsorientierte Kampagnen zur Förderung der „örtlichen Geschichte der Arbeiterbewegung“ aus, die eine möglichst hohe Anzahl an Parteigenossen für die Arbeit an der „eigenen Geschichte“ gewinnen sollten; die örtlichen Parteiorganisationen mussten Parteiarchive, Museen der Arbeiterbewegung und „Geschichtskommissionen“ einrichten, die quellenorientierte Forschungen betreiben sollten. Arbeiter organisierten sich in „Geschichtszirkeln“, um anhand von überlieferten Archivquellen die Geschichte ihres Betriebs zu schreiben.105 Die „Rückkehr der Geschichte“ und das Streben nach Authentizität gipfelten Ende der fünfziger Jahre in der Bewegung zur Sammlung von Erinnerungen der „Parteiveteranen“, die das „Gedächtnis der Partei“ aufzubewahren und somit ein neues Geschichtsbild der Partei zu gestalten hatte. Wie es in einem tschechoslowakischen Sammelband von 1962 hieß, sollten die Erinnerungen ein „kohärentes Bild der Ereignisse“ (souvislý obraz událostí) ergeben.106 Die nach 1956 gestarteten Erinnerungskampagnen orientierten sich an vorstalinistischen sowjetischen Vorbildern. Bereits in den zwanziger Jahren haben die sowjetischen Kommunisten versucht, das Gedächtnis der Partei zu institutionalisieren.107 Sie begaben sich auf die Suche nach der authentischen revolutionären Partei in die Alltagserfahrungen und Kämpfe der einfachen Bolschewiki vor Ort, in den Fabriken, Städten, Dörfern. Die Kampagnen zielten auf die Darstellung der Oktoberrevolution als des Gründungsereignisses der Parteigeschichte und des Gravitationspunktes der historischen Identität sowjetischer Kommunisten. Die 105 Auch in einigen westlichen Ländern entwickelte sich die lokale Erforschung der Arbeiterbewegung und der Arbeiterschaft. Z. B. „The History Workshop Movement“ ruhte teilweise auf den revisionistischen Ideen des Jahres 1956. Dazu Dworkin, Cultural Marxism, S. 184–193. 106 Věra Holá u. a., Vzpomínky na vznik KSČ, Praha 1962, S. 7f. 107 Frederick C. Corney, Telling October. Memory and the Making of the Bolshevik Revolution, Ithaca 2004. Siehe auch Stefan Plaggenborg, Revolutionskultur. Menschenbilder und kulturelle Praxis in Sowjetrussland zwischen Oktoberrevolution und Stalinismus, Köln 1996, S. 236ff.

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einfachen Bolschewiki sollten ihre eigene Geschichte nicht mehr von oben herab verordnet bekommen, sondern sich die Geschichte der Revolution durch eigene Erinnerung, Erzählung und Niederschrift selbst aneignen. Ausschlaggebend war die Überzeugung, dass gerade durch die Einbettung der individuellen Erfahrung in die übergreifende Geschichte der Revolution die kommunistische Identität kohärenter werden sollte. Doch der Umbruch von 1956 machte deutlich, wie schwierig es war, die Widersprüche zwischen der Großerzählung und den Einzelerfahrungen aufzuheben. Die Auseinandersetzungen um 1956 zeigen beispielhaft, dass man die narrative Konstruktion der Identität nicht als einen linearen Prozess der Versöhnung von Gegensätzen verstehen kann. Vielmehr handelt es sich um einen ständigen Dialog an der Grenze zwischen Identität und Differenz, wie Michail Bachtin argumentierte.108 Die kommunistischen Parteien befanden sich nach 1956 genau in diesem Grenzraum: Mit dem Ende des Stalinismus zerfiel das dominante System der Identifizierung, wodurch sich zeitweise ein neuer Raum für eine Vielfalt möglicher Weltdeutungen öffnete. Die Parteiarchive, die die Kampagnen für die örtliche Parteigeschichte dokumentieren, geben uns in der Tat ein vielschichtiges Bild, in dem sich Enthusiasmus mit Unverständnis, ideologische Eindeutigkeit mit Unklarheiten, Fügsamkeit mit eigensinnigem Deutungsvermögen, propagandistischer Eifer mit einfachem Interesse an pittoresken Lokalgeschichten verschränkten. In den Parteizentren herrschte anfangs über diese Geschichtskampagnen zur „örtlichen Geschichte der Arbeiterbewegung“ Optimismus. Die örtliche Arbeitergeschichte sollte durch die betonte Übereinstimmung zwischen der zentralen Parteipolitik und ihrer konkreten Verwirklichung in örtlichen Verhältnissen dem geschichtlichen Handeln der Partei mehr Authentizität und Überzeugungskraft verleihen. Zu diesem Zweck verfassten die ZK-Institute entsprechende „Richtlinien“, die die lokale Geschichtsproduktion reglementierten. Zugleich war ihre Diktion auffällig zurückhaltend, indem sie die Vorstellung der „eisernen Entwicklung“ durch relativierende Hinweise auf „reiche Erfahrungen“ oder sogar „historische Komplexität“ aufweichten. Charakteristisch für das neue Geschichtsvokabular war die Einleitung der Směrnice pro rozvoj regionálních dějin KSČ von 1962: Die revolutionäre Geschichte der KSČ gehört zur theoretischen Ausrüstung der Partei, sie erfasst ihren historischen Weg und ihre reichen Erfahrungen, sie ist der tätige MarxismusLeninismus (je marxismem-leninismem v činnosti). Sie zeigt die Kompliziertheit (složitost) des geschichtlichen Wandlungsprozesses der Gesellschaftsordnung, die historische Sendung

108 Jennifer de Peuter, The Dialogigs of Narrative Identity, in: Michael M. Bell/Michael Gardiner (Hg.), Bakhtin and the Human Sciences, London 1998, S. 30–48.

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der Arbeiterklasse und die entscheidende Bedeutung der Leitungsaufgabe der Partei als Anführer und Organisator der Werktätigen.109

Die Hauptaufgabe der örtlichen Geschichte mit ihrer „Kompliziertheit“ war es, die neuen „entstalinisierten“ Überblicksdarstellungen der Parteigeschichte von unten zu „bestätigen“: den Grundriss der Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, die Dějiny KSČ und die Dzieje polskiego ruchu robotniczego – alles Großprojekte aus den späten fünfziger Jahren. Bei ungenügender Übereinstimmung, die immer wieder vorkam, wurde ein umfassendes System von Begutachtung und Kontrolle in Gang gesetzt. Die Zentralinstitute hatten die „theoretische und methodische Hilfe“ zu leisten, so die SED-Richtlinien von 1957,110 oder sie sollten „Richtung geben und lenken“ (usměrňovat a řídit), so die tschechische Version. Dabei enthielten diese Direktiven eine neue Semantik, die die Unabgeschlossenheit der Geschichtsarbeit („Weiterentwicklung“ usw.) offenbarte: „Diese Richtlinien gehen davon aus, dass es nach der Veröffentlichung des Lehrbuches der Geschichte der KSČ notwendig wird, das Studium und die Propaganda der Parteigeschichte auf eine neue, breitere Grundlage zu stellen. […] Sie sollen zur wesentlichen Weiterentwicklung der Arbeit an der Geschichte der KSČ beitragen.“111 Die Unabgeschlossenheit der Geschichte erwies sich als prägend, denn die Schwierigkeiten begleiteten die Arbeit an der „örtlichen Geschichte“ über Jahre hinweg. In der Praxis ging sie eher schleppend voran und war durch Schwankungen und Rückschläge gekennzeichnet. Noch 1965 wies die Arbeit der örtlichen „Geschichtskommissionen“ der SED aus Sicht der IML-Mitarbeiter „erhebliche Mängel“ auf. Die meisten lokalen Parteileitungen waren an der Geschichtspropaganda nicht besonders interessiert. Dies änderte sich in der Regel erst dann, wenn sich das ZK einschaltete, wie am Vorabend des 40. Jahrestags der Novemberrevolution 1958, bei der Propagierung der „Nationalgrundkonzeption“ oder der kanonischen Großtexte wie des „Grundrisses“ (1963) und des achtbändigen „Geschichtswerkes“ (1965–66). Spontane Reaktionen auf die IML-Aufrufe gab es selten. Häufig kam es zu Scheingründungen von Geschichtskommissionen und oft überließ man die Arbeit geschichtsbeflissenen Parteiveteranen, die in der Regel abseits der Parteileitungen standen. Man kämpfte mit Kaderproblemen, mit der „Fluktuation“ der Propagandakader, die nur ehrenamtlich die führenden Funktionen in den Geschichtskommissionen ausübten. Die Berichte klagten über die 109 Národní archiv [Nationalarchiv Prag, im Folgenden abgekürzt NA], ÚD KSČ, k. 82, a.j. 535, Bl. 38. 110 Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisationen der DDR im Bundesarchiv (im Folgenden abgekürzt SAPMO), DY 30/IV 2/9.07/120, Entwurf der Richtlinien, 12.2.1957, Bl. 5–8. 111 NA, ÚD KSČ, k. 82, sl. 535, Bl. 41.

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Überalterung der Mitarbeiter sowie über die Unfähigkeit der Leitungen, eine breitere, über die Partei hinausgehende Mitarbeiterbasis zu schaffen. Zehn Jahre nach ihrer Inbetriebsetzung schien die „Geschichtsarbeit“ zu stagnieren. Schwankungen und Widersprüche beeinträchtigten auch die Arbeit der polnischen Parteihistoriker, die mit der Zeit immer weniger Interesse in der lokalen Öffentlichkeit weckte. So musste das „Geschichtsreferat“ der PZPR in Katowice im April 1957 bezüglich der geplanten Gründung des Museums für die Geschichte der Arbeiterbewegung in Oberschlesien verbittert gestehen, dass „die Parteikommission nicht im Stande ist, so ein Museum zu gründen, nicht kompetent ist, in der Angelegenheit eine Entscheidung zu treffen und keines der Kommissionsmitglieder sich darin auskennt“.112 Bei der Gründung regionaler Parteiarchive wurden „Vandalismus beim Umgang mit den Parteiakten“, „ungeheure Verschmutzung der Archivräume“ und „schlechte Luft“ getadelt, genauso wie der Mangel an kompetentem Fachpersonal. Da sich die Gründungsgeneration der örtlichen Parteihistoriker der fünfziger Jahre meistens aus den älteren Parteiveteranen rekrutierte, musste die Partei in den sechziger Jahren bereits mit hoher Sterberate rechnen, ohne über entsprechenden Kaderersatz zu verfügen.113 Hinzu kam noch die während der sechziger Jahre nachlassende Bereitschaft der polnischen Verlage, rein propagandistische Publikationen zu veröffentlichen. In dieser Zeit fällt der klagende Tenor der lokalen Geschichtsenthusiasten auf, die sich vom Parteizentrum verlassen und von der örtlichen Umgebung ignoriert fühlten. Mitte der sechziger Jahre wurden in der PZPR-Propagandaabteilungen Ausdrücke wie „mangelndes Interesse an der Parteigeschichte“ gebräuchlich. Ähnlich konstatierte das Prager Parteiinstitut noch 1962, dass das Ziel der örtlichen Parteigeschichtsschreibung nach wie vor sei, „die Geschichte der Partei und die Erkenntnisse über die Anwendung der Parteilinie in den Ortschaften und Regionen den verschiedenen Schichten unseres Volkes nahe zu bringen, sowie Grundlagen für einen tieferen, synthetischen Blick auf die Parteigeschichte zu schaffen“.114 Die Aufgaben sind nach über fünf Jahren Arbeit die gleichen geblieben, trotz zahlreicher Reorganisierungsmaßnahmen. Für die Sprache der Historiker aus den zentralen Parteiinstituten waren Verweise auf „Probleme“, „Schwierigkeiten“ und „ernsthafte Mängel“ charakteristisch: „Zersplitterung und Uneinheitlichkeit der Produktion“, „die Probleme mit Publikation und Distribution der regionalen Produktion“, „methodologische Unklarheiten“ wie auch die „Widersprüche zwischen wirtschaftlichen Gesichtspunkten und der politisch112 AP Kat, KW PZPR, 1793/343, Protokół z posiedzenia Podkomisji Historii Partii, 19.4.1957, Bl. 1. 113 Vgl. AAN, KC PZPR, 237/XXI-33, Składnica Akt i Referaty Historii Partii 1949–1957. 114 NA, ÚD KSČ, k. 82, sl. 535, Bl. 42.

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erzieherischen Sendung der Geschichtsproduktion“.115 Es etablierten sich die für den fortgeschrittenen, „stabilisierten“ Poststalinismus typischen Merkmale der Verlangsamung, Repetitivität und Prozesshaftigkeit der Sprache.116 Dieser Niedergang hatte jedoch eine ambivalente Bedeutung: Zwar zeugen diese Beschwerden von der Enttäuschung der Geschichtsaktivisten, die sich von der Mehrheit der Parteigenossen im Stich gelassen fühlten, und somit vom Nachlassen der Begeisterung für eine neue, „reine“ Geschichte der Partei jenseits des Stalinismus. Zugleich aber zeigt der unaufhörliche combat pour l’histoire, dass viele Kommunisten aus der Geschichte immer noch viel Energie schöpften und Hoffnung in sie setzten. Zum poststalinistischen Streben nach Authentizität gehörte schließlich die Berücksichtigung der Niederlagen und das stets wiederkehrende Bemühen, aus ihnen zu lernen und darauf aufbauend die Parteiutopie neu zu gestalten: Die neue Gesellschaft sollte ab jetzt im Bewusstsein der begangenen Fehler angestrebt werden, die Zukunftsvision war für immer durch die „Deformationen“ der Vergangenheit belastet. Diese erstaunliche Ausdauerkraft wirft die Frage auf, wer eigentlich die „Archivratten“ waren. Überwiegend rekrutierten sich die jüngeren Parteihistoriker und Propagandisten aus der neuen Parteiintelligenz, die sich während des „Sozialismusaufbaus“ herausgebildet hatte. Sie war ein Ergebnis der umfangreichen, zum großen Teil repressiv erzwungenen Umwandlungen (Säuberungen, Reorganisierung, Fluktuation usw.). Die Führung der KSČ, die bereits in der Zwischenkriegszeit eine Massenpartei war, versuchte nach der Macht-Übernahme von 1948 ihren „Arbeitercharakter“ wiederherzustellen, nachdem die Arbeiterschaft infolge des Massenzuwachses in der Nachkriegszeit nicht mehr die Mehrheit der Parteimitglieder bildete.117 Auch die SED reglementierte nach 1949 ihre Mitgliedschaft streng, sowohl im Hinblick auf die soziale Zusammensetzung als auch die ideologische Homogenität. Die neu eingeführte Kandidaten-Zeit sollte das Eindringen „fremder Elemente, von Karrieremachern, Opportunisten, SchumacherAgenten und Spionen fremder Geheimdienste“ verhindern.118 Die Parteisäuberungen in der SED erreichten ihren Höhepunkt in den Jahren 1950–1951 und 115 NA, ÚD KSČ, k. 82, sl. 535, Současný stav a koncepce dalšího řízení, 23.10.1964, Bl. 138ff. 116 Vgl. Błażej Brostek, „A teraz siej, nie czekaj na nic, tylko siej!“ Szkic o lokalnej władzy PZPR od stalinizmu do „wczesnego Gierka“, in: Dariusz Stola/Marcin Zaremba (Hg.), PRL. Trwanie i zmiana, Warszawa 2003, S. 97–117. 117 Jiří Maňák, Proměna dělnické strany v organizaci moci. Problematika dělnického charakteru KSČ v letech 1945–1953, in: Zdeněk Kárník/Michal Kopeček (Hg.), Bolševismus, komunismus a radikální socialismus v Československu, Bd. 1, Praha 2003, S. 157– 199. 118 Zit. n. Lutz Prieß, Die Organisationsstruktur, in: Andreas Herbst (Hg.), Die SED. Geschichte, Organisation, Politik. Ein Handbuch, Berlin 1997, S. 144–148, hier S. 145.

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nach dem Juni-Aufstand von 1953 wurden weitere Repressionsmaßnahmen ergriffen.119 Die Entwicklung der PZPR im Stalinismus war ebenso durch Säuberungen und vor allem Instabilität der Kader (rotacja kadr) charakterisiert. Erst nach dem Gomułka-Antritt im Oktober 1956 konsolidierte sich die Situation der Parteimitgliedschaft.120 Ein unbeabsichtigter Nebeneffekt der stalinistischen Politik war die Herausbildung einer neuen Intelligenzschicht, die dem Denkhorizont der klassischen Arbeiterklasse gegenüber fernstand. Alles in allem blieben die Parteien trotz der Vereinheitlichungsbemühungen heterogener als ihre Führer hofften – sozial, lebensweltlich, intellektuell und zunehmend auch generationell. Das Sozial- und Denkprofil der parteilichen „Archivratten“ entsprach dieser Vielfalt. Die IML-Berichte klagten darüber, dass die örtlichen Historikerkollektive mehrheitlich aus älteren Genossen bestanden. Tätig an der „historischen Front“ waren hauptsächlich Zeitzeugen sowie ältere Museums- und Archivmitarbeiter. Besonders die älteren Parteimitglieder, häufig die ehemaligen Sozialdemokraten, legten „unerwünschte“ Meinungen und Darstellungen vor.121 Dagegen rekrutierten sich die hauptamtlichen Mitarbeiter der Zentralinstitute meistens aus der jungen, pflichtbewussten Generation der Parteipropagandisten, die die „Geschichtsarbeit“ sehr ernst nahmen.122 Diese Geschichtsenthusiasten beharrten auf der Harmonie zwischen der offiziellen Geschichtspolitik der Partei und den lokalen Erzählungen, auch wenn sie in ihren „Kontrollfahrten“ zu den örtlichen Historikern auf viele Hindernisse stießen und oft an die Grenze ihrer Hoffnung gelangten. In ihrer Hartnäckigkeit offenbart sich die neue Utopie der „Fakten“ und der „Wahrheit“ als ein Fundament der neuen kommunistischen Identität, das auch dann nicht bröckelte, wenn sich die örtliche Wirklichkeit anders gestaltete als von den ZK-Propagandisten erwünscht: Die alltäglichen Frustrationen stellten erst einmal nicht den allgemeinen Glauben an die historische Wahrheit in Frage.

119 Vgl. Malycha/Winters, Geschichte der SED, S. 90; Mario Niemann, Die Sekretäre der SED-Bezirksleitungen 1952–1989, Paderborn 2007. 120 Siehe Dariusz Stola/Krzysztof Persak (Hg.), PZPR jako machina władzy, Warszawa 2012; Antoni Dudek, Komitet wojewódzki PZPR jako lokalny ośrodek władzy – na przykładzie Krakowa, in: Andrzej Paczkowski (Hg.), Centrum władzy w Polsce 1948–1970, Warszawa 2003, S. 167–213; Marcin Kula (Hg.), Komitet wojewódzki ogniwem władzy ludowej. Studium postaw aktywu partyjnego, Warszawa 1997. 121 SAPMO, DY 30/IV 2/9.07/222, Protokoll über die Tagung der Vorsitzenden der Kreiskommissionen 10.7.1957, Bl. 69. 122 Diesen Eifer belegt ein Brief der Dresdner Lokalhistoriker an das IML vom März 1957: „Lieber Genosse Gladewitz! Ja, es ist nun so weit. Reibe nur Deine munteren Äuglein – aber es ist keine Fata Morgana – er liegt wahrhaftig schon vor Dir: der Arbeitsplan der Bezirkskommission Dresden.“ SAPMO, DY 30/IV 2/9.07/227, 28.3.1957, Bl. 11.

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Für die Karriere der Parteihistoriker war entscheidend, wie schnell und geschickt sie sich vom stalinistischen „Dogmatismus“ befreiten und sich das neue poststalinistische Vokabular aneigneten. Bei den tschechoslowakischen Parteihistorikern wie Karel Bartošek (1930–2004) und Karel Kaplan (geb. 1928) handelte es sich um ehemalige junge Stalinisten, die sich nach 1956 rasch dem neuen Klima pragmatisch anpassten und angesichts der konservativen Rückschläge nach dem Herbst 1956 einen vorsichtigen Umgang mit Innovationen pflegten. Mit der Liberalisierung seit den frühen sechziger Jahren fiel ihre Arbeit, wie auch die der meisten tschechoslowakischen Parteihistoriker, weniger ideologisch aus als etwa bei ihren ostdeutschen Genossen. Der quellenorientierte Empirismus, verhüllt als Rhetorik der „Parteilichkeit und Objektivität“, setzte sich als das dominante Paradigma durch.123 Zahlreiche andere Beispiele verweisen auf die Verbindung von ideologischem Eifer und wissenschaftlichem, auf Quellenforschung gegründetem Wahrheitsethos. Henryk Rechowicz (1929–2004) galt als ein ideologisch stark geprägter Parteihistoriker: Er war zuerst als Propagandist beim PZPR-Wojewodschaftskomitee Katowice tätig und wurde im März 1956 zum Leiter des dortigen „Geschichtsreferates“ ernannt. Für die „Verwissenschaftlichung“ der Parteigeschichtsschreibung war charakteristisch, dass Rechowicz gleichzeitig eine akademische Karriere verfolgte.124 Die Entwicklung seiner Forschungsinteressen spiegelte das sich ändernde Verhältnis zwischen Ideologie und der „authentischen Geschichte“ wider. Ende der fünfziger Jahre konzentrierte sich Rechowicz auf die Geschichte der „Revolutionskämpfe“ in Schlesien; in den frühen sechziger Jahren gab er mehrere Bände von Erinnerungen der schlesischen Revolutionäre an die Zwischenkriegszeit und die Zeit des Zweiten Weltkriegs heraus. Später wandte er sich der Sozial- und Wirtschaftsgeschichte Oberschlesiens zu (und nach 1989 betätigte sich Rechowicz schließlich als Sporthistoriker). Kontinuierlich verkörperte er jedoch in musterhafter Form die Symbiose des ideologischen Eifers mit dem typisch poststalinistischen Selbstverständnis als „Fachhistoriker“, der das Prinzip der Einheit von Parteilichkeit und Objektivität befolgte.125 123 Sommer, Angažované dějepisectví, S. 154–176. Für den Vergleich mit der DDR siehe die dortige Diskussion um den „Objektivismus“, die in der Tschechoslowakei in solchem Umfang kaum denkbar gewesen wäre. Vgl. Sabrow, Diktat des Konsenses, S. 342–364. 124 1962 Promotion, 1966 Habilitation. In der Folgezeit beteiligte sich Rechowicz an der Gründung der Schlesischen Universität in Katowice. 125 Trotz dieser Widersprüchlichkeit wurde „Einheit“ immer wieder als die absolute Notwendigkeit betont, am stärksten in der SED. Die kontinuierliche Diskussion über das Dilemma von Fakten und Ideologie gehörte zu den festen Komponenten des poststalinistischen Geschichtsverständnisses. Siehe Martin Sabrow, Parteiliches Wissenschaftsideal und historische Forschungspraxis. Überlegungen zum Akademie-Institut für Geschichte (1956–

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Dem neuen Ideal von Faktizität und entideologisiertem Vokabular näherten sich die polnischen Parteihistoriker am deutlichsten. So auch Feliks Tych (1929– 2015), der seit 1949 als ZHP-Mitarbeiter tätig war. Tych, aus einer Warschauer jüdischen Familie stammend und Holocaust-Überlebender, spezialisierte sich zu dieser Zeit auf die Geschichte der polnischen Arbeiterbewegung, hauptsächlich der SDKPiL, die unter Rosa Luxemburgs Führung gegen die nationale Unabhängigkeit Polens auftrat und sich dann während des Ersten Weltkriegs der PPSLinken anschloss. Tych verstand sich von Anfang an als „Quellenforscher“ und begriff die nach 1956 einsetzende Entwicklung als Kampf gegen die „Falsifizierung der Geschichte“. Zugleich eignete er sich geschickt das Vokabular des „Neuen Kurses“ an, das zwischen der Bekämpfung von „Dogmatismus“ und „Revisionismus“ lavierte.126 Sein Ideal der Wahrheit verfolgte Tych auf mehreren Wegen. Der erste war die Leitung des parteihistorischen Periodikums Z pola walki („Aus dem Kampffeld“), die er in den späten fünfziger Jahren übernahm. In den internen Diskussionen forderte er eine „Verwissenschaftlichung“ der Zeitschrift und kleidete dabei seine Kritik geschickt in die zeitgemäße Sprache der frühen GomułkaÄra. So in der Sitzung der Parteiorganisation des PZPR-Geschichtsinstituts im November 1959: [Tych] denkt, dass die Zeitschrift Mängel aufweist. Einen schwachen Rezensionsteil, zu viele Aufsätze, zu wenige Informationen über die historische Front im In- und Auslande, zu wenig Polemiken. Die Redaktion muss schärfer den Revisionismus und Dogmatismus bekämpfen. […] Er glaubt, dass der ideelle Gehalt (ładunek ideowy) unterschätzt wird. Die Grundlinie ist gesund. Die Redaktion hat den Auftrag erhalten, auf das ideologische Niveau des Kampfes gegen den Revisionismus und Dogmatismus zu achten, mit Hilfe von Besprechungen der Fehler von Autoren, nicht durch Beschimpfungen. Im Kampf gegen Revisionismus mangelt es in der gesamten Partei an konkreten Fakten. Es muss sein Wesen gezeigt, nicht nur über ihn geredet werden. […] Von der Sache her müssen die Rezensionen scharf sein.127

In der Folgezeit konzentrierte Tych seine Kräfte auf die Quellenedition zur Geschichte der PPS-Linken (der erste Band erschien 1961) als eine historische Dokumentation der Vorgeschichte der KPP. Das Buch enthält ein Minimum an 1989), in: Ders./Peter Th. Walther (Hg.), Historische Forschung und sozialistische Diktatur, Leipzig 1995, S. 195–225. 126 Gleichzeitig hielt sich Tych in der Arbeit der ZHP-Grundparteiorganisation zurück. Z. B. im April 1960 wurde er dafür kritisiert, an der Parteischulung nicht teilgenommen zu haben. AAN, KC PZPR, 237/XXII-734, Protokoły z zebrań POP PZPR ZHP, Sitzung 22.4.1960, unpag. 127 AAN, KC PZPR, 237/XXII-734, Protokoły z zebrań POP PZPR ZHP, Sitzung 9.11.1959, unpag.

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ideologischen Floskeln und richtet sich fast ausschließlich an der Aktenlage aus. Tych betonte die „beinahe Vollständigkeit“ der Quellen (w sposób bliski kompletności), um dem Leser „alle gesammelten Dokumente zur Verfügung zu stellen“ (dać czytelnikowi wszystkie zebrane dokumenty).128 Die Edition verkörpert exemplarisch die nach 1956 eingetretene Rückkehr der Geschichte und ihrer Archivratten: Sie gründet auf der Idee der „Vollständigkeit des Geschichtsbildes des Parteilebens“ (pełny obraz historyczny życia partii), was durchaus eine schwierige Aufgabe darstellte. Denn mit „Vollständigkeit“ im Gegensatz zu den stalinistischen Praktiken der Selektivität und Anpassung mussten die Historiker auch negative Erscheinungen und Geburtskrankheiten der Arbeiterbewegung aufzeigen: „Das Ziel war es, dass die Dokumente in der Edition die Partei so zeigen, wie sie in Wirklichkeit gewesen ist, mit allen Niederlagen, Schwankungen und Zickzacks auf dem Wege ihrer ideologischen Entwicklung.“129 Noch wichtiger für das neue Geschichtsbild war, dass Tych die enorme Uneinigkeit und Disparität des linken Flügels der polnischen Arbeiterbewegung schonungslos bloßstellte. Diese Tatsache bezeichnete er als „eines der Merkmale, die für den Historiker am meisten verblüffend“ sind, nämlich, „dass die ideologische Entwicklung der PPS-Linken nicht auf einer gleichmäßig steigenden Linie stattfand, und schließlich, dass die Partei nicht einheitlich gewesen ist“.130 In diesem Sinne ist auch Tychs wachsendes Interesse für Rosa Luxemburg bezeichnend. Es war typisch für die poststalinistische Denkwelt, die Sackgassen und Niederlagen der Arbeiterbewegung wieder ans Tageslicht zu bringen. Luxemburg – von Stalin als Urheberin des „Luxemburgismus“ gehasst – bot eine gute Gelegenheit, den Zick-Zack-Weg darzustellen, umso mehr, da sie als Polin porträtiert und in die polnische Märtyrergeschichte aufgenommen werden konnte.131 Mit den Begriffen wie „innerer Kampf“ (walka wewnętrzna), „politische Krise“, „Fraktionen“ sowie „ungenügendes Verständnis für die vielen komplizierten Probleme der Ok-

128 Feliks Tych (Hg.), PPS-Lewica 1906–1918. Materiały i Dokumenty, Bd. 1, 1906–1910, Warszawa 1961, S. VI (Hervorhebung im Original). 129 Ebenda, S. VII. 130 Ebenda. 131 Jan Tomasz Lipski, Nierozważna i romantyczna, in: Gazeta Wyborcza vom 16.1.1999 (Gazeta Świąteczna), S. 24. Luxemburg als „Philosophin der Niederlagen“ passte gut in die Tradition der polnischen Romantik und des polnischen Messianismus: „Wo wären wir heute ohne jene Niederlagen, aus welchen wir unsere historische Erfahrung, Kraft und Idealismus schöpfen“? bemerkte Lipski. Zu Luxemburgs Platz im polnischen und deutschen Gedächtnis siehe Maciej Górny/Kornelia Kończal, Rosa Luxemburg. Alle Namen der Rose, in: Hans Henning Hahn/Robert Traba (Hg.), Deutsch-polnische Erinnerungsorte, Bd. 2, Paderborn 2014, S. 561–582.

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toberrevolution“132 malte Tych ein buntes Geschichtsbild der Partei, das einer einzigen autoritativen Interpretation nicht gerecht werden konnte. Schließlich sind das die Quellen und die in ihnen enthaltenen Tatsachen, die dieses Bild bestimmen: „Davon werden den Leser am ausdrücklichsten die Dokumente selbst überzeugen.“133 Mit der stalinistischen Eindeutigkeit wurde endgültig aufgeräumt.

Geschichte zwischen Ideologie und Authentizität Infolge dieser Veränderungen bildete sich ein neuer, poststalinistischer Herrschaftsdiskurs. Martin Sabrow definiert das Konzept des Herrschaftsdiskurses am Beispiel der DDR als „die mit verbindlichen Denkmustern, Deutungskonzepten und Ausgrenzungen besetzten Verständigungsebenen über die Vergangenheit der DDR, die vor allem von den ideologischen Normen und politischen Ansprüchen der sozialistischen Diktatur bestimmt waren“.134 Herrschaftsdiskurs ist somit mehr als die explizit formulierte Ideologie; er kommt vor ihr und macht ihre Wirksamkeit erst möglich: Erst innerhalb dieses Diskurses […] vermochten die legitimatorischen Strategien des SEDRegimes ihre Überzeugungskraft zu entfalten, konnten fremde Traditionen und äußere Einflüsse erfolgreich ausgegrenzt, widerständige Denkweisen ihrer Stimme beraubt und als Übertritt in das Lager „des Gegners“ disqualifiziert werden, so dass die Teilhaber dieser Sinnwelt gegen jede von außerhalb kommende Kritik zum Beispiel an der augenfälligen Tabuisierung historischer Fragen und an der empirischen Fragwürdigkeit geschichtlicher Traditionsbildung von vornherein immunisiert waren.135

Nicht zufällig wird der Beginn der „Standardisierung“ des historischen Herrschaftsdiskurses des Marxismus-Leninismus genau auf den Umbruch von 1956 festgesetzt. Richtungsgebend waren die zahlreichen Kampagnen und „ideologischen Offensiven“ (gegen Revisionismus usw.) von 1956–1959, wie zum Beispiel Ulbrichts „Historikerberatung“ vom Dezember 1958, die Kampagne gegen die „Positivisten“ auf dem III. Tschechoslowakischen Historikertag von 1959 wie auch der stufenweise Rückzug der liberalen Geschichtspolitik nach dem VIII.

132 Tych, PPS-Lewica, S. VIII. 133 Ebenda, S. IX. 134 Martin Sabrow, Einleitung: Geschichtsdiskurs und Doktringesellschaft, in: Ders (Hg.), Geschichte als Herrschaftsdiskurs. Der Umgang mit der Vergangenheit in der DDR, Köln 2000, S. 9–35, hier S. 19. 135 Ebenda.

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Polnischen Historikertag von 1958.136 Zugleich muss man jedoch daran erinnern, dass der XXII. Parteitag der KPdSU von 1961, der eine zweite Entstalinisierungswelle herbeiführte, auf die Geschichtswissenschaft liberalisierend wirkte. Stalins Verdienste wurden in der neuen Auflage der „Geschichte der KPdSU“ von 1962 weiter geschmälert. Gleichzeitig wurde die bolschewistische Partei als die Führerin der Massen gewürdigt, die „trotz Stalins Persönlichkeitskult“ den Sozialismus aufbaute. Das Ziel war es, die Autorität der Partei zu stärken. Folgende Aspekte wurden dabei hervorgehoben: die breiteren Revolutionstraditionen der Arbeiterbewegung, einschließlich der nicht-marxistischen; der multinationale Charakter der Partei; die Verdienste Lenins um die Einheit der Partei wurden noch stärker als 1956 betont; und schließlich die internationale Rolle der Partei in der kommunistischen Weltbewegung. Aufgrund der vielfachen Verweise auf Lenin (z. B. findet man an über fünfzig Stellen die Formulierung „Lenin meinte …, sagte …, betonte …“ usw.) meinten die damaligen Kommentatoren im Westen, der StalinKult sei durch einen Lenin-Kult ersetzt worden.137 Im Hinblick auf die Gestaltung des Ideologiediskurses zeichnet sich dabei eine wichtige Ähnlichkeit zwischen der sowjetischen Entwicklung und der Lage in Osteuropa ab: Sowohl in der Sowjetunion seit den frühen dreißiger Jahren als auch in den Blockstaaten seit den späten vierziger Jahren agierte Stalin selbst als ein External Master oder als Master Editor (Alexei Yurchak) des ideologischen Metadiskurses – mit Hilfe seiner nationalen Multiplikatoren Bierut, Gottwald, Rákosi und Ulbricht auf der einen und Thorez und Togliatti auf der anderen Seite. Selbst jenseits des ideologischen Diskurses angesiedelt, besaß Stalin die exklusive Autorität zu dessen Gestaltung, wie es in den dreißiger Jahren z. B. während der „Redaktion“ der neuen sowjetischen Verfassung, der Nationalhymne oder von Geschichtswerken der Fall war.138 Nach seinem doppelten Tod 1953 und 1956 blieb die Stelle des Master Editors leer und man war seitdem auf parteiinterne Verständigungs- und Deutungsaushandlungen angewiesen. Das „Jenseits“, den Raum außerhalb des ideologischen Diskurses gab es während des gesamten Poststalinismus nicht mehr. Dieser vorübergehende Vakuumzustand machte den

136 Mikołaj Tyrchan, Nauki historycznoprawne w latach 60. XX wieku – organizacja badań, in: Krakowskie Studia z Historii Państwa i Prawa 5, 2012, S. 355–373, hier S. 359–360; Rafał Stobiecki, Historiografia PRL. Ani dobra, ani mądra, ani piękna …, ale skomplikowana. Studia i szkice, Warszawa 2007, S. 191ff. 137 Vgl. Erwin Oberländer, Zur Parteigeschichtsschreibung nach Stalins Tod, in: Berichte des Bundesinstituts zur Erforschung des Marxismus-Leninismus, I/1 – November 1963. 138 Yurchak, Everything Was Forever, S. 41–44.

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Weg frei für die verschiedenen „Standardisierungsversuche“, die immer wieder neu einsetzten und sich dann später wieder selbst in Frage stellten.139 Anstelle Stalins als allmächtigem Master Editor formte sich im Poststalinismus ein neuer Ideologiediskurs, der auf der Triade Lenin, die Partei und der Kommunismus basierte.140 Entscheidend dabei waren die ersten beiden Säulen, die sich wechselseitig bedingten: Während Lenin als Gedankenquelle des MarxismusLeninismus die Methode zur Erfassung und Veränderung der Welt lieferte, verkörperte die Partei das handelnde Subjekt, das diese wissenschaftliche Methode nutzte, um die Welt zu verändern. Die dritte Säule – der Endzustand des Kommunismus – verlor trotz Chruschtschows Utopiephantasien allmählich an Bedeutung und seit seinem Fall 1964 trat sie, im Zuge der Breschnewschen Stagnation, ganz in den Hintergrund. Ein wichtiges Ergebnis des Ausfalls des Master Editors war die Autonomie der nationalen Parteidiskurse. Während in der Tschechoslowakei mit den frühen sechziger Jahren eine neue Ära der Liberalisierung in historischen und ideologischen Fragen eintrat, hauptsächlich nach dem XII. Parteitag der KSČ, war in der SED die dogmatische Strömung im Aufstieg, und auch der anfängliche Reformethos der früheren Gomułka-Politik in Polen verwandelte sich im Zuge der so genannten „kleinen Stabilisierung“ der sechziger Jahre zunehmend in einen versteinerten Konservatismus. Parallel mit den Unterschieden zwischen den jeweiligen nationalen Geschichtserzählungen verselbstständigten sich die parteilichen Geschichtsbilder durch die Entstehung eigenständiger Institutionen und Diskursmechanismen. Neben dem vorgegebenen thematischen Fokus und der engeren Bindung an die Partei charakterisierte den historischen Parteidiskurs zu dieser Zeit auch ein höherer Anspruch auf Geltungskraft in den eigenen Parteireihen. War in der breiteren Öffentlichkeit, vor allem in Polen und seit den frühen sechziger Jahren auch in der Tschechoslowakei, eine gemäßigte Vielfalt an Geschichtsdeutungen möglich (z. B. in der Bewertung der Ersten Tschechoslowakischen Republik der Zwischenkriegszeit), so stellte sich dieselbe Frage innerhalb der Parteien anders. Hier war die historische Identität die Grundvoraussetzung für die Existenz der Partei als ein homogenes politisch-ideologisches Gefüge schlechthin. Auch wenn die Wirklichkeit angesichts innerparteilicher Auseinandersetzungen oft anders war, galt der Grundsatz der Einheit in ideologischen Fragen über die ganze Existenz der Parteidiktaturen hinweg als unantastbar.141 139 Sabrow, Auf der Suche, S. 43f. 140 Yurchak, Everything Was Forever, S. 73. 141 Vgl. Sommer, Tři fáze stranického dějepisectví v padesátých a šedesátých letech, in: Jiroušek, Proměny diskursu, S. 271–286, hier S. 273 und 277. Am kritischsten diskutierten die tschechoslowakischen Historiker die Doktrin der Objektivität und Parteilichkeit wäh-

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Das Bemühen um die Vereinheitlichung der parteiinternen Geschichtsdiskurse entsprach der poststalinistischen Situation, in der man die Partei verstärkt als den eigentlichen Motor des Fortschrittes begriff. Die Entstalinisierung führte einen Zustand ein, in dem die Parteiführung sowie die Parteimitglieder und Funktionäre vor Ort gleichsam die identitätsstiftenden Geschichtsbilder entwarfen und sie aber zugleich nicht völlig im Griff hatten. Dies galt auch für die scheinbar allmächtigsten Politbüros und Generalsekretäre, die in die Falle ihrer eigenen Geschichtskonstruktionen gerieten, nachdem sie die Interpretationen rasch geändert hatten und Bewertungen umdrehen mussten. Bekanntlich verloren einige der Synthesen bereits kurz nach der Veröffentlichung ihre Geltung, wie z. B. die achtbändige Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung aus den späten sechziger Jahren.142 Zugleich brachten die von unten artikulierten „Unklarheiten“ und „falschen Interpretationen“ die zentralen Großerzählungen oft ins Wanken (wie z. B. die lokalen Darstellungen zur Novemberrevolution in der SED 1958 zum 40. Gründungsjahr der KPP in demselben Jahr), ohne aber die Grundregeln und Grundbegriffe des poststalinistischen Parteidiskurses wesentlich geändert zu haben. Im Gegenteil, wie die Debatte um den Objektivitätsbegriff in der DDRGeschichtsschreibung zeigt, konnten die Auseinandersetzungen den herrschenden Diskurs sogar konsolidieren, solange sie sich mit seinen Kernprinzipien auseinandersetzen, seine Geltung aber nicht fundamental in Frage stellten.143 Die von oben auferlegten poststalinistischen Grundbegriffe wie „historische Wahrheit“, „Objektivität und Parteilichkeit“, „Personenkult“, „Dogmatismus“, „innerparteiliche Demokratie“ oder „Revisionismus“ steckten zwar den Entstehungsrahmen der Geschichtsbilder ab; ihre konkrete situative Bedeutung war jedoch durchaus uneinheitlich. Dies ist im doppelten Sinne zu verstehen: Zum einen relativierten die Parteimitglieder ständig den Sinn dieser Begriffe, wenn „Verständnisfragen“ gestellt wurden oder man sich nach der genauen Bedeutung eines bestimmten Begriffes erkundigte („Unklarheiten“); zum anderen ist die Prägungskraft dieser Begriffe an den Kritik- und Begutachtungspraktiken der rend des Prager Frühlings, wobei sie die Begriffe nie vollkommen verwarfen, ebenda, S. 465ff. 142 Sabrow, Auf der Suche, S. 37–42. 143 Sabrow hebt die konsensstiftende, legitimierende Wirkung des wissenschaftlichen „Meinungsstreites“ hervor, die – wie er am Beispiel der „Objektivitätskontroverse“ um Jürgen Kuczynski aus den späten fünfziger Jahren zeigt – auf der Kombination von intellektuellem Dissens und „affirmativem Widerspruch“ beruhte. „So paradox es klingt, noch im inhaltlichen Dissens bekräftigte Kuczynski den strukturellen Konsensanspruch der historischen Wissenschaft in der DDR.“ Martin Sabrow, Der künstliche Konsens. Überlegungen zum Legitimationscharakter sozialistischer Herrschaftssysteme, in: Jahrbuch für historische Kommunismusforschung 1999, S. 191–224, hier S. 217ff.

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Zentralstellen zu messen, mit denen die Ideologieapparate die lokalen Geschichtsbilder zu homogenisieren suchten. Im Folgenden werde ich einige von den Zentralbegriffen und Diskursregeln des Poststalinismus in ihrer Wechselwirkung zwischen Parteiführung und Parteiperipherie darstellen. Zentral im poststalinistischen Geschichtsdiskurs blieb der seit den aufgeheizten Frühlingsmonaten von 1956 zirkulierende Begriff der Wahrheit.144 Das Wahrheitsideal konnte gleichwohl verschiedene Formen annehmen. Auf der einen Seite stand die streng gelenkte Erzeugung der Parteigeschichte in der SED, wo der Wahrheitsbegriff nicht verhindern konnte, dass die empirisch festgelegte Faktizität den politischen Ansprüchen der Parteiführung unterlag, als z. B. selbst die Herausgabe der Reden von Walter Ulbricht vom IML „aktualisiert“ werden musste.145 Auf der anderen Seite wehrten sich die polnischen Parteihistoriker nach 1956, aus den ideologischen Zwangsjacken zeitweise befreit, energisch gegen Falsifizierungsvorwürfe. Sie rekurrierten dabei zwangsläufig auf den Wahrheitsbegriff und versuchten ihn nur sehr unbeholfen mit der Geltungskraft des MarxismusLeninismus zu versöhnen. Auf der Sitzung der Parteigrundorganisation des Instituts für Parteigeschichte (ZHP) im April 1956 musste der stellvertretende Direktor Kowalski auf wiederholte Nachfragen zur „Verfälschung der Geschichte“ reagieren: „Wir fassen die Wahrheit marxistisch auf und behaupten, dass Wahrheit die objektiv bestehende Wirklichkeit ist. Das Auslassen von Fakten ist noch keine Verfälschung. Aber Verdrehung von Fakten ist eine solche. Wir verurteilen jede Form von Verdrehung.“146 Die Treue zur empirischen Wahrheit, die auch „Fehler“ enthalten konnte, sollte weder selektiert noch lackiert werden. Als der Vorsitzende der SED-Geschichtskommission in Bernburg ein ehemaliges SPD-Mitglied zum Niederschreiben seiner Erinnerungen aufforderte, mahnte er den künftigen Autor dazu, das Wahrheitsideal zu beachten. Das Beispiel zeigt, dass die praktische, eigensinnige Unterscheidung zwischen „wahr“ und „falsch“ in der Sinnwelt der poststalinistischen Parteien durchaus anwesend war, unabhängig der ideologischen Bestimmungen von oben: Schreib aber bitte die Wahrheit, setze nichts hinzu und lasse nichts weg. Schreibe auch das, was Du oder andere verkehrt gemacht haben, was Du jetzt erst richtig erkannt hast. Wir brauchen uns unserer Fehler nicht zu schämen, denn es fehlte uns ja an der nötigen politischen Schulung. Unseren Nachkommen können wir viel mehr Nutzen bringen, wenn wir 144 Zur zeitgenössischen Sicht der westlichen Kommunismusforschung siehe Helmut Dahn, Der Wahrheitsbegriff in der neueren sowjetischen Philosophie am Beispiel ihrer Auseinandersetzung mit dem Neopositivismus, in: Bericht des Bundesinstituts zur Erforschung des Marxismus Leninismus I/2 – März 1962. 145 Sabrow, Geschichtsdiskurs und Doktringesellschaft, S. 26. 146 AAN, KPC PZPR, 237/XXI-61, POP WHP, Sitzung 30.4.1956, Bl. 382.

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die Wahrheit berichten. Besonders bei den ehemaligen SPD-Genossen kommt es darauf an, nicht zu schildern, dass alles richtig war.147

Einen weiteren Gravitationspunkt des historischen Parteidiskurses bildete der Begriff der Objektivität. Dabei geriet vor allem die Vorstellung der „objektiven Entwicklung“ und der „objektiven Bedingungen“ in die Kritik der örtlichen Kommunisten. Der Begriff der Objektivität, falls ohne weitere Attribute gebraucht, hatte in der offiziellen Doktrin des Marxismus-Leninismus eine eher pejorative Bedeutung: Die Objektivität konnte nur in „dialektischer Einheit“ mit der „sozialistischen Parteilichkeit“ positiv verstanden werden; sonst degeneriere sie zum „bürgerlichen Objektivismus“.148 Die widersprüchliche Erfahrung mit der lokalen Parteigeschichte hat die Tendenz der Parteiideologen, „Objektivität“ eher mit Verdacht zu betrachten, weiter gefördert. Dies zeigte sich in ihren stets wiederkehrenden Klagen über die „mangelnde Parteilichkeit“ der örtlichen Geschichtsdarstellungen. Und gerade die „Dialektik“ von Objektivität und Parteilichkeit haben die Kommunisten oft nicht verstanden. Waren die „Wirklichkeit“, die Fakten an sich parteilich, wie eine deterministische Geschichtsauffassung andeuten würde? Oder gestaltete der marxistische Autor, der die Partei vertrat, die Wirklichkeit durch die Lehre der Partei, durch ihre Anschauung? In der Theorie war es das notorisch dialektische Verhältnis zwischen Wirklichkeit und Erkenntnis, das die Parteimitglieder aus den Parteischulungen kannten. Die Frage stellte sich jedoch 147 LHASA, MER, SED-Kreisleitung Bernburg, IV/403/385, Bericht der Kreiskommission, 20.7.1959, Bl. 174. 148 Für die allgemeine Begriffsbestimmung siehe Stranickost, in: Příruční slovník naučný, Bd. 4, Praha 1967, S. 280. Während der tschechische Artikel die „Parteilichkeit“ mit „Objektivität und Wahrhaftigkeit“ (pravdivost) in Verbindung bringt, verwendet Meyers Neues Lexikon von 1964 den Begriff „strenge Wissenschaftlichkeit“. Artikel „Parteilichkeit“, in: Bd. 6, Leipzig 1964, S. 418. Den Begriff des Objektivismus bezeichnet Meyers Lexikon als „wissenschaftsfeindliche“, mit dem Anspruch auf Objektivität und Überparteilichkeit auftretende Form bürgerlicher Parteilichkeit. Dagegen stellt das tschechische Lexikon lakonisch fest, der Objektivismus sei eine „Erkenntnismethode, die unter dem Vorwand der wissenschaftlichen Objektivität die wesentlichen Gesellschaftszusammenhänge vernachlässigt und sich auf passive, unkritische Registrierung von Ereignissen und Anschauungen beschränkt.“ Objektivismus, in: Meyers Neues Lexikon, Bd. 6, Leipzig 1964, S. 231; Objektivismus, in: Příruční slovník naučný, Bd. 3, Praha 1966, S. 397. Die polnische Encyklopedia powszechna von 1966 enthält keine Artikel zu „partyjnost“ und „obiektywność“. „Obiektywizm“ ist in drei möglichen Bedeutungen unideologisch interpretiert: 1. kritische, vorurteilsfreie Erkenntniseinstellung; 2. wissenschaftliche Betrachtung ohne eigenen Standpunkt; 3. Erkenntnisansatz, in dem der Erkenntnisgegenstand ohne das erkennende Subjekt existiert. Im Unterschied zur DDR-Interpretation, die nur die ideologischkämpferische Bedeutung anerkannte, war die polnische Deutung frei von jedem Bezug auf den Marxismus-Leninismus. Encyklopedia powszechna, Bd. 8, Warszawa 1966, S. 82.

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anders, wenn ein Kommunist angesichts der Umbruchsituationen wie 1956 oder 1968 sein bisheriges Leben und dessen Einbettung in die Großgeschichte der sozialistischen Revolution neu erzählen musste. Es entstand ein großer Gestaltungsraum, den der autoritative Ideologiediskurs nur teilweise zu formen vermochte. Das vom Prager Geschichtsinstitut ausgearbeitete interne Material Die methodologischen Grundsätze für die regionale Geschichte der KSČ (1960) spiegelt diese Dilemmata wider. Auch in der Lokalgeschichte galt das Gebot der Parteilichkeit „sowohl in Bezug auf das Quellenmaterial als auch in der Darstellung“. Man müsse immer „den richtigen Klassenstandpunkt“ vertreten. Keine „objektive Beschreibung von Erscheinungen und Ereignissen“ sondern „marxistische Bewertung“ solle angestrebt werden. Einige Zeilen weiter aber schwächte die neue Zielsetzung, die „Besonderheiten“ jeweiliger örtlicher Milieus im Kontext der „Gesamtentwicklung“ herauszuarbeiten, die „marxistisch-leninistische Bewertung“ ab: Der Lokalhistoriker sollte nicht die Geschichte „aus der heutigen Sicht bewerten. Man muss die Zeit und die Umstände (prostředí) greifbar machen, in denen sich die untersuchten Erscheinungen abspielten, und sie entsprechend der damaligen Situation beurteilen“.149 Man sollte erst durch „lokale Befunde zur Erkenntnis der allgemeinen Gesetze“ gelangen. Es hieß zwar, dass die Parteigeschichte den „gegenwärtigen Bedürfnissen und Aufgaben der Partei dienen“ und „Waffe gegen die feindlichen Ideologien“ sein solle. Mit dem Hinweis auf die Authentizität und Objektivität der konkreten örtlichen Tatsachen („Besonderheiten“) relativierte jedoch diese Aussage die Geltungskraft der Parteilichkeit. Solche widerspruchsvollen Vorgaben veranschaulichen die Unsicherheit, die nach dem Ausscheiden des Master Editors entstand. Hinzu kam, dass der Begriff der „Parteilichkeit“ sich selbst während der Formierung der marxistisch-leninistischen Ideologie oft änderte. Während Lenin die Parteilichkeit als ein Prinzip verstand, nach welchem die Klassenperspektive eine notwendige Voraussetzung für wissenschaftliche Objektivität darstellt, radikalisierte Stalin den Begriff erheblich. Er kündigte ein absolutes Diktat der Parteibeschlüsse über die historische Wahrheit an, was nicht nur für Geschichtsdarstellungen galt, sondern auch für Primärquellen. Sogar die Editionen der Klassiker des Marxismus-Leninismus wurden strenger Zensur und Bewilligung der Parteiführung unterstellt.150

149 NA, ÚD KSČ, k. 82, a.j. 535, Metodologické zásady regionálního zpracování dějin, Bl. 3–4. 150 Vgl. Markwick, Rewriting History, S. 38f.; Sabrow, Diktat des Konsenses, 27ff.; Jürgen Kocka, Parteilichkeit in der DDR-marxistischen Geschichtswissenschaft. Einige Thesen, in: Reinhart Koselleck u. a. (Hg.), Objektivität und Parteilichkeit in der Geschichtswissenschaft, München 1977, S. 263–269.

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Gegen diese Theoriegrundlage und Praxis richtete sich die Fakten-Offensive nach 1956. Offiziell hielt man am Prinzip der „Parteilichkeit“ als Voraussetzung der Objektivität weiterhin fest – am stärksten in der DDR, wo nach wie vor „die Notwendigkeit der weltanschaulichen, politischen Parteilichkeit der marxistischen Geschichtswissenschaft als Voraussetzung und Bestandteil ihrer wissenschaftlichen Objektivität“151 deklariert wurde. Aber in der Praxis nahmen die marxistisch-leninistischen Historiker immer mehr die Rankeanische Quellenkritik als Voraussetzung dieser Versöhnung. Das Editorial der tschechischen Fachzeitschrift Příspěvky k dějinám dělnického hnutí (Beiträge zur Geschichte der Arbeiterbewegung) von 1957 vereinigte demnach die Ideale der Wissenschaftlichkeit und Parteilichkeit, weichte sie aber zugleich durch Verweise auf „bislang ungeklärte wissenschaftliche Standpunkte“ und „unklare Fragen“ auf.152 Die Geltungskraft der Quellen blieb zwar von der Ideologie abhängig, aber der von Chruschtschow geförderte, relativierende Faktenbezug war nicht mehr wegzuschaffen. Die Vorwürfe des (bürgerlichen) „Objektivismus“ nahmen eine wichtige Stellung in der Kritik an den lokalen Geschichtsdarstellungen ein. Einen „absoluten wissenschaftlichen Objektivismus“ lehnten die zentralen Propagandastellen stets ab. „Es muss Schluss gemacht werden“, so ein Mitarbeiter des Warschauer Parteiinstituts im Dezember 1957, „mit den Reden von einem absoluten wissenschaftlichen Objektivismus. Jede Wissenschaft hat einen politischen Aspekt.“153 „Objektivistisch“ zu arbeiten bedeutete im poststalinistischen Diskurs des MarxismusLeninismus, die Kriterien der westlichen Wissenschaft und somit die „Illusion“ der Unparteilichkeit zu akzeptieren, die letztendlich gegen die Interessen der Arbeiterklasse gerichtet gewesen sei. „Die neue Definition der Parteilichkeit lautet: Eine Wissenschaft, die die Bedürfnisse der Arbeiterklasse verteidigt.“154 Obwohl die Objektivismus-Kritik auch auf die „Illusion“ der „objektiven Tatsachen“ abzielte, war es angesichts der Chruschtschowschen Faktenwende immer schwieriger, den Glauben an den „Wahrheitsgehalt“ und somit an die „Parteilichkeit“ der Fakten und der Wirklichkeit selbst zu zerstreuen.

151 Walther Eckermann/Hubert Mohr, Einführung in das Studium der Geschichte, Berlin (Ost) 1964, S. 40, zit. n. Sabrow, Geschichtsdiskurs und Doktringesellschaft, S. 23. 152 Úvodem, in: Příspěvky k dějinám KSČ 1, 1957, S. 3. Das Editorial bezieht sich auf die Einheit von Wissenschaftlichkeit und Parteilichkeit, weicht jedoch diese Einheit durch Verweise auf „bislang ungeklärte wissenschaftliche Standpunkte“ und „unklare Fragen“ auf. 153 AAN, KC PZPR, 237/XXII-734, Protokoły z zebrań POP PZPR ZHP, Sitzung 16.12.1957, unpag. 154 Ebenda.

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Die Entzweiung zwischen der Macht der ideologiegestützten Interpretation und der Unabhängigkeit der Fakten war sowohl in der Fachgeschichtsschreibung als auch in den lokalen Deutungen der Vergangenheit sichtbar. Sie zeigte sich beispielhaft in der Kontroverse um Jürgen Kuczynski, der 1957 den Begriff der „Parteilichkeit“ neu zu deuten versuchte, indem er ihn nicht auf einen politisch von außen angeordneten Standpunkt zurückführte, sondern die Wirklichkeit selbst für parteilich erklärte. Mit dieser Argumentation haben sich die Parteiideologen, wie Martin Sabrow zeigte, sehr schwer getan.155 Verbreitet unter den Parteihistorikern war auch die Überzeugung, die (parteiliche) Wahrheit sei direkt in den Tatsachen und Quellen enthalten. Fortdauernd bekämpften die Zentralinstitute „objektivistische und reformistische Darstellungen“, die den „penetranten Geruch bürgerlicher ‚Objektivität‘“156 hatten, kritisierten Arbeiten mit einer „klaren objektivistischen Tendenz“ sowie solche, die als „bloße Zusammenstellungen von Dokumenten ohne Hervorhebung von Höhepunkten“ und als „objektivistische Aneinanderreihungen“ gestaltet waren.157 Die örtlichen Parteihistoriker wurden dafür kritisiert, die „Parteilichkeit als Grundlage der Wissenschaftlichkeit“ nicht begriffen und den „Zusammenhang zwischen marxistischer Parteilichkeit und objektiver Wahrheit“ verwischt zu haben.158 Viele Lokalhistoriker haben die Quellen, so die Kritik, einfach übernommen, ohne sie in einen entsprechenden Deutungsrahmen der parteimarxistischen Geschichtsschreibung gesetzt zu haben. Damit handelten sie sich den Vorwurf der „revisionistischen“ und „bürgerlichobjektivistischen“ Darstellung ein. In Köthen, Bezirk Halle, musste 1958 eine Ausstellung zum 40. Jahrestag der Novemberrevolution geschlossen werden, weil sie ausschließlich „konterrevolutionäre Dokumente“ zeigte und daher „als objektivistisch“ galt.159 Eine Broschüre zur Novemberrevolution in Bernburg sei ebenfalls „in die Gefahr des Objektivismus“ geraten. Die Verfasser versuchten nämlich, die „rechten SPD-Führer mit deren eigenen Worten zu entlarven“, die Quellen „in sozialdemokratische Berichte“ einzukleiden und haben damit „vor den Methoden der rechten sozialdemokratischen Publizistik kapituliert“.160 An vielen anderen Orten haben die Parteizensoren den „Glauben an die Objektivität der Quellen“ kritisiert. Diese Beispiele zeigen, wie stark die faktenorientierte, empirizistische 155 Sabrow, Diktat des Konsenses, S. 344ff. 156 SAPMO, DY 30/IV 2/9.07/120, IML an SED-Bezirksleitung Halle, 23.9.1958, Bl. 257. 157 SAPMO, DY 30/IV 2/9.07/229, Tätigkeitsbericht der Bezirkskommission Karl-MarxStadt, 15.12.1958, Bl. 99. 158 SAPMO, DY 30/IV A2/9.07/254, Bemerkung zum Manuskript „Wie schreiben wir Betriebsgeschichte?“ 26.4.1963, unpag. 159 SAPMO, DY 30/IV 2/9.07/222, IML an SED-Bezirksleitung Halle, 26.2.1959, Bl. 279. 160 SAPMO, DY 30/IV 2/9.07/223, Bemerkung über die Broschüre „Die Novemberrevolution 1918“, 14.1.1960, Bl. 6ff.

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Interpretation der Wirklichkeit in der kommunistischen Sinnwelt verbreitet war und wie schwer sie sich in ein „einheitliches Geschichtsbild“ hineinpressen ließ. Der poststalinistische Konflikt zwischen dem Glauben an die objektiv gegebene Faktizität und dem Bestehen auf klassenbedingter Geltung historischer Tatsachen zeigt sich auch darin, dass selbst die normativen Richtlinien oft widerspruchsvoll waren. Zum Beispiel forderte 1961 ein internes Parteimaterial aus dem Kreis Neubrandenburg, das Hinweise zu den Erlebnisberichten über den Vereinigungsprozess zwischen KPD und SPD nach 1945 enthielt, die „Parteiveteranen“ dazu auf, nach Möglichkeiten „eine genaue Schilderung der Erlebnisse“, ein „wirklich exaktes Bild zu erarbeiten, um diese Zeit auch so zu sehen, wie sie wirklich war“. Vermeiden sollte man dagegen jegliche Übertreibungen und Herabsetzungen irgendwelcher Ereignisse. „Nur die objektive Wiedergabe kann richtig und für die Darstellung der Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung von Wert sein, um beim künftigen Leser einen entsprechenden Eindruck des großen heroischen Kampfes der Arbeiterklasse zu hinterlassen.“ Einerseits hat man von den Zeitzeugen Genauigkeit und die richtige Reihenfolge des Erlebten gefordert, andererseits war auch „subjektive Authentizität“ gefragt, die in den „persönlichen Erlebnissen und Ausdrücken“ zu finden war.161 Es handelte sich somit um einen Authentizitätsbegriff, der über die von den Zentralapparaten postulierten Standards der „Objektivität und Parteilichkeit“ hinausging. Trotz oder vielleicht gerade wegen seiner mangelnden Eindeutigkeit erlebte der Objektivitätsbegriff – oft als Adjektiv in Verbindung mit verschiedenen Substantiven verwendet (objektive Bedingungen, Wahrheit, Ursachen usw.) – im Poststalinismus eine wahre Renaissance. Besonders populär war die Gegenüberstellung des Objektiven und des Subjektiven. Die Beliebtheit dieses Begriffspaares ging mit der steigenden Akzentuierung von „Schwierigkeiten“ des historischen Prozesses oder der Zersplitterung der einst als einheitlich gesehenen Entwicklungslinien einher. Die polnische Diskussion über die Ursachen des Personenkultes basierte genau auf diesem Gegensatz. Die Entstehung des Personenkultes sollte aus der Sicht der polnischen Parteihistoriker „im Zusammenhang mit den objektiven wie subjektiven Bedingungen“ untersucht werden. Man müsse „objektive und subjektive Schwierigkeiten“ berücksichtigen.162 Die Partei sei mit einer „Reihe von Schwierigkeiten objektiver wie subjektiver Natur“ in der Vergangenheit konfron-

161 SAPMO, DY 30/IV A2/9.07/392, Hinweise zur Erarbeitung der Erlebnisberichte, 1961, unpag. 162 AAN, KC PZPR, 237/XXI-61, Podstawowa Organizacja Partyjna WHP, Sitzung 30.4.1956, Bl. 380.

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tiert, stellten die PZPR-Historiker im März 1964 fest, als sie die „Konzeption“ der neuen Geschichte der polnischen Arbeiterbewegung besprachen.163 Die Gegenüberstellung des Subjektiven und des Objektiven überlagerte sich oft mit dem genauso schwer verständlichen Gegensatz von Basis und Überbau. Das „Objektive“ wurde meistens mit „Bedingungen“, „Verhältnissen“ und „Situationen“ assoziiert, während sich das „Subjektive“ auf „Bewusstsein“, „Weltanschauungen“ und „Ideen“ bezog. Das programmatische Material zur Erforschung der KPP-Geschichte aus dem Jahr 1958 hob die „Komplexität objektiver Bedingungen“ (złożoność warunków obiektywnych) hervor, die im „Gesamtkontext der damaligen objektiven Situation“ (w aspekcie całokształtu ówczesnej obiektywnej sytuacji) betrachtet werden sollten. Der „subjektive Faktor“ (czynnik subiektywny) wurde den „objektiven Bedingungen“ gegenübergestellt, wobei letzteres über ersteres die Oberhand behielt.164 Bei näherer Betrachtung konkreter ideologischer Aussagen sieht man eine – typisch poststalinistische – Vielfalt an Gebrauchsweisen des Subjekt-ObjektGegensatzes. Die beiden Pole wurden häufig in ihrer Bedeutung für gleichrangig gehalten, indem man von „objektiven wie subjektiven“ Faktoren, Bedingungen oder Ursachen sprach. Anderswo schlossen sie sich gegenseitig aus: „Die objektive Gesetzmäßigkeit der Entwicklung wird durch eine subjektive Auslegung der historischen Ereignisse negiert“, wie in einem Gutachten zur Broschüre über die Novemberrevolution aus Frankfurt/Oder aus dem Jahr 1958 zu lesen ist.165 Dieser Gegensatz bezog sich aber nicht nur auf den „Subjektivismus“ als eine falsche (bürgerliche) Herangehensweise an die Wirklichkeit, sondern trat in einigen Darstellungen auch als eine reale Erscheinung im historischen Prozess selbst auf. Das zeigte sich in der Diskussion der ostdeutschen Parteihistoriker über die vom V. SED-Parteitag formulierte „Ökonomische Hauptaufgabe des Siebenjahrplanes“ (1959–1965), mit der die DDR Westdeutschland „einholen und überholen“ wollte und die Wirtschaftspolitik auf die Produktion von Konsumgütern umlenkte. Die Unklarheiten über die Hintergründe dieses Politikwechsels brachten die Genossen zu den Überlegungen darüber, ob die Ursachen der früheren fehlerhaf-

163 AAN, KC PZPR 237/XXII-41, Notatka dla Komisji Ideologicznej KC PZPR, 5.3.1964, unpag. 164 AAN, KC PZPR, 237/XXII-74, Protokół porady o 40-leciu KPP, 18.2. und 22.2.1958, unpag. 165 SAPMO, DY 30/IV 2/9.07/220, SED-Bezirksleitung Frankfurt an die Kreisleitungen, 16.10.1958, Bl. 32–35.

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ten Wirtschaftspolitik unter „objektiven Faktoren“ oder in der „subjektiven Fehleinschätzung“ zu suchen sind.166 Häufig monierten die Gutachten das Herauslassen des „subjektiven Faktors“, was hauptsächlich mit der „Überschätzung objektiver Bedingungen“ zu tun hat, meistens wirtschaftlicher Faktoren („Ökonomismus“) und mit dem Ignorieren des Klassenbewusstseins als geschichtsgestaltenden „subjektiven Faktors“. Oft mussten Interpretationen „bekämpft“ werden, die besagten, dass verschiedene „objektive Bedingungen“ (Schwierigkeiten, Umstände usw.) einzelner Regionen die revolutionäre Umgestaltung vor Ort behindert hätten. 1957 bemühte sich die SED-Kreisleitung in Naumburg, die „falsche Auffassung“ von Naumburg als „besonderer Kreis“ zu zerschlagen, die sich in der örtlichen Parteiorganisation verbreitet hatte.167 Diese „völlig unmarxistische Auffassung“ wurzelte laut Parteileitung in der Vorstellung, dass in dem betroffenen Kreis eine hohe Konzentration „kleinbürgerlicher und klerikaler Kräfte“ zu verzeichnen war. Diese Ansicht wurde als deterministisch kritisiert, als eine inakzeptable Theorie von „objektiven Schwierigkeiten“, die den politisch notwendigen subjektiven Faktor ausschalte und die Partei der politischen Verantwortung enthebe. „Ursachen in ‚objektiven Schwierigkeiten‘ zu suchen“, hieß es in der Diskussion der Kreisleitung, „scheint ein bequemer Weg. Dieser Weg muss allerdings der Partei fremd sein, weil er die Entwicklung des politischen Bewusstseins und die Entwicklung einer schicksalhaften überirdischen und zufälligen Kraft überlässt. Dieses schicksalhafte Überirdische und Zufällige hat sich in der Arbeit der Kreisleitung Naumburg widergespiegelt.“168 Die Kritik an der „Überbetonung objektiver Bedingungen“ kam besonders dort vor, wo Misserfolge oder Mängel der revolutionären Bewegung auf die eher statisch geschilderten Wirtschafts- und Gesellschaftsbedingungen zurückgeführt wurden. Diese Auffassung war insofern irritierend und irreführend, als zugleich der Begriff „objektive Gesetzmäßigkeit“ im parteimarxistischen Wirklichkeitsdiskurs eine eindeutig positive Konnotation besaß und daher oft „missverstanden“, d. h. eigensinnig umgedeutet wurde. Das zeigt sich im häufigen Beklagen von 166 SAPMO, DY 30/IV A2/9.07/252, Fragen der Teilnehmer des Lehrganges an der Parteischule Brandenburg vom März 1966. „Größere Unklarheiten traten in Greiz und GeraStadt über die Widersprüche in der Übergangsperiode in Erscheinung. Man betrachtete teils die Widersprüche als subjektive Fehler, die sich aus der Politik ergeben hätten und begriffen nicht, dass die Widersprüche in der Übergangsperiode objektiven Charakter tragen und ihr Auftreten unvermeidlich ist.“ SAPMO, DY 30/IV 2/9.02/94, Einschätzung zum Thema 3 des Lehrbuches „Grundlagen“ im Bezirk Gera, 3.9.1960, Bl. 106. 167 LHASA, MER, SED-Bezirksleitung Halle, IV/2/1/20, Plenarsitzung 15.7.1957, Bl. 155– 182. 168 Ebenda, Bl. 184.

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Leitungsfunktionären darüber, dass die Parteimitglieder wirtschaftspolitische Beschlüsse gleichsam als „historische Gesetze“ begriffen. Häufig lamentierten die Berichte aus Parteischulungen über die „Unklarheiten der Genossen“, die mit den „objektiven ökonomischen Gesetzen“ wenig anfangen konnten, vor allem infolge der wiederholten Richtungsänderungen der staatsozialistischen Wirtschaftspolitik nach 1956: „In den Seminaren musste viel Zeit aufgewandt werden, um den Genossen klar zu machen, was ökonomische Gesetze sind, worin ihr objektiver Charakter besteht, und wie wir sie ausnutzen können. Viele Genossen glaubten, dass der Siebenjahrplan ein ökonomisches Gesetz sei. Den meisten Genossen waren solche Begriffe wie Produktionskräfte, Produktionsverhältnisse und andere Grundbegriffe der politischen Ökonomie in ihrem konkreten Inhalt wenig bekannt. Auch der Begriff Arbeitsproduktivität war unklar. Es wurde die Frage gestellt, ob in der DDR auch die Arbeitsintensität gesteigert werden muss.“169 Diese Berichte entblößten die Ahnungslosigkeit der Parteimitglieder über die marxistisch-leninistische Theorie. So haben sich die SED-Genossen in Dessau „noch ungenügend“ mit der „objektiven Notwendigkeit der Durchsetzung der Volkswirtschaft“ befasst.170 Die Teilnehmer des Parteilehrjahres 1966 in Buna waren nicht imstande, die „Gesetzmäßigkeit der gesellschaftlichen Entwicklung (Urgemeinschaft, Sklaverei, Feudalismus, Kapitalismus, Sozialismus, Kommunismus) durch die nächsthöhere zumeist anhand historischer Tatschen“ zu erklären. „Vom Wirken des Entwicklungsgesetzes der Übereinstimmung der Produktionsverhältnisse mit dem Charakter der Produktivkräfte gibt es bei vielen Genossen nur verschwommene Vorstellungen. Ähnlich verhält es sich mit der Kenntnis und der Wirkungsweise anderer objektiver ökonomischer Gesetze“, konstatierte der Bericht.171 Weitere Schwierigkeiten bereitete den Teilnehmern der Parteischulungen das Verhältnis von Zufall und Gesetzmäßigkeit in der Geschichte. Sie forderten dies169 SAPMO, DY 30/IV 2/9.02/96, Bürovorlage betr. den Bericht über die Durchführung des Beschlusses des Politbüros vom 15. März, 5.9.1960, Bl. 14. 170 LHASA, MER, SED-Bezirksleitung Halle, IV/A-2/9/01/67, Ideologische Kommission Dessau an SED-Bezirksleitung Halle, 7.7.1964, unpag. 171 LHASA, MER, SED-Bezirksleitung Halle, IV/A-2/9/01/78, Bericht über das Parteilehrjahr 1966. Im Mineralölwerk Lützkendorf mussten ein Jahr später folgende Begriffe geklärt werden: „Was heißt Eskalation? Was heißt Alleinvertretungsanspruch der Bonner Regierung? Was beinhaltet die Hallstein Doktrin? Was versteht man unter Prognose? Was versteht man unter der Schaffung des entwickelten gesellschaftlichen Systems des Sozialismus?“ und schließlich: „Warum haben Marx und Engels, die nicht aus der Arbeiterklasse stammen, den wissenschaftlichen Sozialismus ausgearbeitet?“ LHASA, MER, SEDBezirksleitung Halle, IV/A-2/9/01/79, Abschlussbericht über das Parteilehrjahr 1966–7, 12.6.1967, Bl. 163.

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bezüglich dauernd Erklärungen, wobei „Unklarheiten“ hauptsächlich dort auftauchten, wo bestimmte Entwicklungen und Phänomene als Ergebnisse objektiver Faktoren gedeutet, während andere als Effekt aktiver politischer Anstrengungen, einschließlich „Bewusstseinsänderungen“ und „Überzeugungsarbeit“, erklärt wurden. Warum, fragte man, gelten bestimme Ereignisse und Erscheinungen als Folgen „objektiver Gesetzmäßigkeiten“, während andere anhand des politischen Handelns und sogar subjektiver Motive oder Entscheidungen gedeutet werden? Wieso war es möglich, dass sowohl die Handlungen der Arbeiterklasse als auch die des Gegners sinngleich als „objektive Gesetzmäßigkeiten“ gedeutet werden? „Ist es nicht ein Widerspruch“, fragte 1966 ein Teilnehmer des Seminars über die Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung zur Frage der Gründung der SED, „wenn wir einerseits sagen, dass die Einheitsfront eine objektive Gesetzmäßigkeit ist und wir andererseits den Opportunismus ebenfalls als eine Gesetzmäßigkeit des Imperialismus hinstellen?“172 Erstaunt waren die Mitarbeiter des Zentralapparates besonders durch die schwachen Kenntnisse der Genossen über Fragen der „Wirtschaftsbasis“, wo sich die Unterschiede zwischen determinierenden „Gesetzen“ und politischer Gestaltung durch die Partei am stärksten verwischten. Diese Heteroglossia der Deutungen von ideologischen Grundbegriffen zeigte sich am stärksten gerade während der zentral organisierten Kampagnen wie jener zum Lehrbuch Grundlagen des Marxismus Leninismus, die nach der Absetzung des stalinistischen Kurzen Lehrgangs das autoritative Standardwerk der Parteischulung werden sollte.173 Die SED startete eine umfassende Schulungsaktion, an der alle Funktionäre von den Mitgliedern des Zentralkomitees bis zu den Kreisleitungen teilnehmen mussten, und für die das Zentralkomitee einen „einheitlichen Themenplan, Hinweise zur Gestaltung der Seminare, Kontrollfragen und Literaturhinweise“ ausarbeitete.174 Die Wirklichkeit vor Ort sah jedoch viel unordentlicher aus. Die Bandbreite der lokalen Aneignungsweisen reichte von übertriebenem Eifer über einfaches Ignorieren bis hin zum gewaltsamen Widerstand. Zum Beispiel wurde im VEB Bau Stralsund ein Lektor, „der sich mit der mangelnden Arbeitsdisziplin auseinandersetzte, tätlich angegriffen, ihm wurde eine Schlinge um den Hals gelegt und zugezogen. Die Funktionäre der Partei wollten diesen Mordanschlag mit Schweigen übergehen.“175 Solche Fälle stellen die Unbeliebtheit 172 SAPMO, DY 30/IV A2/9.07/252, Information über Fragen von Propagandisten auf dem Lehrgang der Bezirksleitung, 16.8.1966, unpag. 173 Monika Gibas, Ideologie und Propaganda, in: Herbst, Die SED, S. 241–262, hier S. 254. 174 Über das Studium des Lehrbuches „Grundlagen des Marxismus-Leninismus“, in: Dokumente der SED, VIII, 1963, S. 35–38, hier S. 36. 175 SAPMO, DY 30/IV 2/9.02/90, Bericht über die Sitzung der Bezirksleitung Rostock, 21.10.1960, Bl. 66.

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der Homogenisierungskampagnen unter Beweis. Eine weitere Herangehensweise war das Fernbleiben von den Schulungen. Ständig beklagten die Kursorganisatoren die niedrigen Zahlen anwesender Genossen („Immer noch ungenügender Kampf um eine hohe Teilnahme“). Die Parteifunktionäre haben die „Ursachen des Fernbleibens der Genossen“ sorgfältig, oft anhand detaillierter Statistikdaten, „analysiert“.176 Es kam häufig vor, dass die Teilnehmer die vorgegebenen Themenschwerpunkte umstellten, indem sie zum Beispiel nur ökonomische Probleme ernst nahmen und ideologische Fragen ignorierten. Weiter störten sie den erwarteten Ablauf der Schulungen durch eindringliches Nachfragen nach rudimentären Problemen, sodass die Lektoren in ihren Berichten über ein „sehr niedriges Niveau“ der Diskussionen referierten. Die Genossen haben das „Studium unterschätzt“, wichtige Dokumente waren ihnen nicht bekannt, das Lehrbuch selbst vielleicht „gelesen, aber nicht studiert“. Die Diskussionen wurden entweder als „oberflächlich“ oder zugleich auch als „zu abstrakt und theoretisch“ kritisiert. „Der Hauptmangel der Zirkel in den Kreisen“, hieß es im Bericht über das GrundlagenSeminar in Neubrandenburg im März 1960, „besteht einerseits oft darin, dass die Fragen zu abstrakt theoretisch diskutiert werden und andererseits zu wenig die Auseinandersetzungen mit falschen und feindlichen Auffassungen geführt werden, wie sie konkret im Bezirk und Kreis auftreten.“177 Über „lebendige Diskussionen“ wurde selten berichtet. Wenn sie doch stattfanden, bezogen sie sich meistens auf aktuelle Fragen wie Republikflucht und Westdeutschland; dabei zeigten sich „falsche Verallgemeinerung persönlicher Erlebnisse“ und die Unfähigkeit, „allgemeine Probleme“ zu sehen. Die meisten Berichte charakterisierten die Genossen als „passiv bis desinteressiert“, die Genossinnen als „schüchtern“. Wiederholt stellten die Kursteilnehmer den Sinn des Lehrbuchsstudiums in Frage. Im VEB Stahlbau Dresden wurde über Argumente berichtet wie „das Studium hat keinen Zweck. Wir haben Stalin studiert, das war nicht richtig, wer weiß, ob das jetzt richtig ist“. Viele waren von den Schulungen schlicht überfordert: „Ihr wollt uns alle zu Professoren machen!“; „Die Partei verlangt zu viel!“178 Trotz der kontinuierlich verfassten „Maßnahmen zur Verbesserung der Arbeit“ und Forderungen nach der „straffen Führung und Kontrolle des Studiums“ bestanden stets organisatorische Mängel. Selbst die Lektoren waren oft 176 SAPMO, DY 30/IV 2/9.02/91, Bericht über die Durchführung des Beschlusses des Politbüros vom 15.3.1960, Bl. 66. 177 Ebenda, Bl. 68. 178 SAPMO, DY 30/IV 2/9.02/95, Aktennotiz über die Propagandisten-Konferenz der Bezirksleitung Dresden, 12.10.1960, Bl. 52.

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schlecht vorbereitet. Im Kombinat Schwarze Pumpe in Hoyerswerda diskutierte man über die Unterschiede zwischen der sozialistischen und der bürgerlichdemokratischen Revolution, vor allem im Hinblick darauf, ob die letztere für alle Länder notwendig sei. Während der Diskussion tauchten immer mehr Unklarheiten auf, bis sich herausstellte, dass der Lektor „eine alte Lektion aus dem Jahre 1948 mit nur kleiner Abänderung gelesen hat und dabei auf die Nase fiel“.179 Im Kreis Heiligenstadt brachten die Genossen den Grundlagen-Studiengang völlig durcheinander: „Selbst bei leitenden Genossen“ wurden „große Unklarheiten“ festgestellt, es kam sogar zu Angriffen auf die Funktionäre der Kreisleitung. Die Teilnehmer nutzten diese „ernsthaften Mängel der massenpolitischen Arbeit“ dazu aus, ihre eigene Tagesordnung durchzusetzen und den Diskussionsschwerpunkt von den historisch-politischen Themen auf Versorgungsschwierigkeiten, vor allem auf Fleisch- und Obstknappheit umzulenken. Gleichfalls hielt sich das Interesse für gegenwärtige Fragen der internationalen Politik in Grenzen: „Was interessiert uns Kongo, das liegt weit weg. Gebt uns genügend Material und lasst uns mit Kongo zufrieden.“ Die Teilnehmer griffen aber direkt auch Walter Ulbricht an und kritisierten den Umgang mit dem Juni-Aufstand von 1953. Wie der Berichterstatter abschließend bemerkte, „alle vorhandenen Mängel erleichtern das Eindringen von Unglauben an den Sieg des Sozialismus, an die Kraft der Volksmassen“.180 Ein Bericht aus Freiberg im Bezirk Karl-Marx-Stadt gab ein ähnlich erschütterndes Bild von den „Theoriekenntnissen“ der SED-Führungskader und schilderte dabei den gesamten Aufbau des Sozialismus nach 1945 in dunklen Farben: Die außerdem noch angegebene Literatur von Lenin sowie aus Parteidokumenten hatte überhaupt niemand angesehen. Das ist ein Grund dafür, weshalb die Mehrzahl der Genossen sich nur zögernd und oberflächlich an der Diskussion beteiligte. Das theoretische und politische Niveau war erschreckend, wenn man bedenkt, dass es sich um leitende Funktionäre des Kreises handelt, die die Entwicklung unseres Staates nach 1945 alle miterlebt und auf diese oder jene Weise mitgestaltet haben.181

Auch die SED-Kampagnen zu den „Geschichtswerken“, dem Grundriss im Jahr 1962 und der achtbändigen Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung in den Jahren 1965–66 hatten eine gesamtparteiliche Reichweite. 1962 wurden viele Betriebskollektive aufgefordert, die Grundriss-Thesen zu studieren und anhand 179 SAPMO, DY 30/IV 2/9.02/92, Einschätzung der Seminare zum 2. Thema des Lehrbuches „Grundlagen“ im Bezirk Cottbus, 23.7.1960, Bl. 154. 180 SAPMO, DY 30/IV 2/9.02/94, Bericht über den Einsatz im Kreis Heiligenstadt, 17.10.1960, Bl. 13. 181 SAPMO, DY 30/IV 2/9.02/96, Bericht über Teilnahme an einem Zirkel zum Studium des Lehrbuches „Grundlagen“ im Kreis Freiberg (1960), Bl. 57.

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des örtlichen Materials ihre „Richtigkeit“ zu bestätigen. In den Reaktionen mischte sich Begeisterung mit Desinteresse, Ignoranz mit Widerstand. Einige „Geschichtszirkel“ zeigten Enthusiasmus. 1962 bot das „Kollektiv junger Reparaturschlosser“ aus den Leunawerken dem Betriebsrat der badischen Anilin- und SodaFabriken Ludwigshafen an, gemeinsam den Grundriss zu studieren, um „die Militaristen und Imperialisten“ zu bändigen und „ein demokratisches friedensliebendes und neutrales Deutschland“ aufzubauen. Sie schlugen vor, den westdeutschen Kollegen einige Grundriss-Exemplare zu senden und sie zum brieflichen Austausch über seine Thesen zu veranlassen.182 Dagegen kämpfte man in anderen Betrieben beim Studium des Grundrisses mit „Kaderproblemen“ („die meisten Genossen sind auf Montage“) und musste improvisieren, um „strukturelle Schwierigkeiten“ zu überwinden.183 Als das Arbeitskollektiv der „Haupttechnologie und der Abteilung Forschung und Entwicklung“ des VEB Fischkombinat Rostock über die Periode 1871–1890 diskutieren sollte, erschien außer des Zirkelleiters und des Lektors nur ein Parteimitglied, sodass das Parteilehrjahr ausfallen musste.184 In eine unangenehme Situation gerieten die Grundriss-Lektoren in der Parteiorganisation des Dessauer Rathauses: „Warum wurde dieses Dokument gerade jetzt erarbeitet? Worin besteht seine nationale und internationale Bedeutung? Warum jetzt noch Diskussion, obwohl unwiderlegbare historische Fakten erhalten sind?“ fragten die Kursteilnehmer. „Unwissenheit“ herrschte über die Pariser Kommune, die Sozialistengesetze, oder bei der Einschätzung der Zugehörigkeit Bebels zur zentristischen Gruppe. Allgemein stellte man fest, dass „eine große Unkenntnis über die Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung bei der Mehrzahl der Genossen vorhanden ist“.185 In vielen Parteiorganisationen wurde die Grundriss-Debatte auf Betreiben der Leitungen in eine Kampagne für die Produktivitätssteigerung umgedeutet unter 182 SAPMO, DY 30/IV A2/9.07/388, Brigade „Fritz Weineck“ aus dem Leuna-Werk „Walter Ulbricht“ an den Betriebsrat der badischen Anilin- und Soda-Fabriken, Ludwigshafen (undatiert, wahrscheinlich 1962). 183 LHASA, MER, SED-Bezirksleitung Halle, IV/A-2/9/01/71, Abschlussbericht über das Parteilehrjahr 1964–1965. Bl. 147ff. „Dass auch strukturelle Schwierigkeiten überwunden werden können, beweist die Parteileitung von GHG Obst & Gemüse. Hier wurde das Parteilehrjahr mit den Teilnehmern aus dem Einzelhandel in der Mittagszeit und für die Schichtarbeiter zum Schichtwechsel durchgeführt. Auch beim BPA wurde der komplizierten Schichtarbeit durch eine entsprechende Organisierung der Zirkeldurchführung Rechnung getragen.“ 184 SAPMO, DY 30/IV A 2/9.03/55, Bericht über die Kontrolle des Parteilehrjahrs im VEB Fischkombinat Rostock für das Jahr 1965, unpag. 185 LHASA, MER, SED-Kreisleitung Dessau, IV/406/241, Vorläufige Einschätzung der Ergebnisse aus der Diskussion zum „Grundriss“, 20.8.1962, Bl. 28.

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dem Stichwort „Aussprachen über Grundriss der Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung in Verbindung mit der Lösung der ökonomischen Aufgaben“. Die Teilnehmer der Grundriss-Debatte in der BPO Reichsbahnausbesserungswerk Dessau führten positive Beispiele darüber an, wie sich das richtige Studium des Grundrisses auf die Erfüllung der ökonomischen Aufgaben auswirken kann. Die richtige Darlegung der Geschichte drückte sich „in guten ökonomischen Ergebnissen aus. So bauten die Kollegen Weiß und Kaiser aus der Brigade Troschke in zwei Tagen eine Vorrichtung, die dringend gebraucht wird für die Arbeiten an unseren neuen ČKD-Motoren“.186 Im VEB Industrieprojekt Dessau wurde das GrundrissSeminar in eine Diskussion über Wirtschaft verwandelt und u. a. dazu benutzt, die „jetzige verworrene Bilanzierung im Bauwesen“ zur Sprache zu bringen. Die Teilnehmer kritisierten die ungenügende Klarheit der Maßnahmen zur „Umprofilierung in der Wirtschaft“, die sie nicht verstanden, „da sie jetzt erst kommen, die vielen Maßnahmen, Anordnungen, die sich überstürzen, [sie] werden als störend für unsere Planwirtschaft verstanden“. Es wurde das Problem aufgeworfen, „dass unsere Mark international keinen Wert hat, in Prag und anderen Hauptstädten der sozialistischen Länder erhält man für unser Geld auf den Flugplätzen keine Erfrischungen. Warum das?“ Die Parteilektoren waren nicht imstande, befriedigende Antworten zu geben.187 Das Spektrum der Aneignungen umfasste auch die vollkommene Nachahmung der offiziellen Phrasen, eine Sprachhandlung, die Yurchak als overidentification bezeichnet und die sich im Spätsozialismus voll entwickelte.188 Ein gutes Beispiel dafür gibt die Grundriss-Diskussion im VEB Zementanlagebau Dessau: Die Arbeiter haben nicht nur festgestellt, dass „Geschichte doch Motor der Geschichte“ sei, sondern als Bestätigung des Grundrisses auch die Arbeitsproduktivität um drei Prozent gesteigert. „So haben z. B. gleich in der ersten Beratung über den Grundriss die Kollegen im TKM 3 den Beschluss gefasst, die Geschichte der Arbeiterklasse weiter zu vertiefen, indem sie diesen Abschnitt für Abschnitt in Seminaren durcharbeiten wollen. Eine Kontrolle ergab, dass sie in fünf Versammlungen ihren Beschluss verwirklichten. Das Ergebnis ihrer Beratungen fassten sie in der Schlussfolgerung zusammen, dass dem Sozialismus die Zukunft gehört und das Rad der Geschichte nicht zurückgedreht werden kann.“ Die Frauen schließlich drückten „ihre Schlussfolgerungen in der Form aus, wie sie die Kollegin Klungmann, Reinigungskraft, Mutter von sechs Kindern äußerte: ‚Der Grundriss ist in 186 LHASA, MER, SED-Kreisleitung Dessau, IV/406/241, BPO Reichsbahnausbesserungswerk Dessau, 9.8.1962, Bl. 41–42. 187 LHASA, MER, SED-Kreisleitung Dessau, IV/406/241, BPO VEB Industrieprojekt Dessau an SED-Kreisleitung Dessau, 9.8.1962, Bl. 26. 188 Yurchak, Everything Was Forever, S. 250ff.

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Ordnung, was darin steht, kann ich aus eigenem Erleben bestätigen. Nie soll wieder Krieg und Faschismus über uns kommen.‘“189 Zugleich bestand aber weiter die für die späten fünfziger und frühen sechziger Jahre typische erkundigende und teilweise kritische Diskussionsweise (z. B. „Warum wird der Plan nicht erfüllt“, „Das Herkommen des Wortes ‚Kommunisten‘“, aber auch „Adenauer vertritt den Hitlerkurs“ oder „die Verteilung der Fleisch- und Wurstwaren ist zu unterschiedlich“). Im Einklang mit dem poststalinistischen Überzeugungsdiskurs meinte ein Diskutierender, dass „der Sozialismus siegen wird in der Welt, da das sozialistische Weltsystem überzeugen wird. Dann werden auch die Menschen wie z. B. in Schweden, der Schweiz, usw. von dem einzig richtigen Weg überzeugt werden“.190 Das Interesse für die kommunistische Ideologie sollte auch durch die Einbeziehung der lokalen Arbeitswelt und der traditionellen Technikbegeisterung belebt werden. Die SED-Kreisleitungen forderten die Betriebe auf, Arbeitsaktive zur Betriebsgeschichte zu bilden, die Betriebsarchive durchforschen und betriebshistorische Darstellungen ausarbeiten sollten. Im Mittelpunkt hatte dabei der politikgeschichtliche Aspekt zu stehen – demnach sollte, wie aus Eisleben berichtet wurde, eine aus der Erforschung des Betriebsarchives hervorgehende Wanderausstellung „die Verbrechen der Konzerne während der Zeit des Faschismus […] popularisieren“ und technikgeschichtliche Entwicklungen mit dem Klassenkampf in Verbindung setzen. Im Schacht war „der Kampf gegen den Wassereinbruch und die damit zusammenhängende Bildung der Rotentreffs“ besonders herauszuarbeiten. Man sollte nicht nur „sachliche Daten, sondern auch Konflikte“ berücksichtigen.191 Die meisten „Betriebsgeschichten“ verstanden jedoch unter „Fortschritt“ weniger den revolutionären Kampf als die technische Entwicklung. Die SED-Geschichtszensoren mahnten immer wieder, dass die „Arbeitsaktive“ zur Betriebsgeschichte den Klassenkampf unterschätzten und sehr oft rein wirtschafts- und technikgeschichtliche Darstellungen lieferten; sie erschöpften sich in detaillierter Wirtschafts- und Technikgeschichte, während die marxistischleninistische Perspektive nicht zur Geltung kam.192 Im Laufe der sechziger Jahre hat sich vor allem die tschechoslowakische Betriebsgeschichte weitgehend entideologisiert und suchte in der westdeutschen und amerikanischen „Firmengeschichte“ 189 LHASA, MER, SED-Kreisleitung Dessau IV/406/241, Diskussionen über den „Grundriss“, 23.8.1962, Bl. 31. 190 Ebenda, Bericht über die durchgeführten Arbeiter- und Intelligenzaussprachen über den „Grundriss“ in Verbindung mit der Lösung der Aufgaben des Betriebes, 9.8.1962, Bl. 41. 191 SAPMO, DY 30/IV A2/9.07/388, Arbeitsplan der Kreiskommission für die Tätigkeit der Arbeitsgruppe bei der Entwicklung von Orts- u Betriebschroniken, 7.5.1962. 192 NA, ÚD KSČ, k. 82, a.j. 535, Návrh na třítýdenní internátní školení pracovníků na dějinách závodů 1963–1964, Bl. 64ff.

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zunehmend nach Inspiration. Dies kam 1966 während der internationalen Beratung zur Betriebsgeschichte in Prag deutlich zutage, wo die SED-Historiker die Forschungsinteressen ihrer tschechoslowakischen Genossen als „ideologisch ungenügend“ betrachteten.193 Neben der „Betriebsgeschichte“ nahmen die Erinnerungen der „Parteiveteranen“ einen wichtigen Platz in den Geschichtskampagnen ein. Ursprünglich sollten sie an den offiziellen Thesen „gemessen“ und entsprechend korrigiert werden, was aber auf Missverständnisse und Widerstand der Autoren stieß. Anhand von Gutachten zu den Erinnerungsberichten lässt sich zeigen, dass die Gutachter „örtliche Beweise“ nicht nur für die Bestätigung der Thesen des Grundrisses suchten, sondern sichtbar wird auch die dauerhafte Divergenz zwischen den Zentralvorgaben und lokalem Gedächtnis.194 Wie es in einer Besprechung der Broschüre aus dem Kreis Zerbst (Magdeburg) hieß: Anhand von örtlichen Fakten lässt sich gut zeigen, wie Pëus und Konsorten bereits lange vor 1914 ihren „Frieden“ mit dem Imperialismus beschlossen hatten, die imperialistische Ideologie in der Arbeiterklasse verbreiteten und den Friedenskampf der Arbeiter bremsten, damit würde die Feststellung im Grundriss örtlich belegt, dass am Vorabend des ersten Weltkrieges die deutsche SPD zu einer reformistischen Arbeiterpartei geworden war. Dementsprechend richtig stellen muss man auch die Formulierung: „von 1918 bis 1933 entwickelte sich die SPD immer mehr zu einem Wahlverein“. Das Fehlen einer marxistischen Kampfpartei wird einseitig verstanden.195

Aus den Kreisen und Bezirken ließen sich aber auch viele „konstruktive“ Reaktionen verzeichnen, wie z. B. im Falle einer Broschüre mit den „Erlebnisberichten“ aus Magdeburg: „Bei der Überarbeitung wurde im Prinzip jedem Hauptabschnitt ein entsprechendes Zitat aus dem ‚Grundriss‘ vorangestellt. Wie zum Teil auch aus der Gliederung ersichtlich ist, haben wir versucht, Berichte von Arbeiterveteranen und Widerstandkämpfern, Zeitungsdokumente, Ausschnitte aus Geheimberichten der faschistischen Polizei […] zu einer sich gegenseitig ergänzenden Darstellung zu verarbeiten.“196 193 Die SED-Historiker sprachen kritisch über die „kapitalistische Firmengeschichtsschreibung“, der sie die „sozialistische Betriebsgeschichte“ gegenübergestellten. SAPMO, DY 30/IV A2/9.07/77, Jahresbericht des Sektors, 8.12.1966, unpag. 194 Zur Praxis der Gutachten siehe Martin Sabrow, Der staatssozialistische Geschichtsdiskurs im Spiegel seiner Gutachtenpraxis, in: Ders. (Hg.), Verwaltete Vergangenheit. Geschichtskultur und Herrschaftslegitimation in der DDR, Leipzig 1997, S. 35–65. 195 SAPMO, DY 30/IV A2/9.07/391, Bemerkungen zum Manuskript „Arbeiterbewegung im Kreis Zerbst“, Juli 1963, unpag. 196 SAPMO, DY 30/IV A2/9.07/391, Bemerkungen zur Folge I der von Kreisleitung Stendal herausgegebenen Lebensbilder von Kämpfern gegen den Faschismus, 25.5.1962, unpag.

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Die Tatsache, dass die Gültigkeit der Grundriss-Thesen von den „örtlichen Entwicklungen“ abhängig gemacht wurde, machte die Renaissance der „Fakten“ in der poststalinistischen Sinnwelt deutlich, und auch die Einbindung der Archive in die Kampagne bestätigte die definitive Rehabilitierung der von Stalin verachteten „Archivratten“. Die Einheit zwischen dem Grundriss und den in Archiven aufbewahrten lokalen Tatsachen zeigte sich in der Konferenz zur „Auswertung des Grundrisses“ in Magdeburg im Sommer 1963. Die Tagung, an der achtzig Vertreter der Partei, der Stadtverwaltung, Presse, Geschichtslehrer, Archivare und Gewerkschaften teilnahmen, sollte eine Bestätigung „der historischen Erkenntnisse“ sein, „wie sie im Grundriss […] dargelegt sind“. Sie unterstrich die „Wichtigkeit der archivalischen Quellenforschung für die Bestätigung des Grundrisses“. „Eine kleine Archivalienausstellung im Vorraum belegte jedes historische Thema mit Beispielen. Eine Vitrine mit den bisher von den Staatsarchiven gedruckten ‚Archivalischen Quellennachweisen zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung‘ sowie das in Arbeit befindliche Manuskript der ‚Quellennachweise des Landeshauptarchives Magdeburg‘ […] rundete das Gesamtbild der Konferenz ab.“197 Es handelte sich freilich um eine imaginäre Übereinstimmung, denn sie setzte eine minutiöse Anpassung von Thesen und Fakten voraus, was zeit- und arbeitsaufwändig gewesen wäre. In der Praxis, wie die Verhandlungen über die gelieferten Quellen und ihre Geltung zeigen, war es gar nicht so einfach, Fakten „passend zu machen“, wie es sich einst Ulbricht bei der Herausarbeitung von neuen Geschichtslehrbüchern vorstellte. Denn das „Anpassungsvorhaben“ erforderte einen massiven Begutachtungsbetrieb, der über die Kräfte der Geschichtszensoren hinauswuchs. Diese Auseinandersetzungen, die sich im Zuge der „Auswertung und Bestätigung der Thesen des Grundrisses“ abspielten, umfassten nicht nur ausführliche Gutachten, die die Konzeptions- und Kompositionsfragen behandelten und die Tatsachen detailliert prüften; sehr oft wandelten sie sich in einen langwierigen Austausch mit den örtlichen Verfassern um, die ihre Sichtweisen und Interessen beharrlich verteidigten. Solche Kontroversen relativierten die Geltungskraft der autoritativen Großdeutungen, obgleich sie auch die Entschlossenheit der Parteimitglieder stärkte, die „Wahrheit“ zu suchen, und dadurch stabilisierend wirkte. Diese Ausdauerkraft zeigt das Beispiel eines Thüringer SED-Mitgliedes, das zwischen 1960 und 1962 mit der Erfurter Bezirksleitung und dem IML um die Veröffentlichung seiner Geschichtsdarstellungen rang. Die Bezirksleitung hatte seine Arbeit zunächst abgelehnt und weitere „Überprüfungen“ und „Bearbeitungen“ im Licht des gerade erscheinenden Grundrisses verlangt; sie empfahl ihm, „erst das Erscheinen der 197 SAPMO, DY 30/IV A2/9.07/391, Konferenz in Magdeburg zur Auswertung des Grundrisses, 1963, unpag.

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Thesen des ‚Grundrisses‘, die im August in einem Sonderheft der ‚Einheit‘ veröffentlicht werden, abzuwarten und nach dem Studium derselben – besonders über die Zeit, die du beschreibst – deine Arbeit nochmals zu überprüfen und zu bearbeiten. Wir sind der Meinung, dass das Manuskript den Anforderungen, die der Grundriss stellt, nicht gerecht wird“.198 Dies war insofern überraschend, als die Genossen im Bezirk die Thesen bereits hätten kennen müssen, bevor sie veröffentlicht wurden.199 Auch wenn die Veröffentlichung aus finanziellen Gründen gefährdet war, befürwortete das IML ebenso die Auffassung der Bezirksleitung, man sollte lieber auf den Grundriss warten. Diese abwartende Haltung war charakteristisch für die poststalinistische Überganssituation, die durch die Abwesenheit des Master Editors, aber noch nicht durch die Praxis der spätsozialistischen Hypernormalisierung ideologischer Leittexte bestimmt war. Dieser „prozessuale Modus“ der Unsicherheit und Ambivalenz zeigt sich ausdrucksvoll im Wechselspiel zwischen lokalem Wahrheitsstreben und der autoritativen Geltungskraft der sich ändernden ideologischen Großdeutungen: Was du mir von den Genossen der Bezirkskommission Erfurt schreibst, ist tatsächlich nicht schön. Aber ich kann verstehen, dass die Genossen zu keiner Veröffentlichung ihre Zustimmung geben konnten, ehe nicht der zu erwartende Grundriss erschien und die Grundlage auch für diese Arbeit bilden konnte. […] Mir geht es selbst so, dass die von mir geschriebene Biographie über Albert Kuntz nicht eher zum Verlag geht, bevor nicht das Manuskript mit den Einschätzungen, die der Grundriss gibt, übereinstimmt.200

Die Darstellungen sollten durch die Konfrontation mit den Thesen des Grundrisses verbessert werden, weil „die dort getroffenen Einschätzungen das beste Hilfsmittel sind, um wissenschaftlich einwandfrei zu arbeiten“. Aber auch nach der Veröffentlichung des Grundrisses ließen die Probleme nicht nach. Die Broschüre „Heran an die Massen“ über die örtliche Arbeiterbewegung in Gera nach 1918 (deren Begutachtung umso delikater war, als sie die KPD-Tätigkeit des jungen Walter Ulbricht behandelte) wurde dem Autorenkollektiv vom Bezirk mit Forderungen nach grundsätzlicher Überarbeitung zurückgegeben. Aus der Antwort eines der Autoren an den IML-Mitarbeiter ist der Eifer ersichtlich, mit welchem die lokalen Kommunisten an die Parteigeschichte herangingen, sowie der auf dem Glauben an historische Wahrheit und wissenschaftliche Redlichkeit beruhende Eigensinn, mit welchem sie sich gegen die von außen auferlegten Schablonen wehrten:

198 SAPMO, DY 30/IV A2/9.07/396, SED-Bezirksleitung Suhl an IML, 15.8.1962, unpag. 199 SAPMO, DY 30/IV A2/9.07/396, Gutachten zu „Die Geschichte Ohrdrufs, IV. Teil“, von Julius Böttcher, Ohrdruf 1960, unpag. 200 Ebenda, IML an SED-Bezirksleitung Suhl, 2.10.1962, unpag.

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Wochenlang habe ich geforscht, die Materialien sortiert und am Manuskript geschrieben. Du wirst es verstehen, wenn man jetzt das Ergebnis sieht, dass einen das ärgert und jede Lust zu weiteren Arbeiten nimmt. Ob nun noch eine Veränderung möglich ist, kann ich von hier aus nicht beurteilen. Sollte eine Möglichkeit bestehen, dann sollte man es tun. […] Die Broschüre „Vor 40 Jahren – Niederschlagung des Kapp-Putsches in Südthüringen“ ist von mir geschrieben. Den Inhalt habe ich in wochenlanger Forschungsarbeit zusammengetragen. Diese Arbeit, die mit großer Sorgfalt und Gewissenhaftigkeit zustande gekommen ist, hat manchen Unsinn bürgerlicher Zeitungen im Südthüringer und Mittelthüringer Raum zerschlagen und beiseite geschafft. Ich lege großen Wert darauf, dass die geschichtliche Wahrheit gerade in der gegenwärtigen Arbeit ihren Niederschlag findet. Horst Müller hat die Broschüre von mir bekommen, ja sogar mit genauen Hinweisen. Er scheint sie gar nicht gelesen zu haben, denn sonst hätten sich die Fehler nicht wiederholt.201

Nach mehreren Monaten der „Grundriss-Kampagne“ mussten die IML-Mitarbeiter immer wieder neue „Defizite“ feststellen. Ein Bericht vom April 1963 stellt im typisch poststalinistischen Duktus fest, dass die meisten Lokalhistoriker „ihrer Aufgabe noch nicht gerecht“ wurden und dass „nach wie vor die gleichen Mängel und Fehler in den Veröffentlichungen auftauchen“. Die „immer wieder auftretenden falschen Darstellungen“ seien ein Beweis dafür, dass der Grundriss nur „ungenügend ausgewertet wurde“.202 Mit einer bemerkenswerten Beharrlichkeit wunderten sich die IML-Mitarbeiter darüber, dass die den örtlichen Parteihistorikern gegebene „Orientierung“ sich auch nach Monaten intensiver Arbeit in den Darstellungen überhaupt nicht widerspiegele. Ein umfassender Katalog von „Mängeln“, sowohl konzeptionell-ideologischer („Vernachlässigung der Geschichte nach 1945“, „Provinzialismus“, „Subjektivismus“, „Nicht-Behandlung der Rolle der KPD“) als auch faktischer Natur zeigt die begrenzte oder gar kontraproduktive Wirkung von solchen Homogenisierungskampagnen. Das folgende Zitat zeigt exemplarisch die abwartend hoffnungsvolle Noch-Nicht-Einstellung der poststalinistischen Sinnwelt: Erlebnisberichte sind nicht frei vom Subjektivismus. Es kann nach wie vor jeder schreiben was er will und die Kreiszeitungen, als Organe der Kreisleitung, drucken es. In einem Erinnerungsbericht in der Kreiszeitung Gera wurde vor wenigen Wochen der Erinnerungsbericht eines Veteranen abgedruckt, der nur vor falschen Aussagen strotzte: „1920 brach der Hitlerputsch aus, die Reichswehr hauste grausam; die bayerische Räterepublik wurde gestürzt … nachdem die Reichswehr die Räterepublik im Blute erstickt, war ihr nächstes Ziel Weimar, um die Weimarer Verfassung zu beseitigen“. Es folgen Ereignisse des Kapp-

201 Ebenda, SED-Bezirksleitung Suhl an IML 29.4.1963. 202 SAPMO, DY 30/IV A2/9.07/251, Kießling an Maur 29.10.1962, unpag.

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Putsches, um dann in einem Atemzug damit zu enden, dass die Reichswehrtruppen in Weimar „Ministerpräsident“ Rathenau ermordeten.203

Diese Beispiele zeigen, dass die poststalinistische „Rückkehr der Geschichte“ eine Gemengelage von Pessimismus und Zukunftsglaube, von Verzweiflung und der Hoffnung auf Verbesserung war. Trotz zweifelhafter Ergebnisse ihrer Bemühungen glaubten die Parteiideologen unerschütterlich an ihre Sendung und waren bereit weiterzumachen: „Wir helfen damit der Partei und festigen die Autorität unserer Kommissionen“, stellten die mit der Betreuung der örtlichen Geschichtsarbeit beauftragten IML-Mitarbeiter im April 1964 fest.204 Die anhand der selbstkritischen Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit etablierte Redeweise, die auf typischen Formeln wie „noch nicht“, „nach wie vor“ und „immer wieder“ beruhte, stellte sich als Mobilisierungsanlass für die Kommunisten vor Ort heraus. Zwar bereitete Chruschtschows Faktenwende, seine Revolution der Tatsachen, dem ideologisierten Geschichtsdiskurs der Partei zunächst eine Falle: Indem der autoritative Diskurs nach Stalins Tod ohne den Master Editor blieb und tagespolitischen Schwankungen ausgesetzt war, vermochte die poststalinistische Akzentuierung der Wahrheit, Faktizität und Konkretheit keine geschlossene Geschichtserzählung zu erzeugen. Das kommunistische Geschichtsbild verkomplizierte sich und die Zukunftsvision verschwamm. Zugleich aber erzeugte diese Diversifizierung, die die Parteiführungen anfänglich als eine Gefahr für die ideologische Einheit betrachteten, im Laufe der sechziger Jahre ein konsensstiftendes Moment. Das kontinuierliche Umschreiben der Geschichte nährte die Sehnsucht nach Vervollkommnung und verfestigte den Glauben an die Notwendigkeit eines endlosen Verbesserungsprozesses. Im Mittelpunkt dieser Vervollkommnungsarbeit befand sich die Partei selbst: Die poststalinistische Utopie bestand großenteils in der kommunistischen Selbstbetrachtung.

203 SAPMO, DY 30/IV A2/9.07/251, Zur Verantwortlichkeit für die Geschichtskommissionen auf Bezirks- bzw. Kreisebene, 20.4.1963, unpag. 204 Ebenda.

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„Ich gehöre der jüngeren Generation an, die sehr stark durch Stalins Werke beeinflusst ist. Ab und zu sind wir auf Probleme gestoßen, die wir mit aller Kraft verteidigt haben. Ich glaube, dass wir schon einmal eine solche Verwirrung erlebt haben, es war während der Slánský-Affäre. Damals sagte Genosse Gottwald, dass man der Partei glauben muss. Unser Vertrauen in die Partei als solche und in das Zentralkomitee war uneingeschränkt.“ (Genosse Filipi, KSČ-Bezirksausschuss Ostrava, 3. April 1956)1 „Bei uns ging es mit dem Personenkult so weit, dass sie, wenn Genosse Váňa gesagt hätte, Genossen, nagelt alle Kühe an die Tür, dann hätten sie das gemacht.“ (Genosse Picek, KSČ-Kreisausschuss Liberec, 14. Mai 1956)2

Nicht die „großen Männer“ machen Geschichte, sondern die Partei. Auf diese Formel lässt sich die poststalinistische Parteigeschichtsphilosophie bringen. Chruschtschow verwies gleich am Anfang seiner „Geheimrede“ auf Lenins Auffassung, der die übergeordnete Stellung der Partei gegenüber dem Staat und den einzelnen Führern betonte. Somit baute Chruschtschow einen Kontrast zu Stalins staatsgestützter Gewaltherrschaft auf: Lenin unterstrich stets die Rolle und Bedeutung der Partei bei der Leitung des sozialistischen Staates der Arbeiter und Bauern, wobei er darin die Hauptbedingung für die erfolgreiche Errichtung des Sozialismus in unserem Land erblickte. Unter Hinweis auf die gewaltige Verantwortung der bolschewistischen Partei als der Regierungspartei des sowjetischen Staates appellierte Lenin, die Normen des Parteilebens auf das genaueste einzuhalten, die Prinzipien der Kollektivität bei der Leitung der Partei und des Landes zu verwirklichen.3

Chruschtschow richtete beim Angriff auf Stalin den Blick auf die künftige Wiedergeburt der Partei, die er als eine gerechte, souveräne Schöpferin der Geschichte porträtierte. Die stalinistische Revolutionsvision, die unter der Führung des „genialen Führers“ die Welt mit dem Revolver in der Hand verändern wollte, wurde nach dem XX. Parteitag durch eine anders gestaltete Utopie ersetzt. Die historische Entwicklung verlangsamte sich: Stalins „Sprünge“ gab es nicht mehr. Von nun an brauchte das Parteikollektiv für seine Gestaltungsarbeit mehr Zeit. Indem man Lenin als die historische Quelle des Marxismus-Leninismus in den Vordergrund rückte, verschob sich der semantische Schwerpunkt der Ideo1 2 3

ZA Op, KV KSČ Ostrava, Plenarsitzung 3.–4.4.1956, Bl. 7. SOkA Lib, OV KSČ Liberec, k. 6, Plenarsitzung 7.4.1956. Die Geheimrede Chruschtschows. Über den Personenkult und seine Folgen, Berlin 1990, S. 22.

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logie von Stalin zurück auf die Partei, war Lenin doch vor allem der Theoretiker der „revolutionären Partei“.4 Während Stalins Ausstrahlungskraft mehr den Kommunismus als den Zielzustand in der Zukunft verkörperte, unterstrich die Rückkehr zu Lenin die Partei als das Instrument zur Verwirklichung der kommunistischen Theorie der Weltveränderung. Wie Sigrid Meuschel feststellte, hatte der XX. Parteitag „Stalins Charisma zerstört, das weit über die Grenzen der KPdSU hinaus wirkte. Der Partei haftete hingegen auch nach 1956 noch eine außeralltägliche Aura an, die Emotionen an die kommunistische Sendung binden und für sie mobilisieren konnte“.5 Das neue Verständnis der Partei unterschied sich in mehrerer Hinsicht von der Stalinschen Auffassung. Erstens war der große und unfehlbare Führer weg, nachdem der „Personenkult“ für alle negativen Erscheinungen verantwortlich gemacht, ja zur Signatur der gesamten dunklen Epoche geworden war.6 Zweitens erkannte man an, dass die Partei, so groß und ruhmvoll sie auch sein mag, sich irren und oft unvorhersehbare Fehler machen konnte.7 Drittens entblößten die Ereignisse von 1956 die Tatsache, dass die Partei keine „stählerne Faust“ mehr war, sondern ein heterogenes Gefüge. Viertens entstand ein vielschichtiges Geschichtsbild der Partei, das auch dunkle Seiten zeigte. Und fünftens musste sich die Partei verstärkt mit anderen historischen Subjekten auseinandersetzen, die auf die Bühne der Geschichte drängten, vor allem mit der „Nation“, wie auch dem „Staat“ und der „Gesellschaft.“ Diese „Wiederentdeckung“ der Partei bestimmte die poststalinistische Semantik. Das spiegelt sich im Bericht vom XX. Parteitag der KPdSU des KSČGeneralsekretärs Novotný wider, in dem er das Wort „Partei“ außergewöhnlich häufig benutzte und die Partei mitten in der Gesellschaft verortete. Die Sendung der Partei sei mehr als das „Bestimmen des richtigen Weges“. Ihre Führungsrolle müsse auf den „richtigen Arbeitsmethoden in der Alltagspraxis unseres Lebens“ basieren („die richtige Verwirklichung der Führungsrolle der Partei“). Er setzte die 4 5 6 7

Alexei Yurchak, Everything Was Forever, Until It Was No More. The Last Soviet Generation, Princeton 2006, S. 73f. Sigrid Meuschel, Legitimation und Parteiherrschaft. Zum Paradox von Stabilität und Revolution in der DDR 1945–1989, Frankfurt a. M. 1992, S. 178. Andrzej Walicki, Marxism and the Leap to the Kingdom of Freedom. The Rise and Fall of the Communist Utopia, Stanford 1995, S. 466. Auch wenn im Stalinismus gleichfalls „Fehler und Mängel“ zugegeben wurden, lag der Zweck der Beanstandung vor allem in der Entfaltung der „Kritik und Selbstkritik“ als internem Herrschaftsinstrument. „Fehler“ bedeutete im Stalinismus ein Verbrechen gegen die Partei. Im Poststalinismus waren dagegen Fehler im Sinne des Irrtums möglich. Siehe J. V. Stalin, Geschichte der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (Bolschewiki), („Kurzer Lehrgang“) Berlin 1946, S. 449. Als „Fehler“ werden hier auch Sinowjews und Kamenews Tätigkeit bezeichnet, für welche sie später hingerichtet wurden. Ebenda, S. 405f.

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Partei streng vom Staat ab, sprach sich gegen die „Verstaatlichung“ des gesellschaftlichen Lebens aus und kündigte eine „neue Konzeption der Partei“ an.8 Eine klare Unterscheidung zwischen dem Staatsapparat und der Partei betonte auch Gomułka in seiner Rede vom Oktober 1956: Die Partei solle ihre Autorität nicht dadurch aufbauen, dass sie mit der Staatsmacht verwächst. Sie müsse zuerst den Weg zur Arbeiterklasse wiederfinden, um ihr Bewusstsein erneut gestalten zu können.9 Walter Ulbrichts Bericht zum XX. Parteitag vom 4. März war durchsetzt mit der Phrase „Es war der Parteitag der Partei, die …“ und gab die Chruschtschowsche Vision einer „leninistischen Partei“ treu wieder. In seinem Referat auf der III. Konferenz im April 1956 schwärmte er „von dem pulsierenden innerparteilichen Leben“.10 Diese semantischen Verschiebungen spiegelten sich in den poststalinistischen Parteistatuten wider.11 Sie verdeutlichen die wiedergewonnene Macht der Partei über Geschichte. In erster Linie betonten sie die „führende Rolle“ der Parteien. „Die Partei“, so die SED-Statuten von 1958, „ist die führende Kraft aller Organisationen der Arbeiterklasse und der Werktätigen, der gesellschaftlichen und staatlichen Organisationen und führt erfolgreich den Aufbau des Sozialismus.“12 Im PZPR-Statut war die Führungsrhetorik etwas milder, vor allem aufgrund der Schlüsselrolle der Nation im polnischen Geschichtsbild. Das Verhältnis zwischen Partei und Nation war doppeldeutig: Während die Partei der Nation diene, führe sie zugleich die Nation auf den Weg zum Sozialismus.13 Die tschechoslowakischen Kommunisten gingen wiederum so weit, dass sie die Führungsrolle der Partei in die poststalinistische Staatsverfassung von 1960 eintrugen: „Die führende Kraft in der Gesellschaft und im Staat ist der Vortrupp der Arbeiterklasse, die Kommunistische Partei der Tschechoslowakei, der frei-

8 Antonín Novotný, XX. sjezd KSSS a závěry pro práci naší strany, 29.3.1956, in: Ders., Projevy a stati, Bd. 1, 1954–1957, Praha 1964, S. 257–309, hier S. 282–296. 9 Władysław Gomułka, Rede auf dem VIII. Plenum des ZK der PVAP 20. Oktober 1956, Warschau 1956, S. 47. 10 Walter Ulbricht, Über den XX. Parteitag der KPdSU, in: ND vom 4.3.1956. „Die vor uns stehenden gewaltigen Aufgaben können wir nur lösen, wenn in der Partei ein wirklich fruchtbringendes innerparteiliches Leben pulsiert. Was heißt das? In den Leitungen der Grundorganisationen müssen die Probleme diskutiert werden. Die Mitgliederversammlungen sollen vorbereitet werden, die Genossen müssen dort sprechen und nicht dasitzen wie griechische Statuen.“ Ders., Zu einigen Problemen der III. Parteikonferenz, 5.4.1956, in: Zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung. Aus Reden und Aufsätzen, Bd. 6, 1956–1957, Berlin (Ost) 1964, S. 9–27, hier S. 23. 11 Die neuen Parteistatuten wurden in allen drei Ländern durch die „poststalinistischen“ Parteitage angenommen: 1958 in der KSČ und SED, 1959 in der PZPR. 12 Statut der SED, Berlin 1959, Präambel. 13 Statut PZPR. Uchwalony przez III Zjazd PZPR, Warszawa 1959, S. 8f.

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willige Kampfbund der aktivsten und bewusstesten Bürger aus den Reihen der Arbeiter, Bauern und der Intelligenz.“14 Zwar deutete die spätere antikommunistische Kritik die Passage als das Zeichen des „Totalitarismus“, ihre Bedeutung im Kontext der Entstalinisierung war aber eine andere. Obwohl die Parteien den totalitären Machtanspruch nicht aufgaben, verwies der Bezug auf die „Führung“ gerade auf das erneuerte Ziel, die Oberhand der Partei über den geschichtlichen Prozess wieder zu gewinnen: Die Partei verstand sich nunmehr als Widersacherin des „Personenkultes“ und der korrupten Staatsorgane. Wie es der tschechoslowakische Ministerpräsident Široký 1963 ausdrückte, wurde die Führungsrolle der Partei als Voraussetzung ihrer Erneuerung begriffen: „In diesem Kampf gegen die Folgen des Personenkultes müssen wir die führende Rolle der Partei noch stärker hervorheben, die führende Rolle der Partei noch konsequenter durchsetzen, und zwar in allen Bereichen unseres Lebens.“15

Im Kampf gegen den Personenkult Nach 1956 gab der „Personenkult“ der ganzen Ära des Stalinismus ihren Namen. Er wurde zum Sammelbegriff aller „negativen Erscheinungen“, von denen sich die Parteien abgrenzen wollten. Zwar bezeichnete der KPdSU-Beschluss Über die Überwindung des Personenkults und seiner Folgen vom Juni 1956 die Zeit des Personenkultes als eine „überwundene Etappe“16 und versuchte damit die Angriffe der „Revisionisten“ zu Hause und „Imperialisten“ im Ausland abzuwehren. Aber die Vieldeutigkeit und gleichzeitige Durchschlagskraft des Begriffes sorgten dafür, dass man bis in die späten sechziger Jahre die Kritik am „Personenkult“ als das Symbol der Entstalinisierungsbemühungen wahrnahm. Um das neue Selbstverständnis der Kommunisten zu begreifen, müssen wir ihren „Kampf gegen den Personenkult“ näher untersuchen. Die Gebrauchsweisen des Begriffs des Personenkults (kult jednostki auf Polnisch, kult osobnosti auf Tschechisch)17 unterschieden sich in den jeweiligen Nationalkontexten. In der SED verhinderte Ulbrichts Führung im Frühling 1956 eine offene Debatte über den Personenkult, sodass die Abrechnung mit Stalins Schreckensherrschaft lediglich in einer gemäßigten, allgemeinen Diskussion über 14 15 16 17

Die Verfassung der Tschechoslowakischen Sozialistischen Republik, Prag 1960, S. 56. SOA Lit, KV KSČ Nordböhmen, k. 16, Plenarsitzung 3.–4.4.1963, Bl. 94. Chruschtschow, Geheimrede, S. 89. Zum Personenkult vgl. Klaus Heller (Hg.), Personality Cults in Stalinism, Göttingen 2004; Balázs Apor u. a. (Hg.), The Leader Cult in Communist Dictatorships. Stalin and the Eastern Bloc, Basingstoke 2004; Jan Plamper, The Stalin Cult. A Study in the Alchemy of Power, New Haven 2012.

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die Vergangenheit und Zukunft des Sozialismus stattfand.18 Kritik verbreitete sich vor allem an den Universitäten, besonders in Reaktion auf Ulbrichts Erklärung zum XX. Parteitag im Neuen Deutschland vom März 1956, die die Existenz des „Personenkultes“ in der SED verneint hatte und die Stefan Heym als das „großartigste Understatement der neueren Geschichte“ bezeichnete.19 Im Milieu junger Intellektueller, besonders in der Gruppe um den marxistischen Philosophen Wolfgang Harich, fand das Thema Personenkult trotzdem viel Widerhall. Das Material der Harich-Gruppe Die Plattform für einen besonderen deutschen Weg zum Sozialismus vom November 1956, offensichtlich von der polnischen Diskussion geprägt, erwähnte aber trotz seiner vergleichsweisen Radikalität den Begriff des Personenkultes nicht.20 Stattdessen benutzt Harich Umschreibungen wie „die Entartungen des Parteilebens in der Stalinschen Periode“. Mit dem Rekurs auf die „Stalinsche Periode“ näherte sich wiederum die ostdeutsche StalinismusKritik dem polnischen Usus an (okres stalinowski). Obwohl das Bestreben um eine Reformdiskussion nur kurzlebig war, konnte der Begriff des Personenkultes aus dem SED-Vokabular nicht ganz getilgt werden. Im Juli 1956 verwendete ihn das Politbüro-Mitglied Fred Oelßner in seiner Attacke gegen Ulbricht: „Gibt es in der SED einen Personenkult? Jawohl, es gibt ihn und im Zusammenhang damit ein persönliches Regime, das hauptsächlich vom Genossen Ulbricht ausgeübt wird.“21 Oelßners Ausschluss aus der Parteiführung 1958 bestätigte zwar die Entfernung des Ausdruckes aus der offiziellen Parteisprache; auf der lokalen Parteiebene blieb der Begriff jedoch bis in die sechziger Jahre hinein im Gebrauch. In Polen setzte gleich im März 1956 eine offene und zuweilen heftige Diskussion über den Personenkult ein, sowohl in Form parteipropagandistischer Materialien als auch erster Versuche, den Personenkult wissenschaftlich zu analysieren – was später meist als „revisionistisch“ gebrandmarkt wurde. Noch größere Durchschlagskraft gewann der Begriff nach Gomułkas Oktober-Rede, in der ein langer Abschnitt dem Personenkult gewidmet war („Über das System des Personenkultes“). Der Personenkult lasse sich „nicht nur auf die Person Stalins beschränken“, er war „das bewusste System, das in der Sowjetunion herrschte und in wohl alle kommunistischen Parteien sowie in eine Reihe von Ländern des

18 Andreas Malycha/Peter JochenWinters, Geschichte der SED. Von der Gründung bis zur Linkspartei, Bonn 2009, S. 126–139. 19 Stefan Heym, Nachruf, München 2011 (1988), S. 669. 20 Malycha/Winters, Geschichte der SED, S. 133ff.; vgl. auch Walter Janka, Schwierigkeiten mit der Wahrheit, Reinbek bei Hamburg 1989; aus normativer Perspektive Ehrhart Neubert, Systemgegnerschaft und systemimmanente Opposition – ein Paradigmenwechsel 1956? in: Roger Engelmann u. a. (Hg.), Kommunismus in der Krise. Die Entstalinisierung 1956 und die Folgen, Göttingen 2008, S. 347–361, v. a. S. 353–361. 21 Malycha/Winters, Geschichte der SED, S. 139.

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Lagers des Sozialismus, darunter auch nach Polen, übertragen wurde“.22 Laut Gomułka war dieses System streng hierarchisch, stufenweise aufgebaut und setzte sich aus verschiedenen partikularen Kulten zusammen. An seiner Spitze stand Stalin selbst. Darunter befanden sich die jeweiligen nationalen Parteisekretäre und Staatschefs, die lokale Varianten des Kultes entwickelten. Sie waren allerdings nur ein „Abglanz“, ein Mondlicht Stalins. Auch in den nationalen Kontexten verbreitete sich der Personenkult hierarchisch: „Und so führte in jedem Lande diese Leiter der Kulte von oben nach unten.“ Es war ein überpersönliches System, das „die Hirne der Menschen“, die Denkart der Parteifunktionäre und Mitglieder formte. Über Gomułkas systemische Deutung, laut welcher der Personenkult die gesamte Partei und Gesellschaft durchdrungen habe, hätten sich die Anhänger der zu dieser Zeit entstehenden Totalitarismustheorie nur freuen können: Dieses System vergewaltigte die demokratischen Prinzipien und die Gesetzlichkeit. Mit diesem System wurden Charaktere und Gewissen von Menschen gebrochen, Menschen mit Füßen getreten, ihre Ehre geschändet. Verleumdung, Lug und Trug, ja sogar Provokationen dienten als Instrumente der Macht. […] Auch bei uns kamen tragische Fälle vor, da Unschuldige in den Tod geschickt wurden. Viele andere wurden unschuldig eingekerkert, manchmal lange Jahre hindurch, darunter auch Kommunisten. Viele wurden bestialisch gefoltert.23

Der Bezug auf physische Gewalt unterstrich das unmenschliche Wesen des „Systems“, das von außen auf die Partei zugriff. Gomułka führte alle zentralen Aspekte des Stalinismus zusammen, die in den parteiinternen Debatten seit März 1956 auftauchten, darunter auch die „Berija-Herrschaft“ (beriowszczyzna). Die anfänglichen Definitionsversuche auf der lokalen Parteiebene zeigen die Breite der Interpretationen des „Personenkultes“.24 Der Zerfall des von Stalin 22 Gomułka, Rede auf dem VIII. Plenum, S. 39. 23 Ebenda, S. 42. 24 Vgl. die Beschreibung von Tony Kemp-Welch, Khrushchev’s ‘Secret Speech’ and Polish Politics. The Spring of 1956, in: Europe-Asia Studies 48, 1996, S. 181–206, hier S. 189: „The Polish party decided – alone in the bloc – to disseminate a text locally. A blue copy was published under the PZPR imprint, designated ‘exclusively for inner-party use’. Such documents tend not to remain exclusive for very long. Printers were instructed to exceed the official run (3000) by a factor of five, and numerous private duplicates were made. In addition, the Warsaw Party Secretary Staszewski handed copies ‘hot off the press’ to correspondents of Le Monde, Herald Tribune and New York Times. At home, the text soon found its way onto the black market. Jacek Kuron recalls it changed hands for 500 zlotys. Though a huge sum, this was less than the ‘$1 million’ allegedly offered by Western intelligence services. The latter evidently produced the third copy in archives. Printed on wafer-thin paper, suitable for smuggling or even for dropping over the frontier by balloon, this item, ‘The Speech of N. S. Khrushchev’, appends a litany of further thought-provoking suggestions: ‘Is it just the guilt of Stalin or of the whole Soviet system? Can justice be

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formulierten ideologischen Metadiskurses vergrößerte den Abstand zwischen den offiziellen Deutungen und den lokalen Sinnwelten. Infolge von Gerüchten wuchs in der Parteibasis der Hunger nach Informationen. Die leitenden Funktionäre wiederum bekamen oft keine Anweisungen aus dem Zentrum und waren nicht imstande, befriedigende Antworten zu geben. Vorübergehend entstand ein ideologisches Vakuum, in dem niemand die „richtige Antwort“ parat hatte. So zeichneten sich die Parteidebatten um 1956 noch nicht durch die spätsozialistische Normalisierung der Sprache aus, die auf Uniformität, Anonymität und Vorhersagbarkeit der Aussagen beruhte, deren Inhalt durch objektive Sprachstrukturen determiniert wurde und von subjektiven Ansichten der Autoren unabhängig war. Die ideologischen Richtlinien um 1956 waren hingegen noch in starkem Maße von unten gestaltbar und daher ambivalent. Diese Sprechordnung hatte die eindeutige Zukunftssicherheit des Stalinismus verloren, zeigte aber noch nicht die Anzeichen des spätsozialistischen Zukunftsverlusts und seiner Sprachhomogenität. Die neue Sprechordnung war vor allem durch starke Emotionalisierung gekennzeichnet, wobei sich die emotionalen Ausbrüche der Parteimitglieder besonders an Stalins Person festmachten. Obgleich sich vor allem der tschechoslowakische Stalinismus auf kollektive Großzusammenhänge bezog, wie zum Beispiel die Beziehung der Tschechen und Slowaken zur Sowjetunion und zur Roten Armee, war es in erster Linie Stalins selbst, der den kommunistischen Emotionshaushalt beherrschte.25 In den Parteiversammlungen drückten einige Kommunisten authentische affektive Bindungen an Stalin aus, hauptsächlich wegen seiner Verdienste im Krieg. Diese emotionalen Äußerungen waren jedoch kaum an die kommunistische Ideologie gebunden. Gegen die als ungerecht wahrgenommene Kritik nahm man Stalin als „Befreier“ in Schutz. Diejenigen, die mit der Neubewertung der jüngsten Vergangenheit nicht einverstanden waren, machten sogar vor Angriffen auf die Autorität der Parteiführung keinen Halt. restored without wholesale reorganization of legislatures, courts and police? Does the hierarchical system not throw up such types as Stalin, Dzierzinski, Ezhov and Beria?’ It rightly adds: ‘One can ask thousands more such questions’.“ 25 Dies zeigte nicht zuletzt das im europäischen Vergleich einzigartige, erst 1962 gesprengte Stalin-Denkmal in Prag, das den sowjetischen Führer an die Spitze einer entschlossenen Menschenmenge platzierte (allerdings wurde die Statue im Prager Volksmund als fronta na maso (Warteschlange vor der Fleischtheke) verspottet). Vgl. Mariusz Szczygieł, Gottland. Reportagen, Frankfurt a. M. 2008, S. 81–107. Stalin-Monumente gab es auch in anderen Ländern: Denkmäler standen in Berlin (1951–1961) und Budapest (1951–1956); Katowice hieß Stalinogród zwischen 1953 und 1956, und die 1951 neu aufgebaute ungarische Stadt Sztálinváros wurde erst 1961 in Dunaújváros umbenannt. Eine StalinGedenktafel befindet sich seit 1949 bis heute in der Schloßstraße im Wiener Stadtteil Meidling (mit einer Zusatztafel, die an Stalins Verbrechen erinnert).

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Zum Beispiel stieß die im Frühjahr 1956 getroffene Entscheidung, Stalins Bilder am 1. Mai nicht mehr zu tragen, auf Kritik und Widerstand. Ein KSČ-Funktionär aus Ostrava erinnert sich an die folgende Konfrontation: Letzte Woche hat mich Genosse Dušek, ein alter Parteigenosse aus der Ersten Republik, aufgehalten und sagte: „Ihr habt’s mit Stalin schön eingerichtet, aber mir wird ihn niemand aus dem Herzen herausreißen. Ich habe gehört, dass Stalins Porträt am 1. Mai nicht mehr getragen wird, aber ich werde vor dem Sekretariat stehen und rufen, wo habt ihr Stalin gelassen.“ Ich habe ihm gesagt, er solle aufpassen, damit er nicht auf die gegenparteiliche Linie gelange. Aber so schroff können wir nicht vorgehen.26

Die lokalen Parteifunktionäre zeigten sich im Umgang mit solchen Reaktionen zurückhaltend und ratlos. Sie wollten vor allem mit den alten Parteimitgliedern rücksichtsvoll umgehen und ihre stalinistischen Sentiments nicht direkt attackieren. Deshalb stellten sie sich auf einen langwierigen Umbau des auf Stalin ausgerichteten Glaubenssystems mittels Überzeugungsarbeit und Kompromissen ein. Auch diejenigen, die sonst die Kritik am Personenkult zuließen, wollten Stalin als wichtiges Identifikationssymbol erhalten. Die Bereitschaft, die neue Wirklichkeit einfach hinzunehmen, war bei vielen Kommunisten begrenzt: „In der Diskussion zu Hause“, führte ein KSČ-Mitglied aus Ostrava Anfang April 1956 aus, „hat mir meine Frau gesagt, sie sollten Stalin in Ruhe lassen, denn das hat er verdient. Unter Stalin wurde der Krieg gewonnen und jetzt sollen wir ihn vergessen? Ich sage euch, gestern ging es mir nicht gut, die ganze Nacht war ich wach und hab immer wieder daran denken müssen, dass das die Wirklichkeit ist.“27 Viele Kommunisten waren offensichtlich nicht bereit, die heilige Kuh der „Aufbauzeit“ zu schlachten, so tief war Stalin „in den Herzen verwurzelt“. Die Zugehörigkeit zum Parteiführer unterstrichen Stalins Anhänger mit Familienmetaphern: Stalin galt als der Vater und Beschützer der Partei-Familie. Wie im multiethnischen Kontext der Sowjetunion wurde er als „Vater der Völker“ (otets narodov) oder auch „weiser Vater“ (mudryj otets) bezeichnet, was das Bild eines über die harmonische Familie der sowjetischen Völker wachenden Patriarchen evozierte.28 Die Entstalinisierung sollte man daher tatsächlich wie den Verlust eines Familienmitglieds begreifen. Mögen die emotionalen Äußerungen nun eher stalinfreundlich oder stalinkritisch sein: Es handelte es sich um eine vorher unbekannte Freisetzung von Gefühlen, was kaum im Interesse der Parteiführungen war. Auf das gelenkte, zum Teil inszenierte Pathos der früheren StalinVergötterung folgte eine unkontrollierbare Welle an Emotionen. Das Gefühls26 ZA Op, KV KSČ Ostrava, Plenarsitzung 3.–4.4.1956, Bl. 43. 27 Ebenda, Bl. 50. 28 Jan Plamper, Georgian Koba or Soviet “Father of Peoples”, in: Apor, The Leader Cult, S. 123–140, hier S. 125 und 130; vgl. ders, The Stalin Cult, S. 44ff.

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regime des Poststalinismus war vom Verlust der Person Stalins – als Beschützer oder Monstrum – geprägt und weckte neue Hoffnungen auf eine wiedergeborene, „befreite“ Partei. Die starke Bindung an Stalin zeigte sich auch in den Diskussionen über seinen Status als Theoretiker des Marxismus-Leninismus. Stalins Ausschluss aus dem Rang der marxistischen Denker stieß auf Unverständnis. Manche Kommunisten verstanden nicht, wie man „unserem Lehrer“, der eben noch als Theoriegeber in Nachfolge Lenins jenseits der Geschichte stand, so schnell diese Funktion entziehen konnte. Aus dieser Verwunderung heraus bildete sich ein neues Phänomen im lokalen Parteileben: Man diskutierte das Wesen der marxistischen Theorie, was bisher ausschließlich der zentralen Parteikongregation vorbehalten war. „War Stalin Marxist?“, fragte zum Beispiel ein PZPR-Mitglied aus Wrocław. Er wollte das bestreiten, weil doch „Marxismus […] vom Leben hergeleitet wird, er ist doch eine Wissenschaft vom Leben, und viele Abhandlungen des Gen. Stalin waren durch eine Losgelöstheit vom Leben charakterisiert, er ging doch nicht unter die Massen“.29 Solche Beiträge hoben vor allem den für die Entstalinisierung fundamentalen Gegensatz zwischen Stalin und Lenin hervor: Lenin stilisierte man zu einem Antidogmatiker, der den Marxismus lediglich als eine „Arbeitslinie“ definiert habe, die die Kommunisten angesichts der sich ändernden Wirklichkeit tagtäglich weiterentwickeln sollten. Stalinismus wurde dagegen mit dem „Dogmatismus“ gleichgesetzt, der nicht nur die Wirklichkeit, sondern auch die marxistische Theorie vergewaltigt habe. „Lenin sagte doch“, reflektierte der Chefredakteur der Parteizeitung in Katowice Trybuna Robotnicza (Arbeitertribüne) im Oktober 1956, „dass der Marxismus kein Dogma ist, dass der Marxismus die Handlungsrichtlinie gibt, die die Sozialisten in den Umständen selbst entwickeln müssen, in denen sie zu leben und zu handeln haben; wir, stattdessen, haben diese Lehre sehr oft in ein Dogma verwandelt und damit ihr Wesen missbraucht.“30 Der ursprüngliche Plan Chruschtschows und der einzelnen Parteiführungen, die Verantwortung für die Entstehung des Personenkultes ausschließlich Stalin selbst zuzuschieben und damit die „Ehre der Partei“ zu retten, ging nicht auf. Die Parteimitglieder deuteten den Personenkult zunehmend als eine breitere Erscheinung: Der Stalin-Kult hätte nur entstehen können, weil ihn Bulganin, Mikojan und andere „Lobhudler“ geschaffen hätten. Die Selbstkritik des Zentralkomitees schien zu allgemein – man wollte Namen hören. Beispielsweise hat man die Widersprüchlichkeit der offiziellen Parteistandpunkte durch die Gegenüber-

29 AAN, KC PZPR, 237/VII-3719, KW PZPR Wrocław, Protokół z narady aktywu partyjnego, 29.3.1956, Bl. 50. 30 AAN, KC PZPR, 237/VII-2953, KW PZPR Katowice, Plenarsitzung 12.–13.10.1956, Bl. 220.

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stellung von Mikojans Reden am XIX. und XX. Parteitag offengelegt,31 es wurde auch ein ganzes Referat Kirows über Stalin vorgelesen als Beleg für die „Lobhudelei“.32 Am offensten haben die polnischen Kommunisten unangenehme Fragen gestellt: „Wie kann man erklären, dass Genosse Mikojan auf dem XIX. Parteitag Stalin einen Genius nannte, während er ihn auf dem XX. Parteitag scharf kritisierte? War es Angst? Terror? Sie waren doch Kommunisten, die weder Berija noch die Gestapo einzuschüchtern vermochten.“33 Der bedeutendste Streitpunkt war somit historischer Natur: Wie entstand eigentlich der Personenkult? Die eigensinnigen Deutungen des Personenkultes rückten das alte geschichtsphilosophische Rätsel um das Verhältnis zwischen Individuum und Kollektiv zurück auf die Tagesordnung. Sowohl die konservativen als auch die reformistischen Stimmen lehnten die Alleinverantwortung Stalins ab. Zwei Argumentationsweisen kamen dabei am häufigsten vor. Während die einen die Faktizität der Denunziation verneinten und damit die Deutungshoheit des Zentralkomitees angriffen, stellten die anderen zwar die Tatsache der Verbrechen nicht in Frage, lehnten aber die Einschränkung der Schuld auf Stalin alleine ab. Oft warfen die Redner den Parteiführungen eine Mitwirkung am Personenkult vor: „Wieso war Stalin im Stande, alles alleine zu machen? Wo blieben die anderen Politbüromitglieder?“34 Die Frage nach Ursachen und der Verantwortung wurde immer dringender. „Wo war die KPdSU-Führung“, fragte ein PZPR-Mitglied Ende März 1956 in Wrocław, „als der Personenkult ein solches Ausmaß annahm? Was für eine Garantie haben wir, dass dieselben Leute, die damals in Stalins Nähe waren, den früheren Zustand des Personenkultes nie wieder zulassen?“35 Das Stichwort lautete „Mangel an Selbstkritik“: Stalin wurde entlastet, während man die Wurzel des Personenkultes auf seine heuchlerische Umgebung zurückführte.36 Das Versagen wurde der gesamten Partei aufgebürdet, womit die Frage der „Reinheit der Partei“ in den Vordergrund rückte. Die Aufforderungen zur Selbstkritik und individuellen Verantwortung mischten sich mit Hinweisen auf überpersönliche, unkontrollierbare Kräfte, wie „Berija31 Kemp-Welch, Khrushchev’s ‘Secret Speech’, S. 192. 32 ZA Op, KV KSČ Ostrava, Plenarsitzung 3.–4.4.1956, Bl. 8. 33 Kemp-Welch, Khrushchev’s ‘Secret Speech’, S. 192; zu Mikojan-Kritik vgl. AAN, KC PZPR, 237/VII-3268, KW PZPR Łódź, Plenarsitzung 10.3.1956, Bl. 95 und 154. 34 Anthony Kemp-Welch, Poland Under Communism. A Cold War History, Cambridge 2008, S. 257. 35 AAN, KC PZPR, 237/VII-3719, KW PZPR Wrocław, 29.3.1956, Bl. 43. 36 „Ich glaube, dass der Personenkult nicht entstehen konnte ohne persönliche Verdienste des betreffenden Genossen und ohne Lobhudler, die ihn umgaben. Es gab eine ganze Reihe von Lobhudlern, die Stalin irreführten. Der Personenkult ist nicht nur da oben, er ist tief in unserem Leben verwurzelt.“ MA Ost, MV KSČ Ostrava, Plenarsitzung 5.4.1956, unpag., Diskussionsbeitrag Manišovský.

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Herrschaft“. Der Personenkult wurde als ein Riesenmoloch wahrgenommen, der die Partei im Griff hatte, oder als eine Krankheit biologisiert, die die gesamte Partei lahmlegte. Von einer Beschreibung der persönlichen Fehler Stalins expandierte der „Personenkult“ zu einem allgemeinen Problem der Partei, einschließlich der lokalen Parteiorganisationen: Wir erleben eine Tragödie der gesamten internationalen Arbeiterbewegung. Die ganze Sache hat sich mehr als zwanzig Jahre hingezogen. Es betrifft nicht nur Stalin, Moskau oder Warschau. Der Personenkult ist auch ein Problem der Wojewodschafts-, Kreis- und Betriebsparteikomitees, der Direktoren, es ist ein Problem von uns allen, es ist eine Krankheit. 37

Während der Begriff des Personenkultes auf allen Ebenen – wenn auch mit unterschiedlichen Bedeutungen – allgemein verwendet wurde, war die Bezeichnung „Stalinismus“ viel problematischer. In der PZPR gebrauchte man ihn nur inoffiziell. In der SED wurde er – auch im lokalen Raum – als imperialistischer Propaganda-Begriff abgelehnt.38 Diese Haltung verstärkte sich nach dem UngarnAufstand, wie hier in der Rede des Kreisparteisekretärs der Leuna-Werke vom Januar 1957: Dass die Situation vom Gegner ausgenutzt wurde, ist klar, und war nicht anders zu erwarten. Die Imperialisten prägten als Überschrift zu ihrem Hetzfeldzug gegen das sozialistische Lager den unsinnigen Begriff „Stalinismus“ und wollten damit in den Köpfen der Menschen solche Gedankengänge hervorrufen, dass es im Lager des Sozialismus und in der Sowjetunion eine bestimmte Periode gegeben hätte – eben den „Stalinismus“ – in der alles von A bis Z falsch gewesen wäre und taten so, als ob sie bei der Korrektur dieses „Stalinismus“ helfen wollten.39

Der problematische Begriff des Stalinismus stellte die heikle Frage nach den Grenzen der Verantwortung in den Parteien: Wie tief in die Parteireihen sollte man gehen, um den „Personenkult“ zu eliminieren? Die Leitungsfunktionäre warnten oft davor, dass die Kritik am Personenkult zum Verlust der Autorität der Parteileitungen führen könnte – im Parteiapparat und vor allem in der Wirtschaft. Zugleich betraf die Bestimmung der Grenzen des Personenkultes die historische Kontinuität der Partei: Was war eigentlich die „stalinistische“ Partei gewesen und wo fing die poststalinistische Gegenwart an? Diese Unterscheidung war wichtig für die Zukunft der Utopie, die nur auf einer positiv gedeuteten, 37 AAN, KC PZPR, 237/VII-3719, KW PZPR Wrocław, 29.3.1956, Bl. 64. 38 Bezeichnend ist, dass keines von Wörterbüchern und Enzyklopädien der drei Sprachen den Artikel „Stalinismus“ enthält. Zum zeitgenössischen Begriffsgebrauch siehe Jan Foitzik, Entstalinisierungskrise in Ostmitteleuropa. Verlauf, Ursachen und Folgen, in: Engelmann, Kommunismus in der Krise, S. 35–60, hier S. 35–39. 39 LHASA, MER, SED-Kreisleitung Leuna, IV/412/37, Plenarsitzung 17.1.1957, Bl. 6.

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„ruhmvollen“ Vergangenheit aufbauen konnte. Die Klärung war insoweit schwierig, als sich die „Anwendungsbereiche“ der Kritik am Personenkult immer mehr ausweiteten. Die Diskussionen in den Parteiversammlungen lenkten oft die Aufmerksamkeit von Stalin weg auf die Personenkulte der „kleinen Stalins“, auf die nationalen Parteiführer.40 In der KSČ war der kurz nach Stalins Tod 1953 verstorbene und bisher eher als bescheiden geltende Gottwald dem Vorwurf des Personenkultes ausgesetzt, obwohl der Erste Sekretär Novotný in seinem ZKReferat im März seine Kritik an Gottwald sehr vorsichtig formulierte.41 Doch die Reaktionen vor Ort gingen viel weiter: Gottwald zählte man neben Stalin zu denen, die die „sozialistische Gesetzlichkeit“ verletzten. Die Parteiführung wollte – trotz einiger Zugeständnisse Novotnýs im März 195642 – Gottwald als Symbol der Parteigeschichte um jeden Preis retten, um die historische Kontinuität der KSČ von der Zwischenkriegszeit über den antifaschistischen Widerstand hin zum Aufbau des Sozialismus zu bewahren. Die Parteibasis teilte das Bemühen der Parteiführung jedoch nicht. In Ostrava kritisierten die Genossen die „Oden an den Genossen Gottwald“ des stalinistischen Kulturministers Kopecký, der als „zweiter Goebbels“ bezeichnet wurde.43 Ähnliche Vorwürfe betrafen auch Walter Ulbricht sowie die polnische „Troika“ Bierut, Berman und Minc. In dieser Hinsicht fiel der innerparteiliche Diskurs vom Frühling 1956 in allen drei Ländern unentschieden aus: Obwohl sich die Verteidiger und die Anhänger der „vorigen Periode“ hart bekämpften, war der „Personenkult“ für beide Seiten die dominante Referenz, auch weil er sich für die Beschreibung sehr unterschiedlicher Erscheinungen im „Parteileben“ eignete und die Kontrahenten mit ihm ihre partikularen Interessen formulieren konnten. Die beiden rivalisierenden Gruppen verstärkten somit das Bild der „neuen“ Partei, der die Zukunft gehöre. Die Kritik am Personenkult ging oft über die Parteiführer hinaus und wurde auch auf andere Parteifunktionäre übertragen. Ein gutes Beispiel war der tschecho40 Zum Vergleich zwischen Stalins Original und den Personenkulten in Osteuropa siehe E. A. Rees, Leader Cults, Varieties, Preconditions and Funtions, in: Apor, The Leader Cult, S. 3– 26, hier S. 18f. 41 Dazu Muriel Blaive, Promarněná příležitost. Československo a rok 1956, Praha 2001, S. 117–121. 42 In seinem Referat vom 29. März 1956 meinte Novotný über Gottwald: „Bei allen Verdiensten, die sich Genosse Gottwald im Kampf um den Sturz des Kapitalismus, um den Sieg des Sozialismus erwarb, die niemand bezweifelt, muss man sagen, dass ihm auch trotz seiner bekannten Bescheidenheit oft auch Verdienste angerechnet wurden, die der Partei und den Massen gebühren. Damit bildete sich die Atmosphäre der Unantastbarkeit um Genossen Gottwald heraus, es verbreitete sich die Ansicht, dass ‚Genosse Gottwald für uns denkt‘, die kollektive Führung in unserer Partei wurde geschwächt.“ Novotný, XX. sjezd KSSS, S. 288. 43 ZA Op, KV KSČ Ostrava, Plenarsitzung 3.–4.4.1956, Bl. 34.

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slowakische Verteidigungsminister – und Gottwalds Schwiegersohn – Alexej Čepička. Die Parteiführung hatte ihn der „Pflege des Personenkultes“ bezichtigt und Ende April 1956 aus dem Amt entlassen. Dies löste in der Partei einen Skandal aus.44 Kaum ein Redner in den Parteiversammlungen Ende April 1956 ließ sich die Gelegenheit entgehen, Čepičkas „Personenkult“ ebenso wie die damit verbundenen „fundamentalen Missstände“ in der tschechoslowakischen Volksarmee, „der Partei in der Partei“, anzusprechen.45 Dem Zentralkomitee wurde vorgeworfen, die tatsächlichen Gründe für Čepičkas Entlassung verschleiert und die lokalen Propagandisten „ideologisch unausgerüstet“ kritischen Fragen der Basismitglieder ausgesetzt zu haben. Man sei vom Zentralkomitee auf dem „ideologischen Schlachtfeld“ alleingelassen worden, was nur weiter zur Spaltung zwischen der Parteispitze und der Basis beitrug.46 Besonders virulent wurden Parteidiskussionen über den Personenkult „im eigenen Kreis, Betrieb oder der Stadt“, gleich ob sie die Probleme des „Parteilebens“, der Justiz, Wirtschaft oder Lebensmittelversorgung betrafen. Viele Redner suggerierten die Allgegenwart dieser Erscheinung. Die Phrase vom „Personenkult in unseren Verhältnissen vor Ort“ prägte die lokalen Aspekte der Stalinismus-Kritik wie „unbescheidenes Verhalten“, „Überheblichkeit gegenüber der Partei“, „Unterdrückung der Kritik“ und „Mangel an Selbstkritik“. Die leitenden Sekretäre, Mitarbeiter der Staatsverwaltung, Betriebsdirektoren sowie Funktionäre der Gewerkschaften und Massenorganisationen gerieten leicht in den Verdacht des „Personenkultes“ – zum Beispiel wegen Jagdveranstaltungen, Protektion und Nepotismus, der Benennung von Einrichtungen nach örtlichen Parteifunktionären („ungesunde Popularisierung einiger Genossen“) oder generell wegen „Überheblichkeit gegenüber den Parteigenossen“.47 44 Der als Sündenbock des tschechoslowakischen Stalinismus geopferte Čepička war das am meisten ausgeprägte Beispiel eines „kleinen Stalin“, ohne allerdings ein Staats- oder Parteiführer zu sein. Seine parallele zielstrebige Arbeit an innerem Einfluss und äußerem Kult bietet eine gute Einsicht in das Werden eines kommunistischen Führers, einschließlich der stufenweisen Delegitimierung nach 1953 und des abschließenden Absturzes 1956. Vgl. Jiří Pernes u. a., Alexej Čepička. Šedá eminence rudého režimu, Praha 2008, S. 269–298; Blaive, Promarněná příležitost, S. 121–125. 45 SOA Lit, KV KSČ Liberec, k. 9, Plenarsitzung 29.4.1956, Bl. 184. 46 Für diese und die folgenden Diskussionen siehe die Sitzungen des Bezirksausschusses Ústí nad Labem vom 4.4., 28.4. und 14.5.1956, SOA Lit, KV KSČ Ústí nad Labem, k. 7, sowie die Sitzungen des Bezirksausschusses Ostrava vom 3.–4.4. und 29.4.1956, ZA Op, KV KSČ Ostrava. 47 Zum Bild der Ersten Sekretäre siehe Jay Rowell, Le pouvoir périphérique et le „centralisme démocratique“ en RDA, in: Revue d’histoire moderne et contemporaine 49, 2002, S. 102– 124; Heinz Mestrup, Die Ersten und Zweiten Sekretäre der SED. Ein Beitrag zu Handlungsspielräumen von Funktionären in der DDR, in: Deutschland Archiv 36, 2003, S. 950–964; Mario Niemann: Die Sekretäre der SED-Bezirksleitungen 1952–1989, Pader-

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Wie Susanne Schattenberg für die Sowjetunion zeigte, interpretierten die Parteimitglieder in den Betrieben die Verurteilung des Personenkultes als eine Möglichkeit, die autokratischen Betriebsdirektoren als „kleine Stalins“ anzugreifen und ihre Entlassung zu fordern.48 Die von Chruschtschow geforderte „Demokratisierung“ der Betriebsleitung, die die Aufmerksamkeit auf Wirtschaftsfragen umlenken sollte, verwandelte sich bald in eine unerwünschte Politisierung. In Polen führte die auf Unklarheiten beruhende Auseinandersetzung mit dem „Stalinismus“ oft dazu, dass unbeliebte Betriebsdirektoren in Schubkarren aus den Fabriken weggefahren wurden:49 „Man hört sehr oft das Wort ,Stalinismus‘“, meinte ein Parteifunktionär im Stahlwalzwerk Łabędy, „aber viele Menschen verstehen seine Bedeutung nicht. Damit sind viele Missverständnisse verbunden und deswegen werden Direktoren in Schlesien so oft in Schubkarren weggefahren. Wir alle waren davor Stalinisten, er [der Betriebsdirektor, P. K.]) auch, denn wenn er vor sechs Jahren kein Stalinist gewesen wäre, hätte er auf der Anklagebank gesessen. Jeder von uns, der die Anweisungen ausführte, war ein Stalinist, aber man soll Leute, die unmenschlich waren, nicht damit verwechseln.“50 Im Hinblick auf die inneren Verhältnisse der Parteien richtete sich die Kritik auf die „Losgelöstheit der Funktionäre und des Apparates“ von der Mitgliederbasis („Sie kommen nicht unter die Leute“),51 die Konkurrenzkämpfe zwischen Apparat und gewählten Organen sowie die „Überheblichkeit der Büromitglieder“ gegenüber den restlichen Mitgliedern der Parteileitungen, die aus Sicht der Kritiker zu einer bloßen „Abstimmungsmaschinerie“ verkommen seien.52 Das Vertrauen in die Partei an sich wurde oft dadurch aufrechterhalten, dass man zwischen dem „Apparat“ und

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born 2007; Marcin Zaremba, Drugi stopień drabiny. Kult pierwszych sekretarzy w Polsce, in: Dariusz Stola/Marcin Zaremba (Hg.), PRL. Trwanie i zmiana, Warszawa 2003, S. 39– 74. Susanne Schattenberg, ‘Democracy’ or ‘Despotism’? How the Secret Speech Was Translated into Everyday Life, in: Polly Jones (Hg.), Dilemmas of Destalinization. Negotiating Cultural and Social Change in the Khrushchev Era, London 2006, S. 64–79. In der KSČ sprach man von „kleinen Kulten“ (kultíčky), vgl. SOA Lit, KV KSČ Nordböhmen, k. 16, 3.–4.3.1963, Bl. 40. Den Vorgesetzten „auf der Schubkarre wegfahren“ (wywozić na taczce) gehört zur polnischen Streikkultur – sowohl wörtlich als auch metaphorisch. In beiden Fällen zielt der performative Akt darauf ab, die Unzufriedenheit zu äußern und den Vorgesetzten zum Abtreten zu zwingen. AP Kat, KW PZPR, 317/I/7, KP PZPR Gliwice, Materiały z Powiatowej Konferencji Sprawozdawczo-Wyborczej, 5.–6.12.1956, Bl. 52. Vgl. Pavel Kolář, Kommunistische Identitäten im Streit. Politisierung und Herrschaftslegitimation in den kommunistischen Parteien in Ostmitteleuropa nach dem Stalinismus, in: Zeitschrift für OstmitteleuropaForschung 60, 2011, S. 232–266. SOkA Lib, OV KSČ Liberec, k. 6, Plenarsitzung 14.5.1956, Bl. 8. ZA Op, KV KSČ Ostrava, Plenarsitzung 29.4.1956, Bl. 59.

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der „Partei“ unterschied und den Vorwurf des Personenkultes auf den Ersteren beschränkte.53 Das Ausufern der Diskussionen rief Warnungen vor dem Missbrauch der Kritik am Personenkult hervor. Die lokalen Leitungsfunktionäre kritisierten das „Suchen nach dem Personenkult um jeden Preis“, prangerten „Ausschweifungen“ an, etwa wenn jede Anrede „Genosse Vorsitzender“ oder jedes Beifallklatschen gleich als Ausdruck des „Personenkultes“ gewertet wurden.54 Diese „Antikritik“ mehrte sich, nachdem die Parteiführungen im Juni 1956 die viel zu weitgehende Diskussion über den Personenkult zu dämpfen versucht und sich gegen den Revisionismus gewendet hatten. Nicht selten trat die Situation ein, dass dieselben Funktionäre, die den Personenkult vor 1956 angeblich selbst gepflegt hatten, ihn jetzt kritisierten. „Dass der Personenkult zuerst propagiert und dann von denselben Wissenschafts- und Politikfunktionären kritisch gesehen wird“, hieß es in Częstochowa Anfang April 1956, „erregt Zweifel an der absolut vollständigen Richtigkeit dieser entschiedenen Kritik. Dies kann die Ehrlichkeit der Aussagen von weniger orientierten Menschen beeinträchtigen.“55 Trotz ihrer oft vernichtenden Natur war die Kritik am Personenkult nicht antiutopisch, im Gegenteil. So kritisch die Angriffe gegen den Personenkult auch waren, bildeten sie dennoch – als ein negativer Kontrast – die Grundlage für eine neue, bessere Zeit. Verbreitet war die Wahrnehmung der Entstalinisierungskrise als „Neuanfang“ für eine erneuerte Partei, deren Führungsrolle von nun an erst ausgebaut werden sollte. Man betonte immer wieder, dass dieser neue Weg „kompliziert“, „dornig“ und vor allem lang sein wird. Man dürfe deshalb nicht nur bei der Kritik der Vergangenheit stehen bleiben, sondern müsse auch Vorschläge für die Zukunft machen. „Die bisherige Diskussion“, meinte ein anderer Redner in Częstochowa, „bezog sich auf bereits vollzogene Tatsachen. Ihre Fortsetzung sollte Schlussfolgerungen und Richtlinien bringen, die die künftige Gefahr des Personenkults verhindern würden.“56 Solche Verunsicherungen konnten daher einen stabilisierenden Effekt des „Personenkultes“ bewirken, indem sie den Begriff als Brückenschlag in eine neue Epoche der Parteigeschichte erscheinen ließen. Eine bessere Zukunft sollte zunächst durch die Wiederbelebung der Parteigrundorganisation und des „Aktivs“ erreicht werden, nach dem Motto der „Demokratisierung“.57 In der Debatte des PZPR-Kreiskomitees in Katowice vom

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SOkA Lib, MV KSČ Liberec, k. 7, Plenarsitzung 6.4.1956, unpag. SOkA Lib, OV KSČ Liberec, k. 6, Plenarsitzung 14.5.1956, Bl. 7. AP Kat, KW PZPR, 313/II/6, KP PZPR Częstochowa, Plenarsitzung 6.4.1956, Bl. 71. Ebenda, Bl. 79. AP Kat, KW PZPR, 313/II/6, KP PZPR Częstochowa, Plenarsitzung 16.8.1956, Bl. 175; zum Begriff des „Parteilebens“ vgl. Michel Christian, Parti et société en RDA et en

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Oktober 1956 hob der Leitende Sekretär die „Partei als Ganze“ (partia jako całość) besonders hervor.58 Er warnte vor der „Entfremdung“ und Versteinerung der Partei; sie sollte „lebendig“ und nicht hierarchisch sein, auf dem „natürlichen Zusammenwirken“ aller ihrer Mitglieder basieren und sich klar von dem bürokratischen Staat abgrenzen: „Wir müssen noch darüber nachdenken, wozu die Praxis führt, wenn die Parteikomitees zu einer Art superkontrollierendem und superadministrierendem Organ werden, das oft von Organen des Staates nicht zu unterscheiden ist.“59 Man war sich bewusst, dass die Aufarbeitung des „Personenkultes“ ein langwieriger Prozess sein wird: Der „erkrankte Organismus“ der Partei war nicht so schnell zu heilen.60 Trotz der tiefen Verunsicherung glaubten die meisten Kommunisten, sich auf die „Weisheit der Partei“ verlassen zu können, habe es doch noch nie ein Problem gegeben, das die Partei nicht habe lösen können.61 Es war einer der Grundzüge der Entstalinisierung, dass die „Partei“ als wichtigste Vertrauensquelle wiederhergestellt und ihre Souveränität als Avantgarde der Arbeiterklasse erneuert wurde. Sie erschien eher als Opfer des Stalinismus denn als Täter; man exkulpierte sie und übertrug die Schuld an eine euphemistisch beschriebene abstrakte Gewalt, an den „Personenkult“ oder zeitlich definiert an die „vorige Periode“.62 Die „Bekämpfung des „Personenkultes“ – gerade, weil es um viel mehr ging, als Stalins persönliche „Fehler“ – fand keineswegs nur in der frühen Phase der Entstalinisierung der Jahre 1956 und 1957 statt. Kennzeichnend in dieser Hinsicht war die Entwicklung in der Tschechoslowakei, wo 1963 in der Reaktion auf den XXII. Parteitag der KPdSU eine neue, verspätete Welle der Entstalinisierung ausbrach. Für viele war sie ein Déjà-vu aus dem Jahr 1956. Die Rhetorik der Entstalinisierung kehrte wieder, sei es die Kritik an Leitungsfunktionären der Stalin-Ära einschließlich Gottwald oder an den lokalen Apparaten. In den

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Tchécoslovaquie: une histoire sociale comparée des partis communistes au pouvoir du début des années 1950 à la fin des années 1970, Diss. Genf 2011, S. 450ff. AAN, KC PZPR, 237/VII-2953, KW PZPR Katowice, Plenarsitzung 12.–13.10.1956, Bl. 22. Die Rhetorik der „Demokratisierung“ ließ – vor allem in der SED – schnell nach. In Honeckers theoretischer Schrift über die führende Rolle der Partei von 1959 taucht das Wort Demokratisierung nicht mehr auf; vielmehr stehen „Kampf“, „Führung“ sowie auch „Organisation“ und „Administration“ im Vordergrund. Erich Honecker, Die führende Rolle der Partei im System der Diktatur des Proletariats, Berlin (Ost) 1959. AAN, KC PZPR, 237/VII-3010, KW PZPR Katowice, Protokół z narady aktywu partyjnego, 17.2.1956, Bl. 247; AAN, KC PZPR, 237/VII-3719, KW PZPR Wrocław, Protokół z narady aktywu partyjnego, 29.3.1956, Bl. 48. MA Ost, MV KSČ Ostrava, Plenarsitzung 5.4.1956, Diskussionsbeitrag Kučaj, unpag. Anna Dąbrowska, Słownik eufemizmów polskich. Czyli w rzeczy mocno, w sposobie łagodnie, Warszawa 2005, S. 256ff.

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sechziger Jahren wirkten jedoch auf die Kritik des Personenkults bereits die neuen gesellschaftlichen Phänomene, die sich infolge der Modernisierung und der Entwicklung der Konsumkultur herausgebildet hatten. Die Kritik am Personenkult betraf oft das neue Problemfeld der Jugend, besonders den „Verfall der Werte“ bei der jungen Generation, die weder den Kapitalismus noch den Krieg erlebt hatte. Im April 1963 nahm ein älteres Parteimitglied aus Nordböhmen zwei negative Erscheinungen unter die Lupe, die aus seiner Sicht mit dem Personenkult verknüpft waren. Zuerst kritisierte er nach dem Chruschtschowschen Vorbild die abstrakte Kunst, die er als Produkt der verderblichen Koalition zwischen Personenkult und Imperialismus charakterisierte: Was soll das, sie fangen an zu diskutieren, reden von neuen Richtungen in der Kultur, dieses Gekritzel und Geschrammel, wie Genosse Chruschtschow sagt, und wieso? Weil sich die Genossen nicht genügend darüber im Klaren sind, dass man so ein Geschrammel bekämpfen muss, dass es das Absterben des imperialistischen Lagers und des ganzen Systems des Kapitalismus ist. Nicht bei uns darüber Diskussionen führen, ihnen […] noch die Möglichkeit geben, ihre Sauereien auszustellen, also wirklich Genossen, das ist doch schädlich genau wie einige andere Sachen, das verdirbt den Charakter der jungen Leute.63

Des Weiteren griff er im Zuge der „Kritik am Personenkult“ die Populärmusik scharf an, die sich gerade in den frühen sechziger Jahren immer mehr verbreitete. Selbst den zukünftigen Star der tschechischen Popszene Eva Pilarová betrachtete der Redner als eine Folge des Personenkultes: Wenn man sich unten am Bahnhof umschaut, da hauen die Jungs auf ihre Gitarre ein, singen irgendwelche Lieder mit ihren kehligen Stimmen, aber das fand ich sofort unerträglich, die aus dem Theater Rokoko, das sind doch auch Aufmüpfige, wie heißt sie hier nochmal die Pilarová, als ich sie gehört hab, hab ich mir gesagt, mein Gott, schon wieder sowas, wir wollen unsere Jugend „erziehen“ und schaden ihr. Ich denke, das äußert sich auch in der Musik und damit unterstützen wir die Entwicklung der emotionalen Seite unserer Jugend nicht, Genossen.64

Die Kritik am „Personenkult“ zog also in den sechziger Jahren immer weitere Kreise. National-traditionalistische Diskurse schlossen an die neue Kritik am „Personenkult“ an, wie z. B. in der Kritik am „Hooliganismus“ und „Rowdytum“. Hooliganismus und „dekadente Jugendkultur“ wurden zwar immer noch überwiegend entweder zeitlich als Überbleibsel des Kapitalismus oder räumlich als Import aus dem kapitalistischen Westen betrachtet. Neuerdings deutete man aber auch Hooliganismus als Folge des Personenkultes, das heißt als ein Gesellschaftsproblem in der eigenen Zeit und im eigenen Raum. Auf lange Sicht bedeutete diese Interpretation eine Entideologisierung der Jugendkultur. Dieser Kurs setzte 63 SOA Lit, KV KSČ Nordböhmen, k. 16, Plenarsitzung 3.–4.3.1963, Bl. 64. 64 Ebenda, Bl. 65.

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sich in den Ostblockländern in den sechziger Jahren durch, wenn auch mit bisweilen wiederkehrenden Repressionswellen.65 In der DDR galt seit 1963 ein offener und zeitweise gar fördernder Umgang mit der Rockmusik und ihrer Jugendkultur. Zu dieser Zeit begrüßte das Neue Deutschland die Beatles als eine „Herausforderung für das kapitalistische Spießbürgertum“ gegen den „Konservatismus und die Starrheit ihrer wohlsituierten und spießerhaften kapitalistischen Umwelt“. Die Beatles repräsentierten „das jugendliche Auflehnungsbedürfnis einer ganzen Generation gegen eine überholte Gesellschaftsordnung“. Trotz einiger Rückschläge der Repression setzte sich letztlich eine genuin poststalinistische Linie durch, die statt eines „Frontalangriffs“ auf die Beat-Szene auf „eine breite ideologische Arbeit zur Durchsetzung unserer Kulturpolitik“ setzte.66 Diese Entwicklung ging mit den „systemtheoretischen Korrekturen“ des VII. Parteitags der SED von 1967 einher, laut welchen der Sozialismus nicht mehr als ein kurzer Prolog zum Kommunismus galt, sondern als eine eigenständige Epoche: der Realsozialismus.67 Während der siebziger Jahre folgte dann eine Integration der Rockmusik in die DDR-Kultur unter dem Stichwort „sozialistische Jugendtanzmusik“.68 Der langzeitige Charakter der Auseinandersetzung mit dem Personenkult beeinflusste auch die Sprache. In der Tschechoslowakei wurde die Wendung „Überwinden des Personenkultes“ (překonávání kultu osobnosti) zur Signatur der poststalinistischen Parteirhetorik: Die Unabgeschlossenheit dieses Prozesses spiegelte sich auch in der imperfekten Form des Wortes Überwinden – překonávání – wider.69 Viele Propagandatexte aus den sechziger Jahren verwendeten auch den Begriff zatvrzelý dogmatismus (verhärteter Dogmatismus), der auf die Dauerhaftigkeit des Personenkultes und die Langwierigkeit seiner Bekämpfung verwies. Das ist ein deutlicher Unterschied zur Sprache des Stalinismus, wo die perfekte Form dominierte, die den Kurzfristigkeits- und Abgeschlossenheitscharakter der Handlungen betonte.70 65 Vgl. Timothy W. Ryback, Rock Around the Bloc. A History of Rock Music in Eastern Europe and the Soviet Union, New York 1990. 66 Michael Rauhaut, Rock in der DDR 1964 bis 1989, Bonn 2002, S. 21–53. 67 ND vom 10. Juli 1964, S. 4, zit. n. Rauhaut, Rock in der DDR, S. 26. 68 Ebenda, S. 41. 69 Das Wort „überwinden“ ist typisch für die Semantik des Poststalinismus. Das Aktionsprogramm der KSČ vom April 1968 benutzt den Ausdruck dreiundzwanzigmal. 70 Obwohl auch im Stalinismus die imperfekte Form nicht unüblich war (zostřování třídního boje v období diktatury proletariátu), wurde doch das Perfektum viel häufiger benutzt. Es wäre eine Forschungsaufgabe zu überprüfen, inwieweit sich in den slawischen Sprachen die zeitliche Sprachstruktur des Stalinismus von der des Poststalinismus unterscheidet, ob beispielweise der Stalinismus mehr das Perfektum (potlačení, zlikvidování, likvidace), während der Poststalinimus eher das Imperfektum (potlačování, likvidování) benutzte. Zu

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Die Bekämpfung des Personenkultes stärkte die Partei als Brennpunkt des kommunistischen Projektes. Der Personenkult trat als das neue „Andere“ hervor, mit dem sich die Parteien langfristig befassen mussten. Die Mehrdeutigkeit und Ausdehnbarkeit des Begriffes forderten eine ambivalente Selbstdarstellung der Partei: Da der Personenkult sowohl ein äußeres als auch ein inneres (d. h. in der Partei wurzelndes) „Anderes“ darstellte, konnte die Partei nicht als klare Siegerin aus der Auseinandersetzung hervorgehen. Der Personenkult ermöglichte zwar einen Neuanfang. Zugleich war er jedoch eine historische Belastung, die die Handlungsfähigkeit der Partei in Zukunft einschränken sollte: Die Zukunft bedeutete nun nicht mehr die Erreichung des Guten, sondern auch die Verhinderung des Bösen.

Die Partei als Demiurg Wie stellte sich die neue poststalinistische Partei dar? Man wollte zu Lenin zurückkehren. Das war jedoch dadurch erschwert, dass der Bezug auf Lenin auch für Stalin wichtig gewesen war. Es war deshalb notwendig, das Leninsche Erbe der „Parteidemokratie“ und des „demokratischen Zentralismus“ von der Last des Stalinismus zu befreien. Lenins diktatorische Auffassungen und deren Umsetzung während seiner kurzen Herrschaft waren allgemein bekannt. In Was tun (1902) definierte Lenin die Partei als „Vorhut der Arbeiterklasse“ geführt von professionellen Revolutionären mit umfangreichen Theoriekenntnissen, in welcher jegliche Spontaneität von unten ausgeschlossen war.71 Chruschtschow bemühte sich in erster Linie, den Begriff der „Führungsrolle“ der Partei wiederzubeleben. „Lenin unterstrich stets die Rolle des Volkes als des Schöpfers der Geschichte,“ stellte er gleich am Anfang seiner Geheimrede fest, „die leitende und organisierende Rolle der Partei als seinen lebendigen und schöpferischen Organismus sowie die Rolle des Zentralkomitees. […] Lenin sprach stolz von der bolschewistischen, kommunistischen Partei als Führerin und Lehrerin des Volkes. Er rief dazu auf, alle entscheidenden Fragen den bewussten Arbeitern und ihrer Partei zur Beurteilung vorzulegen; er sagte: ‚der Partei glauben wir, in ihr sehen wir die Vernunft, die Ehre und das Gewissen unserer Epoche.‘“72 Während also Chruschtschow den Nachdruck auf Schöpfung und Führung legte, ging es in Stalins Auffassung dagegen um den revolutionären, „unversöhnlichen“ Kampf – die Partei sei fragen wäre auch, inwieweit sich das parteibürokratische Deutsch änderte, indem sich die Ausdrucksweise verkomplizierte und substantivierte, z. B. durch häufigeren Gebrauch von Funktionsverbgefügen („Beschluss fassen“ statt „beschließen“ usw.). 71 Walicki, Marxism, 293ff.; W. I. Lenin, Was tun, Berlin 1945 (1902). 72 Chruschtschow, Geheimrede, S. 9f.

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hauptsächlich eine Kampfpartei. In den Schlussfolgerungen von Stalins Kurzem Lehrgang (1938) dominierten kampforientierte Wendungen: Die Partei kämpfe gegen die Feinde und gegen feindliche Klassen; die marxistisch-leninistische Theorie sei nicht nur „schöpferisch“, sondern vor allem ein Instrument gegen die Feinde.73 Während sich Ausdrücke wie „Zerschlagung“, „Bekämpfung“, „Vertreibung“ oder „Liquidierung“ in der Geheimrede eher selten finden, beschreibt der Kurze Lehrgang „die Entwicklungsgeschichte des inneren Lebens unserer Partei“ als die „Geschichte der Bekämpfung und Vernichtung der opportunistischen Gruppen innerhalb der Partei“.74 Die Chruschtschowsche Partei hingegen setzt auf Produktion statt Destruktion. Dieser Wandlungsprozess der poststalinistischen Politik war ein Bestandteil der „biopolitischen Wende“ im Charakter der kommunistischen Herrschaft: Während im Stalinismus die souveräne, uneingeschränkt befehlende Macht herrschte, die „sterben machte und leben ließ“ (Michel Foucault), setzte sich im Poststalinismus und noch mehr im Spätsozialismus die Biomacht durch, die das Leben produzierte und regulierte.75 Die Entstalinisierung war eine Wende zum Schöpferischen, in der die „Produktion“ als allgemein kommunistisches Prinzip erst zum Tragen kam. Die Tätigkeit der Parteien solle jetzt „schöpferisch“ sein, beginnend beim „schöpferischen Umgang“ mit dem Marxismus-Leninismus. Typisch poststalinistische Losungen zeigen den semantischen Wandel: Als „schöpferisch“ galten „die Diskussionen zur Verwirklichung der Parteibeschlüsse“, es wurden „schöpferische Darstellung der Geschichte“, oder „schöpferische Potenziale des Volkes“ heraufbeschworen. Man feierte die Partei als den „Schöpfer und Organisator der Gesellschaftsordnung“ und hob ihre „schöpferische geschichtliche Rolle“ hervor. Das Ziel der Parteiarbeit sei es, „die schöpferische Initiative der Werktätigen zu wecken und zu entfalten“,76 den Kampf „um die Befähigung der Werktätigen zur schöpferischen Aneignung und Anwendung des Marxismus-Leninismus“ zu führen.77 Im Februar 1961 wurde im Propagandistenseminar „Wirtschaft und gesamteuropäische Fragen“ der Berliner SED-Organisation ein Lektor dafür kritisiert, sich „auf die allgemeine Wiedergabe der in den oben angeführten Beratungen gegebenen Gedanken“ beschränkt zu haben, anstatt

73 Geschichte der KPdSU (B), Kurzer Lehrgang, S. 439–451. 74 Ebenda, S. 447. 75 Vgl. Mitchell Dean, Governmentality, Power and Rule in Modern Society, Los Angeles 2010, S. 117–132. 76 SAPMO, DY 30/IV A2/9.07/391, Zu einigen Erfahrungen bei der Erforschung und Gestaltung des Mahn- und Gedenkweges, 4.6.1962, unpag. 77 SAPMO, DY 30/IV A2/9.07/252, Themen der Forschungsschwerpunkte für den 2. zentralen Perspektivplan, 15.10.1970, unpag.

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das Material selbständig zu verarbeiten und umsetzen.78 Dass der MarxismusLeninismus die Massen zum „historischen Schöpfertum“ erhebt, war eine der „Anregungen“, welche die SED-Funktionäre aus Chruschtschows Rede auf dem XXII. Parteitag vom 1961 gewonnen haben.79 Die Aneignung von „schöpferischen Methoden“ war jedoch mühsam. Noch 1969, wie ein Beispiel aus Erfurt zeigt, hatten die Parteigenossen „beträchtliche Schwierigkeiten“ mit dem dialektischen und historischen Materialismus und waren nicht imstande, „sich die theoretischen Zusammenhänge selbständig zu erarbeiten“. Es bedürfe der „Hilfe der unterrichtsdurchführenden Lehrer, um z. B. die Bedeutung der Grundgesetze der Dialektik, deren schöpferische Anwendung in der Politik unserer Partei bei der Lösung der Aufgaben zur Gestaltung des entwickelten gesellschaftlichen Systems des Sozialismus herauszuarbeiten. Somit widerspiegelt sich im ungenügenden Maße das Studium der Werke der Klassiker, wie es im Parteilehrjahr durchgeführt wurde.“80 Auf ähnliche Weise plädierten die polnischen Poststalinisten für die „schöpferische Entwicklung (twórcze rozwijanie) der Theorie des Marxismus-Leninismus“ und „schöpferische und erneuernde Politik der PZPR nach Stalins Tod“.81 Gomułka betonte in seiner Oktober-Rede von 1956 das Schöpferische mehrmals: In der Parteisprache sollte das „geschwollene Phrasendresch“ (drętwa mowa) durch das „schöpferische lebendige Wort“ (twórcze, żywe słowo) ersetzt werden; es bedürfe schöpferischen, fortschrittlichen Denkens (twórcza, postępowa myśl), auf welches „keine Partei und kein Mensch das Monopol besitzen darf“.82 Mit der Durchsetzung des Adjektivs tvůrčí (schöpferisch) veränderte sich die Semantik auch im tschechoslowakischen Kontext. Ein Ausschnitt aus der Festrede zum Jahrestag des Bergarbeiterstreikes in der nordböhmischen Stadt Most von 1962 zeigt, wie die Betonung des Schöpferischen in die Erzählstruktur des Poststalinismus einkomponiert wurde. Der Akzent auf das Schöpfen verlangsamte den Fluss der Erzählung, die durch Allmählichkeit, graduelle Entwicklung und geduldige Alltagsarbeit gekennzeichnet war: Heute, da wir die kühnen Perspektiven des Aufbaus der entwickelten sozialistischen Gesellschaft erfüllen und die Voraussetzungen für den allmählichen Übergang zum Kommunismus schaffen, gilt das [die Führungsrolle der Partei, P.K.] für uns doppelt. In der

78 SAPMO, DY 30/IV 2/9.02/90, Bericht über eine Anleitung für die Sekretäre für Agitation und Propaganda, 6.2.1961, Bl. 141. 79 SAPMO, DY 30/IV A2/9.07/251, Aus dem Studium der Materialien des XXII. Parteitages der KPdSU gewonnene Anregungen, 28.11.1961, unpag. 80 SAPMO, DY 30/IV A 2/9.03/64, Bezirksparteischule „Rosa Luxemburg“ Erfurt, 28.5.1969, unpag. 81 Historia Polskiego Ruchu Robotniczego 1864–1964, 2 Bde., Warszawa 1967, S. 434. 82 Gomułka, Rede auf dem VIII. Plenum, S. 17 und 31.

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Alltagsarbeit in allen Bereichen des politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Lebens müssen wir sie geduldig und standhaft (trpělivě a houževnatě) in der Praxis durchsetzen. Erneut möchten wir alle Kommunisten daran erinnern, dass die Macht der Partei vor allem in der Verbindung mit dem Volk besteht, in seiner Aktivität und seinem Willen, die Ziele und Aufgaben zu erfüllen, die die Gesellschaft festlegt. Diesen Grundsatz dürfen die Kommunisten nie vergessen: sich mit den Menschen über alle wichtigen Fragen beraten, organisieren, gestalten, ihre schöpferische Aktivität, ihre Freuden und Sorgen zu kennen, schlagfertig auf Fragen zu reagieren, die nicht klar sind oder den Werktätigen unnötigerweise ihr Leben verbittern.83

Diese Hinwendung zur alltäglichen Arbeit mit den Menschen, mit allen ihren Fehlern und Unzulänglichkeiten, bedeutete gleichwohl einen Wandel in der geschichtsphilosophischen Selbstauffassung der Partei: Zwar war die Partei „schöpferisch“, zugleich aber blieb sie weit von der Perfektion und Unfehlbarkeit entfernt. Angesichts der politisch-theologischen Züge, die dem MarxismusLeninismus innewohnten und die sich in Dogmatisierung, Verkirchlichung und Ritualisierung äußerten,84 ähnelte die poststalinistische Partei der antiken Figur des Demiurgs: Dieser ist zwar ein gott-ähnlicher Schöpfer, aber unvollkommen und in seiner Macht dem eigentlichen Gott untergeordnet. Demiurg taucht bei Homer als „göttlicher Handwerker“ auf, als Arzt oder Wahrsager, bei Platon bezeichnet der Ausdruck das Wesen, das die wahrnehmbare Welt schöpft und das Chaos der verstreuten Stoffe in Ordnung bringt.85 Als imperfekter Schöpfer 83 SOA Lit, KV KSČ Nordböhmen, k. 15, Plenarsitzung 23.3.1962, Bl. 4. 84 Siehe Wolfgang Fritz Haug (Hg.), Historisch-kritisches Wörterbuch des Marxismus, Artikel Dogmatismus, S. 802–809. Zum Vergleich der kommunistischen Parteien und der katholischen Kirche siehe Mark-Christian von Busse, Faszination und Desillusionierung. Stalinismusbilder von sympathisierenden und abtrünnigen Intellektuellen, Pfaffenweiler 2000, S. 135–158; zum Glaubensbegriff bei kommunistischen Intellektuellen Thomas Kroll, Kommunistische Intellektuelle in Westeuropa. Frankreich, Österreich, Italien und Großbritannien im Vergleich 1945–1956, Köln 2007, S. 9–13. 85 Filosofický slovník, Olomouc 2002, S. 83f.; vgl. Heinrich Kraft, Die Paradoxie in der Bibel und bei den Griechen als Voraussetzung für die Entfaltung der Glaubenslehren, in: Roland Hagenbüchle/Paul Geyer (Hg.), Das Paradox. Eine Herausforderung des abendländischen Denkens, Würzburg 2002, S. 247–272, hier S. 267f.: „Der platonische Demiurg ist nicht Person wie der biblische Schöpfer; er hat auch keine Realität. Er ist eine konstruierte Figur, die es erlaubt, die Schöpfung als Ergebnis eines sinnvollen Handelns zu beschreiben. In Wahrheit ist die Schöpfung im Timaios ein Ausfluß des göttlichen Seins. Aber die Griechen haben nach der Überwindung der Skepsis unter Einfluß der stoischen Physik den Demiurgen personifiziert, richtiger: hypostasiert. Im Johannesprolog ist der logos der Schöpfer, ein ewiges Abbild des göttlichen Seins, von dem sich, anders als vom göttlichen Urgrund, ein Handeln aussagen läßt. Der logos ist zugleich im Ursprung seiender und neben dem seienden Gott handelnder Gott. Er konnte zur Offenbarung den unsichtbaren Gott sichtbar darstellen, und durch ihn handelte Gott in der Geschichte.“

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wurde der Demiurg auch in der neuzeitlichen Denktradition vermittelt und auch dem marxistischen Denken war der Begriff nicht fremd: Marx verwendet ihn im Nachwort zur zweiten Auflage des „Kapitals“, wo er den Prozess der Überformung der menschlichen Arbeit in das Kapital durch die Mehrwehrtoperation beschreibt. Laut Marx sollte der „Demiurg von der Kapitalverwertung“ einem neuen Demiurgen den Platz machen, dem Proletariat.86 Die poststalinistische Partei lässt sich also deshalb als Demiurg bezeichnen, weil sie versuchte, das durch Stalins Terror entstandene Chaos wieder in Ordnung zu bringen, das Unvernünftige ins Vernünftige zu verwandeln, die Welt nach einer Katastrophe zu reparieren und ihr Klarheit zu verleihen. Wie Demiurg befand sie sich im Spannungsfeld zwischen „Seiendem“ und „Werdendem“, wie der Philosoph Alexander von Pechmann bemerkte: „Das aber heißt, dass der Demiurg als ein eigenständiges ‚Drittes‘ aufzufassen ist, das für sich selbst ohne Gesetz ist, das aber die Kraft hat oder ist, nach diesem oder jenem Vorbild zu wirken; ein gleichsam hypothetisches Subjekt, das, wenn es handelt, entweder Schönes oder Nicht-Schönes herstellt.“87 In dieser Auffassung ersetzt die demiurgische Partei Stalin als den Master Editor und Urheber und stellt die Idee des Guten, die ursprüngliche leninistische Ideologie des Kommunismus als den Leitgedanken wieder her. Damit wird eine Situation geschaffen, in der sich die drei ideologischen Säulen des Marxismus-Leninismus – „Kommunismus“ als Ziel, „Lenin“ als Methode und „Partei“ als Durchführer (Alexei Yurchak) – unhierarchisch komplementieren. Eine weitere Ähnlichkeit besteht in der eingeschränkten Gestaltungsfreiheit des Demiurgen. Sein ontologischer und axiologischer Status ist niedriger als jener Gottes, seine Macht ist begrenzt. Das Material, das er gestaltet, hat er nicht selbst geschaffen. Seine Arbeit ist kein Schöpfungsprozess als ein „Hervorbringen aus dem Nichts“, der „wahre Schöpfer und Vater“ bleibt im Verborgenen. Das ist ein weiterer Unterschied zum Stalinismus, wo sich der „wahre Schöpfer“, der selbst „das Maß und Ziel“ ist, tagtäglich zur Schau stellte.88 Der Demiurg ist ein Weltbaumeister, aber kein Weltschöpfer,89 unordentlich und ambivalent, wodurch er seinen rationalen Ordnungswillen potentiell untergräbt.90 Übertragen auf die 86 Heinz Dieter Kittsteiner, Mit Marx für Heidegger – mit Heidegger für Marx, München 2004, S. 215ff. 87 Alexander von Pechmann, Autonomie und Autorität. Studien zur Genese des europäischen Denkens, Freiburg 2008, S. 235. 88 „Also den Schöpfer und Vater dieses Alls zu finden ist schwer und, nachdem man ihn gefunden, ihn allen zu verkünden, unmöglich.“ Platon, Tim. 28 c., zit. n. Gerhard Faden, Platons dialektische Phänomenologie, Würzburg 2005, S. 53. 89 Kittsteiner, Mit Marx für Heidegger, S. 207ff. Kittsteiner verweist auf Heideggers Umdeutung des Demiurgs als Weltverdüsterung, die er mit der Entwicklung des Dritten Reiches identifizierte. 90 Artikel „Demiurg“, in: Cambridge Dictionary of Philosophy, Cambridge 1996, S. 188.

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poststalinistische Partei kommt diese nicht Gott gleich, wie unter Stalin, sondern tritt als unvollkommener und möglicherweise auch irrender „Gestaltender“ auf. Die demiurgische Partei, die den Poststalinisten vorschwebte, war deshalb ein Kompromiss: Sie gestaltete, aber nicht uneingeschränkt. Die Grenzen ihrer schöpferischen Arbeit setzten sowohl äußere historische Umstände als auch die Widersprüche innerhalb der Partei selbst. Chruschtschow verstärkte diese Auffassung einer zwar „führenden“, aber in ihrem Tun eingeschränkten Partei, indem er sie auch als „Instrument“ des eigentlichen Herrschers – des Volkes, der Massen, der Arbeiterklasse – darstellte. Um den Personenkult zu beseitigen, sei es laut Chruschtschow erforderlich, „in unserer ideologischen Arbeit die wichtigen Thesen der Lehre des Marxismus-Leninismus über das Volk als den Schöpfer der Geschichte, als Schöpfer aller materiellen und geistigen Güter der Menschheit, über die entscheidende Rolle der marxistischen Partei im revolutionären Kampf um die Veränderung der Gesellschaft, für den Sieg des Kommunismus wiederherzustellen und konsequent zu verwirklichen“.91 Nicht weniger trifft das Bild des Demiurgs für Gomułka und seine Rückkehr an die Macht im Herbst 1956 zu. Gomułka kam nicht als ein Allmächtiger, sondern eher als Gestaltender auf die Bühne der Macht zurück. Er stellte die Grenze der Macht der Partei bloß: In seiner Darstellung hatte die Partei keine absolute Macht: „Den Schutz dieser Beziehungen übernimmt in erster Linie unsere Partei, mit ihr aber auch das ganze Volk.“92 Die Partei „leitet den Prozess der Demokratisierung“. „Das Prinzip, dass die Partei und ihr Apparat nicht regiert (rządzi), sondern nur leitet (kieruje), dass der Staat und sein Apparat zu regieren haben, muss im konkreten Inhalt und in der Arbeitspraxis zum Ausdruck kommen.“ „Die Partei“, fuhr Gomulka fort, „wird am intensivsten das Leben der Arbeiterklasse führen, sie wird deren Bewusstsein am besten gestalten können.“93 Ein anderer bedeutender Redner des VIII. Plenums der ZK PZPR im Oktober 1956, der Schriftsteller und Stalinismus-Kritiker Leon Wudzki, kritisierte die stalinistischen Ansichten, nach denen „die Menschen für die Partei da sind, nicht die Partei für die Menschen“ und betonte die Notwendigkeit der „Vermenschlichung der Partei“.94 Auch Wudzki verwies auf die Grenzen der Parteimacht, die nur mit dem vorhandenen Stoff, mit den einzelnen Kommunisten schöpferisch wirken, aber nichts aus dem Nichts hervorbringen kann. Die schöpferische Tätigkeit der Partei sei zeitbegrenzt, sie diene als Instrument der Arbeiterklasse: Es ist traurig, dass man den Politbüro-Mitgliedern erklären muss, dass die Partei ohne Menschen nicht existieren kann und dass nicht wir für die Partei da sind, sondern […] die 91 92 93 94

Chruschtschow, Geheimrede, S. 84. Gomułka, Rede auf dem VIII. Plenum, S. 45. Ebenda, S. 46f. Nowe Drogi 10, 1956, Nr. 10, S. 60.

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Partei für uns, für uns Menschen; dass die Partei den Interessen der Menschen dienen muss, die sie geschaffen haben, und nachdem sie die Aufgaben erfüllt hat, die ihr übertragen wurden, nachdem sie die gesellschaftlichen und zwischenmenschlichen Verhältnisse in Ordnung gebracht hat, nach der Abschaffung von Klassen usw., verliert sie den Sinn ihrer Existenz. Das ist der Sinn des Marxismus.95

Nicht so radikal ausgedrückt, aber im ähnlichen Sinne deutete auch Novotný im April 1956 die Rolle der Partei um, indem er die „Praxis der Parteiarbeit“ und die „Arbeit mit den Massen“, die „praktische Verwirklichung“ statt des „Deklarierens und Proklamierens“ der führenden Rolle der Partei unterstrich. Der „kollektive Charakter der Führung setzt eine systematische Arbeit mit dem Aktiv voraus, das heißt im engsten Kontakt mit der Masse der Kommunisten sowie Parteilosen zu sein und aufmerksam ihren Stimmen zuzuhören.“96 Novotný hob „konkrete Inhalte“ und „Arbeitspraxis“ hervor. In der SED nutzte die Reformgruppe um Karl Schirdewan die Gelegenheit, den Pluralismus – und damit auch die Beschränktheit der absolut rationellen Gestaltungsfähigkeit – in der Partei zu fördern, ohne deren „Führungsrolle“ in Frage zu stellen. In den Reaktionen des ZK der SED auf den XX. Parteitag wurden dementsprechend Ausdrücke verwendet, die die Führungskraft der Partei durch ihre Einbettung in breitere Kollektivzusammenhänge (Volk, Demokratie usw.) relativierten, wie „Geschlossenheit und die bewährte kollektive Führung“, „untrennbare Verbindung mit den Volksmassen“ oder „Entfaltung der innerparteilichen Demokratie“.97 Im Mittelpunkt der Diskussionen stand das Verhältnis zwischen der Parteiführung und den Massen. In der SED-Organisation Mansfeld wurde im April 1956 die Partei als der „wirkliche Schöpfer der Geschichte und der Führer der Volksmassen“ bezeichnet: „Die Entwicklung der Menschheit hängt ab von dem Grad der Massen, die sich an der Geschichte beteiligen.“98 Während Schöpfung immer mit Massen verbunden war, stellte der Personenkult eine, so ein Ideologieseminar in Prag im April 1956, „subjektive idealistische Theorie dar, die die Persönlichkeit für den Schöpfer der Geschichte“ erklärte. Es sei im „engeren Sinne des Wortes eine heroische Geschichtsanschauung“.99 Das Ende der heroischen Geschichtsauffassung galt aber auch für die Partei, die Fehler von den „Volksmassen“ übernommen habe. Häufig drückten die Kommunisten die Verzweiflung über die eigenen Irrtümer aus; dabei sollten die begangenen Fehler erinnert werden, um der Partei eine Lehre zu sein: „Ich bitte Euch aber zu erkennen“, 95 96 97 98 99

Ebenda. Novotný, XX. sjezd KSSS, S. 282. Dokumente der SED, Bd. VI, Berlin 1958, S. 47. LHASA, MER, SED-Kreisleitung Mansfeld, IV/413/2/17, Plenarsitzung 12.4.1956, Bl. 53. NA, AÚV KSČ, 05/3, sv. 1, a.j. 6, Celostátní seminář učitelů KSŠ a lektorů KV, 23.– 25.4.1956, Bl. 73.

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forderte ein SED-Veteran aus Leuna im Mai 1957 in seinem Bericht über seine Fehler um die Zeit der KPD-Gründung, „dass mein Lebensbericht bis zur Gegenwart für die Agitation von Bedeutung sein kann, weil darin geschildert wird, wie ein Arbeiter in der Gewissheit der Richtigkeit der sozialistischen Weltanschauung steht, trotz Not, Maßregelung und Verfolgungen.“100 Das Überwinden von eigenen Fehlern wurde zum festen Bestandteil der poststalinistischen Parteierneuerung. Im Kupferbau Mansfeld mussten im Rahmen des „Kampfes gegen Managertum“ 1958 mehrere Betriebsfunktionäre „Selbstkritik“ üben, die sie in eine Erzählung der „Bewusstseinsbildung“ glatt einbauten: Die ganzen Auseinandersetzungen waren für mich Veranlassung, über die Ursachen und Fehler nachzudenken. Zunächst einiges über mein Verhältnis zur Partei und die Bitte um Aufnahme als Kandidat. Mein Weg nach 1945 war nicht direkt Anlass dazu. Erst 1949/50 bin ich erstmals mit dem dialektisch-historischen Materialismus zusammengekommen. Das führte dazu, dass ich bereits damals überzeugter Atheist wurde und in meiner Familie vollkommene Klarheit schaffte. Meine Entwicklung wurde bestimmt durch meinen Einsatz auf dem Thomas-Münzer-Schacht, wo ich erstmals mit Arbeitern in Verbindung kam. Die erste Bewährungsprobe, glaube ich, habe ich am 17. 6. bestanden. Weitere Entwicklungsstufen in meiner Bewusstseinsbildung war eine Reise in die Sowjetunion, wo ich mich eingehend davon überzeugt hatte, zu welchen großen Leistungen die Sowjetunion unter Führung der Partei fähig ist. Diese Gesichtspunkte führten dazu, dass ich den Weg zum Sozialismus fand. Deshalb habe ich um Aufnahme als Kandidat der Partei gebeten. Trotz dieser Tatsachen habe ich viele Fragen der praktischen politischen Arbeit vernachlässigt. Das kommt letzten Endes in den mir nachgewiesenen Fehlern zum Ausdruck. Die Ursache liegt darin, dass ich mir opportunistische Auffassungen zu eigen gemacht habe, die Kraft der Arbeiterklasse unterschätzte, weil ich keine richtige Verbindung hatte. Es fehlen mir auch Erfahrungen in der praktischen politischen Arbeit. Schritt für Schritt muss ich dies überwinden. Die Auseinandersetzungen der letzten Woche haben mich hier ein gutes Stück vorwärts gebracht.101

Die Parteien sollten ihre Wiedergeburt nach 1956 unter anderem durch die „Fehler-Diskussion“ aufarbeiten. Als Beispiel sei die Plenarsitzung der SED in Halle vom Februar 1957 angeführt. Ihr wichtigstes Anliegen war das Ausschlussverfahren gegen den Parteifunktionär Helmut Schatz, der „als Kandidat der Bezirksleitung eine parteifeindliche Plattform […] geduldet und teilweise unterstützt hat. Genosse Schatz hat durch seine Tätigkeit gezeigt, dass er kein festes Vertrauen zur Politik der Parteiführung hat und infolgedessen seine Verpflichtung, die Linie der Partei und die leitenden Organe vor den wütenden Angriffen 100 LHASA, MER, SED-Kreisleitung Leuna, IV/412/326, Kurt Beyer an SED-Kreisleitung, 19.5.1957, Bl. 51. 101 LHASA, MER, SED-Kreisleitung Mansfeld, IV/413/1/4, Kreisdelegiertenkonferenz, 19.–20.4.1958, Bl. 169.

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des Klassenfeindes zu schützen, nicht erfüllt hat“.102 Das Verfahren fand bereits im Laufe der „ideologischen Offensive“ gegen Revisionismus und Militarismus im Jahr 1957 statt. Es fing wie üblich mit der Kritik an „falschen Auffassungen“ und Fehlern der betroffenen Genossen an (zum Beispiel Bezweiflung der sowjetischen Friedenspolitik, der Politik gegenüber Ungarn usw.), auf die eine Selbstkritik folgte. Sie war allerdings anderer Natur als vor 1956: Fehler wurden nicht nur zugestanden, sondern auch erklärt und entschuldigt. „Ich will jetzt keine individuelle Erklärung geben“, bekannte der betroffene Helmut Schatz in seiner Verteidigung. „Ich war jedenfalls dermaßen in Wut, dass ein solcher Zustand bei uns besteht und dass wir viele andere Aufgaben haben und uns nun mit diesen Dingen beschäftigen müssen. Deshalb kam ich in Erregung und habe nicht verstanden, dass die Genossen uns helfen wollen, und habe dort falsch reagiert. Ich habe auch dort zum Genossen Walter Ulbricht deutlich gesagt, dass ich nicht der Meinung bin, eine persönliche Veränderung durchzuführen.“103 Sowohl die Kritiker als auch der Kritisierte beriefen sich auf die „Leninschen Prinzipien des Parteilebens“. Über diese wurde hart gestritten, es fanden „eingehende, heftige, sehr deutliche Aussprachen“ in der Kreisleitung statt. Eine offene persönliche Auseinandersetzung folgte, die sich bald in ein unübersichtliches Getümmel verwandelte. Am zweiten Sitzungstag schlugen die Konservativen zu und gewannen schließlich die Oberhand, in dem sie die „Leninschen Prinzipien“ des demokratischen Zentralismus konkretisierten: Demnach sollte es nicht mehr darum gehen, in der Basis über die Parteibeschlüsse zu streiten, sondern darum, wie diese Beschlüsse richtig und schnell zu verwirklichen seien. Der reformistische Standpunkt wurde durch den Hinweis auf den unversöhnlichen Kampf zwischen der bürgerlichen und der sozialistischen Ideologie bezwungen: „Wollen sie unsere Partei,“ fragte ein Mitglied der Mansfelder SED-Bezirksleitung, „zu einer kleinbürgerlichen Reformpartei, zu einem Pfeifenklub herabdrücken, anstatt sie zu einem schlagkräftigen Instrument an der Spitze der Arbeiterklasse und zur Führung des komplizierten Kampfes zu machen?“104 Die Angst, die Partei sei kein „schlagkräftiges Instrument“ mehr, behielt in der Atmosphäre allgemeiner Verzweiflung verlässlich ihre Wirkungskraft. Das Gespenst der Kleinbürgerlichkeit ging in den Arbeiterparteien um. Die von oben kommende Kritik an der „bürgerlichen Lebensweise“ wurde in den Parteizellen umfassend rezipiert, wenn auch nicht immer zur Freude der Parteiführungen. Die Parteifunktionäre gestanden, dass die Partei, im Sinne des Demiurg-Musters, nicht fehlerfrei ist und irren kann. Entsprechend dem Muster 102 LHASA, MER, SED-Bezirksleitung Halle, IV/2/1/18, Plenarsitzung 11.–14.2.1957, Bl. 1. 103 Ebenda, Bl. 83. 104 Ebenda, Bl. 268.

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des „lokalen Personenkultes“ prangerten die Parteimitglieder „bürgerliches“ und „unmoralisches Leben“ der Parteifunktionäre an, ein Phänomen, das Walter Ulbricht als „Erscheinungen des Spießertums“ bezeichnete.105 Jenseits floskelhafter Hinweise auf die „Fehler der Kaderpolitik“ wurden sowohl lokale Funktionäre als auch zentrale Parteiführungen gnadenlos kritisiert. Innerhalb der KSČ richtete sich die Kritik vor allem gegen den bereits erwähnten Verteidigungsminister Čepička, bei dem angebliche moralische Missstände festgestellt wurden. Man geißelte Čepička für seine Unbescheidenheit und das Protegieren von Familienmitgliedern („Čepičkas Ehefrau ist angeblich zur Geburt ihres Kindes in die Schweiz gegangen“106) sowie für seine „bürgerliche Lebensweise“ (z. B. die Tatsache, dass Čepička in einer prunkvollen Prager Villa wohnte). Dieses Missverhalten soll sich dann von den höheren Parteitagen in die Bezirke und Kreise verbreitet haben. Funktionäre wurden der Überheblichkeit allein deshalb bezichtigt, weil sie zu den Parteiversammlungen mit dem Auto kamen.107 Bei solchen Vorwürfen griffen vor allem die aus der Arbeiterschaft stammenden Parteifunktionäre auf die traditionelle Opposition zwischen „uns hier unten“ und „denen da oben“ zurück.108 Um die identitätsstiftende Wirkung der Partei zu erneuern, musste man ihre Aura der „Reinheit“ vorübergehend beseitigen. Sie musste verweltlicht, zu einem weniger göttlichen Wesen gemacht werden. In diesem Sinne sind auch Verweise auf die „kleinbürgerliche Haltung der Parteifunktionäre“, „Parteiaristokratie“, Nepotismus, Trinkereien und Promiskuität in den Parteireihen zu verstehen. Besonders ausgeprägt war diese Kritik in den Gebieten mit einer starken Tradition der Arbeiterbewegung. Hier konnte die ursprünglich aus der Arbeiterbewegung stammende, abwertende Bezeichnung „Arbeiteraristokratie“ auch für die Kritik der zeitgenössischen Verhältnisse verwendet werden. Dieser Auffassung zufolge – ob in der Zwischenkriegszeit oder im Staatsozialismus – komme es zu einer Entfremdung der Funktionäre von der Masse der Arbeiter, in deren Zuge die Funktionäre zunehmend die Lebensweise des Bürgertums übernehmen und damit

105 Jan Foitzik, Ostmitteleuropa zwischen 1953 und 1956. Sozialer Hintergrund und politischer Kontext der Entstalinisierungskrise, in: Ders. (Hg.), Entstalinisierungskrise in Ostmitteleuropa 1953–1956, Paderborn 2001, S. 21–54, hier S. 43. 106 ZA Op, KV KSČ Ostrava, Plenarsitzung 29.4.1956, Bl. 72. 107 Ebenda, Bl. 69; SOA Lit, KV KSČ Ústí nad Labem, k. 7, Plenarsitzung 28.4.1956, Bl. 53. 108 Ähnlich stellt Peter Heumos die Wiederaufnahme gewerkschaftlicher Traditionen bei den tschechischen Industriearbeitern in den fünfziger Jahren fest. Siehe Stalinismus in der Tschechoslowakei. Forschungslage und sozialgeschichtliche Anmerkungen am Beispiel der Industriearbeiterschaft, in: Journal of Modern European History 2, 2004, S. 82–109, hier S. 99–102.

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eine moralische Zersetzung der gesamten Partei bewirken würden.109 Nun zogen die Kommunisten wieder eine Trennlinie zwischen „uns“, den einfachen Parteimitgliedern, und „ihnen“, der Parteibürokratie. Ähnlich wie in George Orwells Farm der Tiere (1945) wurden hohe Parteifunktionäre, die sich die Manieren der ehemaligen Bourgeoisie aneigneten, verspottet. Im Kohlerevier Ostrava in Mährisch-Schlesien, einer Region mit einer starken „roten“ Tradition, diskutierte man im Dezember 1956 die Frage der „Arbeiteraristokratie“ als Folge des „Personenkultes“: Wir bilden uns eine Arbeiteraristokratie aus, nicht nur aus Bergarbeitern, sondern aus der Intelligenz. Und diesen reicht nicht mal ein Auto, sondern sie halten sich neben der Ehefrau noch zwei, drei Geliebte. Sie wissen nicht, was sie mit dem Geld machen sollen. Unsere Kaderpolitik ermöglicht ihnen eine bürgerliche Lebensweise und dadurch sind sie im Stande, die sozialistische Moral zu zerrütten.110

Die Kritik zielte häufig auf den Alkoholmissbrauch. Obwohl die Anti-AlkoholKampagne eine wichtige stalinistische Mobilisierungsstrategie war, wiesen die poststalinistischen Denunziationen einen wesentlichen Unterschied auf: Nach 1956 bezichtigte man nicht nur lokale Parteifunktionäre des Trinkens, sondern auch Mitglieder der Parteispitze.111 Diese Veränderung ließ den Eindruck entstehen, dass die Partei als Ganze sich in einem kritischen, fehlerhaften Zustand befand. Zum Beispiel warf man in Ostrava im April 1956 der Prager Parteiführung Alkoholmissbrauch vor. „Des Weiteren möchte ich darauf aufmerksam machen,“ reagierte auf die Kritik das anwesende ZK-Mitglied Ďuriš, „dass wir uns nicht von sekundären Sensationen ablenken lassen. Es wird […] behauptet, dass wenn ein Funktionär vor Ort eine schlechte Moral hat (dělá špatnou morálku), wird er bestraft, dass sich aber die Genossen Zápotocký und Kopecký regelmäßig betrinken. Ich muss daran erinnern, dass Genosse Zápotocký nicht trinkt, und auch wenn er wollte, kann er nicht, weil er ein ärztliches Alkoholverbot hat. Genosse Nejedlý hat nie getrunken und auch Genosse Kopecký trinkt grund109 Vgl. LHASA, MER, SED-Kreisleitung Bernburg, IV/403/381, Jahrestag der DDR, Bl. 91. Zum Begriff „Arbeiteraristokratie“ Garet Stedman Jones, Class Struggle and the Industrial Revolution, in: New Left Review I/90, 1975, S. 35–69, hier S. 61ff.; John Breuilly, Arbeiteraristokratie in Großbritannien und Deutschland. Ein Vergleich, in: Ulrich Engelhardt (Hg.), Handwerker in der Industrialisierung, Stuttgart 1984, S. 497–527. 110 ZA Op, KV KSČ Ostrava, Plenarsitzung 14.–15.12.1956, Bl. 123. 111 Zum Alkoholismus im Staatsozialismus siehe Stephen White, Russia Goes Dry. Alcohol, State and Society, Cambridge 1996; Krzysztof Kosiński, Historia pijaństwa w czasach PRL. Polityka, obyczaje, szara strefa, patologie, Warszawa 2008.

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sätzlich nicht.“112 Auffällig ist vor allem die Offenheit, mit welcher die Parteimitglieder früher tabuisierte Themen behandelten. Während die Versuche des Parteizentrums, Alkoholismus in der Partei als „sekundäre Sensation“ zu verharmlosen, meistens ohne Erfolg blieben, bekräftigte die enge Assoziation der Spitzenfunktionäre mit Trunksucht den Prozess der Entzauberung der Partei, der 1956 einsetzte. Dass die Parteistellen das Alkoholproblem oft unter den Teppich zu kehren suchten, ist nicht überraschend. Die Öffnung des Parteidiskurses nach 1956 gab jedoch den Kritikern die Möglichkeit, die Missstände konsequenter zu benennen und sie auf das übergreifende politische Problem des Personenkultes zu beziehen. Viele Kommunisten nahmen Alkoholismus als ernsthaftes Problem wahr, das die Aktionsfähigkeit der Partei, ihre „Führungsrolle“ gefährdet. „Wir wollen nicht, dass unsere Genossen nur noch Milch trinken“, legte eine KSČ-Genossin aus Ústí im März 1957 dar, „sondern wir wollen, dass sich die Genossen amüsieren können, dass sie nicht mehr trinken, als sie vertragen und dass sie keinen erbärmlichen Anblick bieten. Wie sollen sie die führende Rolle spielen, wenn sich jeder von der Unfähigkeit unseres Funktionärs überzeugen kann, wenn er nachts grölend und schimpfend nach Hause torkelt.“113 Die Parteileitungen haben auf das Alkoholproblem in der Regel erst dann reagiert, wenn die Situation bereits unhaltbar war und die betreffenden Genossen entlassen werden mussten. Wie in Ungarn 1956 handelte man erst in letzter Minute, ohne der Gefahr vorzubeugen. Alkoholismus, Personenkult und Konterrevolution hingen eng zusammen: Ihr lacht darüber, Genossen. Aber das solltet ihr nicht. Das schadet uns wirklich sehr. Der Genosse von der Sicherheit hat auch über diese Sachen geredet. Ihr seht, dass die Sicherheitsorgane heutzutage vor großen Aufgaben stehen. Wir wollen von ihnen, dass sie die Spione drankriegen, doch sie müssen auch die Säufer drankriegen. Einmal war ich nach einer Versammlung mit einem Genossen in der Gaststätte zum Abendessen und der Genosse neben mir bekam schon vor dem Essen einen schwarzen Kaffee mit einem großen Rum. Da hab ich mir gedacht, herrje, dich kennt man hier wohl. Dann hat er noch vier Rum getrunken, und als wir gegangen sind, ist er noch geblieben. Das ist zum Lachen aber auch zum Heulen. […] Wenn ein Mensch besoffen ist, macht er doch jeden Mist. Wir haben Funktionäre, über die heißt es, sie würden für ein paar Huren und drei Flaschen Wein wer weiß was verkaufen. Solche Leute wären bereit, im Suff den örtlichen Nationalausschuss, den Kreisnationalausschuss oder sonst was zu verhökern.114

In Polen diente Ende der fünfziger Jahre die Bezeichnung chuligaństwo als ein Sammelbegriff für negative Erscheinungen in der Partei. Er schloss u. a. Absentismus, Fluktuation, Promiskuität, Diebstahl und Veruntreuung des Staats112 ZA Op, KV KSČ Ostrava, Plenarsitzung 14.–15.12.1956, Bl. 123, und 29.4.1956, Bl. 84. 113 SOA Lit, KV KSČ Ústí nad Labem, Krajská konference, 16.–17.3.1957, Bl. 293. 114 Ebenda, Bl. 294.

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eigentums ein. Berichte der PZPR-Kontrollkommissionen aus den sechziger Jahren geben ein trübes Bild des „Parteilebens“ wider. Neben chuligaństwo wimmelte es in den Referaten von anderen kritischen Ausdrücken wie „unmoralisches Verhalten“ und „Demoralisierung“. Die Parteiorgane bemühten sich, diese Erscheinungen entschieden zu „bekämpfen“, was im zeitgenössischen Sprachgebrauch „prophylaktische Maßnahmen“ hieß (działalność profilaktyczna). Ein gutes Beispiel gibt die Diskussion des Kontrollkomitees der PZPR Wrocław von 1966. Die kritisierten Erscheinungen schlossen „Mangel an Vertrauen“, „Unterdrückung von Kritik“, „Mafia-Machenschaften“, „Alkoholismus und Schlägereien“, „Fluktuation der Kader“ und „Wirtschaftskriminalität“ sowie Kirchenbesuche ein. Gleichwohl belegen die Verbesserungsversuche der lokalen Parteileitungen den Wandel der parteiinternen Legitimität, denn offensichtlich nahmen die Funktionäre diese Vorfälle ernst und bemühten sich aufrichtig, sie zu überwinden.115 Dabei unterstrich man stets die Prozessualität und Langfristigkeit der Verbesserung. In der zeitgenössischen Sprache hieß diese Politik „systematische Vervollkommnung“ (systematyczne doskonalenie). Die Verweise auf „negative“ Fakten mussten aber die Binnenlegitimation der Partei nicht unbedingt destabilisieren. Vielmehr förderten sie die „Bekämpfung von Missständen“ an der Parteibasis. Parteiversammlungen wurden nach 1956 in der Regel mit den Aufrufen des „Parteiwachstums“, der „dauernden Verbesserung der Parteiführung“, der Verstärkung des Parteieinflusses“ oder der „Verbesserung der sozialen Zusammensetzung der Partei“ beendet. Später riefen diese Appelle an die Überwindung des chuligaństwo wichtige Mobilisierungseffekte hervor, vor allem angesichts der starken Unterstützung durch die Parteibasis während der polnischen Krise in den späten sechziger Jahren: Im März 1968 zeigte sich die polnische Partei wieder als die „stählerne Faust“ im Kampf gegen die „Elemente“.116 115 AAN, KC PZPR, 237/VII-5168, KW PZPR Wrocław, Plenarsitzung 28.12.1966, Bl. 340ff. 116 Eine polnische Studie von 1956 führt chuligaństwo auf vorsozialistische Ursprünge, vor allem die Besatzung zurück: die Gewalterfahrung, „moralische Verwüstung“ (spustoszenie moralne), die allgegenwärtige Todesgewalt, die Herabminderung des Wertes des Menschenlebens sowie auch auf den Einfluss von „reaktionären Faktoren“ (czynniki reakcyjne). Zugleich berücksichtigte die Studie auch „Gegenwartsfaktoren“ und fasste dabei den „Klassenfeind“ neu: Er sei kein Bandit im Wald mit Revolver in der Hand mehr, sondern verführe die polnische Jugend zu Alkoholismus, Gewalt, westlicher Musik und Hooliganismus. Chuligaństwo war auch Produkt des Wandels der Arbeiterklasse: „Die heutige Arbeiterklasse unterscheidet sich doch in ihrer Ganzheit vom Proletariat, das um seine Rechte unter dem Kapitalismus kämpfte. Sie ist sehr schnellen Veränderungen unterworfen. Unter den Arbeitern gibt es Millionen von Bauern, die erst gestern vom Lande kamen, ein Teil sind Kleinbürger und das frühere Lumpenproletariat, das durch den Gewinn einer festen Arbeitsstelle doch seine alten Traditionen noch nicht für immer

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Nach 1956 verfestigte sich unter den Kommunisten die Sicherheit, dass die Partei die neuen Probleme überwinden und dadurch „innerlich stärker“ werde. Die Erfahrung der existenziellen Krise konnte die Partei „stählen“. Wie ein junger KSČ-Genosse im Frühling 1956 sagte, glaubte man auch sogar während der Slánský-Affäre uneingeschränkt an die Partei, und solche Glaubensbekenntnisse blieben fest im neuen Parteidiskurs verankert, auch wenn die Partei nicht mehr als das einst unantastbare Heiligtum dastand. Der Gott war nicht tot, er verwandelte sich nur in einen Demiurg, der Fehler machte und sie später immer wieder korrigieren musste.117

Das Dilemma der Diktatur und der Gewalt Kaum ein anderer ideologischer Grundbegriff bereitete den Kommunisten mehr Schwierigkeiten als Diktatur im Allgemeinen und Diktatur des Proletariats im Besonderen. Die Diktatur stellte von Anfang an in der marxistischen Theorie ein Dilemma dar, sei es in ihrem Inhalt als Gegensatz und zugleich Hüter der Demokratie und der Verfassung, sei es bezüglich ihrer Zeitlichkeit als temporäre oder permanente Diktatur. Marx selbst, bevor er den Begriff der Diktatur des Proletariats zum ersten Mal benutzte, verstand Diktatur meistens im negativen Sinne, als Diktatur einer Person, als Tyrannei. Als Gegensatz zur bestehenden „Diktatur der Bourgeoise“ verkörperte auch die Diktatur des Proletariats die Herrschaft über den Rest der Gesellschaft. Gleichwohl benutzte Marx selbst den Ausdruck ebenso in seinen klassischen Bedeutungen, als die Diktatur einer repräsentativen Institution oder eines Einzelnen.118 Während jedoch die Klassiker des Marxismus mit dem Begriff der Diktatur des Proletariats zum ersten Mal ein Kollektiv zum Herrscher machten, zögerten sie stets, dieses Kollektiv genau zu los wurde.“ Chuligaństwo wird somit in der Sprache des Poststalinismus erfasst: Es sei ein Ergebnis der gesellschaftlichen Entwicklung, von „Fehlern und Vernachlässigungen“, und lasse sich nur „systematisch“ bekämpfen. Eine weitere negative Begleiterscheinung des Stalinismus sei die einseitige Förderung der Jugend und die Entwertung des Alters gewesen. Die Bevorzugung des „Neuen“ gegenüber dem „Alten“ habe negative Folgen für das Zusammenleben der Generationen gehabt. Tadeusz Cyprian, Chuligaństwo wśród młodzieży. Problem społeczny i prawny, Poznań 1956, S. 12–33. 117 ZA Op, KV KSČ Ostrava, Plenarsitzung 3.–4.4.1956, Bl. 7. 118 Bertram D. Wolfe, Marxism. One Hundred Years in the Life of a Doctrine, New York 1965, S. 151ff. Zur Begriffsgeschichte vgl. Ernst Nolte, Diktatur, in: Otto Brunner u. a. (Hg.), Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 1, Stuttgart 1972, S. 900–924; Jan C. Behrends, Diktatur: Moderne Gewaltherrschaft zwischen Leviathan und Behemoth, Version: 1.0, in: DocupediaZeitgeschichte, 6.6.2012.

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definieren. Sie oszillierten zwischen der Klasse und der Partei, und dieser Zwiespalt haftete der kommunistischen Ideologie immer an. Marx und Engels betrachteten die Emanzipation der Arbeiterklasse als deren eigenes Werk und glaubten, erst muss sich die Klasse konstituieren, dann die Partei. Es bestand also eine klare Hierarchie zwischen den beiden. Falls es eine Partei der Arbeiterklasse geben solle, müsste sie die gesamte Arbeiterklasse integrieren und vertreten.119 Lenin vertrat eine abweichende Auffassung. Er bevorzugte nicht eine Partei der Arbeiterklasse, sondern eine Partei für die Arbeiterklasse: Das war Lenins bekannte Erfindung der Partei als Avant-Garde-Organisation professioneller Revolutionäre.120 Lenin machte sich nie die Marxsche Idee aus dem Kommunistischen Manifest zu eigen, dass „die Kommunistische Partei keine besondere Partei von den anderen Parteien der Arbeiterklasse“ bildet, vom Demokratisierungsprogramm des späten Engels ganz zu schweigen. Lenin wollte von der Partei als einem „natürlichen Wachstumsprozess“, der sich durch Erfahrungen und Fehler entwickelt, voller Solidarität und kritischem Bewusstsein, nichts hören.121 Daher auch das Leninsche Verständnis der Diktatur. In Was Tun (1902) und ebenso in Staat und Revolution (1917) formulierte Lenin seine später einflussreichen Ideen der militärischen Organisation der Partei, der professionellen Revolutionäre und des strengen Zentralismus. Der revolutionären Spontaneität stellte Lenin strikte Disziplin entgegen. In Staat und Revolution formulierte Lenin den Begriff der Diktatur als Suspendierung aller Beschränkungen der Macht.122 Auf der anderen Seite – und dies sollte zu einem der Schlüsselmomente der poststalinistischen Verwirrung werden – standen Diktatur und Demokratie nie im Gegensatz, weder bei Marx noch bei Lenin und nicht einmal bei Stalin, wie auch immer sie diese Konzepte verstanden. Das Kommunistische Manifest besagte, dass durch die Herrschaft der Arbeiterklasse Demokratie erreicht werden solle. Lenin benutzte oft die Bezeichnung „demokratische Diktatur“, und auch Stalin machte vom Begriff der Demokratie Gebrauch. So sprach er in Fragen der Geschichte des Bolschewismus (1931) von einer „revolutionären demokratischen Diktatur des Proletariats und des Bauerntums“.123 Paradoxerweise standen im Stalinismus Demokratie und Massenmobilisierung einerseits und Diktatur und Terror andererseits nicht im Widerspruch zueinander. Die revolutionäre Gewalt gehörte fest und vor allem unverhüllt zur stalinistischen Utopie. Im Stalinismus war der Terror alles andere als ein Geheimnis –

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Wolfe, Marxism, S. 188f. Ebenda, S. 194. Zit. n. ebenda, S. 195. Walicki, Marxism, S. 302. J. V. Stalin, Über einige Fragen der Geschichte des Bolschewismus, Berlin 1950 (1931).

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so Karl Schlögel.124 Wie Stalins These von der „Verschärfung des Klassenkampfes“ und die von ihr abgeleitete Praxis belegen, gehörte Terror zum „Aufbau des Sozialismus“. Die diktatorische Gewalt des Stalinismus wurde nicht nur von oben nach unten ausgeübt. Für viele war erst Stalins Revolution aufgrund ihrer beispiellosen Radikalität eine echte Revolution, die den einen Chancen nahm und sie anderen gab. Die materielle Not musste nicht unbedingt den Glauben an die Revolution schwächen. Ganz im Gegenteil, häufig förderte sie die Entschlossenheit der Vielen, für eine bessere Welt zu kämpfen. Deshalb gingen die Angst vor Terror und die Begeisterung für die Vision einer neuen Gesellschaft Hand in Hand. Der Terror war mehr als eine machttechnologische Kampagne des Repressionsapparates; er erfasste ganze Gesellschaften, die im Glauben an eine bessere Zukunft eine beispiellose Gewalt an sich selbst verübten. Mit Wendy Goldman kann man von einer gegenseitigen Durchdringung von Terror und Demokratie im Stalinismus sprechen.125 Demzufolge wurden die Begriffe der Diktatur und der Demokratie neben dem Begriff des Personenkultes zu den prägenden Kräften des poststalinistischen Gewirrs. Chruschtschow sprach in seiner Geheimrede nicht ausdrücklich von der „Diktatur des Proletariats“, wahrscheinlich deshalb, weil man sie zu stark mit Lenin assoziierte, dem Helden der poststalinistischen symbolischen Ordnung, der mit Gewalt nicht in Verbindung gesetzt werden sollte. Chruschtschow begrenzte den Bezug auf Gewaltanwendung allein auf Stalin. Dieser war es, der „brutale Gewalt“ anwendete, eine „krasse Vergewaltigung der revolutionären Gesetzlichkeit“ beging und „massenhafte Repressalien“ anordnete. Ohne den Begriff der Diktatur des Proletariats zu benutzen, beschränkte Chruschtschow Lenins Verständnis der „revolutionären Gewalt“ auf den Zeitraum, „als noch starke Ausbeuterklassen existierten“.126 Lenins Aufhebung der Todesstrafe im Jahr 1920 sei der deutlichste Ausdruck der Beendigung der „revolutionären Gewalt“ gewesen, eine Entscheidung, von der Stalin später Abstand nahm. „Diktatur“, vorübergehend eindeutig negativ konnotiert, sollte in Zukunft dem Verbrecher Stalin zugeschrieben werden, während man sie ungern im Zusammenhang mit Lenin benutzte. Chruschtschows Stalin-Kritik fußte außerdem mehr auf dem Begriff des Terrors als auf dem der „Diktatur“. Natürlich haben auch die Bolschewiki „Massenterror“ verbreitet, aber ausschließlich während des Bürgerkrieges und, mit 124 Karl Schlögel, Utopie als Notstandsdenken – einige Überlegungen zur Diskussion über Utopie und Sowjetkommunismus, in: Wolfgang Hardtwig (Hg.), Utopie und politische Herrschaft im Europa der Zwischenkriegszeit, München 2003, S. 77–96, hier S. 92ff. 125 Wendy Z. Goldman, Terror and Democracy in the Age of Stalin. The Social Dynamics of Repression, Cambridge 2007. 126 Chruschtschow, Geheimrede S. 30.

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Lenin gesprochen: Der Terror „wurde uns durch den Terrorismus der Entente aufgezwungen“.127 Damit machte Chruschtschow deutlich, dass der bolschewistische Terror ausschließlich im „Ausnahmezustand“ legitimierbar war. Stalin verwandelte den Ausnahmezustand in einen Normalzustand und übte den Terror gegen die Partei selbst aus. Während Chruschtschow den Ausdruck „Terror“ mehr als zwanzigmal in der Rede zitierte, gebrauchte er das Wort „Klassenkampf“ nur einmal, und zwar im Kontext der Kritik am Stalinschen Schlagwort „Verschärfung des Klassenkampfes“. Somit verlor „Klassenkampf“ seine eindeutig positive Konnotation. Die Rezeption der Geheimrede in anderen kommunistischen Parteien in Ost und West brachte jedoch den Begriff der Diktatur zurück ins Spiel: sowohl im negativen als auch im positiven Sinne. Einige wollten den Begriff retten, andere schrieben ihn ab. Gomułka stellte in seiner Oktober-Rede die Diktatur des Proletariats als „die umfassendste Demokratie für die Arbeiterklasse und Arbeitermassen“ in Gegensatz zur Stalin-Herrschaft, zum „Terror“, der sich auf „Bürokratie, auf die Verletzung der Gesetzlichkeit, auf Gewalt“ stützte.128 Er benannte offen die „tragischen Tatsachen“, sprach vom „bestialischen Foltern“ und sah ein: „Terror und Demoralisierung verbreiteten sich.“129 Noch weiter als Gomułka ging Wudzki, indem er die Anwendung der Gewalt in Polen suggestiv beschrieb und den Sicherheitschef Jakub Berman attackierte: Die ganze Stadt wusste, dass Menschen ermordet werden; die ganze Stadt wusste, dass es Gefängnisse gibt, in denen Menschen bis zu drei Wochen lang bis zu den Knöcheln in Exkrementen stehen; die ganze Stadt wusste, dass Różański persönlich den Menschen die Fingernägel ausreißt; die ganze Stadt wusste, dass er sie mit kaltem Wasser begießt und in den Frost schickt; der Genosse Berman, Mitglied der Sicherheitskommission, wusste es nicht.130

Der Begriff der Diktatur des Proletariats geriet vorübergehend in semantische Unsicherheit und wurde zu einem typisch poststalinistischen Dilemma für die Parteien, genauso wie solche Begriffe wie „revolutionäre Gewalt“ oder „Klassenkampf“. Einerseits waren die Kommunisten dazu gezwungen, die stalinistische Diktatur und den „verschärften Klassenkampf“ zu verurteilen; andererseits mussten sie die „Diktatur des Proletariats“ so umdeuten, dass ihr demokratisches Wesen beibehalten blieb und der Bezug zu Lenin wiederhergestellt wurde. Die Utopie der Gewalt war vorbei; es sollten nun die sozialistische Gesetzlichkeit und 127 128 129 130

Ebenda. Gomułka, Rede auf dem VIII. Plenum, S. 19. Ebenda, S. 42. Nowe Drogi 10, 1956, Nr. 10, S. 61; Józef Różański (1907–1981) galt als einer der brutalsten Ermittler der kommunistischen Staatssicherheit in Polen. Nach Stalins Tod wurde er entlassen und 1955 zu fünf Jahren Haft verurteilt.

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Ordnung anfangen. Der Diktaturbegriff musste jedoch auch deshalb gerettet werden, weil er auf viel zu vielen semantischen Feldern präsent war, vor allem in den historischen Selbstdarstellungen der Partei. In der offiziellen Theorie war man sich über die Diktatur und Gewalt im Unklaren, vor allem in der Unterscheidung dessen, was noch leninistisch und was bereits stalinistisch war. Stalins Theorien und seine Sprache des Kampfes, der Gewalt und der Diktatur ließen sich nicht so schnell vergessen. Gerade in der Kampfrhetorik gab es viele Überschneidungen und Kontinuitäten mit der Sprache des Stalinismus. Dieses Schwanken zwischen der radikalen, an den Stalinismus erinnernden Kampfrhetorik zeigt sich bereits in den poststalinistischen Parteistatuten. In den Präambeln der SED-Statute von 1959 und 1963 war von der Errichtung der Parteiherrschaft nach 1945 die Rede.131 Aber zwischen den beiden Dokumenten gibt es wesentliche Unterschiede. In den früheren Statuten ging es um die „Errichtung der Macht der Arbeiter und Bauern“; in den späteren wurde das Kampfvokabular teilweise wieder aufgegriffen, indem Diktatur und Demokratie zusammengedacht wurden. 1963 ging es um „[d]ie demokratische Diktatur der Arbeiter und Bauern“ und „Diktatur des Proletariats“ als „die breiteste Demokratie für das Volk“. Das SED-Statut von 1963 spricht zwar vom „Kampf“, aber nicht mehr gegen die Feinde, die es zu zerschlagen galt, sondern „um die Sicherung des Friedens“ und allgemein „gegen den Imperialismus“. Zugleich ist von der Sicherung der Staatsgrenze „gegen die imperialistischen Aggressoren“ die Rede. Die poststalinistische Unsicherheit und Verwirrung schlugen sich auch in Erich Honeckers Broschüre aus dem Jahr 1959 über die „führende Rolle der SED“ nieder, in welcher er Stalins Hochschätzung der Diktatur erneut im positiven Sinne zitierte: Die Diktatur sei, „wie J. W. Stalin feststellte, das Instrument in der Hand des Proletariats […] zur Festigung und zum Ausbau der Diktatur, nachdem sie erobert ist“.132 Im Hinblick auf die Diktatur gab es ein Wechselspiel zwischen der reformistischen Verurteilung der diktatorischen Gewalt und der stalinistischen Kampfrhetorik. In den PZPR-Statuten aus den Jahren 1960 und 1969 tauchte der Ausdruck der Diktatur nicht auf. Die zentrale Rolle spielte dagegen die „sozialistische Demokratie“. Gleiches galt auch für die KSČ nach 1963 und besonders während des Prager Frühlings. Das Parteistatut von 1966 beschränkte die Diktatur des Proletariats auf die kurze Phase nach der Machtübernahme („Durch den Sieg über die reaktionären Kräfte verfestigte und entwickelte sich die Diktatur des Proletariats weiter, womit der Weg zum Aufbau des Sozialismus frei gemacht

131 Statut der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, Berlin 1959; Statut der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, Berlin 1963. 132 Honecker, Die führende Rolle, S. 8.

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wurde.“133). Das Aktionsprogramm der KSČ von 1968 deutete die Diktatur des Proletariats negativ als die Widersacherin der „sozialistischen Demokratie“. Die „Methoden der Revolutionsdiktatur entarteten allmählich (zvrhávaly se) zu Bürokratismus.“ Die führende Rolle der Partei sei als Monopolakkumulation der Macht durch die Parteiorgane verstanden worden, was der falschen These entsprochen habe, dass „die Partei ein Instrument der Diktatur des Proletariates sei“.134 Die Ratlosigkeit der Parteiideologen über den Begriff der Diktatur135 verrät eine polnische Broschüre über die führende Rolle der Partei aus dem Jahr 1960, die die „Diktatur des Proletariats“ als eine „komplizierte Frage“ bezeichnete, die man von „vielen Gesichtspunkten“ aus betrachten könne. Offensichtlich wollte die Partei den Begriff bewahren, auch wenn er von Stalin diskreditiert worden war. Die Autoren der Broschüre bemühten sich, die „Diktatur der Partei“ (die als ein Synonym für Personenkult galt) zurück in die „Diktatur des Proletariats“ zu verwandeln und den Eindruck zu widerlegen, dass Diktatur generell eine stalinistische Idee sei – eine Ansicht, die nach 1956 in der Partei durchaus verbreitet war. Stattdessen sollten sich die Genossen an die Leninschen Wurzeln des Begriffes erinnern und somit seinen Platz in der poststalinistischen Ideologie rechtfertigen.136 Ein ähnliches Rettungsmanöver, das in das Bild der „gereinigten“ Partei passte, vollführte eine tschechoslowakische Broschüre über die „sozialistische Demokratie“ von 1963. Die Diktatur müsse als ein wichtiges Unterscheidungsmerkmal gegenüber dem Revisionismus und der bürgerlichen Ideologie bestehen bleiben. Die Autoren nutzten verschiedene Strategien, um „Diktatur“ in die poststalinistische Denkwelt zu integrieren: Sie hoben den temporären Charakter der Diktatur hervor, verbanden sie mit „allen Werktätigen“ und machten sie von einem spezifischen Kontext abhängig („Die Diktatur des Proletariats kann man nicht mit jeder sozialistischen Herrschaft gleichsetzen, sondern nur mit einer ganz spezifischen Form von Klassenherrschaft.“137); weiter relativierten sie die Anwendung der Gewalt („Unter bestimmten geschichtlichen Umständen kann die 133 Stanovy KSČ, Praha 1966, S. 6. 134 Aktionsprogramm der Kommunistischen Partei der Tschechoslowakei, angenommen auf dem Plenum des Zentralkomitees der KPTsch am 5. April 1968 (Übersetzungs- und Informationsdienst Sudetendeutsches Archiv), München 1968, S. 12 und 25. 135 Typisch für diese Instabilität sind György Lukács‘ Schwankungen zwischen „demokratischer Diktatur“, „Volksdemokratie“ und „friedlicher Koexistenz“. Vgl. Michal Kopeček, Hledání ztraceného smyslu revoluce. Zrod a počátky marxistického revizionismu ve střední Evropě 1953–1960, Praha 2009, S. 248–258. 136 Adam Łopatka, Kierownicza rola partii komunistycznej w stosunku do państwa socjalistycznego. Zasady leninowskie, Poznań 1960, S. 44ff. 137 Miloš Bárta, Socialistická demokracie (Vědecký komunismus, Bd. 11), Praha 1964, S. 8.

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Diktatur des Proletariats im engeren Sinne unausweichlich werden, und dann wird freilich Gewalt, die unmittelbar auf bewaffneten Massen und nicht auf Gesetz gründet, zum wesentlichen und unausweichlichen Merkmal der Diktatur“138); und schließlich assoziierten sie die Diktatur mit Befreiung, Emanzipation und Demokratie und betonten hiermit ihren schöpferischen Zweck: Alle Revolutionen haben die alte Gesellschaftsordnung zerstört. Lediglich die sozialistische Revolution beschränkt sich nicht auf Zerstörung und erschöpft sich nicht in der Gewaltausübung. Gewalt, das heißt die Niederschlagung der Ausbeuter, spielt darin nur eine untergeordnete Rolle. Zwar stellt sie einen wesentlichen Bestandteil der Diktatur des Proletariats dar, aber nicht als ihr Ziel, sondern als eines der Mittel, als eine notwendige Voraussetzung ihrer weiteren Wirksamkeit. Von Natur aus ist die Diktatur des Proletariats tief schöpferisch, denn sie richtet sich auf die Herausbildung neuer Gesellschaftsbeziehungen aus.139

Die Diktatur war somit kein Ziel, sondern nur eines der Mittel. Durch seinen wechselhaften Gebrauch wurde der Begriff der Diktatur austauschbar, zum Beispiel in Verbindung mit Bezeichnungen wie „sozialistische Macht“, „sozialistische Herrschaft“, „sozialistischer Staat“. In der vollständigen Verkehrung seiner Bedeutung avancierte die Diktatur des Proletariats sogar zum Mittel des Kampfes gegen den Stalinismus, indem sie „den entscheidenden Schritt zur Überwindung des Bürokratismus“ tat. Der Nachdruck auf „verschiedene historische Formen der Diktatur des Proletariats“ passte in das fragmentierte poststalinistische Geschichtsbild. Die Öffnung des ideologischen Diskurses und die zeitweise Schwächung der Deutungshegemonie der Parteiführungen zeigen sich im mangelnden Vermögen der ideologischen Texte, diese Unsicherheit zu verbergen. Sie wurden immer weniger apodiktisch und stellen oft (rhetorische wie inhaltliche) Fragen: „Diese Tatsachen zwingen uns die Frage zu stellen, deren Beantwortung grundsätzlich ist: Können wir den Staat der Diktatur des Proletariats noch für einen Staat im eigenen Sinne des Wortes halten?“140 Oder, wie es die polnische Broschüre formulierte: „Allerdings entsteht die Frage, was für eine Legitimation die Partei dazu hat, den Staat zu lenken.“141 Diese fragende Art war sowohl dem Ideologiediskurs des Stalinismus als auch dem des Spätsozialismus fremd. Während der erste immer wieder neue, bisher nicht artikulierte Ziele setzte und versprach, diese mit Sicherheit zu erreichen, vermied der letztere offene Fragen schlechthin und formulierte künftige Aufgaben nur anhand des bereits fest definierten Wissens

138 139 140 141

Ebenda, S. 8. Ebenda, S. 11. Ebenda, S. 31. Łopatka, Kierownicza rola, S. 36.

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über die Zukunft.142 Während sowohl Stalinismus als auch Spätsozialismus zwei unterschiedliche Formen der Zukunftssicherheit repräsentieren, zeigt sich der Poststalinismus als eine Übergangsform ohne einen fest etablierten Kanon von Erklärungen. Die innere Widersprüchlichkeit des entstehenden autoritativen Diskurses des Poststalinismus wurde durch eigensinnige Deutungen der „Diktatur des Proletariats“ an der Parteibasis weiter verstärkt. Die verschiedenen „ideologischen Offensiven“, mit denen die Parteiführungen den Aneignungsprozess zu unterbinden versuchten, haben die Fragmentierung nicht gestoppt, im Gegenteil. Auch in der Gewalt- und Diktaturfrage herrschten „Verwirrung“ und „Unklarheiten“, die die Parteiideologen durch „Überzeugungsarbeit“ zu überwinden suchten. Ein gutes Beispiel für die Instabilität des Diktaturbegriffes bietet die im ersten Kapitel behandelte SED-Kampagne zum Lehrbuch Grundlagen des Marxismus-Leninismus aus den frühen sechziger Jahren. Die zu schulenden Propagandisten zerbrachen sich den Kopf über die Fragen der Diktatur und der Errichtung der Parteiherrschaft. „Diktatur“ wurde vielfältig, negativ wie positiv, verstanden, einen eindeutigen Sinn erhielt der Begriff nie. Man konnte verschiedene Regime, „gute“ wie „böse“, als Diktatur bezeichnen. Bei der Niederschlagung des ungarischen Aufstandes von 1956 schrieb man das Label der Diktatur der Kadarschen Restaurationspolitik zu, wie in der SED-Organisation Mansfeld: In der Parteigruppenversammlung übertage I sagte der Genosse V., dass im Bus über das Urteil gegen die ungarischen Konterrevolutionäre diskutiert wurde. Einige Kollegen hätten gesagt, hier zeigt sich die Diktatur der „Roten“. Die Namen konnte er allerdings nicht sagen. In dem Bus wurden noch keine Auseinandersetzungen geführt.143

Diese Umdeutung wurde offensichtlich dadurch erleichtert, dass man am Ausdruck „faschistische Diktatur“ festhielt – z. B. waren Phrasen wie „der Klassencharakter der faschistischen Diktatur“ gang und gäbe. Das steigerte die begriffliche Verwirrung weiter. Unklarheiten herrschten auch im Zusammenhang mit Faschismus und Westdeutschland. Noch 1966 konnte man in der SED von einer „faschistischen Diktatur in Westdeutschland“ sprechen. In einem Lehrgang zur Geschichte der Arbeiterbewegung in Brandenburg stellten die Kursteilnehmer die folgenden Fragen: „Kann man gegenwärtig von einer faschistischen Diktatur in Westdeutschland sprechen? […] Ist die faschistische Machtergreifung als ein Zeichen der Schwäche oder der Stärke des Monopolkapitals zu werten? War sich die KPD stets über den Klassencharakter des Faschismus im Klaren?“144 142 Yurchak, Everything Was Forever, S. 72f. 143 LHASA, MER, SED-Kreisleitung Mansfeld, IV/413/124, 23.6.1958, Bl. 145. 144 SAPMO, DY 30/IV A2/9.07/252, Fragen der Teilnehmer des Lehrgangs an der Parteischule Brandenburg vom März 1966, 21.3.1966, unpag.

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Die Parteimitglieder waren vor allem durch die Vielfalt der Subjekte verwirrt, die um die „Diktatur“ herum in der Parteigeschichte handelten und praktisch austauschbar erschienen: die Arbeiterklasse, das Proletariat, die Partei, die „sozialistische Macht“, der sozialistische Staat. Hinzu kam die komplexe Chronologie der Revolution und des Sozialismusaufbaus: „Einige Genossen“, so ein Bericht aus der SED-Organisation Gera vom Juli 1960, „waren sich auch im Unklaren über das Verhältnis der Partei im System der Diktatur des Proletariats. […] In Greiz machten sich einzelne Genossen zum Fürsprecher der ‚Theorie‘ des Absterbens des Staates und brachten dies in solchen Darlegungen zum Ausdruck, indem sie behaupten, in der Sowjetunion und ČSSR wäre die Diktatur des Proletariats nicht mehr notwendig, da ja der Sozialismus gesiegt hat.“ Andere Diskutierende haben wiederum die Diktatur des Proletariats mit der Diktatur der Partei gleichgesetzt.145 Die Gefahr war klar: Die „Diktatur der Partei“ drohte besonders nach den ungarischen Ereignissen leicht zur „Diktatur der Roten“ zu werden. Vielen Kommunisten leuchtete die „Notwendigkeit“ der Diktatur nicht ein und auch die Parteilektoren, die die Grundlagen des Marxismus-Leninismus in den Schulungen zu erklären hatten, zeigten sich ratlos: Einige Genossen setzten Diktatur des Proletariats mit der Hegemonie des Proletariats gleich und behaupteten somit, dass wir bereits 1945 die unumschränkte Herrschaft der Arbeiterklasse hatten. Daraus wurde weiter geschlussfolgert, dass wir bereits seit 1945 den Sozialismus aufbauen. Immer noch sind die Fragen der Klassenstruktur und des Klassenkampfes unklar. In Prenzlau und mehreren anderen Kreisen trat die Meinung auf, weil die Frage wer–wen bei uns entschieden ist, gibt es keinen Klassenkampf mehr. Oder die nationale Bourgeoisie wurde bei uns 1945 völlig enteignet und deswegen gäbe es auch keine Kapitalisten mehr in der DDR.146

Im Kreis Hoyerswerda herrschten Unklarheiten über die chronologische Abfolge der bürgerlich-demokratischen und sozialistischen Revolution. Auch den Platz der „Diktatur“ im revolutionären Prozess erkannten die Genossen nicht: „Woraus ergibt sich die historische Notwendigkeit der Diktatur des Proletariats in der Übergangsperiode?“147 Oft wurden die konkreten historischen Bedeutungen der Diktatur angezweifelt und ganz verschiedenen „Regimes“ zugeschrieben; diese historische Bedeutungsvielfalt und die zunehmend dialogische Form des Parteidiskurses bedrohte jedoch nicht die autoritative Geltungskraft des Begriffes. Zum 145 SAPMO, DY 30/IV 2/9.02/ 94, Einschätzung zum Thema 2 des Lehrbuchstudiums, 22.7.1960, Bl. 104; SAPMO, DY 30/IV 2/9.02/93, Einschätzung des Standes des Studiums, Halle 23.7.1960, Bl. 78. 146 SAPMO, DY 30/IV 2/9.02/91, Bericht über die Durchführung des Beschlusses des Politbüros vom 15.3.1960, Bl. 68. 147 SAPMO, DY 30/IV 2/9.02/92, Einschätzung über den Inhalt und den gegenwärtigen Stand des Studiums „Grundlagen“ im Bezirk Cottbus, 15.6.1960, Bl. 150.

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Beispiel in seiner Diskussion über den Grundriss der Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung (1963) stellte das Arbeitskollektiv des VEB Waggonbau Dessau die Notwendigkeit der Diktatur zwar in Frage, doch hielten die Genossen an der allgemeinen Geltung der vom Lehrbuch verfassten Deutung fest: Kollege Alisch, Mitglied der BGL, brachte in der Diskussion über den Grundriss zum Ausdruck, dass die Formulierung Diktatur des Proletariats heute nicht mehr zutreffend ist. Er begründete es damit, dass diese Formulierung zutreffend ist für das Proletariat als Besitzlose und dass es richtiger wäre, zu sagen, Diktatur der Arbeiterklasse. In der Diskussion wurde ihm erwidert, dass der Grundriss der Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung eben ein historischer Grundriss ist und infolge dessen die historischen Kategorien zutreffend sind.148

Die Suche nach dem „wahren Sinn“ der Diktatur prägte die gesamten sechziger Jahre und entwickelte sich somit zu einer stabilisierenden Praxis der Ideologiereproduktion. Der Glaube an die endgültige Klärung der ideologischen Begriffe, die in der Gegenwart „noch nicht“ erreicht wurde, blieb in der poststalinistischen Sinnwelt auf Dauer bestehen: Noch 1970 stellte ein Bericht aus Schwerin fest, dass „den tiefen demokratischen Charakter der Diktatur zu verstehen […] einigen Genossen noch viel Mühe“ macht.149 Mit dem Diktatur-Begriff eng verbunden war die Frage der „revolutionären Gewalt“. Sie bereitete den Parteimitgliedern deshalb größere Schwierigkeiten, weil in der poststalinistischen Deutung physische Gewalt von der Partei aufs strengste getrennt wurde: Die Partei an sich sollte keine physische Gewalt ausüben, die ausschließlich dem Staat zusteht, denn, wie die bereits zitierte polnische Broschüre festhielt, „physischer Zwang und Administration sind Methoden, die ausschließlich dem Staat eigen sind, und sie sind der Partei in ihren inneren Verhältnissen wie auch in ihren Beziehungen zu den Massen fremd“.150 Die Kritik an der „illegalen“ Gewalt gehörte untrennbar zum Poststalinismus. Die Entstalinisierung war von Anfang an, beginnend mit Chruschtschows Geheimrede, eine Vergangenheitsbewältigung der im Stalinismus begangenen gesetzeswidrigen Gewalt. Bekanntlich war Chruschtschows Rede gespickt mit plastischen Beschreibungen von Repressionen, Tötungen und Folterungen. Er sprach von „barbarischem Foltern“, „physischen Methoden der Beeinflussung“ und „Quälerei“. Verantwortlich für diese Gewaltmethoden wurde Stalin persönlich gemacht, wie zum Beispiel im Fall der „Ärzteverschwörung“ von 1952–1953:

148 LHASA, MER, SED-Kreisleitung Dessau, IV/406/241, Einschätzung zur Diskussion des „Grundrisses“, 9.8.1962, Bl. 17. 149 SAPMO, DY 30/IV A 2/9.03/55, Einschätzung der Ergebnisse des Parteilehrjahres 1969/70 im Bezirk Schwerin, 7.9.1970, Bl. 5. 150 Łopatka, Kierownicza rola, S. 46.

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Persönlich gab er Anweisungen, wie die Untersuchung zu führen sei, wie man die Verhafteten zu verhören habe. Er sagte: den Akademiker Winogradow in Ketten legen und diesen da schlagen. […] Stalin persönlich berief den Untersuchungsrichter, erteilte ihm Instruktionen, ordnete die Untersuchungsmethoden an und diese Methoden bestanden in dem einen: schlagen, schlagen, und noch einmal schlagen.151

„Gewalt“ und „Kampf“ wurden meistens als physische, bewaffnete Gewalt verstanden. Die Poststalinisten waren bemüht, den Kampf- und zum Teil auch den Gewaltbegriff zu retten, da sie zu der marxistisch-leninistischen Ideologie gehörten, zugleich mussten sie aber diese Begriffe „entstalinisieren“. Das Verurteilen „gewaltsamer Exzesse“ und die Verwendung von Euphemismen wie „Übergriffe“, „Willkür“, oder „Verletzung der Gesetzlichkeit“ waren eine feste Komponente der poststalinistischen Sprache. Man rief nicht mehr nach „Wachsamkeit“ gegenüber den „Saboteuren“, „Spionen“ und „Verrätern“, wie es im Stalinismus üblich war. Nun setzte man dem „Machtmissbrauch“ das Einhalten der „sozialistischen Gesetzlichkeit“ entgegen und es wurde vor allem gewissenhafte Arbeit für die Partei gefordert. Die neue Rhetorik kündigte das Ende der Hetzjagd auf Feinde innerhalb der Partei an, die mit fanatischen Kampagnen und gewaltsamen Repressionen einherging. Der Weg zum Kommunismus sollte nicht mehr über den Galgen führen, sondern über ein friedliches Zusammenleben – sowohl in den internationalen Beziehungen als auch in der Gesellschaft. Damit wurde die durch Terror gekennzeichnete „Aufbauphase“ für beendet erklärt, ein Terror, auf den seine Vollzieher gehörig stolz waren und den sie keineswegs verheimlichten. Die nach 1956 vorherrschende Vision von Stabilität und Ordnung drängte schrittweise die Utopie einer neuen Gesellschaft in den Hintergrund. Und die Hauptrolle in diesem Prozess sollte der „wiederbelebten Partei“ zukommen, die in der poststalinistischen Deutung zum „Opfer“ der korrupten Sicherheitsorgane wurde, angeführt von den Schurken wie Berija, Berman oder Slánský. Der Parteidiskurs befasste sich daher mit der Partei selbst, mit ihrer „Bereinigung“ und ihrer Renaissance, während das Zukunftsideal der kommunistischen Gesellschaft zunehmend verblasste. Völlig ausgeblendet wurde die Zukunft nicht: Um sie aber zu erreichen, sollte man nicht mehr die Waffe in die Hand nehmen und die Gesellschaft mit Gewalt verändern. Das Trauma der Stalinschen Gewalt warf einen langen Schatten auf die historische Deutung des „Übergangs zum Sozialismus“. Vor allem in der PZPR war für Stalin eine lange Rechnung offen, die sich nicht nur auf die Verfolgung der polnischen Kommunisten während des Großen Terrors der dreißiger Jahre bezog. Erwähnt wurde auch der Massenmord von Katyn, den manche Parteimitglieder 151 Chruschtschow, Geheimrede, S. 63.

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als einen Ausdruck des „Personenkultes“ und der „Berija-Herrschaft“ betrachteten.152 In Cieszyn fragten die Diskussionsteilnehmer, warum es keinen Gerichtsprozess wegen Katyn gab und bezichtigten all diejenigen des „Personenkultes“, die die Polnische Heimatarmee (Armia Krajowa) verurteilten und ihre Mitglieder nicht in die PZPR aufnehmen wollten.153 Vor dem Hintergrund solcher Erzählungen von Gewalt und Verfolgung schien nunmehr der „friedliche Weg“ zum Sozialismus als möglich, darunter auch der „parlamentarische Weg“ in den kapitalistischen Ländern.154 Die Diktatur erhielt zunehmend negative Konnotationen und wurde überwiegend mit der Anwendung von (illegitimer) physischer Gewalt gleichgesetzt. Dabei bezog sich diese Auffassung der Diktatur nicht nur auf die Revolution und den Aufbau des Sozialismus, sondern kam auch im Arbeitsalltag zur Geltung. Zum Beispiel kritisierten im Juli 1956 Genossen aus Halle die Missstände bei der Lehrlingsausbildung und wiesen auf die „diktatorische Behandlung der Lehrlinge“ hin.155 Die Unklarheiten in der Gewaltfrage hatten einen mobilisierenden Effekt: Sie beschäftigten die Genossen mehr als andere Themen und stärkten somit ihre Bereitschaft, am ideologischen Parteidiskurs teilzunehmen. Es war aber auch ein Thema, an dem sich die Geister schieden und wo oft stalinistische Ansichten („Schematismus“) auftraten. Das kam während des Seminars zu den Grundlagen des Marxismus-Leninismus im Großkombinat Schwarze Pumpe im Juli 1960 zutage: Große Unklarheiten gab es bei den Diskussionen über das Verhältnis von Demokratie und Gewalt. Hier zeigte sich, dass viele Genossen von formalen und schematischen Klasseneinteilungen ausgingen und das Wesen des Klassenkampfes in der DDR und seine Hauptstoßrichtung nicht erkannten. […] Es wurde weiter die Ansicht vertreten, dass die Arbeiterklasse sich in beiden Etappen der Revolution die Macht mit der Bauernschaft und

152 AP Kat, KW PZPR, 1793/358, Wydział Propagandy, April 1956, Bl. 211. Katyn blieb ein Bestandteil von „ideologischen Unklarheiten“ in der PZPR weit über 1956 hinaus. Noch 1959 fragten die PZPR-Mitglieder in der Wojewodschaft Lublin: „Warum spricht man nicht über Katyn, wenn man über die deutschen Lager spricht?“ und sogar 1969 wurde in einem Lektorenkurs eine „nähere Erklärung der Katyn-Frage“ gefordert; AAN, KC PZPR, 237/VIII-637, Pytania 1959, Bl. 27ff.; 237/VIII-1033, Kurs dla wykładowców szkolenia partyjnego, 8.9.1969, Bl. 256. 153 AP Kat, KW PZPR, 310/IV/23, KP PZPR Cieszyn, Protokoły z posiedzeń Egzekutywy, 18.5.1956, Bl. 91. 154 Leopold Rykl, Stanovy Komunistické Strany Československa – ztělesnění leninských norem stranického života a zásad vedení, Praha 1958, S. 3. 155 LHASA, MER, SED-Bezirksleitung Halle, IV/2/1/17, Plenarsitzung 11.7.1956, Bl. 70.

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den anderen Schichten teilt, warum sonst Arbeiter- und Bauernstaat, dass Diktatur des Proletariats nur Gewalt ist, dass die friedliche Entwicklung in der DDR keine Revolution sei.156

Entsprechend diesen Verwirrungen bemühten sich die kommunistischen Ideologen, den Begriff der Diktatur über die Bedeutung der gewaltsamen Revolution hinaus auszuweiten und zu fragmentieren. Die Parteimitglieder stritten darüber, was alles dem Oberbegriff der Diktatur untergeordnet werden konnte. In der Diskussion im Parteilehrjahr von 1963 in den Leuna-Werken stellte man andere Aspekte der Diktatur – vor allem die wirtschaftlichen – der „reinen Gewalt“ gegenüber: FPO Ingenieurökonomie – Frage der Diktatur des Proletariats beim Übergang vom Kapitalismus zum Sozialismus. V.a. die Frage des Inhalts der Diktatur. Einige Genossen sahen die Diktatur des Proletariats nur im Sinne der Gewaltanwendung. Sie unterschätzen dabei die wirtschaftlich-organisatorische und kulturell-erzieherische Funktion beim umfassenden Aufbau des Sozialismus.157

Verloren sich die meisten ostdeutschen Diskussionen zu den „Übergangsphasen“ (d. h. Stalinismus) oder zur Frage der physischen Gewalt oft in abstrakten Debatten über theoretische Begriffe, behandelten die polnischen und tschechoslowakischen Kommunisten die illegitime Gewalt viel direkter. Im Mittelpunkt stand dabei die Frage der legitimen Anwendung der Gewalt durch einen Kommunisten und durch die Partei. Das war angesichts der Chruschtschowschen Kritik an der Gewalt alles andere als einfach: Wie sollte man „historisch gerechte“ Gewalt darstellen, wenn die Parteisprache sich rund um die „brutalen Methoden“ der Staatssicherheit drehte? Das Wort Gewalt war in allen Sprachen negativ konnotiert, zum Beispiel in solchen Wortverbindungen wie „gewaltsame Kollektivierung“ (násilná kolektivizace auf Tschechisch). Die Kritik an den Verstößen gegen die Parteidisziplin, die während der Debatten über den Personenkult und den Hooliganismus auftrat, brachte auch das Thema der Gewalt in der Gesellschaft in Verbindung mit legitimer Gewaltanwendung zur Sprache. Die allgemeine Verurteilung des stalinistischen Terrors bahnte den Weg zur Ablehnung von physischer Gewalt an sich; die Kritik an politischer Gewalt verwandelte sich oft in eine Auseinandersetzung mit unpolitischer Gewalt, hauptsächlich der Misshandlung von Frauen und Kindern durch Parteimitglieder, oft als Folge des Alkoholismus. Wie es ein KSČ-Diskussionsbeitrag aus Ostrava vom April 1956 auf den Punkt brachte, dürfe ein echter 156 SAPMO, DY 30/IV 2/9.02/92, Zwischenbericht zu den bisherigen Ergebnissen des Studiums, 23.7.1960, Bl. 65; Einschätzung der Seminare, 31.7.1960, Bl. 154. 157 SAPMO, DY 30/IV A 2/9.03/53, Abschlusseinschätzung über das Parteilehrjahr 1962/63, 27.6.1963, Bl. 3–4.

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Kommunist nie unbegründet zur physischen Gewalt greifen, ob im politischen Kampf oder im Privatleben: Manche Genossen sagen, es sei nicht möglich, dass ein Kommunist sich zur Anwendung physischer Gewalt hergeben kann. Das sei unvereinbar mit dem Denken des Kommunisten, weil wir auch den Klassenfeind anständig und gesetzmäßig behandeln sollen. Es gibt Leute, die die sozialistische Gesetzlichkeit sogar ihrer Ehefrau verweigern. Wenn die Frau ihn kritisiert, dass er dauernd in der Kneipe sitzt, dann verprügelt er sie dafür, und da ist es dann kein Wunder, dass manche Sicherheitsorgane den Klassenfeind so behandeln.158

Diese erweiterte Gewaltkritik setzte sich verstärkt in den sechziger Jahren fort. Als mit der Liberalisierung von 1963 in der KSČ eine neue Welle der Kritik an der „Verletzung der sozialistischen Gesetzlichkeit“ ausbrach, diskutierte man erneut „Übergriffe“, sprach von „Folterkammern“ und politischen Gefängnissen, die sich die „Sicherheitsleute“ (estébáci) eingerichtet hatten, vor allem die berüchtigte Prager Untersuchungshaftanstalt Ruzyně.159Aber immer wieder war die Partei jenseits der Beschuldigungen, auch diesmal waren es die „Sicherheitsorgane“. Sogar der Ministerpräsident Široký, selbst ein ehemaliger musterhafter Stalinist, verurteilte den „Sadismus und die Brutalität“ der Staatsorgane, die er allerdings gleich von der Partei fernhielt – entweder als Folge der mangelnden Erfahrung junger Sicherheitsmitarbeiter (das Durchschnittsalter betrug sechsundzwanzig Jahre), als Nachwirkung des alten „bourgeoisen“ Staatsapparats oder als Einfluss der „Berija-Gruppe“. Die Partei ließ er aber ohne Schuld: Wenn es um das Interesse der Partei geht, um das Interesse der Arbeiterklasse, um das Interesse an der Sache des Sozialismus und Kommunismus, darf man die Dinge nicht nur sentimental beurteilen. Ich stimme mit den Genossinnen darin überein, es ist furchtbar. Denkt ihr etwa, für uns war es nicht erschütternd? Denkt ihr etwa, der Mensch ist ein gefühlloses Wesen? Nein, es war erschütternd. […] Seit der Gründung der Partei haben wir für die Sache des Sozialismus und Kommunismus gekämpft, wir, die wir jeden dieser Genossen kannten, die ganz konkret mit der Verletzung der sozialistischen Gesetzlichkeit in Kontakt kamen. Die am eigenen Körper alle unseligen Auswirkungen des Personenkults erlebt haben. Ja – auch auf uns wirkte das unglaublich erschütternd. Genossen, haben wir das Recht in eine Depression zu verfallen?160

Während der Kritik an Diktatur und Gewalt tauchte in den sechziger Jahren Maos China als ein neuer Gegenstand des Interesses auf, den man als eine bürokratisch-militaristische Diktatur und als Vergegenwärtigung des Personenkultes porträtierte. Die Situation in China wurde nicht nur mit solchen Ausdrücken wie „Krise“ und „Chaos“ beschrieben, sondern auch mit Verweisen auf 158 ZA Op, KV KSČ Ostrava, Plenarsitzung 3.–4.4.1956, Bl. 32. 159 SOA Lit, KV KSČ Nordböhmen, k. 16, 3.–4.3.1963, Bl. 44. 160 Ebenda, Bl. 93.

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offene Gewalt, Terror und Liquidierung von Feinden.161 Die neue internationale Situation, die Entwicklungen in China, aber auch der Vietnamkrieg gaben den kommunistischen Ideologen die Möglichkeit, ihre Distanzierung von der illegitimen physischen Gewalt stärker hervorzuheben und somit das Entstalinisierungsprojekt weiter voranzutreiben: zeitlich gegenüber der stalinistischen Vergangenheit und den „Sicherheitsorganen“ sowie räumlich gegenüber der maoistischen Gegenwart. Die Distanzierung der Poststalinisten von der Gewalt und ihre unentschiedene Haltung zur Diktatur spiegelten sich deutlich auch in den historischen Darstellungen der Partei wider. Die polnischen Parteihistoriker benutzten den Begriff der Diktatur selten, und wenn ja, dann um den Kampf um die nationale Unabhängigkeit und die Besonderheiten des polnischen Revolutionskampfes zu deuten. Diktatur war dem nationalen Befreiungskampf untergeordnet, sie war kein Thema an sich. Indem sich die polnischen Parteihistoriker mit dem Problem der „Auslassung“, der „Überspringung der Phase der reinen Demokratie/Diktatur“ auseinandersetzten, haben sie die Diktatur zunehmend negativ konnotiert: Die bourgeoise und faschistische Diktatur stand der sozialistischen Demokratie gegenüber.162 Verbreitet war der Begriff Sanacja-Diktatur (gemeint ist die 1926 errichtete autoritäre Diktatur von Marschall Piłsudski), die „Terror“ gegen die KPP ausübte – ein gutes Beispiel für die Ausdehnung der poststalinistischen Gewaltkritik auf andere historische Zeiträume und Epochen, z. B. in den Verbindungen wie „Sanacja-Folter (tortura sanacyjna).163 Die neue Kritik der Gewalt äußerte sich in den polnischen Geschichtsdarstellungen darin, dass seit den späten fünfziger Jahren der Begriff der Diktatur als Bezeichnung für den Sozialismusaufbau kaum vorkam. Das Handbuch der Geschichte der polnischen Arbeiterbewegung (1967) verwendete den Begriff der Diktatur des Proletariats nicht und stellte stattdessen die Aufbauperiode ambivalent bis negativ dar, indem der Akzent auf den Personenkult und Stalinismus rückte. Die Schattenseiten der durch den Staatsapparat gelenkten stalinistischen Gewaltherrschaft wurden einem sozialökonomischen Modernisierungsnarrativ untergeordnet. Eher als die kommunistische Zukunft stand der gewaltfreie Modernisierungsprozess, von der Partei geleitet, im Mittelpunkt der kommunistischen Großerzählung der späten sechziger Jahre: Ihr Hauptpfeiler war nicht 161 SOA Lit, KV KSČ Nordböhmen, k. 21, Plenarsitzung 22.9.1967, Bl. 217. 162 Tadeusz Daniszewski, Droga życia i walki wybitnego komunisty, in: Nowe Drogi 12, 1958, Nr. 11, S. 95–116; Władysław Gomułka, Sprawozdanie KC oraz zadania partii w dziedzinie umacniania socjalizmu i dalszego rozwoju PRL, in: Nowe Drogi 22, 1968, Nr. 12, S. 2–78, hier S. 40. 163 W 40 rocznicę powstania KPP (Tezy KC PZPR), in: Nowe Drogi 12, 1958, Nr. 10, S. 33– 53, hier S. 39ff.

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mehr die unergründliche, gewaltsame Geschichte, sondern die „Entwicklung“, vor allem der „Wirtschaftsbasis“, des Lebensstandards der Bevölkerung und zunehmend auch der Wissenschaft und Technologie.164 Der Aufbau des Sozialismus und die Revolution waren in der poststalinistischen Erzählung immer noch ein Kampf, aber es war ein anderer Kampf als unter Stalin. Ähnlich wie der Begriff der Diktatur war auch jener des „Klassenkampfs“ stark angeschlagen, vor allem infolge der Kritik an der stalinistischen These von der „Verschärfung des Klassenkampfes während des Aufbaus des Sozialismus“. Wenn der „Kampf“ als die Hauptmetapher für die politische Tätigkeit der Partei im Gebrauch blieb, dann nicht mehr im Sinne des physischen, kriegerischen und vernichtenden Kämpfens. Der poststalinistische „Kampf“ war weniger konfrontations- und feindorientiert. Seltener traten Wendungen wie „der Kampf gegen die Feinde der Partei“ auf, auch wenn die Idee des Feindes im Poststalinismus wichtig blieb, wie im 4. Kapitel diskutiert wird. Vielmehr trug der Kampf eine positive Konnotation, als Kampf um etwas: am häufigsten um den Frieden, Sozialismus und Einheit. Ging es um einen Kampf „gegen“ etwas, dann meistens „gegen den Personenkult“ oder „gegen den Bürokratismus“. Die eigenen Reihen waren zum „ideologischen Propagandakampf“ aufgefordert. Somit büßte der Begriff „Kampf“ an Trennschärfe ein. Diese semantische Fragmentierung schwächte seinen linearen, teleologischen Charakter. Die Entschärfung des „Kampfes“ war auch durch dessen Pluralgebrauch bedingt; die Rede war nicht mehr vom „Kampf“, sondern zunehmend von „Kämpfen“. „Vierzig Jahre Revolutionskämpfe im Bezirk Liberec“ war der typische Titel der poststalinistischen Parteigeschichtsschreibung. Plural bedeutete Vervielfältigung und Verkomplizierung. Ein anschauliches Beispiel ist das Buch des kommunistischen Publizisten Radoslav Selucký Das Lesen über den Kommunismus von 1963.165 Hier gehen die Kapitel über „Arbeit“ (Práce) und „Träumen“ (Snění) dem Abschnitt über „Kämpfe“ (Boje) voraus. Die Assoziation mit Arbeit und Traum schwächt den „Kampf“ ab und vermenschlicht ihn gewissermaßen. Hinzu kommt, dass Selucký den gewaltsamen physischen Kampf als „bloße Form“ marginalisierte und stattdessen den „Inhalt“ hervorhob, d. h. die Änderung der Produktionsverhältnisse, die durchaus gewaltfrei stattfinden könne. Der Kampf findet eher im Bewusstsein als auf dem Schlachtfeld der Revolution statt. Der geradlinige „Klassenkampf“ wurde in der lokalen Parteisprache durch eine Vielfalt anderer Adjektive abgelöst, vor allem „ideologischer Kampf“. „Kampf“ machte Euphemismen Platz wie z. B: „Tätigkeit“ (działalność, činnost). Man sprach zwar weiterhin von „Kämpfern“ und „Helden“ (Historia bohaterska KPP 164 Historia Polskiego Ruchu Robotniczego 1864–1964, 2 Bd., Warszawa 1967, Bd. 2, S. 525ff. 165 Radoslav Selucký, Každému chléb – každému růže. Čtení o komunismu, Praha 1962.

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(„die heldenhafte Geschichte der KPP“)), aber dies geschah oft nur reaktiv, zum Beispiel um die KPP in Schutz zu nehmen gegen die illegitime stalinistische Gewalt.166 Zwar setzten sich im Polen der sechziger Jahre erneut konservative Stimmen durch, aber die einstige Eindeutigkeit der Grundbegriffe fehlte. „Kampf“ (walka) wurde häufig benutzt, zum Beispiel im Handbuch der Geschichte der Polnischen Arbeiterbewegung, aber in verschiedenen Kontexten und mit vielen unterschiedlichen Bedeutungen – vom Kampf um die Nationalbefreiung, gegen den Faschismus, aber auch gegen Personenkult, den Revisionismus und Dogmatismus. Man sprach über „den schwierigen und komplizierten Kampf um die Beseitigung der Folgen des so genannten Personenkultes“, über „den Kampf um die Volksrepublik“, „Kampf um die Einheit der Parteireihen gegen den Revisionismus und Dogmatismus“, „Kampf gegen revisionistische Elemente“, „Kampf gegen die bürgerliche Ideologie“, „Kampf um das sozialistische Bewusstsein des Volkes“. Hingewiesen wurde auf „neue Kampfmethoden“ des Feindes, die sich auf den „psychologischen, propagandistischen Krieg, der im Äther mittels Radiostationen wie das Freie Europa“ orientierten, und auch auf weitere Propagandaformen wie Ausnutzung von Personalbeziehungen und Verbreitung von Gerüchten.167 Die Kampfrhetorik verlor ihre Schärfe und ursprüngliche Ausrichtung: Das Ziel des Kämpfens und der Gewalt wurde weniger explizit, man solle einfach „weiter kämpfen“. Es ging mehr und mehr um den Prozess des „Kampfes“ selbst, der sich ins Detail zerlegt, während die Großzusammenhänge der Vergangenheit und der Gesamtblick in die Zukunft ihre Konturen verloren: „Der Klassenkampf ist eine sehr komplizierte Angelegenheit,“ erklärte Novotný in seinem Referat über den XX. Parteitag. „Das ist ein Kampf der gesellschaftlichen Kräfte, ein Kampf der politischen Richtungen und Ströme, ein Aufeinandertreffen der Interessen und Ideen der Klassen. […] Der grundlegende, entscheidende Faktor des Klassenkampfes, der hier stattfindet, wenn man ihn in seiner ganzen Komplexität und Breite begreift, ist die Politik, das Verhältnis zwischen den Klassen, Menschen, Klasseninteressen und Ideen.“168 Die bolschewistische Kampfrhetorik verschwand zwar nicht, sie war aber nicht mehr die dominante Stimme. Es gab nach wie vor Herrschaftsbereiche, wo sie im Mittelpunkt blieb, wie in den bewaffneten Parteieinheiten (Kampfgruppen der 166 So in Józef Augustyn u. a., Działalność KPP na terenie Województwa Pomorskiego w latach 1918–1938, Bydgoszcz 1959, und Edward Ochab, Nieprzemijające wartości tradycji KPP, in: Nowe Drogi 10, 1958, Nr. 12, S. 3–14, hier S. 5. 167 AP Kat, KW PZPR, 317/I/14, KP PZPR Gliwice, Materiały z Konferencji KP PZPR, 24.9.1968, Bl. 11. 168 Antonín Novotný, XX. sjezd KSSS a závěry vyplývající pro práci naší strany. Z referátu předneseného na zasedání ÚV KSČ 29. března 1956, in: Ders., Projevy, Bd. 1, S. 257–306, hier S. 300.

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Arbeiterklasse der SED, Volksmilizen der KSČ) und der Staatssicherheit, unter welcher die ostdeutsche Stasi durch ihre ideologische Rigidität bis zum bitteren Ende des Jahres 1989 herausragte. In diesen Bereichen erhielt sich die Auffassung der Kommunisten als Kämpfer, die Gewalt anwenden können, obwohl sich mit dem Generationswechsel der sechziger Jahre und dem Aussterben derer, die vor 1945 tatsächlich gekämpft hatten, das kämpferische Selbstverständnis und die Gewaltbereitschaft vermindert hatten.169 Auch jenseits der Kampfgruppen und der Stasi wurden die SED-Mitglieder hie und da zum „kämpferischen Auftreten“ aufgefordert, der Feind sollte wieder „zerschlagen werden“ nach dem Motto „wo ein Genosse steht, muss auch ein Kämpfer stehen“, wie es im SED-Parteiaktiv Meiningen im August 1961 hieß.170 Trotz der Überreste der an den Stalinismus erinnernden Kampfsprache änderte sich der Begriff des Kampfes insoweit, als die Parteifunktionäre vor einer allzu aggressiven Kampfsprache warnten und stattdessen „sachlichen und prinzipiellen Streit“ forderten. Das konnte paradoxerweise auch Stalin betreffen, den seine Anhänger rhetorisch „entstalinisierten“, indem sie nicht seine Gewaltexzesse erwähnten, sondern die neuen poststalinistischen Werte in Stalin selbst wiederfanden. In der SED-Organisation Bitterfeld lobte man im Februar 1957 Stalins Sinn für „exakte Organisierung der Durchführung“. Statt direkter Gewalt sei eine „wirkliche Kampfatmosphäre“ notwendig: Wir als Kreisleitungsmitglieder müssen in der ersten Linie des Kampfes stehen, müssen sozusagen in vorderster Linie in unserem Kreis die ideologische Gegenoffensive leiten, und dazu brauchen wir kein Geschimpfe, sondern einen sachlichen, prinzipiellen und wenn ihr wollt, auch leidenschaftlichen Streit. Wir brauchen keine Paradekundgebungen, sondern wir brauchen eine wirkliche Kampfatmosphäre zur Durchführung der hier festgelegten Maßnahmen. Wir sollten weniger, Genossen, von einem Begriff des Orientierens ausgehen, der sich immer stärker in unseren Reihen einschleicht und bei dem man nicht weiß, wer das eigentlich machen soll, sondern mehr zu einer exakten Organisierung der Durchführung der von uns selbst beschlossenen Aufgaben übergehen. Der Satz von Stalin, nachdem die politische Linie ist, dass die Organisierung der Durchführung alles entscheidet, ist sehr wahr und hat nach wie vor eine hohe Bedeutung.171

In den späten fünfziger Jahren, zur Zeit der „ideologischen Offensiven“, bestanden noch Unklarheiten bezüglich der „Unausweichlichkeit“ der Diktatur des Prole169 Siehe Joanna Wawrzyniak, ZBoWiD i pamięć drugiej wojny światowej, 1949–1969, Warszawa 2009; Jens Gieseke, Die Stasi 1945–1990, München 2011, S. 75–103; Tilmann Siebeneichner, Proletarischer Mythos und realer Sozialismus. Die Kampfgruppen der Arbeiterklasse in der DDR, Köln 2014. 170 SAPMO, DY 30/IV 2/9.03/14, Parteiaktiv in Meinigen, 6.8.1961, Bl. 123. 171 LHASA, MER, SED-Kreisleitung Bitterfeld, IV/404/32, Plenarsitzung 25.2.1957, Bl. 134.

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tariats im Übergang vom Kapitalismus zum Sozialismus. Stalinismus-kritische Ansichten koexistierten mit neostalinistischen Gegenangriffen. Diese Ambivalenz lässt sich anhand des Vergleichs zwischen zwei tschechoslowakischen Parteipublikationen aus dieser Zeit erkennen: dem Kommentar zu den neuen Parteistatuten der KSČ von 1958172 und dem Sammelband Über die Diktatur des Proletariats (1959).173 Die erste Schrift betont gleich am Anfang die Möglichkeit eines friedlichen Übergangs zum Sozialismus als eines der wichtigsten Ergebnisse der Entstalinisierung, also durch den parlamentarischen Weg, ohne gewaltsamen Aufstand. Dagegen macht die zweite Broschüre den Eindruck, als ob es keinen XX. Parteitag gegeben hätte. Nicht nur, dass der sonst verbindliche Hinweis auf die „revolutionäre Bedeutung“ des Parteitages fehlt; in den sechs folgenden Kapiteln zu verschiedenen Aspekten der Diktatur des Proletariats werden neben Marx und Lenin unkommentiert auch Auszüge aus Stalins Kurzem Lehrgang ausführlich zitiert. Weiter schöpft die Broschüre reichlich aus stalinistischen Publikationen von Gottwald, Bierut, Dimitrow und Mao Tse-tung. Diese Texte sollten offensichtlich keineswegs einer historischen Auseinandersetzung dienen, sondern durchaus normativ verstanden wurden. Der Zweck des Bandes sei es, „den Propagandisten, Funktionären und Bildungsmitarbeitern und Universitätshörern eine Hilfe zu leisten beim Studium der Frage der Diktatur des Proletariats“, er sollte ein „Führer für weiteres Studium“ werden.174 Als Ergebnis wird die tautologische These aufgestellt, dass die Diktatur des Proletariats „historisch unausweichlich ist, weil man ohne sie den Kapitalismus nicht endgültig besiegen und den Kommunismus aufbauen kann“, darüber hinaus ergibt sich „ihre Existenz […] aus der Natur des Übergangs von der kapitalistischen zur kommunistischen Gesellschaft.“175 Hier sind erste Anzeichen der späteren narrativen Zirkularität zu sehen: Die Diktatur ist einerseits historisch unausweichlich und ergibt sich aus der Natur des historischen Prozesses. Zugleich deutet der Hinweis, dass man ohne sie nicht „endgültig siegen“ kann, darauf hin, dass das handelnde Subjekt – die Arbeiterklasse – doch eine gewisse Freiheit besitzt zu entscheiden, ob sie am Ende die Diktatur als „Instrument“ benutze oder nicht. Wie bei manchen anderen ideologischen Grundbegriffen trugen die oft widerspruchsvollen Deutungen der Diktatur und Demokratie, des Friedens und der Gewalt Unklarheiten in die Parteireihen hinein. „Wieso ist die friedliche Koexistenz eine Form des Klassenkampfes?“, fragten verständnislos die Teilnehmer der SED-Schulung in

172 173 174 175

Rykl, Stanovy. Koloman Slivka, O diktatúre proletariátu, Bratislava 1959. Ebenda, S. 5. Ebenda, S. 7.

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Halle im April 1963.176 Die „ideologische Überzeugungsarbeit“ der Partei schien eine unendliche Aufgabe zu sein, zumal sich zu den „Schwierigkeiten“ eine neue und umfassendere Bestimmung gesellte: die Auseinandersetzung mit der Nation.

176 SAPMO, DY 30/IV A 2/9.03/53, Einschätzung des Standes der Parteischulung im Bezirk Halle, 10.4.1963, unpag.

III. Die Nation: mit oder gegen die Partei?

„Die gesellschaftliche Bewegung wurde im 20. Jahrhundert in den tschechischen Ländern und auch in der Slowakei von zwei der größten Strömungen getragen – von der nationalen Befreiungsbewegung und vom Sozialismus.“ (Aktionsprogramm der KSČ, April 1968)1 „Der Gedanke, den Sozialismus könnten nur Kommunisten, nur Menschen mit materialistischen sozialen Anschauungen aufbauen, ist arm.“ (Władysław Gomułka, 20. Oktober 1956)2

Das klare Bewusstsein, ein Kommunist zu sein und an erster Stelle der Partei anzugehören, war nicht selbstverständlich. Was die Massen der Kommunisten zunächst verband, war eher ein unreflektiertes Gefühl von Gemeinsamkeit, das durch die Erfahrung der „Revolution“ und des stalinistischen „Aufbaues“ verfestigt wurde. Im „Kampf“ ist es leichter, Identitäten zu schmieden; in Niederlagen und Krisen werden sie in Frage gestellt. Nach 1956 war die noch frische kommunistische Identität der osteuropäischen Parteigenossen schweren Prüfungen ausgesetzt. Wie wir gesehen haben, war der kommunistische Glauben an die Partei zersplittert, es herrschte eine Polyphonie an Deutungen der ideologischen Grundbegriffe. Die Zersplitterung im Inneren ging Hand in Hand mit der Bedrohung von außen. Ältere Kollektivbezüge forderten Klasse und Partei heraus – dies trifft vor allem auf die „Nation“ und den „(National-)Staat“ zu. Im Laufe der sechziger Jahre kam die „Gesellschaft“ hinzu, die in der Imagination der Partei eine immer wichtigere Rolle spielte. In diesem Kapitel gehe ich der Frage nach, wie der Aufstieg dieser alternativen Geschichtssubjekte in historischen Selbstdarstellungen der Partei das Zugehörigkeitsgefühl der Kommunisten prägte. Warum, in welchen Situationen und unter welchen Umständen haben sich die Parteimitglieder als Kommunisten gefühlt, wann wiederum vorwiegend als Deutsche, Polen, Tschechen, Slowaken oder Juden? Wann und wie fügten sich diese Zugehörigkeitsgefühle zusammen, wann schlossen sie sich aus? Welche Rolle spielten Bezüge auf klassenübergreifende

1

2

Aktionsprogramm der Kommunistischen Partei der Tschechoslowakei, angenommen auf dem Plenum des Zentralkomitees der KPTsch am 5. April 1968 (Übersetzungs- und Informationsdienst Sudetendeutsches Archiv), München 1968, S. 2f. Władysław Gomułka, Rede auf dem VIII. Plenum des ZK der PVAP 20. Oktober 1956, Warschau 1956, S. 32.

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Großgemeinschaften wie zum Beispiel die historische Bedeutung des Nationalstaates oder die aufsteigende Modernisierungserzählung von der Gesellschaft? Der Hauptkonflikt dieser Großerzählungen der Moderne verlief zwischen Klasse und Nation: Seit der Entstehung des „wissenschaftlichen Kommunismus“ sah die klassenzentrierte Revolutionsutopie des Marxismus eine Vorherrschaft des Proletariats vor und war in erster Linie gegen die Nation gerichtet. Marx und Engels (wie auch Lassalle) teilten die radikal antinationale Einstellung. Erinnern wir uns an das berühmte Engels-Zitat aus der Rheinischen Zeitung von 1849: Es ist kein Land in Europa, das nicht in irgendeinem Winkel eine oder mehrere Völkerruinen besitzt, Überbleibsel einer früheren Bewohnerschaft, zurückgedrängt und unterjocht von der Nation, welche später Trägerin der geschichtlichen Entwicklung wurde. Diese Reste einer von dem Gang der Geschichte, wie Hegel sagt, unbarmherzig zertretenen Nation, diese Völkerabfälle werden jedesmal und bleiben bis zu ihrer gänzlichen Vertilgung oder Entnationalisierung die fanatischen Träger der Konterrevolution, wie ihre ganze Existenz überhaupt schon ein Protest gegen eine große geschichtliche Revolution ist.3

Auch wenn die Klassiker des Marxismus ihre Meinung später revidierten, war die Nationalfrage für sie immer der Klassenfrage – da sie nur diejenigen Gruppen als „Nationen“ anerkannten, die ihre eigene Bourgeoisie besaßen – untergeordnet. Diese Spannung im Hinblick auf das Verhältnis der Arbeiterklasse zur Nation setzte sich bei Lenin fort, der zwischen progressiven und regressiven Aspekten der Nationalbewegungen unterschied. Schließlich wurde die kommunistische Nationsauffassung von Stalin umgedeutet, dessen berühmte Definition der Nationalbewegung als Instrument der Nationalbourgeoise zur Beherrschung des Nationalmarktes später als Dogma der kommunistischen Doktrin galt. Das Verhältnis zur „Nation“ als dem alternativen Subjekt kommunistischer Identitätserzählung blieb immer umstritten – in der offiziellen Propaganda, in der theoretischen Reflexion sowie in der Alltagssprache der einfachen Parteigänger.4 3

4

Friedrich Engels, Der magyarische Kampf, in: Neue Rheinische Zeitung, Nr. 194 vom 13. Januar 1849, zit. n. Karl Marx/Friedrich Engels, Werke, Band 6, Berlin (Ost) 1959, S. 165– 175, hier S. 172. Zur Entwicklung der Nationalfrage im marxistischen Denken siehe Marcin Zaremba, Im nationalen Gewande. Strategien kommunistischer Herrschaftslegitimation in Polen 1944– 1980, Osnabrück 2011, S. 51–87; Miroslav Hroch, Evropská národní hnutí v 19. století, Praha 1986, S. 31–43; Michael Löwy, Internationalismus und Nationalismus. Kritische Essays zu Marxismus und „nationaler Frage“, Köln 1999; Walter A Kemp, Nationalism and Communism in Eastern Europe and the Soviet Union. A Basic Contradiction? Basingstoke 1999, S. 22–56; Michal Kopeček, Hledání ztraceného smyslu revoluce. Zrod a počátky marxistického revizionismu ve střední Evropě 1953–1960, Praha 2009, S. 119–135. Einen hilfreichen Überblick zur Forschungsliteratur bietet Martin Mevius, Reappraising Communism and Nationalism, in: Nationalities Papers 37, 2009, S. 377–400.

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Das größte Dilemma für die kommunistische Bewegung stellte die Nation vor allem in Mittel- und Osteuropa dar, dem Gebiet der großen kontinentalen Imperien und des späteren Sowjetblocks. „Nation“ war hier seit dem 19. Jahrhundert die Matrix der Moderne schlechthin: Sie umrahmte alle anderen Fortschrittsnarrative und neigte dazu, sie zu strukturieren. Der Konflikt mit der klassenzentrierten Großerzählung des Kommunismus war deshalb unausweichlich und brach während des 20. Jahrhunderts in der kommunistischen Bewegung aus. Im Folgenden knüpfe ich an die Überlegungen von Gita Deneckere und Thomas Welskopp an, die den Platz des Klassendiskurses in der kollektiven Identitätsbildung der Moderne untersuchten und ihn dabei als subdiscourse der Nation charakterisierten.5 Dass die Großerzählung der Nation im 20. Jahrhundert überall die Klasse besiegte, wird allgemein anerkannt, auch von Befürwortern der marxistischen Klassenpolitik wie Eric Hobsbawm.6 Wie gestaltete sich das Verhältnis von Nation und Klasse in der poststalinistischen Situation? Aufbauend auf Katherine Verderys Schlussfolgerung, dass der marxistische Klassendiskurs im kommunistischen Rumänien durch den Nationalismus unterminiert wurde, frage ich nach der Wirkung der „Nation“ auf den poststalinistischen Ideologiediskurs und den Selbstentwurf der Kommunisten.7 Diese Perspektive lässt sich nur mit Hilfe des Blickes von unten erkunden: Wie prägte die Spannung zwischen der Partei und der Nation die Sinnwelt der einfachen Kommunisten, die sich in den Aneignungen und Umdeutungen von Geschichtsbildern niederschlug? Verdery stellt in ihrer Studie über die Nationalfrage in Ceaușescus Rumänien fest, dass der sich verstärkende Nationalismus den marxistisch-leninistischen Ideologiediskurs als das Zentralelement der kommunistischen Herrschaftslegitimation unterminierte und am Ende umstürzte.8 Ihrer Meinung nach besaß die „Nation“, 5

6 7 8

Gita Deneckere/Thomas Welskopp, The ‘Nation’ and ‘Class’. European National MasterNarratives and Their Social ‘Other’, in: Stefan Berger/Chris Lorenz (Hg.), The Contested Nation: Ethnicity, Class, Religion and Gender in National Histories, Basingstoke 2008, S. 135–170, hier S. 135f. Eric J. Hobsbawm, The Age of Extremes. The Short Twentieth Century, 1914–1991, London 1995. Katherine Verdery, National Ideology Under Socialism. Identity and Cultural Politics in Ceauşescu‘s Romania, Berkeley 1991. In Verderys Auffassung bereitete sich das Ceaușescus-Regime durch die Unterstützung der Nationalideologie eine Falle, in die es am Ende selbst hineinfiel. Die Nationalideologie unterminierte schrittwese den marxistischen Diskurs und damit auch die Parteilegitimation. Der Nationalismus war also mehr als ein bloßes „Instrument“ der Partei, denn am Ende wendete er sich gegen die Parteiherrschaft, nachdem er sich der Parteikontrolle entzogen hatte. Diese Entwicklung ist in allen spätsozialistischen Gesellschaften zu beobachten, nirgendwo aber so stark wie in Rumänien. Ein wichtiger Aspekt war die Änderung des

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im Unterschied zur Klasse und zum Kommunismus, eine gestaltende Kraft gegenüber den anderen Diskursen. Als Narrativ von Einheit und Kontinuität überwältigte die „Nation“ den Marxismus, der auf Differenzierung und Umbruch fußte. Damit geht Verdery weiter als jene Tradition der Kommunismusforschung, die den Nationalismus vornehmlich als Instrument versteht, mit welchem die Partei die angeblich fehlende Legitimität zu kompensieren suchte. Nach Marcin Zaremba war beispielsweise der Kommunismus in Polen ohne den Nationalismus viel zu schwach, um als gesellschaftliche Bindungskraft zu wirken, und brauchte deshalb einen Verbündeten. „Nation“ wird hier als eine unauthentische Ersatzideologie verstanden.9 Dagegen hebt Verdery die Wechselwirkung zwischen Sozialismus und Nation hervor und versteht sie als einen gesellschaftlichen Prozess mit unvorhersehbarem Ausgang. Zwar versuchte die Partei den Nationalismus zu instrumentalisieren; damit eröffnete sie jedoch den Deutungskampf über die Nationalidentität und machte ihre Interpretationshegemonie über den Ideologiediskurs verletzlich. „Nationalismus“ war demnach nicht nur ein Instrument, mit dem die Partei die Bevölkerung manipulierte: Vielmehr verselbständigte sich der Nationaldiskurs allmählich und trug zum Legitimitätsverlust der Parteiherrschaft bei. „The outcome in Romania was more than simply the discursive rupture of Marxism. It was the discursive constitution of nationalism even more powerful than before. […] With communism in 1947 there was installed an externally imposed language legitimating a monolithic political system. Its monolithism was the means of its undoing, for it effectively politicized all action within the system and made contention pervasive.“10 Ich schließe mich hierin Verdery an, versuche aber ihren Fokus auf die Intellektuellen um die breitere Rezeption in der Gesellschaft zu erweitern. Diese Umlenkung kann den von Verdery verwendeten Bachtinschen Begriff der Heteroglossia weiter fruchtbar machen, laut welchem jeder Versuch, durch einen von oben aufgezwungenen Diskurs das Denken der Vielen zu homogenisieren, stets heterogenisierende Reaktionen von unten hervorruft, die den eigenen Dialekt bewahren und sich gegen die oktroyierte Herrschaftssprache mobilisieren. Solche Gegenwir-

9 10

Zeitverständnisses, indem der Diskurs des Bruchs, Wandels und Konflikts (Klasse) durch den Diskurs der Kontinuität und Harmonie (Nation) allmählich ersetzt wurde. Ein weiterer Schritt in der Unterminierung des Marxismus-Diskurses war die Umdefinierung des Hauptakteurs von der „Nation unter der Führung der Partei“ zum „gesamten Volk“ (S. 123). Verdery geht damit weiter als die übliche Interpretation, die von einer glatten Instrumentalisierung der Nation durch die Partei ausgeht. Zaremba, Im nationalen Gewande, S. 52. Verdery, National Ideology, S. 315.

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kungen fanden auch jenseits des Intellektuellenmilieus, unter den „einfachen“ Kommunisten statt. In diesen Auseinandersetzungen, die die Funktionäre an der Schnittstelle zwischen Herrschaft und Gesellschaft führten, fanden ernsthafte Deutungskämpfe darum statt, was das eigentliche Subjekt der revolutionären Fortschrittserzählung war: Klasse oder Nation? Im Gegensatz zur These von der Instrumentalisierung des Nationalismus ist für die Untersuchung der poststalinistischen Sinnwelten Verderys Argument wegweisend, dass der Nationaldiskurs und somit auch die Delegitimierung des Marxismus von beiden Seiten des Streites paradoxerweise perpetuiert wurden – sowohl von den linientreuen Parteiideologen als auch von Fachhistorikern, die den „Protochronismus“, d. h. die Auffassung, dass die rumänische Nation schon immer bestand, als ahistorisch ablehnten. Allein durch ihre Beteiligung an der Kontroverse bekräftigten auch die Widersacher des „Protochronismus“ die Zentralstellung der Nation im Ideologiediskurs. Auseinandersetzungen um Nationalgeschichte, wie zum Beispiel jene um den Horea-Aufstand, eine Bauernrebellion aus dem 18. Jahrhundert, untermauerten die Parteiherrschaft, trotz der Absichten derjenigen, die dachten, dass sie in Opposition zum Regime standen. Langfristig wirkte jedoch die Oppositionstätigkeit der Historiker pluralisierend.11 Verdery formuliert die These über die Wechselwirkung von Stabilisierung und Pluralisierung, die am Ende den Kollaps der Parteiherrschaft herbeiführte, eher intuitiv. Sie arbeitet heraus, wie die Nation die marxistische Zukunftsutopie allmählich verdrängte, indem die autoritativen Ideologietexte wenig vom Marxismus, dafür aber sehr viel von Nation berichteten. Die folgende Untersuchung konzentriert sich auf die engere Wechselwirkung zwischen der kommunistischen Klassenideologie und dem Aufstieg der Nationserzählung, die nach 1956 in der ideologischen Alltagspraxis der unteren Parteietagen stattfand. Dabei ist die These leitend, dass die Konvergenz zwischen der Klasse (Partei) und der Nation im Poststalinismus durch einen Diskurs der Ambivalenz wiederhergestellt wurde, der die Partei innerlich konsolidierte.

Der Kampf der Meistererzählungen: Nation gegen Klasse Verallgemeinernd für die westeuropäische Geschichtskultur bestätigen Gita Deneckere und Thomas Welskopp die von Verdery am Beispiel des sozialistischen Rumänien gezogene Schlussfolgerung über die Vorherrschaft der Nation über Klasse. Ihre vergleichende Untersuchung zeigt, dass sich das Verhältnis zwischen 11

Ebenda, S. 224.

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Nation und Klasse in der europäischen Geschichtsschreibung vom frühen 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart nicht aus konkurrierenden Meistererzählungen zusammensetzte, sondern hierarchisch aufgebaut war: „In fact, the national master narrative has proved to be the stronger paradigm, taking on and defending the role of the hegemon, whereas ‚class‘, at least in historiography, failed to organise a coherent alternative master narrative altogether.“12 Die nationalen Geschichtserzählungen ignorierten oft die „Klasse“, während die klassenzentrierten Darstellungen die Nation nie übersehen durften. Demzufolge haben viele Nationalgeschichten nationsinterne Kämpfe zwischen den einzelnen Klassen heruntergespielt, um die Einheit der Nation nicht zu gefährden: „Of the two discursive constructions“, so Deneckere und Welskopp, „the one with a superior potential for essentialising social relations prevailed and colonised the other. The nation ruled in European historiography, and class, if acknowledged at all, served the nation.“13 Mit Benedict Anderson kann man Nation und Klasse als imagined communities charakterisieren, von welchen die eine auf mythische Vergangenheit setzte, während die andere das Zukunftsprojekt der Gerechtigkeit als identitätsstiftende Vision darbot. Die Produzenten der kommunistischen Geschichtsbilder standen vor der schwierigen Aufgabe, der bruchartigen Klassenerzählung, die eine völlig neue Zukunft voraussah, Kontinuität zu verleihen. Das war ohne die Einbeziehung der Nation nicht möglich. In dieser Hinsicht hatte die Klassenpolitik eine viel schwierigere Ausgangslage, um Gesellschaften zu integrieren: Während die „Klasse“ ein Ausdruck der Pluralisierung der Moderne – der Zersplitterung des kulturellen und ökonomischen Kapitals war, richteten sich die Nationen eher auf einen langsameren, auf der mythischen Vergangenheit und kollektiven Emotionen gründenden Entwicklungsprozess.14 Aus dieser Konfliktlage speiste sich der im vorigen Kapitel beschriebene Niedergang des Begriffes „Klassenkampf“, der als eine Gefahr für die Einheit und Kontinuität der Nation erschien. Diese Transformation korrespondiert mit dem von Gramsci festgestellten Übergang von der „Politik der Bewegung“ (Klassenkampf) zur „Politik der Position“, die dem Aufstieg der Zivilgesellschaft entspricht und langfristig angelegt sowie gesellschaftlich dezentriert ist.15 Der Anthropologe James Pratt beschrieb das Paradox von Bruch und Kontinuität in der kommunistischen Identität wie folgend:

12 13 14 15

Deneckere/Welskopp, ‘Nation’ and ‘Class’, S. 168f. Ebenda, S. 170. Jeff C. Pratt, Class, Nation and Identity. The Anthropology of Political Movements, London 2003, S. 2. Ebenda, S. 183.

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The obvious paradox of using history to talk about the things that do not change […] means that nations have to argue their own antiquity, an issue which lies at the heart of this debates in the study of nationalism. […] What is at stake is the historical continuity of a people (either as a society with a unified culture, or as a race), and the historical stability of a boundary between peoples.16

Bereits in den fünfziger Jahren postulierte Karl W. Deutsch in ähnlicher Weise, dass die interne Legitimation einer Gruppenidentität (wer sind wir, was wollen wir, wo gehen wir hin) mit einer äußeren Abgrenzung ergänzt werden musste (gegen wen sind wir).17 Die Annahme, dass Zusammengehörigkeitsgefühle auf der Opposition zum „Anderen“ ruhen, gehört inzwischen zu den Grundlagen der Nationalismusforschung, spätestens seit Fredrik Barths Konzept der boundaries und Rogers Brubakers Kategorie der groupness. Es sind vor allem Konflikt und Gewalt, die die Herausbildung von Kollektividentitäten fördern.18 Die Nationsbildung durch Abgrenzung war besonders ausgeprägt in den „verspäteten“ Nationalbewegungen in Mittel- und Osteuropa. Das am meisten benutzte semantische Mittel war die „Nationalisierung der Klasse“. Dies geschah mit Hilfe der Ethnisierung des Begriffes „Volk“. Hier kamen einige Besonderheiten der Nationsbildungen der „kleinen Nationen“ Mittel- und Osteuropas zum Vorschein: Vor allem im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert wurde hier die sprach-kulturelle („ethnische“) Auffassung der Nation stärker, wie sie sich in einer radikalen Form des nationalen Sprachenkampfes ausdrückte. Auch wenn im Nationalismus der westeuropäischen „Staatsnationen“ die sprachkulturelle Komponente auch ständig präsent war, war sie in Ostmitteleuropa deutlicher ausgeprägt und definierte den sozialen und politischen Konflikt um Macht und Prestige.19 16 17 18

19

Ebenda, S. 12. Karl W. Deutsch, Nationalism and Social Communication. An Inquiry into the Foundations of Nationality, New York 1953. Fredrik Barth, Ethnic Groups and Boundaries. The Social Organization of Culture Difference, Bergen 1969; Rogers Brubaker, Ethnicity Without Groups, Cambridge, Mass. 2006. Hierzu Miroslav Hroch, Ethnonationalismus – eine ostmitteleuropäische Erfindung? Leipzig 2006, S. 28ff. Obwohl bei den „Staatsnationen“ Westeuropas die sprachlichkulturelle Komponente durchaus vorhanden war, wurde sie oft mit anderen Kollektivsubjekten stärker konfrontiert. In Italien stellte der Staat eher als das ethnisch verstandene Volk den wichtigsten Bezugspunkt der Vergemeinschaftung dar. Der Begriff popolo war weniger ethno-kulturell besetzt und ein nationsintegrativer Universalismus blieb stets die überwiegende Orientierung. Diesen Zustand änderte auch der nach 1938 in der offiziellen Ideologie geltende Rassismus nur wenig. Ähnlich büßte in Frankreich die traditionelle Staatszentriertheit nie die Vorherrschaft ein, auch wenn hier die sprachlichkulturelle Komponente wichtig blieb. Vgl. Christian Jansen, Warum es in Italien keine

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Sowohl die marxistische Theorie als auch die kommunistische Praxis verkomplizierten diese Spannung zwischen Nation und Klasse weiter. Die komplexe Beziehung zwischen der Nationsbildung und der Arbeiterbewegung geht in Mittel- und Osteuropa bis in die spätimperiale Periode zurück, sei es in der Habsburger, Romanow oder Hohenzollern-Monarchie. Bereits in der österreichischen Sozialdemokratie hat vor 1918 die Nationalitätenfrage das einheitliche revolutionäre Handeln der Arbeiterklasse erschwert. Sehr oft wurden soziale Ungleichheit, Gerechtigkeit, Sozialismus und Klassenkampf eher in nationalen als klassenorientierten, supranationalen Kategorien artikuliert. Die Nationalitätenfrage wirkte dann als eine der treibenden Kräfte der Spaltung der Arbeiterbewegung am Anfang des 20. Jahrhunderts. In Polen nahm der radikale Flügel um Rosa Luxemburg eine antinationale Position ein und stellte sich gegen die Gründung des selbstständigen polnischen Staates, während die reformistischen Sozialisten im Nationalstaat die Voraussetzungen für den Sozialismus sahen. In den böhmischen Ländern war die Sozialdemokratie von Anfang an nach sprachlich-ethnischen Kriterien in eine tschecho-slawische und eine deutsche Partei geteilt.20 Nach 1918 spiegelte die Zersplitterung der Arbeiterbewegung in die reformistischen Sozialdemokraten und die revolutionären Kommunisten zum Teil auch die Nationalitätenfrage wider. Die Sozialdemokraten akzeptierten zumeist die neu entstandenen Nationalstaaten in Mittel- und Osteuropa und wurden sogar zu „staatstragenden“ Kräften, während die Kommunisten sich gegen die Nationalstaaten stellten und sich als „Sektionen“ der Kommunistischen Internationale betrachteten. Das war die Zeit des revolutionären „Sektierertums“, als die Kommunisten die Sozialdemokraten als „Sozialfaschisten“ brandmarkten. Noch 1932, während des Bergarbeiterstreiks im nordböhmischen Braunkohlerevier Most/Brüx, rief der KSČ-Führer Klement Gottwald nach dem gemeinsamen Kampf der tschechischen und deutschen Bergarbeiter gegen die Bourgeoisie der beiden Nationalitäten auf; der Angriff war zugleich gegen die Sozialdemokratie gerichtet. Die Politik der „Volksfront“ der dreißiger Jahre, eine nationsorientierte Legitimierung der sozialen Revolution, die auf der Zusammenarbeit mit sozialistischen und „progressiven bürgerlichen“ Parteien gründete, blieb maßgebend für die

20

Volksgeschichte wie im „Dritten Reich“ gab. Zum Verhältnis von Geschichtswissenschaft und fascistischem Regime, in: Manfred Hettling (Hg.), Volksgeschichten im Europa der Zwischenkriegszeit, Göttingen 2003, S. 120–146, hier S. 121f.; Lutz Raphael, Zwischen Agrarromantik und empirischem Rationalismus. Wege der französischen Siedlungsgeographie und Agrargeschichte, in: Ebenda, S. 147–172, hier S. 152. Vgl. Antoni Czubiński, Historia Polski XX wieku, Poznań 2005, S. 20–23; Zaremba, Im nationalen Gewande, S. 57ff.; Jiří Kořalka, Tschechen im Habsburgerreich und in Europa 1815–1914, Wien 1991; Jacques Rupnik, Dějiny Komunistické strany Československa, Praha 2002, S. 17ff.

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kommunistische Bewegung bis zum Aufstieg des Stalinismus in Ostmitteleuropa in den späten vierziger Jahren (mit Ausnahme der Jahre 1939–1941).21 Unmittelbar nach dem Krieg bildete die „Volksfront-Ideologie“ die Basis für die „Volksdemokratie“. Diese Phase war zwar kurzlebig, aber als ein Gründungsereignis für das Selbstverständnis osteuropäischer Kommunisten in der gesamten zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts von großer Bedeutung. Die „Nationalitätenfrage“ änderte sich allerdings im Zuge des Krieges erheblich. Einige Länder, wie zum Beispiel Polen, verwandelten sich von multinationalen in monoethnische Staaten. Auch die Völkervielfalt anderer Länder, wie der Tschechoslowakei, verminderte sich radikal. Einige haben ihre Heterogenität beibehalten, aber, wie Rumänien und Bulgarien, ihre Minderheiten systematisch unterdrückt. Nach 1945 fusionierte die traditionelle ethnisch-kulturelle Auffassung der Nation noch stärker mit der ideologischen Kategorie des „werktätigen Volkes“, die die industrielle Arbeiterschaft, Kleinbauerntum und die „werktätige Intelligenz“ miteinbezog, überwiegend von der gleichen Ethnizität. So setzten die Volksdemokratien die Ideologie der Volksfront aus den dreißiger Jahren fort, waren aber in ihrer plebejischen Klassenausrichtung viel radikaler: Der ethnisch verstandene Plebs stand der traditionellen hierarchischen Gesellschaftsordnung gegenüber, dem Bürgertum und der Aristokratie sowie der Kirche.22 Generell haben der Krieg und der antifaschistische Widerstand die nationale Seite des Kommunismus in ganz Europa gestärkt. Das heißt aber nicht automatisch, dass der Internationalismus verschwand. Vielmehr problematisierte sich das Verhältnis zwischen Kommunismus und Nation im Vergleich zur Vorkriegszeit, indem einige internationale Bindungen durch die Kriegsfeindschaft gestört wurden und nur sehr langwierig wieder aufgebaut werden konnten. Das gilt zum Beispiel für das Verhältnis der KSČ zu den Nationalminderheiten: War vor dem Krieg die Partei dezidiert multinational mit vielen Deutschen, Ungaren und Juden in der Parteiführung, zerstörte die Nationalisierung während des Krieges und nach dem Krieg diese Symbiose.23 Europaweit haben sich die Kommunistischen Parteien dem Nationalstreben verschrieben. Wie es Bertram D. Wolfe formulierte: When Hitler attacked Communist Russia, Stalin would find that nationalism was a far better banner than communism with which to rally the Russian people. In the French under21

22 23

Zum Begriff der Volksdemokratie Alfred J. Rieber, Popular Democracy: An Allusion? in: Vladimir Tismaneanu (Hg.), Stalinism Revisited. The Establishment of Communist Regimes in East-Central Europe, Budapest 2009, S. 103–128; Alexej Kusák, Kultura a politika v Československu 1945–1956, Praha 1998, S. 143–228. Iván T. Berend, Central and Eastern Europe, 1944–1993. Detour from the Periphery to the Periphery, Cambridge 1996, S. 16. Rupnik, Dějiny, S. 191–198.

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ground, though the communists had all the experience and the disciplined organization, it was not the banner of Communism but of national resistance that would rally France to resume its struggle to exist, and would create the Fourth and Fifth Republics.24

Nach 1945 tolerierte Stalin zuerst die Politik der „nationalen Wege zum Sozialismus“, und somit auch Koalitionen mit den nicht-kommunistischen Parteien, weil er noch auf ein Abkommen mit dem Westen hoffte. Echte Revolutionen „von unten“ standen nicht auf seiner Agenda. Deshalb war die Sowjetunion zunehmend durch die Politik der jugoslawischen Kommunisten beunruhigt, die in der Verwirklichung einer authentischen sozialistischen Revolution ohne Stalins Kontrolle zu weit gingen. Im Allgemeinen blieb in den kommunistischen Parteien die Erinnerung an die soziale und nationale Revolution von 1945–1948 sehr wirksam, und tatsächlich tauchte die Idee der „Volksfront“ und „Volksdemokratie“ immer wieder auf, wie in Ungarn 1956 und der Tschechoslowakei 1968.25 Der Stalinismus und der Kalte Krieg gestalteten das nach 1945 entstandene Zusammenrücken von Nation und Klasse wieder neu. Besonders mit der Kampagne zur „Verschärfung des Klassenkampfs während des Aufbaus des Sozialismus“ überwältigte die Klasse vorübergehend die Nation. Die Nationalrhetorik blieb sichtbar, verlagerte sich aber zunehmend in die Sphäre der Kultur. Kommunistische Kulturpolitiker wie József Révai in Ungarn oder Zdeněk Nejedlý in der Tschechoslowakei, der die tschechischen Kommunisten für die Erbfolger der „revolutionären Hussitentradition“ erklärte, sicherten die Kontinuität zwischen Volksdemokratie und Stalinismus. In der Kultur verlor Stalins Diktum „National in der Form, sozialistisch im Inhalt“ nicht an Geltung. Aber in der Politik, Sicherheit und Wirtschaft dominierte das ideologisch getriebene Klassenprinzip: Der Stalinismus griff vor allem die „feindlichen Klassen“ der eigenen Nation an.26 Die zeitweilige Überlegenheit von Klasse und Marxismus über der Nation resultierte aus mehreren Umständen. Der unmittelbar nach dem Krieg tobende Nationalhass ließ allmählich nach, vor allem gegen die Deutschen und Ungarn, nachdem die DDR und Volksungarn in die Familie der sozialistischen Völker aufgenommen wurden. Der Schwerpunkt der negativen Hasspropaganda verschob sich von äußeren, meistens ethnisch definierten Feinden (Deutschen, Magyaren, Italienern, Türken) auf innere „Klassen-„ „Volks-„ und „Staatsfeinde“ innerhalb der Nation und sogar der Partei selbst. Der Begriff des „Volkes“ (lid, lud) war 24 25 26

Bertram D. Wolfe, Marxism. One Hundred Years in the Life of a Doctrine, New York 1965, S. 11. Geoffrey Swain/Nigel Swain, Eastern Europe Since 1945, Basingstoke 2003, S. 89. Zum tschechoslowakischen Stalinismus nach wie vor sehr einsichtig H. Gordon Skilling, Stalinism and Czechoslovak Political Culture, in: Robert C. Tucker (Hg.), Stalinism. Essays in Historical Interpretation, New York 1977, S. 257–288.

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bereits ethnisch aufgeladen, sodass eine weitere Ausbeutung des offenen Nationalismus unnötig schien. Obwohl national-ethnische Zuschreibungen präsent blieben, änderte sich ihre Funktion. Nunmehr wurde der national gerichtete Hass zu einer additiven Qualität der dominanten klassenzentrierten Feindrhetorik. Propagandistische Schlagworte wie „Klassenfeind“ und „Volksfeind“, die in der Hassrhetorik des Großen Terrors der dreißiger Jahre in der UdSSR wurzelten, konnten nun als Synonyme gebraucht werden. In den Vordergrund traten im Spätstalinismus bezeichnenderweise Angriffe auf die „rechts-nationalistischen Abweichungen“ und den „bürgerlichen Nationalismus“, besonders in Polen und der Tschechoslowakei. Titos größtes Verbrechen in dieser Zeit war aus Sicht der Stalinisten eben sein „Nationalismus“. Damit will ich nicht behaupten, dass der Stalinismus antinational war, wie die Sowjetisierungsthese suggeriert. Aber weil der Nationsbegriff so oft durch die abwertenden Verweise auf „Nationalismus“ negativ konnotiert wurde – dagegen konnte 1945–1948 kaum jemand als „Nationalist“ attackiert werden – war die Nation nicht mehr das master symbol des Parteidiskurses.27 In Polen und Ungarn wurde die stalinistische Herrschaft von großen Teilen der Gesellschaft zunehmend als antinational und somit als ein Instrument der fremden sowjetischen Herrschaft wahrgenommen. Nicht selten vereinigte sich der Antikommunismus mit antisemitischen Ressentiments, was Ausdrücke wie die polnische żydokomuna (Judäokommunismus) belegen, auf die im nächsten Kapitel näher eingegangen wird. Jüdische Kommunisten, oft mit deutschem Kulturhintergrund und deutschklingenden Namen, wurden von vielen als nationsfremd betrachtet. In Polen, wo die Verbindung vom Antisemitismus und Antibolschewismus tief verwurzelt war, wurden stalinistische Politiker jüdischer Herkunft wie Jakub Berman und Hilary Minc zur Zielscheibe des Volkshasses, ähnlich wie Mátyás Rákosi in Ungarn oder Ana Pauker in Rumänien. In der Tschechoslowakei tauchten antisemitische Tendenzen später als Folge von Stalins Wende zum Antisemitismus bzw. „Antizionismus“ im Slánský-Prozess von 1952 auf. Im Ergebnis wurden einige Exponenten des stalinistischen Regimes zunehmend durch ihre jüdische Zugehörigkeit wahrgenommen. Antisemitische Tendenzen und Germanophobie verschmolzen wieder (wie oft in der ostmitteleuropäischen Na27

Auch die rumänischen Kommunisten feierten das Jahr 1956 als die Rückkehr zum nationalen Weg in den Sozialismus, als Abschied von der Fremdherrschaft – ein Trend, den Ceaușescu nach 1965 weiter forcierte und seit den späten siebziger Jahren ins Äußerste trieb. Vgl. Dragoş Petrescu, Building the Nation, Instrumentalizing Nationalism. Revisiting Romanian National-Communism, 1956–1989, in: Nationalities Papers 37, 2009, S. 523–544; Dennis Deletant, Romania under Communist Rule, Iasࡣi 1998, S. 150–156 und 178–183.

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tionalpolitik seit dem späten 19. Jahrhundert), sodass vor allem jüdische Intellektuelle oft in Ungnade fielen, sowohl als Juden wie auch als Deutsche.28 Slánský, ein musterhafter Stalinist und das prominenteste Opfer des Stalinismus, verkörperte exemplarisch das komplizierte Verhältnis der Juden zum Kommunismus und damit auch das Verhältnis zwischen Klasse und Nation. Jüdische Intellektuelle wie Slánský schlossen sich der kommunistischen Bewegung vor dem Zweiten Weltkrieg an und gehörten in den dreißiger Jahren zu den aktivsten Kämpfern gegen den Faschismus. Die Erfahrung der nationalsozialistischen Verfolgung vergrößerte ihre Nähe zur kommunistischen Bewegung. Da sie als die einzig konsequent antifaschistische Kraft erschienen, traten nach 1945 Juden den kommunistischen Parteien erneut in großem Ausmaß bei. In der unmittelbaren Nachkriegszeit sah Stalin die nationale „Entwurzelung“ der Juden eher als einen Vorteil an, vor allem im besiegten Ungarn.29 Aber bald führte die gefühlte Überrepräsentation der Juden, zusammen mit dem Aufstieg Israels als eines der „imperialistischen Erzfeinde“, erneut zu einem Kurswechsel. In diesem Moment wurde der traditionelle, ursprünglich antikommunistisch gefärbte Antisemitismus in die stalinistische Propaganda integriert, wie der Slánský-Prozess anschaulich zeigt. Nach Stalins Tod hörten zwar offene antisemitische Attacken auf, es gab jedoch auch später Ausbrüche vom „Antizionismus“ in den kommunistischen Parteien, besonders in Polen 1968 und in der Sowjetunion in den Jahren 1967–1972.30 Die Wahrnehmung des Stalinismus als „nationsfremd“ war die treibende Kraft auch für die Ereignisse von 1956. Die Idee des „nationalen Weges zum Sozialismus“ nahm deshalb eine Schlüsselstellung in der Legitimationsstrategie des Poststalinismus ein. In Polen kündigte Gomułka, der sich selbst gut zum Symbol des antistalinistischen Kampfes stilisieren konnte, die Rückkehr zum „polnischen Sozialismus“ an. Er stellte das Gleichgewicht zwischen Klasse und Nation im Parteidiskurs wieder her, indem er das Klassenprinzip als Diskriminierungskriterium schwächte und die Kollektivierung der Landwirtschaft als den meist gehassten Ausdruck der „Sowjetisierung“ stoppte und später ganz einstellte. In den sechziger Jahren, als sich die Legitimität ihrer Herrschaft angesichts der schlechten wirtschaftlichen und sozialen Lage schwächte, verstärkte die PZPR-Führung die na28

29 30

Zum Verhältnis von Kommunismus und Antisemitismus siehe z. B. Mikołaj S. Kunicki, Between the Brown and the Red. Nationalism, Catholicism, and Communism in Twentieth-Century Poland. The Politics of Bolesław Piasecki, Athens, Ohio 2012; Jaff Schatz, The Generation. The Rise and Fall of the Jewish Communists of Poland, Berkeley 1991. Dieses Thema wird im folgenden Kapitel ausführlich behandelt. Berend, Central and Eastern Europe, S. 70. Vgl. Dariusz Stola, Kampania antysyjonistyczna w Polsce 1967–1968, Warszawa 2000; Piotr Madajczyk, Cień roku ’68, Warszawa 2012.

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tionalistischen, offen antideutschen Töne. Eine noch radikalere Nationalideologie verfolgte die rumänische Partei, nachdem Ceaușescu im Jahr 1965 die Parteiführung übernommen hatte. Im Vergleich zu seinem Vorgänger Gheorghiu-Dej, der behutsam zwischen Loyalität zur Sowjetunion und nationaler Autonomie lavierte, ließ Ceaușescu von Anfang an stark nationalistische Propaganda verlauten, die 1968 in seiner Ablehnung der Invasion des Warschauer Paktes in die Tschechoslowakei gipfelte. Ceaușescus Nationalideologie entwickelte sich in den Folgejahren zu einer pharaonischen Herrschaftsinszenierung, die unter den sozialistischen Ländern ohnegleichen blieb.31 Der „Nationalkommunismus“ ging nicht immer Hand in Hand mit der Verschärfung der autoritären Herrschaft, wie es in der späten Gomułka-Ära in Polen der Fall war. In multinationalen Staaten konnte der Aufstieg des Nationaldiskurses mit den Forderungen nach Reformen und Liberalisierung des Herrschaftssystems einhergehen. In der Tschechoslowakei bildeten die slowakischen Forderungen nach mehr Autonomie einen der Zentralpunkte der Reformagenda während des Prager Frühlings. Diejenigen Parteimitglieder, die in den fünfziger Jahren wegen des „bürgerlichen Nationalismus“ verurteilt wurden, wie Gustáv Husák, wurden freigelassen und rehabilitiert. Husák unterstützte am Anfang den Reformprozess, nach 1969 führte er jedoch als KSČ-Generalsekretär die anschließende „Normalisierung“ ein. Obwohl von einem anderen Slowaken – Alexander Dubček – geführt, war der Prager Frühling hauptsächlich ein tschechisches Nationalprojekt, das auf der Selbstbeschreibung der Tschechen als demokratisch, friedlich und sozialgerecht fußte.32 Auch wenn die tschechoslowakische Reform meistens als ein Versuch dargestellt wird, politischen Pluralismus, intellektuelle Freiheit und wirtschaftliche Liberalisierung zu fördern, war die nationale Dimension grundlegend. In der Tat haben die Sowjets den Einmarsch in die Tschechoslowakei unter anderem mit der Abwehr des „Nationalismus“ begründet.33 Bezeichnenderweise war eben die Föderalisierung des Staates als Zugeständnis an die slowakischen Forderungen das einzige Ergebnis des Reformprozesses, das während der „Normalisierung“ nicht zurückgenommen wurde.

31 32

33

Vgl. Malte Olschewski, Der Conducator Nicolae Ceausescu. Phänomen der Macht, Wien 1990. Kemp, Nationalism and Communism, S. 154; siehe auch die Debatte über das „tschechische Schicksal“ (český úděl) zwischen Milan Kundera und Václav Havel 1968–1969, dazu Michal Kopeček, Polemika Milan Kundera – Václav Havel. Spory o českou otázku v letech 1967–1969 a jejich historický obraz, in: Oldřich Tůma/Markéta Devátá (Hg.), Pražské jaro 1968. Občanská společnost – média – přenos politických a kulturních procesů, Praha 2011, S. 129–138. Kemp, Nationalism and Communism, S. 155.

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Die poststalinistische Verwirrung über die Nationalfrage wurde auch dadurch vorangetrieben, dass selbst die stalinistische Auffassung der Nation sich im Laufe der Zeit änderte. Stalin deutete die Nation um, indem er den Akzent abwechselnd auf ethnisch-kulturelle, wirtschaftliche oder politische Aspekte legte und das Verhältnis zwischen „Volksführern“ und „Volksmassen“ revidierte. Wie Árpád von Klimó bemerkte, waren die osteuropäischen Satellitenstaaten mit dem „Spätstalinismus“ konfrontiert, der bereits stark „nationalisiert“ war.34 Nach 1945 kam die Tatsache verstärkt zur Geltung, dass Stalin in seinem eigenen Werk Marxismus und Nationalfrage (1913) der Nation als einer selbstständigen Entität eine große Bedeutung zuschrieb, indem er sie als eine „stabile Gemeinschaft“ auffasste, die auf gemeinsamer Sprache, Territorium, Wirtschaftsleben und „psychischer Lebensart“ gründete. Bereits in diesem frühen Werk wurde sichtbar, dass Stalin die Nation als eine permanente Erscheinung ansah und damit von Lenin abwich.35 Die spätere Vorherrschaft der Nation über die Klasse lag bereits in dieser Stalinschen Nationsauffassung begründet und leitete den ideologisch-politischen Hauptwiderspruch des Kommunismus in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ein. Nachdem die Kommunisten den „Tiger des Nationalismus“ freigelassen hatten (bzw. dazu gezwungen wurden), wurden sie sein Herr und sein Sklave zugleich. Das erklärt die widersprüchliche Nationspolitik, die in beiden Epochen, Stalinismus wie Poststalinismus, vorhanden war: Auf der einen Seite die enge Verbindung vom „Aufbau des Sozialismus“ mit der „nationalen Befreiung“ sowie die Akzentuierung der Nationalkultur; auf der anderen Seite das Feindbild des „bürgerlichen Nationalismus“, dessen die kommunistischen Stalinismus-Opfer bezichtigt wurden – Pătrăşcanu, Gomułka, Kostow, Rajk, und noch nach Stalins Tod Husák.36 Über diesen Widerspruch wurde in den Parteien nach 1956 lebhaft

34 35

36

Árpád von Klimó, Nation, Konfession, Geschichte. Zur nationalen Geschichtskultur Ungarns im europäischen Kontext (1860–1948), München 2003, S. 302. Der britische Historiker Eric Cahm drückt diese Lage treffend aus: „The national reality being permanent, so were the differences and the antagonisms and the relations among nations, much as the relations among states between the social classes, expressed themselves in terms of struggle. Out of temperament, Stalin – even if he was not aware of it – attached more importance to nations than classes. He continued to reverse the priorities in Lenin’s thinking and considered history to have on the whole a national dynamic. Doubtless he never admitted this, but his actions betrayed it.“ Zit. n. Kemp, Nationalism and Communism, S. 55f. Ebenda, S. 119f.; Husák und der gesamte Prozess gegen die slowakischen „bürgerlichen Nationalisten“ zeugt von der Fortsetzung der Bekämpfung des „Nationalismus“ auch nach 1953 (Husák wurde im April 1954 zur lebenslangen Haft verurteilt, erst 1960 amnestiert und 1963 rehabilitert). Deshalb kann man die Entstalinisierung nicht mit der Rückkehr

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diskutiert, besonders angesichts der problematischen Gegenüberstellung vom (bösen) „bürgerlichen Nationalismus“ und dem (guten) „sozialistischen Patriotismus“. Für die offizielle stalinistische Ideologie – zum Beispiel für die Kulturpolitiker der KSČ wie Zdeněk Nejedlý und Václav Kopecký – war charakteristisch, dass sie den Unterschied zwischen „Patriotismus“ und „Nationalismus“ nie inhaltlich klärten. Allgemein sollte aber die Wirkungsmacht des Nationaldiskurses im Hochstalinismus nicht verabsolutiert werden: Das Klassenprinzip war mehr als „bloße Rhetorik“, denn es behielt in der konkreten Politik die Oberhand, wie die Klassenlogik der Massenrepression zeigt. Der Stalinismus brachte noch einen semantischen Schub mit sich, mit dem sich die Poststalinisten auseinandersetzen mussten: den vom „proletarischen“ zum „sozialistischen Internationalismus“. Während der erstere eine „entwurzelte“ internationale Identität implizierte, verwies der letztere auf die Beziehungen zwischen den sozialistischen Staaten.37 Auch wenn diese Begriffe nach 1956 ambivalent blieben, wurde die Bedeutung der „Nation“ und vor allem des „sozialistischen Staates“ verstärkt. Die tschechoslowakische Enzyklopädie von 1966 definiert den proletarischen Internationalismus zwar als „die Idee und Politik der internationalen Aktionseinheit und der Solidarität des Proletariats und der Werktätigen im gemeinsamen Kampf gegen den Kapitalismus und Imperialismus für die soziale Befreiung und den Aufbau der sozialistischen Gesellschaft“.38 Zugleich wird der proletarische Internationalismus aber als ein „ideologisches Grundprinzip für die kommunistischen Parteien und die Staaten des sozialistischen Lagers“ bezeichnet. Die internationalen Aufgaben des Proletariats stehen „mit den wirklichen Nationalinteressen und den Prinzipien des sozialistischen Patriotismus im Einklang“. Auch im polnischen Kontext wurde der Nachdruck auf den Nationalstaat und zwischenstaatliche Beziehungen gelegt, während die Bedeutung der Klassenbezüge, der „Werktätigen“, schrumpfte.39 „Kosmopolitismus“ erscheint indessen auch im poststalinistischen Diskurs eher negativ als „Ideologie der imperialistischen Expansion“, die in Wirklichkeit die Unterdrückung kleiner Völker rechtfertige.40 Die Durchsetzung des Begriffes des „sozialistischen Internationalismus“ hing im Spätsozialismus mit dem endgültigen Verzicht auf den Aufbau der klassenlosen Gesellschaft zusammen: Beschränkte sich der „proletarische Internationalismus“ auf die Beziehungen zwischen den Werktätigen aller Völker, bedeutete hingegen

37 38 39 40

des Nationalismus und der Entstehung des „Nationalkommunismus“ gleichsetzen. Vgl. Viliam Plevza, Vzostupy a pády. Gustáv Husák prehovoril, Bratislava 1991, S. 68–84. Kemp, Nationalism and Communism, S. 130. Příruční slovník naučný, Bd. 3, Praha 1966, S. 798. Wielka encyklopedia powszechna PWN, Bd. 5, Warszawa 1965, S. 84. Příruční slovník naučný, Bd. 2, Praha 1963, S. 635.

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der „sozialistische Internationalismus“ eine „Erweiterung der gesellschaftlichen Grundlage des Internationalismus“, dessen „graduelle Umwandlung in die Ideologie der gesamten Gesellschaft“.41 Die Semantik des Poststalinismus zeigte daher eine schrittweise Verstärkung der Nation; zugleich war jedoch das Erbe der stalinistischen Klassenideologie stark genug, vor allem in den sechziger Jahren, um den Hegemonialanspruch der Nation immer wieder unterlaufen zu können.

Die Partei für die Nation retten! Kehren wir, um die Verschiebungen zwischen Klasse und Nation besser in den poststalinistischen Ideologiediskurs einordnen zu können, zu Chruschtschow zurück. Was die nationale Selbstbestimmung anbetrifft, war er eher offen, nicht zuletzt wegen der Entwicklungen in der Dritten Welt sowie in den westeuropäischen kommunistischen Parteien, die, ausgehend von Togliattis Appell an den policentrismo, einen „westlichen Nationalkommunismus“ forderten.42 Ähnlich wie Ende des 19. Jahrhunderts und nach dem Ersten Weltkrieg schien nach 1956 erneut die Nation über die Klasse zu siegen. Trotz des rapiden Aufstiegs des Nationaldiskurses blieb die marxistische Komponente, die Klassenzentrierung, stark. Im Unterschied z. B. zum spätsozialistischen Rumänien war im frühen Poststalinismus der marxistisch-leninistische Klassenaspekt noch sichtlich präsent. In seiner Geheimrede verurteilte Chruschtschow Stalins Nationalitätenpolitik, die auf Verfolgung, Zwangsumsiedlungen und Massendeportationen ganzer Volksgruppen basierte, scharf. Es war eine seiner schwersten Waffen gegen Stalin: Genossen! Beschäftigen wir uns mit einigen anderen Tatsachen. Die Sowjetunion wird zu Recht als Muster eines multinationalen Staates angesehen, denn bei uns wurden in der Praxis Gleichheit und Freundschaft aller Völker gewährleistet, die unsere große Heimat bewohnen. Umso ungeheuerlicher sind die Aktionen, deren Initiator Stalin war, und die eine brutale Vergewaltigung der grundlegenden Leninschen Prinzipien der Nationalitätenpolitik des Sowjetstaates waren. Die Rede ist von der Massenumsiedlung ganzer Völker aus ihren heimatlichen Orten, darunter auch aller Kommunisten und Komsomolzen ohne jede Ausnahme, wobei derartige Aussiedlungsaktionen durch keinerlei militärische Beweggründe diktiert waren. […] Nicht nur für Marxisten-Leninisten, sondern für jeden vernünftig den-

41 42

Malá československá encyklopedie, Bd. 5, Praha 1987, S. 115f. Dazu Maud Bracke, Which Socialism, Whose Détente? West-European Communism and the Czechoslovak Crisis 1968, Budapest 2007, S. 63–69.

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kenden Menschen ist es unverständlich, wie man die Verantwortung einzelner Personen oder Gruppen für feindliche Handlungen auf ganze Völker übertragen konnte.43

Als Beispiel von angeordneten Zwangsumsiedlungen hob Chruschtschow nicht zufällig Georgien hervor. Dort habe Stalin die Existenz einer „nationalistischen Organisation“ fabriziert, sodass „Tausende unschuldige sowjetische Menschen“ der Willkür und Gesetzlosigkeit zum Opfer gefallen seien. „Und all das vollzog sich unter der ‚genialen‘ Führung Stalins – ‚des großen Sohnes des georgischen Volkes‘, wie die Georgier ihren Landsmann zu nennen beliebten.“44 In Wirklichkeit, so Chruschtschow, hätten der Aufbau des Sozialismus und die Veränderungen des georgischen Bewusstseins die Bedingungen für den „bürgerlichen Nationalismus“ längst abgeschafft. Chruschtschow verurteilte die bei Stalin beliebte Strategie, den „Nationalismus“ als Vorwand für Massenrepressalien zu verwenden. Damit sendete er ein Signal an die Kommunisten weltweit, dass ein gewisser Grad an nationaler Unabhängigkeit erlaubt sei. Auch wenn Togliattis Programm des policentrismo, nach welchem sich die kommunistische Weltbewegung in ein vielfältiges System mit mehreren Zentren umwandeln sollte, sich angesichts der Unterdrückung des ungarischen Aufstandes von 1956 am Ende nicht durchsetzte, drückte es doch treffend die Stimmung des Augenblickes aus: Die Nationalgefühle der einzelnen Parteien wurden offensichtlicher. Infolge dieser Öffnung begann man auch die anderen „sozialistischen Nationen“ intensiver wahrzunehmen: Es war um 1956 als die Parteidiskussionen sich öfter mit der Situation in den Nachbarländern und den „Bruderparteien“ beschäftigten, wie auch allgemein mit der Weltpolitik. Der Blick über den eigenen nationalen Tellerrand hinaus verunsicherte zunächst die Kommunisten. Die heikle Beziehung zwischen Sozialismus und Nation in der Zwischenkriegszeit und während des Sozialismusaufbaus blieb ihnen in Erinnerung und gerade der Sinn des „proletarischen“ und „sozialistischen Internationalismus“ wurde in den Parteiversammlungen nach 1956 oft erörtert. Angesichts der sich verändernden internationalen Lage waren sich viele darüber nicht im Klaren, wie sie sich zu den anderen sozialistischen Völkern stellen sollten, ob „bruderhaft“, distanziert oder sogar missbilligend. In der SED-Bezirksleitung Halle kritisierte man während des „Polnischen Oktobers“ von 1956 die „kleinbürgerlichen, antisowjetischen und nationalistischen Auffassungen der polnischen Genossen“, die „den Boden des proletarischen Internationalismus“ verlassen haben. In der Diskussion über die „Ereignisse in Volkspolen“ schlussfolgerten die

43 44

Die Geheimrede Chruschtschows. Über den Personenkult und seine Folgen, Berlin 1990, S. 56f. Ebenda, S. 60f.

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Hallenser Genossen, dass „im Verhältnis zwischen unserer Partei und der PVAP starke Komplizierung auftritt“.45 Häufiger jedoch bezog sich in der SED die Kritik auf das deutsch-deutsche Verhältnis. Sie konnte durch banale Motive veranlasst werden. 1962 hat die Kreisleitung Frankfurt/Oder einen von den örtlichen Parteihistorikern ausgearbeiteten Stadtführer durch Eisenhüttenstadt dafür kritisiert, die „Rolle der DDR bei der Lösung der nationalen Frage im Kampf gegen den westdeutschen Imperialismus und Militarismus“ falsch dargestellt zu haben. Damit haben die Historiker „den proletarischen Internationalismus negiert“.46 Die härteste Nuss war für die SED-Parteipropagandisten jedoch die Invasion in die Tschechoslowakei 1968. Zum Beispiel den Teilnehmern des Parteischuljahres in Roßlau war es „nicht geläufig, dass sozialistischer Internationalismus nicht nur Spenden und Hilfsaktionen von Geld und materieller Güter, sondern in der Endkonsequenz auch Einsatz von militärischen Einheiten zum Inhalt hat“. Kritisch vermerkte der Bericht, dass „zwischen dem sozialistischen Internationalismus und der treuen Erfüllung der Verpflichtungen des Warschauer Vertrages durch die DDR noch keine feste Einheit gesehen wird“.47 Zur Verwirrung der Genossen trugen auch die Inkonsistenz von Chruschtschows Politik und die Uneindeutigkeit der offiziellen Propagandasprache zwischen 1956 und 1961 bei, die durch die hastigen Entwicklungen in der Weltpolitik mitbestimmt waren. Wie es Walter Kemp formulierte, schwankte Chruschtschow zwischen dem Bejahen der „nationalen Wege zum Sozialismus“ und dem Beharren auf dem sowjetischen Modell als dem einzig erlaubten Vorbild: Khrushchev was stuck in the cyclical pattern of compromise and crackdown. [...] Every time he felt that he was rectifying the situation, he unwittingly unleashed new centrifugal forces. The ambivalence created by Khrushchev’s dilemma allowed the socialist states and the Soviet republics a considerable amount of room for manoeuvre.48

Diesen Spielraum nutzte nach 1956 am besten Gomułka aus, dessen Entstalinisierungpolitik den „Nationalkommunismus“ am treuesten verkörperte. Im ideologischen Vokabular und in symbolischen Repräsentationen Volkspolens der Gomułka-Zeit, so Marcin Zaremba, wurde die charismatisch-revolutionäre Legitimierung durch den Akzent auf nationale Tradition ersetzt.49 Ein genauerer Blick auf Go45 46 47 48 49

LHASA, MER, SED-Bezirksleitung Halle, IV/2/2/22, Protokoll über die Beratung der Genossin Lene Berg, 24.10.1956, Bl. 131–133. SAPMO, DY 30/IV A2/9.07/386, Bericht über den Einsatz in der Kreisleitung Eisenhüttenstadt,12.12.1961, unpag. LHASA, MER, SED-Bezirksleitung Halle, IV/B-2/9.01/626, SED-Kreisleitung Roßlau an IML, 23.9.1968, unpag. Kemp, Nationalism and Communism, S. 149. Zaremba, Im nationalen Gewande, S. 231.

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mułkas Auffassung von Klasse und Nation zeigt jedoch, dass er eher als die Ersetzung der Ersteren durch die Letztere sich stets ihre gegenseitige Durchdringung vor Augen hielt. In seiner Oktober-Rede stellte er das Gleichgewicht zwischen den beiden Subjekten wieder her: Er sprach äquivalent vom „ganzen Volk“ und von der „gesamten Arbeiterklasse“. Im Unterschied zu Chruschtschow war der Stalinismus Gomułka zufolge schädlich sowohl für die Partei als auch für das „gesamte Volk“. Die „Liquidation des Personenkultes“ war nicht nur die Aufgabe der Partei sondern auch der „ganzen Arbeiterklasse“, des „ganzen Volkes“: „Verschiedene Strömungen ergossen sich über das Land, als gewaltigster Strom jedoch zog die Losung der Demokratisierung unseres Landes dahin, die Forderung des Systems, das wir den Personenkult nennen, zu liquidieren.“50 Deshalb müsse die Partei um das Vertrauen des gesamten Volkes kämpfen: Unserer Partei können wir empfehlen, dass sie die besten Genossen, die am stärksten mit der Arbeiterklasse und dem ganzen Volk verbunden sind, als Kandidaten aufstellt. […] Was unser Plenum annimmt und beschließt, damit, Genossen, treten wir vor die Partei, vor die Arbeiterklasse, vor das Volk mit erhobener Stirn, denn wir kommen mit der Wahrheit zu ihnen. Wird aber die Wahrheit dem Volk ohne jede Beschönigung vorgelegt, so schenkt sie uns Kraft und gibt der Volksmacht und unserer Partei den vollen Vertrauenskredit der werktätigen Massen wieder.51

In den sechziger Jahren verschärfte zwar Gomułka den nationalen Diskurs weiter, besonders die antideutschen Töne. Diese Rhetorik erreichte während der „Tausendjahrfeier des polnischen Staates“ von 1966 ihren Höhepunkt. Aber nicht einmal hier wurde das Klassenprinzip in der kommunistischen Deutung der polnischen Geschichte ganz aufgegeben. „Während wir jedoch die politischen Repräsentanten des arbeitenden Volkes sind,“ erklärte Gomułka in seiner Hauptansprache im Juli 1966, „die Fürsprecher seiner Ideale und Bestrebungen, sind wir doch auch gemeinsam mit der gesamten Nation Erben all dessen, was in der Vergangenheit für Polen, für seine Entwicklung und sein Wohl andere Klassen, Stände und Gesellschaftsschichten vollbrachten – Monarchen und Szlachta, städtisches Patriziat und Geistlichkeit, Wissenschaftler und Kulturschaffende.“52 Die Spannung zwischen Klasse und Nation war bestimmend für alle kommunistischen Repräsentationen der Geschichte der späten fünfziger und sechziger Jahre, bemühte sich doch die Parteigeschichtsschreibung, die ältere „bürgerlich nationalistische“ Deutung zu verdrängen. Bereits im Stalinismus waren schließlich die Geschichtsdarstellungen, die sich lediglich auf die Klassengeschichte und den 50 51 52

Gomułka, Rede auf dem VIII. Plenum, S. 44. Ebenda, S. 50f. Zit. n. Zaremba, Im nationalen Gewande, S. 329.

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Klassenkampf beschränkten, eher selten.53 Der Konflikt zwischen dem antinationalen Radikalismus und dem nationalorientieren Traditionalismus war in der kommunistischen Bewegung, einschließlich des Stalinismus, stets vorhanden. In der KSČ schlug er sich in der Gegnerschaft zwischen dem Radikalen Gustav Bareš und dem Traditionalisten Václav Kopecký nieder; der polnische Kommunismus war langfristig durch die auseinandergehenden Haltungen zur polnischen Staatlichkeit in der Zwischenkriegszeit gespalten, und auch die Kampagne gegen die „rechts-nationale Abweichung“ von 1948 (gegen Gomułka) wie auch der „Polnische Oktober“ selbst drehten sich in erster Linie um die nationale Frage. Nach 1956 wuchs die Bedeutung der „nationalen Einheit“ im Geschichtsbild der Arbeiterparteien, als Teil der Auseinandersetzung mit dem als „Fremdherrschaft“ wahrgenommenen „Personenkult“, während der nationsinterne Klassenkonflikt, vor allem zwischen Arbeiterklasse und Bourgeoisie, an Bedeutung verlor. Entsprechend diesen Verschiebungen fügten sich die poststalinistischen Synthesen der Parteigeschichte immer in den Gesamtrahmen der Nationalgeschichte, durch die Nationalisierung der Klasse wie auch durch die Sozialisierung der Nation. Die Geschichte der Partei und der Arbeiterbewegung waren immer eine Erweiterung, nie eine Ersetzung der Nationalgeschichte.54 Demnach entstanden die poststalinistischen Geschichten der Arbeiterbewegung immer als eine Nationalgeschichte: Der Grundriss der Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, die Geschichte der polnischen Arbeiterbewegung, die Geschichte der Kommunistischen Partei der Tschechoslowakei.55 Die wissenschaftliche Erforschung der Nationsbildung, die sich in Ostmitteleuropa nach 1956 etablierte, ging nach wie vor von Stalins Auffassung der Nation als stabile Entität aus, gleichzeitig zog sie Modernisierungsfaktoren, darunter den Aufstieg des Kapitalismus und der bürgerlichen Gesellschaft, zunehmend in Be53

54 55

Diese antinationale Einstellung war typisch für die bolschewistischen Radikalen der zwanziger Jahre und die Bucharin-inspirierte soziologische Geschichtsschreibung der Pokrovskij-Schule. Siehe dazu Klaus Mehnert, Weltrevolution durch Weltgeschichte. Die Geschichtslehre des Stalinismus, Stuttgart 1953, S. 5–10. Im tschechischen Kommunismus stehen für diese Ausrichtung Záviš Kalandra, Jan Šverma und die marxistischen Historiker um „Historická skupina“. Vgl. Michal Kopeček, Historical Studies of Nation-Building and the Concept of Socialist Patriotism in East Central Europe 1956–1970, in: Pavel Kolář/Miloš Řezník (Hg.), Historische Nationsforschung im geteilten Europa 1945–1989, Köln 2012, S. 121–136, hier S. 120f.; Vladimír Macura, Šťastný věk (a jiné studie o socialistické kultuře), Praha 2008, S. 131–146. Deneckere/Welskopp, The ‘Nation’ and ‘Class’, S. 168ff. Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, 8 Bd., Berlin 1966; Historia Polskiego Ruchu Robotniczego 1864–1964, 2 Bd., Warszawa 1967; Dějiny Komunistické strany Československa, Praha 1961.

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tracht. Obwohl die Idee der „nationalen Einheit“ andauernd vorherrschte, begann auch die neue Generation von Parteihistorikern nach 1956 die Antagonismen innerhalb der National- wie auch der Arbeiterbewegung zu erkunden. In der polnischen Historiografie arbeiteten vor allem die im ersten Kapitel bereits genannten Feliks Tych und Jan Kancewicz die innere Fragmentierung der frühen polnischen Arbeiterbewegung heraus.56 Auch in der tschechoslowakischen Geschichtsschreibung konzentrierten sich jüngere Historiker wie Jiří Kořalka und Zdeněk Šolle auf die innere Heterogenität der National- und Arbeiterbewegung.57 Die Beschäftigung mit Spaltungen und Klassenantagonismen zeigte, wie verwoben die nationale und die soziale Frage waren. Während der Entstalinisierung wurden somit Nation und Partei/Klasse noch enger verzahnt. Sie verschmolzen zu einem untrennbaren Begriffspaar, in welchem sich die Nation zunehmend als stärker erwies. Im Geschichtsdiskurs der PZPR konnten die „Partei“ und die „Arbeiterbewegung“ nicht ohne einen Verweis auf die Nation erwähnt werden: daher die Wortverbindungen wie „Geschichte der Arbeiterbewegung und des polnischen Volkes“ oder „nationale und soziale Befreiung“. Die soziale Emanzipation war nicht ohne die nationale Unabhängigkeit darstellbar, und in diesem Sinne trifft die These von Deneckere und Welskopp über die Hegemonie der Nation über Klasse für die sechziger Jahre zu. Die Partei der Arbeiterklasse arbeitete stets für das „Wohl der Nation“. Fraglich dagegen ist der zweite Teil der These, wonach es auch in den kommunistischen Geschichtsdarstellungen die Nationalgeschichte ohne Klasse durchaus geben könne: Denn sogar in Polen, wo der Akzent auf die Nation am stärksten war, blieb der Platz der Klasse im ideologischen Diskurs stabil. Exemplarisch drücken die gegenseitige Durchdringung von Klasse und Nation die PZPR-Statuten von 1960 aus: „Diesen Idealen dienend, dient die PZPR der polnischen Nation. […] Indem sie die Arbeiterklasse und die gesamte Nation auf dem Wege zum Aufbau des Sozialismus 56 57

Feliks Tych (Hg.), PPS-Lewica 1906–1918, Materiały i Dokumenty, Bd. 1, 1906–1910, Warszawa 1961. Jiří Kořalka, Severočeští socialisté v čele dělnického hnutí českých a rakouských zemí, Liberec 1963; Zdeněk Šolle, Socialistické dělnické hnutí a česká otázka 1848–1918, Praha 1969; vgl. Kopeček, Historical Studies, S. 132f. Kořalkas erste Arbeit über die Arbeiterbewegung in Liberec und Umgebung (Vznik socialistického dělnického hnutí na Liberecku, Liberec 1956) hob die „einträchtige Zusammenarbeit der tschechischen und deutschen Arbeiter“ hervor. Die Erzählung ist durch Klasse dominiert. Im Vergleich dazu in Severočeští socialisté problematisiert er das Verhältnis zwischen Klasse und Nation. Zwar wird die Zusammenarbeit der Arbeiter beider Nationalitäten in Nordböhmen weiter hochgehalten, zugleich werden aber auch die Unterschiede verdeutlicht, wie zum Beispiel die „widerspruchsvollen“ Ansichten der deutschen Arbeiterführer über den Befreiungskrieg der Balkanvölker.

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führt, ist die PZPR den ruhmvollen Traditionen des Kampfes der Nation um Freiheit und gesellschaftlichen Fortschritt treu und setzt würdig die revolutionären Traditionen der polnischen Arbeiterbewegung fort – des Proletariats, der SDKPiL, der PPR, des linken Flügels der PPS.“58 Die Grundfrage des Poststalinismus hieß nicht, ob die Arbeiterklasse im Geschichtsbild bleibt; im Spiel war vielmehr das „richtige“ Verhältnis zur Nation, das kontinuierlich ausgehandelt wurde. Die Proportion zwischen Klasse und Nation bildete zum Beispiel den bedeutendsten Streitpunkt bei der Vorbereitung des Handbuches der Geschichte der polnischen Arbeiterbewegung aus den sechziger Jahren. Über dieses Verhältnis zu entscheiden – ähnlich wie bei den notorischen Debatten über die „Periodisierung“ – war die schwierigste Aufgabe der Autoren der Parteinarrative. Dabei ist keine „Schwächung“ der Klasse in der Darstellung zu sehen, wohl aber ihre engere Durchdringung mit der Nation: Die poststalinistischen Parteihistoriker sahen das Verhältnis zwischen den beiden immer mehr als ein offenes Problem, stets suchten sie das „Gleichgewicht“ zwischen Klasse und Nation.59 Deutlich trat die Nation in den Parteidebatten bereits im so genannten „kleinen Tauwetter“ in Polen von 1951–1952 in den Vordergrund, als die PZPRMitglieder die „Abgetrenntheit der Partei von der Nation“ kritisierten.60 Das zeugt davon, dass im Stalinismus in der Partei doch Tendenzen vorhanden waren, die Arbeiterbewegung und die Nation als zwei separate Entwicklungen zu betrachten. „Von oben“ galt es diese Sichtweisen zu bekämpfen. Dazu einige Beispiele: 1952 beriet die Abteilung für Parteigeschichte beim ZK PZPR über ihre bisherige Arbeit und stellte dabei eine gewisse „Einseitigkeit“ in der Betrachtung der Arbeiterbewegung fest. Bereits damals sollte das Geschichtsbild der Arbeiterbewegung wieder um einige nationale Aspekte erweitert werden, einschließlich der früher als antinational und antileninistisch geltenden Rosa Luxemburg. Das Ergebnis war eine Mischung aus Stalinismus und der kommenden Entstalinisierung in der Zusammensetzung der zu begehenden Jubiläen: Sie schlossen den 80. Geburtstag von Rosa Luxemburg, den 25. Todestag von Dserschinski, den 30. Jahrestag der KPP-Gründung, den 10. Jahrestag der PPR-Gründung und den

58 59

60

Statut PZPR, Warszawa 1960, S. 8f. SDKPiL [Sozialdemokratie des Königreichs Polen und Litauens], PPR [Polnische Arbeiterpartei], PPS [Polnische Sozialistische Partei]. Eine der frequentierten Fragen während der Diskussionen über das Handbuch der Geschichte der polnischen Arbeiterbewegung in den sechziger Jahren war der „Proporz zwischen der Geschichte der Nation und der Geschichte der Arbeiterbewegung“. AAN, KC PZPR, 237/XXII-41, Węzłowe problemy dyskusyjne; Notatka dla Komisji Ideologicznej, 5.3.1964, unpag. Zaremba, Im nationalen Gewande, S. 202–220.

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60. Geburtstag von Bierut ein.61 Die Propagandatexte aus dieser Zeit appellierten nicht nur an die „soziale, sondern auch nationale Befreiung“ – das heißt, sie kritisierten jenen Zustand, in welchem nur das erstere berücksichtigt wurde. Schon damals sprach man von „unklaren historischen Fragen“, wie der Bewertung der PPS, der KPP, der Schlesischen Aufstände von 1919–1921 oder der polnischen Bauernbewegung (ruch ludowy). Zu dieser Zeit kristallisierten sich die Elemente des poststalinistischen Unklarheiten-Diskurses heraus. Die Teilnehmer des Lektorenseminars zur Parteigeschichte im Juli 1950 wurden kritisiert, dass sie nicht im Stande seien, die Nationalgeschichte mit der Geschichte der Arbeiterbewegung zu verknüpfen: Sie verstehen nicht, dass die Arbeiterbewegung eine Schöpfung und eine treibende Kraft der Vergangenheit ist und dass es ein Fehler ist, diese Bewegung als etwas von der Geschichte der Nationen Abgetrenntes zu betrachten. Die Arbeiterbewegung ist nur vor dem Hintergrund der Geschichte des ganzen Volkes zu begreifen.62

Die grundsätzliche parteiinterne Debatte über Klasse und Nation brach aber erst 1956 aus. Ihre zentrale Komponente war die volle Rehabilitierung der KPP und des linken Flügels der PPS – als Teil der polnischen Nation. Das war eine bedeutsame Wende: In den stalinistischen Geschichtsdarstellungen war die Position der KPP randständig, sie trat als bloße Vorgängerin der Polnischen Arbeiterpartei (PPR) auf, bei welcher wiederum der antifaschistische Widerstand im Vordergrund stand. Die KPP-Gründung im Dezember 1918 und ihre Tätigkeit in der Zwischenkriegszeit waren im stalinistischen Geschichtsbild durch die „bedeutendere“ Nachgeschichte, den Krieg und Sozialismusaufbau, überschattet. Während also Gomułka nach dem Krieg die KPP als „antinationale Kraft“ kritisierte (und später während des Stalinismus für die „rechts-nationale Abweichung“ verurteilt wurde), war die KPP im Stalinismus in das Geschichtsbild integriert, aber nur selektiv und als ein passives Objekt und Prolog der späteren, besseren Entwicklungen.63 Nach 1956 änderte sich die Situation erneut: Da eine offene Wiederaufnahme vom Nationalkommunismus Gomułkas aus den vierziger Jahren unmöglich war, auch aus Angst vor der sowjetischen Intervention, mussten die PZPR-Ideologen ein kompromissorientiertes Bild der KPP entwickeln. An der Parteibasis wuchs gleichzeitig die Missbilligung von Stalins Auflösung der KPP von 1938 und der 61 62 63

AAN, KC PZPR 237/XXI-13, Notatki o pracy WHP KC PZPR w okresie od stycznia 1952 do kwietnia 1952 r., unpag. AAN, KC PZPR, 237/XXI-3, Protokół z odprawy instruktorów wojewódzkich historii Partii, 14.7.1950, Bl. 86. Zum Verhältnis der KPP zur Nationalfrage siehe Zaremba, Im nationalen Gewande, S. 79–87.

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anschließenden Verfolgungen, die in der „vergangenen Periode“ nicht erwähnt werden durften. Die „antinationale Position“ der KPP wurde konsequent heruntergespielt und die Partei als ein Teil der Nation, als ein Glied in der Kette der sozialen und nationalen Befreiungsgeschichte dargestellt. Ihr „polnischer Charakter“ trat in den Vordergrund. Zwar erwähnte die poststalinistische Darstellung die „Fehler der nationalen Politik der KPP“ sowie das „Verlassen des Leninismus“, diese Mängel führte man allerdings auf die „Periode des Personenkultes“ zurück. Nun war von „nationalen und revolutionären Traditionen der KPP“ die Rede, wie das Programm des „Zentralen Propagandakurses“ in Wrocław vom Juni 1957 ankündigte.64 Entscheidend für die Wiederaufnahme der KPP in die Nationalgeschichte war das KPP-Gründungsjubiläum von 1958, das gleichzeitig mit der Entstehung des modernen polnischen Staates von 1918 gefeiert wurde. Das Editorial des Theorieorgans der PZPR Nowe Drogi vom Oktober 1958 integrierte die KPP in die polnische Nationalgeschichte, bewegte sich nichtsdestotrotz auf dem dünnen Eis innerer Widersprüche. In einem Atemzug schilderte man die „Schicksale der Klasse und der Heimat“, wobei die Nation als die bestimmende Kraft aufgefasst wurde: „Die grundsätzlichen Veränderungen im Leben der Nation müssen von Natur aus auch Veränderungen in der Arbeiterbewegung herbeiführen; sie müssen Einfluss haben auf die Gestaltung ihrer Form und ihrer Anschauungen.“65 Es folgten weitere, für den Poststalinismus typisch doppeldeutige Einschätzungen nach dem Muster „auf der einen Seite – auf der anderen Seite“. Zwar sei die Entstehung der polnischen Arbeiterbewegung ein Ergebnis der allgemeinen Entwicklung des europäischen Kapitalismus gewesen. Aber auch wenn der Prozess der kapitalistischen Widersprüche „im Wesentlichen“ in allen Ländern der gleiche gewesen sei, „entwickeln sich diese Widersprüche in jedem Land auf der Grundlage der besonderen Bedingungen, der besonderen Züge der Nation, ihrer Geschichte und gesellschaftlichen Struktur“. Hierbei handelt es sich um eine ähnliche Kontradiktion, die Verdery für Rumänien als den Streit zwischen den nationalargumentierenden „Protochronisten“ und den marxistischen „Universalisten“ beschreibt. Im poststalinistischen Polen vereinigten sich jedoch die beiden Diskursstränge – Arbeiterbewegung und Nation – in ein Narrativ. Die polnische Arbeiterbewegung, so fährt das Editorial von Nowe Drogi fort, habe eine „schwierige Arbeit“ in ihrem Alltagskampf („die Politik des grauen Alltags des revolutionären Kampfes“66) geleistet, was gleichfalls für 64 65 66

AAN, KC PZPR, 237/VIII-259, Program Centralnego kursu dla wojewódzkiego propagandowego aktywu, 10.–21.6.1957, unpag. Czterdziestolecie KPP, in: Nowe Drogi 12, 1958, Nr. 10, S. 3–18, hier S. 3. Ebenda, S. 5.

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die anti-nationale SDKPiL gelte, deren Verdienste auch Lenin hochgeschätzt habe. Hier sehen wir das Bemühen der polnischen Poststalinisten, die Widersprüche aufzuheben und ein harmonisches Geschichtsbild der KPP zu schaffen. Die Erzählstrategie, mit der die Poststalinisten die KPP für die Nation retten wollten, bestand darin, die problematischen Züge der frühen Arbeiterbewegung durch eine relativierende Kontrastierung abzuschwächen. Den wichtigsten Kontrast zur KPP stellte die polnische Sozialdemokratie (PPS) dar, die als opportunistisch, reformistisch, kleinbürgerlich und nationalistisch porträtiert wurde. Die PZPR-Ideologen erkannten jedoch an, dass die PPS 1918 die Mehrheit der polnischen Gesellschaft auf ihrer Seite hatte, dass die Zeit „noch nicht reif genug“ für eine sozialistische Revolution war. Die Fehler der darauffolgenden KPP-Politik wurden keineswegs verschwiegen, besonders ihr „Sektierertum“ und „Dogmatismus“. Diese Schattenseiten relativierte man aber erneut mit dem Verweis auf allgemeine „objektive“ Bedingungen: Die Fehler „gründeten auf der objektiven revolutionären Situation der Arbeiterbewegung. Diese Erscheinungen tauchten in den Reihen der polnischen Kommunisten auf. Der Prozess ihrer Überwindung war keineswegs geradlinig. Zögern und Rückfälle kamen in diesem Prozess vor. Wir müssen über diese Fehler reden, wir müssen aus den Erfahrungen der Geschichte Schlussfolgerungen ziehen.“67 In diesem Sinne kritisierte man auch die ablehnende Stellung der KPP zum Parlamentarismus („Sogar vom Hühnerstall eines bürgerglichen Parlaments aus kann und muss man revolutionäre Propaganda betreiben, die Massen aufklären.“68). Hierbei handelte es sich um eine Anspielung auf Chruschtschows These über die Vielfalt der Wege zum Sozialismus einschließlich des parlamentarischen Weges. Am Ende wurde der Parlamentarismus doch verurteilt, weil er „nie ein wahrer Sozialismus sein kann“.69 Die Fehler der KPP, den Dogmatismus und das Sektierertum, erklärte man durchaus poststalinistisch eher mit dem Hinweis auf die „ungünstigen historischen Umstände“ als durch konkrete Verantwortung. Das Versagen der KPP relativierten die Poststalinisten ferner durch die Gegenüberstellung mit den „viel schlimmeren Fehlern“ der PPS, vor allem ihrer Führung. Die Bejahung des „bürgerlichen Nationalismus“ durch die PPS sei im Grunde kein Fehler gewesen, sondern ein bewusster „Übergang in das Lager des Feindes“: „Es gibt einen grundsätzlichen Unterschied zwischen Fehlern und einem solchen Vorgehen.“70 Eine „Parität der Fehler“ zwischen der KPP und der PPS sei ausgeschlossen, denn die PPS könne nicht als Trägerin der Arbeiterbewe67 68 69 70

Ebenda, S. 15. Ebenda. Ebenda, S. 10. Ebenda, S. 15.

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gung betrachtet werden. In dieser Auffassung bildete die KPP den einzigen roten Faden des Glaubens an die Arbeiterklasse (die für die Nation arbeitete, auch wenn die allgemeinen Bedingungen ungünstig waren). Auf lange Sicht wurde die ideologische Ausrichtung der KPP im Grunde als die richtige begriffen, wovon solche Begriffe wie „historischer Verdienst“ (zasługa historyczna) und „historische Richtigkeit“ (historyczna racja) zeugen. Diese für den Kommunismus typischen teleologischen Konzepte besagten, dass auch die zu einem gewissen Zeitpunkt fehlerhafte Politik zukunftsweisend und deshalb „historisch richtig“ sein konnte, weil sie von der Zukunft (und damit vom historischen Gesamtprozess) als wirklich und richtig bestätigt wurde. Nach 1956 war dieser Hegelianismus allerdings etwas anders angehaucht als im Stalinismus, in dem die „historische Wahrheit“ selbst aus den „Taten“ emanierte und nicht dokumentiert, nachgeprüft und gegebenenfalls auch revidiert werden musste. Im Sinne einer poststalinistisch „revidierten Geschichte“ habe die KPP im Grunde richtig die Standarte des proletarischen Internationalismus hochgehalten, habe nur ihre Radikalität überspannt und „ohne Rücksicht auf die historische Situation“ gehandelt. Ein weiteres Motiv der Rettung der KPP für die Nation und somit der Kontinuität des polnischen Kommunismus war eine derartige Deutung des Stalinschen Terrors der dreißiger Jahre, die die KPP als Kämpferin und als Opfer für das „ganze polnische Volk und die Arbeiterklasse“ charakterisierte. In dieser relativierenden Sicht wurden die Fehler der KPP, vor allem das Sektierertum und die nationsfeindliche Einstellung, durch die viel schwerwiegenderen Fehler der von Stalin angeführten Kommunistischen Internationale mitverursacht. Wie es das Politbüromitglied Edward Ochab 1958 formulierte, kämpfte in Wirklichkeit die KPP im Interesse der Nation, zugleich aber gegen den Nationalismus und Chauvinismus: Ein Historiker, der sich der Komplexität der geschichtlichen Prozesse bewusst ist und in ihnen vor allem das erfassen kann, was hauptsächlich und historisch beständig ist, wird den Kopf vor dem proletarischen Mut der besten polnischen Revolutionäre neigen, die in dem Kampf gegen den Nationalismus und Chauvinismus jeglicher Couleur die Fahne des Internationalismus hoch hissten.71

Ochab hielt stets die Sonderstellung der Arbeiterklasse im nationalen Befreiungskampf vor Augen: Die KPP habe den nationalen Befreiungskampf nicht bloß fortgesetzt, sondern ausschließlich an die „besten Traditionen“ dieses Kampfes angeschlossen und dabei immer ihre eigene besondere Ideologie behalten. Gerade aus dieser komplizierten Zwischenlage von nationaler Tradition und revolutionärem Eigensinn ergaben sich aber die „Fehler“: Das polnische Proletariat absolvierte 71

Edward Ochab, Nieprzemijające wartości tradycji KPP, in: Nowe Drogi 12, 1958, Nr. 12, S. 3–14, hier S. 4.

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einen langen und schwierigen „Kristallisierungs- und Lernprozess“. Trotz aller Irrtümer bediente sich die Partei immer der „Bussole des Marxismus-Leninismus“. Wie Ochabs Jubiläumsartikel zeigt, fügte das poststalinistische Narrativ auch die stalinistische Verfolgung der KPP in den Erzählrahmen des nationalen Befreiungskampfes ein. Wie problematisch es war, die KPP als Probestein der NationPartei-Beziehung aufzufassen, wird darin deutlich, dass die KPP – um als Kämpferin für das Nationalinteresse gelten zu können – als Widersacherin des Stalinismus dargestellt werden musste. Daher die Pietät für die „Opfer des Personenkultes“ aus den KPP-Reihen: „Leer und unfruchtbar“, schrieb Ochab, „wären heutzutage die Auseinandersetzungen darüber, was gewesen wäre, wenn die KPP 1937/1938 nicht der Provokation zum Opfer gefallen wäre. Die unbegründete Auflösung der polnischen Sektion der Kommunistischen Internationale und der tragische Tod ihrer besten Anführer sind wahrscheinlich das dunkelste Kapitel aus der Zeit des Personenkultes. Der unverdiente Schlag, den die polnische revolutionäre Bewegung bekam, verkomplizierte die ohnehin schwierigen Bedingungen des Kampfes gegen den Faschismus ungeheuerlich.“72 Zugleich musste Ochab die KPP-Funktionäre vor der Kritik der radikalen Reformer in Schutz nehmen, die nach 1956 die KPP des Dogmatismus bezichtigten, und sogar die Altersrente der KPP-Veteranen in Frage stellten. Zwar war die Geschichte der polnischen kommunistischen Arbeiterbewegung ein schwieriger Lernprozess, so Ochab, „aber trotzdem weht der Wind der Geschichte in unsere Segel“.73 Dies bringt die poststalinistisch korrigierte Teleologie treffend zum Ausdruck, die zwar am Endsieg festhält, ihn aber vielfältig konditioniert. Die Debatte um die KPP-Geschichte zeugt davon, dass die PZPR die nationale Linie nicht blind und ohne Rücksicht auf die marxistischen Grundprinzipien verfolgte. Obwohl die nationale Komponente zunehmend den Darstellungsrahmen bildete, blieb der klassenfundierte Diskontinuitätsdiskurs stark genug, um zeitweise die Hegemonie der Nation zu stören. Das Ergebnis war eher eine weitere Verfestigung des Diskurses der Ambivalenz und Geschichtsoffenheit als eine klare Vorherrschaft der Nation. Dieser Ambivalenz-Diskurs trat deutlich im lokalen Raum auf. Das Parteiaktiv in Wrocław diskutierte im April 1958 über die Einstellung der polnischen Arbeiterbewegung zur nationalen Frage und über den „Leninismus als historisches Subjekt“. Obwohl die Redner die Zeit nach 1956 als einen „Kampf um die Wiederkehr des Leninismus“ in „unserer Partei“ bezeichneten, sahen sie die erwünschte Kontinuität mit der KPP eher als problematisch an. Kontrovers behandelten sie vor allem die Frage der Rehabilitierung der verfolgten

72 73

Ebenda, S. 10. Ebenda, S. 9.

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KPP-Mitglieder.74 Sie waren sich der Abneigung der polnischen Mehrheitsgesellschaft gegenüber der KPP sehr wohl bewusst und gingen deshalb bei den konkreten Schritten rund um den 40. KPP-Jahrestag vorsichtig vor, hauptsächlich weil die Rehabilitierten den Anspruch auf besondere Parteirenten erheben konnten: „Bei dem 40. Jahrestag der KPP kommt es darauf an,“ stellte ein Diskussionsteilnehmer fest, „ob es um das emotionelle Erlebnis oder die Popularisierung unserer großen Vorläuferin KPP geht.“75 Der Verunsicherung sollte mit Verweisen auf „nationale und revolutionäre Traditionen der KPP“, ihren Patriotismus und Kampf für die Unabhängigkeit, zugleich aber auch ihren Internationalismus, vor allem bezüglich Russlands und der Sowjetunion, entgegengewirkt werden. Eine Kombination, die auf das poststalinistisch „verwirrte Denken“ der Parteimitglieder wie Galimathias gewirkt haben musste. Verwirrung herrschte aber genauso im Parteizentrum. Im September 1956 war im Warschauer Institut für Parteigeschichte noch abwertend von der „Gomułkowszczyzna“ (der Führungsstil Gomułkas) die Rede, zugleich aber auch vom „Genossen Gomułka“. Die Unsicherheit über Gomułkas Zukunft symbolisierte die Unsicherheit über die Nationalfrage, und in diesem Sinne bedeutete die Zeit zwischen dem VII. und VIII. PZPR-Plenum (Juli–Oktober 1956) ein dramatisches Intermezzo, denn die eventuelle Rückkehr Gomułkas als eines „Nationalkommunisten“ hätte eine erneute Umdeutung der nationalen Frage bringen können. In dieser angespannten Atmosphäre konnten Ansichten über das Verhältnis von Partei und Nation ausgedrückt werden, die wenige Wochen später als unannehmbar galten. Der stellvertretende Institutsdirektor Kowalski bemerkte im September 1956 in einem ungewöhnlich anti-nationalen Ton: „Als die Partei entstanden ist, gab es kein Nationalitätenproblem. Wo dieses Problem beginnt, dort wird es schlimm mit dem Kommunismus. Ein Mensch muss bewertet werden nach dem, was für einen Bezug er zu einer Sache hat. […] In der Partei können unterschiedliche Meinungen bestehen, aber das ist noch keine Zerteilung (grupowość).“76 Dies klingt als ein verspäteter Versuch, den zu dieser Zeit sich verfestigenden Nationaldiskurs klein zu reden. Es fällt außerdem auf, dass Kowalski die „Meinung“ und nicht die Zugehörigkeit – zur Klasse oder Nation – als das Bewertungskriterium anführt.

74 75 76

AAN, KC PZPR, 237/XXII-175, Plany pracy i sprawozdania obchodów 40. rocznicy KPP 1958–1959, unpag. AAN, KC PZPR, 237/XXII-175, Protokół posiedzenia rozszerzonego zespołów KPP i KZMP, 17.4.1958, unpag. AAN, KC PZPR, 237/XXI-61, WHP, Podstawowa Organizacja Partyjna, Sitzung, 14.9.1956, Bl. 395.

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Die Entwicklung nach dem „polnischen Oktober“ machte den Weg für eine gründliche historische Auseinandersetzung mit der Nationalfrage endgültig frei. Daran beteiligten sich sowohl Parteihistoriker, die vor 1956 in Führungspositionen waren, wie Tadeusz Daniszewski, als auch jüngere Geschichtsforscher wie Feliks Tych und Jan Kancewicz, deren Bedeutung nach 1956 rapide stieg. Daniszewski zum Beispiel widmete der Nationalfrage viel Platz in seiner Kurzbiographie des Arbeiterführers Adolf Warski (1868–1937), der aufgrund seiner Mitgliedschaft in SDKPiL, PPS und KPP die Kontinuität der polnischen Arbeiterbewegung verkörperte und in der Zwischenkriegszeit gegen den antinationalen Standpunkt der KPP auftrat.77 1929 war Warski der „rechten Abweichung“ beschuldigt und 1937 in Moskau hingerichtet worden.78 Die Biographie trägt die charakteristischen Züge der poststalinistischen Geschichtsbetrachtung wie Ambivalenz, Offenheit und Unergründlichkeit. Warskis Leben „war nicht einfach“, wie Daniszewski im ersten Satz seiner Studie feststellt. Es war „sowohl durch Kontinuität als auch durch Brüche“ geprägt, durch „herrliche Eigenschaften“ (wielke walory) sowie durch „die für die Zeit typischen Schwächen“. „Auf seinem Lebensweg irrte er, manchmal machte er Fehler, wie jeder Mensch.“ Zeiten von psychischen Depressionen, in denen er den Glauben an eigene Kräfte verlor, wechselten mit Perioden von Lebensenergie und „Begeisterung für die Arbeit“. Was Warskis Haltung zum Klasse-Nation-Verhältnis anbetrifft, so waren es die „fehlerhaften Konzeptionen der Partei in der Nationalitäten- und Bauernfrage“, die neben „ernsthaften Schwierigkeiten objektiver Natur“ auf ihn gewirkt haben.79 Warski fungierte somit als eine historische Parallele zu Gomułka: Man rehabilitierte ein KPP-Mitglied, der die Nationalitätenfrage im richtigen Licht gesehen und das gute Gewissen der Partei über die begangenen Fehler hinweggetragen habe. Ähnlich wurden die abweichenden Richtungen der polnischen Arbeiterbewegung hinsichtlich der Nationalfrage rehabilitiert, im Einklang mit der poststalinistischen Auffassung der „korrigierten Geschichte“, die ein Gleichgewicht zwischen den widerspruchsvollen Aspekten der kommunistischen Vergangenheit anstrebte. Jan Kancewicz legte bereits 1955 eine Studie über die zuvor als problematisch eingeschätzte SDKPiL vor.80 In einer weiteren Arbeit über die Spaltung der polnischen Arbeiterbewegung um die Jahrhundertwende zeichnete er ein kritisches Bild der Vorgeschichte des polnischen Kommunismus, indem er zum 77 78 79 80

Tadeusz Daniszewski, Droga życia i walki wybitnego komunisty, in: Nowe Drogi 12, 1958, Nr. 11, S. 95–116. Vgl. Zaremba, Im nationalen Gewande, S. 83. Daniszewski, Droga życia, S. 106. Jan Kancewicz, SDKPiL – rewolucyjna partia polskiego proletariatu i jej walka przeciwko oportunizmowi i nacjonalizmowi PPS, Warszawa 1955.

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Beispiel die „ideologisch-politische Unreife“ der Arbeiterbewegung, „schädliche Negierung des Revolutionspotentials des Bauerntums und die Verwerfung der Idee der polnischen Unabhängigkeit“ heraushob.81 Die eigene Parteivergangenheit war aber nicht der einzige Deutungsrahmen für das Verhältnis zwischen der Nation und dem Kommunismus. Seit den frühen sechziger Jahren wurde das Verhältnis zwischen Nation und Internationalismus im kommunistischen Bewusstsein zunehmend durch Impulse mitgestaltet, die aus den kommunistischen Bewegungen in der „Dritten Welt“ sowie aber auch aus den sozialpolitischen Veränderungen im Westeuropa kamen. Begriffe wie Internationalismus, Patriotismus und Nationalismus gerieten in den breiteren, europäischen oder gar globalen Diskussionszusammenhang. Aktuell waren vor allem die Beziehungen Polens zu den neuen sozialistischen Ländern Vietnam, China und Kuba und zum Dekolonisierungsprozess; aber auch zu den „Nationalwegen“ von Jugoslawien und Rumänien. Eine zweiwöchige Propagandistenschulung in Warschau im Herbst 1965 dokumentiert die steigende Beschäftigung der polnischen Kommunisten mit den internationalen Fragen und deren Bedeutung für ihr nationales Selbstverständnis. Verunsichert fragten die Kursteilnehmer zum Beispiel: „Was ist die gegenwärtige Interpretation des proletarischen Internationalismus, Patriotismus, Nationalismus?“, oder was sind die „Ursachen des Aufstiegs der Nationalinteressen“.82 Die Überzeugung von der Richtigkeit der Parteipolitik war in den sechziger Jahren nicht besonders stark, was die Fragen wie „Was ist unser Standpunkt in dieser Situation?“ deutlich machen. Aus der Debatte kann man die Befürchtung herauslesen, dass die kommunistische Weltbewegung sich aufgrund der erstarkten Nationalbesonderheiten weiter zersplittern wird: Je größer und globaler sie wird, desto mehr wird sie ihre innere Einheit einbüßen. Ausdrücke wie „Unterschiede“ (różnice) und „Abweichungen“ (rozbieżności) prägten die Diskussion. Die Genossen baten um eine „genauere Charakterisierung von Anschauungen der Rumänen bezüglich des Personenkults in der internationalen revolutionären Bewegung“ und stellten folgende Fragen: „Gibt es in der Parteispitze der Kommunistischen Partei Chinas unterschiedliche Auffassungen in Bezug auf die Einheit der internationalen revolutionären Bewegung? Gibt es und wenn ja, welche Unterschiede zwischen der Kubanischen Partei und der Sowjetischen? Welche Auffassungen zu den Abweichungen zwischen der Kubanischen Partei und der Kommunistischen Partei der Sowjetunion haben die Kommunistischen Parteien Frankreichs, Italiens und der anderen großen Länder Europas? Wie ist unser Stand81 82

Jan Kancewicz, Rozłam w polskim ruchu robotniczym na początku lat dziewięćdziesiątych XIX w., Warszawa 1961, S. 6. AAN, KC PZPR, 237/VIII-809, Program dwutygodniowego kursu dla sekretarzy propagandy 22. 11.–4.12.1965, Bl. 66.

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punkt in dieser Situation?“83 Die Zersplitterung der kommunistischen Weltbewegung war nicht nur eine geopolitische Wirklichkeit, sondern zunehmend auch der Zustand des kommunistischen Geistes. Ähnlich wie in Rumänien, wo der Streit zwischen Protochronisten und Universalisten das Nation-Klasse-Verhältnis bestimmte, warfen in Polen in den sechziger Jahren die neuen Entwicklungen des Weltkommunismus, seine globalen Verflechtungen sowie der Aufstieg der Massenkultur neue Fragen nach dem Wesen der polnischen Nation und der polnischen Nationalkultur auf. Vor allem die Verteidigung gegen die westlichen „bürgerlichen Einflüsse“ gewann in den Diskussionen an Bedeutung. Hier konnten die Hüter der Partei-Orthodoxie an die chuligaństwo-Kritik aus der Zeit um 1956 anknüpfen, die interessanterweise ein Bestandteil der Stalinismus-Kritik war: Schließlich verurteilte auch Gomułka in seiner Oktober-Rede von 1956 die „Halbstarken“ als Folgeerscheinung des Personenkultes. Die damalige chuligaństwo-Kritik hatte nämlich auch eine nationale Dimension, indem die kommunistische Propaganda den Hooliganismus nicht nur als unsozialistisch, sondern auch als nationsfremd und „unpolnisch“ betrachtete. Dem stellten die Kommunisten die traditionelle polnische Hochkultur gegenüber. Stellvertretend für diese Position wunderte sich das Politbüromitglied Edward Gierek im Dezember 1956, „woher das chuligaństwo eigentlich kommt, wenn wir Polen eine Kulturnation sind, mit großen Traditionen“.84 Zum ersten Mal suchte man nach den breiteren, sozialen Wurzeln des chuligaństwo, hauptsächlich in der Wirtschaftslage der Bevölkerung. In den sechziger Jahren musste sich die „sozialistische Nationalkultur“ angesichts des Aufstiegs westlicher Populärkultur noch vehementer verteidigen. Vor allem fürchteten die Kommunisten, dass sich die Unterschiede zwischen der sozialistischen und bürgerlichen Kultur verwischen. In der Ideologieschulung in Warschau im Dezember 1965 wurde die westliche Populärkultur noch klassenbegründet abgelehnt, ohne Bezug auf die Nationalkultur: In seinem Referat hat Genosse Kraśko die Formulierung verwendet, dass einige behaupten, unsere Kultur unterscheide sich nur gering von der bürgerlichen Kultur. Wir verstehen, dass dem nicht so ist. Wir sind uns dessen bewusst, dass die allgemeine Parteilinie bezüglich der Kultur richtig ist und dem Aufbau des Sozialismus dient. Die Sache hat aber einen Haken. Warum wird die so genannte westliche Kultur toleriert. Z. B. organisiert die Kulturabteilung des Bezirksrates und nicht selten auch die zentrale Ebene Aufführungen, Konzerte von The Beatles, man huldigt der Big Beat-Musik. Es ist klar, dass in der Musik der so genannte starke Schlag Mode ist. Mir scheint es, dass man den Big Beat /den starken Schlag/ einfüh83 84

Ebenda, Bl. 75ff. AAN, KC PZPR, 237/VII-3015, KW PZPR Kielce, Protokół z VI. Statutowej Wojewódzkiej Konferencji Partyjnej, 18.–19. 12. 1956, Bl. 58.

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ren sollte, aber gegen diejenigen, die diese Art von Kultur tolerieren. Diese Kultur braucht man gar nicht und sie dient nicht dem Aufbau des Sozialismus. Muss man eine solche Kultur wirklich tolerieren?85

Dagegen ließen die polnischen Kommunisten der Verteidigung der traditionellen Nationalkultur, die die PZPR-Führung zur Stärkung ihrer sinkenden Legitimität in den sechziger Jahren nutzte, in der monumentalen „Tausendjahrfeier des Polnischen Staates“ im Jahr 1966 freien Lauf. Laut Marcin Zaremba handelte es sich um eine notwendige Reaktion der Parteiführung auf die wachsenden Nationalgefühle in der polnischen Gesellschaft und vor allem um eine ideologische Auseinandersetzung mit der katholischen Kirche, um einen Kampf um kollektives Gedächtnis und gesellschaftliche Ordnungsvorstellungen.86 Die Entscheidung der Parteiführung, sich von der Welle des Nationalismus tragen zu lassen, war konsensuell: Rakowski bemerkt in seinem Tagebuch, dass Gomułka der einzige in der Parteiführung war, der auf dem „Klassenstandpunkt“ bestand und vor der Gefahr des Nationalismus warnte.87 Die marxistische Rhetorik, so Zaremba, kam in der offiziellen Sprache der Jubiläumsfeier nur selten vor und war sehr oberflächlich. Der Blick auf den internen Parteidiskurs jedoch zeigt, dass Gomułka in seiner Verteidigung des „Klassenstandpunktes“ keinesfalls alleine war. Denn die örtlichen Parteidebatten behandelten die Jubiläumsfeier überwiegend im Interpretationsrahmen der marxistischen Klassenerzählung. Zum Beispiel besprach man in der Schulung zur Tausendjahrfeier für die Parteipropagandisten im Dezember 1965 zwar nationalhistorische Probleme, die eigentliche Themenstruktur sowie die von den Teilnehmern gestellten Fragen zeigen jedoch, dass die klassisch „marxistische“ Problematik dominierte: Die „Probleme der sozialistischen Demokratie“, „Entwicklungstendenzen des gegenwärtigen Kapitalismus“, „die Wirtschaft des Rates für gegenseitige Wirtschaftshilfe“, und vor allem viele Fragen zum Vietnamkrieg, dem Chinesisch-Sowjetischen Zerwürfnis, dem Algerienkrieg und der 85 86 87

AAN, KC PZPR, 237/VIII-809, Program dwutygodniowego kursu dla sekretarzy propagandy 22. 11.–4.12.1965, Bl. 65. Zaremba, Im nationalen Gewande, S. 330f. Mieczysław F. Rakowski, Dzienniki polityczne, Bd. 2, 1963–1966, Warszawa 1999, S. 382: „Wiesław hielt einen längeren Monolog darüber, dass heute jeder national sein will, während er klassenorientiert sein muss. Dies bestätigt meine Vermutungen, dass sowohl ich, als auch einige andere Mitglieder der Parteizentrale sich der Gefahr des Nationalismus bewusst werden. Zugleich stellt sich jedoch die grundlegende Frage, warum sie diese Gefahr nicht bekämpfen. Vielleicht irre ich mich, aber mir scheint es, dass sie einerseits das Bedürfnis erblicken, das Nationale ständig zu betonen, andererseits aber nicht wirklich wissen, wie die nationalistischen Neigungen bekämpft werden könnten. Ich schließe auch nicht aus, dass es bereits zu spät ist für eine entschiedene Konfrontation mit diesen nationalistischen Tendenzen.“

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Atomgefahr standen im Vordergrund.88 Hinzu kam, dass die Tausendjahrfeier mit dem 20. Jahrestag Volkspolens zusammenfiel. Somit blieb der nationalhistorische Diskurs mit dem „Aufbau des Sozialismus“ eng verwoben und ihm oft sogar untergeordnet. Zum Beispiel nutzte Edward Gierek, damals der Erste Sekretär der Wojewodschaft Katowice, zwar das bevorstehende Jubiläum als eine allgemeine historische Einbettung, seine eigentliche Rede in der Komitee-Versammlung erschöpfte sich jedoch in einer klassenzentrierten, sozialistischen Erzählung, die die zwanzig Jahre des „Aufbaus des Sozialismus“ lobte und die Klassengegner angriff – und zwar vor allem die nationseigenen „Feinde“. Die gegenwärtige Lage des Sozialismus sei auch deshalb schwierig, so Gierek, weil „wir während der Herrschaft der polnischen Bourgeoisie praktisch die zwei Jahrzehnte der Zwischenkriegszeit verloren haben“. Weiter kommt Gierek auf die „Hitlerokkupanten“ und den Krieg zu sprechen, ohne jedoch Deutschland direkt zu attackieren. Dies lässt sich kaum als eine narrative Dominanz der Nation über die Klasse bezeichnen, die häufig für die sechziger Jahre postuliert wird.89 Ebenso wie die parteiinternen Debatten nahm die polnische Parteihistoriografie vom marxistischen Narrativ nie Abschied, auch wenn sich ihre Abhandlungen mehr und mehr dem nationalen Erzählrahmen anpassten. Die Titel der Beiträge, die die Parteihistoriker im Zusammenhang mit dem Jubiläum 1966 verfassten, wie „Der Platz der polnischen Arbeiterbewegung in der tausendjährigen Geschichte der Nation“ oder „Volkspolen – Erbträger der fortschrittlichen und revolutionären Traditionen des polnischen Volkes“ wie auch die obligatorische „Bedeutung der Oktoberrevolution für die Gestaltung der national-staatlichen Existenz und der gesellschaftlichen Verhältnisse in Polen“ (1966) bestätigen ein weiter bestehendes Gleichgewicht zwischen den beiden Geschichtssubjekten.90 In den Parteidiskussionen wurde das Jubiläum des polnischen Staates ausschließlich in Verbindung mit eindeutig sozialistischen Themen behandelt, wie dem „Kampf um die sozialistische Moral“, „der innerparteilichen Demokratie“ oder der „Notwendigkeit der ideologischen Arbeit“. Erst vor diesem Hintergrund hat man über die „große ideologische Kampagne“ zum 20. Jahrestag Volkspolens und der Tausendjahrfeier des polnischen Staates diskutiert, wobei explizit betont wurde, dass es sich keineswegs um einen Kampf gegen die Kirche handelte.91 88 89 90 91

AAN, KC PZPR, 237/VIII-809, Bl. 52ff. Ebenda, Bl. 65; AAN, KC PZPR, 237/VII-4753, KW PZPR Katowice, Plenarsitzung 24.3.1964, Bl. 243ff. Vgl. AAN, KC PZPR, 237/VIII-838, Lektorat, Sekcja Historii Polskiego ruchu robotniczego, Bl. 43. AAN, KC PZPR, 237/VII-4911, KW PZPR Łódź, Zadania Łódzkiej Organizacji Partyjnej w pracy ideowo-wychowawczej, 8.10.1966, Bl. 129.

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Diese Diskussionen beweisen, dass die polnischen Parteiideologen den marxistischen Diskurs keineswegs aufgaben. Im Herbst 1966 organisierte die PZPRPropagandaabteilung in Szczecin eine „Weltanschauungsoffensive“ zum Thema „Die Ausnutzung des weltanschaulichen Charakters der historischen Thematik während des Jubiläums des polnischen Staates“. Die Vorträge behandelten Fragen wie „Polemik gegen die Thesen des polnischen Episkopats“, „Marxistische Ethik“, „Kampf gegen die Doppelzüngigkeit“ oder „Fragen der internationalen kommunistischen Bewegung“.92 Die klassenorientierte marxistische Problematik stand somit im Vordergrund. Die Parteigeschichtskommission in Katowice hatte für das Jahr 1966 ein reiches Programm vorbereitet, auf dem das tausendste Jubiläum keineswegs der bedeutendste Tagesordnungspunkt war: Die Feier der „polnischen Staatlichkeit“ überlagerte sich vielmehr mit anderen Themen wie der „Befreiung Schlesiens“, dem „Sammeln von Materialien zur Oktoberrevolution in Schlesien“, „Biografien der Parteimitarbeiter“ für das Biographische Wörterbuch der Funktionäre der polnischen Arbeiterbewegung (Słownik biograficzny działaczy polskiego ruchu robotniczego) oder der „Popularisierung der Arbeitertradition“. Auf dem Programm befand sich das Thema des tausendsten Jubiläums gleich unter der Notiz zur „Verifizierung von Renten der Parteiveteranen“. Das alles relativierte die Zentralbedeutung des Jahrestages und die absolute Dominanz des Nationaldiskurses.93 Auch wenn in Polen, ähnlich wie in Rumänien, in den sechziger Jahren die Nationalerzählung, die auf dem „historischen Kampf gegen die Deutschen“ und dem nationalen Freiheitsmythos fußte, den Parteidiskurs zunehmend gestaltete, wurde der Letztere noch immer vornehmlich durch die marxistischen Grundbegriffe mitbestimmt. Die Parteimitglieder reflektierten über den Aufstieg der Nation und nahmen die Notwendigkeit einer thematischen und narrativen Verbindung der beiden Erzählstränge, Klasse und Nation, wahr. Das stärkte den poststalinistischen Diskurs der Uneindeutigkeit und Ambivalenz, der sowohl stabilisierende als auch pluralisierende Effekte hatte. Eher als ein „Diskursbruch“ des Marxismus durch den Nationalismus, den Verdery für Rumänien feststellt, scheint es mir treffender, für den ostmitteleuropäischen Poststalinismus von einem kontinuierlichen Mit-, Neben- und Gegeneinander beider Erzählungen zu reden. Die Parteidebatten zeigen, dass die marxistischen Grundbegriffe weiter den Nationaldiskurs wirksam gestalteten. Grundbegriffe wie „Klassenkampf“ sind, anders als in Rumänien, nie ganz aus dem Ideologiediskurs verschwunden. Zugleich belegen die Diskussionen über das Wesen der polnischen Nation, der polnischen Geschichte 92 93

AAN, KC PZPR, 237/VIII-852, 16.1.1967, Bl. 45–48. AP Kat, KW PZPR, 1793/331, Wydział Propagandy, Referat Historii Partii, Plany pracy 1949–1974, Bl. 25.

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und der polnischen Kultur, wie tief verwurzelt das Zugehörigkeitsgefühl der polnischen Kommunisten zur „Nation“ war. Sie suchten konsequent und aufrichtig die Verbindung von Klasse und Nation, bemühten sich unermüdlich, eine neue Form der Nationalidentität zu schmieden, und obwohl sie auf lange Sicht diesen Kampf verloren, wirkte gerade diese nachhaltige „Identitätsarbeit“ für sie genug sinngebend und legitimierend. Hier sehe ich die Funktion des Nationaldiskurses in Gomułkas Volkspolen anders als Zaremba, laut dem die polnischen Kommunisten den Nationalismus als Chance begriffen haben, „die Barriere der Fremdheit zwischen sich und der polnischen Gesellschaft abzubauen. […] Sie bedienten sich des Nationalismus in zynischer und instrumenteller Weise ohne Rücksicht auf die sozialen Kosten. Sie griffen immer dann auf ihn zurück, wenn ihr Herrschaftssystem in Gefahr geriet, ohne dass sich die dabei eingesetzten nationalistischlegitimatorischen Ideologeme im Laufe der Jahre stark verändert hätten.“94 Hingegen scheint es mir wichtig, über die Ebene der zynischen Instrumentalisierung hinauszugehen und nicht nur die ideologiezersetzende, sondern auch die ideologieproduzierende Seite der poststalinistischen Nationaldebatten in Betracht zu ziehen: Der Aufstieg des Nationaldiskurses in Polen hat die Klassenideologie gewiss in Frage gestellt, aber dadurch auch vorübergehend mobilisiert.

Zwischen Klasse, Volk und Heimat Der Konflikt zwischen dem Nationaldiskurs und der kommunistischen Klassenerzählung drohte vor allem in politischen Umbruchsituationen zu entbrennen. Das war der Fall in der DDR während des Mauerbaus, als die SED die „Nationale Grundkonzeption“ (NaGruKo) vorlegte, in der sie sich für die einzige legitime Anwärterin auf die nationale und klassenmäßige Führung in Deutschland erklärte und die Vereinigung Deutschlands mit dem „Sieg des Sozialismus“ verband.95 In solchen Momenten prallten die konkurrierenden imagined communities des „Volkes“ und der „Arbeiterklasse“ aufeinander. Tatsächlich rief im Alltag der SED94 95

Zaremba, Im Nationalen Gewande, S. 407. In der NaGruKo hieß es: „Die künftige Vereinigung der beiden deutschen Staaten ist an zwei grundlegende Voraussetzungen geknüpft: an den Sieg des Sozialismus in der DDR einerseits und an die Beseitigung der Herrschaft des Imperialismus und Militarismus in Westdeutschland andererseits.“ Zit. n. Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, Band 8, Berlin 1966, S. 335. Vgl. Ilko-Sascha Kowalczuk, Legitimation eines neuen Staates. Parteiarbeiter an der historischen Front, Berlin 1997, S. 321ff., und Siegfried Lokatis, Der rote Faden. Kommunistische Parteigeschichte und Zensur unter Walter Ulbricht, Köln 2003, S. 159–171.

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Genossen eben die „deutsche Frage“ die meisten Unklarheiten („Unklarheiten bezüglich der Vereinigung Deutschlands“) hervor. Allgemein herrschte aber ein starkes Bewusstsein darüber, dass es nach 1956 eine neue Auffassung des Verhältnisses von Nation und Tradition auf der einen und von Klasse und Fortschritt auf der anderen Seite gab. Zutreffend drückt die poststalinistische Aufbruchsstimmung, auch im Angesicht des Mauerbaues, der folgende Bericht der SEDPropagandaabteilung Halle aus: Die meisten Unklarheiten und Diskussionen gab es über den Begriff der Nation. Schon bei der Anleitung der Propagandisten zeigte sich, dass sie meist an die nationale Frage noch von der Stalinschen Definition herangingen. Es wurde wohl die Notwendigkeit der Kritik der stalinistischen Definition begriffen und erkannt, dass sie uns in unserem nationalen Kampf in Deutschland nicht dienen kann, aber immer wieder wurde die Frage einer neuen Definition der Nation gestellt.96

Die poststalinistische Politik der SED-Führung zielte auf die Umwandlung der „bürgerlichen“ in eine „sozialistische Nation“ ab. Mit dem Konzept der „sozialistischen Nation“ sollte der Nationsbegriff gerettet werden, auch wenn es einen Abschied von Marx bedeutet hätte. Für die Herrschaftslegitimation der SED nach 1956 war die Nation zentral, die radikal antinationale Einstellung der frühen Nachkriegszeit, die exemplarisch in der „Irrwegthese“ von Alexander Abusch zum Ausdruck kam, war nicht mehr wünschenswert. Deshalb verfolgten die Parteileitungen die nationalskeptischen Äußerungen mit Misstrauen: „Vereinzelt gab es die Auffassung,“ hieß es im Bericht zum SED-Parteilehrjahr in Wittenberg vom Dezember 1963, „dass es keine deutsche Nation mehr gibt, und es gab auch pessimistische Stimmungen in Bezug auf die Lösung der nationalen Frage.“97 In den Krisenmomenten kamen vor allem solche Auffassungen der Nation zutage, die Zeit, Wandel und Fortschritt hervorhoben. Klaus Mehnert betonte das Moment der Ewigkeit, eine quasi zeitlose Natur der Nation in der stalinistischen Lesart der Geschichte.98 Die stalinistischen wie auch poststalinistischen Geschichtsdarsteller mussten sich mit der Frage auseinandersetzen, wie man eine Geschichte dessen darstellt, was als ewig und unveränderlich gegeben gilt.99 Gerade das Wechselspiel zwischen Unveränderlichkeit und Wandel der Nation lag im Kern der „deutschen Frage“, der Möglichkeit der Vereinigung, die – nicht nur in der SED – für Unruhe sorgte. Das gesamtdeutsche Erlebnis des Krieges und der „Antifaschismus“ als Teil der offiziellen Legitimationsdoktrin der deutschen 96 97 98 99

LHASA, MER, SED-Bezirksleitung Halle, IV/A-2/9/01/61, Bericht über die Durchführung des Parteilehrjahres im Kreis Wittenberg, 9.12.1963, Bl. 113. Ebenda, Bl. 114. Mehnert, Weltrevolution, S. 16ff. Pratt, Class, Nation and Identity, S. 12.

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Kommunisten waren keine leeren Propagandafloskeln, sondern prägende Erfahrungen.100 Die Wandlungen der deutschen Frage in den Wendemomenten wie 1949, 1955 und 1961 haben den SED-Genossen die Historizität und Kontingenz der Nation vor Augen geführt. Wie sollte man die eisernen Gesetze des historischen Materialismus ernst nehmen und auf der „Gesetzmäßigkeit“ der nationalen Existenz bestehen, wenn sich die Lage so rasch und oft unerwartet änderte? Besonders nach 1961 sahen sich die SED-Ideologen mit der Aufgabe konfrontiert, die „dogmatische Auffassung der Nation“ zu überwinden. Die essentialistische Auffassung der Nation (in der Fachsprache der Nationalismusforschung würde es „primordial“ heißen) setzte man dem „Dogmatismus“, also der spätstalinistischen Interpretation, gleich, die die Nationen als überhistorische, ewige Entitäten betrachtete. Es handelte sich um eine merkwürdige Wende, bei der die deutschnationalen Einstellungen nunmehr als „stalinistisch“ angeprangert wurden. Diese Verwirrungen spiegelten sich beispielhaft in den Diskussionen im SEDBezirk Halle von 1965 wider. Ein Bericht über das Parteilehrjahr in Weißenfels erläutert, dass die nationale Frage trotz Bemühungen der Lektoren „in ihrem vollen Inhalt noch nicht von allen Zirkelteilnehmern begriffen“ wurde.101 Die Propagandisten mussten vor allem solche Auffassungen bekämpfen, welche „das Wesen der nationalen Frage“ in der Teilung Deutschlands und das Hauptproblem in der Wiedervereinigung Deutschlands sahen, anstatt es marxistisch als einen Konflikt des Kapitalismus und Sozialismus zu deuten. Es wurde „noch keine Klarheit über das Wesen des Verständigungsfriedens und der Wiedervereinigungspolitik unserer Partei“ erreicht, es haben „dogmatische Definitionen der Nation“ dominiert – gemeint war die stalinistische essentialistische Auffassung. Die Genossen erkannten nicht, dass die nationale Frage „ständig neuen Inhalt bekommt. Das zeigt sich u. a. darin, dass sogar einer unserer guten Zirkelleiter den Teilnehmern erklärte: ‚Die nationale Frage besteht nicht erst seit 1945, sondern seit dem kommunistischen Manifest.‘“102 Die Propagandisten kämpften mit der Unfähigkeit der Genossen, die marxistische Theorie der Nation mit den realen Fragen der Gegenwart zu verbinden: „Es gibt auch solche Erscheinungen, dass zwar theoretisch das Wesen erkannt wird, 100 Martin Sabrow, Sozialismus als Sinnwelt. Diktatorische Herrschaft in kulturhistorischer Perspektive, in: Potsdamer Bulletin für Zeithistorische Studien 40/41, Potsdam 2007, S. 9–23, hier. S. 13; vgl. Christoph Classen, Faschismus und Antifaschismus. Die nationalsozialistische Vergangenheit im ostdeutschen Hörfunk (1945–1953), Köln 2004; Simone Barck, Antifa-Geschichte(n). Eine literarische Spurensuche in der DDR der 1950er und 1960er Jahre, Köln 2003. 101 LHASA, MER, SED-Bezirksleitung Halle, IV/A-2/9/01/72, Zwischeneinschätzung des Parteilehrjahres im Kreis Weißenfels, 6.3.1965, Bl. 73. 102 Ebenda.

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aber die sich daraus ergebenden Konsequenzen für die eigene Person nicht verstanden werden. Im Seminar der Parteisekretäre der Landwirtschaft über die nationale Frage warf nach zweistündiger klärender Diskussion ein Genosse die Frage auf: ‚Warum darf meine Frau, die seit 1946 Genossin ist, und bestimmt wiederkommt, nicht nach Westberlin fahren, um Erbschaftsangelegenheiten zu klären?‘“ Die „Ursachen für das Nichtverstehen der nationalen Frage“ lagen nach Meinung der Lektoren darin, dass das „Wesen des staatsmonopolistischen Kapitalismus als Verderber der Nation nicht in vollem Umfang erkannt wird und die neuen Probleme nicht theoretisch durchdacht werden“. Das Mitte der sechziger Jahre sichtbare „Wirtschaftswunder“ in Westdeutschland ließ die Vorstellung entstehen, dass sozialer Aufstieg im Kapitalismus auch durch die Partizipation der Arbeiterklasse, den so genannten „Volkskapitalismus“ ermöglicht wurde: „In der Trommelfabrik und im Konsum bestanden Unklarheiten insofern, dass durch die Volksaktien ein Mitbestimmungsrecht der Arbeiter in Westdeutschland entstünde.“103 Andere Verständnisfragen behandelten das Wesen der deutschen Nation in ihrem historischen Verhältnis zum Staat und zur Klasse. Im Bezirk Cottbus fragten die Genossen im April 1960: „Ist Deutschland noch eine Nation?“, oder „Was ist ein Staat und was ist eine Nation?“ Auch nach dem Mauerbau, als man die „erhöhte Bedeutung der propagandistischen Arbeit nach dem 13. August“ betonte, bemängelten die Berichte, dass der „Klasseninhalt der nationalen Frage nicht herausgearbeitet“ wurde.104 Somit blieb das „Nicht-Verstehen der nationalen Frage“ eine der beharrlichsten „Unklarheiten“ des ostdeutschen Poststalinismus. Noch Anfang der siebziger Jahre, wie im Parteilehrjahr in Brandenburg, warfen die Genossen zum großen Erstaunen der Lektoren rudimentäre Verständnisfragen auf wie „Gibt es zwei Nationen? Wie verhält es sich in diesem Zusammenhang mit der Nationalhymne?“105 Die Genossen wurden dafür kritisiert, wie in einem Bericht aus Halle vom April 1965, ahistorisch und in erstarrten Kategorien gedacht zu haben. Die stalinistische Auffassung der Nation lastete auf dem Denken der Kommunisten wie ein Alp: Bei welchen Problemen sind wir nicht genügend vorangekommen? Immer noch Unklarheiten, falsche Auffassungen, neue Fragen zu nationalen und ökonomischen Fragen. So wird ungenügend verstanden, dass die nationale Frage historischen Entwicklungsprozessen unterworfen ist, woraus sich ständig neue Aspekte ergeben, die in der Strategie und Taktik 103 Ebenda, Bl. 73. 104 LHASA, MER, SED-Bezirksleitung Halle, IV/A-2/9/01/72, Bericht der SED-Kreisleitung Merseburg, 1.6.1965, Bl. 154. 105 SAPMO, DY 30/IV A2/9.07/252, Bericht über den zentralen Lehrgang an der Sonderschule in Brandenburg, 25.3.1971, unpag.

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der Partei beachtet werden müssen. [...] Wir mussten feststellen, dass sich selbst eine Reihe Zirkelleiter nur oberflächlich mit neuen Erscheinungen in der Entwicklung befassten, wie der qualitativ neuen Entwicklungsstufe des staatsmonopolistischen Kapitalismus in Westdeutschland.106

Ein ernsthaftes Problem stellte für die ostdeutschen Kommunisten, ähnlich wie für die polnischen und rumänischen Parteimitglieder, das Verhältnis zwischen der neuen sozialistischen Kultur und der traditionellen Hochkultur dar. Es ging um die Frage, ob es eine selbstständige „sozialistische Nationalkultur“ bereits gab, oder ob doch aus der Vergangenheit geschöpft werden, ob man auf Schiller und Goethe zurückgreifen musste. Offensichtlich herrschte eine Skepsis in den Parteireihen bezüglich des Wertes der deutschen sozialistischen Kultur. Nach Jan Palmowski war zwar die DDR-Nationalidentität (nationhood) nicht durch die klassische humanistische Kultur, sondern durch den Heimatbegriff und das Lokale definiert, was dazu führte, dass die ostdeutsche Intelligenz in diesem Formierungsprozess kaum engagiert war.107 Die lokalen Parteidiskussionen stellten jedoch die Herausnahme der klassischen Kulturtradition ständig in Frage. Z. B. der Bericht über die Diskussion in Schwerin zum „Lehrbuchstudium der leitenden Funktionäre“ im November 1960 kritisierte das „mangelnde Verständnis der Nationalkultur“ vor allem angesichts der Tatsache, dass die Teilnehmer die Kultur auf hohe Kunst reduzierten: Einige Genossen Lehrer in Schwerin Stadt vertraten folgende Meinungen: „Wir greifen auf das nationale Kulturerbe zurück, weil wir noch nicht genügend Kunstwerke der Gegenwart haben“, oder „Wir können bei uns noch nicht von sozialistischer Kultur sprechen, da Gegenwart und Vergangenheit in ihr vereint sind“. Bei der Diskussion über die letzte Frage zeigte sich, dass die Genossen den Klassencharakter der Kultur negierten.108

Gerade der Begriff der Heimat bildete eine wichtige vorpolitische Grundlage dieser nationsfreundlichen Einstellung. Jan Palmowski stellte in seiner Untersuchung fest, dass unter den lokalen „Praktikern der Heimat“ eine Spannung zwischen der Aufrechterhaltung der Heimattradition einerseits und dem sozialistischen Nachdruck auf Rekonstruktion und Transformation andererseits bestand. Diese Spannung führte zu einer inkohärenten Politik der Partei bezüglich der lokalen Kulturarbeit: „There was a fundamental contradiction between the party’s reliance on

106 SAPMO, DY 30/IV A2/9.03/53, Abteilung Agitation und Propaganda der SEDBezirksleitung Halle, 15.4.1965, unpag. 107 Jan Palmowski, Inventing a Socialist Nation. Heimat and the Politics of Everyday Life in the GDR, 1945–1990, Cambridge 2009, S. 284. 108 SAPMO, DY 30/IV 2/9.02/90, SED-Bezirksleitung Schwerin an ZK SED, 11.10.1960, Bl. 133.

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heimat for the construction of national identity, and its lack of interest in heimat as cultural practice.“109 Der Begriff der Heimat blieb insoweit problematisch, als er stets die Vorstellung eines vereinigten Deutschlands unterschwellig in sich trug und somit für konkurrierende Interpretationen anfällig war. Er war dehnbar genug, um verschiedene Bedeutungen zu vermitteln. Im Unterschied zu anderen sozialistischen Ländern, vor allem Rumänien, Polen und zum Teil auch Ungarn, konnte „Heimat“ gleichwohl keine konkurrierende Nationsauffassung im öffentlichen Raum gründen; die verschiedenen Deutungen der Nation – auch innerhalb der Partei – wurden stets durch den offiziellen Heimatdiskurs der SED-Führung aufgefangen und eingehegt.110 Aufgrund der steigenden Popularität des positiv verstandenen Heimatbegriffes büßte im Laufe der sechziger Jahre der Bezug auf den kapitalistischen und imperialistischen „Feind“ immer mehr an Wirksamkeit ein. Die Alltagswahrnehmung Westdeutschlands änderte sich: Viele örtliche Diskussionen beschrieben den westdeutschen Kapitalismus nicht mehr als Gegner der Nation. Man sprach vom „friedlichen Hineinwachsen des Kapitalismus in den Sozialismus“. „Oft wird unter friedlicher Koexistenz mit dem westdeutschen Staat“, berichtete man aus Halle im April 1963, „eine Garantiererklärung für die Existenz des Kapitalismus gesehen“.111 Spätestens seit Mitte der sechziger Jahre drängten Nation und Heimat die älteren Legitimationskategorien des Antifaschismus und Sozialismusaufbaus in den Hintergrund.112 In dieser angespannten Koexistenz wurde allerdings der klassenzentrierte Marxismus keineswegs untergraben. Das zeigt sich darin, dass die Propagandaapparate immer auf der „richtigen“ Einschätzung der Nationalfrage bestanden und diese immer wieder starrsinnig in die ideologischen Vorgaben miteinzubeziehen versuchten. Aus den vielen lokalen Beispielen nehme ich den Bericht über das Parteilehrjahr in Halle vom Dezember 1963 heraus, der typischerweise über Mängel und Unklarheiten klagte, mit der Frage ringend, „wie gelingt es uns im Bezirk, durch das Parteilehrjahr den theoretisch-politischen Reichtum der Dokumente des VI. Parteitages zu vermitteln?“: Meiste Unklarheiten: nach wie vor in der nationalen Frage. So werden die Klassenkräfte nicht richtig eingeschätzt und die historische Mission der Arbeiterklasse wird nicht richtig erkannt. Es gibt auch Illusionen über den Kanzlerwechsel in Westdeutschland. Immer wieder taucht die Frage auf: „Wie soll sich der Sieg des Sozialismus in Westdeutschland durchsetzen?“ ergänzt durch Meinungen „Wenn er gesetzmäßig ist, kommt alles von selbst ins 109 Palmowski, Inventing a Socialist Nation, S. 64. 110 Ebenda, S. 306. 111 SAPMO, DY 30/IV A 2/9.03/53, Einschätzung der Parteischulung im Bezirk Halle, 10.4.1963, unpag. 112 Palmowski, Inventing a Socialist Nation, S. 107.

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Reine“ oder „Ein einheitliches Deutschland ist erst nach dem Sieg des Sozialismus im Weltmaßstab möglich“. Die meisten Diskussionen gab es über das Reiseproblem: „Warum kommen Westdeutsche zu uns, während wir nicht zu ihnen dürfen?“113

Der Verweis auf die „historische Mission“ der Arbeiterklasse in der Nationalfrage ging aus dem Parteivokabular nie verloren. Er wurde immer wieder dann herangezogen, wenn der Nationalgedanke bei den Parteimitgliedern zu stark in den Vordergrund trat. Der defensive wenn nicht gar defätistische Ton ist aber nicht zu übersehen, und er war über die gesamte Ulbricht-Ära hinweg vorhanden: Paradoxerweise stärkte das bis Ende der sechziger Jahre geltende Ziel der „Wiederherstellung der nationalen Einheit Deutschlands“ die „besondere Mission“ der Arbeiterklasse und der Partei.114 Die DDR-Verfassung von 1968 unterschied zwischen dem „Volk der DDR“ und der „ganzen deutschen Nation“. Die DDR definierte sich zu dieser Zeit als „sozialistischer Staat deutscher Nation“. Erst nach 1970 setzte sich der Begriff „sozialistische Nation“ durch. Auf dem VIII. SED-Parteitag im Juni 1971 erklärte Honecker: „Was die nationale Frage betrifft, so hat hierüber die Geschichte entschieden. [...] Im Gegensatz zur BRD, wo die bürgerliche Nation fortbesteht, entwickelt sich bei uns, im sozialistischen Staat, die sozialistische Nation.“115 Sigrid Meuschel deutete diese Wende der SED-Politik von Nation zum Staat wie folgt: „Zum einen wurde auf die Besonderheit des sozialistischen Aufbaus in der DDR verwiesen; man wünschte eine Identifikation mit dem eigenen Staat zu erreichen. Zum anderen blieb das Ziel, die gesamtdeutsche Nation wiederherzustellen, durchaus aufrechterhalten, doch aus der ‚nationalen Befreiungsbewegung‘ früherer Tage war nun eine ‚Friedensbewegung‘ mit sozialistischer Fernperspektive geworden.“116 In den Parteireihen waren jedoch skeptische Ansichten über die Eigenständigkeit eines deutschen sozialistischen Staates, die „sozialistische Lösung“ der deutschen Frage keine Seltenheit. Sie fügten sich in die Passivität und obrigkeitsstaatlich ausgerichtete, subalterne Attitüde der Arbeiterschaft passend ein. Genosse Nitzsche vom Dresdner Betrieb Toledo klagte im März 1960: Im Westen wie bei uns hat eine Partei die Mehrheit. Da beide gegenseitiger weltanschaulicher Auffassung sind, kann hier, auch bei Betrachtung der beiden Deutschlandpläne, nur eine gemeinsame Neuwahl auf demokratischer Grundlage Wandel schaffen. Im Westen 113 SAPMO, DY 30/IV A 2/9.03/53, Einschätzung des Parteilehrjahres 1963–1964 im Bezirk Halle, 7.12.1963, unpag. 114 Otto Dann, Der Begriff Nation im geteilten Deutschland, in: Kolář/Řezník, Nationsforschung, S. 189–215, hier S. 195. 115 Zit. n. ebenda, S. 205. 116 Sigrid Meuschel, Legitimation und Parteiherrschaft. Zum Paradox von Stabilität und Revolution in der DDR 1945–1989, Frankfurt a. M. 1992, S. 151.

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(der Sohn und viele Bekannte leben im Westen) arbeite man als Arbeiter und überlasse die Politik dem gewählten Parlament. Auf die Entgegnung, dass wir durch eine solche Haltung schon einmal ins größte Elend gekommen sind, hat er das Sprichwort „Viele Köche verderben den Brei“ zitiert.117

Ähnliche Unklarheiten bezüglich der „Nation“ waren auch in den Regionalgeschichten der Arbeiterbewegung vorhanden. Sie traten bei der Vorbereitung des Grundrisses der Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung wie auch der achtbändigen Geschichte auf.118 Repräsentativ für die poststalinistische Auffassung des Klasse-Nation-Verhältnisses waren dabei die lokalen Auseinandersetzungen um die museale Darstellung der Arbeiterbewegung aus den frühen sechziger Jahren. Sie sind auch deshalb von Interesse, weil hier der Staat, vertreten durch das Ministerium für Kultur, und die vom IML repräsentierte Partei in Konflikt gerieten. Einige Mitarbeiter des Ministeriums bestanden auf den „Heimat-Positionen“ der traditionellen Lokalforschung und Museumsdarstellung, was die Mitarbeiter des IML mit Ärger wahrnahmen. In diesem Konflikt leisteten die Museumsmitarbeiter und „Heimataktivisten“ (in der Sprache der SED-Propagandisten: „parteilose Heimatforscher“) Widerstand gegen das Vorhaben, die Geschichte der Arbeiterbewegung in die Lokalmuseen einzubeziehen. Der Streit zwischen den „parteilosen Heimatforschern“ und den „Parteipropagandisten“ erinnert an die von Verdery beschriebene rumänische Kontroverse um den Horea-Aufstand zwischen den nationalistischen und parteinahen „Protochronisten“ und den meistens parteilosen Fachhistorikern, die auf die „Unwissenschaftlichkeit“ ihrer Kontrahenten hinwiesen. Das Ergebnis war in beiden Fällen ähnlich: Die gegenüberstehenden Seiten beteiligten sich an einer Debatte, die letztendlich den nationalen Diskurs verstärkte und die Risse in der marxistischen Klassenerzählung vertiefte. Der ostdeutsche Konflikt zwischen „Heimat“ und „Arbeiterbewegung“ brach zu der Zeit aus, als die Legitimierung der SED-Herrschaft durch den Antifaschismus und das kommunistisches Zukunftsprojekt geschwächt wurde und die Ulbricht-Führung zunehmend auf die Idee des „sozialistischen Patriotismus“ setzte. Die Position des Klassendiskurses geriet also leicht ins Schwanken. Seit 1960 plante die „Fachstelle für Heimatmuseen“ beim Ministerium für Kultur eine Museumsreform im Sinne einer „sozialistischen Umgestaltung der Heimatmuseen“. Das Vorhaben, die Arbeiterbewegung und den Klas117 SAPMO, DY 30/IV 2/9.02/95, Einschätzung des Zirkels 3, Stufe III, 16.5.1960, Bl. 12 RK. 118 Siehe Lokatis, Der Rote Faden, S. 315–357; Martin Sabrow, Auf der Suche nach dem materialistischen Meisterton. Bauformen einer nationalen Gegenerzählung in der DDR, in: Konrad Jarausch/Martin Sabrow (Hg.), Die historische Meistererzählung, Göttingen 2002, S. 33–77, hier S. 37–41.

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senkampf in die heimatgeschichtliche Darstellung einzubeziehen, wurde jedoch nicht umgesetzt, da die Mehrheit der Museumsmitarbeiter unter Berufung auf „Überparteilichkeit“ an der traditionellen heimatgeschichtlichen Lokaldarstellung festhielt.119 Die Parteihistoriker wollten zuerst – typisch poststalinistisch – die Heimatforscher durch „Überzeugungsarbeit“ für die Parteisache gewinnen, durch „ideologische Auseinandersetzung“ die „zahlreichen Überreste der idealistischen Geschichtsauffassung“ bei den Museumsmitarbeitern überwinden und durch „kameradschaftliche Überzeugung und durch Beispiele die parteilosen Heimatforscher auf die Behandlung der politisch wichtigen Ereignisse und Etappen der Heimatgeschichte hin(zu)lenken,“ wie ein Parteihistoriker in einer Diskussion mit Museumsmitarbeitern im November 1956 feststellte. Er sah die Aufgabe der Partei in der Gestaltung der Parteigeschichte darin, „bei der Diskussion strittiger Einschätzungen der Heimatgeschichte klärend einzugreifen und damit zugleich mitzuhelfen, dass alle hier und da noch vorhandenen Überreste einer romantisierenden, mystifizierenden, fortschrittsfeindlichen Geschichtsbetrachtung beseitigt werden“.120 Die Museumsleiter sträubten sich jedoch, die als Politisierung wahrgenommene Umgestaltung anzunehmen und bestanden darauf, dass es „keinen Zweck hat, auf die bisherigen Museen die Geschichte der Arbeiterbewegung aufzupropfen“, wie die Leiterin der Fachstelle des Ministeriums bemerkte.121 In einem ministerialen Material über die DDR-Museen aus dem Jahr 1964 hieß es, dass die Abteilungen und Memorialstätten zur Geschichte der Arbeiterbewegung „ausnahmslos alle der Grundforderung nach einer musealen Gestaltung der Geschichte der Neuzeit nicht entsprechen“.122 Die Museumsmitarbeiter bemühten sich, die Geschichte der Arbeiterklasse und der Nation auseinanderzuhalten. Der historische Meilenstein sei das Jahr 1830 gewesen und seitdem werde die Geschichte der Arbeiterbewegung selbständig und nicht im Rahmen der Nationalgeschichte untersucht und gestaltet. Eine von den Parteiorganen verlangte gemeinsame Darstellung von Heimat und Arbeiterklasse wiesen die Museumsmitarbeiter als „falsch, weil unwissenschaftlich“ zurück. Die Parteihistoriker bekräftigten jedoch ihre klassenzentrierte Interpretation der Nationalgeschichte, und zwar mit Hilfe eines zirkularen 119 Ausführlich dazu Jan Scheunemann, „Gegenwartsbezogenheit und Parteinahme für den Sozialismus“. Geschichtspolitik und regionale Museumsarbeit in der SBZ/DDR 1945– 1971, Berlin 2009, S. 34f. Nach Scheunemann zeigten die Museen am Beginn der sechziger Jahre „einen geringen Grad an ideologischer Durchdringung“, ebenda, S. 369. 120 SAPMO, DY 30/IV A2/9.07/251, Bericht von der ersten zentralen Arbeitstagung der ZA NHF 7.–9.11.1956, unpag. 121 SAPMO, DY 30/IV A2/9.07/251, Aktennotiz zum II. Geschichtswissenschaftlichen Kolloquium der Fachstelle für Museen beim MfK am 22. und 23.4.1964, unpag. 122 Ebenda.

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Arguments – man müsse die Geschichte der Arbeiterbewegung in die Heimatmuseen einbeziehen, weil die Geschichte der Arbeiterbewegung von der Nationalgeschichte untrennbar sei. Damit unterstrichen sie freilich – ähnlich wie ihre rumänischen Kollegen – die Bedeutung der Nationserzählung: Hier wird der Versuch gemacht, die Tatsachen zu verdrehen, ja denen Wasser auf die Mühle zu geben, die sich seit Jahren sträuben, die Geschichte der Arbeiterbewegung überhaupt in ihr Museum einzubeziehen. Der Bruch besteht in vielen Museen einfach darin, dass die Geschichte nach 1830 überhaupt fehlt. Die Forderungen der Bezirks- und Kreisleitungen gehen dahin, diesen Zustand nicht länger zu dulden. Außerdem scheint die Fachstelle nicht zu wissen, was unter Nationalgeschichte zu verstehen ist, sonst würde sie z. B. für die Zeit nach 1945 wissen, dass Geschichte der Arbeiterbewegung und Nationalgeschichte gar nicht auseinandergerissen werden können.123

Das kommunistische Geschichtsbild gründete laut den Parteihistorikern auf der Annahme, dass erst mit dem Auftritt der Arbeiterklasse als bewusst handelndes Kollektivsubjekt die eigentliche Nationalgeschichte überhaupt anfängt. Völker ohne Arbeiterklasse waren laut dieser Vorstellung geschichtslos. In einem Gutachten über eine SED-Broschüre aus Sonnenberg von 1961 hieß es, „den Lesern wird ein geschichtsloses Geschichtsbild vermittelt“, sodass „der Eindruck entsteht, die Geschichte unserer Partei, die Geschichte des Kampfes der deutschen Arbeiterklasse als Vorkämpfer der Nation beginnt erst mit 1945“.124 Während die Parteihistoriker die „parteilosen Heimatforscher“ des „Subjektivismus“, „Provinzialismus“ und „bürgerlichen Idealismus“ bezichtigten, wurden sie im Gegenzug von den Museumsmitarbeitern als „unwissenschaftliche Ideologen“ gebrandmarkt, die das objektive Geschichtsbild deformieren wollten, ja sogar als „Sektierer“, mit welchem Ausdruck sie den stalinistischen Charakter der Forderungen der Parteihistoriker zu verdeutlichen versuchten. Wie es in einem Bericht der Museenfachstelle beim Kulturministerium vom April 1964 hieß, sei zwar die Zusammenarbeit für die Museen günstig, allerdings müsse in vielen Parteikommissionen noch „das Sektierertum überwunden werden, das sich in der Forderung ausdrückt, nur die Arbeiterbewegung schlechthin im Museum darzustellen“.125 Der Streit um die museale Darstellung der Nationalgeschichte veranschaulicht den Konflikt zwischen der Nation als Symbol der Kontinuität und Einheit einerseits und der Klasse als Verkörperung des Wandels und der Differenz andererseits. Die Parteihistoriker stießen immer wieder auf Widerstand der Heimatforscher in 123 Ebenda. 124 SAPMO, DY 30/IV A2/9.07/396, Gutachten „15 Jahre SED im Kreis Sonnenberg“, 6.6.1961, unpag. 125 SAPMO, DY 30/IV A2/9.07/251, Aktennotiz zum II. Geschichtswissenschaftlichen Kolloquium, 22.–23.4.1964, unpag.

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ihren Versuchen, den Klassendiskurs in die Nationalerzählung einzufügen und gar seine Deutungshoheit zu etablieren. Ein IML-Bericht über ein Museumskolloquium von 1964 zeigte, wie lokale Fachtraditionen das Bemühen der Parteiideologen erschwerten, eine genuin sozialistische Heimaterzählung zu etablieren, in welcher die Arbeiterbewegung das zentrale Organisationsprinzip darstellen würde: Einer der Referenten war Genosse Dr. Erik Hühns, Leiter des Märkischen Museums in Berlin. Seine Ausführungen gipfelten in einer Überschätzung des Aussagewertes gegenständlicher Quellen. Das Steilbeil, so meinte er, charakterisiere eine ganze geschichtliche Epoche. So sei es für unsere Zeit z. B. der Mähdrescher. Für die Kleidung könne man das mit Feigenblatt und Dederonkleid ausdrücken. Er fügte hinzu, die Interpretation des Gegenstandes sei der Tod des Museums. Auffallend war, dass v. a. solche Historiker falschen Ansichten und Vorstellungen entgegentraten, die nicht aus den Museen kommen. So unterstrich Genosse Prof. Eberhard Wächtler, Bergakademie Freiberg, dass sich keine Maschine durch bloßes Ansehen entwickelt. Er leitete damit dazu über, dass die Rolle des Menschen, für die neueste Zeit die geschichtliche Rolle der Arbeiterklasse, in Museen dargestellt werden muss.126

Die Parteipropagandisten fanden es immer schwieriger, die Arbeiterklasse und die „revolutionäre Partei“ im Rahmen der sich verfestigenden Nationserzählung als Herrschaftsdiskurs durchzusetzen. Diese Zielsetzung entwickelte sich zu einem der häufigsten „Noch-Nicht“ der poststalinistischen Sinnwelt: Das Verhältnis von Klasse und Nation stellte einen fruchtbaren Boden für das nie enden wollende Bemühen der Parteiarbeiter an der historisch-ideologischen Front. Dieses Streben wurde in eine zunehmend verschlüsselte Sprache gekleidet, wie in der Diskussion der „Forschergruppe 1945–1949“ der örtlichen SED-Geschichtskommission Leipzig von 1962: Nach unserer Meinung wird hier nicht klar, ob der richtige Ausgangspunkt besteht für die Darstellung des komplizierten, vielseitigen und vielschichtigen Prozesses der sich entwickelnden Aktionseinheit als Voraussetzung, dass die Arbeiterklasse zum Führer der Nation, zum Hegemon in der Revolution wird, die Erziehung der Arbeiterklasse, Erhöhung ihrer Bewusstheit und Organisiertheit als wichtigste Voraussetzung dafür, die Rolle des praktischrevolutionären Kampfes dieser Zeit, anhand der Schaffung neuer demokratischer Selbstverwaltungsorgane, der Bodenreform usw. zugleich die Herstellung des engen Bündnisses zwischen der Arbeiterklasse und den anderen demokratische Kräften in diesem Kampf usw.127

126 Ebenda. 127 SAPMO, DY 30/IV A2/9.07/253, Problemstellung für die Forschungsgruppe 1945– 1949, SED-Geschichtskommission Leipzig, 22.5.1962, unpag.

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Überlappende transnationale Parteigeschichten Die weitverbreitete Vorstellung eines harmonischen Miteinanders von Nation und Klasse, die in der Wortverbindung „Nationalkommunismus“ ihren Ausdruck fand, greift vor allem dort zu kurz, wo die Reste der früheren ethnischen, sozialen und konfessionellen Vielfalt Ostmitteleuropas auch nach 1945 erhalten blieben, sowohl in Menschen und ihren lebendigen Erinnerungen als auch in Dingen und Kulturlandschaften. Die Spannung zwischen Nation und Klasse verschwand nie aus den kommunistischen Darstellungen dieser gemischten Gebiete und die Entstalinisierung verstärkte die Renaissance partieller, sich überlappender Identitäten weiter. Seit den späten fünfziger Jahren, ein Jahrzehnt nach den Zwangsaussiedlungen, setzten erneut identitätsstiftende Prozesse vor allem in jenen Grenzregionen Ostmitteleuropas ein, in denen kleine Minderheitsgruppen lebten: in Nordböhmen, Schlesien und der Südslowakei. In diesen Gebieten stießen die Bemühungen der poststalinistischen Parteien, das lokalhistorische Bewusstsein ihrer Mitglieder zu stärken, auf Schwierigkeiten. Zum Beispiel erwies es sich als problematisch, die Geschichte der deutschen KSČ-Mitglieder in Nordböhmen in die lokalen Geschichtsdarstellungen zu integrieren. Ähnlich schwierig waren die Versuche, das Erbe der deutschen Kommunisten in die Geschichte der oberschlesischen Arbeiterbewegung aufzunehmen.128 Im Mittelpunkt dieser Wiederbelebung ethnisch-regionaler Identitäten stand die „deutsche Frage“. Zwar entspannten sich während des „Tauwetters“ die internationalen Beziehungen, nachdem mit den Genfer Konferenzen von 1955 und 1959 Hoffnungen auf eine Lösung der deutschen Frage erwacht waren. Innenpolitisch lebten mit der Liberalisierung in den östlichen Nachbarländern aber auch die nationalen Gefühle wieder auf. Die Nationaldifferenzen wurden stärker berücksichtigt, auch in ihrer historischen Dimension. So entstand nach 1956 etwa das Vorhaben der nordböhmischen, nunmehr fast ausschließlich tschechischen Kommunisten, einen Platz für die deutschen KSČ-Mitglieder in der Geschichte der tschechoslowakischen Arbeiterbewegung zu finden und sie vor dem Vergessen der Nachkommenschaft zu retten. Dieser Absicht gingen behutsame Versuche einiger kommunistischer Intellektueller in der KSČ-Führung voraus (teilweise selbst deutscher Herkunft), die Aussiedlung der deutschen Bevölkerung und allgemein das „deutsche Problem“ in Ostmitteleuropa neu zu diskutieren. Auch wenn diese 128 Siehe z. B. Věra Holá u. a. (Hg.), Vzpomínky na vznik KSČ, Praha 1962; Z bojů a práce KSČ na Liberecku, Liberec 1961; Adam Kałuża/Henryk Rechowicz (Hg.), Wspomnienia komunistów śląskich, Katowice 1962; Stanisław Gruszka, Komuniści Górnośląscy pod zaborem niemieckim, Katowice 1958.

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schüchterne Diskussion über die offizielle Interpretation der Nachkriegsereignisse nicht hinausging, laut welcher die Zwangsaussiedlung der deutschen Bevölkerung ein „objektiv notwendiges“ Ergebnis des Zweiten Weltkrieges war, entblößte sie zugleich einige Widersprüche in der offiziellen Auffassung der deutsch-tschechoslowakischen Beziehungen. In den Parteidebatten stellte sich heraus, dass die Nationalitätenpolitik der KSČ in der Zeit vor 1956 für die Genossen nicht immer verständlich gewesen war. Zum Beispiel widmete im April 1956 der Direktor des Instituts für die Geschichte der KSČ beim ZK, Pavel Reiman (eigentl. Paul Reimann129) der Frage der deutschen Minderheit in der Tschechoslowakei einen umfassenden Beitrag auf dem Seminar zu den „Ideologischen Fragen nach dem XX. Parteitag der KPdSU“. Er sprach unter anderem über die „unannehmbaren Vorfälle der Diskriminierung“ gegenüber den KSČ-Mitgliedern deutscher Nationalität“, zu denen es nach 1945 gekommen sei.130 Nach 1956 war es zum ersten Mal, dass die Partei über die Benachteiligung der Minderheiten sprach, und diese Diskussionen wurden als Teil der Auseinandersetzung mit dem Personenkult verstanden. In Liberec in Nordböhmen erhob sich im August 1956 Kritik gegen die Diskriminierung der Deutschen im Alltag und sogar gegen den „tschechischen Chauvinismus“, wie eine deutsche KSČ-Funktionärin ihre Erfahrungen aus dem Alltagsleben charakterisierte.131 Liberec war einer der Kreise, in welchen die „deutsche Frage“ mit der Aussiedlung keineswegs abgeschlossen war, denn 1956 waren noch fast zehn Prozent der Stadtbevölkerung deutscher Nationalität. Für die Partei war die Haltung der deutschen Minderheit eine große Unbekannte, vor allem während des Krisenjahres 1956. Mit dem Beginn der Entstalinisierung griff man das Interesse an der deutschen Minderheit wieder auf. „Das Verhältnis dieser Bürger mit deutscher Volkszugehörigkeit“, referierte der KSČ-Kreissekretär im März 1956, „zu unserer volksdemokratischen Ordnung lässt sich bei der Mehrheit als gut bezeichnen, bei einigen als passiv oder schwankend. Allerdings ist es auch wahr, dass wir keine genauen Kenntnisse ihrer

129 Pavel Reiman, 1902 als Paul Reimann in Brünn geboren, war einer der deutschen Intellektuellen, die sich in den zwanziger Jahren der KSČ anschlossen. Er gehörte zu den harten Stalinisten, nach dem Slánský-Prozess wurde er jedoch aller Ämter enthoben und in das Institut für Parteigeschichte versetzt. Wie viele ehemalige Stalinisten wurde er 1968 zum Befürworter des Reformprozesses. Siehe die Autobiographie: Pavel Reiman, Ve dvacátých letech, Praha 1966. 130 NA, AÚV KSČ, 05/3, sv. 1, a.j. 6, Celostátní seminář učitelů KSŠ a lektorů KV, 23.–25.4.1956, Bl. 128–134. 131 SOA Lit, KV KSČ Liberec, k. 10, Plenarsitzung 3.2.1957, Diskussionsbeitrag Tomášková, unpag.

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Mentalität haben und diese Bewertung daher nur indirekt vornehmen können.“132 Die Kritik am Personenkult und die Idee der Wiedergutmachung für das in der Vergangenheit begangene Unrecht mobilisierten die deutschen Kommunisten vor Ort. Zugleich wurde immer die „Klassenfrage“ – vor allem der Antifaschismus – als das bestimmende Prinzip der Parteipolitik unterstrichen und „Nationalismus“ und „Chauvinismus“ auf beiden Seiten, bei Deutschen wie bei Tschechen, gleichmäßig kritisiert. Ähnlich wie bei Reiman im Parteizentrum sprach man nun in den lokalen Debatten von „Diskriminierung“ und sogar „Unrecht“, vor allem den deutschen KSČ-Mitgliedern aus der Zwischenkriegszeit gegenüber, die nur aufgrund ihrer Nationalität in die Partei nicht wieder aufgenommen oder deren Altersrente gekürzt wurde. Man sprach zum ersten Mal über die Erfahrungen der Deutschen nach 1945 und die bisher ausgebliebene Integrationspolitik: Seht mal, Genossen, auch ich bin Deutsche. Und wenn wir uns treffen würden und jemand würde euch fragen – wer ist das? – dann würdet ihr vermutlich sagen: das ist Frau Tomášková, oder: das ist Margit. Aber ihr würdet nicht sagen – das ist eine Deutsche und sie heißt Tomášková. Warum? Weil wir miteinander leben, ihr kennt mich, ich arbeite mit euch. Für euch ist das keine Frage mehr – ist das eine Deutsche, ist das keine Deutsche. Das ist eine Funktionärin, sie hat das und das durchgemacht und sie arbeitet. Aber wenn ich in einen Betrieb komme, auf dem Land, und frage nach Bürgern deutscher Abstammung, da sagen sie nicht, das ist der da oder der, sie sagen – der Deutsche. Da kann einer täglich an der Maschine stehen und arbeiten, doch wenn man sie fragt, heißt es „der Deutsche“.133

Solche Erscheinungen führten zur Passivität und Distanzierung der Deutschen. Die örtlichen KSČ-Mitglieder verlangten deshalb die Erweiterung der „Überzeugungsarbeit“ unter der deutschen Bevölkerung, auch um der westdeutschen Propaganda entgegenzuwirken; man sollte sich „gewissenhaft, systematisch und prinzipiell mit der politischen Arbeit unter den deutschen Mitbürgern“ befassen,134 die „Wankelmütigen“ unter den Deutschen überzeugen (přesvědčit kolísavé), sie für die Partei und für den Sozialismusaufbau gewinnen. Dafür sollte die Partei „vergangene Fehler“ in der Nationalitätenpolitik, das Unrecht und die Diskriminierung eingestehen und korrigieren: „Seht ihr, die Vertreibung der Deutschen im Jahre 1946“, fuhr die Kommunistin aus Liberec fort. „Denkt ihr, Genossen, dass den Deutschen diese historische Notwendigkeit und die ganze Sache klar geworden ist? Dass die Mehrheit der Deutschen diese Notwendigkeit begriffen hat? Ich glaube nicht. Und wenn, ist es trotzdem ein tiefer und schmerzhafter Eingriff in 132 SOkA Lib, OV KSČ, Okresní konference, k. 3, 17.–18.3.1956, Diskussionsbeitrag Dr. Hejkal, unpag. 133 SOA Lit, KV KSČ Liberec, k. 10, Plenarsitzung 3.2.1957. 134 SOkA Lib, OV KSČ Liberec, k. 3, Okresní konference, 17.–18.3.1956, Diskussionsbeitrag Dr. Hejkal.

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das Leben des Volkes, dessen Folgen so lange im Gedächtnis dieser Deutschen bleiben, bis es uns wirklich gelungen ist, diese Frage theoretisch grundlegend zu klären.“135 Einhergehend mit der poststalinistischen „Rückkehr der Geschichte“ wurde 1956 zum ersten Mal über die Schattenseiten der Aussiedlung gesprochen. Einige Kommunisten empfanden sie und bereuten sogar den Verlust von Menschen, Dingen und Kulturwerten. Die Umsiedlung von vielen deutschen KSČ-Mitgliedern, wenn auch freiwillig, betrachtete man als einen Fehler und Rückschlag für die Partei, nicht zuletzt wegen ihrer „ideologischen Reife“, denn gerade die deutschen Parteimitglieder gehörten zu den theoretisch am meisten fortgeschrittenen. Das ist ein sehr schmerzhafter Vorwurf unserer Propaganda, wenn wir feststellen müssen, dass unsere älteren Mitbürger deutscher Abstammung, die auf hohem Niveau waren, was die Kenntnisse des Marxismus-Leninismus angeht, und die fortschrittlichen Proletarier aus Liberec, und die Leute, die bis in die Zeit der Besatzung hinein ganz vorne waren, dass sie heute die neue Zeit nicht verstehen. Als wir letzte Woche Versammlung hatten, hat sich das niedrige Niveau gezeigt. Das ist etwas, das wir uns selbst vorwerfen müssen. Dass wir es nicht geschafft haben, diesen großen Graben zu überbrücken, den es hier gibt.136

Es wurde auch der materielle Niedergang beklagt, vor allem in der Landwirtschaft. Man dachte an das Können, den Fleiß und die Ordnungsliebe der Deutschen nostalgisch zurück und stellte Nachkriegsverfall und Chaos fest: Die Gemeinde Dolní Sedlo. Dort gab es zwei oder drei Bauern. Diese Leute mussten schuften. Diese Bürger sehen immer noch ihre Schwielen. Guckt euch heute einmal an, wie es da jetzt aussieht. Kaputte Häuser. Wenn wir es schaffen, das in Ordnung zu bringen, wenn wir es schaffen, die Werte zu respektieren, die dort existierten, dann können wir sie zur Mitarbeit gewinnen.137

Die lokalen Diskussionen über das deutsche Erbe in der Partei brachten die Parteistellen dazu, sich mit der Geschichte der deutschen Minderheit einschließlich der Aussiedlung zu befassen. Reiman forderte im erwähnten Referat dazu auf, die Ursachen der Faschisierung der deutschen Bevölkerung zu erforschen. Es ist heute für uns wichtig und entscheidend zu klären, wie das gewesen ist. Die Aussiedlung (odsun) der Deutschen in ihren historischen Bedingungen, das ist Sache unserer histo-

135 SOA Lit, KV KSČ Liberec, k. 10, Plenarsitzung 3.2.1957. 136 SOA Lit, KV KSČ Liberec, k. 10, Plenarsitzung 4.8.1956, Diskussionsbeitrag Tomášková, unpag. 137 SOkA Lib, OV KSČ Liberec, Okresní konference, k. 3, 17.–18.3.1956.

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rischen Wissenschaft. Unsere historische Wissenschaft muss sich damit gründlich auseinandersetzen, Dokumente zusammentragen und den ganzen Prozess historisch erklären.138

Diese poststalinistische Entschlossenheit, das Geschehene zu erfassen, wurde hauptsächlich in den sechziger Jahren umgesetzt, indem das KSČ-Geschichtsinstitut ein umfangreiches Forschungsprogramm zur Geschichte der deutschen Bevölkerung in der Tschechoslowakei entwickelte, unter dem Stichwort „Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung“. Es wurden Erinnerungen der deutschen KSČ-Mitglieder gesammelt, auch in Zusammenarbeit mit den SEDHistorikern. 1964 errichtete das ZK KSČ die „Kommission für die Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung in der Tschechoslowakei“, die erste Archivforschungen zur Aussiedlung unternahm und deutsch-tschechoslowakische Fachtagungen organisierte.139 Der Umfang und die Besonnenheit dieser Tätigkeit beweisen, wie ernst die Kommunisten die Versöhnung von Klasse und Nation nahmen, aufrichtig bemüht um einen Neuanfang. Indem die Parteihistoriker die „deutsche Frage“ und das Erbe der deutschen Arbeiterbewegung, einschließlich der Konflikte und Missverständnisse, behandelten, relativierten sie das Idealbild der Partei, das auf der Vereinigung der nationalen Befreiung und des proletarischen Internationalismus basierte. Die offizielle These über die „historisch gerechte“ Aussiedlung der Deutschen aus der Tschechoslowakei blieb zwar unangetastet. Aber die wieder zur Sprache gekommene „deutsche Frage“ erwies sich für die Herstellung neuer Geschichtsbilder als problematisch, denn die KSČ-Führung war durch die möglichen „ideologischen Unklarheiten“ unter den deutschen Parteimitgliedern beunruhigt. Das betraf vor allem jene Genossen, die Beziehungen mit ihren Verwandten in Westdeutschland unterhielten. Tatsächlich entwickelten die deutschen KSČ-Mitglieder in den sechziger Jahren eine agile Organisationstätigkeit, die während des Prager Frühlings in dem Vorhaben resultierte, einen Verband der KSČ-Mitglieder deutscher Nationalität zu gründen. Die KSČ-Führung nahm diese Bemühungen ernst, man erwog sogar die Errichtung von Parteischulungen in deutscher Sprache, die der „revanchistischen Propaganda“ der sudetendeutschen Landsmannschaft in Westdeutschland entgegenwirken sollte.140 Auch hier tappten die Parteileitungen in die 138 NA, AÚV KSČ, 05/3, sv. 1, a.j. 6, Bl. 132. 139 NA, ÚD KSČ, k. 83, a.j. 545, Bl. 134. Siehe z. B. Jan Křen, Odsun Němců ve světle nových pramenů, in: Dialog. Měsíčník pro politiku, hospodářství a kulturu 1967, Nr. 4, S. 1–5; Nr. 5, S. 6–10; Nr. 6, S. 9–13. 140 SOA Lit, KV KSČ Nordböhmen, k. 14, Plenarsitzung 21.9.1961; NA, AÚV KSČ, 05/3, sv. 7, a.j. 29, Zápis z porady tajemníků KV KSČ, 18.–19.12.1958, Bl. 33–35; siehe auch Berichte aus den Grenzregionen über das angebliche Wiederbeleben des „Revanchismus“ unter der deutschen Bevölkerung, z. B. im Hultschiner Ländchen (Hlučínsko): ZA Op,

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Falle der Nationsfrage, die sie sich durch die Öffnung des Geschichtsdiskurses selbst gestellt hatten. Ein weiteres Beispiel des poststalinistischen Konfliktes zwischen der nationalen und der Klassenidentität bietet das angespannte polnisch-tschechische Verhältnis, das die Grenzen des „proletarischen Internationalismus“ wie auch der „slawischen Brüderschaft“ deutlich macht. Um 1956 wurden die althergebrachten Vorurteile und historischen Reminiszenzen aus der ersten Jahrhunderthälfte – vor allem der Grenzkonflikt nach dem Ersten Weltkrieg und die polnische Besatzung des Teschener Schlesien/Zaolzie von 1938 – in einer neuen Situation mobilisiert. 1956 bestätigte sich aus polnischer Sicht der Stereotyp über die feigen und konformistischen Tschechen, aus tschechischer Sicht wiederum wirkte das Bild der vergeblich und selbstvernichtend rebellierenden Polen.141 Die tschechoslowakischen Kommunisten nahmen die polnische antistalinistische Revolte zunehmend mit Sorgen und Kritik wahr, einschließlich der Reformisten, die eine gewaltsame Unterdrückung der Reform befürchteten. Im Brennpunkt alltäglicher Auseinandersetzungen befanden sich das historisch umstrittene Teschener Gebiet, wo eine bedeutende polnische Minderheit lebte, und das Ostrava-Kohlerevier, wo polnische Bergleute arbeiteten. Laut Parteiberichten verbreiteten 1956 die polnischen KSČ-Mitglieder „ideologische Unklarheiten“ und betrieben „antisowjetische Hetze“. In der Bezirksleitung Ostrava wurde im Dezember 1956 über den „Polnischen Oktober“ diskutiert und dabei über die „Wiederbelebung des bürgerlichen Nationalismus“ sowohl unter den Polen als auch Tschechen berichtet. Die polnischen KSČ-Funktionäre gerieten in die Zwickmühle zweier Loyalitäten. „Es ist schwer für mich, darüber zu reden,“ kommentierte der Chefredakteur der polnischen KSČ-Zeitung Głos Ludu die Ereignisse des polnischen Oktobers. „Als Pole bin ich in dieser Frage etwas sentimental, aber weil ich in der Tschechoslowakei aufgewachsen bin, kann ich über einiges anders urteilen. Zum Beispiel dieses aristokratische Händeküssen, das ist für uns manchmal fast beleidigend. Das kennen wir nicht. Aber sie setzen sich damit gar nicht erst auseinander.“142 Im Frühjahr 1957 berichtete man aus Ostrava, dass es „keinen Unterschied dazwischen gibt, wenn Kommunist oder Chauvinist spricht“. Mehr als unter den Arbeitern sei KV KSČ Nordmähren, Sitzung des Büros 3.11.1958, Zpráva o revanšistické činnosti Němců v okrese Hlučín, Bl. 108. 141 Zur gegenseitigen Wahrnehmung und Animositäten unter den ostmitteleuropäischen Völkern siehe Muriel Blaive, Promarněná příležitost. Československo a rok 1956, Praha 2001, S. 287–312; Jiří Pernes, Krize komunistického režimu v Československu v 50. letech 20. století, Brno 2008, S. 151–159; Grażyna Pańko, Polska i Polacy w czeskiej opinii publicznej w okresie międzywojennym, Wrocław 1996. 142 ZA Op, KV KSČ Ostrava, Plenarsitzung 14.–15.12.1956, Bl. 38.

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dieser „Chauvinismus“ allerdings unter der Intelligenz und besonders unter den Lehrern verbreitet. Die Parteiorgane haben die „Nationalitätenfrage“ im Teschener Gebiet laut Berichten vernachlässigt, auch im Hinblick auf das „Wiederbeleben der Religion“ unter der polnischen Bevölkerung.143 Unterschiede zeigten sich aber auch zwischen den Arbeitern beider Nationalitäten. Das war ein schwerer Schlag für die „Einheit“ der internationalen Arbeiterklasse. Die tschechischen Kommunisten beurteilten die polnischen Bergleute als antisowjetisch, „politisch unbewusst“, hauptsächlich wegen ihrer Religiosität. Im Dezember 1959 wurde über die Schwierigkeiten mit den polnischen Bergleuten in Ostrava an das KSČ-Zentralkomitee berichtet: Bei uns gibt es viele Polen. Wie wir wissen, die Polen haben ein schlechtes Verhältnis zur Sowjetunion. Das erste was sie sagten, als sie bei uns angekommen sind, war, dass der Pförtner den fünfeckigen Stern auf der Mütze trägt. Unser Agitator antwortete, dass es bei uns einen Tag dauert, um ein Paar Schuhe herzustellen, bei ihnen aber fünf Tage. Ähnlich, ein Mantel bei uns dauert eine Woche, bei ihnen einen Monat. Sie fragten uns auch, warum wir auf den Fördertürmen den fünfeckigen Stern haben, wenn wir den Löwen im Staatswappen tragen. Da antwortete ihm der Agitator, wir haben im Staatswappen einen Löwen, der auf der Brust den fünfeckigen Stern hat. Der Löwe wollte nicht auf den Turm hinauf, dann haben wir dort zumindest den Stern untergebracht. Ich erwähne es deshalb, weil in diesem Zusammenhang bei uns langwierige Schwierigkeiten entstehen. Dort, wo die Polen arbeiten, müssen wir gute Kommunisten einsetzen. Vor vier Wochen war ich in Polen und sah, was für Folgen die Vernachlässigung der massenpolitischen Arbeit hat.144

Hier zeigt sich die poststalinistische Sorge um die in der „vorherigen Epoche“ vernachlässigten Probleme: Die Nationalitätenfrage wurde bisher ignoriert und muss jetzt realistisch und in langfristiger Perspektive gelöst werden. In der Folgezeit bemühten sich deshalb die beiden Parteien um die Verbesserung gegenseitiger Beziehungen, wozu auch Geschichtsdarstellungen über den „gemeinsamen Kampf“ polnischer und tschechoslowakischer Kommunisten beitragen sollten. Ein Kooperationsprogramm der tschechoslowakischen und polnischen Parteihistoriker wurde eingerichtet; gemeinsame Publikationen waren geplant, in deren Mittelpunkt der gemeinsame antifaschistische Widerstand, vor allem in Oberschlesien, stehen sollte.145

143 NA, AÚV KSČ, 05/3, sv. 1, a.j. 9, Celostátní porada vedoucích III. oddělení KV KSČ k zabezpečení usnesení červnového pléna ÚV KSČ 1957, Bl. 60–61. Ähnliche Sorgen wurden auch bezüglich der deutschen Bevölkerung in Nordböhmen geäußert. 144 NA, AÚV KSČ, 05/3, sv. 4, a. j. 19, Celostátní seminář k agitační práci, 17.–18.12.1959, Bl. 44. 145 Vgl. NA, ÚD KSČ, sv. 83, a. j. 547, unpag.

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Wie jedoch der Verlauf und die Ergebnisse dieses Geschichtsunternehmens zeigen, war das Misstrauen auf beiden Seiten schwer zu überwinden. Das distanzierte Verhältnis von tschechischen und polnischen Kommunisten spiegelt die poststalinistische Ernüchterung wider. Die Darstellungen der Zusammenarbeit im antifaschistischen Widerstand und Erinnerungssammlungen, die vor allem in den frühen sechziger Jahren entstanden, wurden mit wenig Enthusiasmus geschrieben. Sie wirken meistens trocken, stellenweise sogar düster. Das Gefühl der Auswegsund Hoffnungslosigkeit der späten dreißiger Jahre kommt vor allem bei den polnischen Kommunisten deutlich zum Vorschein, deren Widerstandsbewegung sich zu dieser Zeit am Tiefpunkt befand. Das Verhältnis der tschechischen und polnischen Genossen wurde zwar als anständig und respektvoll, aber auch zurückhaltend dargestellt. Von einem begeisterten Kampf im Geiste des proletarischen Internationalismus kann kaum die Rede sein. Einen ersten Riss erhielt der proletarische Internationalismus, verkörpert im gemeinsamen antifaschistischen Kampf der KSČ und KPP, durch Missverständnisse und Spannungen, die während des tschechoslowakischen Exils der in Polen verbotenen KPP zwischen den beiden Parteien auftraten. Roman Nowak, nach 1945 Parteisekretär in Katowice und Opole, schildert in seinen Erinnerungen die schwierige Lage der KPP-Mitglieder in Prag, wo ihr Zentralkomitee (1936–1938) seinen Sitz hatte. Die Prager Zeit ist hier als Zeit des Stillstands geschildert, in der nichts unternommen werden konnte. Prag erscheint als ein neutraler, trauriger Schauplatz, nicht als Ort, an dem sich eine Revolutionstätigkeit entwickeln sollte. Nowak klagt über die Abkapselung vom Kampf in der Heimat und beklagt die wachsende Angewiesenheit auf die materielle Hilfe tschechischer Genossen, die nicht als selbstverständlich und selbstlos erscheint. Die Situation verschlechterte sich 1938 im Zuge von Stalins Auflösung der KPP, die ein zunehmendes Misstrauen der tschechischen Kommunisten gegenüber den KPP-Mitgliedern zur Folge hatte. Die Kontakte wurden seltener, die gegenseitige Entfremdung nahm zu. Als die polnischen Kommunisten nach dem Münchner Abkommen vom September 1938 und der Zerschlagung der Tschechoslowakei Prag verließen, verstanden sie ihren Abschied eher als Erlösung und Ermunterung für den wirklichen Kampf. In den Erinnerungen polnischer Kommunisten wird die Zusammenarbeit mit den tschechischen Genossen als zurückhaltend beschrieben, durchgeführt eher als Gebot und Notwendigkeit denn als Ausdruck einer revolutionären Bruderschaft. In Nowaks Erinnerungen werden diese kalten Beziehungen und die Atmosphäre des Misstrauens anhand des Schicksals des KPP-Archivs veranschaulicht, das 1938 an die tschechischen Genossen übergeben wurde, während des Krieges jedoch verloren ging. Dies brachte Nowak zu Spekulationen darüber, ob die Tschechen das Archiv tatsächlich ordentlich aufbewahrt hätten; dieser Verdacht konnte auch durch die folgende Würdigung der tschechischen Hilfe bei der Ausreise der polnischen Genossen

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nicht ganz zerstreut werden. Die Stimmung der Rat- und Hilflosigkeit durchdringt diese Erinnerung. Die Erzählung hat kein glückliches Ende. Sie bricht in der für die kommunistische Bewegung düstersten Zeit ab, im Frühling 1939, ohne jeglichen Zukunftshinweis.146 Das reservierte bis negative Bild der Tschechen und von Prag war ein immer wiederkehrendes Motiv in den polnischen Memoiren. Tadeusz Daniszewski (der spätere Direktor des PZPR-Geschichtsinstituts) schilderte seine Konspirationsreise Mitte der dreißiger Jahre, als er mit falschen Papieren von Moskau über Nordeuropa, Deutschland und die Tschechoslowakei nach Warschau reiste. Im Nachtzug von Berlin nach Prag habe der tschechische Schaffner, der laut Daniszewski wie alle Schaffner der internationalen Züge im Dienste verschiedener internationaler Geheimdienste war, ihm das Foto aus dem Pass herausgerissen, so dass der tschechoslowakische Grenzpolizist Daniszewski aussetzen und zurück nach Nazideutschland schicken wollte. Er musste Widerstand leisten, um durchgelassen zu werden. Als er sich am nächsten Tag im Prager Kaffeehaus mit dem Parteigenossen traf, wurde er vom tschechischen Kellner grob behandelt und zu Unrecht beschuldigt, ohne Bezahlung flüchten zu wollen. Politisch gab es in Prag auch für Daniszewski nicht viel zu machen, man war zur Passivität verurteilt. Prag erschien als ein Ort des Wartens, eine Transitstation, ein Nicht-Ort (Marc Augé), wo kaum etwas passiert; als ein gefühlloser, zeitloser, neutraler Ort ohne Geschichte und Identität, wo es weder Feinde noch Freunde gab.147 Indem die polnischen Darstellungen häufig die zweifelnde, zurückhaltende tschechische Haltung zum Thema machten, verdeutlichten sie die Grenzen des „einheitlichen Kampfes“ der internationalen Arbeiterklasse wie auch des Topos der „slawischen Brüderschaft“. Ein Erinnerungsbericht aus Oberschlesien stellt angesichts der angespannten Situation des Jahres 1938 – der Auflösung der KPP und des Münchner Abkommens – den Pragmatismus der tschechischen Kommunisten in den Vordergrund, der sich in ihrer allgemein skeptischen Einstellung und dem Betonen der „schweren und langdauernden Arbeit“ niederschlug. „Die tschechischen Kommunisten haben vorausgesehen, dass der von Hitler entfesselte Krieg – wenn alles gut geht – fünf oder sechs Jahre dauern wird; und dass man sich deswegen in der organisatorischen und propagandistischen Tätigkeit auf eine sehr harte und langfristige Arbeit einstellen muss.“148 Die Zusammenarbeit mit den 146 Roman Nowak, Ze wspomnień, in: Komuniści. Wspomnienia o Komunistycznej Partii Polski, Warszawa 1969, S. 547–555. 147 Tadeusz Daniszewski, Powrót do kraju, in: Ebenda, S. 424–434; vgl. Marc Augé, NichtOrte, München 2010. 148 Franciszek Brudny, Pierwsze kontakty, in: Z lat walki. Wspomnienia śląskich peperowców, Katowice 1966, S. 35–42, hier S. 36.

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tschechischen Genossen (z. B. das Drucken einer illegalen polnischen Parteizeitung in Prag und Ostrava), war durch zweifelhafte Erfahrungen gekennzeichnet, auch berichtete man über die feindlich eingestellten Behörden. Die tschechoslowakische Polizei arbeitete laut den Erinnerungsberichten gegen die Kommunisten, und somit war der gesamte („bürgerliche“) tschechoslowakische Staat bereits in den dreißiger Jahren den Polen gegenüber feindlich eingestellt: „Die Tschechoslowakei gehörte damals zu den demokratischsten bürgerlichen Staaten, aber ihre Polizei wartete nicht mit verschränkten Händen, wenn es auf die illegale Tätigkeit ausländischer kommunistischer Parteien auf dem Gebiet des Staates kam.“149 Ein noch problematischeres Bild finden wir in den Darstellungen der Besatzung und des Krieges. Die Zusammenarbeit im antifaschistischen Widerstand ging zwar voran, aber die Schilderungen des Kampfes sind emotionsfrei, trocken, deskriptiv. Sie beschränken sich auf die Beschreibung nackter Tatsachen. An der polnisch-tschechoslowakischen Grenze in Schlesien entwickelte sich zwar die konspirative Zusammenarbeit. Sie war jedoch sehr oft dadurch beeinträchtigt, dass die tschechischen Genossen häufiger Kollaborateure, Verräter, und Konfidenten der Gestapo waren als heldenhafte Mitkämpfer. Eine polnische Kommunistin erinnert sich an den Widerstandskampf im Grenzgebiet, als KPP-Widerständler von örtlichen Tschechen über die Grenze in das Protektorat überführt wurden. Sie berichtet vom Verrat, in dessen Folge sie von der Gestapo verhaftet und während der Verhöre schwer misshandelt wurde. Selbst diese Vorkommnisse werden lapidar, trocken und ohne Emotionen erzählt.150 Die Tschechoslowakei galt für die polnischen Kommunisten als ein unsicheres Land, das man schnell auf dem Weg in die Heimat passieren müsse. Eine schlesische Kommunistin, die als Verbindungsfrau (łączniczka) arbeitete und kommunistische Widerstandskämpfer in das Protektorat überführte, schilderte eine Geschichte von zwei tschechischen Partisanen, die als Gestapo-Konfidenten entlarvt wurden. Die Tschechen hatten ihr Informationen über den polnischen kommunistischen Widerstand entlockt. Am Ende wurden die Konfidenten von den polnischen Widerstandskämpfern demaskiert und hingerichtet. Auch diese Erzählung bleibt im Duktus lakonisch.151 Sie ist von der Hoheit der Fakten beherrscht und beschränkt sich auf die Beschreibung der unangenehmen Realität. Im Allgemeinen sind die poststalinistischen Erlebnisberichte, vor allem die der Frauen, auffallend antiheroisch und pathosfrei angelegt.

149 Wacław Komar, Tajna Drukarnia i jej ludzie, in: Komuniści, S. 455–467, hier S. 458. 150 Waleria Trzankowska, Wspomnienie łączniczki, in: Z lat walki, S. 218–229. 151 Maria Wieczorek, in: Ebenda, S. 230–238, hier S. 238: „Am 16. Juni 1945 bin ich nach Bielsko zurückgekehrt. Erschöpft, krank, fast am Ende meiner Kräfte.“

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Einen weiteren Knotenpunkt der polnisch-tschechischen Spannungen stellte das Jahr 1968 dar, zunächst die März-Ereignisse mit der „Antizionismus-Kampagne“ in Polen und dann der Prager Frühling.152 Diesmal waren die Rollen von 1956 vertauscht, indem nun die Tschechoslowakei die Gefahr für den Sozialismus darstellte und eine konservative Kritik von polnischen Genossen erntete. Die polnische Parteisprache während des Prager Frühlings benutzte nicht direkt die antitschechischen Stereotype. Sie schöpfte vielmehr aus zwei aktuellen ideologischen Quellen: dem Revisionismus und dem Zionismus. So stellte die polnische Kritik am Prager Frühling eine Fortsetzung der antizionistischen Kampagne vom März 1968 dar. Dabei haben sowohl die Parteiführung als auch lokale Propagandisten die Tatsache, dass einige Führungspersönlichkeiten des Prager Frühlings wie František Kriegel, Eduard Goldstücker oder Ota Šik jüdischer Abstammung waren, reichlich ausgenutzt. Angespannt war die Situation wieder an der Grenze in Oberschlesien: Auch dieses Mal wurde die in der Tschechoslowakei lebende polnische Bevölkerung als die ideologische „fünfte Kolonne“ gebrandmarkt, als potentielle Verbreiterin des „tschechischen Revisionismus“ in Volkspolen. Die Kritik wandelte sich aber nie in eine offene Feindschaft – man sollte den Polen aus Teschen sowie den tschechischen Genossen durch Überzeugungsarbeit die „Augen öffnen“, wie es im Referat der Kreisparteikonferenz von Cieszyn im September 1968 hieß: Man muss unseren Brüdern im Olsagebiet und den Funktionären der Kommunistischen Partei der Tschechoslowakei Hilfe leisten, man darf sich von ihnen nicht gleich abtrennen, man muss nach Eintracht streben, nach besserem Zusammenleben mit dem tschechoslowakischen Volk. Die Polen in der Tschechoslowakei können viel zur Annäherung unserer Völker und zur Beseitigung der Antagonismen beitragen. Wir brauchen uns über die Zukunft keine Sorgen zu machen. Die politische Situation in der Tschechoslowakei wird sich stabilisieren. Wir sollten unseren Nachbarn besser kennenlernen, wir müssen dieses fleißige Volk richtig einschätzen.153

Im Herbst 1968 spielten die polnischen Kommunisten zwar die nationalistische, antitschechische Karte, aber sie ordneten sie immer dem kommunistischen, d. h. antiimperialistischen und antirevisionistischen Narrativ unter. In den Parteiversammlungen in Cieszyn wurde die Gefahr des Revisionismus als Hauptbegründung der Invasion betont; zugleich wurde in Übereinstimmung mit der offiziellen sowjetischen Begründung das „Gift des Nationalismus“ als Argument gebraucht. Die Redner verurteilten die „nationalistische“ und „antipolnische“ Einstellung der

152 Vgl. Petr Blažek u. a. (Hg.), Polsko a Československo v roce 1968, Praha 2006. 153 AP Kat, KW PZPR, 310/I/14, KP PZPR Cieszyn, Materiały z Konferencji przedzjazdowej, 21.9.1968, Bl. 8.

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tschechoslowakischen Presse, die in den Händen von „zionistischen Elementen“ lag. Der Revisionismus und der Nationalismus verwoben sich hier in einem für den Poststalinismus typischen, unübersichtlichen Gemenge miteinander, wobei man Revisionismus immer als den spiritus movens verstand.154 In den Grenzgebieten war die Frage der tschechoslowakisch-polnischen Beziehungen auch deshalb dramatisch, weil sich die Polnische Volksarmee am Einmarsch in die Tschechoslowakei im August 1968 beteiligte. Die Reminiszenzen an das Jahr 1938 wurden wieder wach, als Polen an der Zerschlagung der Tschechoslowakei teilnahm und das Teschener Land („Zaolzie“) besetzte. Seit 1969 bemühten sich deshalb beide Seiten, durch das Hervorheben der gemeinsamen Traditionen des antifaschistischen Widerstandes das gegenseitige Freundschaftsbild zu stärken, wie zum Beispiel während des Besuchs des tschechoslowakischen Staatspräsidenten Svoboda 1969 in Warschau.155 Die polnisch-tschechischen Verstimmungen machen deutlich, dass selbst der Geist der poststalinistischen Erneuerung nicht die Potenz hatte, die nationalen „Stereotype langer Dauer“ (Hubert Orłowski156) zu überwinden, eher im Gegenteil. Die Beispiele zeigen, wie die Bemühungen der Parteien, die lokalen Identitäten in den gemischten Gebieten in die neue poststalinistische Geschichtserzählung zu integrieren, stets unerwünschte Gegenwirkungen zeitigten. Diesen musste mit neuen Kampagnen immer wieder begegnet werden. Ähnliche „überlappende transnationale Parteigeschichten“ entstanden während der Auseinandersetzungen der polnischen Kommunisten in Oberschlesien mit der dortigen Tradition der KPD, die nach 1956 in den regionalen Zusammenhängen neu bewertet wurde. Wie im Falle der deutschen Kommunisten in Nordböhmen wurden hier neue Geschichtsdarstellungen und Editionen herausgegeben, die den „proletarischen Internationalismus“ der Region hervorhoben, zugleich aber nationale Ressentiments entflammen ließen.157 Hierzu gehört auch die poststalinistische Neubewertung des Slowakischen Nationalaufstandes gegen die deutsche Besatzungsmacht 1944, die die unitäre, tschechisch-zentrierte Deutung der Geschichte der tschechoslowakischen Arbeiterbewegung unterminierte und die Autonomie der slowa154 AP Kat, KW PZPR, 310/II/20, KP PZPR Cieszyn, Plenarsitzung 17.9.1968, Bl. 202– 215; vgl. Kemp, Nationalism and Communism, S. 155. 155 AAN, KC PZPR, 237/VIII-960, Współpraca z Komunistyczną Partią Czechosłowacji 1968–1970. 156 Hubert Orłowski, Stereotype der „langen Dauer“ und Prozesse der Nationsbildung, in: Deutsche und Polen. Geschichte, Kultur, Politik, Muࡇnchen 2006, S. 269–279. 157 AP Kat, KW PZPR, 1793/399, Rocznica antyfaszystowskiego Kongresu PolskoNiemieckiego, Dezember 1958; 1793/343, Referat Historii Partii 1957–1960, Bl. 10–14. Zum Jahr 1956 in Oberschlesien siehe Adam Dziurok u. a. (Hg.), Stalinizm i rok 1956 na Górnym Śląsku, Katowice 2007, insb. S. 259–320.

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kischen Entwicklung verdeutlichte.158 Diese Umdeutungen, oft kontroverse, beweisen, dass der Gebrauch der nationalen Rhetorik nach 1956 nicht nur als neues „Legitimationsinstrument“ der poststalinistischen Version der kommunistischen Herrschaft fungierte, sondern immer wieder sein Janusgesicht zeigen konnte. Die „Rückkehr der Nation“ in die Geschichtsbilder war ein Teil der umfassenderen Transformation der kommunistischen Selbstbeschreibung, die immer vielfältiger, konkreter und geschichtsoffener wurde. Die Nation, je nach historischer Situation, lavierte im Poststalinismus stets zwischen Freund und Feind.

158 Das wohl bedeutendste Ergebnis dieser Neubewertung des Aufstandes waren die Memoiren von Gustáv Husák, Svedectvo o slovenskom národnom povstaní, Bratislava 1964.

IV. Die Feinde der Partei

„Die neueren Kriege werden daher menschlich geführt, und die Person ist nicht in Haß der Person gegenüber. Höchstens treten persönliche Feindseligkeiten bei Vorposten ein, aber in dem Heere als Heer ist die Feindschaft etwas Unbestimmtes, das gegen die Pflicht, die jeder an dem anderen achtet, zurücktritt.“ (G.W.F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, § 338) „Und die Feinde, Genossen, die schlafen nicht, es ist nicht so, Genossen, dass die Feinde schlafen, mir scheint, dass die Feinde heute das Radio hören, dass wir uns anbiedern wollen, und die da in der Tschechoslowakei – neue Gruppierungen, neuen Diversionen, neue Sabotagen, die schlafen nicht, weil der Kapitalismus nicht schlafen wird.“ (Gen. Wojciech Kowalik, Bergarbeiter in Rente, 24. September 1968)1

Auch wenn der Poststalinismus mit dem radikal manichäischen Weltbild der Stalin-Ära aufräumte, bekämpften die Kommunisten ihre „Feinde“ nach wie vor, bis zum bitteren Ende ihrer weltweiten Bewegung. Denn für eine so radikal ausgerichtete Ideologie, die die Zukunft in einen absoluten Gegensatz zur Vergangenheit stellte, reichten die „Anderen“ nicht: Es musste Feinde geben. Feindbilder sind wichtiger für die eigene Identität als bloße Alternativen.2 Ein Feindbild ist nicht nur ein Bild „des Anderen“. Derjenige, der nicht zu uns gehört, uns schadet oder gar gegen uns kämpft, ist nicht nur anders; er ist auch ein Feind. Eine Feindschaft ist nicht einfach vorhanden; sie muss fortdauernd erzählt und durch symbolische Handlungen erneuert werden. Deshalb sind Feindschaftserzählungen ein Bestandteil politischen Handelns, gleich, ob sie reale Folgen (Krieg, Verfolgung oder Hinrichtungen von Opponenten) haben oder nicht. Feindbilder komplettierten das Dreieck der identitätsbildenden politischen Subjekte: Neben dem Selbst (die Partei) und dem zwischen Verbündeten und Gegnern schwankenden Anderen (Nation) kommt der Feind als der radikal Andere. 1 2

AP Kat, KW PZPR, 313/ I/9, KP PZPR Częstochowa, Materiały z Konferencji Przedzjazdowej, 24.9.1968, Bl. 20. Rodney S. Barker, Making Enemies, Basingstoke 2007, S. 19; vgl. Silke Satjukow/Rainer Gries, Feindbilder des Sozialismus. Eine theoretische Einführung, in: Dies. (Hg.), Unsere Feinde. Konstruktionen des Anderen im Sozialismus, Leipzig 2004, S. 13–70; Ludger Kühnhardt, Wahrnehmung als Methode. Mentalität, Kultur und Politik „des Anderen“ vor neuen Herausforderungen, in: Birgit Aschmann/Michael Salewski (Hg.), Das Bild „des Anderen“. Politische Wahrnehmung im 19. und 20. Jahrhundert, Stuttgart 2000, S. 9–20; Wolfgang Benz, Feindbild und Vorurteil. Beiträge über Ausgrenzung und Verfolgung, München 1996.

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Die Feinde der Partei

Auf „Feindschaftserzählungen“ kam es in der modernen Ära umso mehr an, als sie die grundlegende Transformation der Gegenwart, ja einen fundamentalen Abschied von ihr zu rechtfertigen halfen, die die radikalen politischen Bewegungen anstrebten. Der kommunistische Umgestaltungseifer veränderte sich im Laufe des 20. Jahrhunderts beträchtlich und auch das Ende des Stalinismus war hierfür ein bedeutender Einschnitt. Der revolutionäre Geist, und damit auch kommunistische Feindbilder verschwanden aber nie. Die poststalinistische Feindschaftserzählung unterschied sich dabei von der stalinistischen. Stalins Feindbilder verkörperten die absolute Todesfeindschaft, an deren Ende die physische Vernichtung des Gegners stand, im Sinne des totalen Krieges sowohl gegen den äußeren (den Faschismus im Zweiten Weltkrieg und den Imperialismus im Kalten Krieg) als auch gegen den inneren Feind. Vom Letzteren entwarfen die Stalinisten Narrative der vollkommenen Entmenschlichung. „Verräter“ waren nicht nur „Feinde des Volkes“, sondern „feindliche Elemente“ – Spione, Provokateure, Diversanten, Weißgardisten, Kulaken. In einem der typischsten Ausdrücke der Stalinschen Feindschaftserzählung, der Rede Über die Mängel der Parteiarbeit und die Maßnahmen zur Liquidierung der Trotzkisten und sonstigen Doppel-Züngler (1937) sprach Stalin über „sowjetfeindliche Elemente“. Er griff die Trotzkisten an, die „keine politische Strömung in der Arbeiterklasse“ waren, sondern „eine prinzipien- und ideenlose Bande von Schädlingen, Diversanten, Kundschaftern, Spionen, Mördern, eine Bande geschworener Feinde der Arbeiterklasse, die im Solde der Spionageorgane ausländischer Staaten arbeiten“.3 Eine endgültige Vernichtung, Ausmerzung, Liquidierung, Zerschlagung müsse das eigentliche Ziel der Parteipolitik sein: Man muss erreichen, dass es überhaupt keine trotzkistischen Schädlinge in unseren Reihen gibt. […] Und wenn wir diese idiotische Krankheit überwunden haben, können wir mit voller Überzeugung sagen, daß uns keine Feinde schrecken, weder innere noch äußere, daß uns ihre Vorstöße nicht schrecken, denn wir werden sie in Zukunft ebenso zerschmettern, wie wir sie in der Gegenwart zerschmettern, wie wir sie in der Vergangenheit zerschmettert haben. (Beifall).4

In den stalinistischen Feindschaftsnarrativen fällt die stabile Erzählfunktion und Semantik der Feindsubjekte auf. Ihr Charakter ist eindeutig und erfordert keine weitere Bestimmung. Selbstverständlich konnte der Feind der Partei als ein „ideologischer Feind“ verschiedenartig porträtiert werden (hingegen konnte die natio-

3

4

J. W. Stalin, Über die Mängel der Parteiarbeit und die Maßnahmen zur Liquidierung der Trotzkisten und sonstigen Doppel-Züngler, in: Ders., Werke/14 Februar 1934–April 1945, Bd. 14, Dortmund 1976, S. 119–160, hier S. 127. Ebenda, S. 143.

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nalsozialistische Propaganda den rassisch definierten Feind nicht so einfach umwandeln, auch wenn zeitweise neben den Juden auch andere Hassobjekte – Slawen, Franzosen, Engländer usw. – auftraten).5 Aber obwohl sich im Stalinismus die Gruppe derer, die zu „Feinden“ werden konnten, immer wieder wandelte, blieb die narrative Funktion des Feindbildes als des zu vernichtenden Gespensts konstant. Im Poststalinismus hingegen wurde der Begriff des Feindes in seiner Erzählungsfunktion relativiert. Der Feind hörte auf, ein feststehendes, absolutes, dämonisiertes, physisch auszumerzendes „feindliches Element“ zu sein: Er musste stets neu ausgelegt und modifiziert werden. Dem war vor allem deshalb so, weil die poststalinistische Feindschaftserzählung sich mit dem zu bekämpfenden „falschen“ Feind- und Hassdiskurs des Stalinismus auseinandersetzen musste. In der Tat nahm die poststalinistische Kritik Stalins angeblichen Missbrauch des FeindArgumentes und seine Erschaffung immer neuer Feinde ins Visier. So lehnte Chruschtschow den Begriff des „Volksfeindes“ mit der Begründung ab, Stalin habe ihn vielfach für seine Zwecke ausgebeutet. Er widmete lange Passagen seiner Geheimrede der Entlarvung von Stalins Manipulationen des Feindbegriffes. Dabei wies er aber den Feindbegriff nicht völlig zurück: Eher wollte er durch die StalinKritik diese ideologische Kampfkategorie rehabilitieren und von den früheren Deformationen befreien. Deshalb berief er sich erneut auf Lenin und dessen differenziertere Auffassung des Feindes: Und kann man sagen, dass Lenin sich nicht entschieden hätte, gegenüber Feinden der Revolution die strengsten Schritte zu unternehmen, wenn es tatsächlich erforderlich war? Nein, das kann niemand behaupten. Wladimir Iljitsch verlangte die rücksichtslose Abrechnung mit Feinden der Revolution und der Arbeiterklasse, und wenn es erforderlich war, wandte er solche Mittel auch schonungslos an. Erinnern Sie sich beispielsweise an den Kampf W. I. Lenins gegen die sozialrevolutionären Organisatoren der antisowjetischen Erhebungen, gegen das konterrevolutionäre Kulakentum im Jahre 1918 und anderes, als Lenin ohne Schwankungen die entschiedensten Mittel gegenüber den Feinden anwandte. Doch Lenin griff zu solchen Mitteln gegenüber wirklichen Klassenfeinden, nicht aber jenen gegenüber, die sich irren, fehlgehen, die man durch ideologische Beeinflussung wieder in die Partei einreihen und sogar in der Führung behalten kann.6

Solche Bezüge auf Lenin sollten den Unterschied zwischen „wahren“ und konstruierten Feinden verdeutlichen. Chruschtschow setzte die Kategorie des Feindes meistens in Anführungszeichen, genauso wie Stalins beliebte Äquivalente „Doppelzüngler“ oder „Spione“. Um die „wirklichen Feinde“ zu brandmarken, nutzte 5 6

Barker, Making Enemies, S. 39 und 161. Die Geheimrede Chruschtschows. Über den Personenkult und seine Folgen, Berlin 1990, S. 20f.

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Chruschtschow den Ausdruck „Feind des Sozialismus“, den Stalin offensichtlich selten benutzte. „Feind“ ohne Attribute blieb bei Chruschtschow für den äußeren Erzfeind vorbehalten – das faschistische Deutschland, das heißt für den absoluten Todesfeind, den hostis, mit dem kein Ausgleich möglich war und den es zu vernichten galt. Von den inneren Feinden blieb eigentlich nur Berija der „wirkliche Feind“: „Den unerhörten Argwohn Stalins nutzte geschickt der elende Provokateur, der schäbige Feind Berija aus“; Berija war der „Erzfeind unserer Partei, der Agent eines fremden Geheimdienstes“.7 So konnte Chruschtschow gegen „tatsächliche Feinde“ eine ebenso harte stalinistische Rhetorik wie Stalin selbst verwenden. Nach 1956 verschwand der „imperialistische Feind“ zwar nicht aus der kommunistischen Rhetorik. Aber seine Position im Feind-Spektrum änderte sich. In der von Rodney Barker herausgearbeiteten Typologie der politischen Feindschaft, die vom geregelten Wettbewerb über moralisierenden Antagonismus und bedrohungszentrierte Feindschaft bis zur auf Vernichtung zielenden Dämonisierung reicht (competition – antagonism – enmity – demonisation), würde der stalinistische „Feind des Volkes“ der letzten Kategorie entsprechen: dem foe (hostis), der vernichtet werden muss, weil er die Existenz der Gemeinschaft bedroht.8 Chruschtschow hingegen setzte auf die Koexistenz mit dem Kapitalismus, also auf Wettbewerb. Die Poststalinisten sprachen weniger vom Antagonismus und selten von Erzfeindschaft (enmity). Ein offen ausgetragener, feindlicher Konflikt wurde durch den Begriff der „friedlichen Koexistenz“ geschwächt. Kriegerische Gewalt nach außen sollten die kommunistischen Staaten nicht mehr anwenden.9 Ähnlich deutete auch Gomułka den Feind um. Wie Chruschtschow lehnte er das Fabrizieren von „Feinden“ ab, ging allerdings noch weiter, indem er die bloße Möglichkeit in Frage stellte, dass individuelle Feinde, zum Beispiel Agenten oder Spione, den Gang des Sozialismus je überhaupt hätten beeinflussen können. Gomułka machte es an den Ereignissen von Poznań vom Juni 1956 deutlich: Es habe keine Feinde hinter den Arbeiterprotesten gegeben, auch deshalb, weil sie keine Chance gehabt hätten, die Arbeiterklasse zu beeinflussen: Die Arbeiterklasse ist unsere Klasse, unsere unverbrüchliche Kraft. Die Arbeiterklasse – sind wir. Ohne sie, das heißt ohne das Vertrauen der Arbeiterklasse, könnte niemand von 7 8 9

Ebenda, S. 58 und 64. Barker, Making Enemies, S. 35–38. Zum Begriff der „friedlichen Koexistenz“ Maud Bracke, Which Socialism, Whose Détente? West-European Communism and the Czechoslovak Crisis 1968, Budapest 2007, S. 52f.; Bertram D. Wolfe, Khrushchev and Stalin’s Ghost, New York 1957, S. 47–53. Wolfe weist darauf hin, dass Stalin selbst in seinen letzten Jahren die Begriffe wie „Lager des Friedens“ und „Kampf für Frieden“ prägte, ebenda, S. 51.

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uns faktisch mehr repräsentieren als seine eigene Person. Es war eine große politische Naivität, dass man so ungeschickt versucht hat, die schmerzliche Tragödie von Poznań als das Werk imperialistischer Agenten und Provokateure darzustellen.10

Wenn Gomułka über „Feinde“ oder „Verräter“ sprach, setzte er sie wie Chruschtschow meistens in Anführungszeichen als Beispiele stalinistischer FeindKonstruktionen. Diese Wende verunsicherte zunächst die poststalinistische Propaganda. Hinzu kam, dass neue Feinde auftauchten, die nun jedoch aus der „vergangenen Periode“, dem Stalinismus, hervorgingen: offiziell vor allem der „Dogmatismus“ und der „Personenkult“; inoffiziell – der „Stalinismus“. Zu beachten ist, dass sich die stalinistischen Feindschaftsnarrative in erster Linie gegen konkrete Gegner wandten, die die feindlichen Doktrinen, Systeme und Prinzipien personalisierten, während der Feind im Poststalinismus, besonders während der „liberaleren“ sechziger Jahre, abstrahiert und politischen Systemen und „feindlichen Ideologien“ gleichgesetzt wurde.11 In dieser Auffassung war es eher der „amerikanische Imperialismus“, der den äußeren Hauptfeind darstellte, als Eisenhower und Kennedy. Und auch der innere Feind war eher der „Revisionismus“ als konkrete „Volksfeinde“ wie bisher Tito, Slánský oder Rajk; eher der „Dogmatismus“ und „Personenkult“ als Stalin, eher die berijowszczyzna als Berija. Die abstrahierende Feindimagination drängte im Poststalinismus die personifizierten Feindbilder beiseite. Sie dämonisierte den Feind seltener als Bestie oder Monster und bildete ihn stattdessen abstrakt als ein gegnerisches „System“ ab.12 Eine Ausnahme stellten die Feindbilder von Westdeutschland dar, wo vorwiegend individuelle Personen als Feinde und Systeme sowie Ideologien in personalisierter Form auftraten: Die „Adenauer-Clique“, „Adenauer und Konsorten“ oder die „Adenauer-Politik“. Infolge der Annäherung zwischen den beiden deutschen Staaten der späten sechziger Jahre wurde Adenauer rückblickend weniger als Person verunglimpft; die DDR-Propaganda sprach häufiger von Adenauer-Westdeutschland und Adenauer-Ära.13

10 11 12

13

Władysław Gomułka, Rede auf dem VIII. Plenum des ZK der PVAP 20. Oktober 1956, Warschau 1956, S. 15. Barker, Making Enemies, S. 5. Satjukow/Gries, Feindbilder, S. 38ff. Barker bemerkt, dass die Entpersonalisierung des Feindes mit Ideologisierung einhergeht. Durch den Bezug auf eine Ideologie definierte Feinde sind „flexibler“ als z. B. rassisch oder biologisch definierte Feinde, Barker, Making Enemies, S. 161. Vgl. Monika Gibas, „Bonner Ultras“, „Kriegstreiber“ und „Schlotbarone“. Die Bundesrepublik als Feindbild der DDR in den fünfziger Jahren, in: Satjukow/Gries, Unsere Feinde, S. 75–106.

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Die Zusammensetzung der Feinde änderte sich bedeutend, nachdem Jugoslawien von der schwarzen Liste entfernt worden war. Zwar übte die OstblockPropaganda auch dann am „jugoslawischen Weg zum Sozialismus“ immer wieder Kritik aus; sie war aber nicht mehr ein Teil der Feindschaftserzählung, sondern fand im Rahmen des „sozialistischen Wettbewerbs“, der Konkurrenz innerhalb einer und derselben Ideologie, statt. Diese Änderung schloss nicht aus, dass auch nach 1956 im lokalen Raum vereinzelt antijugoslawische Feindbilder von Jugoslawien erschienen, hauptsächlich im Zusammenhang mit dem Revisionismus und dem ungarischen Aufstand. Begegnungen zwischen tschechoslowakischen und jugoslawischen Kommunisten zum Beispiel wurden auch nach 1956 durch Missverständnisse getrübt. Eine tschechische Genossin aus Ostrava, die während der ungarischen Revolution an einer Parteidelegation in Jugoslawien teilnahm, gab sich erstaunt über die „antisowjetischen Ansichten“ der jugoslawischen Genossen und beklagte die „vergeblichen Bemühungen“, sie aufzuklären. Trotzdem überwog im Verhältnis zu Jugoslawien ein poststalinistisch fragender Ansatz die direkte Verurteilung: Man sollte Erkenntnisse über „verschiedene Meinungen“ sammeln, um sich ein richtiges Bild von Jugoslawien zu machen. Die Annäherung werde ein „komplizierter Prozess“ sein, die Rückkehr zum „Kalten Krieg“ sei aber nicht möglich.14 Die poststalinistische Feindschaftserzählung zeichnete sich demnach durch die Umwertung von bereits bestehenden Feinden aus, zu denen die Imperialisten, die Westdeutschen, die „Zionisten“ und die Kirche zählten. Zugleich gab es Neuerungen: Die Revisionisten, die Dogmatiker (Sektierer, Stalinisten), der Personenkult, und neuerdings auch die, oft explizit ausgedrückten, gegenseitigen Aversionen ostmitteleuropäischer Völker (zwischen Polen und Tschechen, Tschechen und Slowaken, Slowaken und Ungarn oder Ungarn und Rumänen). Die nationalen Animositäten wuchsen sich zwar selten von der Konkurrenz zum Antagonismus oder gar zu einer Erzfeindschaft aus, waren aber dahingehend prägend, als dass sie den politischen Feind zusätzlich ethnisierten. Anstatt der stalinistischen SchwarzWeiß-Bilder haben wir es im Poststalinismus mit einem vielfältigen Geflecht von Feindschaftserzählungen zu tun, in welchem mehrere konkurrierende Feindbilder und Aspekte von Feindschaft aufeinanderprallten, wie „Zionismus“, „jüdischer Nationalismus“, „Revisionismus“ oder die Aversion gegen die Intellektuellen.

14

ZA Op, KV KSČ Ostrava, Plenarsitzung 14.–15.12.1956, Bl. 50–56. Vermehrt kam die Verbindung von Jugoslawien und Revisionismus im Jahr 1968 vor dem Hintergrund des Prager Frühlings vor. Siehe z. B. die Diskussion in Częstochowa nach dem Einmarsch in die Tschechoslowakei: AP Kat, KW PZPR, 313/I/9, KP PZPR Częstochowa, Materiały z Konferencji Przedzjazdowej, 24.9.1968, Bl. 5ff.

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Der Feind schläft nie In der poststalinistischen Ära folgten auf Perioden der Liberalisierung „ideologische Offensiven“, die die Kommunisten an ihre zu bekämpfenden Gegner erinnern sollten. Aber im Unterschied zum Stalinismus mangelte es den poststalinistischen Feindschaftserzählungen an Linearität. Die Trajektorien der neuen Feindesgeschichten waren verwickelt, weil sich die politische Lage im Ostblock wie auch im Ost-West-Konflikt ständig und oft sprungartig änderte: Die Annäherung mit Jugoslawien, der XX. Parteitag der KPdSU, der Ungarn-Aufstand und die anschließenden konservativen Offensiven. Auch die sechziger Jahre lassen sich als eine Kette von außen- wie innenpolitischen Wendepunkten nachzeichnen, wie die Berliner Krise 1961, die Kuba-Krise 1962 und das Krisenjahr 1968 mit den Ereignissen in Polen und der Tschechoslowakei. Entsprechend dieser politischen Instabilität verschärfte und entschärfte sich abwechselnd die Feindrhetorik. Der Begriff „Feind“ blieb im kommunistischen Vokabular vorhanden. Nach wie vor bekämpfte man „feindliche Ideologien“: Die SED setzte sich mit der „feindlichen Schumacher-Gruppe“ (1958), der „feindlichen Plattform Schirdewans“ (1958) sowie mit der „feindlichen Theorie des Volkskapitalismus“ (1960) auseinander, mit „falschen und feindlichen Auffassungen“ (1961), „feindlichen Argumenten und provokatorischen Reden“ (1963).15 In Polen benutzen die Parteimitglieder 1956 den Begriff des Feindes sowohl für die „Feinde des Sozialismus“ als auch für die Anhänger des Personenkultes. Manchmal übernahm eine Feindgestalt beide Feindrollen, zum Beispiel galt Berija als die treibende Kraft des Personenkultes und gleichzeitig als Agent des westlichen Imperialismus; eine ähnliche Rolle spielte Slánský in der Tschechoslowakei nach 1956. Die Poststalinisten erwähnten hauptsächlich abstrakte Gegner wie die „feindlichen Gerüchte, die sich auf den Personenkult bezogen“16 oder „Diversionstätigkeit der uns gegenüber feindlich eingestellten Zentren“.17 Die überwiegend abstrakte Feindrhetorik blieb daher auch in krisenhaften Konfliktsituationen präsent wie im Polen des Jahres 1968, als man einen ideologischen Kampf gegen „feindliche“, „antikommunistische“ sowie

15

16 17

Vgl. SAPMO, DY 30/IV 2/9.07/120, 10.6.1958, Bl. 209; SAPMO, DY 30/IV 2/9.02/90, 11.10.1960, Bl. 132; LHASA, MER, SED-Bezirksleitung, Halle IV/2/9.01/1363, 25.8.1961, Bl. 31; SAPMO, DY 30/IV 2/9.02/45, 10.5.1958, Bl. 302. AP Kat, KW PZPR, 310/IV/23, KP PZPR Cieszyn, Protokoły z posiedzeń Egzekutywy, 18.5.1956, Bl. 89. AAN, KC PZPR, 237/VII-5720, KW PZPR Wrocław, Plenarsitzung 11.–12.6.1968, Bl. 204.

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„revisionistische Konzeptionen“ führte und „klassenfeindliche Elemente“ bekämpfte.18 Beachtenswert sind Unterschiede in der Semantik und Gebrauchsweise zwischen den einzelnen Sprachen. Am großzügigsten verwendeten die SED-Genossen den Feindbegriff, besonders in den späten fünfziger Jahren. „Feind“, „Feindschafts-“, „feindlich“ und ähnliche Ausdrücke kursierten in der Parteisprache in zahlreichen Varianten. Das Spektrum der SED-Feinde umfasste „unsere Feinde“, „Todfeinde“,19 „Hauptfeinde“ wie auch „Feinde der Menschheit“20. Die Wortwurzel feind- blieb oft in Adjektiven verborgen, die hauptsächlich Abstrakta erfassten („fortschrittsfeindlich“ oder „einheitsfeindlich“).21 Im polnischen Kontext wurde das Äquivalent wróg (Feind) und wrogi (feindlich) seltener benutzt als „Feind“ im Deutschen. Im PZPR-Diskurs wurde wróg häufiger verwendet als die Alternative nieprzyjaciel, die etwas weicher ist und nicht so stark auf den Todeskampf hindeutet.22 Der tschechische Ausdruck nepřítel (Feind), das ein Negativum von přítel (Freund) ist und nicht die Konnotationen des polnischen wróg besitzt, kam im poststalinistischen KSČ-Diskurs interessanterweise seltener vor als der Feind im deutschen und der wróg im polnischen Kontext. Öfter wurde er als Adjektiv verwendet (nepřátelské síly, feindliche Kräfte usw.). Dagegen erscheint das Substantiv nepřítel nur vereinzelt. Zum Beispiel benutzt das reformistische Aktionsprogramm der KSČ vom April 1968 den Begriff nur ein einziges Mal, als von den „notwendigen Aufgaben der Staatssicherheit“ als Schutz des Staates gegen 18 19 20 21

22

AP Kat, KW PZPR, 317/I/14, KP PZPR Gliwice, Materiały z Konferencji KP PZPR, 24.9.1968, Bl. 12; „sowjetfeindliche Elemente“ war Stalins Lieblingsausdruck. SAPMO, DY 30/IV 2/9.07/221, Arbeitsplan der SED-Geschichtskommission Magdeburg 1959, Bl. 134. LHASA, MER, SED-Kreisleitung Leuna, IV/412/36, Plenarsitzung 11.9.1956, Bl. 107. Auch in den sechziger Jahren war noch Feindrhetorik im Parteialltag üblich, wie z. B. „volksfeindliche Kräfte“, SAPMO, DY 30/IV 2/9.07/ 221, SED-Geschichtskommission Magdeburg, Bericht vom März 1960, Bl. 185. Der polnische Ausdruck wróg hat eine härtere Konnotation als der deutsche „Feind“, das vom althochdeutschen fiant, vint (Hass) stammt. Wróg dagegen geht auf wrazednik (Mörder) zurück und bezog sich auf die Vendetta, die durch die Familie des Ermordeten begangene Blutrache. Vgl. Artikel „Wróg“, in: Wiesław Boryś, Słownik etymologiczny języka polskiego, Kraków 2005, S. 710f. In den sechziger Jahren wurde auch in historischen Darstellungen eher vorsichtig mit dem Begriff des Feindes umgegangen. In seinen Kriegserinnerungen sprach Mieczysław Moczar über die DDR als „unsere Freunde und Brüder“. Westdeutschland bezeichnete er nicht direkt als „Feinde“, sondern, Gomułka zitierend, als „die anderen Kräfte, das ist der mit Hilfe der NATO-Mächte zum Zwecke eines antikommunistischen Kreuzzugs wiedererstandene westdeutsche Militarismus“. Mieczysław Moczar, In Polens Wäldern, Berlin 1966, S. 8. In den Beschreibungen der bewaffneten Kämpfe benutzt Moczar freilich den Begriff des Feindes.

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die „Tätigkeit von feindlichen, ausländischen Zentren“ die Rede ist; der Gebrauch ist dabei defensiv, denn die Staatssicherheit war oft Gegenstand der Kritik durch die Reformisten.23 Dagegen erinnert die „Lehre aus der Krisenentwicklung“ (Poučení z krizového vývoje, 1970), mit welcher die tschechoslowakischen „Konsolidatoren“ um Gustáv Husák mit dem Prager Frühling abrechneten, nicht überraschend an eine ausgeprägte Feindschaftserzählung: Der Feindbegriff taucht im Text acht Mal auf, vor allem in Wortverbindungen wie „Feinde unserer Ordnung“, „feindliche und reaktionäre Kräfte“ oder „feindliche Tätigkeiten gegen die Partei“. Vor 1968 griffen aber die KSČ-Mitglieder seltener zum Begriff des Feindes als ihre Genossen in den Bruderparteien, und diese milde Semantik überrascht vor allem angesichts der außerordentlichen Schärfe und Aggressivität des tschechoslowakischen Stalinismus. Die Entstalinisierung ließ also die „Feinde des Sozialismus“ nicht verschwinden, sondern gestaltete sie um und änderte die Art ihrer „Bekämpfung“. Die Entdämonisierung des (vor allem inneren) Feindes eröffnete die Möglichkeit, dass diejenigen, die früher als Feinde „liquidiert“ werden sollten, nunmehr oft als „Verwirrte“ galten, die „unter Unklarheiten litten“ und „überzeugt“ werden können. Die Unklarheiten sollten die Kommunisten unterdessen als „unsere Fehler“ betrachten. Der neue „erzieherische“ Ansatz bezog sich paradigmatisch auf die Jugend, die als „Opfer von Manipulationen“ galt: „Wenn Jugend nichts taugt, ideologisch unklar oder feindlich gegenüber der sozialistischen Entwicklung ist, dann ist es unser Erziehungsfehler,“24 hieß es in der Bezirksleitung Halle im Juli 1956. Statt offener Anprangerung und Verfolgung der „Parteifeinde“ wie auch der ritualisierten „Selbstkritik“ fanden in den Parteiversammlungen oft Meinungsstreite und „Überzeugungsversuche“ statt. Der Kampf an der „ideologischen Front“ war kein Todeskampf gegen einen dämonischen Feind mehr, sondern nahm vielmehr die Gestalt von „Überzeugungsarbeit“ mit „verirrten“ Mitkämpfern an, die die Partei zurück auf den richtigen Klassenstandpunkt zu bringen hatte. Im Januar 1957 setzte sich mit der Revisionismusgefahr in der marxistischen Philosophie der Erste Sekretär der SED-Kreisleitung Leuna-Werke auseinander und begründete diese Strategie der „Überzeugung“ mit Nachdruck:

23

24

Akční program Komunistické strany Československa přijatý na plenárním zasedání ÚV KSČ dne 5. dubna 1968, Praha 1968, S. 15 (deutsche Fassung: Aktionsprogramm der Kommunistischen Partei der Tschechoslowakei, angenommen auf dem Plenum des Zentralkomitees der KPTsch am 5. April 1968 (Übersetzungs- und Informationsdienst Sudetendeutsches Archiv), München 1968, S. 49f. LHASA, MER, SED-Bezirksleitung Halle, IV/2/1/17, Plenarsitzung 11.7.1956, Bl. 105.

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Genossen, worauf kommt es bei uns also an? Wir müssen während der Periode der Parteiwahlen den Kampf an der ideologischen Front verstärken. Die Träger dieser Auffassungen sind zum überwiegenden Teil keine Feinde, sondern Genossen, die in diesen Fragen den Klassenstandpunkt verließen und es manchmal gar nicht merken. Wir müssen in die Köpfe dieser Genossen wieder die richtigen Gedanken einpflanzen, wir müssen sie auf den Klassenstandpunkt zurückführen. Wenn wir diese Aufgabe lösen, werden wir einen gewaltigen Schritt bei der Stärkung der Einheit und Geschlossenheit unserer Partei tun.25

Die poststalinistische Ideologiesprache historisierte die Entstehung der „feindlichen Auffassungen“ und schwächte damit den essentialistischen Charakter des Feindes. Dazu gehörten zum Beispiel Diskussionen über die sozialgeschichtlichen Hintergründe der ideologischen Entwicklung der Partei und der „feindlichen Auffassungen“. In der Diskussion im KSČ-Ausschuss Liberec vom August 1956 räsonierte ein Diskussionsredner über den tschechischen „Sonderweg“ der Geschichte der Nationalintelligenz. In seiner historischen Darstellung entschärfte sich die Konfrontationshaltung gegenüber dem Bürgertum, das ein „menschliches Antlitz“ annahm: Ein bedeutender Teil der Intelligenz geriet nach dem XX. Parteitag ins Wanken. Wir müssen uns darüber im Klaren sein, dass die große Mehrheit unserer Intelligenz aus kleinbürgerlichen Verhältnissen stammt. Das muss uns klar sein. Die Herkunft unserer Intelligenz ist eine andere als in anderen Ländern – das ehemalige Österreich inbegriffen – und das deswegen, weil unsere nationale Bourgeoisie am Ende des letzten Jahrhunderts entstanden ist. Ihre Blüte hatte sie in der Ersten Republik. Eine goldene Jugend, die einen bedeutsamen Teil der Intelligenz ausmachen würde, gibt es bei uns nicht. Den wesentlichen Teil unserer Intelligenz bilden die Söhne und Töchter der Beamtenfamilien. Es muss uns bewusst sein, dass wir die Intelligenz brauchen. Hier gilt das Wort des Genossen Novotný, als er sagte, wie wir mit Leuten umgehen sollen, die vom Weg abgekommen sind. Wir müssen herausfinden, ob sie feindliche Absichten haben. Wenn sie jedoch verunsichert sind, ist es unsere Pflicht sie anzuleiten, sie auf den richtigen Weg zu bringen. Es ist wichtig, sich um sie zu kümmern und sie zu überzeugen.26

Auch die PZPR-Mitglieder bevorzugten „Erziehung“ vor der antagonistischen Konfrontation mit dem Feind: „Wir können doch nicht nur den Feind,“ hieß es im Parteiaktiv in Katowice im August 1956, „den Imperialisten beziehungsweise seine Handlanger bekämpfen, wir sollten die Schuld auch in uns selbst suchen, in unserer bisherigen Bildungsarbeit, die – das ist zu gestehen – nicht genügend war.“27 An den agonalen Kampf gegen den Feind glaubte man immer weniger. 25 26 27

LHASA, MER, SED-Kreisleitung Leuna, IV/412/37, Plenarsitzung 17.1.1957, Bl. 9. SOA Lit, KV KSČ Liberec, k. 10, Plenarsitzung 4.8.1956, Bl. 4. AAN, KC PZPR, 237/VII-3011, KW PZPR Katowice, Narady aktywu wojewódzkiego, 7.8.1956, Bl. 159.

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Vielmehr setzte sich ein neuer Modus der „Koexistenz“ und damit auch eine gemäßigte Feindschaftserzählung durch. Eine allzu scharfe antiwestliche Propaganda wurde als kontraproduktiv betrachtet. Auf der Propagandistentagung in Prag im November 1959 kritisierte ein Teilnehmer die antiamerikanische Propaganda, die an die Hochphase des Kalten Krieges erinnerte: Vor dem Besuch des Genossen Chruschtschow in den USA war es entsetzlich, sich die Nachrichten anzusehen. Man muss den Leuten die Wahrheit sagen. Die Auslandsberichterstattung befasst sich mit Atomwaffen, atomaren Stützpunkten, dem Kampf gegen den Revanchismus, die Zeitungen drucken marschierende Einheiten der SA ohne Kommentar. Die Gefahr des Revanchismus ist vorhanden, aber wir haben nicht das Jahr 1948. Als würde im Fall eines Konfliktes auch Bonn brennen. So ein Bedrohungsszenario ist nicht nötig – falls etwas passiert, dann ist es das Ende. Wir würden sicher mit den Feinden umzugehen wissen. Wir müssen die Gefahr zeigen, aber in den Leuten Selbstbewusstsein wecken. Nach Chruschtschows Besuch in den USA hat sich das etwas geändert, und dennoch tauchen noch immer solche Aufnahmen in den Nachrichten auf.28

Solche Kritik verwies auf die neu entdeckte Bedeutung der „Wahrheit“ und Authentizität, die ich im ersten Kapitel behandelt habe. Die Parteimitglieder konnten erkennen, wann die propagandistischen Feindschaftserzählungen keine Fundierung in der Wirklichkeit hatten. In diesen Situationen wurden die Grenzen der von oben auferlegten Feindschaftserzählungen sichtbar, die damit ihre identitätsstiftende Wirkung verloren. Hier stellt sich nicht so sehr die Frage der sincerity of enmity narratives, d. h. ob die Konstrukteure der Feindbilder tatsächlich glaubten, was sie verbreiteten.29 Wichtiger ist, dass die rezente Erfahrung der stalinistischen Feindschaftspropaganda, die nach 1956 als „Dogmatismus“ und „Personenkult“ entlarvt wurde, das Misstrauen gegenüber dem autoritativen Ideologiediskurs vertiefte und die Heteroglossia in der Parteibasis verstärkte. Genuine Feindschafts- und Hassnarrative „von unten“ sind jedoch nicht gänzlich verschwunden. Sie traten vor allem während des Arbeiteraufstandes in Poznań im Juni 1956 und der ungarischen Revolution auf. Die Autoren solcher Feindschaftsäußerungen verlangten oft physische Gewalt, Unterdrückung und Eliminierung des Gegners. Alle Ebenen der SED waren in den späten fünfziger Jahren vom „Hass“ der Feindschaftsrhetorik durchdrungen; die Ungarn-Erfahrung vertiefte diese Reaktion. Im November 1956 griff der SED-Kreissekretär in Leuna auf eine Rhetorik im alten KPD-Stil zurück, indem er sagte:

28 29

NA, AÚV KSČ, 05/3, k. 7, a.j. 31, Porada vedoucích krajských oddělení propagandy a agitace, 19.11.1959, Bl. 56. Barker, Making Enemies, S. 7.

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Die jüngsten Vorkommnisse liefern uns so viel Tatsachenmaterial, um die Feinde der Menschheit für alle Augen zu entlarven. Wir müssen lernen, unsere Feinde unbändig zu hassen, wir müssen unseren Arbeitern sagen, dass diejenigen, die den Mord an Liebknecht, Luxemburg, Thälmann und Breitscheid verübten, auch diejenigen sind, die in Ungarn gewütet und gemordet haben. Wenn ich lerne, diese Banditen zu hassen, dann liebe ich auch die Sache der Arbeiterklasse und den sozialistischen Völkerfrühling. Das Gefühl des Hasses muss man erwecken, dann werden unsere Menschen bereit sein, uns zu unterstützen und mitzuarbeiten für die Stärkung unserer Arbeiter- und Bauernmacht.30

Das zeigt, dass die radikale stalinistische Feindschaftsrhetorik immer wieder mobilisiert werden konnte. Noch drei Jahre später stellten die IML-Mitarbeiter aus Magdeburg fest, dass „gleichzeitig […] unsere Menschen mit einem unbändigen Hass gegen die Todfeinde des deutschen Volkes, die Imperialisten und Militaristen, erfüllt werden [müssen]“.31 Besonders an den Diskussionen über den Ungarn-Aufstand sieht man, dass Feindschaftserzählungen keine „reinen Diskurse“ waren, sondern einen Bestandteil realer politischer Handlung bildeten.32 Zwar bewirkten sie keine physische Eliminierung einer Gruppe oder Verfolgung politischer Gegner. Wohl aber festigten sie kollektive Identitäten, in deren Namen Akte physischer Gewalt unternommen werden konnten. Die oft vorkommenden Darstellungen der „Gräueltaten“, die die ungarischen Aufständischen angeblich begingen, waren mehr als Propaganda-Manipulationen: Sie wurden auch an der Basis wirksam rezipiert und aktiv gepflegt. Beispielsweise veranstalteten die SED-Organisationen „Solidaritätsaktionen für ungarische Genossen“ mit Geldsammlungen und Sonderschichten, die, wie die betreffenden Diskussionen zeigen, die Parteimitglieder offensichtlich ernst nahmen. Die Aufforderungen zur Hilfe und Solidarität gegenüber den angeblichen Opfern der „Konterrevolution“ trugen jedoch gleichzeitig zur Aufweichung der Konfrontationsrhetorik bei. Die Frage, wie „unseren Klassenbrüdern in Ungarn geholfen werden könnte“, rief Auseinandersetzungen in den Betrieben hervor. Zum Beispiel in den Leuna-Werken blieb unklar, wer eigentlich zu den Ungarn-Sammlungen beitragen sollte. Als die Parteileitung die Frauen ausschloss, weil sie zu wenig verdienen, wurde protestiert. „Unsere Frauen sagten uns aber,“ argumentierte eine Parteigenossin, „als sie von der Sammelaktion erfuhren, wir dürfen wohl nichts geben für Ungarn? Wir sehen daraus, dass alle Anteil an dem Geschehen genommen haben und auch unsere Frauen haben gespendet.“33 30 31 32 33

LHASA, MER, SED-Kreisleitung Leuna, IV/412/36, Plenarsitzung 8.11.1956, Bl 107. SAPMO, DY 30/IV 2/9.07/221, Arbeitsplan der SED-Geschichtskommission Magdeburg 1959, Bl. 134. Barker, Making Enemies, S. 9. LHASA, MER, SED-Kreisleitung Leuna, IV/412/36, Plenarsitzung 8.11.1956, Bl. 88.

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Zwar erklärten sich manche Betriebsangestellte sogar bereit, ungarische Kinder aufzunehmen; andere wollten Sonderschichten für Ungarn leisten und organisierte Erlöse. Auch die Feindschaftserzählungen über die „Gräueltaten in Ungarn“ erzielten Erfolg.34 Dennoch waren die Ungarn-Auseinandersetzungen durch den poststalinistischen Diskurs der Uneindeutigkeit geprägt, denn zugleich stellten viele örtliche Parteimitglieder den Sinn der „Solidaritätsaktionen“ in Frage oder bezweifelten die Ungarn-Konfrontation an sich. Das ergibt sich aus den vielen Berichten der Funktionäre darüber, wie gründlich und ausführlich die Parteimitglieder über die Ungarnfrage „noch“ aufgeklärt werden mussten. Ein anderes Beispiel aus der Diskussion in den Leunawerken veranschaulicht das: So erlebte ich z. B. in der Mineralwollherstellung, dass sich selbst ein Genosse noch nicht über die Ungarnfrage im Klaren war. Er erklärte mir, dass er glaube, die augenblicklich durchgeführte Solidaritätsaktion sei für die Arbeiter, die unsere Arbeiter und Funktionäre erschossen, erhängt haben. Gemeinsam mit einem Brigadier, der ebenfalls Genosse ist, haben wir versucht, den Genossen zu überzeugen, wir haben ihm unsere Hilfe in unserer Freizeit angeboten, um uns mit ihm weiter über diese Frage zu unterhalten.[...] In einem weiteren Fall konnte ich am Sonntag einen jungen Sportler (Fußballer) über die Ungarnfrage aufklären.35

Missverständnisse in der Ungarnfrage bezogen sich hauptsächlich auf die Teilnahme der Arbeiter. Viele Diskutierende fragten, wie sich, zuerst in Poznań, dann in Budapest, innerhalb der Arbeiterklasse die Grundlage für Konterrevolution entwickeln konnte: Konterrevolutionäre sind diejenigen gesellschaftlichen Klassenkräfte, die das Rad der Geschichte zurückdrehen wollen. Sind die Arbeiter nun konterrevolutionär gewesen oder nicht, die in Ungarn mit auf die Straße gegangen sind? Eingeschleuste Banditen und Saboteure sind Konterrevolutionäre. Inwieweit kann man nun diejenigen Arbeiter, die sich zeitweilig haben täuschen lassen, als Konterrevolutionäre bezeichnen? Wenn die betreffenden Arbeiter so weit gegangen sind, dass sie die Waffen gegen die Arbeiter- und Bauermacht erhoben haben, werden sie auch als Konterrevolutionäre angesehen und bestraft.36

34

35 36

„Die Bilder-Auszüge über die Gräueltaten in Ungarn sollte man in Plakaten zum Ausdruck bringen“, forderte ein Diskussionsredner in Leuna, Ebenda, Bl. 93; vgl. Muriel Blaive, Promarněná příležitost. Československo a rok 1956, Praha 2001, S. 291–299; Jiří Pernes, Krize komunistického režimu v Československu v 50. letech 20. století, Brno 2008, S. 159–171; Kevin McDermott/Vítězslav Sommer, The ‘Club of Politically Engaged Conformists’? The Communist Party of Czechoslovakia, Popular Opinion and the Crisis of Communism, 1956 (Cold War International History Project, Working Papers), Washington D.C. 2013. LHASA, MER, SED-Kreisleitung Leuna, IV/412/36, Plenarsitzung 8.11.1956, Bl. 92. Ebenda, Bl. 105.

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Wie unmittelbar nach dem XX. Parteitag beklagten die Kommunisten auch im Hinblick auf die Ungarnfrage die „mangelnde Orientierung“ durch das Zentralkomitee und die Parteipresse: Am Sonntag lasen wir, dass die Konterrevolution von sowjetischen Truppen niedergeschlagen worden ist. Im Neuen Deutschland schreibt man von Liquidatoren Catar [sic], Nagy usw. Also selbst in der Presse ist keine richtige Orientierung. In einer Besprechung mit den Kaderinstrukteuren haben wir uns über diese Fragen unterhalten. Und es gab auch falsche Anschauungen, so dass wir uns lange unterhalten mussten, um ein richtiges Bild zu bekommen. Noch viel schlimmer ist dies jedoch in der großen Masse. Man sollte über die Frage des XX. Parteitages und seine Beschlüsse ernsthaft in unserer Partei diskutieren und die Schlussfolgerungen daraus ziehen. Wie konnten nun in Ungarn diese ernsthaften Fehler entstehen, dass selbst im ZK eine große Uneinigkeit herrscht. Sie kamen zu uns und sagten, das wäre Stalin nicht passiert. Er hätte die sowjetischen Truppen nicht zurückgezogen.37

So stellten die Ungarnfrage sowie die halbherzige und wenig überzeugende Bekämpfung der „Konterrevolution“ eine Weichenstellung des Poststalinismus dar. In Polen bestätigten die überwiegend neutralen oder sogar sympathisierenden Bezeichnungen für die Ungarn-Ereignisse – Aufstand, Revolte, Revolution, Tragödie38 – die Notwendigkeit des weiteren Kampfes gegen den Personenkult und des „polnischen Weges“. Die Ungarn-Ereignisse wurden weniger als ein Ergebnis der „Konterrevolution“ und vielmehr als eine Frucht des Stalinismus verstanden: „Ich finde,“ meinte ein PZPR-Mitglied in Kielce im November 1956, „dass der Meinung Recht zu geben ist, nach der die Revolte in Ungarn das Ergebnis der früheren stalinistischen Periode ist. Von den Klassikern des Marxismus haben wir gelernt, dass es eine Revolte nur im Kapitalismus geben kann und doch wurde sie auch zu uns getragen. In Berlin gibt es einen Putsch, in Poznań einen Aufruhr, in Ungarn eine Revolte.“39 Die Verwirrung wurde verstärkt durch die Koexistenz von Äußerungen der Ratlosigkeit und der Befürwortung eines harten Vorgehens derjenigen, die sich „im Klaren waren“. Diese Parteimitglieder griffen nach wie vor auf Feindschafts37

38 39

Ebenda, Bl. 95. Ein Volkspolizist aus Mansfeld kritisierte folgenderweise die Politik der ungarischen Parteiführung: „Aber ich möchte an Hand eines Märchens darlegen wie unser Feind arbeitet. Gebrüder Grimm, die sieben Geißlein und der Wolf. Mit welcher raffinierten Weise der Wolf in das Mehl gepatscht hat. Bei Ungarn hat der Wolf seine Pfoten nicht mit Mehl sondern mit Zucker bestäubt. Es wurde eine Situation in Ungarn ausgenutzt, wo sich die Partei nicht einig war, und sich die Partei von den Massen getrennt hat.“ LHASA, MER, SED-Kreisleitung Mansfeld, IV/413/2/20, Plenarsitzung 15. 1. 1957, Bl. 27. Siehe z. B. AP Kat, KW PZPR, 310/I/7, KP PZPR Cieszyn, Materiały z Konferencji Sprawozdawczo-wyborczej, 11.12.1956, Bl. 7. AAN, KC PZPR, 237/VII-3020, KW PZPR Kielce, Plenarsitzung 13.11.1956, Bl. 373.

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beschreibungen zurück, die an die stalinistische Kampfrhetorik erinnerten und die Anwendung von physischer Gewalt forderten. Die folgenden Beispiele, je eins aus der DDR und der Tschechoslowakei, zeigen, dass auch nach 1956 gewaltorientierte Rhetorik in den Parteien akzeptabel war: In Polen haben sich zu der Zeit, wo der Imperialismus versuchte, die Arbeiterklasse zu stürzen, täglich tausende von Arbeitern auf den Straßen von Warschau gefunden. 20 000 Bergarbeiter sind aus dem Kohlenpott nach Warschau gekommen, nicht mit Waffen, aber mit Knüppeln und haben die Universität besetzt. Arbeiter sind zu den Studenten gekommen und manche von diesen Studenten haben ziemlich dicke Köpfe bekommen. Als sie in Breslau Krawall machten, sind die Kollegen nicht mit Knüppeln, sondern mit Eisenstangen gekommen und haben Ruhe und Ordnung wieder hergestellt. Ein solch schnelles Eingreifen wäre auch in Ungarn notwendig gewesen. Auch unsere Arbeiter müssen wir darauf orientieren, nicht gleich mit den Waffen, aber ähnlich wie in Polen vorzugehen.40 Als ich auf der gesamtstaatlichen Konferenz war, habe ich mit Leuten aus Prag gesprochen, mit Arbeitern, und sie haben gesagt, guck mal, die Studenten da wollen uns provozieren. Wir haben es ihnen gezeigt. Wir hatten Angst, dass die Studenten in Prag einen Aufstand machen. Die Bergleute waren auf sie vorbereitet. Wir zahlen ihnen so viele Millionen aus den Geldern der Arbeiter, und sie wollen auch noch unsere Politik bestimmen. Vielleicht ändern sie demnächst die Lehren von Marx und Lenin, das fehlt ja nur noch. Und deswegen ist es nötig, den Studentenkreisen in Prag mehr Aufmerksamkeit zu widmen, denn die Arbeiterklasse in der Tschechoslowakei will es nicht wahrhaben, wenn es in der Republik Störenfriede oder Umstürzler gibt.41

Diese Feindschafts-Äußerungen enthielten eine Klassen- und Generationskomponente. Der „Hass“ richtete sich oft gegen Studenten und junge Intellektuelle (trotz aller Aufrufe zur Gewaltanwendung schlussfolgerte allerdings der tschechische Genosse durchaus im poststalinistischen Stil, man müsse eine bessere Fürsorge für die Jugend gewährleisten, sie besser betreuen). Die Jugend wurde oft als eine Schwachstelle betrachtet, die den wirklichen Klassenkampf nicht mehr erlebte und deshalb von den älteren Parteimitgliedern aufgeklärt werden sollte. Den „Hass“ gegen den Feind verstanden die Kommunisten also nicht als etwas Natürliches; vielmehr musste er gepflegt und von Generation zu Generation vermittelt werden. „Wir müssen den Jugendlichen aufzeigen,“ behauptete ein älteres Parteimitglied in den Leunawerken nostalgisch, „wie wir früher gekämpft haben, dann werden sie nachdenken, und sie werden für unsere Ziele begeistert werden. Aber dafür müssen alle alten Genossen mit eintreten. Jedem Freund die Hand, gegen den Feind den Hass verdoppeln. Wir müssen dem Gegner zeigen, dass wir auch

40 41

LHASA, MER, SED-Kreisleitung Leuna, IV/412/36, Plenarsitzung 8.11.1956, Bl. 97. SOA Lit, KV KSČ Ústí nad Labem, k. 8, Plenarsitzung 16.–17.3.1957.

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heute noch revolutionär sind.“42 Oft tadelten die Parteifunktionäre die „Passivität der Jugend“, die durch die westlichen Radiosender, vor allem den RIAS, gefördert werde. Die Jugend lasse sich leicht missbrauchen, es fehle ihr der „kämpferische Geist“. Ähnlich berichteten die Funktionäre kritisch über die „schwankende Intelligenz“, vor allem Ärzte und Hochschullehrer. Der „Direktor des Biologischen Instituts der Universität Halle sagte,“ hieß es in der SED-Bezirksleitung Halle im Juni 1960, „dass es wenig Zweck habe, überhaupt richtig weiterzuarbeiten, da man ja faktisch sowieso am Rande des Krieges leben würde. Er sehe auch keinerlei Möglichkeiten für eine friedliche und demokratische Wiedervereinigung Deutschlands.“43 Unter den Lehrern gab es „eine Reihe ideologischer Unklarheiten und auch solche Erscheinungen, dass sie politischen Auseinandersetzungen ausweichen. Besonders krass kam dies bei Diskussionen über Westfahrten zum Ausdruck“.44 Neben dem ungarischen Aufstand, der eine gute Gelegenheit für die Wiederbelebung von brachialen Feindschafts-Erzählungen bot, vor allem mit dem Kampfbegriff der „Konterrevolution“,45 stellte für die ostdeutschen Kommunisten der „imperialistische Erzfeind“ Westdeutschland den Exerzierplatz für die Pflege der Hassbilder dar. Radikale Vergleiche mit Nazi-Deutschland waren an der Tagesordnung; die SED-Propagandisten zogen stets Parallelen, nach 1963 hauptsächlich zwischen Erhard und Hitler.46 Sie verglichen die „abenteuerliche und aggressive Politik des staatsmonopolistischen Kapitalismus“ mit dem NS-Regime. Andere Stimmen unterstrichen die „Kriegsgefahr des westdeutschen Militaris42 43 44 45

46

LHASA, MER, SED-Kreisleitung Leuna, IV/412/36, Plenarsitzung 8.11.1956, Bl. 101a. SAPMO, DY 30/IV 2/9.02/93, SED-Bezirksleitung Halle an ZK der SED 22.6.1960, Bl. 80. LHASA, MER, SED-Bezirksleitung Halle, IV/2/1/20, Plenarsitzung 11.10.1957, Bl. 164. Der Begriff der Konterrevolution war dabei für den Poststalinismus nicht typisch, er wurde praktisch nur um das Jahr 1956 benutzt. Chruschtschow betrachtete ihn eher als Stalins Vorwand für die Massenrepressionen in der Partei („konterrevolutionäre Tätigkeit“), überdies wurde er vor allem im Hinblick auf den Ungarn-Aufstand 1956 verwendet. In Polen und der Tschechoslowakei verschwand der Begriff aus den allgemeinen Lexika in den sechziger Jahren, im Unterschied zur DDR. Das Meyers Neues Lexikon von 1964 bezeichnete die Konterrevolution nach wie vor als den „Kampf der reaktionären Kräfte“ gegen die sozialistische Revolution. Vgl. Artikel „Konterrevolution“ in: Meyers Neues Lexikon, Bd. 5, Leipzig 1964, S. 26. Allerdings griff die tschechoslowakische „Lehre aus der Krisenentwicklung“ von 1970 den Begriff wieder auf. Zur allgemeinen Begriffsgeschichte der „Konterrevolution“ im marxistischen Denken siehe den Artikel „Konterrevolution“, in: Historisch-kritisches Wörterbuch des Marxismus, Bd. 7/II, Berlin 2010, S. 1661–1687. LHASA, MER, SED-Bezirksleitung Halle, IV/A-2/9/01/69, Bericht über das Parteilehrjahr 1965, 25.1.1966, Bl. 63; vgl. Gibas, Bonner Ultras, S. 93–96.

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mus“ und riefen sogar zum Krieg gegen die „westdeutsche Bourgeoisie mit ihrem Lakaien Adenauer“.47 Solche Äußerungen wurden jedoch oft von anderen Diskutierenden gemäßigt. „Ihr bauscht die Kriegsgefahr auf,“ sagte ein Arbeiter in den Leuna-Werken: „In Westdeutschland wird in den Zeitungen und im Rundfunk vom Krieg überhaupt nicht gesprochen.“48 Exemplarisch zeigte sich das Miteinander auch gegensätzlicher Unklarheiten über Westdeutschland an der Diskussion im Fischkombinat Sassnitz auf Rügen im Oktober 1960. „Warum können manche gebildete Menschen nicht begreifen,“ fragte ein Genosse, „dass die marxistische Lehre richtig ist? Gen. Engelbrecht sagt, er versteht die westdeutschen Arbeiter nicht, dass sie sich alles bieten lassen. Die Sowjetunion ist die stärkste Macht der Welt. Warum lässt sie die Entwicklung in Westdeutschland zu?“ Ein anderer Teilnehmer vertrat den Standpunkt, „dass bei der Wiedervereinigung Deutschlands die Regierung Westdeutschlands und solche Menschen, die diese Regierung stützen, wie Offiziere, Beamte und dergleichen, physisch vernichtet werden müssen“.49 Zugleich wurden Zweifel an einem „natürlichen“ Regimewechsel in Westdeutschland geäußert. Im Betrieb Industriewaren Bergen fragte man, ob es unter den gegenwärtigen Verhältnissen in Westdeutschland möglich ist, „dass eine bürgerlich-demokratische Revolution erfolgt? Sind zwei bürgerlich-demokratische Revolutionen in einem Land möglich?“50 Viele „Unklarheiten“ in der SED betrafen den Begriff der „friedlichen Koexistenz“, der nach 1956 den „verschärften Klassenkampf“ als ideologisches Hauptschlagwort ersetzte. So fragten die Genossen nach dem Westfunk: „Wenn Westfernsehen und Rundfunk keine Hetze mehr senden, darf man den Westen sehen oder hören und ist das dann ideologische Koexistenz?“51 Das Westhören blieb auch im Poststalinismus eine heikle Frage, die sich im Herbst 1956 durch die Berichterstattung über den ungarischen Aufstand noch verschärfte. Die Parteien mussten gegen die „Antisowjethetze“ eintreten, die durch Westrundfunk verbreitet wurde, ohne jedoch die stalinistische Hassrhetorik wieder aufzugreifen. Der Einfluss der Westmedien sollte nicht direkt mit Hassattacken bekämpft, sondern mit „Überzeugungsarbeit“ eliminiert werden. Ein „richtiger Meinungsstreit“ um die Frage, wie sich die Parteimitglieder der westlichen Propaganda 47 48 49 50 51

LHASA, MER, SED-Kreisleitung Bitterfeld, IV/404/30, Plenarsitzung 14.4.1956, Bl. 121. SAPMO, DY 30/IV 2/9.02/93, SED-Bezirksleitung Halle an ZK der SED, 22.6.1960, Bl. 80. SAPMO, DY 30/IV 2/9.02/90, SED-Kreisleitung Rügen an ZK der SED, 25.10.1960, Bl. 59. Ebenda, Bl. 60. LHASA, MER, SED-Bezirksleitung Halle, IV/A-2/9/01/67, Bericht über die Durchführung der Parteischulung, 3.3.1964, Bl. 104.

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gegenüberstellen sollten, entwickelte sich im Oktober 1956 mit einem Grundschullehrer in Ascherleben. Wie der örtliche Propaganda-Sekretär berichtete: Als von einer Schülerin die Frage an ihn gestellt wurde: „Na, Herr Möhle, was sagen Sie zu der Verhaftung der fünf algerischen Rebellen“, antwortete er: „Na, da hast du wohl den Westsender gehört.“ Daraufhin sagte eine andere Schülerin: „Herr Möhle, dann haben Sie aber auch den Westsender gehört.“ Genosse Möhle erklärte dann vor den Schülern der Klasse, dass er diesen hört. In der Auseinandersetzung mit ihm über diese Fragen sagte er dann zu dem Genossen Paust, dass man den Westsender hören muss, um auf alle Fragen der Schüler antworten zu können. Genosse Schneider aus dem gleichen Lehrstuhl und Direktor dieser Schule erklärte dem Genossen Möhle „Den Westsender kannst Du schon hören, aber Du brauchst es ja keinem zu erzählen.“ [...] Genosse Paust, stellv. Abteilungsleiter für Propaganda sprach noch zur Diskussion über den Lehrstuhl „Geschichte“ in der Angelegenheit des Genossen Möhle. Die Genossen haben sich mit ihm über sein schädliches Verhalten unterhalten. Er ließ sich jedoch nicht überzeugen, dass er falsch gehandelt hat. Er ist der Meinung, dass er in der achten Klasse Gesellschaftskunde unterrichtet und deshalb auch den Westsender hören muss, um die Argumentation der Schüler zerschlagen zu können. Die anderen anwesenden Genossen haben den Genossen Möhle in seiner falschen Ansicht noch unterstützt. 52

Diese Beispiele machen deutlich, dass die kommunistische Feindschaftssprache nach 1956 die für den Stalinismus bezeichnende Eindeutigkeit verlor. „Feindliche Argumente“ wurden durch Verweise auf „ideologische Unklarheiten“ relativiert. Rabiate Hassdiskurse nahmen infolge der politischen Entspannung und der Beendigung der flächendeckenden Repressionen ab. Die Feindschaftsrhetorik büßte einen großen Teil an Wirksamkeit ein, nachdem sich ihre Fähigkeit, Hassworte in tatsächliche physische Gewalt umzuwandeln, vermindert hatte. Zwar setzten sich auch nach 1956 Verfolgung und physische Repressionen fort, wie zum Beispiel die Verhaftungen von Intellektuellen wie der Harich-Gruppe, Parteirügen und -ausschlüsse, die fortdauernde Verfolgung der Kirche in der Tschechoslowakei oder Repressionen gegen Studenten in Polen Ende der sechziger Jahre.53 Die FeindRhetorik weichte aber langsam auf, man sprach immer öfter über den „Gegner“ als über den „Feind“. Die paradigmatische Frage des Poststalinismus „von unten“ lautete: Ich bitte um Aufklärung, im Frühling 1956 bezüglich des Personenkults, und im Herbst bezüglich der Ungarnfrage. Es war nicht anders bei dem grundlegenden Feind-Paar des Poststalinismus – dem Revisionismus und Dogmatismus, 52 53

LHASA, MER, SED-Kreisleitung Aschersleben, IV/402/11, Plenarsitzung 31.10.1956, Bl. 143–145. Zu den Repressionen nach 1956 siehe Jaroslav Cuhra, Trestní represe odpůrců režimu v letech 1969–1972, Praha 1997; Ders., In the shadow of liberalization. Repressions in Czechoslovakia in the 1960s, in: Cahiers du Monde Russe 47, 2006, S. 409–426.

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deren unklares und sich stets veränderndes Verhältnis immer wieder nach weiteren „Aufklärungen“ rief.

Die inneren Feinde Im Stalinismus galten die inneren Feinde als die gefährlichsten von allen: Als Schädlinge, Verräter, Feinde der Partei, Renegaten, die es zu „liquidieren“ galt. Ehemalige Sozialdemokraten, die sich zwar formell der Partei anschlossen, aber ihre wahre politische Überzeugung nicht änderten, Trotzkisten, die für den imperialistischen Todfeind arbeiteten, die „Doppelzüngler“. Der innere Feind galt als hinterhältig, verräterisch, feige. Die nominale Zusammensetzung der inneren Feindbilder blieb großenteils auch im Poststalinismus bestehen – Trotzkisten, Verräter, Agenten des Imperialismus wurden weiterhin, wenn auch weniger aggressiv, attackiert. Wie aber die oben dargestellte Diskussion über „Unklarheiten“ deutlich macht, wandelte sich die Betrachtungsweise der inneren Feinde erheblich: Die stalinistische Dämonisierung der Gegner, die zur Vertreibung, Vernichtung und „Liquidierung“ führte, bereitete innerparteilichem Antagonismus den Weg. Alte (Trotzkisten) wie neue Feinde (Revisionisten, Dogmatiker) sollten nicht mehr „zerschlagen“, sondern durch „ideologische Arbeit“, durch Auseinandersetzung und „systematische Überzeugung“ zurück auf den richtigen Weg gelenkt werden. Seit den sechziger Jahren verfolgten die Parteien die Politik der Abgrenzung und Konsensbildung im Sinne eines „politbürokratischen Integrationsprojektes“ (Thomas Klein).54 Am Anfang der poststalinistischen Feindschaftserzählung standen der „Personenkult“ als treibende Kraft und der „Dogmatismus“ als dessen ideologische Ausprägung. Der „Dogmatismus“ galt zwar als ein „innerer Feind“, aber einer, den die Poststalinisten nur halbherzig bekämpften. Denn eine allzu starke Betonung des Dogmatismus als Feindbild hätte den im Zuge der konservativen „ideologischen Offensiven“ neu auftauchenden Hauptfeind – den Revisionismus – relativiert. Dennoch wurde der Feind-Status des „Dogmatismus“ immer wieder sowohl von Reformisten als auch Konservativen bestätigt, indem seine Wurzeln im Imperialismus, d. h. außerhalb des sozialistischen Systems, gesehen wurden. Seine „Blütezeit“ als Feindschaftserzählung erlebte der Dogmatismus zwischen dem XX. Parteitag der KPdSU im Februar 1956 und Juni desselben Jahres, bevor die Parteien, erschrocken durch den Aufstieg der „revisionistischen Tendenzen“ 54

Thomas Klein, „Für die Einheit und Reinheit der Partei“. Die innerparteilichen Kontrollorgane der SED in der Ära Ulbricht, Köln 2002, S. 349ff.

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und der zu weit gehenden Kritik am Stalinismus, die ideologische Bremse gezogen hatten. Begriffsgeschichtlich greifen die Ursprünge des „Dogmatismus“ auf Marx zurück, auch Lenin und Stalin benutzten den Ausdruck.55 In Chruschtschows Geheimrede tauchte der Ausdruck allerdings nicht auf. In der ideologischen Kritik nach dem Februar 1956 funktionierte er eher als ein Ersatzbegriff, als eine euphe55

Der Ausdruck „Dogma“ tauchte im Deutschen während des 18. Jahrhunderts auf. Dogmatismus wurde allgemein als starres Festhalten an Dogmen, als eine unkritische, metaphysische, auf vermeintlich unumstößlichen Lehrsätzen beruhende Denkweise bezeichnet. Ein Eintrag zum Dogmatismus befindet sich in allen zeitgenössischen Lexika der sozialistischen Länder, wobei sie den Begriff jeweils unterschiedlich deuten. Das ostdeutsche Meyers Lexikon relativiert die Bedeutung des Dogmatismus, indem es ihn zum bloßen Helfer des Revisionismus degradiert, in Übereinstimmung mit der offiziellen sowjetischen Linie vom November 1957. Der polnische Beitrag hingegen unternimmt eine Ideengeschichte von Kant bis zur Gegenwart, und weist auf Engels Feststellung hin, dass die marxistische Lehre kein Dogma sei. Der Artikel an sich trägt „revisionistische Züge“, weil er die Beziehung des Dogmatismus zum Revisionismus gar nicht erwähnt. Während das ostdeutsche Lexikon beim Verweis auf die „schöpferische Natur“ des Marxismus-Leninismus bleibt, gehen die polnischen Autoren viel weiter, indem sie vom „offenen System“ und „Modifikationen im Lichte neuer Fakten“ sprechen. Im Unterschied zum ostdeutschen Beitrag unterstrichen die polnischen und tschechischen Lexika den unmittelbaren Zusammenhang zwischen Dogmatismus und Personenkult. Vgl. Dogmatyzm, in: Wielka encyklopedia powszechna, Bd. 3, Warszawa 1964, S. 86; Dogmatismus, in: Meyers Neues Lexikon, Bd. 2, Leipzig 1963, S. 661; Dogmatismus, in: Příruční slovník naučný, Bd. 1, Praha 1962, S. 564. Einen Überblick bietet Christian Löser, Dogmatismus, in: Historisch-kritisches Wörterbuch des Marxismus, Bd. 2, Hamburg 1995, S. 802–809. Demnach setzte sich Marx mit den Überresten der Metaphysik auseinander, die er als Dogmatismus bekämpfte. Seit dem späten Engels wurde Dogmatismus zunehmend in Verbindung mit „Sektierertum“ gebracht. Lenin verwendete den Begriff 1902 im Was Tun, dessen erstes Kapitel „Dogmatismus und Freiheit der Kritik“ heißt: „Auch wenn Lenin immer wieder betonen werde, die richtige revolutionäre Theorie sei ‚kein Dogma’, sondern nehme nur in engem Zusammenhang mit der Praxis einer wirklichen Massenbewegung endgültige Gestalt an, so hat er doch mit seinen scharfen Wertungen hinsichtlich ‚theoretischen Denkens‘ Kampfbegriffe formuliert, die dann insbesondere über Stalin die Institution des Marxismus-Leninismus bestimmen werden.“ Ebenda, S. 806. Im Stalinismus wurde die Dogmatismus-kritische Sprache zum Instrument des Dogmatismus; demnach erscheinen die Begriffe wie „Kritik“ als Gegensatz zum Dogmatismus. „Verknöcherung der Partei“ oder „Bürokratismus“ tauchen bei Stalin wiederholt auf. Die „Reinigung vom Unrat des Opportunismus“ wird als „ständige Aufgabe“ betrachtet. Stalin kritisierte die Praxis wie „allgemeine Sätze des Marxismus auswendig zu lernen“ – man sollte stattdessen „in das Wesen des Marxismus eindringen“. Löser konstatiert allerdings eine Kontinuität der dogmatischen Auffassungen über 1956 hinaus, eine „Verkirchlichung des Sozialismus“ und „Festlegung der Dogmen durch eine Behörde“, die erst mit dem Zusammenbruch des Staatsozialismus 1989 verschwand.

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mistische Metonymie für „Stalinismus“ in der marxistisch-leninistischen Theorie. Der Dogmatismus stellte – im Unterschied zum Revisionismus – keine einheitliche Doktrin, keine systematische Attacke auf den Sozialismus dar. Vielmehr betrachtete man ihn als eine verzerrende, falsche Zugangsweise und Methode in der politisch-ideologischen Arbeit. Er wurde oft charakterisiert als „schematische Übertragung“, „schematische Auslegung“ und als Gegensatz zum „schöpferischen Marxismus-Leninismus“. Ein gutes Beispiel für dieses Deutungsmuster gab der Chefredakteur der Parteitageszeitung Trybuna Robotnicza auf dem Wojewodschaftsplenum in Katowice im Oktober 1956: Die Zeit des Stalinismus war für die schöpferische Entwicklung der Theorie nicht gerade günstig und nur selten haben wir uns daran herangemacht, wenn überhaupt, dann schüchtern und ungeschickt, sodass wir keine größeren Erfahrungen in dieser für uns grundlegenden Angelegenheit haben, obwohl wir wissen, Lenin sagte es doch, dass der Marxismus kein Dogma, dass der Marxismus vielmehr eine Handlungsrichtlinie ist, die die Sozialisten selbstständig weiterentwickeln müssen […]; wir hingegen verwandelten diese Lehre in ein Dogma, sodass ihr Wesen missachtet wurde. Nur zu besonderen Anlässen haben wir die These Lenins zitiert, laut der der Marxismus eine Handlungslinie ist, im Alltag hingegen hatten wir, arbeiteten wir eine falsche These aus über die angebliche Harmonie aller Auffassungen in der Theorie des Marxismus-Leninismus, über eine monotone Einheitlichkeit der Anschauungen, Einheitlichkeit, die auf eine mechanische Art begriffen wurde; von da gibt es nur einen Schritt zum Dogma, zur Angst und Furcht vor der schöpferischen Entwicklung dieser Theorie.56

Den Dogmatismus verstanden die Kommunisten als einen versteinerten Umgang mit Marxismus sowie als die Verachtung von Wirklichkeit und Fakten, als „Schulmeisterei“ (školometství).57 In den sechziger Jahren, im Zusammenhang mit der Bekämpfung des Maoismus, erschien Dogmatismus in Verbindung mit kirchlich gefärbten Ausdrücken wie „Unfehlbarkeit“, „Sektierertum“, „Scholastik“, oder „Obskurantismus“ (Maoismus als „Verfall in die mittelalterliche Mystik“, „pfäffische Ansichten aus dem Mittelalter“, „dogmatisch-sektiererische Anschauungen“, hieß es in der nordböhmischen KSČ im Oktober 196658). Man kritisierte „Dogmatismus und Zitatologie“ (cytatologia) als „Widerstand gegen Veränderungen der Leitungsmethoden“ und „krampfhaftes Beharren auf dem Alten, auf überwundenen Arbeitsmethoden“, auf „toten Formeln und Dogmen“.59 Schnell verbreitete 56 57 58 59

AAN, KC PZPR, 237/VII-2953, KW PZPR Katowice, Plenarsitzung 12.–13.10.1956, Bl. 221–222. NA, AÚV KSČ, 05/3, sv. 1, a.j. 7, Celostátní seminář lektorů a učitelů KSŠ, 28.– 30.5.1956, Bl. 136. SOA Lit, KV KSČ Nordböhmen, k. 20, Plenarsitzung 21.10.1966, Bl. 280ff. AAN, KC PZPR, 237/VII-3268, KW PZPR Łódź, Plenarsitzung 10.3.1956, Bl. 140.

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sich der kritisch benutzte Begriff des Dogmatismus in verschiedenen Bereichen des „Parteilebens“, von den Betriebsleitungen hin zu den „Zirkeln für die Geschichte der Arbeiterbewegung“. Die SED-Zensoren kritisierten lokale Geschichtsdarstellungen für die „schematische Übertragung von Theorien auf die historische Wirklichkeit“ und viel zu abstrakte Behandlung theoretischer Probleme. Wie ein IML-Mitarbeiter von seiner „Kontrollfahrt“ in Frankfurt/Oder im Juni 1957 berichtete, legten viele Lokalhistoriker „die theoretischen Probleme noch abstrakt dar. Die Genossen gehen noch nicht mutig genug an die Untersuchung der örtlichen Geschichte heran (sie geben erst das Bekannte und wollen das dann durch ihre Untersuchung unterstützen). Ich sehe darin einen Ausdruck des Dogmatismus in der Forschung.“60 Als Gegensätze des „toten Schemas“ des Dogmatismus rückten Begriffe in den Vordergrund, die im Zuge der „Rückkehr zu Lenin“ die neue Ideologiesprache besetzten, wie die „Wissenschaftlichkeit des Marxismus-Leninismus“ oder „leninistische Einheit der Theorie und Praxis“. Im Unterschied zur „schöpferische[n] Tätigkeit des Marxismus“ haben der Personenkult und der Dogmatismus die „schöpferische Rolle der Volksmassen in der Geschichte“ entstellt, wie es in der SED-Kreisleitung Artern im Oktober 1956 hieß.61 Auch wenn der „Dogmatismus“ seit Chruschtschows konservativer Korrektur im Juni 1956 zunehmend in der offiziellen Propaganda zurücktrat, blieb er in der Parteibasis bis in die sechziger Jahre hinein als ideologisches Kampfmittel vorhanden. So wurde aus den SEDParteischulen über die Überbleibsel des Dogmatismus berichtet, wie zum Beispiel der „Dogmatismus aufgrund der ungenügenden Arbeit mit den Beschlüssen der Partei in der Lehrtätigkeit“, oder „routinehaftes Arbeiten und ungenügende Verbindung der Theorie mit der Praxis“.62 In der Parteischule Ballenstedt kam im Sommer 1960 bei einigen Genossen „noch dogmatisches Herangehen an die Theorie des Marxismus-Leninismus“ vor. Das zeigte sich darin, dass sie „Einzelbeispiele, die sie persönlich erlebten“, als allgemeingültig hinstellten. Interessanterweise wurde der Dogmatismus auch als die mögliche Ursache der mangelhaften Moral erwogen, besonders des „Alkoholismus der Genossen“, die sich nach der Auszahlung des Kursstipendiums in den örtlichen Gaststätten betranken und die Bevölkerung belästigten.63 60 61 62 63

SAPMO, DY 30/IV 2/9.07/220, Bemerkungen zu „Hinweisen“, 13.6.1957, Bl. 19. LHASA, MER, SED-Kreisleitung Artern, IV/401/26, Plenarsitzung 12.10.1956, Bl. 183. LHASA, MER, SED-Bezirksleitung Halle, IV/2/5/1837, Bericht über den Einsatz an der Bezirksparteischule, 20.12.1961, Bl. 142. LHASA, MER, SED-Bezirksleitung Halle, IV/2/5/1836, Abschlussbericht über den Lehrgang 1959–1960, 29.7.1960, Bl. 65. „Zum anderen gab es bei einem Teil Genossen einen Widerspruch zwischen dem Studium des Marxismus-Leninismus und der Anwen-

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Solche Vorfälle zeugen von der „Veralltäglichung“ und Banalisierung der ideologischen Auseinandersetzungen. Die Betrachtung des Dogmatismus verwandelte sich selten in eine klare Feindschaftserzählung. Eher als offene Feindschaft rief er zu überwindende „Unklarheiten“ hervor. Falls Dogmatiker als überzeugte Gegner des neuen poststalinistischen Kurses dargestellt wurden, erschienen sie als eine marginale und letztlich kaum gefährliche Gruppe von Desperaten. So zum Beispiel beschrieb sie der Erste Sekretär der Wojewodschaft Wrocław nach dem IV. Parteitag der PZPR im Juni 1964 als „unverbesserliche Dogmatiker, die keine Lehren aus der Geschichte zogen“, als „Tollwütige“ (wścieklacy), die keine Chance haben, die Partei zu prägen.64 Mit dem Revisionismus war es anders. Er wurde gleich im Juni 1956 von der KPdSU und anschließend von den anderen Parteien als das schlimmere Übel für den Sozialismus diagnostiziert. Begriffsgeschichtlich ist der Revisionismus vielschichtiger als der Dogmatismus, gehen doch seine Wurzeln in das 19. Jahrhundert, auf die Erste Internationale, das Erfurter SPD-Programm und den Bernsteinschen Reformismus zurück. Bestimmend hierfür war die Spaltung von 1918, als sich die zentraleuropäischen Kommunisten (vor allem die KPD) als die einzige nicht-revisionistische Kraft bezeichneten. Als Feindbegriff umfasste der Revisionismus verschiedene „feindliche“ Strömungen und Personen; er hatte deutlich tiefere Wurzeln und war daher als ein historisch verankertes und vielschichtiges Feindbild einfacher zu mobilisieren. Neu war, dass nach 1956 die Parteiideologen nicht das „wahre Erbe“ von Marx, sondern jenes von Lenin gegen die „revisionistischen Angriffe“, gegen „Häretiker und Verräter“ verteidigten.65 Sie rekurrierten auf den kommunistischen Sinn für Orthodoxie, der laut Bertram Wolfe dem Marxismus von Anfang an eigen war: As an ism, Marxism is a creed to be clung to when the intellect questions and rejects. It is a deeply emotional faith, with true believers, orthodoxy and its inevitable shadow of heresy, dedication, confession, schism, anathema, excommunication, even imprisonment and execution and erasure of one’s name, where the faith and the secular arm are one. When Marx’s newly formed organization in Brussels numbered no more than a dozen members, Marx expelled one who had gone off to America for a (somewhat caricatured) preaching of human

64 65

dung auf ihre eigene Person. Das zeigte sich in verschiedenen Kadergesprächen über den Einsatz nach der Schule, wo Genossen sich weigerten, den Einsatzvorschlag anzunehmen, in der Stellung zum Alkohol, besonders nach der Stipendienzahlung, wo ein großer Teil der Genossen die Gaststätten in Ballenstedt aufsuchte und sich ungebührlich benahm, so dass es sogar zu Beschwerden seitens der Bevölkerung kam.“ AAN, KC PZPR, 237/VII-5190, KW PZPR Wrocław, Protokół z narady wojewódzkiej aktywu partyjnego, 26.6.1964, Bl. 11. Bertram D. Wolfe, Marxism, One Hundred Years in the Life of a Doctrine, New York 1965, S. XXII.

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love as the basis of socialism when Marx was just discovering the scientific driving force of history to be class-hatred.66

Trotzdem war der rasche Aufstieg des Begriffs des Revisionismus im poststalinistischen Kontext keine Selbstverständlichkeit. Bei der Geburt des Poststalinismus war er noch nicht vorhanden: Chruschtschow erwähnte das Wort in der Geheimrede kein einziges Mal. Erst als im Laufe des Frühlings 1956 die Kritik am Personenkult alle denkbaren Grenzen überschritt, schlug die Partei zu: In dem im Juni veröffentlichten KPdSU-Beschluss „Über die Überwindung des Personenkultes und seiner Folgen“ tauchte der Begriff Revisionismus als Feindbild auf und wurde bald von allen Parteien übernommen. Mit den Herbstunruhen in Ungarn und Polen setzte er sich endgültig durch: Um die Gefahr der sowjetischen Intervention abzuwenden, musste Gomułka auf den Revisionismus nach dem „polnischen Oktober“ von 1956 reagieren und ihn zum Feindbild machen, was auch auf dem XI. ZK-Plenum im Mai 1957 geschah.67 „Revisionismus“ und „Dogmatismus“ bildeten in der kommunistischen Alltagssprache ein untrennbares Begriffspaar, gelegentlich ergänzt um die Etiketten „Sektierer“ und „Trotzkisten“. „Revisionismus und Dogmatismus in unserem Bezirk“ war seit 1957 die typische Losung lokaler Parteiapparate. Der Revisionismus galt dabei stets als der gefährlichere. Zum Beispiel behandelten die KSČMitglieder in Liberec im Juli 1957 den Dogmatismus eher lakonisch als eine fast natürliche Erscheinung, die keine große Gefahr darstellte. Der Revisionismus dagegen erschien als etwas Äußerliches, etwas, das der „bürgerliche Feind“ zur „Desorientierung der Partei“ ausnutzt.68 Der Revisionismus sei „raffiniert“. Auch wurde er als ein zeitlich entfremdetes Element betrachtet, als ein Überrest der Vergangenheit. Eine häufig benutzte Phrase lautete, dass es „immer noch“ revisionistische, kleinbürgerliche und anarchistische Tendenzen in der Partei gibt, die nach dem XX. Parteitag aufgetaucht sind. Auch für die Bekämpfung des Revisionismus dominierte die Semantik der schrittweisen „Überwindung“.69 Dem Revisionismus als der größeren Gefahr galt auch die meiste Aufmerksamkeit der poststalinistischen Ideologen, gegen ihn richtete sich die Mehrheit der ideologischen Kampagnen nach 1956.70 Hingegen brauchte man zum Thema Dogmatismus keine „Schulungen“ zu veranstalten: Dieser wurde als eine verkehrte 66 67 68 69 70

Ebenda, S. 357. Władysław Gomułka, Przemówienie wygłoszone podczas XIX Plenum KC PZPR, in: Ders., Przemówienia Październik 1956 – Wrzesień 1957, Warszawa 1957. SOkA Lib, OV KSČ Liberec, Plenarsitzung 15.7.1957, unpag., Diskussionsbeitrag Hejkal. NA, AÚV KSČ, 05/3, sv. 1, a.j. 9, Celostátní porada vedoucích III. oddělení KV KSČ k zabezpečení usnesení červnového pléna ÚV KSČ 1957, Bl. 44. Zur SED vgl. Klein, Einheit und Reinheit, S. 268–348.

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Denkweise, als ein falsches Bewusstsein verharmlost, und galt somit nicht als eine reale Bewegung oder politische Kraft, die über gesellschaftliche Unterstützung verfügte. Der Dogmatismus wurde nicht als „feindliche Ideologie“, sondern nur als eine „Denkweise“ gesehen, nicht als Inhalt, sondern Methode. Das zeigt auch die Tatsache, dass man ihn oft im Zusammenhang mit „Subjektivismus“ erwähnte, das heißt einer ideologisch weniger schlagkräftigen Kategorie. Zum Beispiel schrieb man im Handbuch der Geschichte der Polnischen Arbeiterbewegung (1967) über die Entwicklung „vom Kampf gegen Dogmatismus zum Krieg gegen Revisionismus“.71 Die „Hinterhältigkeit“ der Revisionisten wurde dadurch unterstrichen, dass man sie als „Dogmatiker“ aus der Zeit vor 1956, als Stalinisten „entlarvte“, die später die Seite wechselten – was nicht selten stimmte. Die beiden inneren Feinde unterschieden sich auch in ihrem zeitlichen Charakter: Während der Revisionismus eine dauerhafte Bedrohung darstellte, blieb der Dogmatismus ein ephemerer Überrest der Vergangenheit. So bezeichneten die PZPR-Historiker 1964 den Revisionismus als „die bedeutendste Gefahr der Zeit nach 1956“, während sie die dogmatisch-sektiererischen Tendenzen als bloße „Relikte“ kleinredeten.72 Die Vielfalt an Feind-Begriffen, sowie ihre chronologischen Überlappungen sorgten für Konfusion an der Parteibasis. Nicht nur, dass die Genossen Fragen stellten wie „warum gerade Revisionismus“. Die viel zu große Vielfalt an „ismen“ – Revisionismus, Reformismus, Dogmatismus, Opportunismus – wirkte kontraproduktiv. Der historische Revisionismus der Ersten Internationale wurde mit dem poststalinistischen Revisionismus oft in Beziehung gebracht – aber anders, als es sich die Parteiideologen wünschten. Zum Beispiel 1962 während der Jahrestagfeier des Bergarbeiter-Streikes in der nordböhmischen Stadt Most (Brüx) aus den frühen dreißiger Jahren wurde dieser Streik als ein „Kampf gegen Reformismus, Opportunismus und linken Dogmatismus“, als „Krach für Reformismus“ und „Lehre für den heutigen Kampf gegen Revisionismus, Dogmatismus und Sektierertum“ beschrieben. Solche Aktualisierungen des vergangenen Revisionismus rückten in den sechziger Jahren in den neuen Kontext des Maoismus, der als eine paradoxe Feind-Synthese vom Dogmatismus mit dem Personenkult auf der einen und mit dem Revisionismus auf der anderen Seite dargestellt wurde. Diese Übersättigung mit abstrakten Ideologiebegriffen rief Missverständnisse bei den lokalen Teilnehmern hervor.73

71 72 73

Historia Polskiego Ruchu Robotniczego 1864–1964, 2 Bd., Warszawa 1967; Bd. 2, S. 484. Meine Hervorhebung. AAN, KC PZPR, ZHP, XXII/-41, Notatka dla Komisji ideologicznej, 5.3.1964, unpag. SOA Lit, KV KSČ Nordböhmen, k. 15, Plenarsitzung 23.3.1962, Bl. 4.

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Die eher konfuse Revisionismus-Bekämpfung zeigt, dass die poststalinistische Ideologieproduktion noch nicht der spätsozialistischen „Hypernormalisierung“ entsprach, wie sie Yurchak für die Breschnew-Ära beschrieb. In den späten fünfziger und den sechziger Jahren herrschte noch der Unklarheiten-Diskurs. Die poststalinistische Verwirrung macht das im Herbst 1958 vom ZK-KSČ organisierte „Seminar zu den Fragen des Revisionismus“ deutlich, auf welchem Parteifunktionäre über die „Probleme in ihren Bezirken“ diskutierten. Die nordmährischen Kommunisten setzten sich mit der Frage auseinander, ob in ihrem Bezirk nur „revisionistische Tendenzen“ oder bereits eine „revisionistische Plattform“ vorhanden war. Den Hintergrund bildeten die Disziplinarverfahren mit dem Philosophen Ivan Dubský, der Marxismus-Leninismus an der dortigen Berghochschule lehrte. 1957 legte Dubský eine der ersten Monographien über den jungen Marx im Ostblock vor und setzte dabei den Akzent auf die Überwindung der „Entfremdung“, also ein typisch „revisionistisches“ Thema, das als Grundlage für die Kritik der „Bürokratie“ in den kommunistischen Systemen diente. Das Verfahren gegen Dubský wurde im Sommer 1957 eingeleitet u. a. wegen seiner Äußerung, die Diktatur des Proletariats sei nur der „Keim einer wirklichen, vollen Demokratie“.74 Aufbauend auf diesem Gedankengut solle sich in Nordmähren eine „DubskýPlattform“ herausgebildet haben. Die von der örtlichen Propaganda-Abteilung herausgearbeiteten Thesen, die sich mit der „revisionistischen Plattform“ auseinandersetzten, waren zwar in die antirevisionistische Feindschaftserzählung eingebettet, die das bipolare Weltbild Sozialismus vs. Kapitalismus aufrechterhielt und den Revisionismus in eine klare Opposition zum Marxismus-Leninismus stellte.75 Aber der Tenor dieses kurzen Textes war poststalinistisch verwirrt und ambivalent. Zunächst wurde über den Begriff der „Plattform“ räsoniert: Der „ganzheitlichen ideologischen Plattform“ (ucelená ideologická platforma) als einer realen Gefahr stehen „vereinzelte Teiläußerungen des Revisionismus“ (ojedinělé dílčí projevy revizionismu) gegenüber, ihr Verhältnis war aber durchaus unklar:

74

75

Michal Kopeček, Hledání ztraceného smyslu revoluce. Zrod a počátky marxistického revizionismu ve střední Evropě 1953–1960, Praha 2009, S. 321f. Dubský, geb. 1926, seit 1953 wissenschaftlicher Mitarbeiter des Philosophischen Instituts der Tschechoslowakischen Akademie der Wissenschaften, Promotion 1958 über die Ideologie der tschechoslowakischen Sozialdemokratie bis 1888. Zunächst erhielt das Buch nur eine milde Kritik in der Theoriezeitschrift der Partei Nová mysl, wurde jedoch im ideologischen Diskurs der Partei – im Unterschied zu Karel Kosíks Studien einige Jahre später – nicht beachtet. 1963 hat Dubský seine zweite Studie Pronikání marxismu do českých zemí (Praha 1963) vorgelegt. ZA Op, KV KSČ Nordmähren, Plenarsitzung des Büros 13.10.1958, Bl. 56–59.

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Einzelne revisionistische Äußerungen [...] bilden immer objektive Grundlagen für die Entstehung von geschlossenen ideologischen Plattformen, sie üben einen bestimmten Druck aus, der zu ihrer Äußerung und Verallgemeinerung führt. Verbindet sich mit diesem Druck ein Klasseninteresse oder kleinbürgerliche Gespaltenheit, erscheinen auf einmal Leute, die diese verstreuten und isolierten Meinungen und Vorstellungen Einzelner formulieren und in ein bestimmtes geschlossenes System bringen, sie bilden eine Plattform. Solch eine Plattform kann zwar nicht von Dauer sein, wenn sie keine Unterstützung findet. Sie ist dennoch gefährlich, denn sie wirkt – nun als geschlossenes System – bewusst oder unbewusst zurück auf diejenigen, die diese Einzelmeinungen vertreten.76

Der Bericht wurde mit der Feststellung eröffnet, dass es im Bezirk keine Plattform gibt, sondern nur „verschiedene revisionistische Tendenzen und Erscheinungen“. Der Revisionismus dürfe nicht unterschätzt werden, zugleich dürfe man „revisionistische Tendenzen mit Revisionismus als solchem nicht gleichsetzen“. Anschließend wurde aber die einleitende These durch die Behauptung auf den Kopf gestellt, dass „wir in unserem Bezirk sowohl eine ganzheitliche revisionistische Plattform als auch vereinzelte Erscheinungen“ haben. Als die Parteiorganisation mit Dubský in der Plenardiskussion abrechnete, schrieben ihm manche Redner kontinuierlich den Rang einer „Plattform“ zu; dabei aber nannten sie Dubský durchgehend als „Genosse“, was die Grenzen ihrer Feindseligkeit andeutete. Wie in den poststalinistischen Auseinandersetzungen üblich, war es den Funktionären offensichtlich nicht klar, ob sie die „Revisionismusgefahr“ aufbauschen oder eher verniedlichen sollen. Begriffliche Verwirrung prägte auch die inhaltliche Kritik an Dubský. Zum Beispiel benutzten die Kritiker die Bezeichnung „Hegemonie der Arbeiterklasse“, die sie dem angeblich revisionistischen Konzept der „vollkommenen Demokratie“ gegenübergestellten.77 Gekrönt wurde der Duktus der Uneindeutigkeit mit der Schlussfolgerung, all diese revisionistischen Ansichten können nicht als Ausdrücke des Revisionismus bezeichnet werden, sondern als Äußerung der „ungenügenden Reife, des Egoismus und anderer Überbleibsel“. Trotzdem „sucht in ihnen der theoretische Revisionismus aus ideologischer und moralischer Sicht die

76 77

Ebenda, Bl. 56R. Woher der Begriff der Hegemonie kommt, ist nicht klar. Die tschechische GramsciRezeption setzt erst in den sechziger Jahren ein. Die Gefängnishefte erschienen auf Tschechisch bereits 1949, die nächste Gramsci-Publikation, Die Geschichtsphilosophie von Benedetto Croce, erschien erst fast zwanzig Jahre später. Siehe Pavel Kolář, Prager Frühling als Schnittstelle des europäischen geisteswissenschaftlichen Transfers, in: Jahresbericht des Zentrums für Zeithistorische Forschung, Potsdam 2009, S. 32–39.

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Grundlage für seine parasitäre Existenz“.78 Das ist eine Weder-Noch-Rhetorik, die die Schlagkräftigkeit der Feindschaftserzählung unterminierte. Wie erfolgreich die nordmährischen Genossen mit ihren Thesen gegen Dubský auf dem Prager Antirevisionismus-Treffen vom Oktober 1958 waren, bleibt dahingestellt.79 Solche Auseinandersetzungen machen jedenfalls deutlich, dass der Revisionismus der innere Feind ohnegleichen war und man ihn selbst in den entferntesten Regionen meinte bekämpfen zu müssen. Andere minoritäre Gruppen innerhalb der deklarierten poststalinistischen „inneren Feinde“ nahmen hingegen eine untergeordnete Stellung ein. Zum einen waren sie ein Relikt des stalinistischen Feindschaftserbes – wie die Trotzkisten. Zum anderen handelte es sich um Referenzen, die auf den neuen Entwicklungen des Weltkommunismus gründeten, wie dem Maoismus. Außerdem bestanden nach 1956 weiterhin Auseinandersetzungen auf der klassischen Achse der Linken zwischen den Sozialdemokraten und den Kommunisten. Gerade die Sozialdemokraten stellten ein wortwörtlich „inneres Problem“ der Ostblockparteien dar, die durch Zwangsvereinigungen der beiden Flügel der Arbeiterbewegung entstanden waren. Hunderttausende ehemalige Sozialdemokraten wurden zu Mitgliedern der neuen Staatsparteien. Ein bedeutender Aspekt der Entstalinisierung war die Rehabilitation der im Stalinismus verfolgten Sozialdemokraten, sowohl die juristische als auch die geschichtspolitische. Die symbolische Wiedergutmachung fand ihren Niederschlag in der Würdigung der nichtkommunistischen Arbeiterparteien durch die offizielle Parteigeschichtsschreibung, wie sie etwa Jan Kancewicz und Feliks Tych in Polen betrieben und Jiří Kořalka, Zdeněk Kárník und Zdeněk Šolle in der Tschechoslowakei.80 Es handelte sich keineswegs um eine rein historische Frage, denn gerade die westeuropäische, vor allem westdeutsche Sozialdemokratie stellte für die kommunistischen Staatsparteien den wichtigsten Kontrahenten der westlichen Linken dar. In der Tschechoslowakei entwickelte sich eine Debatte über die Vergangenheit und Gegenwart der europäischen Sozialdemokratie, besonders über die SPD. Aus einer scheinbar antiquierten Frage für Historiker wurde infolge des Aufstiegs der westeuropäischen Sozialdemokratie ein Gegenwartsthema, das besonders durch die „Annähe-

78 79 80

ZA Op, KV KSČ Nordmähren, Sitzung des Büros 13.10.1958, Bl. 59. Vgl. NA, AÚV KSČ, 05/3, sv. 3, a.j. 14, Seminář k boji proti soudobému revisionismu, 16.–17.10.1958. Jiří Kořalka, Severočeští socialisté v čele dělnického hnutí českých a rakouských zemí, Liberec 1963; Zdeněk Kárník, Socialisté na rozcestí. Habsburk, Masaryk či Šmeral? Praha 1968; Zdeněk Šolle, Socialistické dělnické hnutí a česká otázka 1848–1918, Praha 1969. Vgl. Kopeček, Historical Studies, S. 130ff.

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rungsversuche“ der sechziger Jahre den Charakter der poststalinistischen Feindschaftserzählung mitprägte.81 Am deutlichsten war der neue Einfluss in der SED zu spüren.82 Hier überlagerte sich die historische Frage – die Spaltung der Arbeiterbewegung nach dem Ersten Weltkrieg – mit der Herausforderung durch die SPD in der Gegenwart. Das komplizierte Erbe der deutschen Sozialdemokratie wirkte sich während des Jubiläums der Novemberrevolution von 1918 aus. Wie wir im ersten Kapitel gesehen haben, rief diese von der SED-Führung inszenierte Kampagne unerwartet heterodoxe Reaktionen im lokalen Raum hervor. Die SED-Führung bemühte sich, den Platz der SPD als „Feind“ in der poststalinistischen Feindschaftserzählung zu festigen, denn sie fürchtete einen stärkeren Einfluss aus Westdeutschland, nachdem die sowjetische Deutschlandpolitik nach 1953 einen Neuen Kurs eingeschlagen hatte. Diese Kontroversen um die Darstellung der Arbeiterbewegung zeigen, wie schwierig es war, eine „verbindliche“ Feindschaftserzählung im lokalen Raum zu etablieren, vor allem dort, wo die sozialdemokratische Tradition stark war. Die Gutachten der Mitarbeiter des IML legen den unfertigen, offenen Charakter der SPD-Feindschaftserzählung bloß.83 Die wichtigste Quelle der Unklarheiten war dabei die Unterscheidung zwischen den „bösen“ (rechten, opportunistischen usw.) SPD-Führern und den einfachen Mitgliedern, den „SPD-Massen“, die den Feind-Charakter der SPD milderten. „In den Kreiskommissionen gibt es ideologische Unklarheiten“, hieß es in der Einschätzung der „November-Kampagne“ in Frankfurt/Oder von 1958. „Ein ehemaliger ADGB-Funktionär aus Frankfurt vertrat auf der Tagung die Spontaneitätstheorie. Er erklärte sinngemäß: Die Rolle der Volksmassen als Schöpfer der Geschichte sei die Hauptsache. Da die Volksmassen hinter der SPD und den Gewerkschaften standen, kann der KPD keine führende Rolle zuerkannt werden.“84 Falls die SED-Propaganda die SPD als Feind darstellen wollte, beschränkte sie sich auf die „SPD-Führung“, während das Verhalten der Massen der Interpreta81

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Siehe z. B. Zdeněk Jičínský, „Demokratický socialismus“ západoněmecké sociální demokracie, Praha 1960; Zdeněk Švamber, Programové koncepce SPD 1918–1960. Rozbor programatiky západoněmecké sociální demokracie a jejích historických předpokladů, Praha 1967; Miroslav Soukup, Spaakové, Brandtové a válka. Sociální demokracie a otázky míru, Praha 1964. Zu den Sozialdemokraten in der SED siehe Beatrix Bouvier, Ausgeschaltet! Sozialdemokraten in der sowjetischen Besatzungszone und in der DDR 1945–1953, Bonn 1996, und Klein, Einheit und Reinheit, S. 112ff. Hierzu zahlreiche Beispiele in Siegfried Lokatis, Der rote Faden. Kommunistische Parteigeschichte und Zensur unter Walter Ulbricht, Köln 2003, S. 84–97. SAPMO, DY 30/IV 2/9.07/220, Einschätzung des Lehrganges zur Qualifizierung der Mitarbeiter der Bezirkskommissionen, 6.3.1959, Bl. 64.

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tion offenstand. Dabei waren die offiziellen Direktiven der Parteiführung wenig hilfreich. Bezeichnend ist ein Gutachten zur Broschüre über die Novemberrevolution in Annaberg (Bezirk Karl-Marx-Stadt) von 1960. Es veranschaulicht die Strategie der lokalen Historiker, mit der sie ideologische Konflikte mit dem Parteizentrum zu meiden versuchten; zugleich zeigt es, wie tief die Rhetorik der Uneindeutigkeit den SED-Ideologiediskurs durchdrang: Die Broschüre wurde nach der grundlegenden Rede des Genossen Walter Ulbricht in der Kommission zur Verbreitung der Thesen über die Novemberrevolution herausgegeben. In der gesamten Rede entwickelt Walter Ulbricht den Standpunkt des Politbüros des ZK zum Charakter der Novemberrevolution und weist die von einem Teil der Historiker vertretene falsche Auffassung vom sozialistischen Charakter der Novemberrevolution zurück. Die Verfasser der Broschüre lassen diese Hinweise völlig außer Acht; sie propagieren zwei Auffassungen über den Charakter der Novemberrevolution und kommen dann zu der Einschätzung, das Politbüro habe die beiden Meinungen geprüft und dann seinen Standpunkt dargelegt. In der gleichen Linie liegt die Behandlung der Ursachen der Niederlage der Novemberrevolution. Genosse Walter Ulbricht führte in seiner Rede aus, dass die Mehrheit der Arbeiterklasse noch unter dem Einfluss des Opportunismus stand, dass die SPDFührung die Arbeiterklasse spaltete und so verhinderte, dass die Republik einen revolutionären Inhalt bekam und das Proletariat zum Hegemon der Revolution werde. In der Broschüre wird weder im Vorwort des Ersten Kreissekretärs noch in der Einführung des Kommissions-Vorsitzenden ein Wort über die Rolle der SPD-Führung, geschweige denn über die rechten Führer der USPD gesagt.85

Oft begegneten die IML-Zensoren solchen Darstellungen der Novemberrevolution, die nur von der SPD („falsch“) berichteten, während sie die KPD nicht mit einem Wort erwähnten („die Rolle der KPD erhielt keine Würdigung“).86 Die lokalen Kontroversen um die „richtige“ Darstellung der Novemberrevolution von 1918, in denen die ehemaligen Sozialdemokraten ihre Stimme wiederfanden, rissen die alten Feindschaften zwischen verschiedenen historischen Flügeln der Arbeiterbewegung wieder auf: In Apolda ist die Kreiskommission aufgeflogen. Die Mitglieder der KPD haben den ehemaligen Genossen der sozial-demokratischen Partei ihre Fehler vorgeworfen; es kam zu harten Auseinandersetzungen. Es musste eine vollkommen neue Kommission gebildet werden. […] Wiesner: erklärte zum Beispiel Apolda, dass diese Frage bei uns nicht steht. Aber eine andere Gefahr besteht bei uns, dass die alten Genossen, die aus der SPD kommen und erst zu uns

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SAPMO, DY 30/IV 2/9.07/229, Gutachten über die Broschüre „Annaberg in den Händen des Arbeiter- und Soldatenrates“, Bl. 169–170. SAPMO, DY 30/IV A2/9.07/394, Aktennotiz zur theoretischen Konferenz zum 40. Jahrestag des Kappputschs, 21.3.1960, unpag.

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gekommen sind, durch die Vereinigung mit der SED ihre Erfahrungen unter den Scheffel stellen. Sie meinen, sie waren nicht dabei bei den Kommunisten.87

Besonders in Gebieten, wo die KPD historisch schwach war, musste im Einklang mit der poststalinistischen Fakten- und Wahrheitsorientierung das Gedächtnis der Sozialdemokraten in das Gesamtnarrativ einbezogen werden, sonst hätte das Ideal der Authentizität nicht glaubwürdig gewirkt. In Schwerin wurde verlangt, dass „die sozialdemokratischen Genossen endlich ihr Schweigen brechen, denn wir brauchen sie dringend bei der Erforschung der örtlichen Geschichte der Arbeiterbewegung“.88 Der Schweigebruch war für die ehemaligen SPD-Genossen nach Jahren der stalinistischen Feindschafts-Hetze nicht einfach, umso mehr, als die Erinnerungen „ungezwungen“ sein sollten. Es zeigte sich, „wie schwer es ist, etwas über die Arbeit der Genossen zu erfahren, die aus der SPD kommen. Wir wissen es doch nicht und sind doch darauf angewiesen, dass die Genossen selbst aus ihrem Leben erzählen, sie haben doch mitgekämpft. Wenn ihre Parteiführung versagt hat, das kann man doch dem einzelnen nicht zum Vorwurf machen, wenn sie auch im gewissen Sinne doch die Schuld tragen.“89 Die Geschichtsdarstellungen sollten die alten Streitigkeiten zwischen der SPD und der KPD überwinden und sie zu einem harmonischen Ganzen vereinen. Einheit und Kontinuität sollten in den Vordergrund gestellt werden. Im Herbst 1956 wetterte der Parteiveteran Robert Büchner in der Diskussion zum Thema „Der Jugend unser Herz und unsere Hilfe“. Sie wollen „was hören von uns alten, die wollen von unserer Kampfzeit hören. Wer hat uns denn erzogen zu Kämpfern der Arbeiterklasse, wer war es denn bei uns im 13. und 14. Lebensjahr? Es waren ältere Genossen aus der SPD. Später haben sie uns erzogen im Geiste Ernst Thälmanns.“90 Die Hoffnung auf eine harmonische Geschichtssymbiose beider Parteien erwies sich jedoch als illusorisch. Viele lokale Darstellungen gingen in ihrem Bemühen, die Rolle der SPD neu und gerechter einzuschätzen, viel zu weit. Zugleich gab sich das IML als der ideologische Wahrheitshüter der Parteigeschichte und das zentrale Korrektiv des Parteigedächtnisses oft unerbittlich orthodox. Das Ergebnis war, dass der poststalinistische Diskurs der Unklarheit sich auch im Bereich der SPD-Feindschaftserzählung durchsetzte. „Klarheit“ über die SPD wurde über Jahre hinweg nicht erreicht. Das Aktenmaterial des „Sektors für die Geschichte der örtlichen Arbeiterbewegung“ am IML bietet etliche Beispiele, die die

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SAPMO, DY 30/IV A2/9.07/395, Sitzung der SED-Bezirkskommission Schwerin, 26.3.1957, unpag. Ebenda. Ebenda. LHASA, MER, SED-Bezirksleitung Halle, IV/2/1/17, Plenarsitzung 11.7.1956, Bl. 69.

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Desorientierung in der Einschätzung der SPD belegen.91 Die Berichte erwähnen oft die „Zurückhaltung bei ehemaligen SPD-Genossen“ und das „Sektierertum bei ehemaligen KPD-Mitgliedern“. In den Diskussionen zu historischen Fragen wurde vieles „undifferenziert und falsch“ dargestellt, zum Beispiel bezüglich der Frage, warum die SPD 1914 für Kriegskredite gestimmt hatte – weil sie feige war, oder opportunistisch? Die SED-Zensoren kritisierten „grobe Vereinfachungen“, wenn zum Beispiel die „feindliche Arbeit der Schumacher-Gruppe“ kleingeredet und die Stärke der „opportunistischen Kräfte“ in den Diskussionen unterschätzt wurde. Hier setzte sich erneut die Rhetorik der Wahrheitstreue durch, nachdem die IMLZensoren dies als eine „der Wirklichkeit nicht entsprechende Vereinfachung“ bezeichnet hatten.92 Häufig kamen auch offen sozialdemokratische Ansichten an die Oberfläche. Ein Bericht aus Erfurt vom Juni 1958 kritisierte die lokalen Broschüren für „eine historisch unwahre revisionistische Darstellung des Kampfes der Erfurter Arbeiter gegen den Faschismus“. Der Verfasser gebe „keine prinzipielle Einschätzung der opportunistischen Politik der rechten SPD-Führer, sondern beschönigt deren Verrat, während er einzelne Fehler, die die KPD in der Durchführung ihrer grundsätzlich richtigen Klassenpolitik beging, maßlos übertreibt. So muss beim Leser der Eindruck entstehen, dass SPD und KPD in gleichem Maße die Schuld an der Errichtung der Diktatur 1933 tragen.“ Auch die Publikation über den Kapp-Putsch in Erfurt gebe „keine richtige Charakterisierung der Weimarer Republik und keine prinzipielle Kritik der opportunistischen Politik der rechten SPD-Führung und der zentristischen USPD“.93 Die örtlichen Darstellungen haben oft die „Fehler der SPD-Führung“ relativiert und entschuldigt, ihre Spaltungspolitik nicht als „arbeiterfeindliche Politik“ eingeschätzt: „Im Diskussionsbeitrag der Genossin Glasmeier auf der Kreiskonferenz der Arbeiterveteranen in Strausberg“, schrieb ein IML-Gutachten über die Broschüre aus Frankfurt/Oder von 1961, „heißt es auf S. 97, dass Fehler der SPD ‚aber niemals bewusst geschehen sind, sondern sich erst später als Fehler herausstellten und an denen zum größten Teil die Uneinigkeit der Arbeiterklasse schuld war.‘ Mit einer solchen Formulierung wird die Hauptverantwortung der rechten SPD-Führer für die Spaltung der Arbeiterklasse völlig außer Acht gelassen.“94 Die IML-Zensoren kritisieren „die ungenügende Behandlung der Vereinigung, der 91 92 93 94

SAPMO, DY 30/IV 2/9.07/120, Vom gegenwärtigen Stand der Arbeit der Bezirkskommissionen, Februar 1957, Bl. 11–22. SAPMO, DY 30/IV 2/9.07/120, IML an SED-Kreisleitung Wismar,10.6.1958, Bl. 208. SAPMO, DY 30/IV 2/9.07/120, Politsch-ideologische Fehler in den Publikationen zur Geschichte der örtlichen Arbeiterbewegung, Juni 1958, Bl. 213–214. SAPMO, DY 30/IV A2/9.07/386, Bemerkungen zur Broschüre „Der Weg zur Einheit“, 22.5.1961, unpag.

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KPD, des Verrats der Rechten SPD-Führer“. Die Broschüren haben oft „ungenügend differenziert zwischen den rechten Führern und der großen Masse der ehrlichen Mitglieder“. Unerwünscht war aber auch, wenn die Kritik an den „rechten Führern“ zu weit ging. Wenn dem „Verrat der Rechten SPD-Führung“ zu viel Platz eingeräumt wird, könne der Leser den Eindruck gewinnen, „der Hauptstoß geht gegen die SPD und nicht gegen den Imperialismus und Militarismus“. Aber die Schlussfolgerungen des Zensoren waren meistens versöhnlich, auf ein künftiges harmonisches Identitätsnarrativ orientiert, das auf dem Lernen aus den Fehlern der Vergangenheit aufbauen sollte: „Wir wollen nicht alte Sünden aufrühren,“ hieß es im Gutachten einer Leipziger Broschüre über die Oktoberrevolution, „aber die Genossen müssen sich heute vollkommen im Klaren darüber sein, dass die KPD und nicht die SPD richtig und marxistisch-leninistisch orientierte.“95 Die Unterscheidung zwischen Führung und Basis war für die poststalinistische Einschätzung der SPD fundamental, denn sie markierte die Grenze, hinter welcher die Fakten zwar nicht gefälscht, aber auf jeden Fall bewusst herausgelassen oder beschönigt werden sollten. Das IML-Gutachten zu einer Leipziger Broschüre von 1958 benannte ausdrücklich diese Notwendigkeit, die „geschichtliche Schuld“ eindeutig zu lokalisieren: Die von Euch kritisierten Mängel müssten bei einer Neuauflage der Broschüre beseitigt und die politische Lebendigkeit durch die neu gesammelten konkreten Fakten verstärkt werden. Nicht zu empfehlen ist „das unrichtige Verhalten der örtlichen SPD-Genossen 32/33“ zu schildern. Hervorheben muss man dagegen unbedingt die geschichtliche Schuld der rechten sozialdemokratischen Führer, die die Arbeiterklasse gespalten haben und durch ihre Ablehnung der Aktionseinheit mit der KPD gegen den Faschismus die Errichtung der faschistischen Diktatur erst ermöglichten.96

Solche Kritik zeigt, dass sich die Autoren aus der Parteibasis dagegen sträubten, klare Freund-Feind-Linien zu ziehen. Oft kamen Geschichtsdarstellungen vor, die „keine prinzipielle Charakterisierung und Kritik der Politik der SPD“ enthielten, während die „Fehler in der Politik der KPD besonders hervorgehoben und ihr dabei sogar Fehler, die sie nie begangen hat, untergeschoben werden“.97 Das beharrliche Streben nach „vollkommener Klarheit“ und das endlose Aushandeln eines „endgültigen Geschichtsbildes“ als die Quintessenz der poststalinistischen Utopie zeigt sich exemplarisch in der Auseinandersetzung über die „Erscheinungen des Sozialdemokratismus“, die Ende der fünfziger Jahre in der Kreisstadt Bernburg (Sachsen-Anhalt) ausgetragen wurde. Bernburg galt vor dem Krieg 95 96 97

SAPMO DY 30/IV 2/9.07/228, Bezirkskommission Leipzig an IML, 12.12.1957, unpag. SAPMO, DY 30/IV 2/9.07/120, IML an SED-Bezirksleitung Leipzig, 29.9.1958, Bl. 264. SAPMO, DY 30/IV 2/9.07/120, IML an Zentralhaus der Einheit, 13.5.1958, Bl. 285.

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als eine SPD-Hochburg mit Wahlergebnissen bis zu vierzig Prozent, während die KPD nur bei zehn Prozent lag. Deshalb bemühte sich die SED-Kreisleitung, die starke sozialdemokratische Tradition in die „richtige Bahn“ zu lenken. In den Diskussionen um die Novemberrevolution im Jubiläumsjahr 1958 wurden die „Rechten SPD-Führer“ besonders häufig als „Feinde“ dargestellt. Problematisch wurde diese Sicht allerdings dann, wenn sich nicht nur die sozialdemokratische Führung, sondern auch die „Massen“ als durchaus „reformistisch“ herausstellten. So berichtete der lokale Parteihistoriker Wilhelm Trebing an die Bezirksleitung Halle im Mai 1958 lakonisch darüber, dass 1919 in Bernburg kein Streik stattfand, dass Anhalt die „Hochburg des Reformismus von ganz Deutschland“ war und „die revolutionäre Arbeiterbewegung in Bernburg und Anhalt sich damals noch nicht mit den ersten Schritten herumplagte“.98 Entsprechend „reformistisch“ sah auch die historiographische Produktion der Bernburger SED aus. Unter den „SED-Veteranen“ befanden sich fast nur ehemalige SPD-Mitglieder. Die Bezirksgenossen beklagten die „Unklarheiten“ in den Erinnerungsbroschüren aus Bernburg, deren Autoren ausschließlich die „rechtesten Reformisten“ waren. Die Art, wie die kommunistischen Propagandisten mit den ehemaligen SPDMitgliedern umgingen, zeigt der Briefwechsel zwischen dem Vorsitzenden der Bernburger Geschichtskommission und dem ehemaligen SPD-Mitglied Bruno Böttge: „Deine Ausführungen“, schreibt der Vorsitzende Trebing, „finde ich etwas komisch und abgehackt. Du schreibst zum Beispiel, dass Du 1919 Landessekretär der USPD in Anhalt warst und dann hört es auf. In dieser Zeit hast Du doch sehr viel erlebt bis zum Vereinigungsparteitag und darüber hinaus.“99 Die Arbeit an der gemeinsamen Geschichte betrachteten die SED-Propagandisten als sehr problematisch: Der Bernburger Kreis sei von der „opportunistischen SPD“ beherrscht worden; zugleich wurden aber die KPD-Mitglieder in die Feindschaftserzählung mit hineingezogen, die in der mehrheitlich sozialdemokratischen Gegend als „Sektierer“ galten. Die Konferenzen mit „Genossen“ aus den beiden Parteien erzielten 98 99

LHASA, MER, SED-Kreisleitung Bernburg, IV/403/381, Kreiskommission an Bezirkskommission Halle, 20.5.1958, Bl. 99. LHASA, MER, SED-Kreisleitung Bernburg, IV/403/381, Trebing an Böttge, 19.10.1958, Bl. 43–45. Bruno Böttge (1891–1967) repräsentiert ein verwickeltes sozialdemokratisches Schicksal in der SED. Nach der Zwangsvereinigung mit der KPD war er der Vorsitzende der SED in Sachsen-Anhalt und Präsident des Landtages. Wegen angeblicher Unregelmäßigkeiten in den Parteifinanzen legte er 1948 seine Funktionen nieder. 1949 aus der SED ausgeschlossen, 1954 verhaftet und zu acht Jahren Gefängnis wegen „Vergehens gegen die Kontrollratsdirektive“ verurteilt. Nach der Amnestie 1956 wurde er wieder in die SED aufgenommen und arbeitete als Instrukteur des FDGB. Vgl. Artikel „Böttge, Bruno“, in: Hermann Weber/Andreas Herbst (Hg.), Deutsche Kommunisten. Biographisches Handbuch 1918 bis 1945, Berlin 2008, S. 130f.

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keinen Erfolg.100 Bezeichnenderweise war auch der Vorsitzende der Geschichtskommission Trebing selbst ein ehemaliges USPD-Mitglied, bevor er 1920 der KPD beitrat. Den ehemaligen Sozialdemokraten wurde zwar vorgeworfen, ihre Vergangenheit in den Erlebnisberichten verharmlost zu haben, die SED-Funktionäre gingen aber nur selten in eine offene Konfrontation. Vielmehr hatten sie eine gemeinsame Verarbeitung der schwierigen Vergangenheit zu bewerkstelligen. Die SED-Leitung von Suhl kritisierte 1961 ein ehemaliges SPD-Mitglied, das sich „ungenügend mit dem Sozialdemokratismus“ auseinandergesetzt habe. „Als ehemaliger Sozialdemokrat hätte er der Partei damit einen großen Dienst erweisen können. Genosse Wagner entwickelt nicht den äußerst komplizierten Prozess der Vereinigung. Er schildert den äußeren Ablauf. Der Kampf um die Vereinigung erschient bei ihm als ein Spaziergang.“101 Die SED-Gutachter rügten die ungenügende „Selbstreinigung“ bei den Sozialdemokraten, die die historische Öffnung von 1956 „falsch“ verstanden hätten als Gelegenheit, die sozialdemokratische Tradition innerhalb der SED autonomer zu machen. Die Folge war eine Dekade der Auseinandersetzungen, die den Status der Sozialdemokraten in der Feindschaftserzählung der Partei verwandelten: Vom dämonisierten enemy wurden sie zum akzeptierten adversary. Die historischen Konflikte mit der SPD und ihren „rechten Führern“ boten sich als eine Übung für die gegenwärtige Kritik der westdeutschen SPD. Der unmittelbare Gegenwartsbezug auf Westdeutschland erwies sich letztlich als wirksamer als die faden Diskussionen über die Geschichte der Arbeiterbewegung. Die Versuche der SED-Propagandisten, direkte historische Parallelen zur westdeutschen SPD zu ziehen, schlugen aber oft fehl. Sie bemühten sich beispielsweise, die gegenwärtige Rivalität mit der SPD als eine Fortsetzung der Gegnerschaft zwischen Marx und Lassalle darzustellen. Lassalle sollte als der Vorläufer der „rechten Führer“ der gegenwärtigen SPD erscheinen. Dies war jedoch fragwürdig, denn die gleichzeitig betonte Spaltung zwischen der „Führung“ und „Masse“ ließ sich mit Lassalle, dem Gründer der ersten sozialistischen Massenbewegung, nur schwer in Einklang bringen. Ähnlich scheiterten Darstellungen, laut welchen um Lassalle ein Personenkult entstanden sei.102 Die Opposition von Marx und Lassalle blieb als eine grundsätzliche Identitätsdifferenz in der SED erhalten, sie musste aber in der Parteiöffentlichkeit verhandelt, immer wieder „erklärt“ werden: „Auseinanderset100 LHASA, MER, SED-Kreisleitung Bernburg, IV/403/382, Tätigkeitsbericht 1957, Bl. 34– 35. 101 SAPMO, DY 30/IV A2/9.07/396, Bemerkungen zur Broschüre „Unter dem Banner der Arbeiterklasse“, Juni 1961, unpag. 102 SAPMO, DY 30/IV A 9.03/55, Parteilehrjahr Oberschule Rostock, 13.12.1965, unpag.

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zungen gab es“, schlussfolgerte der Bericht über das Parteilehrjahr in Rosslau von 1966, „in der Grundorganisation VEB DHW Rodleben über folgende Meinungen: ‚Die SPD hat vor drei Jahren ihren 100. Geburtstag zu Recht gefeiert‘. Den Genossen wurde aber dann in der Aussprache nachgewiesen, dass die Anfänge der Deutschen Arbeiterklasse nicht bei Lassalle, sondern bei Marx liegen.“103 Zwar wurde die SPD aus der Feindschaftserzählung offiziell ausgeklammert, man sprach nicht mehr von der „Verräterpartei“. Zugleich betonte man jedoch den Kampf gegen die „feindliche SPD-Ideologie“ und die „feindlichen SPD-Führer“. Unklar war den SED-Mitgliedern allerdings, wie ein Teilnehmer des Parteilehrjahres in Rostock 1965 fragte, „worin sich die Widersprüche zwischen Führung und Mitgliedschaft zeigen“.104 Die Unklarheit speiste sich aus dem Nebeneinander von durchaus widersprüchlichen Begriffen wie „Kampf“ und „Koexistenz“, was für die poststalinistische Ideologiesprache charakteristisch war: „Wie sind die Angebote unserer Partei für einen Verständigungs-Frieden mit der SPD in Einklang zu bringen mit der Forderung: keine Koexistenz auf ideologischem Gebiet?“105 Auf der einen Seite konnte man die „verräterische Rolle“ der SPD-Führung“ anprangern, die „keine Schlussfolgerungen aus der Vergangenheit gezogen hat“, so dass sich die Frage stellte, ob die SPD „überhaupt noch eine Arbeiterpartei ist“; andererseits hinterfragten die Parteimitglieder immer wieder die Unterscheidung von Führung und Parteimassen als realitätsfern und unlogisch. In Hohenmölsen fragte ein Genosse, „warum lässt sich die Arbeiterklasse und die fortschrittlichen Kräfte Westdeutschlands von der CDU und von der Führung der SPD an der Nase herumführen?“106 Auf der Parteischulung in Magdeburg im Juni 1960 tauchte unter den Unklarheiten die Frage auf, „ob man innerhalb der SPD-Führung überhaupt noch differenzieren könne, da Ollenhauer genauso ein Schweinehund wäre wie die anderen“.107 Die endgültige Entfernung der SPD aus der kommunistischen Feindschaftserzählung zeigte sich schließlich anhand der Diskussionen zum „Briefwechsel“ zwischen der SED und der SPD von 1966. Hier war die Einstellung ausschlaggebend, dass durch die Diskussion mit der SPD-Mitgliedschaft auch die SPD-Führung überzeugt werden kann, die sich „nach und nach in einigen Fragen korrigie103 LHASA, MER, SED-Bezirksleitung Halle, IV/A-2/9/01/78, Einschätzung vom Parteilehrjahr 1966–1967, 30.11.1966, unpag. 104 SAPMO, DY 30/IV A 2/9.03/55, Bericht über die Teilnahme an einem Zirkel des Parteilehrjahres an der Oberschule „Rosa Luxemburg“, 13.12.1965, unpag. 105 Ebenda. 106 LHASA, MER, SED-Bezirksleitung Halle, IV/A-2/9/01/61, Einschätzung des Parteilehrjahres 1963, 10.12.1963, Bl. 176. 107 SAPMO, DY 30/IV 2/9.02/46, Aktennotiz des IML, 8.6.1960, Bl. 24.

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ren muss“.108 Gleichzeitig herrschte aber über den „Offenen Brief“ an der SEDBasis Skepsis. Die Initiative wurde von den Parteimitgliedern als „taktisches Manöver“ aufgrund der früheren klar feindlichen Einstellungen der SED zur SPD wahrgenommen; die Wende wurde nicht verstanden. „Dogmatische Auffassungen und das wiederum besonders unter Geschichtslehrern“, hieß es im Bericht über die Diskussion zum achtbändigen „Geschichtswerk“, „zeigten sich bei der Einschätzung der SPD. Das drückte sich u. a. darin aus, dass einige Genossen eine generelle Wertung der SPD, die für alle Perioden der Geschichte Gültigkeit hat, verlangten, um, wie sie sagten, den Schülern eine eindeutige Antwort geben zu können. Mehrfach trat die Meinung auf, die SPD könne nicht als Arbeiterpartei bezeichnet werden.“109 Der Bericht der Propaganda-Abteilung Halle vom April 1964 stellte fest, in der Reaktion auf den Briefwechsel gab es „breite positive Meinungen“, aber auch „Tendenzen zum Sektierertum und den Pessimismus“, „Unverständnis für taktische Maßnahmen“, „Illusionen“ und „unklare Auffassungen“. Diese Meinungsvielfalt zeigt, dass selbst diejenigen, die die ideologische Einheit der Parteireihen zu schmieden hatten, „ideologisch schwankten“. Sicher war nur, dass der „ideologische Meinungsstreit“ sowie der „ideologische Klärungsprozess“ bezüglich der SPD in Gegenwart und Vergangenheit „fortgesetzt werden muss“. Die SED-Propagandisten waren entschlossen, sich mit diesen Fragen weiter auseinanderzusetzen. Zum Beispiel mit jener, die im „ideologischen Meinungsstreit“ in der Kreisleitung Merseburg im Juni 1965 gestellt wurde, „wieso die SPD bei den letzten Kommunalwahlen so großen Stimmengewinn errang, während wir sagen, dass die rechte SPD-Führung kein Vertrauen in der breiten Mitgliedschaft hatte?“110

Das Feindbild des Zionismus Wie im Dritten Kapitel gezeigt, überlagerten sich in der Denkwelt europäischer Kommunisten nach 1956 identitätsstiftende Bezüge zu Klasse und Nation. Und kaum woanders war diese Wechselwirkung so komplex und tragisch wie im Falle der Kommunisten jüdischer Herkunft. Sie figurierten in fast allen nationalen Feindschaftserzählungen, und gerade in Mittel- und Osteuropa gestalteten sie sich 108 LHASA, MER, SED-Bezirksleitung Halle, IV/A-2/9/01/77, Bericht über das Parteilehrjahr 1965–1966 in Quedlinburg, 1.6.1966, unpag. 109 SAPMO, DY 30/IV A2/9.07/252, Information über einige ideologische Probleme, 4.4.1966, unpag. 110 LHASA, MER, SED-Bezirksleitung Halle, IV/A-2/9/01/72, Bericht der SED-Kreisleitung Merseburg, 1.6.1965, Bl. 154.

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radikal aus.111 Obwohl sich die kommunistischen Bewegungen von Anfang an offiziell bemühten, den Antisemitismus zu bekämpfen und tatsächlich viele Juden den kommunistischen Parteien beitraten, kamen das (verborgene) Feindbild des „Juden“ und verwandte Bezeichnungen (vor allem die „Zionisten“) in den kommunistischen Feindschaftserzählungen wiederholt vor. Nach 1956 verloren zwar die jüdischen Feindbilder („Zionismus“) ihre Eindeutigkeit, indem sie durch eine neue Unübersichtlichkeit und den Aufstieg neuer Feindbilder wie „Revisionismus“ und „Dogmatismus“ unterhöhlt wurden. Es kam aber auch vor, dass die Eindeutigkeit der Hasspropaganda erschreckend wirksam wiederhergestellt wurde, am stärksten während der „Antizionismus-Kampagne“ im Jahr 1968 in Polen. Tatsächlich stellen die polnischen Ereignisse von 1968 wegen ihrer antisemitischen Züge den Mittelpunkt der meisten historiografischen Betrachtungen der Juden als kommunistisches Feindbild dar. Ich will hier allerdings nicht die Frage diskutieren, ob die kommunistischen Diktaturen in gewissen Perioden „antisemitische“ Politik betrieben oder nicht. Sicherlich lässt sich in den Parteien ein breites Spektrum von Haltungen den Juden gegenüber aufdecken – von Zionisten über diejenigen, die die „Antizionismus-Karte“ zynisch ausspielten, bis zu überzeugten Antisemiten. „Juden“ oder „Zionisten“ hatten hauptsächlich deshalb eine bedeutende Rolle gespielt, weil sie sowohl als äußere (in Verbindungen mit äußeren Mächten, v. a. USA und Israel, aber auch Westdeutschland) als auch innere Feinde und Verräter funktionalisiert werden konnten. Dieses Unterkapitel versucht die Vielfalt der kommunistischen Einstellungen zu den Juden nach 1956 zu rekonstruieren, von Konkurrenz über Antagonismus bis zur Dämonisierung, und fragt nach den Folgen dieser Zersplitterung für die poststalinistische Sinnwelt. Der Nationalsozialismus und der Holocaust kompromittierten zwar den Antisemitismus in Europa als Ideologie und politisches Programm. Er verschwand aber keineswegs. Das jüdische Leiden wurde im Nachkriegseuropa – auch von den Kommunisten – kleingeredet, wenn nicht gar verschwiegen. Zum Beispiel vermied man im offiziellen Sprachgebrauch explizite Verweise auf den Judenmord und verwendete stattdessen abstrakte Ausdrücke wie „Vernichtung“, die sich ebenso leicht auf die nicht-jüdische Bevölkerung übertragen ließen.112 Besonders in Polen 111 Siehe Jaff Schatz, The Generation. The Rise and Fall of the Jewish Communists of Poland, Berkeley 1991; Agnieszka Pufelska, Die „Judäo-Kommune“: Ein Feindbild in Polen. Das polnische Selbstverständnis im Schatten des Antisemitismus 1939–1948, Paderborn 2007; Norbert Kapferer, Das Feindbild „Zionismus” in der marxistisch-leninistischen Ideologie. Eine kommunistische Variante des Antisemitismus?, in: Satjukow/Gries, Unsere Feinde, S. 299–319. 112 Pufelska, „Judäo-Kommune“, S. 208.

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bildete sich eine Opferkonkurrenz heraus – das Gefühl, dass das Leiden des „eigenen Volkes“ durch die übertriebene Hervorhebung des Judenmordes relativiert und geschmälert sei.113 Eine Vielfalt an Haltungen und Motivationen war vorhanden, die die judenfeindlichen Handlungen in der Nachkriegszeit – Pogrome und die Verfolgung von Juden gab es in Polen, der Ukraine, der Slowakei, Ungarn, Rumänien und anderen Ländern – vorantrieben: Die Nachwirkungen der NSPropaganda, der einheimische „traditionelle“ Antisemitismus wie auch wirtschaftliche Motive (Übernahme des jüdischen Eigentums und Plünderung).114 Wie Alina Cała, Agnieszka Pufelska und Paweł Śpiewak zeigten, schlug sich das Fortbestehen des Antisemitismus im Verhältnis zum Kommunismus im Wiederbeleben des Schlagworts Judäo-Kommune nieder, das heißt in der Vorstellung, dass die Kommunisten meistens Juden waren und umgekehrt.115 Mit dem Aufstieg des Stalinismus gewann dieses Stereotyp an Stärke, teilweise durch die prominente Sichtbarkeit vieler Juden in leitenden Posten des Staats- und Parteiapparates: Berman in Polen, Slánský in der Tschechoslowakei, Pauker in Rumänien, Rákosi in Ungarn. In Polen war die Überzeugung weit verbreitet, Juden seien Agenten der Staatssicherheit und verantwortlich für die sowjetische Besatzung.116 Die stalinistischen Führer prangerten zunächst den Antisemitismus an. Gegen Ende der Stalin-Herrschaft änderte sich die Situation jedoch dramatisch – sowohl von außen infolge der Veränderung der Position Israels und der folgenden Kritik am „Zionismus“, als auch von innen, infolge der spätstalinistischen Kampagnen gegen den „bürgerlichen Nationalismus“ und der von Stalin initiierten „Ärzte-Verschwörung“ von 1953. Die spätstalinistischen Feindschaftserzählungen, wie jene, die den Prager Slánský-Prozess von 1952 umrahmten, zogen antisemitische Motive heran und schufen neue feindschaftsorientierte Wortverbindungen wie „trotzkistisch-titoistische Bande“, „internationale jüdische bürgerlich-nationalistische Organisation Joint“ oder „reaktionäre bürgerlich-nationalistische jüdische Bewegung“.117 Antisemitische Konnotationen trugen auch solche Schlagworte wie 113 Alina Cała, Żyd – wróg odwieczny? Antysemityzm w Polsce i jego źródła, Warszawa 2012, S. 453; vgl. Michael, Holger, Zwischen Davidstern und Roter Fahne. Die Juden in Polen im XX. Jahrhundert, Berlin 2007. 114 Pufelska, „Judäo-Kommune“, S. 202ff.; Cała, Żyd – wróg odwieczny, S. 454; zum Nachkriegsantisemitismus in Frankreich Anne Grynberg, Des signes de résurgence de l’antisémitisme dans la France de l’après-guerre (1945–1953), in: Les Cahiers de la Shoah 5, 2001, S. 171–223. 115 Dariusz Stola, Kampania antysyjonistyczna w Polsce 1967–1968, Warszawa 2000. 116 Paweł Śpiewak, Żydokomuna. Interpretacje historyczne, Warszawa 2012, S. 191 und 203; Pufelska, „Judäo-Kommune“, S. 207. 117 Cała, Żyd – wróg odwieczny, S. 477f.; Iván T. Berend, Central and Eastern Europe, 1944– 1993, Cambridge 1996, S. 66–71.

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„Verrat“, „Spionage“, „Verschwörung“ und „Diversion“. Im Zentralorgan der tschechoslowakischen Kommunisten Rudé právo hieß es während des SlánskýProzesses: Zionistische Diplomaten des bürgerlichen Staates Israel […] wurden Spione im Dienste amerikanischer Imperialisten, die durch ihre Vermittlung in unserer Republik eine Reihe von Sabotageaktionen durchgeführt und uns enorme Schäden zugefügt haben. Durch die Vermittlung von Zionisten war eine Bande von Verschwörern in unserem Land direkt mit den amerikanischen Imperialisten verbunden, die mit ihrer Hilfe verbrecherische, hinterlistige, antistaatliche und Spionagetätigkeiten durchgeführt haben.118

Derartige Kampagnen, die sich aus dem Stereotyp der Judäo-Kommune speisten, erreichten eine breite Wirkung. Sie stärkten den national-konservativen Flügel der Stalinisten, denen vor allem die „Kosmopoliten“ unter der Intelligenz ein Dorn im Auge waren.119 Wichtig war auch der Generationsaspekt, denn viele der radikalsten und dogmatischsten Stalinisten rekrutierten sich aus der jüdischen Jugend.120 Iván T. Berend beschrieb die spätstalinistische Wende zum Antisemitismus folgendermaßen: Jewish overrepresentation […] enabled Stalin to build a base for recruiting loyal followers before and after the seizure of power. In the early 1950s, however, this overrepresentation became an obstacle, and contributed to undermining legitimizing efforts. On the other hand, it also offered a clear opportunity for Stalin and Beria. The extermination of a Jewishimperialist enemy in these countries, where anti-Semitism was deeply rooted, could help legitimizing regimes. Sacrificing Jewish communists was intended to prove that all the existing troubles, errors and crimes were not a consequence of imported Soviet communism, but of Jewish leadership.121

1956 kam es im Verhältnis der kommunistischen Parteien zu den Juden im doppelten Sinne zu einem Umbruch. Zwar wurden die von oben gesteuerten, antiimperialistischen Kampagnen eingestellt; zugleich öffnete sich jedoch ein neuer Raum für die Überreste der antizionistischen Feindschaftserzählungen: Die Stalinismus-Kritik konnte mit „antizionistischen“ Spitzen durchsetzt werden (eben wegen der Juden im Sicherheitsapparat wie Slánský und Berman); aber genauso konnte die neue konservative Kritik die Angriffe auf Revisionisten mit antizionistischen Untertönen flankieren. 118 Cała, Żyd – wróg odwieczny, S. 478. 119 Repräsentativ hierfür ist der Konflikt in der tschechoslowakischen Kulturpolitik zwischen dem nationalorientierten Kopecký und dem Radikalstalinisten Gustav Bareš, vgl. Alexej Kusák, Kultura a politika v Československu, Praha 1998, S. 229–377. 120 Śpiewak, Żydokomuna, S. 208f. 121 Berend, Central and Eastern Europe, S. 71.

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Auf der obersten Ebene des Ideologiediskurses spielten die jüdische Frage und der Antizionismus jedoch zunächst keine große Rolle. Chruschtschow erwähnte in seiner Geheimrede den Zionismus und Stalins antisemitische Kampagnen gar nicht. Zwar bezog er sich auf die Ärzte-Verschwörung, erwähnte aber nicht die antisemitische Dimension dieser Kampagne. Außer Acht blieben auch die Säuberungen von 1951, denen viele jüdische Kommunisten zum Opfer fielen. Das Thema Antisemitismus war ebenso in Gomułkas Oktober-Rede von 1956 abwesend: Auch wenn im polnischen Stalinismus das Stichwort „jüdische Karte“ oft verwendet wurde und seit Frühling 1956 erste „Erscheinungen des Antisemitismus“ in Polen vorkamen, bezog sich Gomułka auf den Antisemitismus überhaupt nicht.122 Bereits zu dieser Zeit verfestigten sich jedoch in der Partei die antisemitischen Tendenzen, vor allem im Zusammenhang mit der Resignation des Politbüromitglieds und des Chefs der Staatssicherheit Jakub Berman, der als ein typischer Repräsentant der „Judäo-Kommune“ galt.123 Die Idee der żydokomuna verbreitete sich zusammen mit der wachsenden Kritik an den stalinistischen „Übergriffen“ der Sicherheitsorgane. Die offiziellen Stellungnahmen der PZPR lehnten jedoch stets alle Ausdrücke des Antisemitismus scharf ab.124 Die anderen Ostblockländer folgten einem ähnlichen Muster. In der SED wurde „Antizionismus“ zu keinem großen Thema. Zum Beispiel spielte die Rehabilitierung des 1953 als „Agent des Zionismus“ verurteilten Paul Merker nach 1956 kaum eine Rolle.125 In der Tschechoslowakei warfen der Slánský-Prozess und die antizionistische Kampagne von 1952 einen langen Schatten auf die Position der Kommunisten jüdischer Herkunft. Die Novotný-Führung lehnte im Frühjahr 1956 Slánskýs Rehabilitierung ab und machte ihn für die stalinistischen „Übergriffe“ als „Berija-Agent“ verantwortlich.126 Den Antisemitismus der SlánskýKampagne ließ die Partei unerwähnt. Im Gegenteil, die „antizionistische“ Feindschaftserzählung gewann infolge der Ereignisse in Ungarn an Stärke, wo die antistalinistische Revolte, die Sichtbarkeit der Juden in der Parteiführung und im Staatsapparat ausnutzend, auch antisemitische Züge trug. In den Bruderparteien wurden die antisemitischen Aspekte des Ungarn-Aufstands nicht offiziell kritisiert – man sprach von „Faschisten“ aber nicht etwa „Antisemiten“ – doch die 122 Cała, Żyd – wróg odwieczny, S. 479. 123 Zu Berman siehe Anna Sobór-Świderska, Jakub Berman. Biografia komunisty, Warszawa 2009; Teresa Torańska, Die da oben. Polnische Stalinisten zum Sprechen gebracht, Köln 1987, S. 167–379. 124 Cała, Żyd – wróg odwieczny, S. 481. 125 Vgl. Klein, Einheit und Reinheit, zu Merkers Prozess S. 160–163, zu seiner Rehabilitierung S. 256–259 und 272ff. 126 Slánský wurde erst 1968 rehabilitiert.

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Führungen mussten auf die antisemitischen Äußerungen im lokalen Raum reagieren. Trotz der offiziellen Verurteilung des Antisemitismus – in Polen durch Gomułka Ende 1956 und Anfang 1957 – tauchten tatsächlich während des gesellschaftlichen Aufruhrs neben den von oben gesteuerten „antizionistischen“ Losungen auch eigensinnige Äußerungen auf, die sich auf die „Juden“ bezogen oder gar judenfeindlich waren.127 „Antijüdische Ressentiments“ während des Jahres 1956 wurden im lokalen Raum oft gemeldet, vor allem in Niederschlesien, wo viele Juden nach 1945 angesiedelt wurden.128 Es handelte sich sowohl um verbale als auch physische Angriffe, Drohungen, Entlassungen, die die Opfer dazu bringen sollten, Polen zu verlassen. Die Parteistellen verurteilten diese Vorfälle auf allen Ebenen scharf.129 In der Partei wurde „die jüdische Frage“ zum häufig in den Versammlungen diskutierten Thema, das auf den offiziellen Tagungsprogrammen stand. Was für eine Bedeutung hatten aber diese Debatten für die poststalinistische Denkordnung? Einige Forscher haben argumentiert, dass der Aufschwung des „Antizionismus“, vor allem im Polen der späten sechziger Jahre, eine Wiederbelebung des „traditionellen“ (Alina Cała) oder stalinistischen Antisemitismus (Dariusz Stola) war. Ging es tatsächlich nur darum, dass die „Antisemiten“ nach 1956 einfach keine Angst mehr hatten und ihren im Stalinismus unterdrückten Ressentiments freien Lauf ließen?130 Nach 1956 war der Begriff des Antisemitismus als Mittel der Kritik in der Partei durchaus verbreitet. 1957 hat die PZPR-Führung den Antisemitismus mehrmals ausdrücklich verurteilt, zum Beispiel in der Direktive des Sekretariates vom November 1957: „Es kann in der Partei keinen Platz für Leute geben, die nationalistische, chauvinistische und antisemitische Ansichten verkünden und sich gegen Menschen aufgrund ihrer Herkunft wenden.“131 Sogar die Konservativen in der Partei bedienten sich der Kritik des Antisemitismus, gleichwohl sie die „Überrepräsentation“ der Juden in der Parteiführung und im Sicherheitsapparat während der Stalinzeit für den „Antisemitismus im Lande“ verantwortlich machten.132 Aber wie Paweł Śpiewak bemerkte, wurde nach 1956 die Bekämpfung des Antisemitismus allgemein zum Lackmustest für die Wertorientierung des kommunistischen Systems. Umso größer musste der Schock der Jahre 1967 und 1968 gewesen sein, als große Segmente der Partei, einschließlich eines Teiles der Führung, 127 128 129 130 131 132

Śpiewak, Żydokomuna, S. 221. Vgl. Bożena Szaynok, Ludność żydowska na Dolnym Śląsku 1945–1950, Wrocław 2000. Śpiewak, Żydokomuna, S. 223; Cała, Żyd – wróg odwieczny, S. 479. Gespräch mit Feliks Tych am 27.3.2009. Zaremba, Im nationalen Gewande, S. 268. Śpiewak, Żydokomuna, S. 222.

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mit der internationalistischen Tradition der polnischen Arbeiterbewegung brachen.133 Als ein Beispiel des Umgangs mit der jüdischen Frage lässt sich die Debatte des Parteiaktivs in Katowice vom Herbst 1956 anführen. In einer für diese Zeit typischen Argumentationsweise stellten die Redner den Antisemitismus neben andere feindliche Erscheinungen wie den Nationalismus und den Revisionismus. Sie betrachteten antisemitische Äußerungen als eine „feindliche Tätigkeit“. Manche Beiträge hoben die Tradition jüdischer Kommunisten hervor, die als „alte Kommunisten“ oder „jüdische Polen“ bezeichnet wurden, die der polnischen revolutionären Tradition zugehören.134 Erinnert wurde unter anderem an den Aufstand im Warschauer Ghetto (1943) und weitere Beispiele des „gemeinsamen Kampfes“ von Juden und Polen. Ein internationalistischer Ton prägte die Diskussion: „Die jüdischen Kommunisten auf der ganzen Welt vereinigen sich mit den Kommunisten aus ihren Ländern gegen die Kapitalisten aus ihrem Land, in dieser Anzahl gegen jüdische Kapitalisten. Das ist die Linie der Aufteilung“, hieß es in einem Beitrag.135 Man verurteilte den Antisemitismus als „reaktionär“: Mit dem Verweis auf „die Juden“ haben die Reaktionäre – angeführt von der „Berija-Bande“ – eigentlich die Sowjetunion und die kommunistische Bewegung als solche gemeint: „Die lange Erfahrung der Arbeiterbewegung lehrt, dass dort, wo man die Juden sucht, dort sucht man keine fortschrittliche Revolutionsbewegung“, andere sprachen von „nicht schön riechenden Aspekten der jüdischen Frage.“136 So sehr jedoch der Antisemitismus als Feindbild auftrat, so wurde er gleichzeitig als eine Randerscheinung kleingeredet. Er sei nur ein „kleines Fragment“ in der Partei, eine „Handvoll Menschen“, die auf dem VII. Plenum „die jüdische Karte zu spielen versuchte“, schlussfolgerte einer der Diskutierenden in Katowice.137 Die meisten Redner stellten den Antisemitismus – immer im Rahmen des anti-imperialistischen Internationalismus-Diskurses – auf die gleiche Ebene mit dem Antizionismus. Damit wurde zwar der Antisemitismus im Lager des Feindes 133 Ebenda, S. 227. 134 AAN, KC PZPR, 237/VII-2953, KW PZPR Katowice, Plenarsitzung 12.–13.10.1956, Bl. 85: „Das ganze Aktiv in unserem Bezirk distanziert und isoliert sich deutlich von den antisemitischen Stimmungen. Man kann doch, Genossen, die Hölle nicht vergessen, durch die das jüdische Volk unter Hitler ging. Wir kennen doch viele alte jüdische Kommunisten, die in Gefängnissen saßen und starben, die ohne Zögern ihr Leben für unsere Sache, für die nationale und soziale Befreiung des polnischen Volkes opferten.“ 135 Ebenda, Bl. 107. 136 Ebenda, Bl. 265. 137 Ebenda, Bl. 108: „Die Handvoll Menschen, die auf dem 8. Parteitag den Versuch unternommen hatten, diesen Prozess zu hemmen, versuchten dann, als sie gegen Ende der Versammlung ihren Bankrott einsahen, das jüdische Argument zu instrumentalisieren.“

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verortet, zugleich jedoch auch seiner Autonomie als selbstständige Gefahr beraubt. Der Antisemitismus war daher nicht nur ein Aspekt der breit aufgefächerten „antisowjetischen Ansichten“, sondern auch das Ergebnis der gegenwärtigen „Desorientierung“ und somit keine historisch tief verwurzelte Erscheinung.138 Trotzdem bezogen sich viele Beiträge nicht nur auf die jüdische Frage, sondern ausdrücklich auch auf den – historisch konnotierten – Antisemitismus: „Warum gibt es und warum verbreitet sich der Antisemitismus in der Sowjetunion?“, fragte zum Beispiel ein Teilnehmer des „Seminars für die Lektoren auf dem Gebiet der Philosophie“ in Warschau im Oktober 1956.139 Die Deutung des Antisemitismus als Produkt des Stalinismus kollidierte mit dessen Auffassung als „tief verwurzeltes“ historisches Ressentiment. Die Parteileitungen bemühten sich jedoch, die Kritik am Antisemitismus in Grenzen zu halten, weil dessen überspitzte Bekämpfung die innere Einheit der Partei hätte bedrohen können. Hierfür diente die Geschichte der KPP in der Zwischenkriegszeit als Vorbild, indem man die angeblich eiserne Disziplin und Einheit der Partei, die sich über jegliche nationale Unterschiede hinwegsetzte, idealisierte. Eine allzu starke Akzentuierung der Nationalität wurde als Bedrohung für die Kampfeinheit wahrgenommen und sollte deshalb keinen Platz in der Partei haben. Dies galt sowohl für den Antisemitismus, der als eine Form des „bürgerlichen Nationalismus“, also als ein Bindeglied zum Stalinismus verstanden wurde, als aber auch für eine viel zu starke Herausstellung des jüdischen Leidens während des Krieges, besonders bei ausdrücklichen Verweisen auf den Judenmord. Der folgende Beitrag aus Wrocław veranschaulicht das Übergewicht des Einheitsgedanken über die historische Wiedergutmachung: Vor dem Krieg setzte sich die Partei folgendermaßen zusammen: Polen, Juden, Ukrainer, Deutsche. Ihr wisst, dass gegen uns das Militär, und die Polizei, und die Defensive, und der Priester, und die Presse waren. Sie konnten uns jedoch nicht erschüttern. Warum? Die Einheit unserer Partei – das ist es, was die Einheit war. [...] Ich finde, dass es in unserer Partei keinen Raum gibt, nicht nur für solche Diskussionen, sondern auch für Menschen, die so zu diskutieren versuchen und wenn sie die grundlegenden Richtlinien unserer Partei in Frage zu stellen versuchen. Nicht um eine solche Demokratie geht es uns … wenn jemand nachzudenken anfängt – der Jude, der Ukrainer oder ein anderer – möge er diskutieren, aber man sollte ihn vor allem von dem Ballast befreien, unserer Partei anzugehören. Solche Leute brauchen wir in der Partei nicht. Es ist Zeit, die Dinge beim Namen zu nennen.140

138 AP Kat, KW PZPR, 317/II/8, KP PZPR Gliwice, Plenarsitzung 26.10.1956, Bl. 63–68. 139 AAN, KC PZPR, 237/VIII-310, Pytania uczestników kursu dla kierowników seminariów z problematyki filozoficznej, 10.–29.10.1956, unpag. 140 AAN, KC PZPR, 237/VII-3691, KW PZPR Wrocław, Plenarsitzung 5.–6.10.1956, Bl. 79.

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Die ambivalente Haltung der polnischen Kommunisten zur „jüdischen Frage“ spiegelte sich auch im Schicksal der 1963 am Institut für Parteigeschichte gegründeten „Arbeitsgruppe für die Geschichte der jüdischen Arbeiterbewegung“ wider. Sie war damit beauftragt, Erinnerungen jüdischer Parteiveteranen zu sammeln, sollte aber keine abgesonderte Geschichte der jüdischen Arbeiterbewegung verfassen. Die „Arbeitsgruppe“ hatte eine geringe Bedeutung und wurde während der „antizionistischen Kampagne“ Ende der sechziger Jahre aufgelöst.141 Das zeigt, dass die polnischen Poststalinisten keine große Neigung dazu hatten, die Rolle der jüdischen Kommunisten besonders herauszustellen. Die PZPR-Thesen zum 40. Jahrestag der KPP-Gründung (1958) unterstrichen die internationalistische Tradition der polnischen kommunistischen Bewegung und deuteten auf die Überwindung nationaler Unterschiede als eine Stärke der Partei im Kampf gegen das Sanacja-Regime und den Faschismus hin. Diese Traditionen wurden als „Quellen der Stärke“ der KPP hervorgehoben, und die KPP als die einzige politische Kraft in Polen wahrgenommen, die den „Chauvinismus, Rassismus und Antisemitismus, diese giftige, den Interessen der Ausbeuter dienende Waffe bekämpfte“.142 Sowohl das offizielle als auch das lokale Geschichtsbild der Juden in der kommunistischen Bewegung wurde also vom Diskurs des Internationalismus getragen. In seiner Rede zum 40. Gründungsjubiläum erklärte Edward Ochab, dass trotz vieler „sektiererischer Fehler“ es gerade der Internationalismus gewesen sei, der die KPP zur Avantgarde der polnischen Arbeiterbewegung und der polnischen Nation machte. Die KPP habe sich laut Ochab dem „nationalistischen Spektakel“ widersetzt, das „gegen die Ukrainer oder Weißrussen, Juden oder Deutsche, Tschechen oder Litauer gerichtet war“.143 Im Kontext der antistalinistischen Vergangenheitsbewältigung nach 1956 hatte der Verweis auf „die Treue den Grundsätzen des proletarischen Internationalismus“ noch die Aura der Authentizität und erst später verkam er zu einer Floskel.

141 Bestätigt von Feliks Tych im Gespräch am 27.3.2009; zum Zespół badań nad historią ruchu robotniczego ludności żydowskiej siehe AAN, KC PZPR, ZHP, XXII-232 und XXII-233; folgende Manuskripte befinden sich im PZPR-Archiv: Mikolaj Michałowski, Wspomnienie działacza KPP w środowisku żydowskim, 43 S.; Grzegorz Wajskop (Lublin), Życie i walka jednego z wielu. Fragmenty mojej działalności partyjnej na Lubelszczyźnie, 42 S.; Jakub Waserszturm, Materiały do Kroniki Żydowskiego ruchu robotniczego w Polsce za okres 1918–1919, 66 S; Grzegorz Wajskop, Życie i walka jednego z wielu. Bis zur Auflösung der Arbeitsgruppe im Jahr 1968 wurden die gesammelten Lebensberichte nicht veröffentlicht. 142 W 40. rocznicę powstania KPP (Tezy KC PZPR), in: Nowe Drogi 12, 1958, Nr. 12, S. 33–53, hier S. 45. 143 Edward Ochab, Nieprzemijające wartości tradycji KPP. 40 lat KPP, in: ebenda, S. 3–14.

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Die Bedeutung des Internationalismus wurde in allen Darstellungen der KPP hervorgehoben. Die Jubiläumssondernummer der Zeitschrift für Parteigeschichte Z pola walki von 1958, in deren Leitartikel Gomułka die KPP als die „Partei des Volkes“ (partia narodu) bezeichnete, präsentierte zwar die Unterschiede zwischen den beiden Flügeln der polnischen Arbeiterbewegung – der PPS-Lewica und der SDKPiL, hob aber zugleich ihren gemeinsamen Aufruf „Gegen die PogromHetze“ (Przeciw nagonce pogromowej) von 1918 hervor. Die entstehende vereinigte Revolutionspartei stellte sich gegen jeden (bürgerlichen) Nationalismus, sei es polnischen oder jüdischen, und gegen die Bourgeoisie aller Nationalitäten. Der Aufruf gegen die Pogrom-Hetze „demaskierte den Nationalismus sowohl der polnischen als auch der jüdischen Bourgeoisie“.144 Ein anderer Beitrag von Z pola walki erwähnte die Verurteilung des Pogroms von 1918 durch den Gründungsparteitag der KPP.145 Die klassenzentrierte Deutung war unmissverständlich: Es war die – eigentlich anationale – Bourgeoisie, die die Pogrom-Hetze vom 1918 entfachte: „Auf dem Parteitag wurde an das polnische und jüdische Proletariat appelliert, gegen die pogromartige, von der Bourgeoisie entfesselte Hetzjagd, die Reihen enger zusammenzuschließen.“146 In den späten fünfziger Jahren gab der Diskurs des Internationalismus den Ton an: Der Antisemitismus fungierte als Feind, auch wenn er innerhalb der Feindschaftserzählung eine Randstellung einnahm. Verweise auf den (bürgerlichen) „jüdischen Nationalismus“ hatten jedoch auch das Potential für eine nationalistische, anti-jüdische Nutzung – es kam vor allem darauf an, wie stark und konsistent der klassenzentrierte Diskurs des Internationalismus bleiben würde. Tatsächlich hat sich das Verhältnis zwischen Klasse und „Antisemitismus“ im Laufe der sechziger Jahre aufgrund von mehreren Wandlungsprozessen verändert. Der wichtigste „innere“ Wandel war die verstärkte semantisch-ideologische Assoziation der Intellektuellen mit dem Judentum in der Feindschaftserzählung der Partei, was wiederum ermöglichte, eine Verbindung zum Feindbild des Revisionismus herzustellen. Diese Assoziation war während der gesamten „antizionistischen Kampagne“ 1968 prägend. Dem „Zionismus“ wie dem „Revisionismus“ wurde der Charakter einer internationalen Verschwörung zugeschrieben: Beide seien ein Teil des übergreifenden Verschwörungsdiskurses gegen die Sowjetunion und die kommunistische Weltbewegung, beide knüpften an das Feindbild des 144 W 40. rocznicę powstania KPP, S. 52. 145 Franciszka Świetlikowa, Powstanie Komunistycznej Partii Robotniczej Polski, in: Nowe Drogi 12, 1958, Nr. 4, S. 59. 146 Henryk Malinowski, Narodziny KPP, in: Nowe Drogi 12, 1958, Nr. 11, S. 117–133, hier S. 125. Die Einheit der jüdischen und polnischen Arbeiter betont auch Jan Kancewicz, Walki Październikowo-Grudniowe, Warszawa 1955, S. 31.

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„bürgerlichen Nationalismus“ der Stalinzeit an.147 Das „Bündnis von Revisionisten und Zionisten“,148 wie ein Gemeinplatz der PZPR-Propaganda lautete, habe demnach auf die innere Schwächung Volkspolens als Bestandteil des Weltsozialismus abgezielt. Ähnlich wie die sowjetische Antizionismus-Kampagne von 1967–1972 dem universalistischen Diskurs des Anti-Imperialismus untergeordnet war,149 bildete auch der „Zionismus“ in der PZPR-Propaganda keine einheitliche Feindschaftskategorie. Wie Dariusz Stola darlegte, setzte sich dieses Feindbild aus mehreren Fäden zusammen, von denen nicht immer alle benötigt wurden.150 Erstens war der „Zionist“ nicht das einzige Feindbild der März-Kampagne. Das Spektrum der Feinde schloss nämlich auch „junge Aufrührer“ (młodzi rozrabiacze), „literarische Möchtegernpolitiker“ (literaci-politykierzy), klassische Reaktionäre sowie marxistische Revisionisten ein. Zugleich war jedoch das Feindbild des Zionisten vom klassischen antisemitischen Feindbild des „Juden“ zu trennen. Zweitens war der Zionist ein eindeutig politischer Feind, das heißt ein bewusster, deklarierter Gegner des Sozialismus. Der Begriff „politisch“ war die zentrale Bezeichnung des FeindVokabulars während der Antizionismus-Kampagne.151 Drittens wurde der Feind immer als elitär, als ein Teil des Establishments charakterisiert. Darin klang die antistalinistische Losung der „Abgetrenntheit von den Massen“ an.152 Schließlich erwähnt Stola die Fähigkeit des Zionismus-Feindbildes, verschiedene und sogar widersprüchliche Feindbezeichnungen in sich zu vereinen: Die Zionisten wurden sowohl als „jüdische Nationalisten“ als auch „entwurzelte Kosmopoliten“, sowohl als Stalinisten als auch Agenten des amerikanischen Imperialismus bezeichnet.153 Diese Verwobenheit mehrerer Feinddimensionen zeigt sich auch in den lokalen Diskussionen, deren Untersuchung den Warschau-Zentrismus, der die meisten Darstellungen beherrscht, korrigieren kann. Zugleich können neue Quellen und Kontexte die bisherige Forschungsdiskussion bereichern, die über die bekann147 Asmund Borgen Gjerde, Reinterpreting Soviet ‘Anti-Zionism’. An Analysis of ‘AntiZionist’ Texts Published in the Soviet Union, 1967–1972, MA Thesis, University of Oslo 2011, S. 65; vgl. Mario Keßler, Ein Funken Hoffnung. Verwicklungen: Antisemitismus, Nahost, Stalinismus, Hamburg 2004. 148 Cała, Żyd – wróg odwieczny, S. 499. 149 Gjerde, Reinterpreting Soviet ‘Anti-Zionism’, S. 114ff. 150 Stola, Kampania antysyjonistyczna, S. 151. 151 Ebenda, S. 152. 152 Vgl. Piotr Ose࡚ka, Syjoniści, inspiratorzy, wichrzyciele. Obraz wroga w propagandzie marca 1968, Warszawa 1999. 153 Zur Verbindung vom Revisionismus und Zionismus: Schatz, The Generation, S. 351. Schatz zitiert an dieser Stelle Giereks Rede in Katowice: „Überreste des Alten Regimes, Revisionisten und Lakaien des Imperialismus.“

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ten zentralen Impulse, wie den Aufsatz von Andrzej Werblan Beitrag zur Genese des Konflikts in Miesięcznik Literacki oder Gomułkas im Fernsehen übertragene Rede im Warschauer Kulturpalast vom 19. März hinausgehen.154 Ein anschauliches Beispiel bietet die „ideologische Auseinandersetzung“ im Frühling 1956 in der Parteiorganisation Wrocław. Den Hintergrund bildeten die „ideologische Kontroverse“ an der Universität und das Parteiverfahren gegen den jungen Philosophen Wacław Mejbaum (1933–2002), der zionistischer und revisionistischer Haltungen bezichtigt wurde. Die Diskussion hatte das Einleitungsreferat des Parteiphilosophen Jarosław Ładosz (1924–1997) zum Gegenstand, der eine Theorie des inneren Feindes für den Poststalinismus entwickelte. Er charakterisierte die Situation nach 1956 als „unübersichtlich“ und „theoretisch kompliziert“.155 Während im Stalinismus die „Diversion“ vor allem von innen herkam, verlagerte sich der Schwerpunkt des Klassenkampfes nach 1956 auf die internationale Bühne. Die Feindschaftserzählung und der Klassengegner, den in den sechziger Jahren hauptsächlich der Revisionismus verkörperte, wurden „internationalisiert“. Daher können auch Tschechen und Jugoslawen zu potentiellen Feinden gehören. Erst vor dem Hintergrund des Revisionismus entfaltete Ładosz die Kritik am Zionismus, die sich vor allem gegen Zygmunt Bauman richtete, und stellte einen historischen Zusammenhang zwischen den beiden Feindkategorien her (die Entwicklungskette Antisemitismus der Zwischenkriegszeit – Holocaust – Gründung Israels – Stalinismus). Erst in diesem Kontext sollte es klar werden, warum es in der polnischen Arbeiterbewegung so viele Juden gab, warum „wir unter der jüdischen Intelligenz mehr linksorientierte Ansichten hatten als in der polnischen Intelligenz“. Es sei dann kein Zufall gewesen, dass es so viele Juden unter den Revisionisten gäbe. Revisionismus sollte nicht durch die Instrumentalisierung antijüdischer Ressentiments bekämpft, sondern auf poststalinistische Weise „systematisch“ entkräftet werden – durch geduldige politische Arbeit, „ideologische Überzeugung“ und die „weiterführende Theorieausbildung“ der Parteimitglieder. Demnach sei der Aufstieg des Revisionismus durch die Unfähigkeit der Partei zu erklären, ihn theoretisch zu bekämpfen. Über das Verhältnis zwischen Revisionismus und Zionismus gab er aber kein eindeutiges Urteil ab: Zu entscheiden, welcher von den beiden – Zionismus oder Antisemitismus – gefährlicher war, sei schwierig, und eigentlich sei sich die kommunistische Bewegung nie über das Verhältnis zwischen dem Judentum und dem Kommunismus im Klaren gewesen: „Es ist ein Unglück unserer Bewegung, dass jahrelang keine marxistischen Analysen

154 Cała, Żyd – wróg odwieczny, S. 493, Stola, Kampania antysyjonistyczna, S. 127. 155 AAN, KC PZPR, 237/VII-5720, KW PZPR Wrocław, Plenarsitzung 11.–12.6.1968, Bl. 128.

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der jüdischen Fragen durchgeführt wurden, eigentlich seit der Zeit Lenins. Und gerade Lenin war es, der gegen den Antisemitismus und Zionismus kämpfte.“156 Auf Ładoszs Referat folgte ein typisch poststalinistisches Gewirr von abweichenden Stellungnahmen und Missverständnissen. „Im anfänglichen Chaos“, bemerkte ein Diskussionsredner, „war es schwierig sich darin zu orientieren, worum es eigentlich geht.“157 Ein Teil der Diskutierenden stand auf „antizionistischen“ Positionen, die an der Verschwörungstheorie festhielten und ihren „antizionistischen“ Standpunkt darauf gründeten, dass sie die Sonderstellung der jüdischen Intelligenz innerhalb der polnischen Linken ablehnten und die übertriebene Hervorhebung von Juden als Beleidigung der „polnischen Arbeiterbewegung“ verurteilten. In dieser Art des antizionistischen Diskurses spielte auch das Bild des Prager Frühlings als ein „zionistisches Werk“ eine wichtige Rolle. Die als „zionistisch“ bezeichneten Ansichten wurden eindeutig als „feindlich“ eingestuft. Andere Teilnehmer lehnten die Diskussion über die Nationalitätenfrage sowie die Frage der jüdischen Identität kategorisch ab als etwas, was in der Parteidebatte nichts zu suchen hatte. Diese Attacke kam oft aus den nationalkonservativen Parteikreisen und richtete sich gegen den „jüdischen Nationalismus“ als logisches Gegenstück des Antisemitismus. Eine allzu polemische Nationalitätendebatte lehnten aber auch die Gemäßigten ab, die in ihr eine Gefahr für die Einheit der Partei sahen. Die Skepsis gegenüber der Nationalitätenfrage war jedoch nicht unbedingt ein Ausdruck der Instrumentalisierung von vermeintlich antijüdischen Ressentiments in der Partei. Vielmehr spiegelte sie die fortbestehende Vorherrschaft des klassenzentrierten Diskurses des Internationalismus als dominierenden Kommunikationsmodus in der Partei wider. Der Beschluss des Wojewodschaftkomitees über den Fall Mejbaum verurteilte schließlich den Revisionismus und nicht den Zionismus: „Die gefährliche politische Strömung ist vor allem der Revisionismus. Die Ansichten von Baczko, Kołakowski, Morawski und Bauman wurden als revisionistisch charakterisiert.“158 Obwohl der „Zionismus“, dem Revisionismus ideologisch stets untergeordnet, der feindlichen Seite zugerechnet wurde, bestand keine Klarheit darüber, wer eigentlich „Zionist“ war und wie man den Zionismus bekämpfen sollte. Die harte Ausschluss- und Verfolgungsstrategie wurde durch den poststalinistischen Akzent auf „Überzeugung“ und die stufenweise „Verbesserung der ideologischen Arbeit“ gemäßigt. Bei der Frage, „wer ist Zionist“ stießen widersprüchliche Ansichten aufeinander, weil die Ablehnung jeglicher nationaler Differenzen innerhalb der Partei mit den Versuchen konfrontiert wurde, die jüdische Identität aus „marxisti156 Ebenda, Bl. 144. 157 Ebenda, Bl. 218. 158 Ebenda, Bl. 288.

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scher“, klassenzentrierter Sicht zu untersuchen, wie es Werblan im Miesięcznik Literacki oder Ładosz auf der Breslauer Parteiversammlung versuchten. Das idealisierte Geschichtsbild der KPP, in dem keine Widersprüche zwischen den einzelnen Nationalitäten vorhanden waren und die jüdischen Kommunisten zu den vorbildhaften Kämpfern zählten, überlappte sich mit dem gegenwärtigen ideologischen Diskurs, der sich gegen Israel, die USA sowie Westdeutschland richtete und sich des Vokabulars des Kampfes gegen den Weltimperialismus bediente.159 Dieses ideologische Gesamtbild spiegelt sich ebenfalls in der Diskussion über den Zusammenhang von „Zionismus“ und jüdischer Zugehörigkeit. Die einen bestanden auf der Sonderbetrachtung von „Personen jüdischer Herkunft“, während die anderen das „Schubladendenken“ (szufladkowanie) bezüglich der Nationalitäten an sich ablehnten. Trotz aller Unterschiede waren diese beiden Positionen durch die poststalinistische Unschlüssigkeit verbunden, die sich auf die Frage von Herkunft und Zugehörigkeit bezog: Es kann einfach sein, dass es auch eine solche Situation gibt, vielleicht [gibt es] ein ungenügendes Verständnis der Entwicklungen in unserem Lande, vielleicht nicht nur in unserem Lande, und zwar solcher, die mit der sehr schwierigen Situation im Schoß unserer Partei verbunden sind und in der Gesellschaft dort, wo wir mit Menschen jüdischer Abstammung zu tun haben. Ich spreche über eine schwierige Situation deswegen, weil in der Nachkriegsgeschichte ein erheblicher Teil dieser Menschen uns genug Gründe gab, um ihren offiziell abgegebenen Erklärungen, Beteuerungen nicht zu vertrauen. Viele Fakten, die im Laufe der letzten mindestens zehn Jahre, und mindestens in den letzten zwei Jahren offenbart wurden, bestätigen die Überzeugung, dass es sich um eine Gruppe von Menschen handelt, zumindest unter denen jüdischer Nationalität, an die wir mit einer großen Reserve und viel Vorsicht herangehen müssen, daran, was sie verlautbaren; und besonders tiefgründig das analysieren, was sie machen.160 Ich kann also bezüglich seiner Haltung keine Stellung einnehmen und beurteilen, ob man sie als zionistisch oder revisionistisch einordnen sollte. Eins ist für mich klar und zwar, dass man im Zuge einer starren und schematischen Einordnung der Parteiarbeit den Kampf gegen keine fremden Ideologien, auch die zionistische abschwächen soll. Dass jemand kein Jude ist, stellt noch keinen Beweis dafür dar, dass er sich nicht gegen die Partei und den Sozialismus des Gifts der zionistischen Propaganda bedient.161

Das Schlusswort des Ersten Sekretärs von Wrocław bestätigte die Vorherrschaft des klassenzentrierten Diskurses des Imperialismus im Allgemeinen und des Revisionismus als des inneren Hauptfeindes im Besonderen. In diesem Diskurs wurde 159 Gjerde, Reinterpreting Soviet ‘Anti-Zionism’, S. 65f. 160 AAN, KC PZPR, 237/VII-5720, KW PZPR Wrocław, Plenarsitzung 11.–12.6.1968, Bl. 169. 161 Ebenda, Bl. 203.

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die Gefährlichkeit des Zionismus gemindert und eher dem Revisionismus zugeschrieben. Die übertriebene Exponiertheit des Zionismus als Hauptfeindbild und die Verharmlosung des Revisionismus blieben im Brennpunkt der Kritik. Dass viele von denen, die man des „Zionismus“ bezichtigte, nicht als „Juden“ klassifiziert wurden, benutzten manche Diskussionsteilnehmer dazu, die ZionismusVorwürfe noch weiter zu schwächen. Für den Fall Mejbaum wurde geschlussfolgert: Revisionismus soll die einzig gültige Kritik sein.162 Somit offenbart der Streit um Mejbaum die Verhandelbarkeit der poststalinistischen Feindbilder und ihre Labilität sogar in einer ideologisch scheinbar stark von oben kontrollierten, kampagnenartigen Situation. Die Breslauer Plenardiskussion zeigt, dass das Feindbild des Zionismus und dessen Verhältnis zum Revisionismus alles andere als einheitlich war. Während die Diskussion über den Antizionismus und Antisemitismus fragmentiert und durch Missverständnisse gekennzeichnet war, behauptete sich am Ende ein Konsens angesichts der übergreifenden Rolle des Revisionismus – auch wenn seine genaue Auffassung unklar blieb. Die Hegemonie der Uneindeutigkeit setzte sich auch auf diesem Gebiet durch. Während der polnischen „antizionistischen Kampagne“ von 1968 tauchten weitere Feindbilder und Argumente auf, die durch die 1967 gestartete sowjetische Kampagne inspiriert wurden. Dazu gehörte zum Beispiel, dass Israel als faschistisch bezeichnet oder der Zionismus mit dem Nationalsozialismus assoziiert wurde (Westdeutschland finanziere Israel und die zionistische Weltverschwörung, um seine Schuld am Zweiten Weltkrieg zu verschleiern). Besonders heftig war die bereits im Sommer 1967 erfolgte Kontroverse um die Verantwortung für den Holocaust, als die die Parteiversammlungen die vermeintliche Tendenz der „revisionistischen“ Publizisten und Historiker verurteilten, die Juden als die einzigen Opfer darzustellen und die Polen von Opfern zu Tätern umzudeuten. Im Hintergrund der Kontroverse stand die Auffassung, Israel werde sich für die westdeutsche Entschädigung damit revanchieren, die Schuld am Judenmord von den Deutschen auf die Polen zu übertragen. Das geschah zum Beispiel in der Diskussion am Institut für Parteigeschichte im Juli 1967, die den Artikel „Konzentrationslager“ in der Wielka Encyklopedia Powszechna (Grosse Allgemeine Enzyklopädie) zum Gegenstand hatte und ihn als „Skandal“ bezeichnete.163 162 Ebenda, Bl. 289. 163 AAN, KC PZPR, ZHP, XXII-735, Protokoły z zebrań POP PZPR ZHP, Sitzung 20.7.1967, Referat poświęcony problematyce ideowo politycznej związanej z agresją Izraele na Bliskim Wschodzie; vgl. Obozy koncentracyjne hitlerowskie, in: Wielka encyklopedia powszechna PWN, Bd. 8, Warszawa 1966, S. 87–89. Der Artikel hat – für damalige Verhältnisse ungewöhnlich – die rassistisch begründete Ermordung der Juden von anderen NS-Opfern abgesondert. „Die Vernichtungslager waren Einrichtungen,

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Auch diese israelfeindlichen und zum Teil auf antijüdische Gefühle zielenden Assoziationen waren jedoch stets dem klassischen marxistischen Diskurs untergeordnet. Überdies war der offizielle Antizionismus-Diskurs recht durchlässig. Wie die Diskussionen in den Parteiorganisationen zeigen, verteidigten manche Kommunisten auf den Versammlungen Israel und verurteilten den Antisemitismus.164 Hier war die Wirkung des gerade in Gang kommenden tschechoslowakischen Reformprozesses spürbar, der viele polnische Kommunisten inspirierte, obwohl die offizielle Parteisprache ihn zunehmend als Feindbild betrachtete – oder vielleicht gerade deswegen. Es war daher kein Zufall, dass das KSČAktionsprogramm vom April 1968 ausdrücklich Rassismus und Antisemitismus verurteilte. Auch wenn der tschechoslowakische Reformversuch in der PZPR unter anderem auf Grund seiner angeblichen „zionistischen“ Tendenzen angeprangert wurde, baute diese Kritik eindeutig auf der anti-imperialistischen Grundrhetorik auf und wurde nie zu einem autonomen antisemitischen Diskursstrang, wie die Diskussion in Częstochowa vom September 1968 deutlich macht: In der Tschechoslowakei seien die „richtigen Entscheidungen“ nach dem Januarplenum der KSČ „von den reaktionären, revisionistischen und zionistischen, von den imperialistischen Zentren im Westen, und insbesondere der BRD sichtbar inspirierten, Elementen verzerrt“ worden. Um die Konterrevolution zu verhindern, sei „die konkrete Intervention der Mitglieder des Warschauer Paktes notwendig, denn das hat das Grundprinzip des Internationalismus der Arbeiterbewegung verlangt. Die Situation wurde unter Kontrolle gebracht, aber die feindseligen – insbesondere zionistischen – Elemente sind weiterhin aktiv. Die Zeit wird zeigen, wie groß die Gefahr war, die der Tschechoslowakei und der ganzen Arbeiterbewegung drohte.“165

deren einzige Aufgabe es war, die Menschen massenhaft zu töten; es gab sie ausschließlich auf dem Gebiet des besetzten Polens; sie waren für das Massentöten der Juden aus ganz Europa vorgesehen – im Rahmen der von Hitler konzipierten ,Endlösung der Judenfrage‘ [Deutsch im Original – P.K.]. […] Aufgrund der Einschätzungen von der Hauptkommission zur Strafverfolgung von Verbrechen gegen das Polnische Volk kann man annehmen, dass in den Vernichtungslagern ca. 5,7 Mio. Menschen ermordet wurden (ca. 99% Juden, 1% Zigeuner u. a.).“ Ebenda, S. 88. Die Rolle der Kommunisten als Opfer war ungewöhnlich marginalisiert. 164 Im Frühjahr 1968 wurde zwei Mitarbeiterinnen des ZHP eine Rüge erteilt, die die Politik Israels verteidigten und den Antisemitismus kritisierten; AAN KC PZPR, ZHP, XXII735, Protokoły z zebrań POP PZPR ZHP, Sitzung 15.3.1968, Komunikat w sprawie tow. M. Horodeckiej; Sitzung 29.3.1968, Wniosek w sprawie tow. F. Świetlikowe, unpag. 165 AP Kat, KW PZPR, 313/I/9, KP PZPR Częstochowa, Materiały z Konferencji Przedzjazdowej, 24.10.1968, Bl. 4.

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Mit diesen Beispielen will ich nicht argumentieren, dass die AntizionismusKampagne keine Züge des Antisemitismus trug oder dass manche der PropagandaHetzer, wie Stolas Forschungen zeigen, nicht von antisemitischen Motiven vorangetrieben wurden oder auf antisemitische Ressentiments in der Gesellschaft zielten.166 Wichtig für die weitere Gestaltung der poststalinistischen Feindschaftserzählung war jedoch, dass die Antizionismus-Kampagne die Komplexität der Feindbilder und die Vielschichtigkeit der Feindsprache weiter vertiefte. Sie zeigt einerseits die fortbestehende Dominanz des Imperialismus-Diskurses als Referenzrahmen für jede konkrete Feindschaftserzählung; andererseits wurde dieses Diskursfundament zunehmend fragmentiert. Die sich häufenden „Unklarheiten“ bezüglich des Zionismus und Israel – die übrigens auch in der SED präsent waren167 – förderten diesen Zersplitterungsprozess. Dieses Ergebnis scheint mir bedeutender, als darüber zu streiten, ob die Kampagne von 1968 eine Wiederbelebung des stalinistischen Antisemitismus war, oder ob sie an den „traditionellen“ nationalistischen Antisemitismus der Zwischenkriegszeit anknüpfte. Keines von beiden lässt sich nachweisen. Deutlich hingegen rücken die Schwierigkeiten in den Vordergrund, denen die Partei bei der Konstruktion ihrer Feindbilder begegnete – und wie sie daraus eine kollektive Identität schöpfte.

166 Stola, Kampania antysyjonistyczna, S. 145ff. 167 Das Parteilehrjahr der SED im Jahr 1967 war durch „Verwirrungen“ um den Nahostkonflikt geprägt. Dabei wurden keine antisemitisch eingefärbten „antizionistischen“ Meinungen formuliert wie in Polen, es trat jedoch, in Worten des Berichtes über das Parteilehrjahr, „täglich eine Fülle sich überstürzender und auch widersprüchlicher Meinungen zu den politischen Tagesfragen“ auf. „Es wurden in den ersten Tagen folgende Meinungen geäußert: Was macht das sozialistische Lager? Warum greift die Sowjetunion nicht ein? Was versteht man unter der Endlösung der Judenfrage, in der Bibel soll davon auf Seite 83 und 383 stehen. Welche Bevölkerung und wieviel wohnen im Nahen Osten? Warum hat die Welt zugesehen, wie Westdeutschland Israel Waffen lieferte? Es ist doch bekannt, dass Israel die Speerspitze des Imperialisten [sic] gegen die paktfreien Staaten im Nahen Osten darstellt? Wie konnte es geschehen, daß Israel in 24 Stunden die Armeen der arabischen Länder zerschlagen hat? Bei den Juden in Israel kann es keine Arbeiterklasse geben. Was heißt Eskalation?“ LHASA, MER, SED-Bezirksleitung Halle, IV/A2/9/01/79, Abschlussbericht über das Parteilehrjahr 1966–1967 im Mineralölwerk Lützkendorf, Bl. 160–164; vgl. Thomas Haury, Antisemitismus von links. Kommunistische Ideologie, Nationalismus und Antizionismus in der frühen DDR, Hamburg 2002.

V. Die Sehnsucht nach dem Goldenen Zeitalter

„Einer tristen und bedrückenden, von Krankheit, Armut oder Alter gekennzeichneten Gegenwart in ein Reich der Träume entfliehen zu wollen, ist wohl ein allgemeingeschichtliches Bestreben.“ (František Graus)1 „Genosse Daniszewski versetzte sich gedanklich in die Zeiten der KPP hinein, in die Stimmung der damaligen Versammlungen. In den Versammlungen der KPP herrschte die Stimmung der Prinzipialität. Heutzutage gibt es Abneigung gegen die Rückkehr zu den alten Zeiten, den Willen, ehrliche Aussagen zu treffen.“ (Aus der Diskussion im Institut für Parteigeschichte beim ZK PZPR, 13. Januar 1958)2

Von Anfang ihrer Herrschaft an standen die Kommunisten unter dem Zeitdruck der zu verwirklichenden Revolution. Bereits Lenin fasste die Zeit als die bestimmende Größe der kommunistischen Zukunftsutopie auf.3 1918 legte er den Frieden von Brest-Litowsk folgendermaßen aus: Ich opfere den Raum, um die Zeit zu gewinnen.4 Die Vorherrschaft der Zeit war ein wichtiger Unterschied zum sinnstiftenden Prinzip des Nationalstaates, dessen Feind in räumlichen Kategorien definiert wurde: Die moderne Staatsräson spiegelte sich in raumbezogenen Losungen wie „Verbreitung der Zivilisation“ oder „Expansion der freien Welt“ wider. Dagegen befand sich der identitätsstiftende „Andere“ des Kommunismus, der Klassenfeind, auf der Zeitachse. Die radikale Fortschrittsgeschichte, als die Kraftquelle, avancierte zum legitimierenden Prinzip der Revolution. Die Auffassung der Revolution als die „Lokomotive der Geschichte“ verlieh den Parteien die Macht, im Namen der Geschichte die Fügsamkeit der Massen zu erzwingen.5 Lenin glaubte, dass seine politische Bewegung den Lauf der Geschichte beschleunigen kann – ähnlich den spätmittelalterlichen Chiliasten, die das Goldene Zeitalter als unmit1

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František Graus, Goldenes Zeitalter, Zeitschelte und Lob der guten alten Zeit. Zu nostalgischen Strömungen im Spätmittelalter, in: Ders., Ausgewählte Aufsätze (1959–1989), Stuttgart 2002, S. 93–130, hier S. 93. AAN, KC PZPR, ZHP, XXII-734, Protokoły z zebrań POP PZPR ZHP, Sitzung 13.1.1958, unpag. Auch in diesem Kapitel verwende ich den Begriff Utopie nicht normativ als eine „unrealistische“ Idee, sondern als Inbegriff von handlungsleitenden Vorstellungen vom künftigen Zustand, als axiologischen Horizont einer gewissen Epoche. Vgl. Karol Modzelewski, Zajeździmy kobyłę historii. Wyznania poobijanego jeźdźca, Warszawa 2013, S. 114ff. Susan Buck-Morrs, Dreamworld and Catastrophe. The Passing of Mass Utopia in East and West, Cambridge 2000, S. 22. Ebenda, S. 60.

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telbar bevorstehend ansahen und bestrebt waren, durch Gewalt die Endzeit zu errichten.6 Das Motiv der „Beschleunigung“ geht auf zwei Leninsche Vorstellungen zurück: die zeitliche Linearität der Zukunftsutopie und deren schnelle Erreichbarkeit. Das kommunistische Projekt, wie Stefan Plaggenborg darlegte, befand sich im ständigen Zukunftsstress, der durch die kontinuierlich gestellten Fristen zur Erreichung des Endzieles genährt wurde.7 Das Zeitregime der Oktoberrevolution von 1917 zeichnete sich durch rasche Abfolgen, Aufstiege und Niedergänge aus. Die bolschewistische Politik der Verzeitlichung teilte die Welt in Altes und Neues, in Vorher und Nachher auf, sie rechnete mit der Vergangenheit ab. Nach Martin Sabrow stellte diese radikal fortschrittsorientierte Zeitkultur „eine allgegenwärtige Pathosformel des kommunistischen Projekts“ dar, die weit über den engeren Rahmen der politischen Machtausübung hinausging. Der Glaube an den Fortschritt prägte, so Sabrow, „ebenso in der ganz alltäglichen Unterscheidung von progressiv und rückschrittlich den sozialen Orientierungsrahmen“, zeigte sich „alltagskulturell und sinnweltlich als Liebe zum Neuen und Abwertung des Alten, er entschied über das Schicksal von Schlössern, Kirchen und Herrenhäusern, deren sinnlose Zerstörung wir heute beklagen“.8 Diese zukunftsorientierte Zeitwahrnehmung war zwar der westlichen Hochmoderne allgemein eigen, der Leninsche Kommunismus, sei es als Bewegung oder institutionalisierter Staatsozialismus, verwandelte sie jedoch in eine „Sinnprovinz“. Die Kommunisten, vor allem im frühen Sowjetstaat, glaubten, in einem anderen Zeitraum als der Rest der Welt zu leben.

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Zur kommunistischen Zeit- und Fortschrittsauffassung siehe Stefan Plaggenborg, Experiment Moderne. Der sowjetische Weg, Frankfurt a. M. 2006, und Stephen E. Hanson, Time and Revolution. Marxism and the Design of Soviet Institutions, Chapel Hill 1997; zu Zeitkonzepten in der Geschichte allgemein vgl. z. B. William Sewell, Three Temporalities. Toward an Eventful Sociology, in: Terrence J. McDonald (Hg.), The Historic Turn in the Human Sciences, Ann Arbor 1996, S. 245–280; Peter Osborne, The Politics of Time. Modernity and Avant-Garde, London 1995; Aleida Assmann, Ist die Zeit aus den Fugen? Aufstieg und Fall des Zeitregimes der Moderne, Muࡇnchen 2013; Hartmut Rosa, Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne, Frankfurt a. M. 2005; Lucian Hölscher, Neue Annalistik. Umrisse einer Theorie der Geschichte, Göttingen 2003; Chris Lorenz/Berber Bevernage (Hg.), Breaking Up Time. Negotiating the Borders Between Present, Past and Future, Göttingen 2013. Plaggenborg, Experiment Moderne, S. 81. Martin Sabrow, Sozialismus als Sinnwelt. Diktatorische Herrschaft in kulturhistorischer Perspektive, Potsdamer Bulletin für Zeithistorische Studien 40/41, 2007, S. 9–24, hier S. 20.

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Der Stalinismus führte das Leninsche Zeitverständnis fort, indem er das Tempo der Geschichte und den Grad ihrer Gestaltbarkeit noch weiter intensivierte. Mit dem Fortschrittsprung von 1929 – dem ersten Fünfjahresplan – sollte der „schnellste Weg zum Kommunismus“ eingeschlagen werden;9 durch die Sequenzierung der Zeit in Fünfjahrespläne sollte die Weltgeschichte dem kommunistischen Zukunftsprojekt untergeordnet werden. Die historische Zeit, das heißt als eigenständige, substantielle Größe und Muster des Epochenverlaufs, wurde mit der Zeit der handelnden Akteure – vor allem der Partei – gleichgesetzt, so dass sich die Zukunftsutopie selbst in der Aufbauhandlung manifestierte.10 Die Partei betrat die „heroische Zeit“, in welcher der Sinn des Handelns darin bestand, immer wieder eine neue Revolution in Gang zu bringen und tatsächlich stellte die Partei die Fünfjahrespläne als „Revolutionen“ dar.11 Die Ungleichzeitigkeiten, die die Gegenwart fragmentierten, sollten mit Hilfe einer einheitlichen Zukunftsutopie, die bereits in der Gegenwart beginnt, überwunden werden. Diese Gleichsetzung der gegenwärtigen Handlung mit dem Endziel der Geschichte zeigt, dass die kommunistische Zukunftsvision ihre Kraft gerade nicht aus der konventionell verstandenen Utopie als etwas „Unrealistischem“ schöpfte, sondern eben aus der Zukunftssicherheit. Ihre Koordinaten waren Pläne, Daten und Zahlen, die man durch reales Handeln in der Gegenwart erreichen konnte. Die Utopie wurde mit der Realität gleichgesetzt.12 So verfestigte sich im Stalinismus die Idee, dass die historische Zeit sich beherrschen lasse und die kommunistische Partei der „Herrscher der Zeit“ sei. Diese Vorstellung ging weit in die Vergangenheit zurück. Bereits in der Deutschen Ideologie (1845–1847) schufen Marx und Engels die Grundlagen für diese handlungsorientierte Auffassung der kommunistischen Zukunftsvision, indem sie diese nicht als einen idealen, nicht existierenden Zustand deuteten, sondern als eine „wirkliche Bewegung“, als einen realen Prozess, der den gegenwärtigen Stand der Dinge abschafft.13 Im Rahmen dieses universalhistorischen Denkkosmos ist auch die konkrete kommunistische Politik zu verstehen. Wie Stephen Hanson bemerk9 Plaggenborg, Experiment Moderne, S. 89. 10 Im Hinblick auf die Erzähltechniken kann man die stalinistische Erzählung als einen Modus bezeichnen, in dem sich die Erzählzeit mit der erzählten Zeit weitgehend deckt und der Erzähler – die Partei, der Parteiführer – selbst die Geschichte schöpft. 11 Hanson, Time and Revolution, S. 36; Plaggenborg, Experiment Moderne, S. 94. 12 Sabrow, Sozialismus als Sinnwelt, S. 20. 13 „Der Kommunismus ist für uns nicht ein Zustand, der hergestellt werden soll, ein Ideal, wonach die Wirklichkeit sich zu richten haben [wird]. Wir nennen Kommunismus die wirkliche Bewegung, welche den jetzigen Zustand aufhebt.“ Karl Marx/Friedrich Engels, Deutsche Ideologie, in: Werke, Band 3, Berlin (Ost) 1962, S. 35 (Hervorhebung im Original).

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te, zielte der Marxismus, besonders in seiner stalinistischen Form, nicht darauf ab, die „Effektivität“ der Wirtschaft im westlichen Sinne zu erreichen. Vielmehr war es die Absicht der Sowjetkommunisten, die Produktion so zu organisieren, dass sie die Zeit an sich beherrschen und beschleunigen könnten. Die Stalinisten begriffen die Zeit nicht als eine abstrakte, lineare Struktur, die jenseits konkreter Ereignisse liegt, sondern suchten durch das zeitorientierte, rationale Handeln die Zeit selbst zu meistern, ohne Rücksicht auf die Kosten.14 Dieses war nicht auf die kommunistischen Denker und Führer beschränkt, sondern prägte die Mentalität der Vielen. Wie Jochen Hellbeck in seiner Untersuchung der stalinistischen Tagebücher zeigte, verstanden deren Autoren ihre Lebenszeit als ein historisches Zeitalter und sich selbst als historisch handelnde Subjekte, die die Pflicht haben, an der Schöpfung einer neuen sozialistischen Welt teilzunehmen.15 Was brachte nun der Poststalinismus? Im ersten Kapitel habe ich gezeigt, dass im Jahr 1956 eine faktenorientierte „Rückkehr der Geschichte“ eintrat. Dieser Wandel war von zunehmender Autonomie der „Tatsachen“ geprägt, die sich immer mehr der Diktatur der „eisernen Entwicklungsgesetze“ und dem Willen der Partei entzogen. Der Sinn für die historische Kontingenz und Unregelmäßigkeit, für die Authentizität der einzelnen historischen Akteure, die nicht immer in Übereinstimmung mit der „großen Geschichte“ handelten, wurde wiederhergestellt. Was die revolutionäre Zeit und den Fortschrittsbegriff angeht, fiel Chruschtschows Historical Turn ambivalent aus, indem sich die Öffnung der geschichtlichen Zeit mit dem Weiterbestehen der Schlüsselbegriffe des marxistisch-leninistischen Fortschrittsverständnisses wie „Gesetzmäßigkeit“ und „Gesellschaftsordnung“ mischte. Im Folgenden gehe ich deshalb der Frage nach, inwieweit der Poststalinismus eine eigenartige Auffassung der gesellschaftlichen Zeit und des Fortschritts entwickelte. Nimmt er eine Sonderstellung innerhalb des kommunistischen Projekts, oder sogar in der Moderne selbst, ein? Wie unterschied sich das poststalinistische Zeitverständnis von der radikalen Ausrichtung des Stalinismus mit seiner komprimierten und zentralisierten Zeit wie auch vom Spätsozialismus mit seiner Stagnation und Zyklizität?

14 Plaggenborg, Experiment Moderne, S. 97; Hanson spricht vom „planvollen Heroismus”, Hanson, Time and Revolution, S. VIIff. 15 Jochen Hellbeck, Revolution on My Mind. Writing a Diary Under Stalin, Cambridge, Mass. 2006, S. 62.

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Der Verlust der Linearität Chruschtschow gehörte noch dem Typus des Parteiführers an, der die Zukunft einholen zu können glaubte. Mobilisierungskampagnen und die Versuche, die Zeit zu überwinden, setzten sich nach 1956 fort, zum Beispiel als Chruschtschow 1959 einen Zeitplan für die Erreichung des Kommunismus im Jahr 1980 festlegte. Stephen E. Hanson zufolge war der früh-Chruschtschowsche Zukunftseifer der letzte Ausdruck der „charismatischen“ linksrevolutionären Zeitkonzeption, die auf die Denktradition Rosa Luxemburgs und Leo Trotzkis zurückging und nach spontanen Massenkampagnen und der globalen permanenten Revolution rief. Aber zur gleichen Zeit setzten sich in der kommunistischen Denkwelt andere Zeitwahrnehmungen durch, welche aus dem reflexiven Umgang mit der stalinistischen Vergangenheit hervorgingen. Chruschtschows Mobilisierungskampagnen erwiesen sich als wenig wirksam, denn in der Partei verfestigte sich, wie ich im ersten Kapitel zeigte, Geschichtsskepsis und die Neigung dazu, aus der Stalinschen „Handlungszeit“ auszutreten.16 Nostalgische Elemente, die Vorstellungen einer Wiederkehr des „Goldenen Zeitalters“, das durch den Stalinismus zerstört wurde, rückten in den Vordergrund. Das Zeitregime, das Chruschtschows Geheimrede zugrunde lag, war durch die Verurteilung der Verbrechen Stalins bestimmt. Chruschtschow revidierte die allgemein verbreitete Auffassung nicht, laut welcher Stalin bis 1934 die richtige „leninistische“ Linie vertrat, und deutete seine sozialökonomische Revolution, einschließlich des ersten Fünfjahresplanes, der Industrialisierung, der Kollektivierung der Landwirtschaft sowie der Kulturrevolution, als Erfolg:17 „In jener Zeit erwarb sich Stalin Popularität, Sympathie und Unterstützung. Die Partei musste gegen jene kämpfen, die versuchten, das Land vom einzig richtigen, dem Leninschen Weg abzubringen, sie musste gegen Trotzkisten, Sinowjewleute und Rechte, gegen bürgerliche Nationalisten kämpfen. Dieser Kampf war unabdingbar.“18 Chruschtschows Hauptanliegen war es, die epochale Bedeutung des Personenkultes zu verdeutlichen und die Geschichte des Sozialismus als das Zeitalter „vor“ und „nach“ dem Personenkult darzulegen. Der Personenkult soll als eine künstliche, dem eigentlichen Gang der Geschichte widerstrebende Zäsur erscheinen. Es galt das Prinzip: Je weniger Bedeutung Stalin beigemessen wurde, desto mehr trat das

16 Plaggenborg bezeichnet diesen Zustand als ein „Stadium des gleichförmigen und wiederkehrenden Handelns“, Plaggenborg, Experiment Moderne, S. 101. 17 Hanson, Time and Revolution, S. 175. 18 Die Geheimrede Chruschtschows. Über den Personenkult und seine Folgen, Berlin 1990, S. 78–79.

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leninistische „Goldene Zeitalter“ des Kommunismus, das heißt die Zeit vor 1929, hervor. Und je mehr Stalin zur Zentralfigur aufstieg, desto mehr wurden das ursprüngliche Ideal verzerrt und die Prinzipien des Leninismus verletzt. Es ging laut Chruschtschow darum, „wie sich allmählich der Kult um die Person Stalins herausgebildet hat, der in einer bestimmten Phase zur Quelle einer ganzen Reihe äußerst ernster und schwerwiegender Entstellungen der Parteiprinzipien, der innerparteilichen Demokratie und der revolutionären Gesetzlichkeit wurde“.19 Hier wird deutlich, dass Chruschtschows Aufspaltung der Zeit in vor und nach dem Personenkult im Widerspruch zu den Sprachmitteln steht, mit denen er Zeit und Wandel beschreibt. Denn gleichzeitig argumentierte er, dass der Personenkult sich „allmählich herausbildete“. Im letzten Teil seines Referats versucht Chruschtschow die Frage zu beantworten, weshalb sich die Politbüro-Mitglieder nicht rechtzeitig dem Personenkult widersetzten und es „erst in der letzten Zeit“ taten.20 Dabei war sein Vokabular auffällig uneindeutig. Er wies auf die „komplexen Entwicklungen“ der dreißiger Jahre hin und hob hervor, dass die „Mitglieder des Politbüros diese Fragen in verschiedenen Perioden unterschiedlich betrachteten“. Er erwähnte die „Praxis der Führung, wie sie sich während der letzten Lebensjahre Stalins herausformte“ und die „Situation, die sich danach herausbildete“.21 Diese Rhetorik verkomplizierte die Linearität der Zeit und unterschied sich sowohl von der Stalinschen „Handlungszeit“ wie der Trotzkistischen „charismatischen Revolutionszeit“, die unbelastet in die Zukunft rasten. Dagegen mussten sich die Poststalinisten der neuen Zukunft mit der bagage du passé auf dem Rücken annähern. Das poststalinistische Zeitverständnis lässt sich daher nicht auf die Rückkehr zu den radikalen Zukunftsphantasien der zwanziger Jahre verengen. Zwar war es Chruschtschows Absicht, die gesamte sowjetische Gesellschaft – nach der stalinistischen Dezimierung – erneut durch Kampagnen zu mobilisieren und durch die Fortsetzung des Planungssystems die lineare Zeit aufrechtzuerhalten.22 Die gesamte Gesellschaft sollte eingespannt und in Bewegung gebracht werden. Damit erinnert Chruschtschows Strategie zwar an die avantgardistischen Sozialutopien der zwanziger Jahre, die auf die „Überholung“ des Westens abzielten. Auch nähert sie sich dem naturwissenschaftlich-utopischen Glauben an, der Möglichkeit, die Natur zu beherrschen, wie sie beispielhaft im Lehrbuch Grundlagen des MarxismusLeninismus (1960) zutage tritt. Zugleich aber bewirkte die Last der Vergangenheit 19 20 21 22

Ebenda, S. 8–9. Ebenda, S. 78. Ebenda, S. 77–78. Hanson, Time and Revolution, S. 175; vgl. auch Polly Jones (Hg.), Dilemmas of Destalinization. Negotiating Cultural and Social Change in the Khrushchev Era, London 2006.

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eine Zurückhaltung beim Projizieren von Zukunftsentwürfen. So werde die kommunistische Gesellschaft laut dem Lehrbuch keinesfalls das Ende der Geschichte bringen: Der „Sieg des Kommunismus“ bedeute „keinen Stillstand in der historischen Entwicklung“, denn „die kommunistische Gesellschaft [wird] sich ununterbrochen wandeln und vervollkommnen“. Es lasse sich „nicht genau voraussagen, wie sie aussehen wird“.23 Chruschtschows kampagnenzentriertes Revolutionsprogramm ist nicht nur aufgrund sozioökonomischer Zwänge gescheitert. Auch auf dem kulturell-ideologischen Gebiet zeichnete sich eine Abschwächung der linearen Revolutionsvorstellungen ab, die durch die Eingliederung der stalinistischen Zäsur in das Geschichtsnarrativ herbeigeführt wurde. Chruschtschows Semantik war stark mit Motiven wie „Wiederkehr“, „Wiederholung“ und „Rückkehr“ versehen. Ab jetzt spiegelte sich die Zukunft nur vor dem Hintergrund der „Rückkehr“ zu einer verbesserten, „rehabilitierten“ Vergangenheit. Die bisher eindeutige Teleologie der soziopolitischen Zeit, die einen der Grundsteine des kommunistischen Projektes bildete, war nach Chruschtschows Rede endgültig vorbei: Der Poststalinismus war vom unaufhörlichen Kampf gegen den Verlust dieser Geschichtssicherheit geprägt. Gerade Chruschtschows häufiger Gebrauch des Begriffes „Wiederholung“ ist ein deutliches Merkmal des Niedergangs der Linearität.24 Wohl gemerkt, ein negativer Gebrauch, denn mit der Forderung verbunden, der Personenkult dürfe nicht mehr stattfinden: „Wir müssen diese Frage ernsthaft durchdenken und richtig analysieren, um jede Möglichkeit einer Wiederholung, in welcher Form auch immer, dessen auszuschließen, was zu Lebzeiten Stalins geschah, der Kollektivität in der Führung und in der Arbeit absolut nicht ertrug, der sich brutale Gewalt gegenüber allem erlaubte, was sich nicht nur gegen ihn richtete, sondern was ihm, bei seiner launenhaften und despotischen Neigung, seinen Konzeptionen zu widersprechen schien.“25 Der Drang, die Wiederholung des Personenkultes zu verhindern, störte die Linearität auch deshalb, weil die genaue historische Einordnung des Personenkultes in Chruschtschows Darstellung unklar blieb. Existierte der „Personenkult“ immer noch oder verschwand er mit Stalins Ausscheiden? Die Deutung des Personenkultes schwankte permanent zwischen der zeitlichen Ein-

23 Grundlagen des Marxismus-Leninismus, Berlin 1960, S. 805. 24 In der hegelianischen und marxistischen Geschichtsphilosophie spielt der Begriff der Wiederholung keine große Rolle. Im Gegenteil, Kierkegaard arbeitet ihn als Mittel zur Kritik von Hegels Dialektik und der Idee der Vermittlung aus, vgl. Dorothea Glöckner, Kierkegaards Begriff der Wiederholung. Eine Studie zu seinem Freiheitsverständnis, Berlin 1998, S. 136ff. 25 Chruschtschow, Geheimrede, S. 14.

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schränkung auf Stalin und der nebelhaften Vorstellung eines überpersönlichen Systems. Die Verhinderung der Wiederholung war das Gebot der Stunde: Um die Fehler der Vergangenheit nicht zu wiederholen, tritt das Zentralkomitee entschieden gegen den Personenkult auf. Wir meinen, dass Stalin über jedes Maß herausgehoben wurde. Zweifellos hatte Stalin in der Vergangenheit große Verdienste gegenüber der Partei, der Arbeiterklasse und der internationalen Arbeiterbewegung.26

Die zitierte Stelle enthüllt eine wichtige Unstimmigkeit: Man sollte das bekämpfen, was es nicht mehr gab, denn wiederholen kann sich nur das, was bereits einmal zu Ende war. Zugleich sollten die „leninistischen Prinzipien der sowjetischen sozialistischen Demokratie“ wiederhergestellt werden. Die Verbindung der Verhinderung des Bösen (des Personenkultes) mit der Erneuerung des Guten, also ein durch vergangene Erfahrung korrigierter Zukunftsentwurf, wurde im poststalinistischen Zeitregime am Ende wichtiger als die zukunftslineare, revolutionäre Mobilisierung, die Chruschtschow – vor allem auf dem XXII. Parteitag der KPdSU – zeitweise beschwor. In den Mittelpunkt des kommunistischen Geschichtsverständnisses rückte zunehmend die Vorstellung des „Goldenen Zeitalters“, das in der vorstalinistischen Vergangenheit lag. Der rückkehrzentrierte Erzählmodus gestaltete die Rhetorik der poststalinistischen Ära. Bezeichnenderweise hat Gomułka seine Rede vom Oktober 1956 mit dem Hinweis auf die „Möglichkeit, die Notwendigkeit meiner Rückkehr in die Parteiarbeit“ eingeleitet.27 Die Motive des Neuanfangs und der Rückkehr konnten kaum besser miteinander verknüpft werden als in dieser Verkündigung. Wie wir im ersten Kapitel gesehen haben, prägte Gomułka den Begriff der „vorherigen Periode“, die „unwiderruflich der Vergangenheit angehört“. Die „vergangene Periode“ unterbrach das „Goldene Zeitalter“, welches es wiederherzustellen galt. Als Stalinismusopfer war Gomułka mehr als Chruschtschow vom Gespenst der Vergangenheit besessen und verwies in seinen Reden öfter auf sie. Der Deutungsansatz der „vergangenen Periode“, die das Goldene Zeitalter beendete, beherrschte ab 1956 die Parteisprache – sogar die „Selbstkritik“ sattelfester Stalinisten wie Jakub Berman, der an der Spitze der stalinistischen Staatssicherheit stand. Im Oktober 1956 rechnete auch er mit der „vergangenen Periode“ ab: Die vergangene Periode, in der wir die im Grunde richtige politische Linie der Partei umsetzten, indem wir nach den für uns besten Formen des sozialistischen Aufbaus suchten, war zugleich von einem Leitungssystem belastet, das sich durch wachsende zentralistische und bürokratische Tendenzen auszeichnete. Dies führte zu Verzerrungen, die große politische, 26 Ebenda, S. 82. 27 Władysław Gomułka, Rede auf dem VIII. Plenum des ZK der PVAP, 20. Oktober 1956, Warschau 1956, S. 3.

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wirtschaftliche und kulturelle Schäden verursachten. Dieses Leitungssystem, heute zu Recht und scharf kritisiert, hielten wir damals für das Ergebnis der notwendigen historischen Entwicklung und – gemäß der in unserem Lager allgemeinen Überzeugung – wendeten wir es bei uns mit gewissen Modifikationen an.28

Im Ideologiediskurs der PZPR war der Begriff der Rückkehr allgegenwärtig, am häufigsten als „Rückkehr zu Lenin“, wie es zum Beispiel der Politbürosekretär Morawski im März 1956 formulierte: „Die Rückkehr zu Lenin bedeutet, dass die Partei näher am Volk sein wird, dass die Leute besser leben werden und das ist die erste und hauptsächlichste Aufgabe.“29 Mit solchen Aussagen wurde eine semantische Brücke zwischen „Rückkehr“ und der allgemeinen Zukunftsverbesserung gebaut. Man sprach auch von der „Rückkehr zu den Massen“, da die Verbindung zu ihnen im Stalinismus verloren gegangen war. Einerseits deutete also die „Rückkehr“ auf eine andere mögliche Vergangenheit hin, auf das Goldene Zeitalter des wahrhaften Leninismus. Andererseits wurde jedoch unterstrichen, dass die Rückkehr des Stalinismus, der „Vergangenheit“, nicht mehr möglich sei.30 Der Begriff der Vergangenheit erhielt sowohl eine positive wie auch eine negative Bedeutung, wobei die Kontrastfolie nicht nur die kapitalistische Vorzeit, sondern auch die abgelehnte sozialistische Vergangenheit bildete. Somit entstand eine Vielfalt möglicher Vergangenheiten. Noch deutlicher spiegelt sich diese neue Zeitauffassung im Begriff der „Erneuerung“ (odnowa, obnova) wider. Die „Welle der Erneuerung des Parteilebens“31 rekurriert auf die Überzeugung von einem besseren Zustand in der Vergangenheit. Die Erneuerung, wie es in der Parteikonferenz in Częstochowa im Dezember 1956 hieß, „muss siegen über schlechte Arbeitsmethoden, die sich im Laufe der vergangenen Periode angesammelt haben“.32 Zugleich sollte sich die „Erneuerung“ über das Parteileben hinaus in weitere Bereiche wie Industrie oder Handel verbreiten, wo eine ungenügende, langsame „Erneuerung“ kritisiert wurde: „Es wird festgestellt, dass die Erneuerung im Handel nur im Schneckentempo vorangeht, denn 28 Nowe Drogi 10, 1956, Nr. 10, S. 91. 29 AAN, KC PZPR, 237/VII-3268, KW PZPR Łódź, Plenarsitzung 10.3.1956, Bl. 163. 30 Eine ähnliche Rhetorik der Anti-Rückkehr kommt auch im Aktionsprogramm der KSČ vom April 1968 vor: „Die grundlegende Bindung des politischen Systems muss hierbei eine feste Garantie gegen die Rückkehr der alten Methoden des Subjektivismus und machtbedingter Willkür bieten.“ Aktionsprogramm der Kommunistischen Partei der Tschechoslowakei, angenommen auf dem Plenum des Zentralkomitees der KPTsch am 5. April 1968 (Übersetzungs- und Informationsdienst Sudetendeutsches Archiv), München 1968, S. 32. 31 AP Kat, KW PZPR, 313/XXVI/2, KP PZPR Częstochowa, Protokół z zebrania wyborczego POP przy Odlewni i Emalierni „Blachonia“, 25.11.1956, Bl. 38. 32 AP Kat, KW PZPR, 313/I/3, KP PZPR Częstochowa, Materiały z VIII Konferencji Sprawozdawczo-Wyborczej KP PZPR, 11.–12.12.1956, Bl. 35.

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sie wird von übermäßiger Zentralisierung gebremst,“ schlussfolgerte ein PZPRMitglied aus Cieszyn.33 Wie der „Personenkult“ wurde auch „Erneuerung“ zur Kritik an den lokalen Parteiführungen von unten verwendet. Der Topos der „Erneuerung“ kündigte die spätsozialistische Zyklizität der ideologischen Sprache an. Diese äußerte sich in der „rhetorischen Zirkularität“ (rhetoric circularity, Alexei Yurchak), wenn zum Beispiel in einem Text eine neue anzustrebende Aufgabe postuliert wird, die früher im selben Text für bereits erreicht erklärt wurde.34 Dieser Erzählmodus kam im Poststalinismus zum Beispiel dort vor, wo historische Kausalketten konstruiert wurden, sowohl bezüglich der Vergangenheit als auch der zu verwirklichenden Zukunft. Einen guten Beleg dafür finden wir in einem Kommentar zu den neuen KSČ-Parteistatuten von 1958: Im Grunde geht es darum, den überwiegenden Teil der Wirkung und der Kräfte der Parteiorganisation und der Kommunisten auf die werktätigen Massen zu konzentrieren. In diesem Sinne spricht die gesamtstaatliche Parteikonferenz direkt von der Notwendigkeit einer Wende in der Auffassung und Methoden der Parteiarbeit. Dafür ist am wichtigsten das Streben nach der vollen Erneuerung und das konsequente Anwenden der Leninschen Normen und Prinzipien im Parteileben.35

Trotz semantischer Unterschiede zwischen den Ausdrücken „Wende“ (obrat) und „Streben nach voller Erneuerung“ (úsilí o plné obnovení), die darin bestanden, dass der eine auf Aufbruch, während der andere auf Rückkehr hindeuten, wurden sie komplementär verwendet. Stellenweise verwandelt sich diese zirkuläre Geschlossenheit in eine tautologische Kausalität, wo zwei Feststellungen, anstatt einander ursachlich zu erklären, sich gegenseitig bestätigen, das Gleiche behaupten und daher im Grunde jeden Ursachenzusammenhang negieren: „Der endgültige Sieg des Kommunismus über dem Kapitalismus ist absolut sicher, vor allem deshalb, weil die Entwicklung der Menschheit gesetzmäßig zur Herausbildung einer kommunistischen Gesellschaft führen wird.“36 Eher als die Geschichtssicherheit spiegelte dieser Zirkelschluss die Lahmlegung der Geschichte wider, die typisch für den Spätsozialismus seit den siebziger Jahren war. Ein anderes Beispiel dieser Er-

33 AP Kat, KW PZPR, 310/I/7, KP PZPR Cieszyn, Materiały z Konferencji SprawozdawczoWyborczej, 11.12.1956, Bl. 10. 34 Alexei Yurchak, Everything Was Forever, Until It Was No More. The Last Soviet Generation, Princeton 2006, S. 71ff. 35 Leopold Rykl, Stanovy Komunistické Strany Československa – ztělesnění leninských norem stranického života a zásad vedení, Praha 1958, S. 4. 36 Ebenda, S. 5.

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scheinung waren Berichte über Beratungen, die durch „lebendige Diskussionen“ zu einem bereits vorher festgelegten Ergebnis kamen.37 Die Rhetorik der „Gesetzmäßigkeit“ blieb im Poststalinismus zentral, gleichwohl schwächten die zunehmenden Bezüge auf „Erneuerung“ ihre Geradlinigkeit ab. Hinzu kam, dass die Aussagen über die zu erreichenden Ziele mit Hilfe eines komplexen, verschachtelten Satzbaus formuliert wurden. In der tschechischen Sprache äußerte sich diese Tendenz in der exzessiven Substantivierung der Phrasen und in der Worthäufung (Klimax, Tautologie, Akkumulation von Satzgliedern usw.). Der folgende Kommentar zu den Parteistatuten veranschaulicht diesen Duktus: Die erfolgreiche Weiterentwicklung und Verstärkung des Kampfes der Volksmassen für den Sozialismus wie auch den Kommunismus ist gesetzmäßig durch die richtige Führung durch die kommunistische Partei bedingt. Denn das, dass die kommunistische Partei entstanden ist, dass die Kommunisten an dem Kampf der Volksmassen teilnehmen, dass sie diesen Kampf organisieren und leiten, ist auch eine unentbehrliche Frucht der gesetzmäßigen Gesellschaftsentwicklung.38

Die Topoi von „Rückkehr“ und „Erneuerung“ machten vor allem dann Schwierigkeiten, wenn die Parteiführungen den Mitgliedern radikale politische Wenden erklären mussten. Besonders heikel wurden wirtschaftspolitische Fragen, als zum Beispiel die SED-Historiker 1966 die „Fünfte Hauptperiode“ der Geschichte der Arbeiterbewegung (das heißt die Zeit nach 1945) und das „Neue Ökonomische System“ diskutierten. Sie zogen eine Parallele zu Lenins „Neuer Wirtschaftspolitik“ (NEP), die angeblich gewisse Züge von der „Rückkehr zum Kapitalismus“ trug und von Stalin später als eine „bloße Taktik“ verklärt wurde.39 Zwar behauptete die SED-Führung, dass die „einzelnen Stufen“ der Entwicklung der Produktionsverhältnisse und -kräfte den „objektiven und subjektiven Bedingungen entsprachen“. Zugleich musste aber erklärt werden, dass das Neue tatsächlich neu und keine Rückkehr in die Vergangenheit ist. Gerade der Zwang, auf die Gefahr eines geschichtlichen Rückschlages immer wieder verweisen zu müssen, war für den poststalinistischen Ideologiediskurs charakteristisch: „Es ist [notwendig] Klarheit zu schaffen, dass das neue ökonomische System der Planung und Leitung keine 37 Zum Beispiel fassten die Teilnehmer der Diskussion über den Grundriß der Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung im Zementanlagenbau Dessau 1962 das „Ergebnis ihrer Beratungen“ in der Schlussfolgerung zusammen, dass „dem Sozialismus die Zukunft gehört und das Rad der Geschichte nicht zurückgedreht werden kann“. LHASA, MER, SEDKreisleitung Dessau, IV/406/241, Diskussionen über den „Grundriss“, 23.8.1962, Bl. 30. 38 Rykl, Stanovy, S. 6. 39 Manfred Hildermeier, Geschichte der Sowjetunion 1917–1991, München 1998, S. 233– 262.

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Rückkehr zu kapitalistischen Methoden, sondern folgerichtige Krönung unserer ökonomischen Politik ist.“40 In solchen Aussagen, die das Bild der „Rückkehr“ je nach Situation unterschiedlich deuteten, zeigt sich die poststalinistische Hybridisierung und wechselseitige Durchdringung der Zeitkonzepte, die auch in anderen Geschichtsepochen vorhanden war.41 Um die poststalinistische Zeitauffassung genauer zu erfassen, ist die Typologie Stephen Hansons nützlich, der für jede Epoche des Sowjetkommunismus drei konkurrierende Zeitmodelle unterscheidet: eine linke „charismatische“ Zeit, die eine volle und schnelle Erreichung des Kommunismus anstrebt (Trotzki, Luxemburg, Chruschtschow); eine zentristische „neotraditionelle“ Zeit, die die Treue zu den „Grundsätzen“ und Institutionen der früheren revolutionären Innovatoren bewahrt (Kautsky, Lenin, Sinowjew, Stalin, Breschnew, Gorbatschow); und eine rechte „rational-legale“ Ausrichtung, die eine langsame Evolution hin zum Sozialismus in rationellen Grenzen besagt (Bernstein, Bucharin, Malenkow). Die zeitkulturelle Orientierung des Poststalinismus erscheint aus dieser Sicht als ein Hinund-Her zwischen Malenkows evolutionärem Sozioökonomismus und Chruschtschows kampagnenhaftem Radikalismus. Die beiden Konzeptionen erreichten schließlich eine Synthese in Breschnews zentristischer Alternative: Dieses „revolutionäre Warten“ leistete Widerstand sowohl dem rechten als auch dem linken Extrem und suchte den ideologischen und sozioökonomischen Status quo zu verteidigen.42 Aus dieser Verschmelzung von Zeitbegriffen wurde später der „entwickelte Sozialismus“ geboren. Er kam zwar am anschaulichsten in der DDR unter Honecker zum Ausdruck, kündigte sich aber bereits im Laufe der sechziger Jahre in der späten Ulbricht-Ära an, in welcher sich die Semantik der dynamischen Entwicklung, vorangetrieben hauptsächlich durch den Impuls der „wissenschafts-

40 SAPMO, DY 30/IV A2/9.07/252, Seminarplan Probleme der V. Hauptperiode, 22.2.1966, unpag. 41 Dazu Gerd Harders, Der gerade Kreis – Nietzsche und die Geschichte der Ewigen Wiederkehr. Eine wissenssoziologische Untersuchung zu zyklischen Zeitvorstellungen, Berlin 2007, S. 13ff.; Claudia Amtmann-Chornitzer, „Schöne Welt, wo bist du?“ Die Rückkehr des Goldenen Zeitalters in geschichtsphilosophischen Gedichten von Schiller, Novalis und Hölderlin, Erlangen 1997, S. 3. Vorstellungen vom Verfall wechseln hier mit Vorstellungen von Progression und Fortschritt ab; „Dabei stehen antike zyklische Vorstellungen und das christliche finalisierende Weltbild keinesfalls im Widerspruch zueinander, sondern verschmelzen zu einer Einheit. Die zyklische Konzeption wird nicht abgelöst sondern vielmehr in den Rahmen des christlichen Weltbildes eingeordnet.“ Ebenda, S. 115. 42 Hanson, Time and Revolution, S. 68. Hanson bezeichnet mit dem Begriff „revolutionäres Warten“ die Zeitkonzeption von Karl Kautsky.

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technischen Revolution“, mit Stagnation mischte.43 Bezeichnend war auch die Entwicklung in Polen, wo man die sechziger Jahre im Unterschied zur Zeit des „polnischen Oktobers“ 1956 als eine Stagnation wahrnahm. Das Stillstandsgefühl bringen die damals oft benutzten Sprachbilder wie Bewegungslosigkeit (bezruch) oder „kleine Stabilisierung“ (mała stabilizacja) zum Ausdruck. Im Unterschied dazu präsentierte sich Gomułkas Nachfolger Gierek als ein junger, dynamischer Manager-Politiker.44 Den zentralen ideologischen Bezugspunkt der Gierek-Ära bildete nicht mehr die Revolution, sondern die Reform, später noch „Vervollkommnung“ als eine typisch spätsozialistische Selbstbeschreibung der Kommunisten, sowie „Stagnation“ als eine negative Fremdbeschreibung.45 Das Zeitregime der Stagnation zeichnete sich durch stabilisierende, kontinuitätsorientiere Begriffe wie „Entwicklung“ und „reifer Sozialismus“ aus, die eine sich langsam hinziehende Verstetigung andeuteten und den Übergang zum Kommunismus vernebelten.46 Die Gegenwart wurde verlängert und „verstetigt“, es ging nunmehr vor allem um das „Sich-Einrichten“ im Jetzt. Die zyklische Zeitwahrnehmung gewann die Oberhand. Ihre typische Erscheinung waren gleichförmige Wiederholungen im politischen Sprechen und Handeln. Neue Tatsachen konnten nur anhand bereits existierender gedeutet werden.47 Eher als die „Rückkehr der Geschichte“, das heißt

43 Martin Sabrow, Zukunftspathos als Legitimationsressource. Zu Charakter und Wandel des Fortschrittsparadigmas in der DDR, in: Heinz-Gerhard Haupt/Jörg Requate (Hg.), Aufbruch in die Zukunft. Die 1960er Jahre zwischen Planungseuphorie und kulturellem Wandel. DDR, ČSSR und Bundesrepublik Deutschland im Vergleich, Weilerswist 2004, S. 165–184. Laut Sabrow unterlag der ursprünglich lineare und pathetische Fortschrittsbegriff des Stalinismus wichtigen Veränderungen, die vor allem mit der Verwissenschaftlichung und auch Pathosverlust zusammenhingen, S. 178ff. 44 Marcin Zaremba, Drugi stopień drabiny. Kult pierwszych sekretarzy w Polsce, in: Dariusz Stola/Marcin Zaremba (Hg.), PRL. Trwanie i zmiana, Warszawa 2003, S. 119–158; Jerzy Eisler, „Siedmiu wspaniałych“, Warszawa 2014. 45 Hanson, Time and Revolution, S. 176; vgl. Michal Pullmann, Vervollkommnung, Intensivierung, Beschleunigung, Perestrojka. Die Planung in den sowjetischen und tschechoslowakischen Wirtschaftsdebatten der achtziger Jahre, in: Martin Schulze Wessel/ Christiane Brenner (Hg.), Zukunftsvorstellungen und staatliche Planung im Sozialismus, München 2010, S. 253–282; Ivo Mijnssen, Heldenkult und Bringschuld. Hyperstabilität in der Heldenstadt Tula unter Brežnev, in: Boris Belge/Martin Deuerlein (Hg.), Goldenes Zeitalter der Stagnation? Perspektiven auf die sowjetische Ordnung der Brežnev-Ära, Tübingen 2014, S. 37–53, hier S. 51: „Anstelle der Arbeit für eine zukünftige Utopie trat die Arbeit als würdevolle Nachfolgerin der Helden vergangener Zeiten“. 46 Plaggenborg, Experiment Moderne, S. 98ff. 47 Yurchak, Everything Was Forever, S. 284.

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eine Entwicklung mit offenem Ende, bedeutet diese zyklische Zeitkonzeption die „Erfahrung des immer Gleichen“.48 Was war aber spezifisch für die frühe, poststalinistische Zyklizität? Allgemein basiert das zyklische Zeitverständnis auf dem Gedanken der Wiederkehr, der Wiederholung des uranfänglichen Geschehens, wie sie sich in der Naturwelt in der Erneuerung des Jahres ausdrückt.49 Zyklische Zeit kann in mehreren Formen auftreten – zum Beispiel als Rekurs auf den Ursprung, der zur Idee der Wiedergeburt führt. Im Hinblick auf den Poststalinismus lässt sich beispielsweise die Figur der „nationalen Wiedergeburt“ (národní obrození oder obroda) oder des obrodný proces (Erneuerungsprozess, wörtlich „der Prozess der Wiedergeburt“) nennen, die eine der zentralen Selbstbeschreibungen des Prager Frühlings darstellte. Das Aktionsprogramm der KSČ vom April 1968 griff wiederholt zum Begriff Wiedergeburt: Der XX. Parteitag wurde als „Wiedergeburtsimpuls“ bezeichnet, das Aktionsprogramm sollte zum „Programm der Wiedergeburt der sozialistischen Bemühungen in unserem Lande“ werden.50 Ein ähnlicher Ausdruck der zyklischen Zeitauffassung ist der Mythos der ewigen Wiederkehr, der auf der Vorstellung des Kreislaufs des Lebens basiert. Zentral in dieser Metapher ist der Tod als Rückkehr zum Ursprungsort des Lebens. Aus der Rückkehr wird die Wiederkehr.51 Die kreisförmige Zeit bedeutet, dass die „Vergangenheit und Zukunft ihre vollständige Trennung durch die Gegenwart verlieren, denn sie sind gleichsam hinterrücks. [...] Zukunft und Vergangenheit sind in dieser Weise identisch“.52 Dies war jedoch mit der poststalinistischen Rückkehr zum „Leninismus“, dem „Goldenen Zeitalter“ der Revolution und des antifaschistischen Widerstandes, noch nicht der Fall. Die poststalinistische Sinnwelt wurde weder durch eine lineare noch durch eine zyklische Zeitvorstellung dominiert. Vielmehr haben wir es hier mit einem Neben- und Durcheinander unterschiedlicher zeitlicher Sichtweisen zu tun.53 Für die poststa48 Plaggenborg, Experiment Moderne, S. 100–101; Ders., Verstetigte Gegenwart. Über das Zeitverständnis im Realsozialismus, in: Schulze Wessel/Brenner, Zukunftsvorstellungen, S. 19–32. 49 Günter Dux, Die Zeit in der Geschichte. Ihre Entwicklungslogik vom Mythos zur Weltzeit, Frankfurt a. M. 1989, S. 223. 50 Akční program Komunistické strany Československa přijatý na plenárním zasedání ÚV KSČ dne 5. dubna 1968, Praha 1968, S. 4 und 30 (deutsche Fassung: Aktionsprogramm der Kommunistischen Partei der Tschechoslowakei, angenommen auf dem Plenum des Zentralkomitees der KPTsch am 5. April 1968 (Übersetzungs- und Informationsdienst Sudetendeutsches Archiv), München 1968, S. 11 und 102, hier allerdings als „Erneuerung“ übersetzt). 51 Dux, Die Zeit in der Geschichte, S. 237–238. 52 Harders, Der gerade Kreis, S. 9. 53 Ebenda, S. 13.

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linistische Zeitorientierung gilt, was der Philosoph Gerd Harders als das charakteristische Merkmal spätmoderner Zeitregime bezeichnete: Eine strenge Gegenüberstellung von kreisförmigen und geradlinigen Zeitauffassungen trägt wenig zu einem besseren Verständnis dieser Zeitregime bei. Rückkehr, Wiederkehr, Erneuerung, Wiedergeburt und Wiederherstellung besetzten zwar das Vokabular des Poststalinismus, aber die lineare Zukunftsvision wurde nach 1956 nicht aufgegeben.54 Das neue Zeitverständnis, das man als ein „plurales Regime historischer Zeiten“ bezeichnen kann, wurde auch durch den Aufstieg verschiedener gesellschaftlicher Akteure und ihrer vielfältigen Vergangenheiten gefördert. Dieser Wandel vollzog sich auch in den Darstellungen der Parteigeschichte. Je mehr die Autoren örtlicher Geschichten und Ausstellungen das bunte Lokalkolorit des Revolutionskampfes und die Mannigfaltigkeit der Akteure heranzogen, desto mehr verzweigten sich die Erzählungen in eine Vielzahl von Handlungslinien. Dadurch verlangsamte sich die Erzählzeit: Die Erzählung öffnete sich infolge des Verlustes der eindeutigen, überwältigenden Zukunft; gleichzeitig führten die Verzweigung der Handlungslinien und Überlagerung der Zeitebenen mehr rhetorische Mittel der Zyklizität, wie exzessive Wiederholungen und Überlappungen ein. Die narrative Zersplitterung unterschied die poststalinistische von der stalinistischen Erzählform, für die eine Handlungslinie und eine Handlungszeit typisch waren.55 Im Poststalinismus lässt sich somit eine Zerlegung der einheitlichen Geschichte beobachten, wie auch im Konzept der mnogoukladnost (strukturelle Vielschichtigkeit) zu sehen ist, das die Wechselwirkung von gleichzeitig verlaufenden sozialökonomischen Entwicklungen in den Mittelpunkt der Geschichtsbetrachtung stellte. In der Breschnew-Ära und im Spätsozialismus wurde die mnogoukladnost aus der Geschichtsschreibung wieder verbannt und durch ein neues geschlossenes Narrativ der zyklischen Mythologie ersetzt, in dessen Mittelpunkt die Oktoberrevolution stand. In diesem Sinne stellen das stalinistische und spätsozialistische Zeitverständnis zwei unterschiedliche Arten von geschlossener Erzählung dar – eine radikal lineare und eine radikal zyklische.56 Charakteristisch für die poststalinistischen Lokaldarstellungen der Parteigeschichte war der Widerspruch zwischen einem monolithischen Bild der Partei, das in den Einleitungen perpetuiert wurde und sich in der Regel nicht von der stalinistischen Tradition unterschied, und der konkreten Beschreibung der lokalen Ent54 Ebenda, S. 26. 55 Árpád von Klimó, Helden, Völker, Freiheitskämpfe. Zur Ästhetik stalinistischer Geschichtsschreibung in der Sowjetunion, der Volksrepublik Ungarn und der DDR, in: Storia della Storiografia 52, 2007, S. 83–112. 56 Plaggenborg, Experiment Moderne, S. 114f.

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wicklung – der Sozialverhältnisse der Arbeiter, ihrer Streikkämpfe und der Alltagsnot sowie der Widersprüche des antifaschistischen Widerstands, die Komplexität evozierten. Auch diese Widersprüchlichkeit trägt gewisse Züge einsetzender Zirkularität: Während in den Einleitungen die Partei als ein unantastbares und einigermaßen jenseits der Geschichte stehendes Subjekt dargestellt wird, verdeutlicht der lokale Erzählstoff im Konkreten die Kompliziertheit, den Faktenreichtum und die Offenheit der historischen Entstehung der Partei. Somit wird hier eine Formierungsgeschichte dessen gegeben, was in der Einleitung als bereits formiert bezeichnet wurde.57 Wie angedeutet, wurde die Linearität durch Referenzen auf „Rückkehr“, „Wiederkehr“ und „Erneuerung“ nicht völlig zerstört. Im poststalinistischen Zeitverständnis standen – ähnlich wie bei Hölderlin und anderen Romantikern – zyklische Zeitauffassungen und das finalisierende Weltbild nicht im Widerspruch zueinander, sondern verschmolzen zu einer Einheit.58 Das Zeitdenken des Poststalinismus fügt sich dem allgemeinen Muster der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, das der Philosoph Gerd Harders als eine „erneute Auflösung der Einheitlichkeit der Zeitvorstellung“ charakterisierte. Sie wurde vor allem durch die verstärkte Reflexivität über die Vergangenheit bewirkt. Dieses Zeitregime bedeutet nicht, dass „eine Rückkehr zur vermeintlich antiken Vorstellungsweise einer zyklischen Zeit postuliert wird, sondern, dass die Perspektivität zeitlicher Beobachtungsweisen überhaupt deutlich wird“.59 Gerade dieses Deutlich-Werden war der wichtigste Beitrag zum kommunistischen Zeitverständnis, den der Poststalinismus leistete.

Die Rehabilitierung des Gedächtnisses Zwei Vorgänge prägten diese „Perspektivität zeitlicher Beobachtungsweisen“ im Poststalinismus besonders stark: Erstens, die Rehabilitation der Stalinismusopfer und Wiedergutmachung für stalinistische Verbrechen; und zweitens, die Restaurierung des „authentischen“ Parteigedächtnisses, das heißt das Bemühen, das Leben alter Kommunisten, einschließlich von banalen, nicht-heroischen Aspekten, „vor der ungeheuren Arroganz der Nachwelt zu retten“, um mit E. P. Thompson zu sprechen.60 Ohne irgendwelche Stützen in der bisherigen marxistischen Theo57 58 59 60

Vgl. Yurchak, Everything Was Forever, S. 72. Amtmann-Chornitzer, „Schöne Welt, wo bist du?“, S. 115. Harders, Der gerade Kreis, S. 13. Edward P. Thompson, Die Entstehung der englischen Arbeiterklasse, Frankfurt a. M. 1987, S. 11.

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rie stellten beide Momente, Rehabilitation und Erinnerung, für die Poststalinisten eine Herausforderung dar. Der Verlauf der Rehabilitierungen sowie die Unterschiede zwischen den einzelnen Ostblockländern und der Sowjetunion veranschaulichen die „Perspektivität zeitlicher Sichtweisen“: Was lässt sich aus der Vergangenheit „wiedergutmachen“? In Polen begann der Wiedergutmachungsprozess bereits 1953 und wurde nach 1956 von Gomułka weiter vorangetrieben, nachdem dieser die Gründung von Rehabilitationskommissionen in Gang gesetzt hatte. Diesem Muster folgten auch andere Ostblockparteien.61 Für die polnischen Kommunisten besaßen die Rehabilitationen eine Doppelbedeutung. Sie betraf sowohl die Zeit des Stalinismus in Polen (1948–1953) als auch den stalinistischen Terror in der Sowjetunion der dreißiger Jahre, dem viele polnische Kommunisten zum Opfer fielen. Besonders brennend war Stalins Verfolgung der KPP-Mitglieder nach 1938. Die Rehabilitation der KPP hatte somit eine therapeutische Funktion: Sie sollte den „Schmerz“ heilen, zugleich aber durch „Wiedergutmachung“ das Goldene Zeitalter des wahrhaften Leninismus wieder lebendig machen. Auch wenn ihre „Fehler“ betont wurden, verkörperte die KPP der Zwischenkriegszeit die verlorene Glanzzeit, die der Stalinismus gewaltsam unterbrach. Ein Diskussionsredner aus Łódź drückte es folgendermaßen aus: Ich denke, dass es sehr wichtig ist, sehr tief, es schmerzt uns alle, nicht nur die KPPMitglieder, uns alle schmerzt es[,] Genossen[,] Alte und Junge. Warum? Weil es unsere Partei ist, weil diese Partei die besten Anführer erzogen, die beste Gruppe führender Persönlichkeiten, gute Aktivisten erzogen hat, weil diese Partei die wahre Leninsche Partei war, eine der besten in der Komintern.62

Die Rehabilitierung der KPP war eine kontroverse Frage – kann man einfach alle Verfolgten rehabilitieren, auch die exponierten Stalinisten, die später selbst Opfer des Stalinismus wurden? Dieses Dilemma resultierte daraus, dass man die KPP zwar generell als Opfer des Stalinismus betrachtete, sie aber gleichzeitig als „dogmatisch“ einstufte und damit teilweise dem Feindlager zurechnete. Die Stellung der PZPR zur KPP blieb nach 1956 ambivalent. 61 Zu den Rehabilitierungen siehe Hermann Weber, „Weiße Flecken“ in der Geschichte. Die KPD-Opfer der Stalinschen Säuberungen und ihre Rehabilitierung, Frankfurt a. M. 1990, S. 43–79; Muriel Blaive, Promarněná příležitost. Československo a rok 1956, Praha 2001, S. 102–116. Bemerkenswert ist das Schicksal der sog. Barák-Kommission in der Tschechoslowakei. Der Innenminister Barák wurde mit der Revision der Schauprozesse aus der Stalinzeit beauftragt, gleichzeitig verliefen in dieser Übergangsphase noch weitere Prozesse. So entstand die einzigartige Situation, dass die gleiche Person sowohl über Prozesse als auch zugleich über ihre Revision entschied. Ebenda, S. 103. 62 AAN, KC PZPR, 237/VII-3268, KW PZPR Łódź, Plenarsitzung 10.3.1956, Bl. 92.

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Die „Rehabilitation“ war ein Schlüsselbegriff auch für Chruschtschow. Er benutzte in der Geheimrede oft lakonische Wendungen wie „diese Genossen wurden posthum rehabilitiert“. Der Bezug auf das „Goldene Zeitalter“ der reinen leninistischen Partei war insoweit delikat, als alle alten Bolschewiki nicht unbedingt in positivem Licht gesehen werden konnten: „Bucharin-Leute“ und „Sinowjew-Leute“ galten nach wie vor als Feinde, deren „Zerschlagung“ Chruschtschow als richtig bestätigte. Aber auch in Fällen der Verfolgung von Unschuldigen, wie bei der „Leningrader Affäre“ aus den späten vierziger Jahren, wurde das „Goldene Zeitalter“ des Leninismus nicht explizit heraufbeschworen. Die Beschreibung war lakonisch, beschränkte sich auf die Feststellung der Tatsachen: Das Zentralkomitee hat die so genannte Leningrader Affäre untersucht, die Personen, die unschuldig gelitten haben, wurden jetzt rehabilitiert, die ruhmreiche Leningrader Parteiorganisation erhielt ihre Ehre zurück. Abakumow und andere, die diesen Fall fabrizierten, wurden vor Gericht gestellt, ihr Prozess fand in Leningrad statt, und sie erhielten, was sie verdienten.63

In Äußerungen wie dieser ging es eher um die Wiedergutmachung persönlicher Unschuld als um die imaginäre Restaurierung des Goldenen Zeitalters. Die Rehabilitationen beeinflussten das Zeitverständnis nur begrenzt. Das lag vor allem darin begründet, dass das Wissen um die Opfer selbst unklar war: Wie Alexander Etkind bemerkte, war die einzige Sicherheit über das Ausmaß der stalinistischen Katastrophe eben diese Unsicherheit.64 Aber auch Etkind sieht die „Rehabilitierungen“ vor allem als einen individuellen, moralischen Akt, als eine „Kompensation“ für die Opfer, auch wenn die dann tatsächlich folgende Missachtung der entlassenen Gulag-Häftlinge die Tragik oder gar „Sinnlosigkeit der Rehabilitierungen“ entblößte.65 Die „Rehabilitierungen“ vermochten nur dann die herrschende Zeitauffassung zu gestalten, wenn sie die Idee des Goldenen Zeitalters belebten und damit die Parteimitglieder mobilisierten; wenn sie nicht nur „Kompensation“ leisteten, sondern auch die Möglichkeit für die imaginäre Wiederkehr vergangener Leitbilder eröffneten. So zum Beispiel bahnten die Rehabilitierungen in Polen und der Tschechoslowakei den Weg zu einer Neubewertung vorher marginalisierter oder diffamierter Epochen, wie der Zwischenkriegszeit. Eine wichtige Rolle spielte hier die Öffnung der Archive und somit die neue Ermächtigung der Historiker, der von Stalin verachteten „Archivratten“.66 63 Chruschtschow, Geheimrede, S. 59. 64 Alexander Etkind, Warped Mourning. Stories of the Undead in the Land of the Unburied, Stanford 2013, S. 10. 65 Ebenda, S. 59. 66 Das zeigen einleuchtend die Biografien der tschechischen Historiker Karel Kaplan und Karel Bartošek, die als die ersten während der Rehabilitationsrecherchen nach 1956 die

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Ein anderer Weg zurück zum „wirklichen Leninismus“ war die Pflege des „authentischen Parteigedächtnisses“ durch das Sammeln und Veröffentlichen von Erinnerungen der „Parteiveteranen“, wie ich es im ersten Kapitel darstellte. Nach Beatrice Vierneisel, die das SED-Erinnerungsarchiv untersuchte, manifestiert sich in den Parteierinnerungen das „politische Selbstverständnis und kulturelle Lebensgefühl eines wichtigen Teiles der sozialistischen ‚Vätergeneration‘ mit einem ihr eigenen Elitenbewusstsein, das seine Grundlage in der Tatsache sah, dass viele der Genossen aus Emigration, KZ und Zuchthaus zurückgekehrt waren“.67 Zwar hatten die von den Parteiführungen geleiteten „Erinnerungskampagnen“ hauptsächlich das Ziel, geeignetes Material für die „propagandistische Funktion als Vorbild für die jüngere Generation“68 zu sammeln. Doch wie so oft im Poststalinismus nahmen bald die von oben angeordneten Maßnahmen vor Ort eine andere Richtung. Die Erinnerungen waren ideologisch „löchrig“, voll von Widersprüchen und Spannungen, aber gerade deshalb sind sie aussagekräftig. Auch die Sammler der Berichte konnten vor der Kluft zwischen dem offiziellen Geschichtsbild und der Vielfalt lokaler Erfahrungswelten nicht die Augen schließen. Wie Lutz Niethammer, Alexander von Plato und Dorothee Wierling in ihrem 1987 angefangenen DDR-Projekt Die volkseigene Erfahrung feststellten: „Das Vorgehen der Interviewer zielt darauf, einen unverfälschten Selbstausdruck des Befragten zu erhalten. Nicht Annäherung der Standpunkte/Bestrebungen, sondern Aufdeckung der Unterschiede, der Fremdheiten und Andersartigkeiten ist das oberste Ziel in der vorliegenden Interaktion.“69 Solche „Andersartigkeiten“ kommen in den poststalinistischen Arbeitererinnerungen zum Vorschein und machen die abweichenden nostalgischen Bilder des „Goldenen Zeitalters“ erkennbar. Ein anschauliches Beispiel solcher abweichender Zeitauffassungen ist die Kontroverse um die Sammlung von Lebensberichten ehemaliger Mansfeld-Bergarbeiter, die der junge Historiker Wolfgang Jonas in den späten fünfziger Jahren

Parteiarchive erforschten, vgl. Blaive, Promarněná příležitost, S. 154–169; Martin Schulze Wessel, Zeitgeschichtsschreibung in Tschechien. Institutionen, Methoden, Debatten, in: Alexander Nützenadel/Wolfgang Schieder (Hg.), Zeitgeschichte als Problem. Nationale Traditionen und Perspektiven der Forschung in Europa, Göttingen 2004, S. 307–328. Kaplan arbeitete 1960–1964 als Konsultant für Geschichte in der ideologischen Abteilung des Parteivorstandes der KSČ. 67 Beatrice Vierneisel, Das Erinnerungsarchiv. Lebenszeugnisse als Quellengruppe im IML beim ZK der SED, in: Martin Sabrow (Hg.), Verwaltete Vergangenheit, Leipzig 1997, S. 117–144, hier S. 117. 68 Ebenda, S. 129. 69 Lutz Niethammer u. a., Die volkseigene Erfahrung. Eine Archäologie des Lebens in der Industrieprovinz der DDR, Berlin 1991, S. 626, zit. n. Vierneisel, S. 129.

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herausgab.70 Diese Publikation wurde im Sommer 1958 in der SED-Organisation des Mansfeld Kombinats „Wilhelm Pieck“ scharf kritisiert. Das Kreisparteiarchiv bezichtigte den Autor der „Verbreitung von revisionistischem und opportunistischem Gedankengut“, der „Verunglimpfung und Diskriminierung der Mansfeld-Arbeiter“, des „Ignorieren[s] revolutionärer Traditionen“ und sogar des „Übergang[s] in das Lager des Idealismus“. Der Dorn im Auge war den Mansfelder Genossen die Tatsache, dass Jonas die Kumpel nicht nur dazu aufforderte, über den heroischen Kampf gegen den Kapitalismus zu sprechen, sondern auch über ihren Alltag im Bergbau. Dabei kamen negative Erscheinungen zur Sprache, die Schatten auf die „revolutionären Traditionen der Arbeiterklasse“ warfen: Saufereien, Absentismus und Kompromissarrangements mit den Betriebsleitungen. Wie ein Mansfelder Parteifunktionär bemerkte, erschienen die Kumpel in Jonas’ Darstellung nicht als die „revolutionäre Kraft“, sondern als „Pechvögel“ und „dumme Tiere“.71 Wie bezogen sich die Berichte aber auf die Zeitlichkeit und die Vorstellungen des Goldenen Zeitalters? Bereits die Einleitung des Herausgebers signalisierte einen neuen Umgang mit der historischen Zeit: Anstatt der bisher privilegierten Großgeschichte der Revolution wurde mehr Bedeutung dem Alltag der „kleinen Leute“ zugeschrieben. Die Wende zum Alltäglichen war eine allgemeine Signatur des Poststalinismus: sowohl in der Literatur, Kunst und Architektur als auch in den Geistes- und Sozialwissenschaften. Die Zeit des Alltags wurde zu einem wichtigen Orientierungspunkt der marxistischen, hauptsächlich „revisionistischen“ Philosophie, zum Beispiel bei Leszek Kołakowski, Ernst Bloch und Karel Kosík.72 Die Wiederentdeckung des kleinen Menschen, des lokalen Raumes und der Alltagszeit verkörperte die Rückkehr konkreter gesellschaftlicher Akteure auf die Bühne der Geschichte, in der bisher abstrakte „Massen“ und die große historische Handlungszeit dominierten. Anstatt die „eisernen Entwicklungsgesetze“ sklavisch nachzuzeichnen, bemühten sich nun die Sozialhistoriker wie Jonas um die Re70 Die Publikation entstand aus Erinnerungsberichten, die Jonas zwischen 1953 und 1956 gesammelt hatte; teilweise handelte es sich jedoch auch um Berichte, die bereits in den späten vierziger Jahren von Mitarbeitern des Mansfeld-Kombinats anlässlich der 750-JahrFeier des Mansfelder Kupferbergbaus gesammelt wurden. In das Buch flossen im Endeffekt mehr als achtzig Berichte unterschiedlicher Länge ein, die vor allem die Zwischenkriegszeit behandelten. Wolfgang Jonas, Erlebnisberichte der Mansfeld-Kumpel, Berlin 1957, S. 13. 71 SAPMO, DY 30/IV 2/9.07/222, Protokoll der Konferenz über das Buch des Genossen Dr. Wolfgang Jonas, 2.6.1958, Bl. 157ff. 72 Vgl. u. a. James H. Satterwhite, Varieties of Marxist Humanism. Philosophical Revision in Postwar Eastern Europe, Pittsburg 1992; Michael Gardiner, Critiques of Everyday Life, London 2000; Raymond Taras, Ideology in a Socialist state. Poland 1956–1983, Cambridge 1984.

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konstruktion vergangener Alltagswelten der Arbeiterklasse, in denen die „wahre Revolution“ nun stattfinden sollte. Nicht die übergreifende „Gesellschaftsordnung“ als eine tote Struktur, nicht die Namenlosigkeit der abstrakten „großen Geschichte“, die jenseits des Wahrnehmungsvermögens des einfachen Arbeiters abläuft und als eine wilde Naturkatastrophe in seine intime Lebenswelt eindringt. Ab jetzt sollten konkrete Individuen samt ihrer Unvollkommenheiten den Status der Schöpfer der Geschichte wiedergewinnen. Jonas erläuterte diesen neuen Sinn der Geschichtlichkeit in der Beschreibung seiner Methode. Die Erlebnisberichte seien „lebendige, plastische und farbige Erzählungen der Vergangenheit“. Sie sollten keine sachliche wissenschaftliche Darstellung sein, sondern das „unmittelbar Erlebte“ festhalten: Der Arbeiter sitzt uns gegenüber und erzählt. Das Leben und der Kampf seiner Klasse werden in dem Bericht von seinem Leben wieder lebendig. Und es ist das ganze Leben, in seiner ganzen Kompliziertheit, von dem er berichtet. Es handelt sich auch nicht um das messerscharfe Urteil eines Menschen, der glaubt, alle Fragen der Geschichte mit einer Handbewegung beantworten zu können, da er etwas von der Theorie kennengelernt hat. Nein, sie berichten von ihrer Not und ihrem Leiden, vom Kampf und vom politischen Wachsen, von Haß und Angst, vom Opfermut und Verzagen, von Klarheit und Verwirrungen, von Kameradschaft und Verrat, von Liebe und Freude, von Niederlagen und wie sie aus allem lernten. Sie erzählen von all dem, was die Arbeiterklasse erzog, ihr oft harte, blutige Lehren erteilte und sie immer durch Leid und Opfer reifen ließ, um schließlich die Macht in ihre Hände zu nehmen.73

In diesem Ausschnitt sind die Bausteine des poststalinistischen Geschichtsbildes zu sehen: die Ablehnung jeder „definitiven“ Theorie, die rein deduktiv und von dem Alltagsleben abgeschottet ist; die Betonung der Ambivalenz historischer Erfahrungen; und der Glaube an die sozialistische Erneuerung, die nur mit Teilnahme der Arbeiter als handelnde Subjekte erreichbar ist. Die Geschichte der Arbeiterklasse in dieser Auffassung ist ein kontinuierliches Stellen und Umformulieren von Fragen, die auf eine Wiederherstellung von Subjektivität und Authentizität der Arbeiterklasse nicht als eines bewegungslosen Objektes, sondern als einer sich immer wieder erneuernden Wirklichkeit abzielen. Die Arbeiter sind in einen zeitlich konkreten gesellschaftlichen Kontext eingebettet, der auch Widersprüche und Konflikte des nichtpolitischen Lebens aufscheinen lässt, vor allem im Arbeitsprozess. Der heroische Revolutionskampf tritt in den Hintergrund, das Soziale gelangt auf Augenhöhe mit dem Politischen. Die Aufwertung des „unmittelbar Erlebten“ wird in der Mansfelder Anthologie zum historisierenden Forschungsprogramm erhoben, das die Authentizität der 73 Jonas, Erlebnisberichte, S. 7.

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Arbeiterklasse in der konkreten Vergangenheit verortet und diese von innen heraus zu verstehen bemüht ist. Verlangt werden die „Kenntnis einer konkreten Situation“ und das „Eindringen in die Lage der Arbeiter und Bauern“74. Die geschilderten Erlebnisse sind somit keine bloßen Illustrationen der historischen Darstellung, sondern die Quelle zur Erschließung des Bewusstwerdens der Arbeiterklasse. Zum Beispiel nahmen die Arbeiter die Einrichtung von Waschkauen, „objektiv“ gesehen eine Tatsache von geringerer Bedeutung, als großen Fortschritt wahr. Dieser Widerspruch sei wichtig für das Studium der Lage der Arbeiterklasse, „bedeutet doch nicht selten ein solches Auseinanderklaffen von objektiver Lage und subjektivem Empfinden objektive Ansatzpunkte für reformistische Ideologien“.75 Diesem historisierenden Ansatz folgend, ließ Jonas „fehlerhafte“ Ansichten und Unklarheiten zu Wort kommen, um die noch in der Gegenwart wirksamen „reformistischen Ideologien“ besser zu verstehen. Auch die fehlerhaften, zum Beispiel „opportunistischen“ und „reformistischen“ Elemente seien ein berechtigter Teil der Geschichte. Eine erfahrungsgeschichtliche Perspektive verdrängte somit die geschichtsphilosophische Spekulation. Eine Epoche – hier die Arbeiterwelt der Vorkriegszeit – ist eine Einheit, die eine Individualität besitzt, kein „Stadium“ in einem vorher entworfenen welthistorischen Schema. Sie steht „unmittelbar zu Gott“, wie Ranke sagen würde.76 Oft begegneten die Herausgeber der „Scheu“ der alten Kumpel, den Schwierigkeiten, die die Arbeiter mit der für sie ungewöhnlichen Tätigkeit des Niederschreibens hatten. Das war für viele von ihnen eine „nicht zumutbare Anstrengung“. Deshalb wurde meistens jene Methode benutzt, die heute als ein „semistrukturiertes Interview“ bezeichnet wird: ein mehr oder weniger freies Erzählen, das keinem konkreten Fragenkatalog folgt. Eine ideologische Bevormundung sollte nicht stattfinden. Symptomatisch für den poststalinistischen Zeitgeist war das Ziel der Herausgeber, „zwischen dem Kumpel und dem Fragesteller eine völlig freie, natürliche und kameradschaftliche Atmosphäre zu schaffen. In diese Atmosphäre darf keine Spur von Dogmatismus, von schulmeisterhaftem Belehren und arrogantem Richtigstellen dringen. Die Erfahrung zeigt, dass bei dem geringsten Auftauchen dieser leider so oft praktizierten Unarten nicht selten der Kumpel sich gleich verschloss und die Aussprache ergebnislos blieb“.77 Auffallend an dieser Aussage ist ein neues Klima der Nähe, Wärme und Intimität; das Bemühen, die 74 Ebenda, S. 8. 75 Ebenda, S. 11. 76 Herbert Schnädelbach, Geschichtsphilosophie nach Hegel, München 1974, S. 44–45; Hartmut Westermann, Epochenbegriffe und Historisierung. Ein Gespräch mit Kurt Flasch, in: Internationale Zeitschrift für Philosophie 2, 2004, S. 193–209. 77 Jonas, Erlebnisberichte, S. 12.

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„Abgetrenntheit von den Massen“ wie auch die Kluft zwischen verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen zu überbrücken. Karel Kosík definierte zu dieser Zeit die Alltäglichkeit als etwas, was scheinbar „einfach da ist“, in unmittelbarer Nähe; sie zeige sich als „Nacht der Teilnahmslosigkeit, des bloß Mechanischen und Instinktiven, oder als Welt der Vertrautheit“, die aber in Wirklichkeit politisches, revolutionäres Potential in sich birgt. 78 Trotz der Hervorhebung von Wärme und Intimität galten jedoch für die Herausgeber die epistemologischen Grundsätze des Marxismus-Leninismus. Demnach musste die „subjektive Erinnerung und Auffassung des Erzählers“ der „objektiven Darstellung der Wirklichkeit“ untergeordnet werden. Zugleich verwies man auf die „wissenschaftliche Quellentreue“, die auf der poststalinistischen Vorherrschaft der Faktizität gründet. Es sollte aber keine obsolet „objektivistische“ Tatsachenüberprüfung der Aussagen geben, denn Jonas ging es nicht um objektivistisch verstandene Fakten und Daten. Im Mittelpunkt stand vielmehr die Erforschung der „Bewusstseinsbildung“ der Arbeiter – frei von jeglichem Determinismus. Jonas legte großen Wert darauf, dass die Sprache der Bergarbeiter klar von der des Historikers getrennt war, um die Authentizität der Erlebnisberichte zu bewahren.79 Wie drückten die Erlebnisberichte die „neue Ära“ aus und warum waren sie für die Parteileitungen so beunruhigend? In erster Linie weichten sie die Droysensche Unterscheidung zwischen der „Geschichte“ der großen politischen Taten und den alltäglichen „Geschäften“ auf; der scheinbar banale Alltag sollte eine geschichtliche Bedeutung erhalten.80 Besonders auffallend in den Berichten ist der Zerfall der bisher linearen Revolutionszeit in mehrere Zeitschichten, Rhythmen und Erzählstränge. Hinter der literarisch-stilistischen Ungeschicktheit der Kumpel verbarg sich das ambivalente poststalinistische Zeitverständnis. Das PolitischRevolutionäre vermischte sich mit dem Alltäglich-Banalen. Natürlich manifestierte sich diese Durchdringung nicht erst nach 1956, denn sie ist für die meisten Berichte der „einfachen Leute“ charakteristisch. Als eine historische Repräsentation aber, die den semi-öffentlichen Parteidiskurs prägte, war sie erst im Poststalinismus möglich.

78 Karel Kosík, Dialektik des Konkreten. Eine Studie zur Problematik des Menschen und der Welt, Frankfurt a. M. 1973, S. 72. 79 „Mitunter spürt man ja nicht ohne Erheiterung den Geist des Fragestellers an dem in den Bericht hineinpraktizierten ‚Funktionärsdeutsch‘; wenn es zum Beispiel heißt: ‚ebenso wie mein Geschlecht seit Generationen uns gute und arbeitsfreudige Bergleute erstellte, ebensolange wurde bei uns schon immer ein bemerkenswerter Unterschied in der Bezeichnung Bergmann und Bergarbeiter gemacht.‘“ Jonas, Erlebnisberichte, S. 16. 80 Pavel Kolář, Historisierung, in Frank Bösch/Jürgen Danyel (Hg.), Zeitgeschichte. Konzepte und Methoden, Göttingen 2012, S. 131–143, hier S. 131f.

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Diese Durchdringung von Alltäglichkeit und Geschichte brachte Kosík treffend in seiner Dialektik des Konkreten (1963) auf den Punkt: Alltäglichkeit ist kein Gegensatz der Geschichte, denn erst durch das Zusammentreffen der beiden offenbart sich überhaupt dieser Gegensatz. Zwar wird die Alltäglichkeit – die Arbeit im Schacht, die sich regelmäßig wiederholenden Festlichkeiten der Arbeiterschaft – durch die Geschichte, vor allem durch den Krieg und die Revolution gestört. Aber zugleich wird auch die Geschichte durch die Alltäglichkeit durchdrungen, sogar im Krieg und in der Nachkriegszeit entwickelt sich ein besonderes Alltagsleben. Das gilt auch für die sozialistische Revolution: Auch hier wird der angebliche Widerspruch zwischen der „natürlichen“ Alltäglichkeit und der „transzendentalen“ Geschichte aufgehoben. Kosík argumentiert, dass die radikale Trennung der Alltäglichkeit von der Veränderlichkeit und Geschichtlichkeit einerseits zur Mystifizierung der Geschichte führt, die als Kaiser auf dem Pferde erscheint, andererseits zur Entleerung der Alltäglichkeit, zur Banalität und zur „Religion des Alltagslebens“. Die Alltäglichkeit, die von der Geschichte abgetrennt ist, entleert sich bis zur absurden Unveränderlichkeit, und die Geschichte, die von der Alltäglichkeit losgelöst ist, verwandelt sich in einen absurd ohnmächtigen Koloss, der als Katastrophe in die Alltäglichkeit einbricht, sie aber nicht verändern, ihre Banalität nicht beseitigen, sie nicht mit Inhalt füllen kann.81

Die Verflechtung von Alltag und Geschichte zeigt sich in der Komposition der Lebensberichte. Meistens waren sie nicht in inhaltlich gegliederte Absätze geordnet, sondern setzten sich aus thematisch losen Blöcken zusammen, die mehrere Erzählfäden und Zeitebenen planlos zusammenbrachten. Die persönliche Lebenslage, wie Heirat, Kinder oder Hausbesorgung, mischte sich mit der Schilderung der Arbeitsverhältnisse, die wiederum mit Hinweisen auf die politische Revolutionstätigkeit verwoben waren, seien es kleine lokale Streiks, sei es die nationale Revolutionsbewegung oder der antifaschistische Widerstand. Um dies an einem Beispiel zu zeigen: Vor dem ersten Weltkrieg wurde am 1. des Monats nicht gearbeitet, sondern eine Flasche Schnaps ausgetrunken und ein halbes Pfund Gehacktes verzehrt. Nach dem ersten Weltkrieg gab es dann auch zweimal im Monat Geld, vorher nämlich nur einmal. Auch kriegten wir nach dem ersten Weltkrieg Urlaub, sonst wurde nur an den Feiertagen, wie Weihnachten usw., nicht gearbeitet. 1918 ging ich in den Verband. Es ist bei dem Bergmann so Sitte, daß er nebenbei ein Stückchen Acker hat und sich Vieh füttert. Als ich 1912 heiratete, war alles schon ein bißchen besser, man mußte sich natürlich einrichten und sehr sparsam sein. Es gab eben verschiedene Menschen, der eine aß alles auf, der andere gönnte sich nichts und baute sich lieber ein Haus dafür und manche trugen alles in die Kneipe. Mancher Bergmann

81 Kosík, Dialektik des Konkreten, S. 76–77.

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könnte sich ein Glas Bier leisten, wenn er sich einrichtete und nicht über seine Verhältnisse lebte. Ich kann nicht bauen und nichts dafür im Magen haben. Meine Frau war mit sechs Jahren vaterlos geworden.82

Alltag und Feiertag, Arbeit und Familienleben, Not und Anstand, politische Großgeschichte und kleine Alltagsgeschäfte durchdringen sich und fließen in ein Erzählgefüge. Die Geschichte „normalisiert“ sich: Das Alltagsleben tritt der bisher als etwas „Außerordentliches“ wahrgenommenen Revolution gegenüber, das vom Alltag abgesonderte politische Bewusstsein verblasst. Die gegenseitige Durchdringung bedeutet aber auch, dass die Alltäglichkeit keinen Gegensatz zur Außergewöhnlichkeit und zur Geschichte bildet, denn die „Hypostasierung der Alltäglichkeit als des Alltags gegenüber der Geschichte als des Außergewöhnlichen“ (Kosík)83 war eben ein Ergebnis der stalinistischen Ideologisierung. Die poststalinistische Sprache der Alltäglichkeit war dagegen zwar nüchtern, beschreibend, sie vermochte es dennoch, die „Geschichte“ einzubeziehen, wie diese Beispiele anschaulich machen: In derselben Strecke, in der gefördert wurde, mußte man austreten gehen. Die Toilette bestand aus einem Gerüst, unter dem sich ein Kasten befand. Die Luft und die Anzahl der Ratten war entsprechend. 1903 bei den Reichstagswahlen bekam die Genossin Trautziehen in Gerbstedt 40 Prozent der Stimmen, darüber waren die Bürger natürlich böse. Bergmannsschützfeste gab es seit etwa 1813, es gab die Bürger- und Bergmannschützen. Sie machten jedes Jahr ein Fest, welches drei Tage dauerte, ein Schützenkönig wurde ausgeschossen.84 1918 habe ich mich an der Revolution nicht beteiligt. Bis zum Streik 1930 bin ich angefahren, habe beim Streik auch Posten gestanden. 1934 bin ich dann daheim geblieben. Wir hatten Acker und ein paar Schweine. Meine Frau hatte auch in der Landwirtschaft mitgearbeitet.85

Die stalinistische Monumentalität der sozialistischen Revolution wird durch plastische Schilderung der banalen Bedürfnisse des Alltags – von körperlichen Bedürfnissen, Gestank, Schmutz, vom physischen Unbehagen – relativiert. Obwohl die stellenweise rabelais‘sche Schilderung von hygienischen Unvollkommenheiten oft dazu dient, den nach 1945 erreichten „Fortschritt“ gegenüber Kapitalismus und Krieg herauszustellen, ist die Tendenz zur kumpelhaften Subversion nicht zu übersehen:

82 83 84 85

Jonas, Erlebnisberichte, S. 106. Kosík, Dialektik des Konkreten, S. 72. Jonas, Erlebnisberichte, S. 93. Ebenda, S. 141.

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Die Abortanlagen waren katastrophal. Es war eine furchtbare Rattenplage. Scheißen auf Wagen und Schiefern war bis 1930 üblich. In den 30er Jahren wurden verschließbare Kästen angeschafft. Wir hatten Scheißkästen mit einem Deckel darauf. In jedem Flügel stand einer, aber es waren noch zu wenig. Die hatten wir auch schon in den 20er Jahren. Auf Grund der Antreiberei nahm sich der Kumpel aber nicht die Zeit, bis zum Kasten zu laufen, denn alle 100 bis 150 m stand nur einer. Der Kumpel ging dann meistens in den Wagen, und dann wurde eben in die Schiefern raufgeschippt. Es stank immer fürchterlich. Heute sind viel mehr Kästen vorhanden, es wird auch Kalk in diese getan. Jetzt wird es auch bestraft, wenn noch jemand in die Wagen macht.86

Das ist ein ambivalentes Bild des Alltags. Einerseits ist von Ausbeutung, materieller Not und Demütigung der Arbeiter die Rede. Die Vielfältigkeit der Reaktionen der Kumpel, die sich aus der Perspektive der Parteipropaganda nicht als „würdig“ oder „heroisch“ bezeichnen lassen, spiegelte sich auch in der Beschreibung der physischen Gewalt wider. Die Erinnerungen berichten von Prügeleien zwischen den Kumpeln und vom Verprügeln von Kameradschaftsführern, die meistens nur wenig oder gar keine „politische Begründung“ hatten und sich kaum als Ausdruck des „Klassenkampfes“ charakterisieren ließen.87 Oft standen hinter dem gewaltsamen Verhalten politisch bedeutungslose, „banale“ Motive, üblicherweise Frauen oder ehrenbezogene Streite.88 Auch wenn gewaltsame politische Konflikte wie Streiks oder der Kapp-Putsch entsprechend dargestellt wurden, kam physische Gewalt überwiegend als berufszentriert vor, als ein demütigendes und strafendes Zwangsmittel der Werkherrscher. Die lakonische Beschreibung des Prügelns erweckt den Eindruck, es handele sich um selbstverständliche Geschehnisse, die zum Leben im Schacht gehören: Ich wurde auch ein paarmal von Beamten geschlagen. Es gab Häuer verschiedener Art, auch ganz ungebildete Menschen, und wenn der Junge ein Wort riskierte, dann gab es eine Schelle. Ich kannte einen gewissen Riwel in Eisleben, das war ein Roter. Der hatte mich schon immer beobachtet. Dem erzählte ich auch, daß ich schon wieder geschlagen worden bin. Der sagte mir, ich sollte mich organisieren, was ich dann auch tat, natürlich heimlich.89

Obwohl stark präsent und breit akzeptiert war die physische Gewalt nicht unbedingt in das Vokabular der Ausbeutung und des Klassenkampfes übersetzbar. Selbst Gewalt gegenüber Jugendlichen und Kindern erschien vielmehr als ein Bestandteil der akzeptierten Herrschaftsordnung denn als Element des abzuschaffenden kapitalistischen Ausbeutungssystems. Es wurde oft wiederholt, dass es 86 87 88 89

Ebenda, S. 82 und S. 85f. Ebenda, S. 85. Ebenda, S. 125. Ebenda, S. 134.

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einem gut gehen konnte, wenn man die Regeln respektierte. Damit wurde die Notwendigkeit des revolutionären Handelns in Frage gestellt: Die Häuer behandelten die Jungen sehr schlecht, es gab auch Beamte, die gleich Prügel austeilten. Ich war 19 ½ Jahr im Bohrbetrieb tätig, dort wurde das meiste Geld verdient, und ich hatte eine große Familie zu ernähren. Die Luftverhältnisse waren katastrophal. Es war so wenig Sauerstoff da, daß stellenweise die Arbeit verlassen werden mußte. Dann bekamen wir auch die Karbidlampen. Wenn die Jungen sehr fleißig waren, bekamen sie zur Belohnung einen Taler und ein Päckchen Tabak. Gehacktes und Bier bezahlten die Häuer am Ersten für sie.90

Ein ambivalentes Bild ergibt sich auch aus dem Gebrauch der Schlüsselausdrücke wie „Kameradschaft“ und „Kumpel“ selbst. Es gab Hilfsbereitschaft und Solidarität, die von banalen Sachen im Alltag bis hin zur gewerkschaftlichen und politischen Organisation reichten. Aber die Wärme und die kumpelhafte Nähe findet man am häufigsten jenseits des Politischen. Meistens ging es den Arbeitern um banale „Geschäfte“ und nicht um die epochemachende Geschichte, um die Flucht aus der Arbeit (und damit aus dem sozialen und politischen Konflikt) in den Festtag. Am Festtag ist der Kumpel schwächer und bestechlicher. Gerade das kritisierten die Mansfelder Parteifunktionäre am schärfsten: Dass die Kumpel wie unpolitische Trottel und harmlose Einzelgänger daherkamen, die sich nur um das Bier und die Wurst kümmerten. Tatsächlich führten die Berichte immer wieder „unpolitische“ Beschäftigungen an, die das Bild des kämpfenden Arbeiters in Zweifel zogen. Die Erinnerungen bezogen sich auf Feste, Tanzabende und Trinkgelage, oft auch ohne jegliche Erwähnung von explizit politischen Zusammenhängen. Nur ausnahmsweise erscheinen die von den Werken organisierten und bezahlten Bier- und Tanzfeste als mitverantwortlich für die „Verdummung“ der Kumpel.91 Stellenweise kommt auch die subalterne Attitüde der Arbeiter gegenüber den Steigern und den Werkleitungen zutage – sei es während der Feste, als die Bergleute den Vorgesetzten und den Steigern ihre Frauen zum Tanzen anboten, um dann verschiedenartig begünstig zu werden; sei es in Form von Bestechung durch Speck, Würstel und Eier. Dabei erwähnten die Berichte die „Lieblinge“ und „Kriecher“ unter den Arbeitern sowie die erfolgreichen Methoden der Steiger, die einzelnen Kameradschaften gegeneinander auszuspielen.92

90 Ebenda, S. 102. 91 Ebenda. S. 55. 92 Ebenda, S. 41–46 und S. 78.

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Diese ideologisch uneindeutige Bewertung der Epoche wurde dadurch bekräftigt, dass die „Ausbeuter“ zuweilen ungewollt positiv dargestellt wurden, zum Beispiel als der „gute Direktor“, der sich den Arbeitern gegenüber freundlich verhielt und zu dessen Begräbnis eine Delegation von Bergleuten gesandt wurde,93 oder als „Frau Direktorin“, die Kränzchen für die Bergmannsfrauen organisierte, über die einige Begünstigungen und Beförderungen erreicht werden konnten.94 Bestechungen und Kompromisse wurden zwar als „Schattenseiten“ und „schmierige Geschäfte“ verurteilt, aber zugleich als allgemein verbreitete Erscheinungen präsentiert, genauso wie Bespitzelung, Trinkgelage, Verzechen des Lohns und die bedrückende Lage der Frauen, einschließlich der häuslichen Gewalt.95 Das schwächte den Gegensatz zwischen der guten Arbeiterklasse und den bösen Ausbeutern und verwischte die Konturen der „Revolutionsepoche“: Die Revolution war nunmehr verhandelbar, Ergebnis des menschlichen Handelns eher als „geschichtlicher Kräfte“. Vor einem solch bunten gesellschaftlichen Hintergrund ließ sich die Arbeiterklasse schwer als eine entschlossene Kampfgemeinschaft darstellen. Die Bergarbeiter traten oft so überfordert, erschöpft und mit ihren eigenen Sorgen beschäftigt auf, dass eine aktionsfähige Arbeiterbewegung kaum denkbar schien. Die Erzähler berichten von Feigheit und Unterwerfung, sowie auch von der erfolgreichen Erziehung zur Autoritätsgläubigkeit und Hörigkeit durch die Betriebsleitungen, wie zum Beispiel mit Hilfe der Siedlungspolitik der AG.96 Diese Situation beeinträchtigte den Willen zum politischen Engagement. Einige Erzähler gaben zu, Angst gehabt zu haben, sich in der Arbeiterbewegung zu betätigen. Die politische Tätigkeit galt als schwierig und riskant, nicht nur wegen drohender Repressionen, sondern auch wegen der mangelnden Bereitschaft der Arbeiter. Die Frühgeschichte der KPD erscheint als eine schwere Geburt, durch Uneinigkeit und Aktionsunfähigkeit gekennzeichnet: Die Partei war sehr locker, sehr legér. Es war schwer, die richtige Linie hineinzubringen, da sie nicht genügend revolutionär waren, auch zu wenig Organisationstalent hatten. Die Aufnahme in die Partei vollzog sich folgendermaßen: Man füllte alles auf einem Block aus, dieser wurde durch die Bezirksleitung bestätigt; Bürgen brauchten wir damals nicht zu haben.97

93 94 95 96

Ebenda, S. 54. Ebenda, S. 87. Ebenda, S. 43. Ebenda, S. 100. Die Erinnerungen sind voll von Beispielen der subalternen Attitüde. Auch die von den Betrieben veranstalteten Schützenfeste wurden eher positiv dargestellt („das Darlehen von der AG wurde restlos vertrunken“, Ebenda, S. 114). 97 Ebenda, S. 118.

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Die Schilderung dessen, wie die Beamten und Vorgesetzten (vor allem die Steiger) „ausgetrickst“ wurden, warf ein ambivalentes Licht auf die Gestalt des Kumpels, der eher als ein listiges Füchslein denn ehrenvoller Kämpfer erschien. Wenn statt revolutionärer Tätigkeit „blaugemacht“ und Unfug getrieben wird,98 ähnelt der Kumpel wenig einem kämpferischen oder verfolgten Revolutionär.99 Trotz oder vielleicht eher wegen dieser Ambivalenzen hielten die Berichte an der Vergangenheit als dem „Goldenen Zeitalter“ fest. Die Würde und Ehre der Arbeiter waren in der Arbeitermentalität tief verwurzelt, wie auch der Glaube, trotz aller Schwierigkeiten ein anständiges Leben geführt zu haben, das sich überwiegend in der als Ressource verstandenen Privatsphäre abspielte: Wir hatten vor dem ersten Weltkrieg trotz aller Terrormaßnahmen und Einschränkungen immer noch so leidlich gelebt, bis der Krieg alles vernichtete, und so war es noch einmal, als Hitler kam, bloß daß es bei ihm auf Kosten der überfallenen Staaten geschah und wir nun heute die Rechnung, die er hinterlassen, bezahlen müssen; hoffentlich geht es unseren Nachkommen einmal besser.100

Aus der stark ausgeprägten Bedeutung der Wärme der Arbeitsverhältnisse wie auch des darauf basierenden Privatlebens speiste sich der selbstverteidigende Eigensinn der Arbeiter, der nicht nur dem „Klassenfeind“, sondern allen ideologischen Großerzählungen galt. Entscheidend für diese Selbstwahrnehmung war die Verwurzelung im Arbeitsprozess und im Alltag: „Der Schacht war unser Schicksal und wir gehörten ihm von der ersten bis zur letzten Schicht; er gab uns Arbeit und Brot.“101 Die politische Arbeit war wichtig, aber nicht das Ein und Alles des Arbeiterlebens. Auf keinen Fall war sie wichtiger als die Kameradschaft und die gegenseitige Hilfe im Schacht. Der Fortschritt bezog sich in den Berichten eher auf die Verbesserung materieller Bedingungen als auf die neue Gesellschaftsordnung und Emanzipationsideale. Und er bestand vor allem darin, dass man nach 1945 im Schacht mehr „Scheißkästen, mit Deckel drauf“ hatte. In den Jahren 1956 und 1957 waren diese Bilder mehr als nostalgische Farbdrucke. Sie bildeten den Referenzrahmen des potenziell wiederherzustellenden Goldenen Zeitalters mit seiner Wärme und Geborgenheit, die nicht nur durch den Kapitalismus und Faschismus, sondern auch durch den Stalinismus verloren gingen. Diese Bilder wurden oft von den Parteileitungen kritisiert, aber gerade die besorgte Aufmerksamkeit, die die poststalinistische Partei diesen Schilderungen widmete, zeigt ihre Anziehungskraft. Die Melange von Alltag und Revolution, 98 99 100 101

Ebenda, S. 108. Ebenda, S. 150. Hier ist von der „alten Wankelmütigkeit“ der Kumpel die Rede. Ebenda, S. 55. Ebenda, S.147.

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Permanenz und Ausnahme, gewaltsamer Konfrontation und harmonischem Zusammenleben gewann kritisches Potenzial und politischen Sinn. Die Ende der fünfziger Jahre einsetzende Welle kollektiver Arbeitergeschichten und individueller Arbeitermemoiren veränderte das bisher geltende Bild der kämpferischen Arbeiterklasse. Diese Tendenz wurde ungeplant auch von der Bewegung der „Betriebsgeschichte“ verstärkt, die die Parteiführungen nach 1956 förderten. Im Gegensatz zum sozialistisch-realistischen „Betriebsroman“ eröffnete der Blick auf die einzelnen Betriebe trotz andauernder Ideologisierung eine mikrohistorische Perspektive auf die Arbeiterklasse, die die inneren Widersprüche und damit auch den Schematismus des stalinistischen Geschichtsbildes entblößte. Laut den KSČ-Richtlinien für die Erforschung der Betriebsgeschichte von 1962 sollten in den Betrieben Diskussionen mit den Arbeitern über die verfassten Geschichtsdarstellungen organisiert werden, damit „die Betriebsgeschichte vor allem die Geschichte ihrer Schöpfer würde“.102 Die Geschichten der einzelnen Betriebe hatten vor allem der „Konkretisierung“ zu dienen, um den „Kampf um die Massen“ in „verschiedenartigen Umwelten“ zu veranschaulichen.103 Die Konkretisierung wurde als ein Mittel gegen den willkürlichen Umgang mit der historischen Zeit, gegen die stalinistische Enthistorisierung und Verstümmelung der Geschichte verstanden. Genauso wie die Arbeitermemoiren gab auch die Betriebsgeschichte ein ambivalentes Bild der Formierung der Arbeiterklasse. Diese Ambivalenz kam in der Beratung des KSČ-Geschichtsinstituts im Oktober 1960 zum Ausdruck, wo eine strenge Faktizität in den „Betriebsgeschichten“ verlangt wurde: Das lokale Realgeschehen sollte das übergreifende Entwicklungsschema des historischen Materialismus zwar nicht bezweifeln, zugleich aber auch nicht den Entwicklungslinien angepasst werden, wo die „Fakten“ ein anderes Bild ergaben. Man warnte vor den für die stalinistische Geschichtsschreibung typischen „Zeitsprüngen“, die die Glaubwürdigkeit der Geschichtsdarstellungen schwächen können. So wurden die bestehenden Darstellungen des frühen 19. Jahrhunderts dafür kritisiert, dass sie die Arbeiterbewegung auf eine Zeit übertrugen, in welcher sie noch gar nicht existierte. Man wollte keine künstlichen Traditionen schaffen.104 Die Betriebshistori102 NA, ÚD KSČ, sv. 82, a.j. 535, Směrnice pro rozvoj regionálních dějin KSČ, Bl. 39. 103 NA, ÚD KSČ, sv. 82, a.j. 535, Zajištění směrnic pro rozvoj regionálních dějin, 11.9.1962, Bl. 45; „Der Beschluss des Sekretariats des ZKs vom 22.6.1960 über die Bearbeitung und Popularisierung der Betriebsgeschichte fand unter den Arbeitstätigen in den Betrieben einen starken Widerhall und wuchs in eine breite Bewegung.“ Ebenda, Návrh na třítýdenní internátní školení, Bl. 64. 104 NA, ÚD KSČ, sv. 82, a.j. 535, Metodologické zásady regionálního zpracování dějin KSČ, 25.10.1960, Bl. 6.

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ker sollten gegen die „Verzerrungen und Verdrehungen der Wirklichkeit eintreten, eine „viel zu starke Deskriptivität“ vermeiden und den Nachdruck auf das Kollektiv legen, um „das Handeln, die Ziele und Motive der Partei“ zu deuten. Biographien von Arbeiterkämpfern seien keine Geschichten von „unfehlbaren Helden“.105 Das Lavieren zwischen der Authentizität, die das Geschichtsbild fragmentierte, und dem ideologischen Homogenisierungszwang führte zur Spannung zwischen den verschiedenen Zeitkonzepten: Der revolutionären Handlungszeit einerseits, und der sozialen Zeit der lokalen Arbeiterwelten andererseits, die sich nicht an das große Geschichtsschema anpassen ließen. So erinnerte man zwar die Parteihistoriker daran, die lokalen Ortschroniken „kritisch zu betrachten“, gleichzeitig wurden die oft unpolitischen örtlichen Narrative durch das Ernst-Genommen-Werden anerkannt und legitimiert.106 So hatte auch die anfänglich als revolutionsverstärkend konzipierte „Betriebsgeschichte“ eine fragmentierende Wirkung. Denn in den meisten Darstellungen geschah genau das, wovor die „Richtlinien“ warnten: Der Revolutionseifer der Massen verwässerte sich in einer bruchstückhaften Geschichte der Einzelbetriebe mit klarer Dominanz der technischen und wirtschaftlichen Aspekte. Die Tendenz zur Aufweichung ideologischer Konturen lässt sich an dem Erinnerungsband zur Geschichte der Textilfabrik in Liberec in Nordböhmen von 1965 gut beobachten.107 Ähnlich wie die Berichte der Mansfelder Kumpel entkräften die Erinnerungen aus Liberec die Klarheit der revolutionären Zeitordnung, indem sie ein ambivalentes Bild der „aussterbenden“ Ausbeuterklasse zeichnen. Dem Besitzer der Reichenberger Textilfabrik Theodor Liebig schrieben die Erinnerungen wiederholt positive Verdienste zu, zum Beispiel für sein „einfühlsames Verhalten“ im Ersten Weltkrieg.108 In der Darstellung des Krieges mangelt es an der für den Kommunismus typischen antibürgerlichen Rhetorik. Ganz im Gegenteil berichten die Beiträge von der wohltuenden Tätigkeit von „Baron Liebig“ und seiner Frau, wie etwa von der Einrichtung des Militärspitals. Im Mittelpunkt der Erzählungen steht nicht der unerbittliche Kampf gegen die Bourgeoisie, sondern der Krieg als solcher, der Alltag und die schwierige soziale Lage der Arbeiter. Die lokale kommunistische Erinnerung setzte sich mit einem neuen Typus des kapitalistischen Unternehmers auseinander, der – ähnlich wie der berühmtere Tomáš Baťa in Zlín109 – eine aktive Sozialpolitik für seine Angestellten betrieb. 105 106 107 108 109

Ebenda, Bl. 9. Ebenda, Bl. 10. Z minulosti a přítomnosti Textilany. Sborník statí a vzpomínek, Praha 1965. Ebenda, S. 12. Annett Steinführer, Stadt und Utopie. Das Experiment Zlín 1920–1938, in: Bohemia 43, 2002, S. 33–73.

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Als ein „eingeschworener Feind“ der Arbeiterklasse konnte er wohl nicht bezeichnet werden, auch wenn seine Sozialpolitik eher strategisches Kalkül als Ausdruck von Menschenfreundlichkeit war. Liebigs Ziel sei immer die Spaltung der Arbeiterklasse gewesen; zugleich wurde allerdings diese negative Darstellung durch das Loben seiner Modernisierungsleistung ausgewogen („eine der bestens ausgestatteten Textilfabriken Mitteleuropas“110). Hinzu kam das Hervorheben der verhältnismäßig hohen Qualität der Arbeiterwohnungen („Ihre Qualität übertraf die der Durchschnittswohnungen im damaligen Liberec“111). Daraus folgte die Ratlosigkeit in der Beurteilung Liebigs: „Auf der anderen Seite müssen wir gestehen, dass es Liebig – dem Besitzer der größten Textilfabrik in Nordböhmen, die zu den am besten eingerichteten in der ganzen Tschechoslowakei zählte – gelungen ist, ein ganzheitliches und leider teilweise wirksames System zu schaffen, das die Arbeiterschaft beeinflusste und ihre Einheit spaltete.“112 Das ist eine im Stalinismus kaum denkbare Einschätzung der „kapitalistischen Epoche“. Vergleichbar differenziert und versöhnungsorientiert werden auch der deutsch-tschechische Nationalkonflikt, der Zweite Weltkrieg und die Zwangsaussiedlung der Deutschen behandelt. Die Erzählung vom Krieg vermeidet krassen Antagonismus und konzentriert sich überwiegend auf die Geschichte der Technik. Die Fabrikbesitzer sind überraschenderweise nicht als Nazi-Kollaborateure gebrandmarkt, und manche haben sich angeblich sogar von der sudetendeutschen Partei distanziert. Man unterstrich die antifaschistische Einstellung der deutschen Arbeiterschaft, offen deutschfeindliche Bemerkungen sind selten anzutreffen. In den meisten Gebieten lebten Deutsche und Tschechen friedlich nebeneinander.113 Auch die Aussiedlung der Deutschen wurde als friedlich und ordentlich beschrieben, die revolutionäre Übernahme nach 1945 „verlief in vollkommenem Frieden und vollkommener Ordnung“.114 Diese Aussagen veranschaulichen den besonderen Charakter der poststalinistischen Nostalgie, die keine pathetische Sehnsucht nach einer monumentalisierten Vergangenheit mehr war. Zugleich mussten vor dem Hintergrund der unmittelbaren tragischen Erfahrungen des Kriegs und des Stalinismus solche nüchternen Bilder als eine mögliche Zukunftsvision gewirkt haben. Nostalgie und Utopie sind somit miteinander verflochten, indem die Verherrlichung einer bestimmten Vergangenheit gleichzeitig eine Sehnsucht nach einer zwar unbestimmten, aber si-

110 111 112 113 114

Z minulosti a přítomnosti Textilany, S. 25. Ebenda, S. 26. Ebenda, S. 26. Ebenda, S. 39. Ebenda, S. 57.

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cherlich besseren Zukunft impliziert.115 Die Bilder eines harmonischen Zusammenlebens der Arbeiter tragen die Züge einer Utopie, die nicht ausdrücklich der linear verstandenen Zukunft zugewandt ist. Damit hängt der Wunsch zusammen, die Irreversibilität der großen Zeit aufzuheben, die große Zeit mit ihren – meistens verhängnisvollen – Ereignissen aufzuhalten. Einer tumulthaften Revolutionszeit folgt die Auszeit der großen historischen Zeit. Wie ist die poststalinistische Nostalgie im Kontext des Nachkriegseuropas zu verorten? Charles Maier unterscheidet für das Nachkriegsdeutschland zwischen „Nostalgie“ und „Sehnsucht“ (longing): Während die erste rückwärtsgewandt ist, auf Erinnerung basiert und im Grunde der Melancholie ähnelt (da die Vergangenheit als nicht wiederherstellbar gilt), ist die Sehnsucht zukunftsorientiert. Nostalgie soll bestehen bleiben, ist konservativ; Sehnsucht dagegen gibt sich nicht mit bloßer Evokation zufrieden, sondern strebt eine Verwirklichung durch politische Handlung an.116 Nach dem Krieg, so Maier, müssen sowohl die Sieger als auch die Besiegten ihre Sehnsucht stets umgestalten: Die Deutschen sehnten sich nach dem verlorenen Osten und nach Nationaleinheit. Die polnische Sehnsucht orientierte sich nach 1956 auf die verlorene Unabhängigkeit und Nationalgröße zwischen Deutschland und Russland. Die Tschechen und Slowaken sehnten sich nach der im Krieg und Stalinismus verlorenen Geborgenheit und Harmonie ihrer kleinen Welt.117 Obwohl die Sehnsuchtsbilder des Poststalinismus ihre Wirksamkeit aus dem Gefühl des Verlustes der althergebrachten Harmonie schöpften, ist die poststalinistische Nostalgie nicht mit einem Restaurationsversuch gleichzusetzen. Das Interesse an Alltagsdetails, an konkreter Handlung und allmählicher Veränderung enthielt ein zukunftsveränderndes Potential. Die poststalinistischen Erinnerungsbilder verbinden das Geschichtliche mit dem Alltag, dem Individuellen und Ver115 František Graus bemerkte 1987 sarkastisch: „Der Begriff ‚Nostalgie‘ hat bisher – beinahe ist man versucht zu sagen: glücklicherweise – kaum besondere ‚theoretische Beachtung‘ gefunden.“ Graus, Goldenes Zeitalter, S. 93. Dieser Zustand hat sich seitdem „leider“ verändert: siehe u. a. Peter Fritzsche, Specters of History: On Nostalgia, Exile, and Modernity, in: American Historical Review 106, 2001, S. 1587–1618; Svetlana Boym, The Future of Nostalgia, New York 2001; Dies., Nostalgia and its Discontents. The Hedgehog Review, Institute for Advanced Studies in Culture, Charlottesville 2007. 116 Charles Maier, The End of Longing? Notes Toward a History of Postwar German National Longing, in: John S. Brady u. a. (Hg.), The Postwar Transformation of Germany. Democracy, Prosperity, and Nationhood, Ann Arbor 1999, S. 271–285, hier S. 273–274. 117 Zu Polen Marcin Zaremba, Im nationalen Gewande. Strategien kommunistischer Herrschaftslegitimation in Polen 1944–1980, Osnabrück 2011, S. 231–270; zur tschechischen „Kleinheit“ Ladislav Holy, The Little Czech and the Great Czech Nation, Cambridge 1996.

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änderbaren. Diese Auffassung findet sich auch bei den bedeutenden poststalinistischen Denkern wie Ernst Bloch, Michail Bachtin, Karel Kosík oder Zygmunt Bauman. In ihrer Konzeption der Geschichte kam es nicht darauf an, die verlorene „Heimat“ wieder zu erreichen, sondern anhand der Rekonstruktion der früher unterdrückten Vergangenheit die Vielfalt von möglichen Zukunftsversionen darzulegen. Die verlorene Herkunft und die vermisste Heimat wurden eher verzeitlicht, das heißt in eine konkrete Zeit versetzt, als völlig aus der Zeit herausgenommen. Das Verhältnis zum Verlorenen ist somit vielmehr durch zeitliche Distanz und historischen Wandel als Identität definiert. Da die Vergangenheit, im Unterschied zum Stalinismus, nicht mehr mit der Gegenwart identisch oder nach ihrem Bild geschaffen ist, bietet sie mehrfache nicht-teleologische Alternativen für die Zukunft. Die kreative Sehnsucht bzw. die „reflexive Nostalgie“ (Svetlana Boym) des Poststalinismus unterschied sich sowohl vom Stalinismus, der seinen radikalen Zukunftsentwurf auf einem enthistorisierten, monumentalen Vergangenheitsbild aufbaute, als auch von der restaurativen Nostalgie des Spätsozialismus, die in der idealisierten Vergangenheit zerfließt (und keine Bewegung in die Gegenwart fordert). Sowohl der Stalinismus als auch die restaurative Nostalgie neigten dazu, die Zeit zu beherrschen und zu überwinden. Beide basierten auf einem statischen Bild der Vergangenheit. Die poststalinistische Sehnsucht, wie sie sich in Arbeiterberichten widerspiegelt, verzeitlicht dagegen den Raum, indem sie die Vergangenheit anhand von Erinnerungsfragmenten dauernd neu gestaltet.118 Die Arbeitermemoiren aus den späten fünfziger und den sechziger Jahren zeigen dieses Gemenge von Zeitregimen auf individueller Ebene. Sie vereinigen in sich die Großerzählung der restaurativen Nostalgie mit der Ambivalenz und Offenheit der reflexiven Nostalgie. In den Erinnerungen findet sich ein Miteinander der größeren Politikgeschichte und eines breiteren Geschichtsraumes des Vorpolitischen, der vor allem die Alltagsgeschichte, darunter auch die Arbeits- und Technikgeschichte, einschließt. Die kommunistische Obsession mit dem technischen Fortschritt setzte sich auch nach dem Stalinismus fort, allerdings veränderte sich ihre Stoßrichtung: Anstatt des Eroberungsangriffes auf die Natur stellte nun die Technik eine subtile, methodische, quasi dialogische Nutzung der materiellen Welt dar. Das Buch Die Erinnerungen eines Gießers von Karel Vyhnal, in Prag 1963 veröffentlicht, vereinigt beispielhaft beide Erzählebenen: die alltägliche technische Arbeit und die politischen Großveränderungen.119 Der Unterschied zum Stalinismus bestand darin, dass das Letztere Ersteres nicht überwältigt. Im Mittelpunkt der offen nostalgisch aber zugleich zukunftsweisenden Darstellung steht der Be118 Vgl. Boym, Nostalgia and its Disconents, S. 15. 119 Karel Vyhnal, Vzpomínky slévače, Praha 1963.

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griff der Qualitätsarbeit, die nationale Widersprüche überwindet.120 Sie drückte sich im Respekt des Tschechen für die deutsche Qualitätsarbeit aus, wie sie Vyhnal in Nürnberg vor dem Ersten Weltkrieg erlebte, samt dem kameradschaftlichen Geist in der Werkstatt.121 Dagegen sei die rein politische Arbeit in den Arbeiterparteien und Gewerkschaften meistens durch Untreue, Konflikte, Zwistigkeiten und Rivalität gekennzeichnet. Die geschichtliche Ordnung der Arbeitererzählung wird durch die Fortschritte der Technik und der Arbeit im Marxschen Sinne, als menschliche Auseinandersetzung mit der Natur, getragen. Dagegen wirkt die große politische Geschichte den Erinnerungen von außen aufgesetzt und daher ironischerweise wie ein wahrer „Überbau“ im vulgär marxistischen Sinne, nicht als Bestandteil des wirklichen Lebens. Der monumentalisierten Großrevolution steht die dichte Beschreibung der Technik und der Arbeitsbedingungen gegenüber, die sich über die politischen Zäsuren hinweg entfalten. Vyhnals Erinnerungen sind ein Technikhandbuch und zugleich eine Geschichte der Arbeiterklasse um die Jahrhundertwende. Die Harmonie der Arbeitswelt – in der Werkstatt, der Hütte, der Gießerei, ähnlich wie in den Darstellungen Jonas’ von der Arbeit im Schacht – kontrastiert mit der unruhigen und gefährlichen Außenwelt: Die Arbeit stellte den Raum des Eigensinns dar, der Erfindungskraft, des technischen Scharfsinns, der Handlungsmöglichkeiten; draußen dagegen walteten Einschränkungen, Zwänge und Schicksalsschläge. Vyhnals Memoiren waren ein poststalinistisches Vermächtnis der älteren Facharbeiter an die jüngere, bereits im Staatsozialismus aufgewachsene Generation. Die Botschaft hebt jedoch nicht die von oben gelenkte politische Aktivität, wie sie im Stalinismus üblich war, hervor, sondern die eigensinnige Schöpfungsarbeit, die letztendlich die Basis einer besseren Welt bildet. Das Bewusstsein der Unvollkommenheit war dabei bestimmend: Dass man immer wieder „Ausschüsse“ produzieren werde, damit müsse man sich abfinden. Es komme darauf an, durch Erneuerungsbemühen, Findigkeit und Erfindungselan „die Ausschusszahlen zu reduzieren“.122 Die poststalinistische, „wirklichkeitsorientierte“ Auffassung des Sozialismusaufbaus als Reparatur konnte kaum treffender auf den Punkt gebracht werden. Die Erinnerungen von Vyhnal und von vielen anderen seiner Zeitgenos120 Hierzu Alf Lüdtke, „Deutsche Qualitätsarbeit“ – ihre Bedeutung für das Mitmachen von Arbeitern und Unternehmern im Nationalsozialismus, in: Aleida Assmann u. a. (Hg.), Firma Topf & Söhne: Hersteller der Öfen für Auschwitz. Ein Fabrikgelände als Erinnerungsort? Frankfurt a. M. 2002, S. 123–138. 121 Vyhnal, Vzpomínky, S. 37. Vyhnals Lob der Verhältnisse in der Nürnberger Hütte geht sehr weit: bessere kollegiale Verhältnisse, ein viel fortgeschritteneres System der Sozial-, Kranken- und Altersversicherung sowie eine bessere Kantine. Während er in Prag von Kollegen in der Werkstatt bestohlen wurde, hätte dies in Nürnberg nie passieren können. 122 Vyhnal, Vzpomínky, S. 7–8.

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sen sind weder einseitig nostalgisch noch benutzen sie die Vergangenheit als bloße Projektion für den übergreifenden Zukunftsentwurf. Sie zielen auf die Sicherheit des Erreichten ab, ohne die Wege in die Zukunft ganz zu sperren. Auf diesem Weg behauptete sich in der poststalinistischen Sinnwelt die Erinnerung an das Vergangene – eigentlich ein grundsätzlich nicht-marxistisches Konzept, ein existenzielles, „bürgerliches“ Gerümpel. Marx verspottete Vergangenheit und Tradition als Alp, der auf den Hirnen der Lebenden liegt. Stalin benutzte zwar Vergangenheit, aber nicht als erzählte Erinnerung, sondern als Katechismus. Die Poststalinisten öffneten Pandoras Büchse der Erinnerungen, um diesen Katechismus glaubwürdiger zu machen. Heraus kam eine kontinuierliche Auseinandersetzung um die Geschichte, die den Marsch nach vorne zwar immer wieder bremste, doch fortwährend in Gang hielt.123

Die Geborgenheit der Vergangenheit Die Gefühle der Geborgenheit und Wärme des Alltags, die die poststalinistischen Vergangenheitsbilder anboten, wurden vor allem von denjenigen ausgedrückt, die sie in Wirklichkeit nicht genießen konnten: Ausgeschlossene, Flüchtlinge und Vertriebene. In den kommunistischen Parteien kam diese Einstellung oft bei den Re-Emigranten vor, die sich nach der Rückkehr aus dem Exil in den neuen Parteistrukturen kaum wiederfinden konnten. Zum Beispiel schrieb nach ihrer Rückkehr 1946 die jüdische kommunistische Schriftstellerin Anna Seghers, dass sie in der SED zunächst „Angst, Kälte und Entfremdung“ spürte.124 So sehr die deutschen Emigranten ihre Heimat im Exil vergötterten, wie der Wirtschaftshistoriker Jürgen Kuczynski, der sich „mit der deutschen Kultur und Tradition“ verbunden

123 Die anthropologische Forschung zeigt, wie die Versuche von Staaten, der Gesellschaft ein offizielles Bild der gewaltsamen Vergangenheit aufzuzwingen, stets kritische Gegennostalgie hervorrufen. „When the state discourse on the memory of violence and struggles of the past suppresses alternative views, it not only tends to exclude certain others and falsify history but may also engender in itself new resistance to its present-day authoritarian policies in other domains. In this process, a post-colonial regime’s ‘amnesia’ may be seen, in turn, to generate nostalgia on the part of those constituencies that feel slighted or excluded.” Jon Abbink/Klaas Van Walraven (Hg.), Rethinking Resistance in African History. An Introduction, in: Dies. (Hg.), Rethinking Resistance. Revolt and Violence in African History, Leiden 2003, S. 1–40, hier S. 36–37. 124 Doris Danzer, Zwischen Vertrauen und Verrat. Deutschsprachige kommunistische Intellektuelle und ihre sozialen Beziehungen (1918–1960), Göttingen 2012, S. 417.

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fühlte und sie „im wahrsten Sinne des Wortes“ liebte,125 so war für sie die anschließende Parteiarbeit oft eine Enttäuschung, die während der stalinistischen Repressionen noch zunahm. Die Rückkehr mancher Exilkommunisten erscheint eigentlich als ein non-return. Ihre Unfähigkeit, wieder heimisch zu werden, konnte aber auch als eine ermächtigende Kraft, als Überlebensstrategie wirken, wie Svetlana Boym bemerkte.126 Das Gefühl der Abschottung war ein allgemeines Problem der europäischen Kommunisten. Die französischen Kommunisten waren nach 1945 von außen abgeschnitten, erfreuten sich aber in den roten Regionen Zentral- und Südfrankreichs einer großen Popularität. Diese Ausgrenzung stärkte ihr Zusammengehörigkeitsgefühl, und auch die aktive Sozialpolitik der Partei förderte die Geborgenheit der örtlichen Arbeitswelt. Der Zusammenhalt des lokalen Arbeitermilieus wurde ideologisch durch die von oben aufgesetzte Einordnung der kommunistischen Bewegung in die französische Revolutionsgeschichte gefestigt. Die lokale Partei, ihre kleine, auf Freundschaft und Solidarität fußende Alltagswelt bot jedoch mehr Schutz und Sicherheit als die unberechenbare große Geschichte.127 Noch strenger war die Abschottung der Kommunisten nach 1945 in Westdeutschland. Aber obwohl die KPD von der Mehrheitsgesellschaft noch stärker als die KPF abgelehnt wurde, schöpften auch die westdeutschen Kommunisten ihre Kraft aus dem Zusammenwirken von lokaler Geborgenheit und dem Bewusstsein der Zugehörigkeit zu einer universalen Weltbewegung.128 Trotz traditionsreicher Vergangenheit erwies sich die Geborgenheit der westdeutschen Kommunisten als nicht stark genug, um die Partei zusammenzuhalten. Zugleich waren äußere Desintegrationsfaktoren am Werk, vor allem der erfolgreiche „administrative Antikommunismus“ der westdeutschen Regierung wie auch die lokalen Integrationsangebote aus der Mehrheitsgesellschaft. Die Liberalisierung der sechziger Jahre

125 Zit. n. Mario Keßler, Exilerfahrung in Wissenschaft und Politik. Remigrierte Historiker in der frühen DDR, Köln 2001, S. 20. 126 Boym, Nostalgia and its Disconents, S. 16. „So much has been made of the happy homecoming that it is time to do justice to the stories of non-return and the reluctant praise of exile. Non-return home in the case of some exiled writers and artists turns into a central artistic drive, a homemaking in the text and artwork, as well as a strategy of survival. Ordinary exiles often become artists in life who remake themselves and their second homes with great ingenuity. Inability to return home is both a personal tragedy and an enabling force.” 127 Cristina Léon, Zwischen Paris und Moskau. Kommunistische Vorstadtidentität und lokale Erinnerungskultur in Ivry-sur-Seine, München 2012, S. 125ff. 128 Till Kössler, Abschied von der Revolution. Kommunisten und Gesellschaft in Westdeutschland 1945–1968, Düsseldorf 2005.

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und die Entstehung der neuen sozialen Bewegungen besiegelten diesen Auflösungsprozess.129 Trotz einiger Unterschiede zeichnet sich auch in den Ostblockparteien ein ähnliches Muster der Sehnsucht nach Geborgenheit in der Parteivergangenheit ab. Vor allem stellte die vorstalinistische Partei die ursprüngliche Heimat, das verlorene Zuhause dar. Es war in dieser Sicht der Stalinismus, der die Vorstellung des sicheren Daheims durch die Mobilisierung der Privatsphäre und durch das Zerreißen zwischenmenschlicher Beziehungen in Frage stellte. Das „Öffnen des Zuhauses“ (otevírání domova), das der tschechische Literaturwissenschaftler Vladimír Macura als einen der Bausteine der kommunistischen Emblematik charakterisierte (vor allem das Öffnen und Hereinlassen der Produktion und der politischen Mobilisierung in die Privatsphäre),130 wurde im Stalinismus zu einer Vergewaltigung der Privatsphäre wie auch der „warmen“, genossenschaftlichen Partei. In der poststalinistischen Sinnwelt stellte somit die Partei einen Mischraum zwischen der (im Stalinismus gestörten) Privatsphäre und der sozialistischen Großgemeinschaft dar. Sie wurde als ein „Heimat-Ort“ verzeitlicht und in eine utopische Sehnsucht verwandelt. Das Band zwischen dem Menschlichen und dem Politischen wurde nicht nur durch „Bürokratismus“ und „Personenkult“ zerrissen, sondern auch durch die schiere Vermassung der Parteien nach 1945. Für die älteren Parteimitglieder war die bürokratisierte und vom Parteiapparat durchherrschte Massenpartei ein Fremdelement. Nach 1956 riefen die deutschen Altkommunisten gerne die kleine, isolierte KPD in Erinnerung als eine authentische, natürlich gewachsene und menschlich in sich geschlossene Solidaritäts- und Kampfgemeinschaft. Ein ehemaliges KPD-Mitglied aus Aschersleben schilderte im November 1956, „wie vor 1933 die kleine KPD, die alle gegen sich hatte, alle Argumente, die gegen sie Vorgebracht wurden, zerschlug, unter Mithilfe aller Genossen. Das war auch nur möglich, weil sich alle Genossen der KPD untereinander kannten und einer für den anderen gerade stand, was heute nicht mehr so der Fall ist. Weiter führte er aus, dass wir eine große Partei sind“.131 Die Diskussionen um 1956 waren auch für die älteren PZPR-Mitglieder eine Zeitreise zu ihrer wirklichen Partei, in der eine „Stimmung der Ehrlichkeit“ (atmosfera szczerości) herrschte. Den negativ verstan129 Ebenda, S. 445. Zum Platz der PCI in der italienischen Gesellschaft Cris Shore, Italian Communism. The Escape from Leninism. An Anthropological Perspective, London 1990, S. 25–52; Jeff C. Pratt, Class, Nation and Identity. The Anthropology of Political Movements, London 2003, S. 66–86. 130 Vladimír Macura, Šťastný věk (a jiné eseje o socialistické kultuře), Praha 2008, S. 74ff. 131 LHASA, MER, SED-Kreisleitung Aschersleben, IV/402/39, Kreisparteiaktivtagung am 15.11.1956, Bl. 182f.

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denen „vorherigen Zeiten“ – dem Stalinismus – wurden die Offenheit und Aufrichtigkeit der alten KPP gegenübergestellt. Man wollte den Begriff des „Genossen“ rehabilitieren, der im Zuge der Bürokratisierung zur leeren Floskel verkam: „Ich war vor dem Krieg Parteifunktionärin,“ berichtete eine Bibliothekarin in Katowice, „wenn die Genossen mit Parteifunktionären zusammenkamen, da war die kameradschaftliche Atmosphäre (koleżeńska atmosfera) zu spüren, und man empfand, dass man mit Genossen zu tun hatte.“132„Vor dem Krieg“ war die Zauberformel ehemaliger KPP-Mitglieder: Vor dem Krieg habe man zum Beispiel nicht auf die Herkunft oder Nationalität eines Genossen geschaut. „Vor dem Krieg“, setzte die Bibliothekarin fort, „haben wir diesen Dingen keinerlei Aufmerksamkeit geschenkt, es machte für uns keinen Unterschied, ob jemand von der Weichsel oder vom Bug kam. Wir haben darauf geachtet, wie vernünftig dieser Mensch ist. Heutzutage gehen wir oft bedenkenlos vor.“133 1956 setzte sich unter den alten Parteigenossen eine kritisch aufgeladene Sehnsucht nach Respekt und Achtung durch, die sie in den neuen Verhältnissen vermissten. „Uns alten Kommunisten“, so ein ehemaliges KPP-Mitglied aus Kielce im Oktober 1956, „ist nicht viel geblieben, aber wir wollen unsere Erfahrungen aufrichtig weitergeben. [...] Ich wurde aus der politischen Arbeit entfernt, es wurde mir ein Riesenunrecht angetan. [...] Nach dem XX. Parteitag wurden einige alte Kommunisten in die Parteiarbeit wieder aufgenommen, aber das Wojewodschaftskomitee konnte davon keinen Gebrauch machen. Vor dem Krieg wie auch während der Okkupation hat man uns Kommunisten hoch geschätzt, die Arbeiter haben uns vertraut; heutzutage dagegen behaupten manche, wir seien alte Sektierer.“134 Die älteren Parteimitglieder forderten die Anerkennung ihrer Erfahrungen und Errungenschaften, und mit ihren Forderungen versuchte das Gedächtnis der Partei sich Gehör zu verschaffen. Man kann diese Entwicklung nach François Hartog als ein „momentanes Zurückweichen der Geschichte vor dem Gedächtnis“ auffassen, das heißt eine Schwächung des modernen, entwicklungsorientierten Geschichtsbegriffs.135 Dies ist umso aufschlussreicher, als die kommunistische Bewegung das Fortschrittsverständnis der Hochmoderne bis zum Äußersten trieb. Zwar schenkten die Parteileitungen den alten Kommunisten nach 1956 eine größere Beachtung – es war in gewissem Sinne eine Art von „Überwindung des Per132 AAN, KC PZPR, 237/VII-3010, KW PZPR Katowice, Protokół z wojewódzkiej narady Aktywu Partyjnego, 29.3.1956, Bl. 225. 133 Ebenda, Bl. 228. 134 AAN, KC PZPR, 237/VII-3020, KW PZPR Kielce, Plenarsitzung 28.10.1956, Bl. 282. 135 François Hartog, Geschichtlichkeitsregime, in: Anne Kwaschik/Mario Wimmer (Hg.), Von der Arbeit des Historikers. Ein Wörterbuch zu Theorie und Praxis der Geschichtswissenschaft, Bielefeld 2010, S. 85–90, hier S. 89.

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sonenkultes“ auf der Ebene der individuellen Erinnerung. Aber dieser Bewältigungsprozess lief nicht reibungslos ab, vor allem wegen der Generationslücke, die sich inzwischen in den Parteien herausbildete. Es ging nicht mehr um den innerparteilichen Machtkampf, um Einfluss und Funktionen. Die meisten Parteiveteranen, geboren mehrheitlich vor 1900, waren sowieso bereits in der Rente. Vielmehr wirkten sich generationsbedingte Unterschiede und abweichende Auffassungen des „politischen Kampfes“ aus, die trotz inhaltlicher Übereinstimmung zwischen Jüngeren und Älteren (vor 1953 waren sie alle sowieso Stalin-Anhänger) oft zutage traten. Auch wenn die Vorkriegsparteien, vor allem infolge der Stalinisierung Anfang der dreißiger Jahre, dem Grundsatz des „demokratischen Zentralismus“ folgten und ihre Mitglieder einer strengen Parteidisziplin unterwarfen, schufen die Bedingungen des antifaschistischen Widerstands Raum für autonomes Handeln, das oft von den offiziellen Parteistandpunkten abwich. Wir, junge Genossen müssen die Erfahrungen der Genossen mit langer Parteitätigkeit zum Vorbild nehmen. Es scheint mir jedoch, dass entweder habe ich einige Sachen nicht verstanden, oder wir sind nicht konsequent genug. Ich verstehe nicht, dass ein alter Kommunist sagen kann, dass er eine Meinung zum Beschluss des X. Plenums hat. Das Parteistatut ist doch für alle Parteimitglieder gültig.136

So formte sich das Bild einer vergangenen Zeit, in der politische Tätigkeit auf autonomer, spontaner Handlung fußte und im schroffen Kontrast zum Stalinismus stand. Die Parteiführungen nahmen allerdings zu einer solchen wiederbelebten Parteivergangenheit eine ambivalente Stellung ein, die sich unter anderem in den Kontroversen um die materiellen Lebensgrundlagen der alten Genossen, insbesondere die der Parteirenten, ausdrückte. Die „soziale Frage“ nahm zugleich die Form der Altersfrage an, nachdem die einseitige Privilegierung der Jugend als der Hoffnungsträgerin des Stalinismus nach 1956 in die Kritik geriet. Die Generationswidersprüche wurden nach 1956 als Erbe des Stalinismus wahrgenommen, und es war kein Zufall, dass noch das KSČ-Aktionsprogramm vom April 1968 dieses Thema zusammen mit anderen Schattenseiten des Stalinismus hervorhob: Die Konservierung von Methoden aus der Zeit des Klassenkampfes hat künstliche Spannungen zwischen sozialen Gruppen, Nationen und Nationalitäten, zwischen verschiedenen Generationen, zwischen Kommunisten und Parteilosen in unserer Gesellschaft hervorgerufen. Die dogmatischen Anschauungen standen einer uneingeschränkten und raschen Umwertung der Vorstellungen über den Charakter des sozialistischen Aufbaus im Wege.137

136 AAN, KC PZPR, ZHP, XXII-734, Protokoły z zebrań POP PZPR ZHP, 11. und 14.2.1958, Bl. 11. 137 Aktionsprogramm der KPTsch, S. 9.

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In Polen brach die Kontroverse um die Parteirenten bereits 1953 im Zusammenhang mit den Rehabilitationen aus. Das poststalinistische Interesse an der Parteivergangenheit deckte viele Missstände auf, darunter auch Unklarheiten in der Verteilung von Sozialleistungen. Solche Probleme warfen einen weiteren Schatten auf das Geschichtsbild der Partei, in der es von Betrügern, politischen Chamäleons und Abenteurern wimmelte. Die Missstände kamen im Zuge des Sammelns von Erinnerungen der Parteiveteranen ans Licht, als die Funktionäre oft deren katastrophale materielle Lebenslage feststellten. Die Bestimmung dessen, wer ein „verdienstvoller Genosse“ ist, war dabei sehr umstritten. Die Parteifunktionäre stellten während der „Rentenrevisionen“ unangenehme Tatsachen darüber fest, wer alles eigentlich in der Partei war und sogar die Ehrenrente bezog. In mehreren PZPROrganisationen mussten spezielle Parteilisten mit verdienten Mitgliedern zusammengestellt werden, nachdem herausgefunden worden war, dass ehemalige NSDAP-Mitglieder die Ehrenrente bezogen haben.138 Mit Ärger kommentierte ein Parteifunktionär, dass „das Wojewodschaftskomitee solche Leute für eine Auszeichnung oder für eine Sonderrente vorschlägt, die an der Revolutionsbewegung nie teilgenommen haben, ja sogar infolge ihrer Kleinmütigkeit die Sache der Arbeiterbewegung verraten haben, haben andere Genossen verraten oder sogar in den Dienst des Feindes überliefen“.139 Beim Sammeln von Erinnerungen entdeckten die Parteihistoriker, dass manche alten Genossen in sehr kümmerlichen Zuständen lebten. Die Erinnerungsarbeit verwandelte sich in Sozialarbeit. Die Überwindung des Stalinismus betraf nicht nur die Gerechtigkeit und moralisch-historische Wiedergutmachung, sondern war in manchen Ländern auch das Management einer sozialen Katastrophe, die der Stalinismus hinterließ.140 In der PZPR lassen sich viele Fälle von Parteiveteranen ausmachen, die ebenfalls unter der Armutsgrenze lebten. In der Wojewodschaft Wrocław wurde 1956 eine kommunistische Rentnerin aufgefunden, die von siebzig Zloty monatlich leben musste, „zum Sterben zu viel, zum Leben zu

138 Zum Beispiel in Koszalin, siehe AAN, KC PZPR, 237/XXI-21, WHP, Notatka z wyjazdu do Koszalina, 5.10.1954, Bl. 55. 139 Ebenda, 22.12.1954, Bl. 28; vgl. auch 29.6.1954, Bl. 75–76. 140 Zum Beispiel lebten in der Sowjetunion am Ende der Stalinherrschaft vierzig Prozent der Bevölkerung unter der Armutsgrenze, die Parteimitglieder nicht ausgenommen. Vgl. Stefan Plaggenborg, Reformen in der Sowjetunion 1953–1991, in: Christoph Boyer (Hg.), Zur Physiognomie sozialistischer Wirtschaftsreformen. Die Sowjetunion, Polen, die Tschechoslowakei, Ungarn, die DDR und Jugoslawien im Vergleich, Frankfurt a. M. 2007, S. 23–45; Ders., Sowjetische Geschichte nach Stalin, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 2005, 1–2, S. 26–32.

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wenig“, wie der Redakteur der örtlichen Parteizeitung bemerkte.141 Eine besondere Frage stellten dabei die Witwenrenten dar, denn bei den verstorbenen Parteigenossen war noch schwieriger auszumachen, ob ihre Parteilaufbahn tadellos war. Die Witwenfrage war für die Parteiorgane auch deshalb eine Herausforderung, weil sich hier das Sozialgefühl der Partei mit dem traditionellen Mitleid mit den Witwen verband, die mehr Mitgefühl als zum Beispiel alleinstehende Mütter hervorriefen. So wurde auch die Frage aufgeworfen, ob die Witwen der alten Sozialdemokraten (PPS) Anspruch auf die Parteirente haben oder nicht.142 In der Definition von „verdienten Genossen“ lehnten die Parteifunktionäre zwar „sektiererische Auswahlkriterien“ ab, zum Beispiel wenn es um die ehemaligen Sozialdemokraten ging. Andererseits sollten eindeutige „Renegaten“ aussortiert werden.143 Das neue Geschichtsbild der Partei wurde demnach durch die materiellen Lebensbedingungen der Genossen mitgestaltet, genauso wie die Kontroversen darüber, wer in die ruhmreiche Geschichte der Partei gehörte und wer nicht. 1954 stellten sich die Genossen in Katowice (damals noch: Stalinogród) die Frage, ob die Parteirente jemandem gewährt werden könne, der früher aus der Partei ausgeschlossen worden war. Man könne sie auszahlen, antwortete die örtliche Parteileitung, aber nur insofern, als „das Kreisparteikomitee Bescheid gibt, dass er wegen Trunksucht ausgeschlossen wurde, aber im Grunde kein schlechter Mensch ist“.144 Immer wieder registrierten die Parteizellen, dass die Antragsteller ihre Lebensläufe fälschten und dass ihre Dokumente von den offiziellen Kaderunterlagen abwichen. In anderen Fällen wurde entdeckt, dass auch solche Kommunisten die Parteirente bezogen, die vorher „feindliche Tätigkeit“ betrieben hatten.145 Das schlechte Gewissen gegenüber den älteren Parteimitgliedern war auch in der SED zu spüren. Als die Parteiführung nach 1956 die alten Genossen aufforderte, ihre Lebenserinnerungen niederzuschreiben, waren die Antworten häufig mit Klagen über die Missachtung durch die Partei gespickt. Oft fügten die alten 141 AAN, KC PZPR, 237/VII-3719, KW PZPR Wrocław, Protokół z narady aktywu partyjnego, 29.3.1956, Bl. 62. 142 AAN, KC PZPR, 237/XXI-23, WHP, 26.10.1956, Bl. 29–33; vgl. Anna Schnädelbach Kriegerwitwen. Lebensbewältigung zwischen Arbeit und Familie in Westdeutschland nach 1945, Frankfurt a. M. 2009. 143 AAN, KC PZPR, 237/XXI-23, WHP, 26.10.1956, Bl. 13: „Auszuzeichnen sind grundsätzlich diejenigen Funktionäre, die bisher nicht ausgezeichnet wurden. Zulässig sind jedoch Abweichungen von diesem Grundsatz für diejenigen, die außerordentliche Verdienste für die Revolution in der Vergangenheit geleistet haben, und auch heutzutage eine rege Tätigkeit entfalten.“ 144 AAN, KC PZPR, 237/XXI-30, WHP, 3.–4.11.1954, Bl. 182. 145 Ebenda, Bl. 181.

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Kämpfer ihren eingesandten Memoiren Anträge auf Parteirente und andere finanzielle Hilfsleistungen bei. Die Klage über das erlebte Unrecht nach dem Krieg erweiterten sie um Beschwerden über materielle Not.146 Andererseits gab es auch Desinteresse und Apathie der Parteiveteranen, und hier wiederum griffen die Parteiorgane aktiv ein. In Loburg, Kreis Zerbst, trafen die IML-Mitarbeiter auf die wiederverheiratete Witwe eines von den Nationalsozialisten hingerichteten KPDWiderstandskämpfers „in schlechtesten Wohn- und Lebensverhältnissen, ebenfalls noch Altstoff sammelnd an. 63 Jahre alt […] ist Meta Lübke heute geistig nicht mehr voll zurechnungsfähig und die Parteigruppe des Ortes ließ zu, obwohl sie Genossin und anerkannte Parteiveteranin seit 1919 ist, dass sie in diesen schlechten Verhältnissen zum sozusagen ortsbekannten Original wurde. Durch unser sofortiges Eingreifen änderten wir die materielle Lage des Ehepaares.“147 Die lokalen Parteiorgane mussten sich auch mit der dunklen Vergangenheit mancher SED-Mitglieder befassen. Oft wurde die NSDAP-Mitgliedschaft verschwiegen, wie z. B. im Fall eines Karl Schuhmann, Halle, der aus „karrieristischen Gründen wichtige Fragen seiner Herkunft und Entwicklung verschwiegen oder unrichtig dargestellt hat“. Dies betraf das Verhältnis seines Vaters zur NSDAP sowie die Eindeutschung seines Namens.148 Anfang der sechziger Jahre in Köthen zeigte die „kadermäßige Überprüfung“ der politischen Mitarbeiter der SEDKreisleitung, dass viele politische Mitarbeiter ehemalige NSDAP-Mitglieder waren. Daraus erklärten die Leitungsfunktionäre die „ideologischen Unklarheiten“ und „Provokationen“ im Kreis, etwa als Ulbricht von einigen Genossen mit Hitler verglichen wurde – was sie allerdings nicht als Kritik, sondern als Würdigung

146 Viele solche Fälle ereigneten sich in der SED-Kreisorganisation in den Leunawerken. Nachdem Parteiveteran Karl Pfeifer seine Erinnerungen an die Kreisgeschichtskommission gesendet hatte und dafür eine Parteirente verlangte, wurde er von den Funktionären brüsk abgewiesen: „Die Betreuung unserer Rentner von Seiten unseres Werkes wird durch unsere Sozialabteilung durchgeführt. Dieser Abteilung haben wir Anfang des Jahres u. a. auch Dich vorgeschlagen mit der Bitte, wenn möglich, dir einen kostenlosen Urlaubsplatz zu gewähren, wie auch unsere Betriebszeitung regelmäßig zu übersenden. Während du deine Betreuung durch unsere Partei von deiner zuständigen Kreisleitung erhältst. Deine gemachten Anschuldigungen – uns bzw. mir gegenüber, finden wir deshalb als ungerechtfertigt. Trotz dieser Differenzen wünschen wir, wenn notwendig, auch in Zukunft eine weitere, gute Zusammenarbeit.“ LHASA, MER, SED-Kreisleitung Leuna, IV/412/326, SED-Kreisleitung an Karl Pfeiffer, 14.6.1956. 147 SAPMO, DY 30/IV 2/9.07/222, Voigt an Gladewitz, 18.11.1957, Bl. 118–119. Die Parteivergangenheit wurde hier nicht so sehr zum Unrecht als zur Schande. Zur Witwenschaft vgl. den Fall von Margarete Bringmann von 1969, in SED-Kreisleitung Weißenfels IV/B-4/22/106, Bl. 1. 148 LHASA, MER, SED-Bezirksleitung Halle, IV/2/1/15, Plenarsitzung 13.1.1956, Bl. 34.

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meinten.149 Diese Beispiele zeigen, dass seit den späten fünfziger Jahren die SEDIdeologen zunehmend durch die politische, soziale und kulturelle Vielfältigkeit der Partei herausgefordert wurden. Das war das Erbe einer Vergangenheit, die sie im Stalinismus für überwunden hielten. Dementsprechend wurde Ende August 1961 die „politische Massenarbeit“ umgestellt: „In der politischen Massenarbeit“, hieß es in einem Propagandabericht aus Halle, „sind besonders die Teile der Bevölkerung zu erfassen, mit denen bis jetzt ungenügend gearbeitet wurde: Teile der medizinischen Intelligenz, Teil der Jugend, Teile der ehemaligen Umsiedler, Teile der ehemaligen NSDAP-Mitglieder.“150 So kamen viele „Fremdelemente“ in das Geschichtsbild der Partei, die zwar das poststalinistische Heraufbeschwören der vergangenen Geborgenheitsidylle störten, zugleich aber die Vorstellung festigten, erst nach dem Krieg und im Stalinismus sei die Partei durch den großen Zufluss von Fremdelementen, Nicht-Kommunisten und Opportunisten „fremdgeworden“. Das Desinteresse der Parteifunktionäre am Schicksal von Parteiveteranen vertiefte die Kluft zwischen der ruhmreich kämpferischen Parteivergangenheit und der bürokratisierten Partei der Gegenwart weiter. Die KPD-Veteranen fühlten sich von den Parteisekretariaten missachtet. In vielen Fällen nahmen die Parteisekretäre an den Begräbnissen der Veteranen nicht teil. Im Kreis Bernburg sprach man von der „Herzlosigkeit der Büromitglieder“ gegenüber der Tradition, die sich auch darin zeigte, dass keine Gedenksteine, keine Feier oder Manifestationen bei wichtigen Jahrestagen organisiert wurden und die Kommunistengräber verkommen seien.151 Viele fürchteten, dass mit den scheidenden Genossen auch die authentische Partei fortgeht. Hierin prallten zwei entgegengesetzte Historizitätsregime aufeinander: die produktive, reflexive Nostalgie der Parteiveteranen und die zunehmend bürokratisch-technokratische Gegenwartsorientierung der Parteiapparate. Beide unterschieden sich auf ihre Weise von der radikal linearen Zukunftseuphorie des Stalinismus. Das Gefühl der Geborgenheit der Vergangenheit, die Flucht in die Nostalgie wurde durch die Ignoranz der Parteileitungen gegenüber dem Ableben der alten Kommunistengeneration bekräftigt. Doch der fehlende Sinn der (meistens jüngeren) Funktionäre für den Totenkult der Veteranen und die Trauerkultur der Partei öffnete zugleich Raum für Gegenwartskritik, als sich zum Beispiel zeigte, 149 LHASA, MER, SED-Bezirksleitung Halle, IV/2/9.01/1363, SED-Kreisleitung Hohenmölsen an SED-Bezirksleitung Halle, 29.8.1961, Bl. 32. 150 LHASA, MER, SED-Bezirksleitung Halle, IV/2/9.01/1357, Material für Genossen Frost, 30.8.1961, Bl. 52. 151 LHASA, MER, SED-Kreisleitung Bernburg, IV/403/385, Bericht über die Sitzung der Vorsitzenden der Kreiskommissionen, 15.7.1959, Bl. 167.

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dass die Angehörigen des „feindlichen Lagers“ mehr Sinn für das Trauern als die eigene Partei hatten. In Bernburg verwandelten sich diese Klagen in eine Kritik an der Kälte und des Zynismus der SED-Kreisleitung: Als meine Frau der Witwe des Verstorbenen nachträglich ihr Beileid aussprach, sagte sie, dass ihr Mann gut geehrt sei, auch viele seiner früheren Kollegen (ehemalige faschistische Beamte) nahmen an der Trauerfeier teil, auch Bürgermeister A. A., Faschist Nr. 1, hätte in normalen Zeiten sich an der Trauerfeier […] nicht beteiligt, aber hier ging er mit. Die Witwe sagte dann aber noch wörtlich: „Aber von der Partei noch nicht einmal eine Karte“. Den Angehörigen und auch anderen Leidtragenden wird hier vordemonstriert, dass die Faschisten mehr Anteil nehmen an dem Leid der Familie, als die SED. […] Genosse W. war krank und wurde zwei Tage vor seinem Tode vom Arzt versuchsweise gesundgeschrieben und es wurde ihm empfohlen nur einige Stunden am Tage aufzustehen. Er stand aber auf und ging zur Parteiversammlung. Fiel dort um und war tot. Hier hätte man durch eine würdige Feier für die Beiden die Treue der Alten zur Partei und zur Arbeit demonstrieren können.152

Diese Vorfälle werfen die Frage nach den Spezifika des Totenkults und der Trauerkultur im Poststalinismus auf, wie sie sich in prominenten Begräbnissen und Trauerfeiern für die Partei- und Staatsführer manifestierten.153 Das eher schwächere Verständnis für monumentale Trauerkultur im Poststalinismus wurde auch durch die Tatsache bekräftigt, dass die meisten poststalinistischen Herrscher erst später in Zurückgezogenheit starben wie Chruschtschow (1971), Ulbricht (1973), Novotný (1975) und Gomułka (1982). Kádár schien ewig leben zu können, auch wenn sein physischer Körper kontinuierlich verfiel; er schaffte es im Juli 1989 gerade rechtzeitig zu sterben und erhielt noch ein Staatsbegräbnis. Die spätsozialistischen Parteiführer, vom spektakulären Tod Ceaușescus im Dezember 1989 abgesehen, starben in Abgeschiedenheit erst nach der ‚Wende‘, wie Husák 152 Ebenda. 153 Thomas Großbölting, Der Tod des Diktators. Ereignis und Erinnerung im 20. Jahrhundert, Göttingen 2011. Die Ausnutzung von Tod und Trauer in der politischen Kultur in Ostmitteleuropa greift in die Nationalbewegungen des 19. Jahrhunderts zurück. Vgl. Jiří Rak, Pohřeb jako národní manifestace, in: Helena Lorenzová/Taťána Petrasová (Hg.), Fenomén smrti v české kultuře 19. století, Praha 2001, S. 56–64 und Luboš Velek, Stáří, smrt a pohřeb politických vůdců, in: Ebenda, S. 298–308. Demnach wurden seit den 1860er Jahren die nationalen Beerdigungen zum festen Bestandteil der tschechischen Nationalagitation (einschließlich der peinlich genauen Organisation), die über das 20. Jahrhundert hinweg bestand. Velek unterstreicht die Bedeutung, welche einem „idealen Abschied“ eines politischen Führers zugeschrieben wurde (ob in Vergessenheit bzw. Verachtung oder gefeiert mitten in der politischen Arbeit), die auch auch das imaginäre „Erbe“ bedingte. Die Form des Abschiedes konnte auch die kommende Entwicklung ankündigen.

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(1991) und Gierek (2001) oder auch Honecker (1994), der in Chile verschied. Die Achtung für die toten kommunistischen Führer und Kämpfer stellte sich offensichtlich erst mit der konservativen Hinwendung zur Vergangenheit in der späten Breschnew-Ära ein.154 Diese Monumentalisierung und von oben verordnete Nostalgie hatte jedoch nur noch wenig zu tun mit der gelebten Sehnsucht nach Vergangenheit der späten fünfziger und der sechziger Jahre, die von unten kam und sich oft gegen die zentrale Parteiautorität stellte. Ob der Aufstieg der statischen Monumentalität eine Antwort der Parteiführungen auf die Forderungen aus den Parteireihen war, dem Totenkult mehr Respekt zu schenken, bleibt offen. Die Proteste der Parteiveteranen gegen das ihnen zugefügte „Unrecht“ (krzywda, křivda) unterstrichen die Sehnsucht nach der Harmonie des vergangenen Kampfes wie auch die vertane Chance auf Erneuerung in der Gegenwart. In ihrer Geborgenheit der Vergangenheit sahen sie die Kraft für die künftige Erneuerung. Umso größer war die Enttäuschung, als dies nur zum Teil oder gar nicht geschehen war. Somit wiederholte sich die Ausgrenzung, in der sich die meisten europäischen Kommunisten vor 1945 befanden, mit dem Unterschied, dass diesmal die Abschottung innerhalb der kommunistischen Bewegung selbst stattfand. Umso mehr erinnerten sich die Parteiveteranen an die alten guten Zeiten: „In den Parteiorganisationen“, erzählte ein alter Parteikämpfer aus Wrocław im November 1956, „wurden viele alte Parteifunktionäre aus der Parteiarbeit entlassen. Wir ärgern uns sehr über die Parteileitung der Wojewodschaft, dass sie sich mit uns nicht in Beziehung setzte, uns in die aktive Parteiarbeit nicht einbezog. Die Partei hat sich ungenügend für die alten Parteifunktionäre und ihre materielle Lage interessiert. Unter den Bedingungen der illegalen KPP wurde doch auf die Menschen geachtet, auf ihre materielle Lage.“155 In den Leuna-Werken bedauerten nach 1956 manche alten Parteimitglieder, dass keine Zusammenkunft der alten Kämpfer organisiert wurde. Trotzdem entschieden sie, ihre Erinnerungen niederzuschreiben. So auch Bruno Buchelt, ein alter Zeitzeuge der deutschen Arbeiterbewegung. Seine Erzählung beendete er lakonisch: „Ich bekomme 5,- Rente und für

154 Siehe Polly Jones, Myth, Memory, Trauma. Rethinking the Stalinist Past in the Soviet Union, 1953–1970, New Haven 2013, S. 212ff., und Boris Belge/Martin Deuerlein (Hg.), Goldenes Zeitalter der Stagnation? Perspektiven auf die sowjetische Ordnung der Brežnev-Ära, Tübingen 2014. 155 AAN, KC PZPR, 237/VII-3691, KW PZPR Wrocław, Plenarsitzung 1.–2.11.1956, Bl. 212.

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meine Frau 20,- Zurente und 25,- Fürsorge. Fürs tägliche Leben, Miete, Gas und Licht reicht es kaum zu.“156

Die Zukunft funktioniert noch nicht Einen guten Einblick in das sich verändernde Zeitverständnis des Poststalinismus geben neben den Veteranen-Erinnerungen auch die von den Kommunisten geliebten Jubiläumsfeiern, die die politische Gemeinschaft zu festigen und die Geschichtssicherheit einer bestimmten Entwicklung zu bestätigen hatten.157 Diese Funktion wurde durch die Entstalinisierung geschwächt: Nach 1956 versuchten zwar die Kommunisten die leninistische Handlungszeit zu erneuern und die Revolution als „Lokomotive der Geschichte“ als Leitmotiv wiederherzustellen, wie Chruschtschow 1961 auf dem XXII. Parteitag der KPdSU ausrief. Zugleich aber verstärkte sich die Tendenz zur „Verstetigung der Gegenwart“, die die Erreichung des Kommunismus in undefinierte Zukunft aufschob.158 Der Blick auf die Sprache der kommunistischen Jubiläumsfeste in den sechziger Jahren zeigt ein Schwanken zwischen diesen beiden Gegensätzen. Als die tschechoslowakischen Kommunisten 1962 den 30. Jahrestag des Brüxer Streiks (mostecká stávka), einer der größten „Revolutionsaktionen“ der tschechoslowakischen Arbeiterklasse vor dem Zweiten Weltkrieg, begingen, waren ihre Reden noch durch den Chruschtschowschen Zukunftsoptimismus geprägt. Gleichzeitig waren aber bereits Züge der Ernüchterung und der Stufenartigkeit des „Fortschreitens zum Kommunismus“ deutlich. So war einerseits von „kühnen Perspektiven“ und vom „Revolutionsprozess“ die Rede, sodass der Streik selbst als ein „Sieg gegen Reformismus“ bejubelt werden konnte. Zugleich aber deutete bereits der Begriff des „Revolutionsprozesses“ selbst – und eben nicht einfach „Revolution“ – den Kompromisscharakter des neuen Zeitdiskurses an. In der Feierrede des Bezirkssekretärs traten neue „verlangsamte“ und nüchterne Ausdrücke auf wie „Aufbau der entwickelten sozialistischen Gesellschaft“, „geduldige und standhafte Umsetzung in die Praxis“ oder die „Entwicklung des Sozialismus und die Vorbereitung des Aufbaus des Kommunismus“. Zu dieser Zeit fangen die Kommunisten an, über den „Zeitfaktor“ kritisch nachzudenken: 156 LHASA, MER, SED-Kreisleitung Leuna, IV/412/326, Manuskript von Bruno Buchelt, Mein Lebenslauf, Bl. 60. 157 Zu Jubiläen Eviatar Zerubavel, Calendars and History. Comparative Study of the Social Organization of the National Memory, in: J. K. Olick, States of Memory. Continuities, Conflicts, and Transformations in National Retrospection, Durham 2003, S. 326–327. 158 Plaggenborg, Experiment Moderne, S. 100.

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Auch bei uns geht die Entwicklung des Sozialismus keinen geraden und glatten Weg. Wir bauen den Sozialismus zu einer Zeit auf, in der der Wettbewerb zwischen unserem und dem kapitalistischen Lager der entscheidende Faktor ist und in der dem Zeitfaktor eine außerordentliche Bedeutung zukommt. Da der Imperialismus langjährig die Vorschläge des sozialistischen Lagers auf allgemeine und volle Abrüstung blockierte und internationale Spannung verschärfte, müssen wir die erforderlichen Mittel auf die Verteidigung vor Aggression aufwenden. Aus dem Wesen des Sozialismus geht hervor, dass wir uns hohe Ziele setzen. Auf dem Weg zu ihnen müssen allerdings manche Hürden und Schwierigkeiten überwunden werden.159

Schloss 1962 der Parteisekretär sein Referat noch mit dem Appell zum „Endsieg des Kommunismus in unserem Land“ ab, so zogen die Redner fünf Jahre später, im Vorfeld des Prager Frühlings, andere Lehren aus dem Brüxer Streik. Der Streik als Kampf sei ein „komplexer, vielschichtiger Prozess“ gewesen, in dem nicht nur die Kommunisten tätig waren, sondern eine „breite Volkseinheit“ über politische, nationale und gewerkschaftliche Grenzen hinweg ins Leben gerufen wurde. Der Schwerpunkt dieser neuen Erzählung lag nicht mehr auf der allumfassenden sozialistischen Revolution; stattdessen setzte sich die große Geschichte aus der kleinen opferwilligen Arbeit von tausenden von Parteimitgliedern zusammen. Das Hauptanliegen sei nicht mehr der geradlinige Kampf, sondern die Solidarität über verschiedene Gesellschaftsgruppen hinweg. „Einheit – Streik – Sieg“ war das Motto, das die „Zusammenarbeit“ eher als „Kampf“ hervorhob. Die Revolutionszeit verlangsamte sich: Der Brüxer Streik sei keine tatkräftige Revolutionstat gewesen, sondern ein Teil einer „langfristigeren Geschichtsentwicklung“. Wir machen zwar eine Revolution, so der distanziert historisierende Tenor, aber in einer anderen Zeit und unter völlig anderen Bedingungen: „In mancher Hinsicht müssen wir unsere Vorstellungen vom Sozialismus, von der Dauer einzelner Etappen, vom Wachstumstempo, von den uneingeschränkten Möglichkeiten korrigieren. Es geht darum, unsere Vorstellungen und unsere Arbeit, die Parteipolitik auf allen Gebieten unserer Tätigkeit realistischer zu gestalten.“160 Eher als eine reale Revolution sollte man in der Gegenwart die „Ausnutzung der Revolutionserfahrungen“ anstreben. Die wirkliche Revolution fand demnach in der Vergangenheit statt, während unser eigenes Zeitalter nur eine „gegenwärtige Entwicklungsetappe“ ist.161 Ähnlich unterstrich der damalige KSČ-Chefideologe Jiří Hendrych in seiner Rede die Kluft zwischen Damals und Jetzt und stellte die Erinnerung an den Brü159 SOA Lit, KV KSČ Nordböhmen, k. 15, Plenarsitzung 23.3.1962, Bl. 4. 160 SOA Lit, KV KSČ Nordböhmen, k. 21, Plenarsitzung 31.3.1967, Bl. 15–16. 161 Ebenda, Bl. 23. Im tschechischen Kontext fällt der häufige Gebrauch des Begriffes „Etappe“ auf.

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xer Streik als eine Zeitreise dar. Gleichwohl verwies die Distanzierung von der konkreten Vergangenheit zugleich auf die Kontinuität gewisser Grundideen, die sich über die einzelnen Geschichtsabschnitte hinweg zieht: „Aber gerade zu der Zeit, in der wir uns von der Vergangenheit trennen, stellen wir fest, wie wir unter den neuen Bedingungen und auf einer neuen Ebene erneut um die Realisierung derselben Ideen kämpfen, die damals auftauchten.“162 Entwicklungs- und stufenartige Begriffe wie „Formierung“, „Realisierung“, „Übergang“ und „schweres Ringen“ prägten die Sprache von Hendrych und anderen Poststalinisten. Diese Semantik war auch durch die schleichende Wirtschaftsstagnation in der ČSSR beeinflusst. In der Reaktion auf die ökonomische Krise sprachen die Parteiführer bereits seit Mitte der sechziger Jahre über die Einführung von Marktelementen in die Planwirtschaft oder gar von der „sozialistischen Marktwirtschaft“163 – solche Mischformen waren typisch für den poststalinistischen Ambivalenz-Diskurs. Hendrych war weit von einer eindeutig positiven Einschätzung des „Neuen Systems der Lenkung“ von 1965 entfernt, und tatsächlich legte er den Akzent auf Gradualität, Übergangscharakter und Kompromisshaftigkeit der Reformmaßnahmen: „Um unsere Situation zu charakterisieren, möchte ich zum Schluss bildhaft sagen, dass wir den Karren unserer Wirtschaft aus dem Schlamm geholt haben, wir schieben ihn aber immer noch bergauf, spannen unsere Kräfte an, es wird besser, aber den geraden Weg haben wir noch nicht erreicht.“164 Die kommunistische Ideologie war in den späten fünfziger und frühen sechziger Jahren also auch in dem für sie zentralen Wirtschaftsbereich von einer Zeitkultur umrahmt, in der Skepsis gegenüber der Planbarkeit herrschte, zugleich die Zukunftsvision aber noch nicht ganz geschrumpft war. Viele Kommunisten glaubten nicht mehr, dass man durch genaues und wissenschaftlich fundiertes Planen die historische Zeit sequenzieren und steuern kann. Die Situation in Osteuropa nach 1956 und erneut nach 1961 ähnelte darin der Sowjetunion nach dem Ende des Zweiten Fünfjahresplans, wie Martin Schulze Wessel bemerkte: Die „Erreichung des Kommunismus war immer noch die leitende Verheißung, sie ‚galt‘, aber wurde noch nicht erreicht.“165 Dies war auch der Fall bei Chruschtschows Ankündigung der Erreichung des Kommunismus sowie zuvor des „Siegreichen Fe162 Ebenda, Bl. 28. 163 Dazu ausführlich Maria Köhler-Baur, Von der „Vervollkommnung“ der Planwirtschaft in der ČSSR zum „Neuen System der Lenkung“. Wirtschaftsreformen als Impuls für politische Veränderungen? in: Haupt/Requate, Aufbruch in die Zukunft, S. 65–88; Karel Kaplan, Kořeny československé reformy 1968, Brno 2000, S. 261–312. 164 SOA Lit, KV KSČ Nordböhmen, k. 21, Plenarsitzung 31.3.1967, Bl. 48. 165 Martin Schulze Wessel, Zukunftsentwürfe und Planungspraktiken in der Sowjetunion und der sozialistischen Tschechoslowakei: Zur Einleitung, in: Ders./Brenner, Zukunftsvorstellungen und staatliche Planung, S. 1–18, hier S. 9.

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bruars“ von 1948 in der Tschechoslowakei als Beginn der sozialistischen Revolution, aber nicht als Erlösung, als das Ende der Geschichte an sich. Es war ein Zustand des „noch nicht“, um mit Ernst Bloch zu sprechen. Das neue Zeitverständnis prägte auch die Wahrnehmung der marxistischen Grundkategorie der Arbeit. Die für die sechziger Jahre typischen Zukunftsdarstellungen vermitteln die Botschaft, dass der kommunistische Endzustand nicht mehr ausschließlich durch die plangesteuerte, in klare Sequenzen aufteilbare physische Arbeit, sondern auch durch wissenschaftliche, das heißt langfristige Arbeit zu erzielen war. Gerade in dieser Zeit begannen die Bilder von Robotern, Computern und Atomkraftwerken die älteren Darstellungen des mit der Natur kämpfenden Bauarbeiters als das leitende Zukunftsbild zu verdrängen.166 Diese symbolischen Veränderungen waren durch die Relativierung des Revolutionsbegriffes bedingt. Man sprach nicht mehr von der „sozialistischen Revolution“ im Singular, sondern von mehreren Revolutionen, vor allem der wissenschaftlich-technischen Revolution. Der Revolutionsbegriff geriet in eine ähnliche Lage wie das Schlagwort der Diktatur des Proletariats – er wurde seiner eindeutigen Bedeutung, seiner Durchschlagskraft beraubt. Chruschtschows Rede von 1956 und anschließend der poststalinistische Diskurs allgemein belebten den Revolutionsbegriff zwar wieder, aber zugleich erweiterten sie ihn: Der bewaffnete Klassenkampf stand nicht mehr im Vordergrund. Wie die Diskussionen der sechziger Jahre zeigten, herrschte über die großen Fragen des Sozialismus und dessen zeitliche Einordnung – wo endet die Revolution, wo beginnt der Aufbau und wann genau kommt das Endziel – große Unsicherheit. An der Parteibasis fragte man nach dem „Charakter unserer Epoche“ und den Parteiideologen fiel es schwer, eine Antwort auf diese Frage zu finden.167 Auffallende Unklarheiten unter den Parteigenossen bestanden im Zusammenhang mit den Wirtschaftsreformen der frühen sechziger Jahre, dem „Neuen Ökonomischen System“ in der ČSSR und der DDR (1963–1964), wie auch mit der Einführung des Handbuchs Grundlagen des Marxismus-Leninismus als der neuen verbindlichen „Schrift“. Warum sollte man die gesamte, in den fünfziger Jahren mühsam konstruierte Wirtschaftsstruktur sowie das genauso mühsam aufgebaute Gebäude der marxistisch-leninistischen Ideologie wieder ändern? – fragten die Parteimitglieder. Sie waren sich darüber nicht im Klaren, in welchem Stadium der „sozialistischen Revolution“ sie sich nach 1956 befanden. In der DDR wurde die Revolution in „Etappen“ zergliedert, was sie mit einer längeren Dauer und einem weniger eindeutigen Ausgang versah. 166 Ulrich Best, Arbeit, Internationalismus und Energie. Zukunftsvisionen in den Gaspipelineprojekten des RGW, in: Ebenda, S. 137–158. 167 LHASA, MER, SED-Bezirksleitung Halle, IV/A-2/9/01/61, Einschätzung des Parteilehrjahres 1963, 14.11.1963, Bl. 13.

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Die Zeit nach 1956 lässt sich somit als eine „nachrevolutionäre Plankultur“ (Stefan Plaggenborg) bezeichnen, als eine Epoche, die auf die revolutionary dreams folgte.168 Da der revolutionäre Zeitgeist vorübergehend mit dem Chruschtschowschen utopischen Erneuerungsversuch von 1961 auf dem XXII. Parteitag wieder gestärkt wurde, handelte es sich weder um Revolution noch Reformismus, sondern um eine Mischung aus unmittelbarer Zukunft und langfristiger Entwicklung.169 Diese verunsicherte Zwischenlage, die sich auch im ständigen Umgestalten der Parteistrukturen ausdrückte,170 ähnelte dem „revolutionären Warten“ von Karl Kautsky wie auch dem Zeitmodell der „Neuen Ökonomischen Politik“ (NEP) in der Sowjetunion der frühen zwanziger Jahre, die eher auf „langsame Entwicklung“ setzte und eine Art Vorgänger der poststalinistischen „Zwischenlösung“, des „Abwartens“ und der Ambivalenz darstellte.171 In den Parteidiskussionen der sechziger Jahre wurde auf diese Vorläufer immer wieder hingewiesen, sowohl als Vorbilder als auch abschreckende Beispiele. Der Begriff der „sozialistischen Revolution“ wurde schließlich auch angesichts der Veränderungen in der Dritten Welt problematisch, die mit dem Entwicklungsschema des historischen Materialismus nicht „übereinstimmten“. Vielen Parteimitgliedern schien unwahrscheinlich, dass alle Länder, auch wenn sie sich auf unterschiedlichen Stufen des „Zivilisationsfortschrittes“ befanden, die gleiche Abfolge von Gesellschaftsstadien durchlaufen müssen. Angeregt durch die Ereignisse in der Dritten Welt fragten sie nach dem Sinn der Begriffe wie „Übergang“, „Gesetzmäßigkeit“ und „Entwicklung“, die früher als unbezweifelbar galten. Der Stein des Anstoßes waren die „Gesetzmäßigkeiten der sozialistischen Revolution“, wie sie maßgebend in den Grundlagen dargelegt wurden, vor allem im Hinblick auf das Verhältnis zwischen den „allgemeinen Gesetzmäßigkeiten“ und den „nationalen Besonderheiten“. Selbst das autoritative Handbuch des Poststalinismus – was für ein Unterschied zum Kurzen Lehrgang – gestand, dass um diese Frage „ein scharfer ideologischer Kampf geführt wird“. Diese Unklarheit bildete eine der vielen Fronten zwischen den „Revisionisten“ und den „Dogmatikern“, die das Grundlagen-Handbuch zu versöhnen suchte: Während die einen, so das Handbuch, die nationalen Besonderheiten aufbauschten, ignorierten die anderen sie und behaupteten, dass die Revolution in allen Ländern nach dem gleichen Muster stattfindet. Die poststalinistische Stellungnahme versuchte natürlich die beiden

168 Richard Stites, Revolutionary Dreams. Utopian Vision and Experimental Life in the Russian Revolution, Oxford 1990. 169 Hanson, Time and Revolution, S. 168. 170 Ebenda, S. 177. 171 Ebenda, S. 100.

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Tendenzen gleichzeitig zu bekämpfen.172 Eine wahrhaft salomonische Lösung, denn weiter im Kapitel wird festgestellt, dass es nationale Unterschiede natürlich gebe, zugleich aber die „allgemeinen Grundzüge und Gesetzmäßigkeiten“ allen Gesellschaften gemeinsam seien. Diese seien zwar dominant, doch gleichzeitig galt der Grundsatz der „schöpferischen Anwendung der allgemeinen Prinzipien des Marxismus-Leninismus auf die konkreten Bedingungen der einzelnen Ländern“.173 Die Kommunisten vor Ort wurden aus diesem typisch poststalinistischen Weder-Noch und Sowohl-Als-Auch nicht klug. Im SED-Studienseminar für leitende Funktionäre in Neubrandenburg im März 1960 bereitete es den Genossen Schwierigkeiten „zu beweisen, dass die Revolution auf dem Gebiete der Ideologie und Kultur eine allgemeine Gesetzmäßigkeit ist“ und es wurden „falsche Auffassungen“ formuliert, wie etwa „das Tempo unserer Wirtschaftsentwicklung ist zu schnell“.174 Die „richtige Geschwindigkeit“ war eine ernsthafte Sorge der Partei, weil viele dem neuen Geschwindigkeitsanstoß von 1961 erfahrungsgemäß eher distanziert gegenüberstanden. Was bedeutete die „Neue Epoche“ des Sozialismus und wann setzte sie ein? Fragen wurden gestellt über den Beginn der „Neuen Epoche“, ob sie mit der Oktoberrevolution oder erst nach dem Zweiten Weltkrieg einsetzte. Die Genossen erkannten nicht, dass die Oktoberrevolution den „Auftakt zu einer neuen historischen Epoche gab und dass sich ihr Hauptinhalt natürlich mit der ständigen Veränderung des Kräfteverhältnisses zugunsten des Sozialismus immer klarer hervorhob“.175 Mit großer Skepsis betrachteten die Parteimitglieder die Möglichkeit der sozialistischen Revolution in den kapitalistischen Ländern, vor allem in Westdeutschland. Die skeptische Haltung konnte aber paradoxerweise den Willen zur Revolutionshandlung stärken, wie die Diskussion im SED-Sektor Chemie Halle 1964 andeutet: Im Zirkelsystem zum Studium des Programms der SED gab es bei einigen Zirkelteilnehmern Zweifel an der Gesetzmäßigkeit des Sieges des Sozialismus in ganz Deutschland. Sie sind der Meinung, dass der technische Fortschritt in Westdeutschland und z. B. auch in Japan so groß sei, dass es den sozialistischen Ländern unmöglich wäre, dieselben einzuholen, da sich diese Länder ja auch ständig weiterentwickeln würden. Die Genossen schlussfolger-

172 Grundlagen des Marxismus-Leninismus, S. 585. 173 Ebenda, S. 584. 174 SAPMO, DY 30/IV 2/9.02/91, Bericht über die Durchführung des Beschlusses des Politbüros vom 15.3.1960, Bl. 63–64. 175 SAPMO, DY 30/IV 2/9.02/96, Sonderseminar zum Artikel aus „Kommunist“ vom 17.10. 1960, Bl. 105–106.

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ten daraus, dass der friedliche Weg zur Beseitigung des Imperialismus nicht möglich ist, es müsste demzufolge zur bewaffneten Auseinandersetzung kommen.176

In der ersten Hälfte der sechziger Jahre mehrten sich Fragen nach dem Charakter des Sozialismus in den sozialistischen Entwicklungsländern, in China, Vietnam, Kuba. Es überwogen skeptische Töne. Wie kann man, wie etwa im Fall von China und Vietnam, vom Feudalismus direkt in den Sozialismus eintreten, ohne die notwendige kapitalistische Phase hinter sich zu bringen? Welchen Charakter hat die kubanische Revolution? Sind die Ereignisse in Algerien eine sozialistische Revolution? Wie kann man die Gesellschaftsordnung in Indien und Indonesien bezeichnen? – fragten die Teilnehmer des PZPR-Parteilehrjahres in Warschau im Mai 1961.177 Man kann diese semantischen Verschiebungen dem Begriff der zeiträumlichen Verunsicherung unterordnen, die nach 1956 in die kommunistische Mentalität eindrang. Die bisher geltenden geographisch-kulturellen Hierarchien wurden in Frage gestellt, nachdem sich die als „rückständig“ angesehenen Gesellschaften auf den Weg in den Kommunismus begeben hatten. Bei den fortgeschrittenen westlichen Gesellschaften betrachtete man wiederum die Chance auf eine sozialistische Revolution als immer geringer. Vorurteilhafte oder gar rassistische Äußerungen gegenüber den „Entwicklungsvölkern“ kamen nur selten vor und waren nicht auf Hass-Diskursen aufgebaut. Vielmehr trat eine allgemeine Angst vor Fremdem und Unbekannten auf. So protestierten Lehrerinnen in Ústí nad Labem in Nordböhmen gegen die Projektion chinesischer und koreanischer Filme, da sie Menschen zeigen, die „ein seltsames Gesicht haben, wie sollten wir dann unsere Kinder erziehen?“178 Ebenfalls rief die sich stets verändernde Epochenordnung der europäischen Geschichte Unklarheiten hervor. Das ständige Uminterpretieren bestimmter historischer Ereignisse als bürgerliche oder sozialistische Revolution vertiefte die zeit-räumliche Konfusion. Hierzu gehören die Debatten über die Hussitenkriege in der Tschechoslowakei, über die Bauernkriege in der DDR oder den KościuszkoAufstand in Polen, die sich meistens um den „Klassencharakter“ drehten.179 Unter 176 LHASA, MER, SED-Bezirksleitung Halle, IV/A-2/9/01/60, Zwischenbericht zur Einschätzung des Parteilehrjahres 1964/65 im Sektor Chemie, 19.11.1964, Bl. 135–136. 177 AAN, KC PZPR, 237/VIII-545, Pytania, Bl. 25–26. 178 SOA Lit, KV KSČ Ústí nad Labem, k. 9, Plenarsitzung 16.9.1958, Bl. 120. 179 Maciej Górny, Französische Revolution und Napoleonische Kriege. Herausforderung an die marxistische Nationalgeschichtsschreibung in der Tschechoslowakei, Polen und der DDR, in: Christiane Brenner u. a. (Hg.), Geschichtsschreibung zu den böhmischen Ländern im 20. Jahrhundert. Wissenschaftstraditionen – Institutionen – Diskurse, München 2006, S. 279–298; Laurenz Müller, Diktatur und Revolution. Reformation und Bauernkrieg in der Geschichtsschreibung des „Dritten Reiches“ und der DDR, Stuttgart 2004.

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diesen Kontroversen war die 1958 stattfindende „Parteidiskussion“ um die Novemberrevolution von 1918 am heftigsten, die nach einer Serie von „Unklarheiten“ Ulbricht mit einem „Schlussstrich“ beendete: Die Novemberrevolution soll eine bürgerliche Revolution gewesen sein. Als die Zeitzeugen abweichende Ansichten äußerten– sie hätten sich für sozialistische und nicht für bürgerliche Ideale eingesetzt – reagierte die Parteileitung mit einer typisch poststalinistischen Argumentationspirouette, wie das Beispiel aus Bernburg zeigt: „Alte Genossen sagen oft, wir haben 1918 nicht für das Bürgertum sondern für den Sozialismus gekämpft. Selbstverständlich haben diese Genossen recht, aber unter den damaligen Bedingungen war es eben eine bürgerlich-demokratische Revolution.“180 In der polnischen Diskussion über den Revolutionsbegriff dominierten zwei Momente: Zum einen die Auffassung des „Polnischen Oktobers“ von 1956 als eine antistalinistische Revolution, die in den polnischen Nationalmythos der Aufstands- und Revolutionsgeschichte passte. Und zum anderen die traditionelle Selbstbeschreibung Polens als einer rückständigen Entwicklungsgesellschaft. Hierfür war der Begriff zacofanie (Rückständigkeit) bestimmend, der im Poststalinismus großen Aufschwung erlebte.181 Gomułka und andere Parteiführer machten ihn stark, als sie an die „in jeder Hinsicht rückständige Ordnung des zaristischen Rußlands“ erinnerten, den Zustand der polnischen Landwirtschaft kritisierten oder die vom polnischen „reaktionären Nationalismus“ stammende Zurückgebliebenheit rügten.182 Diesem Ansatz folgend ließ man nach 1956 der Kritik an der polnischen Rückständigkeit freien Lauf; im Einklang mit der „antistalinistischen Revolution“ prangerte man die Rückständigkeit nicht mehr nur als Erbe des

180 LHASA, MER, SED-Kreisleitung Bernburg, IV/403/381, 4.7.1958, Sitzung der Kreiskommission, 4.7.1958, Bl. 88; vgl. Mario Keßler, Die Novemberrevolution und ihre Räte. Die DDR-Debatten des Jahres 1958 und die internationale Forschung, Berlin 2008; Siegfried Lokatis, Der rote Faden. Kommunistische Parteigeschichte und Zensur unter Walter Ulbricht, Köln 2003, S. 97–118. 181 Seinen Ursprung hat der Begriff allerdings bereits im späten 19. Jahrhundert. Vgl. Anna Sosnowska, Zrozumieć zacofanie. Spory historyków o Europę Wschodnie (1947–1994), Warszawa 2004. Der Begriff wurde vor allem von polnischen Volkswirten, Staatswissenschaftlern und Historikern wie Michał Kalecki, Oskar Lange, Ludwik Landau, Czesław Bobrowski, Paweł Rosenstein-Rodan, Witold Kula, Kazimierz Łaski, Ignacy Sachs und Włodzimierz Brus popularisiert. Aufbauend auf ihren Forschungen aus der Zwischenkriegszeit über die Rückständigkeit osteuropäischer Regionen arbeiteten sie die Konzeptionen der „Entwicklung“ aus, die später in der Dritten Welt angewandt wurden. 182 Siehe z. B. Gomułka, Rede auf dem VIII. Plenum, S. 37. Vgl. die Reden von Edward Ochab und Hilary Minc, in: Nowe Drogi 10, 1956, Nr. 10.

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Kapitalismus und des Sanacja-Regimes an, sondern auch als eine Folge des Stalinismus.183 1956 sollte die Vorstellung der „Verspätung“ Polens die Partei zu neuen Revolutionstaten mobilisieren. Die „furchtbare Rückständigkeit (straszliwe zacofanie), die unser Land in eine riesige Disproportion gegenüber anderen europäischen Ländern und Staaten gestellt hat“,184 galt es zu bekämpfen. Zacofanie entsprang nicht nur der gesamtgeschichtlichen „zivilisatorischen Lage Polens“, sondern drückte sich auch in konkreten Erscheinungen der Gegenwart aus, es war ein Eingriff der Vergangenheit in die Gegenwart. Das betraf auch den Personenkult, der als eine archaische Form der Tyrannei betrachtet wurde, die Polen auf ihrem fortschrittlichen Weg in den Sozialismus für einige Jahre gebremst habe. Die Rückständigkeit und der Konservatismus (auch in der Partei selbst) stellten einen imaginären Feind des Sozialismus dar.185 Doch nicht alle teilten die Ansicht, dass die Entstalinisierung nach 1956 einen endgültigen Abschied von der Rückständigkeit bedeutete. Manche Parteimitglieder verstanden die Reformen als Schritte zurück gegen den Zeitfluss, wenn z. B. die Liberalisierung der Wirtschaft als Türöffner für Spekulationen und Kapitalismus betrachtet wurde: „Man kann unter den Menschen Ansichten begegnen,“ hieß es im August 1956 in Częstochowa, „also ob wir vor dem VII. Plenum einen Schritt zurück und nach dem VII. Plenum zwei Schritte nach vorne gemacht hätten, d. h. dass wir wieder in die NEP zurückgehen, dass wir den Spekulanten wieder ihre Machenschaften ermöglichen.“186 In den sechziger Jahren gehörte „Rückständigkeit“ fest zum PZPR-Vokabular, das Wort fand sogar in die Parteistatute Eingang, in denen sie auf die „kapitalistische Ordnung sowie auf die Zeit der nationalen Unfreiheit“ zurückgeführt wurde.187 Die „Rückständigkeit“ vertiefte sich nach dieser Auffassung besonders wäh183 Interessanterweise wird in den historischen Darstellungen der Stalinismus aus der polnischen Geschichte ausgeschlossen und mit einem übergreifenden Modernisierungsnarrativ überschattet. Zum Beispiel wurde der Aufbau des Industriekomplexes Nowa Huta als ein positives Gegenstück der Negativa des Stalinismus dargestellt. Siehe Historia Polskiego Ruchu Robotniczego 1864–1964, 2 Bd., Warszawa 1967, Bd. 2, S. 397. 184 AAN, KC PZPR, 237/VII-5190, KW PZPR Wrocław, Plenarsitzung 26.6.1966, Bl. 13. Dass die polnische Selbstwahrnehmung als rückständiges Land auch noch im Poststalinismus vorhanden war, beweisen die Vergleiche mit anderen sozialistischen Ländern: „Warum haben unsere Radfahrer so schwache Fahrräder im Vergleich mit den ausländischen Radfahrern, die viel bessere Fahrräder haben, und deshalb während der Friedensfahrt viele Kollisionen und Unfälle hatten.“ AAN, KC PZPR, 237/VIII-637, Pytania, 22.6.1960, Bl. 35. 185 AAN, KC PZPR, 237/VII-3691, KW PZPR Wrocław, Plenarsitzung 28.5.1956, Bl. 27. 186 AP Kat, KW PZPR, 313/II/6, KP PZPR Częstochowa, Plenarsitzung 16.8.1956, Bl. 179. 187 Statut PZPR, Warszawa 1960, S. 18.

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rend des 19. Jahrhunderts, der Zeit der Teilung Polens, aber auch während des Sanacja-Regimes in der Zwischenkriegszeit. 1944 haben die Kommunisten ein „rückständiges Land“ übernommen. Die kommunistische Kritik an Rückständigkeit war aber kein Frontalangriff auf die Natur der polnischen Geschichte. Es handelte sich lediglich um eine vorübergehende Unterdrückung der „fortschrittlichen Kräfte“. Dabei wurde „Rückständigkeit“ zunehmend auf Wirtschaft und Lebensstandard und ihre Bekämpfung auf die Sicherung des Wohlstandes beschränkt. Bald gewann die kapitalismusähnliche Logik die Oberhand, welche sich, wie Zygmunt Bauman bereits Anfang der siebziger Jahre bemerkte, die modernistische Wachstumsideologie zu eigen machte. Bauman bezeichnete diesen Prozess als die „Domestizierung der kapitalistischen Kultur im Sozialismus“, in welchem die Akzente auf Produktion gesetzt wurden. Der Staatsozialismus sei daher sowohl eine Ablehnung als auch Fortsetzung der kapitalistischen wachstumsorientierten Zeitkultur. Er führe zwar eine Polemik mit dem Kapitalismus, aber mit den Begriffen des Kapitalismus.188 Im Poststalinismus verstärkte sich diese Konvergenz zwischen den beiden Systemen weiter, indem politische Entscheidungen weniger durch Ideologie und mehr durch Verwaltungsrationalität und wissenschaftstechnologische Entwicklung legitimiert wurden. Neben die ideologisch konstituierte Macht trat die neutrale, wissenschaftsgestützte „Lenkung“. Zeitkulturell verschob sich der Schwerpunkt vom Bruch auf die Kontinuität und den allmählichen Wandel.189 Der Aufschwung des Rückständigkeit-Diskurses in Polen im Laufe der sechziger Jahre war ein Ausdruck dieser Verschiebung des Zeitregimes vom Bruch zur Dauer. Der 1956 durch den „Polnischen Oktober“ stimulierte Revolutionseifer ließ bald nach und wurde durch Stagnation und zunehmenden Konservatismus ersetzt. Das war die Ära der „kleinen Stabilisierung“ (mała stabilizacja), eine Bezeichnung, die der Dichter Tadeusz Różewicz 1962 prägte.190 Man verwendete den Begriff auch im Nachhinein, um den Unterschied zwischen dem stalinistischen Interventionismus und der Modernisierungsperiode der „dynamischen Entwicklung“ von Edward Gierek (1970–1980) zu verdeutlichen. Sowohl im kollektiven Bewusstsein als auch in der Geschichtsforschung wird die „kleine Stabilisierung“ mit wirtschaftlicher Stagnation, niedrigem Lebensstandard und Mangel an individuellen Entwicklungschancen assoziiert. Auch wenn diese Bezeichnung vor allem ein nachträglich verbreitetes Pauschalbild ist, das manche

188 Zygmunt Bauman, Socialism. The Active Utopia, London 1976, S. 103. 189 Václav Bělohradský, Přirozený svět jako politický problém, Praha 1991, S. 179ff. 190 Błażej Brzostek: „Jakoś się wreszcie ułożyło …“ Esej o Polsce lat „małej stabilizacji“, in: Polska 1944/45–1989. Studia i materiały 10, Warszawa 2004, S. 263–297.

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dynamische Aspekte verdrängt,191 gibt die Parteisprache dieser Zeit tatsächlich ein vorwiegend „stabilisiertes“ Bild ab. Diese Grundeinstellung betraf vor allem die Art und Weise, wie im Parteialltag Probleme benannt und angepackt wurden.192 Die ideologische Sprache der Partei, einschließlich ihrer historischen Selbstbeschreibungen, verkrustete seit Mitte der siebziger Jahre zunehmend. Bereits in der ersten Hälfte der sechziger Jahre begann ein Stabilisierungsvokabular Fuß zu fassen, wie Błażej Brzostek zeigte.193 Nehmen wir die Rede des Ersten Sekretärs der Breslauer Wojewodschaft vom Juni 1964 als Beispiel. Ideologisch wies sie die typischen Merkmale von Gomułkas konservativer Rhetorik der sechziger Jahre auf – die Attacken gegen die „Feinde der Partei“, vor allem die Revisionisten usw. – die nach dem gleichen Muster reproduziert wurden. Zugleich ist die Semantik dieser Rede sehr parteizentriert, im Vordergrund steht die „Erneuerung der Partei“. Auch behandelte der Sekretär vornehmlich die wirtschaftliche Rückständigkeit Polens. Aber die Textstruktur enthielt einen bisher ungewöhnlichen Grad an Erstarrung, besonders weil die Sprache in einer zeitlichen Unbestimmtheit eingehegt war. Wenn die Rede etwa die Wirtschaftsvervollkommnung erwähnt, rekurriert sie auf das „weitere Ausarbeiten der Aufgaben“ (dalsze rozpracowanie zadań) und auf die „Weiterentwicklung unserer Industrie“ (dalsze rozwijanie naszego przemysłu). Dabei ist der Gebrauch des in den slawischen Sprachen vorhandenen imperfekten Aspekts sinngebend, der im späten Poststalinismus und noch stärker im Spätsozialismus zunehmend verwendet wurde. Unabgeschlossenheit und Zukunftsunbestimmtheit beherrschten den Duktus, unterstützt von stabilisierenden, gegenwartsorientierten Verben wie „sichern“, „konsolidieren“ und „fortsetzen“. Ein weiteres bedeutendes Merkmal ist die Stufenartigkeit: Man 191 Marcin Zaremba hat nachgewiesen, dass die sechziger Jahre in Polen eine Zeit von Sozialunruhen war, vor allem Arbeiterprotesten: Społeczeństwo polskie lat sześćdziesiątych – między „małą stabilizacją“ i „małą destabilizacją“, in: Konrad Rokicki/Sławomir Stępień (Hg.), Oblicza Marca 1968, Warszawa 2004, S. 25–51. 192 Wojciech Roszkowski, Historia Polski 1914–2005, S. 259–272. 193 Brzostek konstatiert eine Tendenz der poststalinistischen Parteisprache, eher die „objektiven“ als „subjektiven“ Ursachen hervorzuheben, sowie das Übergewicht der aufgewandten Anstrengung über das Ergebnis bei der Bewertung der Parteiarbeit, einen höheren Gebrauch des Konditionals (-by), sowie der Ausdrücke wie „chyba“ (vielleicht) und „trzeba“ (es ist nötig), die auf eine in der stalinistischen Sprache unzulässige Aufweichung und Unschlüssigkeit deuten. Błażej Brzostek, „A teraz siej, nie czekaj na nic, tylko sie!“ Szkic o lokalnej władzy PZPR od stalinizmu do „wczesnego Gierka“, in: Dariusz Stola/Marcin Zaremba (Hg.), PRL. Trwanie in zmiana, Warszawa 2003, S. 97–117, hier S. 106–108; Michał Głowiński weist auf den Niedergang der marxistisch-leninistischen Doktrin und den Aufstieg des „Staats“ zum Zentrum der Legitimationssprache seit den frühren 1970er Jahren hin: Nowomowa i ciągi dalsze. Szkice dawne i nowe, Kraków 2009, S. 178ff.

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solle die „graduelle Beseitigung der Hindernisse“ anstreben, die den Fortschritt und die Entwicklung einschränken. Den Text beherrschen komplexe und mehrheitlich auf Substantiven aufgebaute Satzteile wie „die Möglichkeiten der Entwicklung der erwähnten Bereiche“ oder „die Sicherstellung der Verwirklichung der Beschlüsse des Parteitages“ (zapewnienie realizacji uchwał zjazdu).194 Der Poststalinismus brachte schließlich Konfusion in den Schlüsselbegriff der Revolution. Er vervielfältigte sich, verlor Eindeutigkeit und Zielorientierung. 1850 schrieb Karl Marx in Die Klassenkämpfe in Frankreich, dass Revolutionen die „Lokomotiven der Geschichte“ sind. Nach dieser optimistischen Sicht sollte die alte Ordnung der neuen, fortschrittlichen den Weg frei machen: Die Menschheit habe damit jeweils ein „höheres Stadium“ ihrer Geschichte betreten. Die Jahre 1789, 1848 und 1917 stellten Revolutionsmeilensteine dar, die den Glauben ihrer Akteure an die fundamentale Neuigkeit, Unwiederholbarkeit und Unumkehrbarkeit gemeinsam haben. Diese Überzeugung war Mitte der sechziger Jahre unter den Kommunisten nur teilweise vorhanden. In Polen herrschte während des Jahres 1956 noch eine wahrhafte Revolutionsstimmung. Man teilte das umbruchstypische Gefühl der Zeitbeschleunigung, auch wenn es diesmal darum ging, zeitbeschleunigt die „Errungenschaften“ des vorherigen, gescheiterten Revolutionsversuches zu korrigieren und auch das getane Unrecht wiedergutzumachen. Man wunderte sich, in welchem Tempo das Zeitgeschehen passiert, wie in der Kreisleitung in Częstochowa im Dezember 1956: „Ein Jahr ist aus geschichtlicher Sicht ein sehr kurzer Zeitraum. Dennoch fanden in diesem verhältnismäßig kurzem Zeitraum in der internationalen Arbeiterbewegung, darunter auch in unserer Partei und in unserem Land, riesige Veränderungen, Veränderungen von geschichtlicher Bedeutung statt.“195 Das waren noch die Nachklänge des leninistischen Zeitverständnisses, in welchem riesige Veränderungen innerhalb der kürzesten Zeit passieren konnten – das galt sowohl für die Revolution von 1956, als allerdings auch für die dunkle Zeit des Stalinismus, in welcher sich viel Schlimmes anhäufte. Die antistalinistischen Kräfte verstanden sich vorwiegend als fortschrittliche Revolutionäre, während die Stalinisten als Konservative galten. Nach dem XX. Parteitag sprach man in der PZPR von einer „wachsenden Revolutions194 AAN, KC PZPR, 237/VII-5190, KW PZPR Wrocław, Plenarsitzung 26.6.1964, Bl. 9– 18. Im Spätsozialismus wurde die Tendenz zur Substantivierung ad Absurdum geführt. Z. B. trug das Reformpaket der tschechoslowakischen Regierung von 1980 den Titel „Soubor opatření ke zdokonalování soustavy plánovitého řízení národního hospodářství“ (Ein Komplex von Maßnahmen zur Vervollkommnung des Systems der Leitung der Volkswirtschaft). 195 AP Kat, KW PZPR, 313/I/3, KP PZPR Częstochowa, Materiały z VIII Konferencji Sprawozdawczo-Wyborczej, 11.–12.12.1956, Bl. 35.

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welle“,196 hob „unsere Revolution“ hervor, die nie mit sich selbst zufrieden sein dürfe, sei sie doch die Bedingung für die „weitere Entwicklung“ und den „weiteren Fortschritt“. Die Kommunisten sollten immer „Kritik in Bezug auf das, was ist, ausüben“ (Krytyka w stosunku do tego, co jest), hieß es im Oktober 1956 in Katowice.197 Aber die Verlangsamung der Geschichte stellte sich schon kurz nach 1956 ein und kennzeichnete auch den letzten poststalinistischen Versuch, die „Handlungszeit“ für die Partei wiederzugewinnen – den Prager Frühling. Keine neue „Revolutionswelle“, auch hin zum „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“, war im Stande, die „Komplexität der Geschichte“ und ihre fortschreitende Entschleunigung rückgängig zu machen. Als der tschechoslowakische Germanistikprofessor Eduard Goldstücker im Frühjahr 1968 in einer Fernsehsendung gefragt wurde, warum er die Funktion des Vorsitzenden des Tschechoslowakischen Schriftstellerverbands angenommen hatte, antwortete er lakonisch: „Das ist eine ziemlich komplizierte Geschichte. Übrigens, das Wort ,kompliziert‘ ist heutzutage sehr modern geworden, das ist jetzt sehr populär (to se teď nosí).“198 Auch wenn der Reformglaube, ja manchmal gar der Reformeifer der Poststalinisten der sechziger Jahre euphorisch und zukunfts-zugewandt erscheint, blieben die Last der Vergangenheit und das Ende der Geschichtssicherheit stets spürbar. Die Vergangenheit trat in einer Doppelrolle auf – als Trauma und Traum. Sie war ein Trauma, eine Wunde, die durch die stalinistischen Verbrechen entstanden war. Aber sie war zugleich auch ein Traum, eine Sehnsucht nach einer besseren Welt, die sich am besten und am zugänglichsten durch die Idealisierung der eigenen Vergangenheit vergegenwärtigen lässt. Man kann František Graus zustimmen, dass die Nostalgie in jeder Gemeinschaft nach einer gewissen Zeit immer wieder auftritt, so dass die Kommunisten keine Ausnahme waren. Der Mythos des Goldenen Zeitalters, die Sehnsucht, „in ein Reich der Träume zu entfliehen“ ist schließlich uralt, wie Graus bemerkte.199 Die unzähligen Verweise der Kommunisten auf die bessere Zeit vor dem Stalinismus lassen sich auch nicht als eine einseitige „Rückkehr“ in die Vergangenheit, als eine bloß restaurative Nostalgie bezeichnen. Seit ihrer Entstehung war die mythische Vorstellung des Goldenen Zeitalters nie rein restaurativ und vergangenheits-zugewandt.

196 AAN, KC PZPR, 237/VII-3020, KW PZPR Kielce, Plenarsitzung 17.–18.9.1956, Bl. 258. 197 AAN, KC PZPR, 237/VII-2953, KW PZPR Katowice, Plenarsitzung 12.–13.10.1956, Bl. 247. 198 Prameny k dějinám československé krize 1967–1970, Bd. 9/1, Praha 1999, S. 65. 199 Graus, Goldenes Zeitalter, S. 93.

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Der Glaube an eine bessere Vergangenheit geht über die Geschichte der kommunistischen Bewegung hinaus. Die Sehnsucht nach dem Goldenen Zeitalter ist in allen modernen Ideologien präsent. Sie kommt meistens in der Phase nach dem „revolutionären Zenit“ vor, nach dem Zusammenbruch allumfassender Zukunftsentwürfe, nach den Perioden des radikalen Wandels, des Aufstiegs und Verfalls. Der Poststalinismus war eine Zeit der Suche nach einem Neuanfang und zugleich der wachsenden Skepsis und Zuwendung zu Vergangenheitsidyllen. Er erscheint als der „Herbst des Kommunismus“, als eine welke Zeit: Ähnlich wie Huizingas Spätmittelalter war der Poststalinismus eine Geisteslage, in welcher sich Trübsinn und Melancholie, Pessimismus und Gesättigtsein, Enttäuschung und Niedergeschlagenheit, Lebensmüdigkeit und Lebensangst mit der Sehnsucht nach einem schöneren Leben im Geiste eines geträumten Ideals verknüpften.200 Er war eine Epoche, die einerseits bereits „alt geworden“ war und sich deshalb wie die Eule der Minerva ihrer eigenen Vergangenheit zuwenden konnte, andererseits jedoch den Zukunftspathos noch auf keinen Fall aufgegeben hat und hie und da – wie Gomułka 1956, Chruschtschow 1961, Ulbricht 1966 oder Dubček 1968 – noch ein Feuerwerk der Zukunftsvisionen veranstaltete. Aber die Last der Vergangenheit war zu schwer und die Wunde der Geschichte zu tief. Die Geschichte nahm zunehmend die Form des Kreises an. Nach dem Stalinismus, diesem „Tonus der Geschicke“,201 dieser „aus den Fugen verrenkten Zeit“202 kamen Ernüchterung und Wunsch nach Normalität. Der Poststalinismus stellt somit eine Übergangsqualität dar, die sich von der Zukunft zwar noch nicht verabschiedete, sie aber zunehmend in der Vergangenheit suchte, hoffend und abwartend, entweder durch Wiedergutmachung und Rehabilitierung oder in den Erinnerungen an eine scheinbar wahre, authentische Vorzeit. Der in Brünn geborene deutsche Schriftsteller Fritz Beer (1911–2006) brachte diese Situation treffend auf den Punkt in

200 Johan Huizinga, Herbst des Mittelalters, Stuttgart 1975, S. 39ff. 201 Der Begriff stammt von František Graus. Siehe dazu Jacques Le Goff, Frantisࡊek Graus et la crise du XIVe sieҒcle: les structures et le hazard, in: Susanna Burghartz (Hg.), Spannungen und Widersprüche. Gedenkschrift für František Graus, Sigmaringen 1992, S. 13–22: „Tout ce que l’on peut dire du Spaխtmittelalter, c’est qu’il est caracteғriseғ par un tonus spécifique du destin (ein gewisser Tonus der Geschichte). Je note qu’apreҒs ses analyses profondes et souvent neuves d’aspects essentiels des troubles du XIVe, František Graus retrouve le climat de l’automne du Moyen Age de Huizinga et qu’il cherchait peut-eࡂtre un concept meғtaphorique (Tonus) voisin de celui de style que Paul Veyne et Michel Foucault aҒ la fin de sa vie ont chercheғ aҒ introduire en histoire.“ Ebenda, S. 20. 202 František Šmahel, Husitská revoluce, Bd. 1, Doba vymknutá z kloubů, Praha 1993.

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seinem Bericht über den tschechoslowakischen Reformkommunismus: Die Zukunft funktionierte noch nicht.203 Deshalb rekurrierten die Poststalinisten, wie alle enttäuschten Nachrevolutionäre, auf die Vorstellungen der „wahren Gemeinschaft“, der „alten verlorenen Rechte“ und „ursprünglichen Unschuld“. Sie suchten nicht mehr nach der absoluten Herrschaft über die Zeit, sondern nach der Rückkehr zu einem Zustand, in welchem die Einheit zwischen revolutionärem Streben und idealer Zukunftsvision einen klaren Geschichtssinn ergab.204 Die elegischen, verklärend idealisierenden Vergangenheitsbilder sollten nicht den Wunsch nach bloßer Rückkehr erwecken, sondern begeistern, indem sie Ausblicke auf Glück, Harmonie und Vollkommenheit eröffnen. Die wehmütige Erinnerung an eine blühende Vorzeit, die Trauer um ihren Verlust, ist die Triebfeder dieses Aufbruchs in eine Welt, in der die Vergötterung des Alten nicht mehr zwangsläufig an Verlustgefühle und Schmerz gebunden sein sollte.205 Der Poststalinismus schöpfte sein politisches Mobilisierungspotenzial gerade aus dieser Geisteslage zwischen nicht mehr und noch nicht.

203 Fritz Beer, Die Zukunft funktioniert noch nicht. Ein Porträt der Tschechoslowakei 1948–1968, Frankfurt a. M. 1969. 204 Die Vorstellung des Goldenen Zeitalters, auch wenn sie auf dynamische Handlungen in der Vergangenheit (Revolution, Widerstand usw.) hinweist, kann den Raum für bewegungslose Zeitzustände öffnen. Anthropologisch gesehen ist das Goldene Zeitalter eine Zeit ohne Veränderung und Wandel. Die mythische Zeit unter dem Gott Kronos/Saturn war eine bewegungslose Zeit. War Breschnew ein Kronos im Unterschied zu Stalin, der sich als der Demiurg verstand? In der Tradition ergibt sich das Bild des Saturn als Herrscher der Zeitlosigkeit, Ganzheit und Unveränderlichkeit. Das entspricht den Zeitkonzepten von zastoj und bezruch. Zum Zeitalter des Kronos siehe Florence Russo, Dante’s Search for the Golden Age, Stony Brook 2011, S. 34 f., und Armand De Loecker, Zwischen Atlantis und Frankfurt. Märchendichtung und Goldenes Zeitalter bei E.T.A. Hoffmann, Frankfurt a. M. 1983, S. 26. 205 Amtmann-Chornitzer, „Schöne Welt, wo bist du?“, S. 44 und 77.

Epilog: Der diskrete Charme der Ideologie

„Ich bin. Wir sind. Das ist genug. Nun haben wir zu beginnen. In unsere Hände ist das Leben gegeben. Für sich selber ist es längst schon leer geworden. Es taumelt sinnlos hin und her, aber wir stehen fest, und so wollen wir ihm seine Faust und seine Ziele werden.“ (Ernst Bloch, 1918)1 „Es geht darum, dass die Kritik permanent ist. Unsere Revolution soll permanent mit sich selbst unzufrieden sein, denn das ist ihre Bedingung, das ist die Bedingung ihres Fortschritts. In der Kritik in Bezug darauf, was ist, steckt – davon bin ich tief überzeugt – der Kern der marxistischen Methode.“ (Gen. Zastawny, Leiter der Bildungsabteilung der KW PZPR Wrocław, 12. Oktober 1956)2 „Warum besteht in manchen Fragen noch keine Klarheit?“ (Teilnehmer des SED-Parteilehrjahres Mineralölwerk Lützkendorf, 12. Juni 1967)3

Das Ende des „Realsozialismus“ bedeutete mehr als nur den Kollaps einiger tragikomischer Regime in Osteuropa. Der Untergang dieser Diktaturen versetzte auch dem Traum der Massenutopie, der die westliche Welt über die gesamte Moderne hinweg begleitet hatte, den Gnadenstoß. Mit dem Zusammenbruch des Sowjetkommunismus ging auch Walter Benjamins Traumwelt der Moderne unwiderruflich zugrunde, eine Vision, in welcher der Strom permanenter Veränderungen die Hoffnung auf eine bessere Zukunft stärkte und die die utopische Sehnsucht nach einer neuen Ordnung ausdrückte, die alle bisherigen Gesellschaftsformen übertreffen würde.4 Es war paradoxerweise der Untergang des realexistierenden Sozialismus, der diesem utopischen Traum ein Ende setzte: Seitdem ist die Zukunft nur „realexistierend“, sei es als liberale Demokratie oder freie Marktwirtschaft. In dieser Hinsicht brachten die osteuropäischen „Revolutionen“ von 1989 nichts Neues, sie lehnten nur das Alte ab. Marginale Utopieprojekte, die hie und da im Revolutionstumult auftauchten, gerieten schnell in Vergessenheit. Bald gewann die Orientierung an der vagen Rhetorik des „Standards“ die Oberhand, und die Losung „Probieren wir das Ausprobierte“ wurde zum Gebot der Stunde. Die Re-

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Der Geist der Utopie. Erste Fassung. Faksimile der Ausgabe von 1918 (Gesamtausgabe, Bd. 16), Frankfurt a. M. 1971, S. 9. AAN, KC PZPR, 237/VII-2953, KW PZPR Katowice, Plenarsitzung 12.–13.10.1956, Bl. 247. LHASA, MER, SED-Bezirksleitung Halle, IV/A-2/9/01/79, Bl. 162. Suzanne Buck-Morrs, Dreamworld and Catastrophe. The Passing of Mass Utopia in East and West, Cambridge 2000, S. x-xi.

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volutionen waren radikal in der Zurückweisung des Alten, aber skeptisch in der Suche nach dem Neuen. Für viele bedeutete dies den Beginn des „post-ideologischen Zeitalters“ oder gar das Ende der Geschichte. Im Zusammenbruch von 1989 gipfeln die allgemeinhistorischen Zusammenhänge von Herrschaft, Ideologie und Utopie, die die Erforschung der poststalinistischen Mentalität in diesem Buch bestimmten. Inwieweit hilft uns der Einblick in die „Ernüchterung“ europäischer Kommunisten nach 1956 dabei, die Geschichte des Kommunismus im 20. Jahrhundert zu verstehen? Was sagt ihr dorniger Weg vom fanatischen Glauben über bestürzende Enttäuschung hin zur Entschlossenheit zu einem Neuanfang generell über moderne Ideologien und Herrschaftssysteme aus? Vor diesem Hintergrund will ich abschließend den Charakter des Poststalinismus als einen der letzten Versuche einer authentischen politischen Sprache herausarbeiten, besonders im Kontrast zu dem, was danach kam – dem Spätsozialismus und Postsozialismus, mit ihrer scheinbar postideologischen Natur.

Rituale der Macht – Macht der Rituale In dem berühmten Film von Luis Buñuel Der diskrete Charme der Bourgeoisie (1972) versucht eine Gruppe von Angehörigen des Großbürgertums, ein niveauvolles Abendessen zu veranstalten. Dieses Vorhaben wird aber immer wieder von verschiedenen Eingriffen von außen unterbrochen. Mal verwechseln die Gäste den Tag, mal stürzt eine Militärtruppe in das Haus, mal wird das Essen von einem Terroristenangriff unterbrochen. Trotz alledem halten die Bürgerlichen an ihren Ritualen, an stilvollen Tischmanieren und gehobener Konversation hartnäckig fest – auch dann, wenn der Sinn ihrer Rituale wegen der ungünstigen Umstände immer mehr verloren geht. Buñuel entwickelte damit ein Thema, das auch für die heutige, scheinbar postideologische Welt seine Aktualität besitzt: Was bedeuten die modernen Rituale und ideologische Sprache, wenn diejenigen, die sie gebrauchen, ihren eigentlichen Sinn nicht mehr wahrnehmen und sie nur blind wiederholen? Was sagt die „Diskretion“, die Unauffälligkeit ideologischer Rituale und ideologischer Sprachen aus, worauf beruht ihre verführende Selbstverständlichkeit? Es wird oft geglaubt, dass Ideologien samt ihrer Rituale politischen – vor allem autoritären – Herrschaftsregimes dazu dienen, ihre ungenügende Legitimität wie auch ihre wirklichen, meistens schnöden Absichten zu kaschieren. In dieser Perspektive ist der Zweck der Ideologien, die Aufmerksamkeit weg von den jeweils gegenwärtigen Schwierigkeiten hin zum vergangenen „Goldenen Zeitalter“ oder dem künftigen Paradies hinzulenken, um dadurch das Gefühl der Gruppenzusammengehörigkeit zu stärken. Folgerichtig haben Hitler und seine Kamarilla den

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Antisemitismus konstruiert, Stalin erfand den „imperialistischen Klassenfeind“, während sich die Amerikaner in den fünfziger Jahren des Gespenstes der „roten Gefahr“ bedienten. Die Parteiführungen in den kommunistischen Diktaturen setzten – nachdem ihre ohnehin unsichere Unterstützung in der breiten Bevölkerung nach 1956 noch weiter zu sinken begonnen hatte – auf die nationalistische Karte. So lobten die polnischen Kommunisten in den sechziger Jahren den polnischen mittelalterlichen Feudalstaat, der gegen die „Deutschen“ kämpfte, und bei den Feierlichkeiten des „Tausendjährigen Jubiläums des polnischen Staates“ im Jahr 1966 ließen sie vor dem Warschauer Kulturpalast gewappnete Ritter mit Schilden und Lanzen aufmarschieren. Aber dieselbe Faszination für solche historischen Paraden finden wir zu dieser Zeit auch beim französischen Staatspräsidenten De Gaulle, vor allem anlässlich der Jubiläumsfeier der Französischen Revolution. Die Vorstellung, dass solche „Machtrituale“ die Bevölkerung benebeln, wenn nicht gar verführen sollten, vertraten besonders die Anhänger der Theorie des Totalitarismus. Sie behaupteten, dass Ideologie und ideologische Rituale die Macht der Herrscher dadurch festigen halfen, dass sie die Bevölkerung „indoktrinierten“, in anderen Worten, dass sie sie der Fähigkeit beraubten, selbstständig zu denken und die Wahrheit von der Lüge zu unterscheiden. Damit handelte es sich um eine Variation des Gedankens aus Die deutsche Ideologie (1845–1846), nach dem die Begründer des „wissenschaftlichen Kommunismus“ Marx und Engels die Ideologie als ein verkehrtes, falsches Bewusstsein beschrieben, mit dessen Hilfe die herrschenden Klassen die tatsächlichen Voraussetzungen und Ziele ihrer Herrschaft verschleiern: Während es in der Marxschen Analyse des Kapitalismus um die ausbeutende Bourgeoisie ging, stellte die Totalitarismustheorie bürokratische Parteiapparate in den Vordergrund. Diese Interpretation kann teilweise erklären, warum verschiedene Regime über eine gewisse Zeit hinaus bestehen. Sie kann aber nicht erklären, warum Herrschaftssysteme untergehen. Wo wurde etwa im „Realsozialismus“ gegen Ende der achtziger Jahre der „Fehler“ begangen, als die über vier Jahrzehnte angeblich erfolgreich „indoktrinierte“ Bevölkerung praktisch über Nacht aufhörte, die offizielle Ideologie zu respektieren und die Propagandaphrasen wiederzukäuen? Im Unterschied zu den Vertretern der Totalitarismustheorie haben die Sozialhistoriker der so genannten „revisionistischen Schule“ das Argument der Verführungskraft „totalitärer Ideologien“ abgelehnt. Stattdessen behaupteten sie, dass die Menschen im Staatssozialismus ein „Doppelleben“ zu führen lernten – ein lügenhaftes in der Öffentlichkeit, und ein wahrhaftes in der Privatsphäre. Diese Interpretation tauchte bereits in der Forschung zum Nationalsozialismus aus den achtziger Jahren auf. Die deutsche Bevölkerung soll Hitler nur „äußerlich“ unterstützt haben, während sie in der Privatsphäre ihre Integrität beibehalten habe, wovon

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zum Beispiel das weit verbreitete Phänomen des „Meckerns“ zeugen soll.5 Die These vom „Doppelbewusstsein“ konnte das Problem des „falschen Bewusstseins“, das in der Totalitarismustheorie enthalten war, zwar überwinden, indem sie die Schlüsselmomente erfasste, in denen Menschen die Unterstützung des „Regimes“ ausdrückten oder es ablehnten. Gleichzeitig führte sie aber einen neuen Gegensatz ein: den zwischen Wahrheit und Lüge, zwischen Wirklichkeit und Vortäuschung.

Die Sprache zwischen Wahrheit und Lüge In diesem Buch ging ich von einer anderen Auffassung der kommunistischen Ideologie aus, die sich eine Ketzerfrage stellt: Kann man die beiden Sphären – die Welt der Ideologie und die Welt der Authentizität – tatsächlich so streng voneinander trennen? Oder lässt sich vielmehr eine produktive Wechselwirkung zwischen ihnen feststellen? Wie ich zu zeigen versuchte, konnten die Menschen – in diesem Fall die „einfachen“ Kommunisten nach 1956 – doch gut unterscheiden zwischen allgemeinen ideologischen Phrasen, die sie in der Öffentlichkeit durch die Teilnahme an offiziellen Ritualen bestätigten, und der eigen-sinnigen Ausfüllung dieser Losungen im Alltag und lokalen Raum. Dabei verstanden sie diese Doppeldeutigkeit nicht als Widerspruch, sondern konnten an beides gleichzeitig „glauben“. Die offizielle Sprache war aus dieser Sicht weder das Marxsche „falsche Bewusstsein“ noch der von den sozialhistorischen Revisionisten postulierte ideologische „Anstrich“, der die wirklichen Ansichten verschleiern sollte. Vielmehr fungierte sie, besonders seit dem Ende des Stalinismus Mitte der fünfziger Jahre, als ein übergreifender „autoritativer Diskurs“, wie ihn Michail Bachtin entwarf: Als eine Sprache, die in ihrem Inhalt weder kommentiert noch in Frage gestellt, sondern in ihrer Form reproduziert wird. Mit dem „autoritativen Diskurs“ (avtoritetnoje slovo) wird eine in der Vergangenheit verankerte Ordnung rituell bestätigt. Ihm gegenüber, so Bachtin, steht die „innerlich überzeugende Sprache“ (vnutrenneje – ubediteľnoje slovo) welche, dynamisch und kreativ, über die Fähigkeit verfügt, neue Inhalte herzustellen. Sie hat einen dialogischen Charakter und kann die

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Wie Hans Mommsen jedoch bemerkte, musste das „Meckern“ das allgemeine Einverständnis mit der NS-Herrschaft nicht unbedingt in Frage stellen, sondern konnte sie im Gegenteil stabilisieren. Zur Funktion der „Mentalität von Anpassung und Meckern“ in der DDR siehe Mary Fulbrook, Theoretical Perspectives on the German Democratic Republic. Mary Fulbrook Responds to Martin Sabrow, in: German Historical Institute London Bulletin 20, 1998, Nr. 2, S. 32–45.

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Gültigkeit des offiziellen autoritativen Diskurses untergraben.6 Wie wir gesehen haben, spielt eben diese Doppeldeutigkeit der Sprache eine bedeutende Rolle in der Herstellung und Perpetuierung von Herrschaftsbeziehungen, sowohl im Stalinismus als auch nach seinem Niedergang. So spricht z. B. Stephen Kotkin in seiner Studie zum Stalinschen Industriekomplex Magnitogorsk vom „bolschewistischen Diskurs“ (speaking Bolshevik), den sich die Arbeiter aneigneten und sich dessen als Strategie des Sozialaufstiegs bedienten. „Glauben“ und „Nicht-Glauben“ standen dabei nicht im Gegensatz zueinander: Diejenigen, die die bolschewistische Herrschaft „ablehnten“, konnten von deren Sozialpolitik profitieren und sie entsprechend positiv einschätzen. Die „tief Glaubenden“ waren wiederum oft zu ideologischen Kompromissen gezwungen, und zwar in den Grenzen, die durch den Gegensatz zwischen der allgemeinen „Richtigkeit“ des Sozialismus und der allgemeinen Ablehnung des Kapitalismus bestimmt waren.7 Während im Stalinismus der Inhalt der autoritativen Sprache von Stalin selbst bestimmt wurde, wandelte sich die Situation im Poststalinismus (nach 1956) und im Spätsozialismus (nach 1968) erheblich. Mit Stalins Tod schied der souveräne Exeget des kommunistischen Dogmas, der den Ton und den Inhalt des ideologischen Vokabulars kapriziös umgestaltete, aus. Die Folge war ein Interpretationsvakuum. Während sich der Poststalinismus durch Verunsicherung und offene Fragen auszeichnete, verschloss sich die Ideologiesprache der späteren BreschnewÄra der siebziger Jahre immer mehr in sich und büßte an Dynamik ein. Die ideologischen Floskeln wurden gedankenlos nach vorgefertigten Mustern wiederholt, manchmal samt den Fehlern. Wörter wiesen dabei auf keinen konkreten Inhalt hin, kaum jemand suchte in ihnen nach einem Sinn. Alexei Yurchak spricht hierbei von der „Hypernormalisierung“ der Ideologie: Phrasen wurden gerade deshalb wiederholt, damit sie als der „autoritative Diskurs“ mit einer höheren Geltung erscheinen konnten. Damit gewann, um mit J. L. Austin zu sprechen, der performative Akt des Sprechens, also ihre Form, die Oberhand über ihre konstative Seite, also den eigentlichen Inhalt der Mitteilung. Diese Funktion der Ideologie kann mit folgenden Beispielen veranschaulicht werden: Die große Mehrheit der Bevölkerung im Spätsozialismus nahm an den offiziellen Manifestationen am Ersten Mai teil. Auf den ersten Blick handelte es sich um eine Apotheose des „Regimes“: Die Menschenmengen marschierten an der Tribüne vorbei, auf der die „hohen Repräsentanten der Partei und des Staates“ standen und sie von dort begrüßten. Die Teilnehmer riefen Losungen aus, aus den Lautsprechern tönten optimistische Lieder, Tausende von Menschen zeigten

 6

Christoph Schäfer, Didaktik der Erinnerung. Bildung als kritische Vermittlung zwischen individuellem und kollektivem Gedächtnis, Münster 2009, S. 233–234. 7 Stephen Kotkin, Magnetic Mountain. Stalinism as a Civilization, Berkeley 1995, S. 218ff.

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ihren „unbeugsamen Willen“ zum Aufbau des Sozialismus. Die Presse berichtete am darauffolgenden Tag darüber, wie die sozialistischen Bürger die „unerschütterliche Einheit“ der Partei und des Volkes zum Ausdruck gebracht hatten. In Wirklichkeit schenkte jedoch kaum jemand den besagten Losungen Aufmerksamkeit. Manche Teilnehmer der Manifestation wussten nicht einmal, welchen von den „hohen Repräsentanten“ ihre Transparente eigentlich abbildeten. Ähnliches kann man über die Wahlen im Spätsozialismus sagen, an denen die große Mehrheit der Bevölkerung teilnahm. Die Wähler „unterstützten“ die einheitliche Kandidatenliste, was den Eindruck einer massiven Zustimmung der von der Partei betriebenen Politik erweckte. Nur wenige wussten jedoch, für wen sie eigentlich abstimmten und warum. Manche „Wähler“ wussten nicht mal, welches „Organ der sozialistischen Macht“ gerade gewählt wurde. Was sagt diese geringe Aufmerksamkeit, die den eigentlichen Inhalten geschenkt wurde, über das Funktionieren der Ideologie aus? Warum interessierten sich die Menschen für den Sinn dieser ideologischen Praktiken nicht? Die Anhänger der Totalitarismustheorie hatten eine schlagfertige Antwort parat: Die „massive Unterstützung“ war nichts anderes als das Ergebnis des systematischen Einschüchterns durch das Regime. Unter ständigen Drohungen gaben die Bürger ihr kritisches „zivilgesellschaftliches“ Denken auf und wiederholten die vorher bestimmten Losungen. In dieser Sichtweise ist die Ideologie jene Täuschung, der die Menschen wegen drohender Repressionen nachgeben. Ohne Zweifel war diese Drohung auch im Poststalinismus und Spätsozialismus vorhanden, obgleich sie in den achtziger Jahren spürbar nachließ. Viel wichtiger aber ist, dass der „totalitaristische“ Deutungsansatz die Gesellschaft im Staatsozialismus als ein Aggregat uniformer Individuen betrachtet und dabei die Vielfalt von Denk- und Handlungsweisen übersieht, mit welchen sich die Menschen die Welt erklärten und ihre Ziele zu erreichen suchten. Eine andere Erklärung lieferten die „Revisionisten“ in der These vom „Doppelbewusstsein“. Die „massive Unterstützung“ war aus ihrer Sicht Ausdruck des „unaufrichtigen“ Handelns: Auf den Manifestationen, in den Wahlen, auf endlosen Versammlungen und Sitzungen bekannten sich die Menschen zu Losungen und Idealen, an die sie tatsächlich seit langem nicht mehr glaubten, während sie zu Hause ihre authentischen Meinungen ausdrückten. Zwar entspricht diese Interpretation der Tatsache, dass die Bürger im Spätsozialismus über viele Sachen verschiedene, oft sehr kritische Ansichten hatten. Auch sie greift jedoch zu kurz, wenn wir uns die Alltagswelt der kommunistischen Diktaturen, einschließlich der Parteien selbst, aus der Nähe und ohne Vorurteile anschauen, in der „Wahrheit“ und „Lüge“, „Authentizität“ und „Ideologie“, „Wirklichkeit“ und „Vortäuschung“ oft eng miteinander verwoben waren.

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Diese Verwobenheit ist vor allem dort sichtbar, wo die Ideologie nicht nur restriktiv – durch ausdrückliche Verbote und Vorschriften – wirkte, sondern auch eine produktive Funktion hatte, indem sie den Menschen die Möglichkeit eröffnete, jene Ansichten auszudrücken, deren Korrektheit und Angemessenheit sie sich nicht ganz sicher waren. Nehmen wir die oben erwähnten Versammlungen als Beispiel. Es war üblich, dass die Teilnehmer die Inhalte nicht beachteten – sie lasen während des Referats, schauten aus dem Fenster hinaus oder starrten den Redner unbeteiligt an. Als jedoch am Ende der Versammlung abgestimmt wurde, hoben sie ohne Bedenken die Hand. Damit bejahten sie nicht den konkreten Inhalt des „Beschlusses“, sondern drückten die vage Zugehörigkeit zur „sozialistischen Gemeinschaft“ aus, ihre Identität des „gewöhnlichen Bürgers“, der die bestehende Wert- und Machtordnung mit allen ihren Restriktionen und Möglichkeiten anerkannte. Und zu diesen Möglichkeiten zählte auch das Recht, unmittelbar nach der Versammlung einen Standpunkt zu vertreten, der von dem gerade gebilligten Beschluss abwich. Es wäre jedoch eine Vereinfachung, zwischen „wahrhaften“ und „unwahrhaften“ Ansichten und zwischen der „wirklichen“ und „vorgetäuschten“ Unterstützung zu unterscheiden. Die Menschen deklarierten keine konkreten Fakten und Standpunkte, sondern äußerten ihre allgemeine Zustimmung zur Ordnung der Dinge – das heißt zu dem, was die „Verhältnisse“ ermöglichten und was sie verboten. Es ging vor allem darum, die Form ritualisierter ideologischer Praktiken zu perpetuieren, und nicht darum, sich mit ihrem Inhalt zu befassen. Das bedeutet jedoch nicht, dass die offizielle Ideologie des Spätsozialismus leer, ausgezehrt, des Sinnes völlig beraubt gewesen wäre. Im Gegenteil, gerade die Uneindeutigkeit wenn nicht gar Vagheit ideologischer Floskeln machte es möglich, dass Menschen in ihrem Alltagshandeln in den „autoritativen Diskurs“ neue Bedeutungen, Forderungen und Haltungen hineintragen konnten, deren „Orthodoxie“ oder nur Annehmbarkeit als unsicher galt. In diesem Sinne war der Inhalt der Ideologie eher unverankert als leer, eher unbestimmt und eigentlich irrelevant. Von Bedeutung war dagegen das ständige Wiederholen der erstarrten Form, das zum tatsächlichen Ziel wurde. Die Inhalte traten in den Hintergrund und wurden abhängig vom jeweiligen Kontext und von den Erwartungen der Beteiligten. Erst vor dem Hintergrund dieser performativen Funktion der Ideologie wird das folgende Paradox nachvollziehbar: Je mehr sich die ideologische Sprache des Spätsozialismus „normalisierte“, wobei es hier vor allem um die berühmt-berüchtigte „hölzerne“ Sprache der Parteikader geht, desto mehr öffnete sich der Raum für neue, vielfältige Wertvorstellungen und Interessen in der Gesellschaft, die durch den „innerlich überzeugenden“ Diskurs artikuliert werden konnten. Dieselbe ideologische Floskel, z. B. ein Lenin-Zitat oder eine Passage aus dem ZKBeschluss, konnte einen jeweils anderen Sinn ergeben, je nach dem, in welcher

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Situation und von wem sie benutzt wurde. Eine Bedeutung bekam sie auf dem Parteitag, eine andere auf einem Rockkonzert und noch eine andere, wenn sich ein Ökonom auf sie berief, um eine höhere Lohndifferenziertheit in der „sozialistischen Wirtschaft“ zu fordern. Mit anderen Worten: Je abstrakter und weniger verankert in der Wirklichkeit der „autoritative Diskurs“ war, desto mehr neue Interessen und Bedürfnisse konnte er aufnehmen.

Der ideologische Konsens ist überall In allen Herrschaftsregimen, demokratischen wie diktatorischen, besteht ein gewisser ideologischer Konsens. Ihn als eine bewusste Zustimmung der Bevölkerung zu den Prinzipien der herrschenden Ideologie zu verstehen, wäre aber falsch. Die gesellschaftliche Funktion der Ideologie besteht vielmehr in der kollektiven Reproduktion der allgemeinen ideologischen Postulate in der Öffentlichkeit und ihrer Umkodierung im Alltag, in der Privatsphäre und im lokalen Raum. Die Menschen in den kommunistischen Diktaturen, einschließlich der Parteimitglieder selbst, konnten wohl damit leben, dass sie die ideologischen Phrasen öffentlich verteidigten und den „autoritativen Diskurs“ des „entwickelten Sozialismus“ wiederholten, und sie zugleich in der Privatsphäre bezweifelten. Der „autoritative Diskurs“ war dabei keine unveränderliche Größe, sondern transformierte sich im Zusammenhang mit den politischen Umbrüchen. Am deutlichsten geschah dies gerade im Jahr 1956, als Chruschtschow Stalins Verbrechen verurteilte und neue Prinzipien des kommunistischen Ideologiediskurses einführte. Stalinistische Losungen wie „Verschärfung des Klassenkampfes“ wurden mit neuen Kampfbegriffen ersetzt wie „Kritik des Personenkultes“, „sozialistische Gesetzlichkeit“ oder „Überwindung ideologischer Unklarheiten“. Im Alltag deuteten jedoch die Menschen solche Losungen verschiedenartig um. So hat sich der Sinn des poststalinistischen Schlüsselbegriffs des „Personenkultes“, den Chruschtschow ursprünglich nur als eine persönliche Abrechnung mit Stalin verstanden hatte, im Alltagsgebrauch völlig verändert: Die Kritik am Personenkult verwandelte sich in systematische Kritik der Verhältnisse. Er wurde zu einem universal einsetzbaren Mittel zur Anprangerung lokaler Missstände oder einfach der persönlichen Rache. Mit der „Kritik des Personenkultes“ konnte man einen Kreissekretär oder einen Betriebsdirektor erledigen, der sich betrank, sich überheblich zu seinen Untergeordneten verhielt oder seine Ehefrau misshandelte. Nach den aufgeregten Debatten vom Frühling 1956 verwandelten sich zwar die poststalinistischen Losungen wie „Personenkult“, „Einhalten der sozialistischen Gesetzlichkeit“ oder „Grundsätze der Kollektivführung“ in einen Bestandteil des Parteivokabulars, wurden aber sowohl in den Versammlungen als auch in

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der Privatsphäre immer wieder in Frage gestellt: Die Menschen haben nach ihren wahren Bedeutungen und ihrer Glaubwürdigkeit gefragt. Dagegen haben die Ideologen des Spätsozialismus seit den siebziger Jahren die Normalisierung der ideologischen Sprache zur Perfektion gebracht, indem sie offene inhaltliche Fragen ausschlossen. Der autoritative Diskurs hat sich zu dieser Zeit dermaßen formalisiert, dass man mit ihm beinahe Wunder bewirken konnte: So konnten beispielweise die tschechoslowakischen Kommunisten mit dem Hinweis auf ihre Machtübernahme im „Siegreichen Februar“ von 1948 alles rechtfertigen – vom Aufbau der Wasserleitung in einem Dorf über die Veranstaltung einer Diskothek bis zur Bierpreiserhöhung. Der auf dem „autoritativen Diskurs“ gründende ideologische Konsens ist jedoch keine Besonderheit der staatssozialistischen Diktaturen. Auch „im Westen“ kann man die produktive Reziprozität zwischen der offiziellen ideologischen Sprache finden, die die Menschen äußerlich bestätigen, und der „innerlich überzeugenden“ Sprache, wenn sie in der Privatsphäre diese Prinzipien bezweifeln. Auch der liberale Konsens beruht auf diesem Zusammenspiel der beiden Sprecharten. Der autoritative Diskurs ist hier jedoch weniger plakativ und dem Alltagsleben näher. Beispielweise müssen sich heute Arbeitsuchende die ideologische Sprache der „Leistungsfähigkeit“, „Flexibilität“, und „Kreativität“ aneignen; in der Privatsphäre werden jedoch diese Wertvorstellungen bezweifelt oder gar zynisch verhöhnt.8 Ähnlich wurde in der Öffentlichkeit, was besonders für die osteuropäischen „Transformationsländer“ der neunziger Jahre galt, das Prinzip des „verantwortungsbewussten Privateigentums“ vergöttert; in der Privatsphäre hat man dagegen darüber geschimpft, dass die unkontrollierte Privatisierung nur Korruption und Diebstahl im großen Stil bewirkt.9 Durch solches „Meckern“ wird aber der ideologische Konsens eher gefestigt als unterminiert. Soziologen in den Vereinigten Staaten haben sich unlängst mit der Frage befasst, warum sich die amerikanischen Bürger angesichts konkreter sozialer und ökonomischer Probleme für Umverteilung der Einkommen und Umweltschutz aussprechen, zugleich aber die „sozialistischen“ Grundsätze ablehnen, die diese Praktiken ideologisch legitimieren. Die Forscher kamen zu dem Schluss, dass der Widerspruch zwischen der Verteidigung solch abstrakter Ideale wie „individuelle Chancen“, „Leistung“ und „Erfolg“ auf der einen Seite und der positiven Einstellung gegenüber den konkreten „sozialistischen“ Praktiken auf der anderen Seite

 8 9

Vgl. Ulrich Bröckling, Gouvernementalität der Gegenwart. Studien zur Ökonomisierung des Sozialen, Frankfurt a. M. 2000. Vgl. Philipp Ther, Die neue Ordnung auf dem alten Kontinent. Eine Geschichte des neoliberalen Europa, Berlin 2014; Karol Modzelewski, Zajeździmy kobyłę historii. Wyznania poobijanego jeźdźca, Warszawa 2013, S. 382–410.

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nicht als Ergebnis ungenügender Reflexion, Heuchelei oder Zynismus verstanden werden kann. Vielmehr wirkte sich die unterschiedliche Weise aus, wie das Ideal des „American Dream“ von verschiedenen Schichten der amerikanischen Gesellschaft angeeignet wurde. Diese Aneignungsweisen ermöglichten es, dass die Amerikaner (auch die Armen und Arbeitslosen) sich im Allgemeinen mit den dominanten amerikanischen Idealen identifizieren, im Hinblick auf konkrete Verwirklichung jedoch skeptisch und sogar zynisch sind, so dass sie oft diese Ideale missachteten und sich persönlich für die Beseitigung von konkreten Missständen einsetzen.10 Ähnliches gilt auch für die Konsolidierung des Thatcherismus in den achtziger Jahren. Vor allem linke Kommentatoren zerbrachen sich lange Zeit den Kopf darüber, wieso die neoliberale und zum Teil ausgesprochen reaktionäre Politik des Thatcherismus (nationaler und sozialer Chauvinismus, die autoritäre Konzeption des strong government) so lange Erfolg in der Arbeiterschaft hatte, für die sie offensichtlich schädlich war. Hier lässt sich mit dem Zeitabstand eine interessante Parallele zu den Entwicklungen im Spätsozialismus erkennen. Auch in liberaldemokratischen Systemen haben die Menschen nach außen das System durch das Aneignen des „autoritativen Diskurses“ unterstützt, mit dessen konkreten Praktiken sie sich immer weniger identifizierten. Ähnlich wie in Husáks „Normalisierung“ nach 1969 war es auch nicht das Ziel des Thatcherismus, die „Herzen und Köpfe“ der Menschen zu ändern. Vielmehr bemühte sich Thatcher – ähnlich wie Breschnew oder Husák – darum, jeden politischen Gegenvorschlag zu disqualifizieren, wenn nicht gar die Vorstellung eines solchen aus der Welt zu schaffen. Den Herrschenden der siebziger und achtziger Jahre war die Fähigkeit gemeinsam, die ideologischen Rivalen aus der politischen Arena zu verdrängen, die öffentliche Sphäre mit Hilfe manichäischer Feindbilder zu entpolitisieren. Diese Strategie half dabei, das Gefühl der Alternativlosigkeit zu schaffen und die Gegenwart als einen ewigen Zustand erscheinen zu lassen. Darüber hinaus zeigten soziologische Untersuchungen, dass die thatcheristische „Revolution“ die Wertorientierung der britischen Gesellschaft praktisch unverändert ließ. Die Briten haben die neoliberalen Werte nicht akzeptiert, im Grunde blieben sie linkszentristische Egalitäre. In den achtziger Jahren sind die Tendenzen zum Egalitarismus sogar gestiegen: 1984 zum Beispiel glaubten vierundsiebzig Prozent der Briten, dass es in Großbritannien einen „Klassenkampf“ gibt. Dies zeigt, dass die Hegemonie des Thatcherismus vielmehr auf der Fähigkeit fußte, die Alternativen zu neutralisieren. Der „autoritative Diskurs“ des Thatche-

 10 Ann Swidler, Inequality and American culture. The persistence of voluntarism, in: American Behavioral Scientist 35, 1992, S. 606–629.

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rismus konzentrierte sich in erster Linie auf die unantastbar niedrige Einkommensteuer und das Ideal des Privateigentums, das in der Losung der property-owning democracy ihren Ausdruck fand. Die Stabilität des ideologischen Diskurses sollte jedoch die realen Veränderungen der Wirtschaft und Gesellschaft nicht verschleiern, denn die einheitliche Politik wirtschaftlicher Liberalisierung und antiliberaler Restriktion sozialer und politischer Rechte veränderte die britische Gesellschaft unwiderruflich. Es fand weniger ein Wandel des „Glaubens“ statt, als vielmehr ein materieller Wandel der Institutionen und sozialen Beziehungen.11 Auch ein weiterer erfolgreicher Herrscher der achtziger Jahre, Helmut Kohl, strebte keine konsequente Ideologisierung der deutschen Gesellschaft an. Seine „geistig-moralische Wende“ blieb bis auf die neuen Akzente in der Geschichtspolitik eher ein mechanisch reproduzierter Slogan, der politische Gegner diskreditieren sollte. Die ideologischen Versprechen der „geistigen Erneuerung“ und der Rückkehr zu konservativen Werten haben sich in der westdeutschen Gesellschaft nicht verwurzelt. Ganz im Gegenteil, zum Beispiel brachte die Privatisierung der Medien, die einen wichtigen Bestandteil von Kohls Politik bildete, Bilder an die Öffentlichkeit, die man auch beim besten Willen nicht als konservativ bezeichnen kann.12 In unterschiedlichen Herrschaftsbedingungen verwirklichten dieses Neutralisierungsprogramm auch einige Herrscher im Ostblock, vor allem Husák in der Tschechoslowakei und Kádár in Ungarn. Auch sie zielten nicht darauf, die Massen dazu zu bewegen, mit ideologischem Eifer den Sozialismus aufzubauen. Stattdessen konzentrierten sie ihre Politik auf materielle Anreize und die Stabilisierung des ideologischen Diskurses. Zugleich pflegten sie in der Bevölkerung die Vorstellung, dass es „keine Alternativen“ gibt, und waren auch über lange Zeit hinweg wirksam. Ähnlich wie Thatcher und Kohl verkörperten sie die Politik des „pragmatischen Radikalismus“, der aus der Retrospektive als der dominante Zeitgeist der späten siebziger und achtziger Jahre erscheint. Im Unterschied zu Stalin ging es dieser Generation der Machthaber nicht darum geliebt zu werden. Sie wussten wohl, dass es zum erfolgreichen Regieren ausreicht, den politischen Rivalen beiseite zu schieben und Alternativen zu brandmarken. Im Osten geschah dies unter

 11 Vgl. Tom Mills, The Death of a Class Warrior – Margaret Thatcher (1925–2013), in: New Left Project 08 April, 2013, unter: http://www.newleftproject.org/index.php/site/article_comments/the_death_of_a_class_warrior_margaret_thatcher_1925_2013. 12 Vgl. Iris Karabelas, Liberaler Kapitalismus, Libertarismus und Kulturtheorie. Zur Bedeutung Friedrich August von Hayeks für das staatskritische Denken im ausgehenden 20. Jahrhundert, in: Michael Hochgeschwender (Hg.), Religion, Moral und liberaler Markt. Politische Ökonomie und Ethikdebatten vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Bielefeld 2011, S. 151–169, hier S. 165ff.

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Einsatz des „repressiven Legalismus“, also der Kriminalisierung der Opposition und der gleichzeitigen Einhaltung der formell-rechtlichen Prozeduren, im Westen mit Hilfe der institutionell-materiellen Manipulation und aggressiven Medienpolitik.

Von programmatischer zu prozessualer Utopie In seinem Diskreten Charme der Bourgeoisie veranschaulicht Buñuel meisterhaft die innere Komplizenschaft zwischen dem Ablehnen der Lebenspraxis und dem Anpreisen des Lebensprinzips. Seine Spießbürger, von deren sündhaftem und korruptem Leben er in den Exkursen erzählt, achten auf feine Manieren und guten Geschmack; sie können hart und rücksichtslos sein, aber in Anwesenheit des Priesters beten sie vor dem Essen und „glauben“. Es geht hier aber nicht um „falsches“ bürgerliches Bewusstsein. Buñuel bemüht sich nicht darum, das Gute und das Böse auseinanderzuhalten, sondern, das Leben in seiner Komplexität, Wandelbarkeit und Ambivalenz zu erfassen. Das Zustimmen zu den stabilisierenden ideologischen Ritualen geht mit der – für Buñuel überwiegend bösartigen – menschlichen Natur einher, die diese Rituale scheinbar unterminiert, in Wirklichkeit aber bestätigt.13 Wie kommt es aber dazu, dass der ritualisierte „autoritative Diskurs“ als ideologischer Kitt der Herrschaftssysteme zerbröckelt? Der Blick auf die Geschichte der kommunistischen Diktaturen zeigt eine nach gewisser Zeit sich wiederholende Tendenz zur „Hypernormalisierung“ politischer Ideologien.14 Die erstarrten Ideologien können zwar durch eine direkte Herausforderung ihrer Grundprinzipien (ihres „Wahrheitsgehalts“) destabilisiert werden, wie es während des Zusammenbruchs der kommunistischen Diktaturen 1989 der Fall war. Ein wichtigerer Faktor der „Erosion“ ist jedoch die Dynamik innerhalb des offiziellen Diskurses, dessen fortschreitende Hypernormalisierung subkutan die Pluralität der Gesellschaftswerte fördert und damit die Desintegration der Herrschaft ermöglicht. In diesem Entwicklungsschema moderner Herrschaftsideologien im zwanzigsten Jahrhundert stellt der Poststalinismus einen Sondermoment dar. Auch wenn Historiker mit diesem Begriff vorsichtig umgehen sollten, kann man den Poststalinismus als eine „Übergangsepoche“ bezeichnen: Die große politische Utopie des

 13 Vgl. Mathias Mertens, Buñuel, Bachtin und der karnevaleske Film, Weimar 1999. 14 Vgl. Dominic Boyer/Alexei Yurchak, American Stiob. Or, What Late-Socialist Aesthetics of Parody Reveal about Contemporary Political Culture in the West, in: Cultural Anthropology 25, 2010, S. 179–221.

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Stalinismus brach zusammen, aber die spätsozialistische Bewegungslosigkeit und ideologische Ausgezehrtheit trat noch nicht ein. Was den Poststalinismus zur Epoche machte, waren das starke, die gesamte Gesellschaft durchdringende Gefühl des Neuanfangs sowie der Drang nach der Abrechnung mit dem „alten Regime“. Dank diesem Umbruchsbewusstsein rangiert der Poststalinismus neben den historischen Meilensteinen wie 1789, 1848 oder 1918. Sein epochenmachender Charakter entstammte aber auch einem besonderen Zeitgeist, in dem sich kühne Zukunftsvisionen mit Ernüchterung und der Last der vorherigen bitteren Erfahrung verbanden. Sein verunsichernder, forschender Charakter machte den poststalinistischen Ideologiediskurs zu einem der letzten Versuche, eine authentische politische (in Bachtins Worten „überzeugende“) ideologische Sprache zu schaffen – einen Diskurs, der noch imstande wäre, Fragen nach konkreten politischen Inhalten zu stellen. Diese Eigenschaft hob ihn sowohl vom hypernormalisierten Spätsozialismus als auch von der hochformalisierten Sprache des Neoliberalismus ab. Das Anliegen dieses Buches war es zu zeigen, dass sich der radikale Zukunftsglaube an eine fundamental andere Gesellschaftsordnung in eine prozessuale Utopie der existierenden Gemeinschaft der Partei transformierte, als ein Kollektiv, das das „Noch-Nicht“ im Blochschen Sinne durch kontinuierliche Arbeit bewirken sollte. Diese Hinwendung zum komplexen geschichtlichen Entstehungsprozess nenne ich den Übergang von „programmatischer Utopie“, die auf einen abstrakten Zielzustand orientiert ist, zur „prozessualen Utopie“, die das totale Ziel in den Hintergrund rückt und stattdessen die Offenheit der Geschichte, Kontingenz und Ambivalenz zulässt. Die prozessuale Utopie, wie sie Ernst Bloch, Zygmunt Bauman und Michail Bachtin dachten, wendet sich zwar dem konkreten historischen Prozess zu – wie der realen Entwicklung einer Nationalgemeinschaft oder einer politischen Bewegung – verzichtet aber nicht auf die Vision der Erneuerung oder einer „besseren Zukunft“ hin auf dem Weg zum Noch-Nicht-Gewordenen.15 Auf die Situation der „Vielen“ nach 1956 übertragen, drückte sich diese prozessuale Utopie – der offiziellen Rhetorik der „ewigen Zeiten“ und des „unaufhaltbaren Fortschritts“ zum Trotz – in der alltäglichen aufopfernden Arbeit für die Partei wie auch in der „geprüften Hoffnung“ (Bloch) auf ein „besseres Morgen“ aus, das aber nicht gleich und nicht um jeden Preis kommen sollte. Der poststalinistische Glauben lavierte zwischen Fantasie und Praxis, zwischen Sehnsucht und Wirklichkeit. Der Antrieb für das kommunistische Engagement nach 1956

 15 Ernst Bloch, Subjekt-Objekt. Erläuterungen zu Hegel, Berlin 1952, S. 212ff.; Wayne Hudson, The Marxist Philosophy of Ernst Bloch. London 1982, S. 100; Zygmunt Bauman, Socialism. The Active Utopia, London 1976. Vgl. das Themenheft „Bakhtin, Carnival and other Subjects“, Critical Studies. Journal of Critical Theory, Literature & Culture 3–4, 1993, darin z. B. Michael Gardiner, Bakhtin's Carnival. Utopia as Critique, S. 20–47.

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ist genau in dieser prozessualen Utopie zu suchen, die weder „ideologischer Fanatismus“ noch „purer Opportunismus“ war, wie manch ein moralisierender Kommentator behaupten mag. Als Ausdruck dieser prozessualen Utopie kann man auch den tschechoslowakischen Reformsozialismus der sechziger Jahre verstehen, zumindest an seiner historischen Selbstbeschreibung und seinen Forderungen gemessen. Das Aktionsprogramm der KSČ vom April 1968 betont wiederholt die „Erneuerung“ der unterbrochenen Traditionen auf allen möglichen Gebieten – in der demokratischen Politik, der Wirtschaft und in der Wissenschaft. Ähnlich wie Chruschtschow und Gomułka zwölf Jahre früher sowie auch in weiteren Schlüsseltexten des Poststalinismus kreist das Aktionsprogramm um die Frage, wie die Partei erneuert und von der vergangenen Schuld entlastet werden könne. Das eigentliche kommunistische Programm ist vor dem Hintergrund überwiegend vergangener Tatsachen entworfen worden und nimmt daher allmählich einen zyklischen, aber immer noch hoffnungsvollen Charakter an. Diese „utopische Wende“ hatte weitreichende politische Folgen. Der Kampf der Kommunisten um die Stabilisierung der Herrschaft mit Hilfe von immer wieder neuen Legitimationserzählungen setzte 1956 ein und begleitete die Parteien bis zu ihrem Fall im Jahr 1989. Trotz ihrer Instabilität waren diese Narrative imstande, das Bewusstsein der kommunistischen Zusammengehörigkeit über drei Jahrzehnte zu nähren. Im Laufe der sechziger, siebziger und vor allem achtziger Jahre verlor die Mehrheit der Kommunisten ihre Hoffnung auf die Erreichbarkeit der „klassenlosen Gesellschaft“. Über die ganze Zeit hinweg glaubten sie aber an das legitime Recht der Partei auf die Führung der Gesellschaft hin zu einer unbestimmten Alternative sowohl zum Kapitalismus als auch zum Stalinismus. In diesem Sinne kann man die Revolutionen von 1989 auch als den Zusammenbruch der ursprünglich poststalinistischen prozessualen Utopie bezeichnen, auf deren Grundlage die Kommunisten kritische Ansichten über konkrete Probleme formulieren konnten, ohne die Überzeugung zu verlieren, gute Kommunisten zu sein.

Quellen- und Literaturverzeichnis

Unveröffentlichte Quellen:

DEUTSCHLAND Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisationen der DDR im Bundesarchiv Sozialistische Einheitspartei Deutschlands (DY 30) Landeshauptarchiv Merseburg Sozialistische Einheitspartei Deutschlands, Bezirk Halle (IV) POLEN Archiwum Akt Nowych Warszawa [Archiv der Neuen Akten Warschau] Komitet Centralny PZPR Archiwum Państwowe w Katowicach [Staatsarchiv Katowice] Komitet Wojewódzki PZPR w Katowicach TSCHECHIEN Archiv města Ostravy [Stadtarchiv Ostrava] Městský výbor KSČ Ostrava Národní archiv Praha [Nationalarchiv Prag] Ústav dějin KSČ Ústřední výbor KSČ Státní oblastní archiv Litoměřice [Staatliches Gebietsarchiv Litoměřice] Krajský výbor KSČ Ústí nad Labem Státní okresní archiv Liberec [Staatliches Kreisarchiv Liberec] Okresní výbor KSČ Liberec Zemský archiv v Opavě [Landesarchiv Opava] Krajský výbor KSČ Ostrava

Veröffentlichte Quellen Akční program Komunistické strany Československa přijatý na plenárním zasedání ÚV KSČ dne 5. Dubna 1968, Praha 1968. Aktionsprogramm der Kommunistischen Partei der Tschechoslowakei, angenommen auf dem Plenum des Zentralkomitees der KPTsch am 5. April 1968 (Übersetzungs- und Informationsdienst Sudetendeutsches Archiv), München 1968.

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Gespräche: Prof. Dr. Jan Kancewicz (1916), Warschau, Januar 2009. Prof. Dr. Zdeněk Kárník (1931–2011), Prag, Juni 2002. Prof. Dr. Bedřich Loewenstein (1929), Berlin, Juli 2003. Prof. Dr. Feliks Tych (1929–2015), Warschau, 27. 3. 2009. Prof. Dr. Andrzej Werblan (1924), Warschau, 30. 3. 2009.

Anmerkung zu Ortsnamen, zur Übersetzung und zur Transkription

Von einigen im Deutschen etablierten Ortsnamen abgesehen (wie Prag und Warschau) verwende ich durchgehend die polnischen und tschechischen Originalnamen, falls die Zeit nach 1945 behandelt wird; also Wrocław statt Breslau, Poznań statt Posen, Liberec statt Reichenberg, Ostrava statt Ostrau usw. Deutsche Namen verwende ich stellenweise für die Zeit vor 1945 (z. B. „in Brünn geboren“) und bei Adjektiven (z. B. „das Breslauer Komitee“ usw.). Die tschechischen und polnischen Quellen zitiere ich in den Fußnoten mit dem Originaltitel. Bei der Übersetzung von Zitaten aus polnischen und tschechischen Quellen war ich bemüht, die Ausdrucksweise und den Tonfall des Originals – also einschließlich Slang, Jargon, Kolloquialismen und expressiven Wendungen – möglichst authentisch wiederzugeben (das feine Sprachgefühl von Kornelia Kończal und Rainette Lange war hier von unschätzbarer Hilfe). Als Schreibweise der russischen Namen verwende ich die deutsche Transkription.



Abkürzungsverzeichnis

AAN

Archiwum Akt Nowych w Warszawie [Archiv der Neuen Akten Warschau] ADGB Allgemeiner Deutscher Gewerkschaftsbund AP Kat Archiwum Państwowe w Katowicach [Staatsarchiv Katowice] AÚV KSČ Archiv Ústředního výboru KSČ [Archiv des Zentralkomitees der KSČ] BPO Betriebsparteiorganisation BRD Bundesrepublik Deutschland ČKD Českomoravská-Kolben-Daněk ČSSR Československá socialistická republika [Tschechoslowakische Sozialistische Republik] DAF Deutsche Arbeitsfront DDR Deutsche Demokratische Republik DHW Deutsche Hydrierwerke FDGB Freier Deutscher Gewerkschaftsbund GHG Großhandelsgesellschaft IML Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED JZD Jednotné zemědělské družstvo [Einheitliche Landwirtschaftliche Genossenschaft] KC Komitet Centralny [Zentralkomitee] KP Komitet Powiatowy [Kreiskomitee] KPD Kommunistische Partei Deutschlands KPdSU (B) Kommunistische Partei der Sowjetunion (Bolschewiki) KPF Kommunistische Partei Frankreichs KPP Komunistyczna Partia Polski [Kommunistische Arbeiterpartei Polens] KPTsch Kommunistische Partei der Tschechoslowakei KSČ Komunistická strana Československa [Kommunistische Partei der Tschechoslowakei] KSSS Komunistická strana Sovětského svazu [Kommunistische Partei der Sowjetunion] KV Krajský výbor [Bezirkskomitee] KW Komitet Wojewódzki [Wojewodschaftskomitee] LHASA, MER Landeshauptarchiv Merseburg LPG Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaft

364

MA Ost MV NA NaGruKo NATO ND NEP NSDAP OV PCI POP PPR PPS PRL PVAP PZPR RDA SAPMO SBZ SDKPiL SED SOA Lit SOkA Lib SPD ÚD KSČ UdSSR USPD ÚV VEB WHP ZA Op ZHP ZK

Abkürzungsverzeichnis

Archiv města Ostravy [Stadtarchiv Ostrava] Městský výbor [Stadtkomitee] Národní archiv Praha [Nationalarchiv Prag] Nationale Grundkonzeption North Atlantic Treaty Organization Neues Deutschland Novaja ekonomičeskaja politika [Neue Ökonomische Politik] Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei Okresní výbor [Kreiskomitee] Partito Comunista Italiano [Kommunistische Partei Italiens] Podstawowa organizacja partyjna [Grundparteiorganisation] Polska Partia Robotnicza [Polnische Arbeiterpartei] Polska Partia Socjalistyczna [Polnische Sozialistische Partei] Polska Rzeczpospolita Ludowa [Volksrepublik Polen] Polnische Vereinigte Arbeiterpartei Polska Zjednoczona Partia Robotnicza [Polnische Vereinigte Arbeiterpartei] République démocratique allemande [Deutsche Demokratische Republik] Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisationen der DDR im Bundesarchiv Sowjetische Besatzungszone Socjaldemokracja Królestwa Polskiego i Litwy [Sozialdemokratie des Königreichs Polen und Litauens] Sozialistische Einheitspartei Deutschlands Státní oblastní archiv Litoměřice [Staatliches Gebietsarchiv Litoměřice] Státní okresní archiv Liberec [Staatliches Kreisarchiv Liberec] Sozialdemokratische Partei Deutschlands Ústav dějin KSČ [Institut für die Geschichte der KSČ] Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken Unabhängige Sozialdemokratische Partei Deutschlands Ústřední výbor [Zentralkomitee] Volkseigener Betrieb Wydział Historii Partii [Abteilung für die Geschichte der Partei] Zemský archiv v Opavě [Landesarchiv Opava] Zakład Historii Partii [Institut für die Geschichte der Partei] Zentralkomitee

Danksagung

Die Ursprünge dieses Buches gehen auf mein Forschungsprojekt über die „sozialistischen Meistererzählungen“ zurück, das ich in den Jahren 2003 bis 2007 am Zentrum für Zeithistorische Forschung in Potsdam bearbeitet habe. Zu Dank bin ich vor allem Martin Sabrow, Christoph Kleßmann und Konrad H. Jarausch verpflichtet, die mir die Möglichkeit gegeben haben, mehrere Jahre die offene und tolerante Atmosphäre am ZZF zu genießen, zu einer Zeit, als ein respektvoller Umgang mit der jüngsten Vergangenheit noch keine Selbstverständlichkeit war. Das Buch ist in vieler Hinsicht ein Ergebnis der intellektuellen Neugier und unbändigen Theorielust, mit welcher unsere Abteilung „Kulturen des Politischen“ erfüllt war. Die Diskussionen mit den Mitgliedern der Arbeitsgruppe – vor allem Christoph Classen, Christopher Görlich, Mario Keßler, Árpád von Klimó, Klaus Große Kracht, Thomas Mergel, Martin Sabrow, Krijn Thijs und Albrecht Wiesener – gehören zu den prägendsten intellektuellen Erfahrungen meiner wissenschaftlichen Laufbahn. Überdies möchte ich mich bei vielen Kolleginnen und Kollegen bedanken, die auf verschiedene Art und Weise, direkt oder indirekt, durch Gespräche, Kommentare und Hinweise die inhaltliche Gestaltung des Buchprojektes (und oft auch mein Denken über den Kommunismus allgemein) über die Jahre hinweg mitgeprägt haben. Die Liste ist sicherlich nicht vollständig. Danken möchte ich Péter Apor (Budapest), Jan C. Behrends (Potsdam), Muriel Blaive (Prag), Christiane Brenner (München), Ulf Brunnbauer (Regensburg), Alessandro Catalano (Padua), Ciprian Cirniala (Potsdam), Jürgen Danyel (Potsdam), Belinda Davis (New Jersey), Christian Domnitz † (Berlin), Annina Gagyiova (Prag), Jens Gieseke (Potsdam), Maciej Górny (Warschau), Miloš Havelka (Prag), Jochen Hellbeck (New Jersey), Stefan Ludwig Hoffmann (Berkeley), Miroslav Hroch (Prag), Hartmut Kaelble (Berlin), Stephanie Karmann (Potsdam), Zdeněk Kárník † (Prag), Ana Kladnik (Potsdam), Barbara Klich-Kluczewska (Krakau), Jerzy Kochanowski (Warschau), Michal Kopeček (Prag), Sandrine Kott (Genf), Claudia Kraft (Siegen), Agnes Kuciel (Berlin), Thomas Lindenberger (Potsdam), Bedřich Loewenstein (Berlin), Alf Lüdtke (Erfurt), Małgorzata Mazurek (New York), Călin Morar-Vulcu (Cluj-Napoca), Cristina Petrescu (Bukarest), Dragoș Petrescu (Bukarest), Mark Pittaway † (Milton Keynes), Patrice Poutrus (Potsdam), Michal Pullmann (Prag), Malte Rolf (Bamberg), Martin Schulze Wessel (München), Steve A. Smith (Oxford), Grzegorz Sołtysiak (Warschau), Matěj Spurný (Prag), Dariusz Stola (Warschau), Philipp Ther (Wien), Feliks Tych †

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Danksagung

(Warschau), Radina Vučetić (Belgrad), Dean Vuletic (Wien), Andrzej Werblan (Warschau), Alexei Yurchak (Berkeley) und Marcin Zaremba (Warschau). Ein außerordentlicher Dank geht an Kornelia Kończal und Rainette Lange, die die Schlussfassung des gesamten Manuskripts gelesen und dessen Form wie auch Inhalt wesentlich verbessert haben. Bedanken schließlich möchte ich mich bei Waltraud Peters für das sorgfältige Lektorat und die Erstellung des Registers. Alle Fehler gehen selbstverständlich zu meinen Lasten.

Florenz, im März 2016

Personenregister

Abakumow, Wiktor S. 272 Abusch, Alexander 178 Adenauer, Konrad 85, 205, 217 Anderson, Benedict 148 Augé, Marc 196 Arndt, Ernst Moritz 53 Austin, John L. 321 Bachtin, Michail M. 14f., 20f., 59, 146, 288, 320, 329 Baczko, Bronisław 249 Bareš, Gustav 162 Barker, Rodney 204 Barth, Fredrik 149 Bartošek, Karel 64 Baťa, Tomáš 285 Bauman, Zygmunt 248f., 288, 310, 329 Beatles 108 Beer, Fritz 314 Benjamin, Walter 317 Berend, Iván T. 240 Berija, Lawrenti P. 29, 34, 51, 96, 100, 132f., 135, 204f., 207, 240, 243 Berman, Jakub 102, 125, 132, 153, 239ff., 262 Bernstein, Eduard 266 Bierut, Bolesław 68, 102, 140, 165 Bloch, Ernst 14, 23, 274, 288, 304, 317, 329 Böttge, Bruno 234 Boym, Svetlana 288, 291 Breitscheid, Rudolf 212 Breschnew, Leonid I. 69, 226, 266, 269, 300, 321, 326 Brubaker, Rogers 149

Brzostek, Błażej 311 Bucharin, Nikolai I. 266, 272 Buchelt, Bruno 300 Büchner, Robert 231 Bulganin, Nikolai A. 99 Buñuel, Luis 318, 328 Cała, Alina 239, 242 Ceauşescu, Nicolae 145, 155, 299 Čepička, Alexej 103, 118 Certeau, Michel de 21 Chartier, Roger 21 Chruschtschow, Nikita S. 10, 13, 18, 22, 27–30, 34, 36, 39ff., 51, 55, 69, 74, 90f., 93, 99, 104, 107, 109ff., 114, 124f., 131, 134, 158–161, 167, 203ff., 211, 220, 222, 224, 241, 258–262, 266, 272, 299, 301, 303ff., 314, 324, 330 Císař, Čestmír 19 Deneckere, Gita 145, 147f., 163 Daniszewski, Tadeusz 56, 171, 196, 255 Deutsch, Karl W. 149 Dimitrow, Georgi 140 Droysen, Johann Gustav 277 Dserschinski, Felix E. 164 Dubček, Alexander 155, 314 Dubský, Ivan 226–228 Ďuriš, Július 119 Engels, Friedrich 8, 123, 144, 220, 257, 319 Erhard, Ludwig 216 Etkind, Alexander 272

368

Fichte, Johann Gottlieb 51 Foucault, Michel 110 Furet, François 10, 12, 21, 28, 36 Fustel de Coulanges, Numa Denis 40 Gaulle, Charles de 319 Gheorghiu-Dej, Gheorghe 155 Gierek, Edward 173, 175, 267, 300, 310 Ginzburg, Carlo 21f. Goebbels, Joseph 102 Goethe, Johann Wolfgang von 181 Goldman, Wendy 124 Goldstücker, Eduard 198, 313 Gomułka, Władysław 10f., 22, 29, 35, 45f., 63, 65, 69, 93, 95f., 111, 114, 125, 143, 154ff., 160ff., 165, 170f., 173f., 177, 204f., 224, 241f., 246, 248, 262, 267, 271, 299, 308, 311, 314, 330 Gorbatschow, Michail S. 266 Gottwald, Klement 37, 68, 91, 102, 106, 140, 150 Górny, Maciej 53 Gramsci, Antonio 22, 148 Graus, František 24, 255, 313 Gross, Jan T. 12 Hanson, Stephen 257, 259, 266 Harders, Gerd 269f. Harich, Wolfgang 42, 95, 218 Hartog, François 293 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 144, 201 Hellbeck, Jochen 9, 258 Hendrych, Jiří 302f. Heym, Stefan 95 Hitler, Adolf 85, 89, 151, 196, 216, 283, 297, 318f.

Personenregister

Hobsbawm, Eric 27, 145 Hölderlin, Friedrich 270 Hölscher, Lucian 18 Homer 112 Honecker, Erich 11, 13, 126, 183, 266, 300 Hühns, Erik 187 Huizinga, Johan 314 Husák, Gustáv 11, 155f., 209, 299, 326f., 377 Jeschow, Nikolai I. 56 Jonas, Wolfgang 274–277, 289 Kádár, János 11, 129, 299, 327 Kancewicz, Jan 56, 163, 171, 228 Kant, Immanuel 220 Kaplan, Karel 16, 64 Kapp, Wolfgang 89f., 232, 280 Kárník, Zdeněk 228 Kautsky, Karl 266, 305 Kemp, Walter 160 Kirow, Sergei M. 100 Klein, Thomas 219 Klimó, Árpád von 156 Kohl, Helmut 326f. Kołakowski, Leszek 249, 274 Kopecký, Václav 102, 119, 157, 162 Kořalka, Jiří 163, 228 Koselleck, Reinhart 8, 41 Kosík, Karel 274, 277ff., 288 Kostow, Trajtscho 156 Kotkin, Stephen 12, 321 Kowalik, Wojciech 201 Kowalski, Józef 56, 71, 170 Kriegel, František 198 Kroll, Thomas 16 Kuczynski, Jürgen 75, 290 Ładosz, Jarosław 248ff.

Personenregister

Lassalle, Ferdinand 144, 235f. Lelewel, Joachim 53 Lenin, Wladimir I. 33f., 50, 68f., 73, 82, 91f., 99, 109, 117, 123ff., 127, 140, 144, 167, 203, 215, 220–223, 249, 255ff., 263–266, 268, 273, 323 Liebig, Theodor 285f. Liebknecht, Karl 212 Lüdtke, Alf 21 Luxemburg, Rosa 65f., 150, 164, 212, 259, 266 Macura, Vladimír 11, 292 Maier, Charles 287 Malenkow, Georgi M. 27, 266 Mao Tse-tung 135, 140, 221 Markwick, Roger D. 38 Marx, Karl 8, 12, 33, 37f., 113, 122f., 140, 144, 178, 215, 220, 223, 226, 235f., 257, 289f., 312, 319f. Mehnert, Klaus 178 Mejbaum, Wacław 248–251 Merker, Paul 241 Meuschel, Sigrid 92, 183 Mikojan, Anastas I. 99f. Minc, Hilary 102, 153 Modzelewski, Karol 34 Morawski, Jerzy 37, 42, 249, 263 Müller, Horst 89 Nagy, Imre 214 Nejedlý, Zdeněk 119, 152, 157 Niethammer, Lutz 273 Novotný, Antonín 28f., 42, 55, 92, 102, 115, 138, 210, 241, 299 Nowak, Roman 195 Ochab, Edward 42, 168f., 245

369

Oelßner, Fred 54, 95 Ollenhauer, Erich 236 Orłowski, Hubert 199 Orwell, George 119 Palacký, František 53 Palmowski, Jan 181 Pătrăşcanu, Lucreţiu 156 Pauker, Ana 153, 239 Pechmann, Alexander von 113 Pilarová, Eva 107 Piłsudski, Józef 136 Plaggenborg, Stefan 256, 305 Plato, Alexander von 273 Platon 112 Pokrovskij, Michail N. 52 Pratt, James 148 Pufelska, Agnieszka 239 Rajk, László 156, 205 Rákosi, Mátyás 68, 153, 239 Rakowski, Mieczysław F. 174 Ranke, Leopold von 39, 74, 276 Rathenau, Walther 90 Rechowicz, Henryk 64 Reiman, Pavel 189ff. Révai, József 152 Różański, Józef 125 Różewicz, Tadeusz 310 Sabrow, Martin 13, 39, 67, 75, 256 Schaff, Adam 36 Schattenberg, Susanne 104 Schatz, Helmut 116f. Schiller, Friedrich von 181 Schirdewan, Karl 38, 42, 115, 207 Schlögel, Karl 124 Schulze Wessel, Martin 303 Schuhmann, Karl 297 Schumacher, Kurt 62, 207, 232

370

Scott, James C. 21 Seghers, Anna 290 Selucký, Radoslav 137 Šik, Ota 198 Sinowjew, Grigori J. 266, 272 Široký, Villiam 35, 94, 135 Slánský, Rudolf 29, 91, 122, 132, 153f., 205, 207, 239ff. Šolle, Zdeněk 163, 228 Śpiewak, Paweł 239, 242 Stalin, Josef W. 9ff., 13f., 18f., 23f., 27–47, 48, 51ff., 54, 56, 66, 68, 69, 73, 81, 87, 90ff., 94–102, 106, 108–114, 123–128, 131f., 137, 139f., 144, 151–154, 156, 158f., 162, 165, 168, 195, 202– 205, 220, 239ff., 257, 259–263, 265f., 271ff., 290, 319, 321, 324, 327 Stites, Richard 15 Stola, Dariusz 242, 247, 253 Svoboda, Ludvík 199 Thälmann, Ernst 212, 231 Thatcher, Margaret 326f. Thompson, Edward P. 21, 270 Thorez, Maurice 68 Tismăneanu, Vladimir 12f., 21 Tito, Josip Broz 153, 205 Togliatti, Palmiro 29f., 68, 158 Trebing, Wilhelm 234f.

Personenregister

Trotzki, Leo 219, 259f., 266 Tych, Feliks 56, 65ff., 163, 171, 228 Ulbricht, Walter 29, 38, 42, 54, 67f., 71, 82, 87f., 93ff., 102, 117f., 183ff., 230, 266, 297, 299, 308, 314 Verdery, Katherine 31, 145ff., 166, 176, 184 Vierneisel, Beatrice 273 Vyhnal, Karel 288ff. Wächtler, Eberhard 187 Walicki, Andrzej 12, 21 Warski, Adolf 171 Weber, Max 17, 39 Welskopp, Thomas 145, 147f., 163 Werblan, Andrzej 248, 250 Wierling, Dorothee 273 Williams, Raymond 23 Winogradow, Wladimir N. 132 Wolfe, Bertram D. 151, 223 Wudzki, Leon 114, 125 Yurchak, Alexei 68, 84, 113, 226, 264, 321 Zápotocký Antonín 119 Zaremba, Marcin 146, 160, 174, 177

ZEITHISTORISCHE STUDIEN HERAUSGEGEBEN VOM ZENTRUM FÜR ZEITHISTORISCHE FORSCHUNG POTSDAM

EINE AUSWAHL

BD. 53 | ENRICO HEITZER DIE KAMPFGRUPPE GEGEN

BD. 48 | MICHAEL LEMKE

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