Normbegründung und politische Legitimität: Zur Rechts- und Staatsphilosophie der deutschen Frühaufklärung [Reprint 2011 ed.] 9783110937879, 9783484365575

In the philosophy of the 17th and early 18th century, political legitimacy was regarded not least as a question of estab

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Normbegründung und politische Legitimität: Zur Rechts- und Staatsphilosophie der deutschen Frühaufklärung [Reprint 2011 ed.]
 9783110937879, 9783484365575

Table of contents :
Vorwort
Einleitung
Der Staat als Moment der göttlichen Heilsordnung: Zur voraufklärerischen ›Politica Christiana‹
1. Ohne die »Seelenspeise des göttlichen Worts« hilft keine weltliche Glückseligkeit: Veit Ludwig von Seckendorff
1.1. Die Regentschaft Gottes und der irdische Staat
1.2. Gemeiner Nutzen und Wohlfahrt in »weltlichen und geistlichen Sachen«: Zwecke des christlichen Staates
1.3. Begründung und Limitation der Gewalt: der Fürst als Untertan
1.4. Seckendorffs Naturrechtsentwurf: ein gescheiterter Versuch
2. »In homine integro fuit omnino jus naturale«: Valentin Alberti
2.1. Die ›philosophia christiana‹: Verbindung von Philosophie und Theologie
2.2. Ius naturae e statu integritatis
2.3. »Majestas est immediate a Deo«: Umrisse einer theokratischen Staatsauffassung
Die Enttheologisierung des Naturrechts und die Säkularisierung des Staates
1. »Verissimum illud, omnia incerta esse simul a jure recessum est«: Hugo Grotius
1.1. Der mos geometricus und die ›wahrhaft christliche Methode‹: methodische Probleme
1.2. Vernunft und Offenbarung: die Funktionen Gottes in Grotius’ Rechtstheorie
1.3. Der Staat als Instrument des Rechtsschutzes
1.4. ›Juristischer Kontraktualismus‹
2. »Genuinum fundamentum juris naturae ex conditione hominis«: Samuel Pufendorf
2.1. Nutzenkalkül und göttlicher Befehl: die Naturrechtsbegründung
2.2. Die Lehre vom Doppelvertrag
Aufklärung und Absolutismus: Christian Thomasius
1. Die rechtsphilosophischen Grundlagen
1.1. Abgrenzungen: Theologie und Jurisprudenz – Offenbarung und Vernunft
1.2. Vorarbeiten: Philosophia Juris und De Crimine Bigamiae
1.3. Deus, princeps, subditus: Zur Rechtstheorie der Institutiones
1.4. Consilium et imperium: Zur Rechtstheorie der Fundamenta
2. Der absolutistische Staat als ›Rechtsstaat‹
2.1. Staatszwecke: Autarkie und Glückseligkeit
2.2. Vorstaatliche Zustände
2.3. Die Staatsgründung – die Konstitution der summa potestas
2.4. Die summa potestas
2.5. Chancen politischer Veränderungen: Modelle der Politikberatung
Schluß
Literaturverzeichnis
Quellen
Sekundärliteratur

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Frühe Neuzeit Band 57 Studien und Dokumente zur deutschen Literatur und Kultur im europäischen Kontext In Verbindung mit der Forschungsstelle „Literatur der Frühen Neuzeit" an der Universität Osnabrück Herausgegeben von Jörg Jochen Berns, Klaus Garber, Wilhelm Kühlmann, Jan-Dirk Müller und Friedrich Vollhardt

Frank Grunert

Normbegründung und politische Legitimität Zur Rechts- und Staatsphilosophie der deutschen Frühaufklärung

Max Niemeyer Verlag Tübingen 2000

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Grunert, Frank : Normbegründung und politische Legitimität: zur Rechts- und Staatsphilosophie der deutschen Frühaufklärung / Frank Grunert. - Tübingen: Niemeyer, 2000 (Frühe Neuzeit; Bd. 57) Zugl.: Münster (Westfalen), Univ., Diss. ISBN 3-484-36557-9

ISSN 0934-5531

© Max Niemeyer Verlag GmbH, Tübingen 2000 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. Satz: Wolfgang Thoeben, Münster Druck: ΑΖ Druck und Datentechnik GmbH, Kempten Einband: Buchbinderei Heinr. Koch, Tübingen

Inhalt

Vorwort

IX

Einleitung

1

Der Staat als Moment der göttlichen Heilsordnung: Zur voraufklärerischen >Politica Christiana
philosophia christianac Verbindung von Philosophie und Theologie

39

2.2. Ius naturae e statu integritatis

43

2.2.1. Exkurs: Das Naturzustandstheorem als »analytisch-normatives Modell< 2.2.2. Konstruktionsprobleme eines christlichen Naturrechts

2.3. »Majestas est immediate a Deo«: Umrisse einer theokratischen Staatsauffassung

44 48

56

VI

Die Enttheologisierung des Naturrechts und die Säkularisierung des Staates

63

1. »Verissimum illud, omnia incerta esse simul a jure recessum est«: Hugo Grotius

66

1.1. Der mos geometricus und die wahrhaft christliche Methodec methodische Probleme

67

1.2. Vernunft und Offenbarung: die Funktionen Gottes in Grotius' Rechtstheorie

77

1.2.1. Das rationale Naturrecht als göttliches Recht 1.2.2. Der geoffenbarte Willen Gottes: das Ius divinum positivum 1.2.3. Der Gott der natürlichen Religion als Garant menschlicher Gemeinschaft

1.3. Der Staat als Instrument des Rechtsschutzes 1.3.1. Vom >appetitus societatis< zum Schutz vor Gewalt: Elemente einer Staatszwecklehre 1.3.2. Die Vertragslehre 1.3.3. Die Souveränitätslehre 1.3.4. Das Widerstandsverbot und das kasuistisch eingeführte Recht auf Widerstand

1.4. >Juristischer Kontraktualismus< 2. »Genuinum fundamentum juris naturae ex conditione hominis«: Samuel Pufendorf

77 91 98

108 109 116 129 140

148

152

2.1. Nutzenkalkül und göttlicher Befehl: die Naturrechtsbegründung

154

2.2. Die Lehre vom Doppelvertrag

163

Aufklärung und Absolutismus: Christian Thomasius

169

1. Die rechtsphilosophischen Grundlagen

172

1.1. Abgrenzungen: Theologie und Jurisprudenz Offenbarung und Vernunft

172

1.2. Vorarbeiten: Philosophia Juris und De Crimine Bigamiae . .

182

VII 1.3. Deus, princeps, subditus: Zur Rechtstheorie der Institutiones

185

1.3.1. Gesetz und Recht 1.3.2. Göttliche Rechte: Ius divinum positivum und Ius naturae . . 1.3.3. Gott als Quelle und Garant des Rechts

185 191 199

1.4. Consilium et imperium: Zur Rechtstheorie der Fundamenta .

202

1.4.1. Die neuen anthropologischen Grundlagen: Zum Verhältnis von Wille und Verstand 1.4.2. Die Auffindung der Norm und ihre Umsetzung: Der Weise als Normgeber - der Törichte als Normadressat. 1.4.3. Die Normen: iustum, honestum, decorum 1.4.4. Naturrecht und positives Recht 2. Der absolutistische Staat als >Rechtsstaat
politica christiana
politica christianapolitica christianac auch ihnen ging es darum, dem Staat eine unbezweifelbare, nämlich von jedem vernünftigen Menschen unmittelbar einsehbare und akzeptierbare Legitimationsbasis zu verschaffen, die, weil sie etwa praktische Erfahrungen reflektiert, sich am Ende als tragfähiger erweist als eine realitätsunangemessene und nur noch dogmatisch zu verfechtende religiöse Begründung des Staates. Noch Kants Rechtslehre verdankt sich dem - hundert Jahre nach Pufendorf - noch immer unbefriedigten Verlangen nach größtmöglicher Gewißheit, die Kant zu gewinnen trachtet, indem er die Rechtslehre als einen Teil der Metaphysik der Sitten konzipiert und nach a priori gegründeten und notwendig einsehbaren Vernunftgesetzen konstruiert. Von Seckendorffs gegen die Atheisten gerichtete Behauptung, ohne die Verbindlichkeiten der christlichen Religion könne »die menschliche Gesellschafft nicht bestehen«5 bis zu Kants kategorischem Imperativ einer praktischen Vernunft führt ein langer Weg. Obwohl schon mit den ersten Schritten entscheidende Erfolge erzielt wurden, vollzog sich die Substitution des partikular gewordenen Glaubens durch die Vernunft als dem am Ende umgreifenderen und allgemeineren konsensbildenden Vermögens nicht nur im deutschen Kontext über verschiedene Stationen, deren Umständlichkeit zweifellos den Erfolg dieser Umstellung garantieren half. Selbst Thomas Hobbes sah sich sowohl in De Cive als auch im Leviathan genötigt, alles, was er »in bezug auf das natürliche Gesetz durch Ver-

siehe zur Definition der >politica christiana< Dreitzel: Monarchiebegriffe in der Fürstengesellschaft, S. 484: »Die Politica Christiana kann als jene Konzeption bestimmt werden, die die politische Herrschaft, ihre Funktionen, Pflichten und Rechte als Teil der christlichen Schöpfungs- und Heilsordnung verstand und behandelte. Als Erkenntnisquelle stellte sie dabei die Offenbarung über die natürliche Vernunft.« Veit Ludwig von Seckendorff: Christen-Stat, worinn von dem Christenthum an sich selbst, und dessen Behauptung wider die Atheisten und dergleichen Leute; wie auch von der Verbesserung so wohl des Welt- als Geistlichen Standes, nach dem Zweck des Christenthums gehandelt wird. (1685) Leipzig 1716.

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nunftschliisse ermittelt«6 hatte, mit Hilfe der Heiligen Schrift zu bestätigen, wohl nicht zuletzt, um die Aufnahme seiner Erkenntnisse zu erleichtern oder gar erst zu ermöglichen. 7 Unzeitige Radikalität mußte an der noch immer ungebrochenen Macht der Theologen zuschanden werden. Insofern kam es nicht zuletzt darauf an, die Diskontinuität markierende Umstellung von der legitimierenden und normierenden Kraft des Glaubens auf die der Vernunft mit einem Maß an Kontinuität auszustatten, die diese riskante Maßnahme überhaupt erst ermöglichte. 8 Die Umstellung ging einher mit einer Neuverteilung der Kompetenzen unter den wissenschaftlichen Disziplinen: 9 gilt bis ins 17. Jahrhundert hinein die Theologie unbestritten als die Leitwissenschaft, die sich der Philosophie als Magd bediente, 10 so trat sie mit dem ausgehenden 17. und beginnenden 18. Jahrhundert ihren Einfluß mehr und mehr an die Philosophie ab, so daß sich schließlich das 18. Jahrhundert als >philosophisches Zeitalter< verstehen konnte.11 Daß dieser Prozeß einer Dequalifizierung der Theologie nicht nur von rein akademischem Belang war, sondern auch die politisch-praktischen Einflußmöglichkeiten erheblich reduzierte, liegt auf der Hand und dürfte die Vehemenz erklären, mit der die Kontroverse um diese Strukturveränderungen ausgefochten wurde. Die vorsichgehende Umstrukturierung läßt sich möglicherweise sogar bis hinein in die einzelnen Biographien verfolgen,

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Thomas Hobbes: Vom Menschen. Vom Bürger. (Elemente der Philosophie II/III). Hamburg 1959, S. 114. Seine Gegner stellte dieses Verfahren indes nicht zufrieden: die Selbständigkeit, mit der er die Grundsätze der Natur entwickelte, machte ihn in den Augen seiner Kontrahenten verdächtig, und die nur sekundäre Bestätigung durch die Bibel mochte ihre Entbehrlichkeit wohl nur noch unterstreichen. Vgl. dazu Iring Fetscher: Einleitung. In: Thomas Hobbes: Leviathan. Frankfurt am Main 1984, S. XVI und XXXIVf. Allein im Werk von Christian Thomasius markieren die beiden Naturrechtsentwürfe, die Institutiones jurisprudentiae divinae und die Fundamenta juris naturae et gentium zwei unterschiedliche Entwicklungsstufen. Siehe dazu ausführlich oben III. 1.3.; III. 1.4. Es ist gewiß bezeichnend, daß sowohl zu Beginn als auch gegen Ende der Aufklärung diese Neuverteilung eingehend erörtert wurde: zunächst war es Thomasius, der in seinem Summarischen Entwurf von 1699 und den Cautelen zur Erlernung der Rechts-Gelehrtheit (1710, lat. 1705) diesem Problem große Aufmerksamkeit schenkte, und im ausgehenden 18. Jahrhundert fühlte sich Kant durch eigene unangenehme Erfahrungen noch einmal aufgerufen, im Streit der Fakultäten intensiv die spezifischen Aufgaben der einzelnen Disziplinen und ihr Verhältnis zueinander zu erörtern. Vgl. dazu etwa Walter Sparn: Politik als zweite Reformation: Die historische Situation der Politica des Johannes Althusius. In: Karl-Wilhelm Dahm, Werner Krawietz und Dieter Wyduckel (Hrsg.): Politische Theorie des Johannes Althusius. Beiheft 7 der Zeitschrift >Rechtstheorietheokratischen Absolutismustheokratischen AbsolutismusStaat des H. Röm. Reichs< und die Regalien der deutschen Fürsten,17 in seiner Trauerrede auf Seckendorff bezeichnete er das Werk als »eine kurz gefaßte wohlgegründete Lehre, wie die Götter dieser Welt und ihre Rathgeber das Regiment klug und weißlich, zu ihrer selbst eigenen Ruhe und zum Vergnügen ihrer Unterthanen führen sollen«.18

1. Ohne die »Seelenspeise des göttlichen Worts« hilft keine weltliche Glückseligkeit: Veit Ludwig von Seckendorff Aus dem CEuvre Veit Ludwig von Seckendorffs sind für den vorliegenden Zusammenhang vor allem zwei umfangreichere Arbeiten von Bedeutung, die von den Zeitgenossen jeweils mit lebhaftem Interesse aufgenommen wurde: der Teutsche Fürsten-Staat von 165619 und der Christen-Stat von

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demonstrantur, et ab objectionibus dissententum, potissimum D. Valentini Alberti, professores lipsiensis, liberantur, fundamenta ibidem juris divini positivi universalis primum a jure naturali distincte secernuntur ex explicantur. Editis septima prioribus multi correctior. Halle 1720. Reprint Aalen 1963. (Erstausgabe: 1688). Christian Thomasius: Erinnerung über den vierdten Theil der Grund-Lehren. In: Ders.: Außerlesene und in Deutsch noch nie gedruckte Schriften. Zweyter Theil. Franckfurt und Leipzig 1714. Reprint: Ausgewählte Werke, Band 24. Hildesheim, Zürich, New York 1994, S. 233. Christian Thomasius: Klag- und Trauer-Rede, welche, als der entseelte Körper des hochseeligen S. T. Herrn Geheimbde Raths und Cantzler von Seckendorff etc., etc. von Halle nach Meuselwitz am 29 Decembris 1692 abgeführet wurde, mit betrübtem Gemüthe öffentlich gehalten. In: Ders.: Kleine Teutsche Schriften. Halle 1701. Reprint: Ausgewählte Werke, Band 22. Hildesheim, Zürich, New York 1994, S. 501. Den Christen-Stat, in dem Seckendorff genau die Vorstellungen vertritt, die Thomasius bereits in den Institutiones zu überwinden trachtete, erwähnte er in seiner Klag- und Trauer-Rede nur eher beiläufig, indem er sozusagen als kleinsten gemeinsamen Nenner zwischen sich und Seckendorff dessen Kampf gegen Heuchler hervorhob. In der Tat argumentierte Seckendorff vor allem im ersten Buch seines Christen-Stats nicht nur gegen Atheisten und Deisten, sondern auch ausdrücklich gegen Heuchler. Vgl. Seckendorff: Christen-Stat, S. 1. Der Teutsche Fürsten-Staat ist bereits 1664 zum dritten Mal aufgelegt und mit Additiones ergänzt worden. Der National Union Catalogue verzeichnet insgesamt zehn Auflagen. Die letzte erschien 1754 in Jena. Die hier zitierte Ausgabe ist di^ 7. Auflage, die 1737 von Andres Simson von Biechling ediert und mit »dienlichen Anmerkungen« versehen wurde. Biechlings Kommentare sind deutlich vom Text Seckendorffs abgesetzt und somit eindeutig identifizierbar. Obwohl Biechling zweifellos der Ansicht gewesen sein dürfte, durchaus im Sinne Seckendorffs zu sprechen, gehört seine Position fast 10 Jahre nach Thomasius' Tod und während der Blüte des Wolffianismus selbstverständlich schon einer anderen Epoche an als der von ihm kommentierte Text. Die Ausgabe hat insofern den Vorzug, die Sehweisen von zwei Autoren aus unterschiedlichen Zeitaltern miteinander zu

11 1685.20 Hinzu kommen die ein Jahr später erschienenen Teutschen Reden21 und ein bisher noch nicht datierter Naturrechtsentwurf, der nie selbständig publiziert wurde und sich im Anhang der Teutschen Reden befindet.22 Der Entwurff dürfte vor allem aus zwei Gründen von besonderem Interesse sein: zum einen versucht Seckendorff hier »das natürliche Recht nach der Anleitung der Bücher Hugonis Grotii, und dergleichen Autoren« zu entwickeln, damit scheint er sich auf das Terrain einer Theorietradition zu begeben, die ihm zweifellos bekannt war, seinen eigenen Intentionen insgesamt aber doch fern stand; außerdem ist sein Entwurff ein Fragment geblieben, was theoretische Probleme vermuten läßt, die seiner Vollendung im Wege standen. Daß Seckendorff ursprünglich ein »umfangreiches Lehrbuch des Naturrechts« geplant hatte - wie Hans-Peter Schneider annimmt23 - ist zwar durchaus denkbar, zumal Seckendorff selbst Hinweise gibt, die in diese Richtung deuten, doch soll demgegenüber hier gezeigt werden, daß sich Seckendorff im Entwurff selbst die theoretischen Möglichkeiten genommen hat, den Versuch sinnvoll abzuschließen.24 Seckendorff war die meiste Zeit seines Lebens, trotz ausgreifender wissenschaftlicher Interessen, politischer Praktiker gewesen: nach Studien in Straßburg - u.a. bei Johann Friedrich Boeder - trat er schon bald in die Dienste Herzog Emsts von Sachsen-Gotha und wurde rasch mit bedeutenden Aufgaben im Bereich der Justiz und der Verwaltung betraut. Nachdem er 1665 Kanzler und Konsistorialpräsident im Herzogtum Sachsen-Zeitz geworden war, legte er 1681 den größten Teil seiner öffentlichen Ämter nieder, um sich vornehmlich seinen wissenschaftlichen Interessen zu widmen. Noch kurz vor seinem Tod im Jahre 1692 ernannte ihn der brandenburgische Kurfürst zum Kanzler der entstehenden Universität Halle, von

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kombinieren. Auf diese Weise werden Kontinuitäten ebenso wie markante Brüche sichtbar. Der National Union Catalogue verzeichnet insgesamt vier Auflagen: Leipzig 1685, Leipzig 1686, Leipzig 1716, Leipzig und Königsberg 1743. Veit Ludwig von Seckendorff: Teutsche Reden an der zahl vier und vierzig, welche er A. 1660 biß 1685 in Ftlrstl. Sächs. respective Geheimen Raths- und Cantzlars-Diensten, theils zu Gotha, mehrentheils zu Zeitz, oder als Landschaffts-Director zu Altenburg, etliche auch anderer Orten bey Ehren-Sachen, aus Verwand- und Freundschafft abgeleget, so viel nemlich deren aus erhaltenen Concepten noch zu haben gewesen, Samt einer Ausführlichen Vorrede von der Art und Nutzbarkeit solcher Reden, auch noch einigen Zugaben. Leipzig 1686. Veit Ludwig von Seckendorff: Entwurff oder Versuch, Von dem allgemeinen oder natürlichen Recht, nach Anleitung der Bücher Hugonis Grotii, und anderer dergleichen Autoren. Vgl. Hans-Peter Schneider: Justitia universalis. Frankfurt am Main 1967, S. 259. Siehe dazu unten 1.1.4.

12

seiner erfolgreichen Vermittlungstätigkeit im Streit mit den Pietisten weiß noch Thomasius in seiner Klag- und Trauer-Rede zu berichten.25 Die genannten Werke lassen sich daher größtenteils definitiven Handlungskontexten zuordnen, die sowohl ihr Entstehen als auch die in ihnen präferierten Argumentationsstrategien bestimmten. Dies gilt selbstverständlich in erster Linie für die Teutschen Reden, die häufig auf Landtagen - etwa zur Eröffnung oder bei Abschieden - gehalten wurden, in der Regel aber von einem weiter nicht genannten aktuellen Anlaß ausgehen und theoretische Überlegungen allgemeinen Charakters anschließen. Auch für den Teutschen Fürsten-Staat ist ein eindeutiger Kontext identifizierbar: er verdankt sich einem Auftrag Herzog Emsts, der in Zusammenhang mit der Arbeit an der großen Landesordnung von 1653, mit deren Hilfe das Land nach den Verheerungen des Dreißigjährigen Krieges konsolidiert und ausgebaut werden sollte, von SeckendorfF eine Beschreibung des Herzogtums verlangte. Die Darstellung sollte so eingerichtet sein, daß sie als Modell für die Beschreibung anderer deutscher Fürstentümer herangezogen werden konnte,26 denn die Kenntnis objektiver Gegebenheiten gälte zu Recht als Voraussetzung für eine gute Politik und ist daher »einem fürstlichen regiment sehr nützlich und verträglich, ja gantz nothwendig«.27 Der Christen-Stat dagegen ist zu einer Zeit abgefaßt und publiziert worden, als SeckendorfF von seinen vielfältigen öffentlichen Verpflichtungen bereits entbunden war, ein äußerer Anlaß für dieses Werk ist daher nicht auszumachen. Allerdings scheint es einer Erklärung bedürftig zu sein, warum Seckendorff dreißig Jahre nach dem Teutschen Fürsten-Staat noch einmal eine ausführliche staatstheoretische Arbeit vorlegte. Seckendorff selbst gibt in der Vorrede zu erkennen, daß er, angeregt durch die Lektüre von Pascals Pensees, schon früh damit begonnen hatte, dem in »Teutschland« umsichgreifenden Atheismus entgegenzutreten. Die in diesem Zusammenhang entstandenen Notizen mochte er aber erst nach dem Zuspruch von Freunden - namentlich von Philipp Jacob Spener - überarbeiten und systematisieren, um sie schließlich einer breiteren Öffentlichkeit vorzulegen.28 Vergleicht man beide Texte in ihrem staats25

26 27

28

Vgl. zu Biographie Veit Ludwig von Seckendorffs: Michael Stolleis: Veit Ludwig von Seckendorff. In: Ders.: Staatsdenker des 17. und 18. Jahrhunderts. Frankfurt am Main. 2. Auflage 1987, S. 148-171. Theodor Kolde: Seckendorff, V. L. v. In: Realencyclopädie für protestantische Theologie und Kirche. Hrsg. von Alfred Hauck. Band 18. 3. Auflage 1906. Vgl. auch Stolleis: Veit Ludwig von Seckendorff, S. 153. Seckendorff: Teutscher Fürsten-Staat, S. 5. Dazu wurde Seckendorff auch von Leibniz mit allem Nachdruck ermutigt. Nachdem ihm Seckendorff in einem Brief vom 23.3 /3.4.1683 über sein noch unschlüssig betriebenes Projekt informiert hatte, antwortete Leibniz: »so ermahne ich Sie auch, und ich beschwöre Sie sogar, Ihr Vorhaben zu vollenden und nicht nur für sich und Ihre Freunde, sondern für

13 theoretischen Gehalt, dann wird deutlich, daß die beschränkte, ihrem Anspruch nach überwiegend deskriptive Darstellung des Teutschen FürstenStaats Seckendorf? letztlich nicht befriedigen konnte; ihm war es offenkundig - j e länger je mehr - um eine normative Grundlegung des Staates zu tun, in der ausgehend von einem wohlgegründeten und gegen die Atheisten wirkungsvoll verteidigten Christentum die christliche Verbesserung der Stände (»Haus-Stand« sowie »weltlicher und geistlicher Stand«) projektiert wird. Dabei macht der Christen-Stat über weite Strecken den Eindruck einer betont präskriptiven Ergänzung des Teutschen Fürsten-Staates,29 der als »materialische Beschreibung«30 weitaus technischer und pragmatischer angelegt ist. Die »breite Kluft«, die nach Auffassung von Hans Maier beide Texte voneinander trennt,31 ist so nicht feststellbar. Trotz der unübersehbaren Differenzen, die natürlich dennoch bestehen und deren Grund nicht allein in Seckendorffs Hinwendung zum Pietismus oder dem Einfluß Philipp Speners zuzuschreiben sind, sondern zweifellos auch in neugewonnenen systematischen und historisch bedingten Erkenntnissen gefunden werden können.32 Insgesamt liegen die hier herangezogenen Arbeiten weitgehend auf einer Linie, obwohl selbstverständlich jeder Text aufgrund seiner Kontextgebundenheit und der damit verknüpften unterschiedlichen Intentionen eigene Akzente setzt. So ist die unmittelbare Herleitung des Staates aus dem Willen Gottes und seine normative Absicherung durch eine christliche Moral durchaus keine Eigenheit des in dieser Hinsicht besonders rigide konzipierten Christen-Stats, und umgekehrt ist die prudentistische Unterstützung christli-

alle zu schreiben. Denn so werden Sie das gute Werk am weitesten verbreiten. Sie wissen ja, wie sehr heute die Gottlosigkeit überall ihr Reich erweitert und wie sie vor allem an den Hüfen herrscht, von wo aus die übrigen Stände durch das Beispiel angesteckt werden. Dem werden Sie nicht bloß durch Argumente, sondern auch durch ihre Autorität am meisten Widerstand leisten«. Gottfried Wilhelm Leibniz: Philosophische Schriften und Briefe 1683-1687. Herausgegeben von Ursula Goldenbaum. Berlin 1992, S. 2. Vgl. auch Detlef Döring: Untersuchungen zur Entstehung des >Christenstaates< von Veit Ludwig von Sekkendorf. In: Erich Donnert (Hrsg.): Europa in der Frühen Neuzeit. Festschrift für Günter Muhlpfordt. Band 1: Vormoderne. Weimar, Köln, Wien 1997, S. 477-500, hier bes. S. 479. Auch Johann Caspar Bluntschli hält den Christen-Stat für eine »Ergänzung« des Teutschen Fürsten-Staats. Wenn er diese Ergänzung jedoch gleichzeitig als »gemüthl ichideal« abqualifiziert, wird er dem Stellenwert des Textes indes nicht gerecht. Vgl. Johann Caspar Bluntschli: Geschichte des Allgemeinen Statsrechts und der Poltik. 2. Auflage München 1867, S. 134. 30 Seckendorff: Teutscher Fürsten-Staat, S. 5. 31 Vgl. Hans Maier: Die ältere deutsche Staats- und Verwaltungslehre. 2. Auflage München 1980, S. 140. Im Anschluß an Maier auch Jutta Brückner: Staatswissenschaften, KameraIismus und Naturrecht. München 1977, S. 15. 32 Siehe dazu unten 1.1.3.

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eher Moral durch Erfahrung und vernünftige Überlegung kein Spezifikum des Teutschen Fürsten-Staats oder der Teutschen Reden. Allerdings ist es ebenso bezeichnend wie auffällig, daß es SeckendorfF gerade in seinen Reden offenkundig darauf angekommen ist, die christlich-moralische Argumentation noch einmal prudentistisch zu untermauern. Was darauf hinzudeuten scheint, daß er in politisch-praktischen Zusammenhängen der allein auf sich selbst gestellten christlichen Norm - zumindest zeitweilig - keine allzu große Durchsetzungsfähigkeit zutraute. Schließlich ist allen Texten naheliegenderweise ein großes Interesse an dem fur den Staat weitgehend konstitutiven Verhältnis zwischen Obrigkeit und Untertanen gemeinsam. Dabei geht es ihm durchweg um die Herstellung eines guten Einvernehmens »auf der Grundlage des christlichen Konsenses«.33

1.1. Die Regentschaft Gottes und der irdische Staat Der Staat ist für Seckendorff nur als nicht-säkulare Einrichtung denkbar, die sich unmittelbar dem Willen Gottes verdankt und ihren letzten Zweck in der »Ehre Gottes« findet.34 So erscheint der Staat letztlich als integraler Bestandteil der irdischen Episode einer universalen Heilsordnung, die sich wesentlich im Jenseits abspielt. Dabei hat die Konstruktion eines in die göttliche Heilsordnung gestellten Staates nicht nur die Wahrhaftigkeit des göttlichen Willens fur sich, sondern zugleich eine »vortreffliche und beständige nutzbarkeit«.35 Denn im Rekurs auf den Willen Gottes sind vorab und ohne jedes Dissensrisiko alle staatstheoretischen und politisch-praktischen Fragen ebenso eindeutig wie gültig beantwortbar: von Gottes Wort ist die Notwendigkeit und die prinzipielle Rechtmäßigkeit des Staates als sein göttliches Gebotensein ableitbar, ebenso seine Aufgaben (»weltliche und geistliche Sachen«),36 seine Form37 und schließlich die Moral, die das Verhalten und Handeln des Fürsten einerseits und der Untertanen andererseits verbindlich normiert, um auf diese Weise das Funktionieren des Staates dauerhaft zu gewährleisten. 33 34 35 36 37

Stolleis: Veit Ludwig von Seckendorff, S. 155. Vgl. Seckendorff: Teutscher Fürsten-Staat, S. 37. Seckendorff: Christen-Stat, S. 88. Seckendorff: Teutscher Fürsten-Staat, S. 37. So wird der Vorzug der Monarchie mit der Einzigartigkeit Gottes begründet: weil die »Herrschaft des Göttlichen Wesens« wegen der Unendlichkeit und der Ewigkeit, der Allmacht und der Allwissendheit Gottes »nicht ohne die Ein(z)igkeit« gedacht werden kann, folgt hieraus »unwidersprechlich, daß auch der Vorzug und Vollkommenheit der irdischen Gottheit der Regenten, alsdan erst im höchsten Grade seye, wann sie in einer Person zu finden und anzutreffen.« (Rede an Herrn Tit. Herrn Moritzen, Hertzog zu Sachsen, etc. 16. Jan. 1665. In: Teutsche Reden, S. 283.)

15 Indem SeckendorfF sich nicht nur auf das Wort Gottes bezieht, sondern Gott als »obersten Regenten« 38 bezeichnet, dessen »Characteren und humor« beispielsweise ein christlicher Herrscher »nach aller Möglichkeit zu repraesentiren« 39 habe, nimmt er ein »Regiment Gottes« an, das selbst staatsförmig organisiert ist und exemplarisch auf menschliche Verhältnisse zurückprojiziert wird. Der irdische Staat soll damit als Abbild des göttlichen begreiflich gemacht werden. Die Rede vom Fürsten als »Statthalter« oder »Abgesandter« Gottes 40 gewinnt erst von hier aus seinen spezifischen Sinn. Der menschliche Staat dupliziert den göttlichen freilich unter Bedingungen der Endlichkeit und der Unvollkommenheit: zwar sind »durch das Christenthum [...] die groben laster und daraus entstehende schaden am besten zu verhüten«, 41 dennoch impliziert Seckendorffs christlicher Staat keine christliche Utopie - »das creutz bleibt nicht aussen« 42 Schließlich ist es nur eine »Platonische Idee, daß ein Regiment in der Welt seyn könne, da alles in einer solchen Harmonie wie auf einer gestimmten Laute, stets lieblich und wohl klingen solte; Es ist nach dem leidigen Sünden-Fall auch in den einfältigsten und redlichsten Zeiten nicht gewesen, weniger wird es in der itzigen Hefen- und Grundsuppe zu hoffen seyn«.43 Seckendorffs Konstruktion kann ihre Produktivität freilich nur dann realisieren, wenn »als ein gewiß Fundament« vorausgesetzt wird, »daß ein Gott sey« 4 4 Daß dieser Gott in der Schöpfung und der Offenbarung seinen Willen kundgetan hat und daß es daher an der Schuldigkeit, christlich zu leben keinen Zweifel geben kann 4 5 Dies erfordert die strikte Abweisung aller 38 39

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SeckendorfF Rede, vor Publication des Stifft-Tags Abschieds zu Moritzburg an der Elster, den 26. Novembris 1671. In: Teutsche Reden, S. 178. SeckendorfF Rede an Tit. Herrn Friedrichen, Hertzog zu Sachsen, etc. Nach der Proposition aufF dem Land-Tage zu Altenburg, dem 16. Jun. 1685. im Namen der LandStände. In: Teutsche Reden, S. 340. Vgl. auch SeckendorfF: Rede bey der Publication des Land-Tags Abschieds den 18. Sept. 1678. gleicher Gestalt in der Land-Stände Namen. In: Teutsche Reden, S. 319. Vgl. etwa SeckendorfF: Teutscher Fürsten-Staat, S. 37, 281 u.ö. SeckendorfF: Christen-Stat, S. 198. SeckendorfF: Christen-Stat, S. 162, hier auch: »Meine thesis oder satz ist und bleibet itzo dieser, daß die Obrigkeiten, wer sie auch seyn, aus dem gründe des Christenthums, und in betrachtung dessen hauptzwecks, ihr amt am besten führen, und die mängel, wo nicht gäntzlich abstellen, (denn das leidet die menschliche gebrechlichkeit nicht) doch also verbessern können, daß sie nicht selbst des haupt-zwecks verfehlen, noch zu gleich versäumniß und verlust desselben denen unterthanen mit anlaß geben«. SeckendorfF Rede an Tit. Herrn Friedrichen, Hertzogen zu Sachsen, etc. Nach der Proposition aufF dem Land-Tage zu Altenburg, dem 16. Jun. 1685, im Namen der Land-Stände. In: Teutsche Reden, S. 345. Siehe zur Kritik der »Platonischen Republic« auch ders.: Rede, vor Publication des Stifft-Tags Abschieds zu Moritzburg an der Elster, den 26. Novembris 1671. In: Teutsche Reden, S. 172. SeckendorfF: EntwurfF, S. 439. SeckendorfF: Christen-Stat, S. 20.

16 atheistischen Ansätze. Daher versucht Seckendorff nicht nur mit der Gewißheit des Glaubens gegen den Atheismus vorzugehen - sie dürfte im Streit mit den Atheisten argumentativ wohl auch kaum verfangen - sondern in erster Linie mithilfe von Vernunftgründen, denn »jeder vernünfftige mensch [soll] den ungrund, die schände und unbillichkeiten der atheistischen meynung erkennen«. 46 Der Atheismus ist zunächst und vor allem moralisch disqualifiziert: ihm fehlt notwendig der Bezug auf die wahre, nämlich ewige Glückseligkeit und bleibt daher lediglich auf die weltliche verwiesen, die Seckendorff auf bloße Lustbefriedigung reduziert. So unterteilt er denn auch rigoros alle Menschen in Gottesfürchtige, die fromm und gläubig nach dem Willen Gottes leben, und in die Scheu- und Schamlosen, deren Gottlosigkeit für böse und gefährlich gehalten wird. 47 Eine dritte Position, die jenseits von Gottesfurcht einerseits und Schamlosigkeit andererseits eine tragfähige Moral aus anderen als aus göttlichen Quellen zu begründen sucht, läßt Sekkendorff nicht zu. Das moralische Argument gegen den Atheismus wird politisch-praktisch gewendet, wenn Seckendorff zusätzlich behauptet: »Der Ungrund des atheismi erscheinet unter anderen daraus, daß solchen nur etliche practiciren können, und daß die menschliche gesellschafft nicht bestehen könnte, wenn iedermann solcher meynung wäre, und nur aus noth und zwang nach dem gesetz lebte«.48 Hier macht Seckendorff - vermutlich in einer kritischen Wendung gegen Thomas Hobbes - darauf aufmerksam, daß die Funktionstüchtigkeit des Staates nicht allein durch die strikte Anwendung von äußeren Gesetzen und den mit ihnen verbundenen Zwangsmitteln gewährleistet werden kann; vielmehr ist der Staat notwendig auf die innere Bereitschaft des Einzelnen angewiesen, sich normgemäß zu verhalten. Diese innere Bereitschaft wird von der christlichen Religion hervorgebracht, und sie ist wirksam, noch bevor die Sanktionsgewalt des positiven Rechts greift bzw. greifen muß. Indem sie den Staat und die Obrigkeit als Teil der göttlichen Ordnung ausweist, veranlaßt sie einerseits die Untertanen zu Gehorsam und Bescheidenheit, 49 andererseits verhilft sie dem Fürsten zu der Einsicht, daß er als Abgesandter und Statthalter Gottes unbedingt an die göttlichen Gebote gebunden ist. Dabei scheint die Evidenz der geglaubten Ordnung nicht zu genügen, denn die christliche Religion ist ihrerseits mit Sanktionsmitteln ausgestattet, die unmittelbar ins Innere des Menschen eingreifen und seinen Gehorsam motivieren. In diesem Sinne disziplinierend wirkt zum einen das den Christen durch das »zeugniß des heiligen Geistes«

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Seckendorff: Christen-Stat, S. 21. Vgl. Seckendorff: Christen-Stat, S. 1. Seckendorff: Christen-Stat, S. 21. Vgl. Seckendorff: Teutscher Fürsten-Staat, S. 281.

17 gegebene Versprechen der »ewigen Seligkeit«50 und zum anderen die im Gewissen des Einzelnen sich manifestierende und artikulierende »Meynung, daß nicht allein ein Gott sey, sondern daß er auch der Menschen Thun sehe und wisse, und diejenigen straffe, welche sündigen«.51 Die Annahme eines göttlichen Strafgerichts, vor dem nicht zuletzt Sünden verhandelt werden, die der »menschlichen Rache und Straffe«52 sowohl entgangen sind als auch notwendig haben entgehen müssen, macht noch einmal deutlich, daß das übergeordnete Regiment Gottes staatsförmig konzipiert ist und dem menschlichen Staat nicht abstrakt gegenübergestellt wird, sondern über das Gewissen des Einzelnen vermittelt, direkt in die Zusammenhänge des irdischen Staates hineinwirkt. Damit fungiert die unsterbliche Seele des Menschen als Verbindungsrelais zwischen dem Regiment Gottes einerseits und dem irdischen Staat andererseits. Die fundamentale Bedeutung, die in der Staatstheorie Seckendorffs der christlichen Religion zugewiesen wird, zieht eine Reihe von weitreichenden Konsequenzen nach sich. Diese berühren u.a. - wie im folgenden noch ausführlicher zu erörtern ist - sowohl die Vorstellung vom Zweck und den daraus abgeleiteten Aufgaben des Staates als auch die Begründung und die Limitation der höchsten Gewalt, die bei Seckendorff im Christen-Stat mehr noch als im Teutschen Fürsten-Staat eng mit der Vorstellung vom Fürsten als dem Statthalter Gottes auf Erden verbunden sind.

1.2. Gemeiner Nutzen und Wohlfahrt in »weltlichen und geistlichen Sachen«: Zwecke des christlichen Staates Als Zweck des christlichen Staates definiert Seckendorff im Teutschen Fürsten-Staat einen sich in Frieden, Gerechtigkeit und ausreichender Nahrung manifestierenden »gemeinen Nutzen«. Diese sehr allgemein und formal gehaltene Bestimmung wird in den Additiones zum Christen-Stat einerseits stärker auf einen christlichen Horizont bezogen und andererseits von einer anthropologischen Warte aus näher erläutert und begründet, die erstaunlicherweise mehr an Hobbes' »homo homini lupus« erinnert als an die protestantische Vorstellung von der unwiderruflichen Sündhaftigkeit des Menschen. So bezeichnet Seckendorff den »heim« zunächst noch traditionell als »helfende gewalt seiner unterthanen, der den bösen wehret und straffet, und

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Seckendorff: Christen-Stat, S. 115, siehe auch Christen-Stat, S. 109: »Gegen den trost der aus dem hauptzweck der Seligkeit zu schöpften, ist die heydnische einbildung der tugend und der genieß des zeitlichen lebens und der wollust nicht zu achten«. Seckendorff: Entwurff, S. 493, siehe auch Entwurff, S. 448. Seckendorff: Entwurff, S. 448.

18 die frommen schützet, friede und alles gutes schaffet«, 53 doch fuhrt er die Notwendigkeit dieser Hilfe mit einer für seinen religiösen Hintergrund ungewohnten Drastik vor Augen: »Wo weltliche obrigkeit nicht wäre, könte kein mensch für den andern bleiben, es müste einer den andern fressen, wie die vernünfftigen (!) thiere unter einander thun [...], also ist des weltlichen regiments werck und ehre, daß es aus wilden thieren menschen macht, und menschen erhält, daß sie nicht wilde thiere werden«. 54 Der dem Staat als Zweck vorgegebene »gemeine Nutzen« wird durch eine Regierungstätigkeit realisiert, die sich auf vier von Seckendorff explizit hervorgehobene und ausgeführte »hauptpuncte« konzentriert: 1. auf die Erhaltung der landesfürstlichen Macht und Hoheit, als die alles weitere erst ermöglichende Voraussetzung; 2. auf den Erlaß »guter gesetze und Ordnungen [...] dadurch gerechtigkeit, friede und ruhe, und das vermögen der leute im schwänge gebracht« 55 werden; 3. auf die Pflege des Justizwesen und 4. auf die polizeiliche und militärische Zwangsgewalt. 56 Da aber der »letzte zweck aller menschlichen handlungen und thaten [...] die Ehre Gottes« 57 ist, bezieht sich der anzustrebende gemeine Nutzen und die Wohlfahrt nicht nur auf weltliche, sondern explizit auch auf geistliche Angelegenheiten. 58 Als »Gottes Statthalter auf erden« ist die Obrigkeit verpflichtet, »dahin zu sehen, daß ihres höchsten himmlischen Ober-Herrn ehre in allen dingen gesuchet wird«. 59 Abgesehen davon hält Seckendorff die Zuständigkeit der landesfürstlichen Regierung in geistlichen Belangen für eine unmittelbare Folge ihres weltlichen Amtes: »Weil nun die Obrigkeiten und Regimenter um des Volcks gemeine Wohlfahrt willen verordnet, so folget daraus, daß sie auch diese vornehmste Wohlfahrt, welche auch nach diesem Leben zu genießen ist, bedencken, und die Leute dazu befördern sollen«. 60 Ein weitaus gewichtigeres Argument für die Bündelung geistlicher und weltlicher Gewalt verdankt sich jedoch eher einer politisch-praktischen Überlegung: 53 54 55 56

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Seckendorff: Christen-Stat, Additiones, S. 806. Seckendorff: Christen-Stat, Additiones, S. 806. Seckendorff: Teutscher Fürsten-Staat, S. 40. Siehe Seckendorff: Teutscher Fürsten-Staat, S. 41: »Vierdtens, wird auch gefordert, die Verordnung, anstellung und gebrauch dergleichen mittel, wordurch die vorigen Stücke wider ungehorsame unterthanen, oder auswärthige feinde und gewaltübende können auf bedürffenden fall ausgerichtet und gehandhabt werden«. Vgl. dazu auch Jutta Brückner: Staatswissenschaften, Kameralismus und Naturrecht, S. 21, sowie Stolleis: Veit Ludwig von Seckendorff, S. 156 ff. Seckendorff: Teutscher Fürsten-Staat, S. 37. Seckendorff: Teutscher Fürsten-Staat, S. 37. Seckendorff: Teutscher Fürsten-Staat, S. 37. Seckendorff: Entwurff, S. 477; siehe auch »Teutscher Fürsten-Staat«, S. 281: »Gleichwie aber der seelen Wohlfahrt das allerhöchste gut ist, also ist auch kein zweiffei, es sey zu diesem ende die obrigkeit ihre unterthanen zu befördern auch schuldig«.

19 denn die Aufteilung beider Gewalten auf zwei unterschiedliche Instanzen begünstigt ihre politische Konkurrenz, die im Ernstfall in der Lage wäre, die Einheit des Staates und seine politische Handlungsfähigkeit zu paralysieren. »So erfordert es die natürliche Vernunfft, daß wo eine oberste [Gewalt] ist, dieselbe auch über alle zu gebieten habe, [...] denn sonst wenn zwey oberste Regenten wären und einer hiesse zu einerlei Zeit die Leute in die Kirche gehen, der andere forderte sie zum Kriege, oder vor Gericht, wäre unmöglich diese allen zugleich zu gehorchen.« 61 Entscheidend fur die Vereinigung von weltlicher und geistlicher Macht dürfte jedoch letztlich ein Gedanke sein, auf den Seckendorf? selbst nicht hinweist und der dennoch seine Ausführungen zu den Funktionen der christlichen Religion innerhalb des Staates stets zu begleiten scheint. Wenn es die christliche Religion ist, die dem Staat sowohl seine Legitimität als auch seine christliche Basis verschafft, und wenn sie es ist, die in jedem Einzelnen die innere Bereitschaft zu normgemäßem Verhalten hervorbringt, dann wäre es kaum sinnvoll, geradezu unklug, dies alles einer Macht zu überlassen, die, jeder staatlichen Kontrolle entzogen, autonom über den religiösen Diskurs verfügt. Eine vom Staat nicht dominierte geistliche Macht muß angesichts all der Leistungen, die dem Staat von Seiten der Religion zugute kommen, notwendig zu einem ungleichen Kräfteverhältnis zuungunsten des Staates führen. 62 So ist es letztlich die politische Bedeutung der christlichen Religion, die den staatlichen Zugriff auf die »geistlichen Sachen« erfordert. Unter diesen »geistlichen Sachen« versteht Seckendorff neben »kirchen-gebräuchen, Ordnungen und ceremonien« insbesondere »die äusserliche zucht und lebens-art, nach anleitung der religion und glaubens-lehre«. 63 Als geistlicher Sachwalter nimmt der Staat damit nicht nur rechtliche, sondern in eminentem Maße auch sittliche Aufgaben wahr. Ausdrücklich betont Seckendorff, daß in einer »Christlichen policey [...] die obrigkeit« sich nicht allein auf die Regulierung der »gröbsten äusserlichen Mißhandlung« 64 beschränken darf, vielmehr »kan und muß die [christliche] obrigkeit hierinnen auch weiter gehen«, 65 indem sie ihre originäre Ordnungsfunktion auf die »innerliche pflanzung der tugenden des gemüths« ausdehnt und auf den »christlichen Wandel« ihrer

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Seckendorff: Entwurff, S. 480. Die (politischen) Ansprüche der katholischen Kirche forderten daher seit je den entschiedenen Widerspruch der Protestanten heraus. Die von ihnen geforderte Unterordnung der Kirche unter den Staat trug zur Ermöglichung des modernen Staates allererst bei. Siehe dazu beispielsweise Samuel Pufendorf: Politische Betrachtung der Geistlichen Monarchie des Stuhls zu Rom. Herausgegeben von Christian Thomasius. Halle 1714. Seckendorff: Teutscher Fürsten-Staat, S. 285. Seckendorff: Teutscher Fürsten-Staat, S. 207. Seckendorff: Teutscher Fürsten-Staat, S. 207.

20 Untertanen achtet.66 Dabei ist sich Seckendorff des prinzipiellen Unterschieds zwischen dem die äußeren Handlungen normierenden Recht einerseits und der auf die innere Gemütsverfassung zielenden Sittlichkeit andererseits durchaus bewußt. Er differenziert schon ganz eindeutig zwischen den Gesetzen, d.h. positiv-rechtlichen Normen, und den Normen der Tugend und der guten Sitte. Als unterschiedliche Normtypen beziehen sie sich auf unterschiedliche Objekte und werden auf unterschiedliche Weise vermittelt und durchgesetzt: während die Gesetze mit der Hilfe von »äußerlichem zwang« auf »äusserliche mißhandlungen« reagieren, sind die der Tugend und Sitte unterstehenden »innerlichen Handlungen« durch »weltliche gesetze« nicht erreichbar.67 Tugend und gute Sitte werden nicht durch »äusserlichen zwang und bothmässigkeit« hervorgebracht, sondern durch »stete anmahnung und Übung«.68 Dies liegt nicht zuletzt daran, daß sie sich auf >Handlungen< beziehen, die als innerliche sich äusserlich nicht manifestieren und daher auch nicht justiziabel sein können. Seckendorff hat als Gegenstand innerer Normen hier »tugenden und laster« im Blick, »welche einen jeden vor sich angehen« und dabei »nicht zu nutz oder schade des nechsten alsobald gereichen«.69 Im Grunde unterscheidet Seckendorff hier bereits wenn auch nur rudimentär und terminologisch nicht konsequent - zwischen Moral und Recht als zwei distinkte Normtypen. Aber im Unterschied zu Christian Thomasius, der wenig später seine begrifflich eindeutige Differenzierung zwischen Recht und Moral mit einer Begrenzung der staatlichen Verfügungsgewalt verbindet und das Innere des Menschen dem staatlichen Zugriff entzieht,70 unterstellt Seckendorff das menschliche Internum über eine staatlich verwaltete christliche Moral noch dem Ordnungswillen des Staates. Die immerhin im Ansatz vollzogene Erkenntnis des Unterschiedes zwischen Recht und Moral führt bei Seckendorff nicht zur Limitation herrschaftlicher Befugnisse, sondern zur wirkungsvolleren Realisierung ihres gesamten Umfangs. Denn zur Unterscheidung beider Normtypen gehört bei Seckendorff die Erkenntnis derjenigen Mittel, die eine Erfüllung der Moralvorschriften erst ermöglichen: weil weltliche Gesetze notwendigerweise ohne Erfolg bleiben, müssen in Angelegenheiten der Tugend und der guten Sitte »fleißige ermahnung und bewegliche unterweisung treten«.71

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Seckendorff: Teutscher Fürsten-Staat, Seckendorff: Teutscher Fürsten-Staat, Seckendorff: Teutscher Fürsten-Staat, Seckendorff: Teutscher Fürsten-Staat, Siehe dazu unten III. 1.4.3.; III.2.4.2. Seckendorff: Teutscher Fürsten-Staat,

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206f. 207. 206f. 207.

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21 Diese Anleitung zum »christlichen Wandel« gehört für Seckendorff weit eher in die »kirchen-disciplin« als in das »weltliche recht«. 72 So sind es schließlich die von der Obrigkeit erlassenen Kirchenordnungen, die nicht nur die »aufferziehung der jugend« 73 sicherstellen, sondern prinzipiell der »Pflanzung der christlichen religion« 74 als Basis jeder Sittlichkeit dienen sollen. Denn die »geistlichen Ordnungen der hohen obrigkeit [gehen] da hinaus, daß die hindernisse, anlasse und Verleitungen, dadurch dem wahren gottes-dienst abbruch geschehe, und zu falscher religion und sündlichem leben der weg bereitet würde, aufs müglichste abgewandt und aus dem wege geräumet werden«. 75 Wenn mit diesen Kirchenordnungen nicht zuletzt positivrechtlich noch einmal festgelegt wird, wozu jeder ansonsten nur durch sein Gewissen verpflichtet ist, nämlich zur Annahme der »rechten Religion«, der der Staat seiner gesamten Struktur nach soviel verdankt, dann wird deutlich, daß mit Hilfe der »geistlichen Sachen« der Staat sein eigenes Fundament zu sichern sucht. Nicht umsonst bezeichnet Seckendorff die Kirchenordnungen ihrer Funktion nach als ein Mittel, »eine neue Verbindung der unterthanen« 76 herzustellen. Der Staat legt - abstrakt formuliert - intern die Anerkennung derjenigen externen Instanz fest, von der er seine Existenz und seine Legitimität plausibel herleitet. Verfolgt man diesen Gedanken weiter, dann läßt sich behaupten, daß der Staat im vorliegenden Modell seine eigenen Voraussetzungen hervorbringt, indem er eine externe Instanz behauptet, als deren unmittelbare Wirkung er sich selbst beschreibt. Diese paradoxe Form der Selbstlegitimierung kann freilich nur funktionieren, wenn es gelingt, Ursache und Wirkung dieses Vorgangs wieder umzukehren und die Selbstlegitimierung als Fremdlegitimierung glaubhaft auszugeben. Dazu muß die legitimierende externe Instanz als objektive unabhängig von den Wirkungen des Staates auffaßbar sein. Und dies wiederum erfordert nicht zuletzt, daß dem Landesherrn in der Verwaltung der »geistlichen Sachen« durch die christliche Religion selbst Grenzen gesetzt sind. So darf die Obrigkeit zwar befehlen, den »wahren Gott« nach der Art zu ehren, »die er selbst offenbaret«77 hat, sie ist aber nicht befugt, in die Glaubensartikel einzugreifen. Der Fürst hat zwar das Recht, »Ordnungen und gesetze aufzurichten, welche [christliche] religion in seinem lande und fürstenthum allein geübet werden

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Seckendorff: Seckendorff: Seckendorff: Seckendorff: Seckendorff: Seckendorff:

Teutscher Fürsten-Staat, Teutscher Fürsten-Staat, Teutscher Fürsten-Staat, Teutscher Fürsten-Staat, Teutscher Fürsten-Staat, Entwurff, S. 483.

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207. 207. 293. 293f. 291.

22 soll«,78 nur darf durch derlei Ordnungen keine neue Religion geschaffen werden. Die christliche Obrigkeit kann schließlich »nichts gebieten, was Gott verbeut, noch verbieten, was Gottes wort klärlich ordnet, vielweniger kan sie die form und art des predig-amts, oder, des gebrauche der Heil. Sacramenten anders, als sie in Gottes wort beschrieben, anstellen«.79 Sollte die Obrigkeit dennoch versuchen, die Untertanen zu einer »falschen Religion« zu zwingen, so dürfen diese die falsche Religion um ihres Seelenheils willen nicht annehmen - »man muß Gott mehr gehorchen als den Menschen«.80 Allerdings gibt ihnen dies kein Recht zu aktivem Widerstand, vielmehr müssen sie, falls Fürbitten und Gebete zu keinem Erfolg führen und sie das Ius emigrandi nicht nutzen können, erleiden, »was die Obrigkeit ihnen zur Straffe anthut, sie können sich nicht widersetzen«.81 Ein denkbarer Konflikt zwischen Glauben und staatlicher Ordnung wird mithilfe einer durch die Diesseits-Jenseits-Dichotomie konstituierten doppelten Perspektive gelöst: während im Diesseits der staatlichen Ordnung der Primat eingeräumt und die Religion dem Staat zumindest partiell - nämlich um des Friedens willen - nachgeordnet wird, bleibt das Urteil über die Sünden der Obrigkeit dem Jenseits und damit Gott als dem obersten Regenten vorbehalten. Auf diese Weise bleibt im Diesseits die Funktion des göttlich verordneten Staates gewahrt, während im Jenseits die dennoch verletzte Gerechtigkeit und Ordnung wiederhergestellt wird, so daß insgesamt der Wille Gottes geschieht.82

1.3. Begründung und Limitation der Staatsgewalt: der Fürst als Untertan Eine kontraktualistische Begründung der höchsten Gewalt, wie sie etwa Thomas Hobbes oder Samuel Pufendorf vorgelegt haben, wird von Seckendorff in keiner seiner Schriften erwogen. Sie war für ihn wohl auch schon deshalb undenkbar, weil seinem Modell nach keine Notwendigkeit für einen Vertrag besteht. Ganz abgesehen davon, daß - nach der Logik seiner Vorstellung - die Annahme eines letztlich fiktiven Vertrages, dessen Inhalte, Geltung, Geltungsumfang und Geltungsdauer letztlich dem Belieben der Vertragspartner anheimgestellt bleibt, das Gemeinwesen mit schwerwiegen78 79 80 81 ΟΛ

Seckendorff: Teutscher Fürsten-Staat, S. 288. Seckendorff: Teutscher Fürsten-Staat, S. 289. Seckendorff: Entwurflf, S. 484. Seckendorff: Entwurflf, S. 484, siehe auch Teutscher Fürsten-Staat, S. 387. Siehe dagegen Johannes Althusius, der in seiner Politica ausdrücklich ein Widerstandsrecht gegen eine gottlose Obrigkeit vorsieht. Die Einsicht, daß man Gott mehr gehorchen müsse als der Obrigkeit (»Deo magis obiendum, quam magistratui« Cap. 38, §33) mündet bei Althusius noch direkt in ein den Ephoren vorbehaltenes Ius resistentiae.

23 den Unsicherheiten belastet. Als weitaus tragfähigeres Fundament des Staates gilt ihm die Überzeugung, daß der Staat von Gott verordnet ist und die Obrigkeit, die niemanden über sich hat als Gott selbst,83 sich der Stiftung und Urheberschaft Gottes verdankt.84 Dabei ist ihm die Frage, ob die höchste Gewalt nun unmittelbar oder nur mittelbar von Gott kommt, bezeichnenderweise keiner Erörterung wert. Dies, obwohl doch die Behauptung »maiestas est immediate a Deo« von den protestantischen Theologen seiner Zeit noch einmal vehement gegen die vertragstheoretische Begründung der Staatsgewalt ins Feld gefuhrt wird, und Abraham Calov sie in seinem Systema Locorum Theologicorum (1655-1672) immerhin zu einer »generalis sententia sancti spiritus« machte.85 Seckendorff ist viel zu sehr politischer Praktiker, um sich mit einer spekulativen Begründung der staatlichen Herrschaftsgewalt zufriedenzugeben und ihre empirische Seite völlig außer Acht zu lassen. Es geht ihm im Gegenteil - sozusagen als Ergänzung zu einer theologisch-spekulativen Herleitung der summa potestas - um eine rechtlich einwandfreie Fundierung der Staatsgewalt, »denn wo kein Recht zu gebieten ist, da ist auch keine Schuldigkeit zu gehorsamen«.86 Wenngleich für Sekkendorff kein Zweifel daran bestehen kann, daß der Stand der Obrigkeit »von Gott sey«,87 so ist ihm doch nicht minder deutlich, daß »etlicher orten menschliche mittel, als wähl, beleihung und dergleichen [...] gebraucht werden«,88 um die Staatsgewalt tatsächlich zu erlangen. Vor allem im Teutschen Fürsten-Staat legt Seckendorff großen Wert auf eine empirische rechtsförmige Begründung der Staatsgewalt. Sie fußt im Deutschen Reich neben dem »uhralten Herkommen« auf kaiserlicher Belehnung einerseits und auf der von den Ständen und Untertanen geleisteten Erbhuldigung andererseits.89 Beides impliziert zugleich die Reglementierung und Limitierung der summa potestas. Denn »ein rechtmäßiges regiment« ist keine »eigenwillige herrschafft eines haußwirths über sein gesinde«, und die Untertanen sind keine »sclaven«, die »mit hab und gut so bloß hin ihrem herm eigenthümlich ergeben sind«, vielmehr werden sie »wie

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Vgl. Seckendorff: Teutscher Fürsten-Staat, S. 281. Vgl. Seckendorff: Teutscher Fürsten-Staat, S. 318. Vgl. dazu Friedrich Fries: Die Lehre vom Staat bei den protestantischen Gottesgelehrten Deutschlands und der Niederlande in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts. Diss. Berlin 1912, S. 53—63. Sowie Heinrich de Wall: Die Staatslehre Johann Friedrich Horns (ca. 1629-1665). Aalen 1992, S. 112-114. Siehe zu Albertis Parteinahme für die theokratische Immediate-Vorstellung und die entschiedene Kritik Samuel Pufendorfs 1.2.2.3. und II.2.1. Seckendorff: Rede bey Publication des Stifft-tags Abschieds, Anno 1678, in hochgedachten Herrn Hertzog Moritzens Namen, an die Stiffis-Stände. In: Teutsche Reden, S. 193. Seckendorff: Christen-Stat, S. 220. Seckendorff: Christen-Stat, S. 220. Vgl. Seckendorff: Teutscher Fürsten-Staat, S. 34f.

24 Freygebohrne [...] regiret und in gehorsam gehalten«. 90 Die Herrschaft ist als rechtmäßige im »teutschen« Fürstenstaat in drei unterschiedlichen Hinsichten rechtlichen Verbindlichkeiten unterworfen: 1. der Fürst ist als Statthalter und Amtmann Gottes an die göttlichen Gesetze gebunden; 2. er ist als deutscher Fürst den »allgemeinen teutschen rechten und Satzungen«91 unterworfen, d.h. als Fürst innerhalb des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation unterliegt er den Gesetzen des Kaisers als der ihm übergeordneten Obrigkeit; und 3. obliegt dem Fürsten die Erfüllung aller Verpflichtungen, die er seinen Ständen und Untertanen gegenüber eingegangen ist, und die entweder nach altem Herkommen oder aufgrund entsprechender Kapitulationen, Landtagsabschieden etc. Geltung haben. Der Inhaber der »obersten Bothmäßigkeit« ist damit in Seckendorffs Teutschen Fürsten-Staat nicht nur innerlichen Verbindlichkeiten unterworfen, er muß sein Handeln nicht nur seinem Gewissen und schließlich Gott gegenüber verantworten, sondern er ist auch ganz dezidiert, und wie Seckendorff mehrfach betont, äußerlichen Verbindlichkeiten ausgesetzt, die freilich von ganz unterschiedlicher Qualität sind. Im Hinblick auf die Vereinbarungen, die der Fürst mit seinen Untertanen und Ständen getroffen hat, ist einem widerrechtlichen Verhalten des Fürsten innerhalb seines eigenen Territoriums kaum mit Sanktionen zu begegnen. Dies, obwohl Seckendorff immerhin und in klarem Unterschied zu späteren absolutistischen Konzepten davon ausgeht, daß der Fürst »bey einnehmung der erbhuldigung [...] sich fürstlich und kräfftiglich erkläret, [...] daß er für sich selbst den gesetzen und rechten gemäß handeln, und sich denselben unterwerffen wolle«.92 Damit besteht zwar eine positiv-rechtlich fixierte äußerliche Verbindlichkeit, doch stehen prima facie keine entsprechenden äußerlichen Mittel zur Verfugung, mit deren Hilfe die Einlösung dieser Verbindlichkeit gesichert oder im Ernstfall erzwungen werden könnte: die äußerliche Verbindlichkeit mutiert so im Hinblick auf ihre sanktionsbewehrte Durchsetzungsfähigkeit quasi zu einer innerlichen, denn der gegen positives Recht verstoßende Fürst kann letztlich nur von Gott >belangt< werden. Allerdings gilt dies im Teutschen Fürsten-Staat nicht durchweg und nicht in jederlei Hinsicht; Besonderheiten, denen Seckendorff großes Gewicht beimißt, ergeben sich durch das Reichsrecht. Denn der von Seckendorff beschriebene Fürstenstaat ist nicht von ungefähr ein »teutscher«: er ist als solcher in den politischen und vor allem juristischen Rahmen des Deutschen Reichs gestellt, und das bedeutet, daß der >teutsche< Fürst als Souverän seines eigenen Territoriums zugleich Untertan der deutschen Reichsob-

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Seckendorff: Teutscher Fürsten-Staat, S. 58. Seckendorff: Teutscher Fürsten-Staat, S. 59. Seckendorff: Teutscher Fürsten-Staat, S. 147

25 rigkeit ist. Seckendorff scheint sehr daran gelegen zu sein, auf eine dem Territorialfürsten überlegene Obrigkeit verweisen zu können, die mit eigener Gerichtsbarkeit den unrechttuenden Fürsten zur Rechenschaft ziehen und auf diese Weise der äußerlichen Verbindlichkeit auch äußerlich wirksamen Nachdruck verleihen kann. Ein »teutscher fürst und regent« ist, weil er selbst einer legitimen irdischen Obrigkeit unterworfen ist, de lege und de facto gerichtlich belangbar. Er kann erwarten, daß er »vor denen reichsgerichten auf ein oder andere weise endlich« zu stehen komme, »und demjenigen der wider ihn klagt, antworten lassen und des bescheids gewarten müsse«. 93 Das folgende, ausführlichere Zitat macht allerdings darauf aufmerksam, daß Seckendorff die prinzipielle Möglichkeit, Rechtsverstöße eines Fürsten der Judikatur des Reiches zu unterstellen, zwar für unverzichtbar hält, er sich aber andererseits über die tatsächliche Wirksamkeit einer gerichtlichen Entscheidung kaum Illusionen macht. Zumal die Erwartung, der unrechttuende Fürst würde »doch einsten« auf einen Gegner treffen, der in der Lage ist, gegen ihn zu prozessieren, nicht gerade auf einen formalisierten Verfahrensweg hinweist, der ohne weiteres von jedem beschritten werden könnte. »Wolte es nun gleich ein herr darauf wagen, und die schwere sünde für Gott nicht achten, daß er in seinem thun ungerecht sich erzeiget, so gienge doch solches auch für die weit und des reichs hohen obrigkeit nicht an, sondern er müste leiden, daß ihm solches unrechtmäßiges fürnehmen, und gewaltsamen beschwerung, zu grossem schimpff und schaden, eingeleget würde; und da gleich wieder etliche schwache, geringe, verzagte und arme unterthanen des landes, oder fremde unvermögende personen, ein und anders Unrechtes vortheilhafftiges beginnen, wie leider! an manchem orte geschiehet, durchgetrieben würde, auch ungeklagt hingienge, so würde er doch einsten einen und andern antreffen, der das recht gegen ihme mit bestände fürnehmen und hinaus führen könte.« 94 Der in dreifacher Hinsicht - innerlich und äußerlich - gebundene Herrscher des Teutschen Fürsten-Staats kann wohl kaum in einem vollen Sinne als absolutistisch bezeichnet werden. Seckendorffs Christen-Stat bietet in dieser Hinsicht ein völlig anderes Bild. Die äußerlichen Verbindlichkeiten spielen keine ernstzunehmende Rolle mehr: von den Rechten der Stände und Untertanen ist allenfalls am Rande die Rede, und die rechtliche Bindung an die immerhin noch bestehenden Reichsgesetze wird überhaupt nicht mehr thematisiert. Dafür werden die innerlichen Verbindlichkeiten, die sich aus den Geboten und dem Willen Gottes ergeben, betont und in dem Maße ausgebaut, wie die äußerlichen an Bedeutung verlieren, so daß die innerli-

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Seckendorff: Teutscher Fürsten-Staat, S. 147. Seckendorff: Teutscher Fürsten-Staat, S. 147f.

26 chen Bindungen schließlich in der Lage sein sollen, alles das zu kompensieren, was mit den äußerlichen Verbindlichkeiten verloren zu sein scheint. Damit bleibt die summa potestas quantitativ im gleichen Ausmaß limitiert wie zuvor, nur wird dies mit qualitativ anderen Mitteln bewerkstelligt: die begrenzenden Normen sind - zumindest zum Teil - von außen nach innen verlagert worden. Das Ergebnis sollte letztenendes das gleiche sein wie im Teutschen Fürsten-Staat und war doch im Grunde völlig anders: zwar geht es auch im Christen-Stat um einen funktionstüchtigen und rechtmäßigen Staat, der normativ auf dem Christentum basiert, doch trägt dieses neue Konzept den absolutistischen Tendenzen der Zeit in ungleich stärkerem Maße Rechnung als zuvor das Modell des Teutschen Fürsten-Staat. Dabei dürften diese doch gravierenden Änderungen im Christen-Stat nicht allein von der thematischen Verschiebung herrühren, die bereits durch die Titel der beiden Werke angezeigt wird. Vielmehr indiziert die Verschiebung selbst ein gewandeltes Verständnis vom Verhältnis zwischen dem Reich und den einzelnen Territorien. Offenbar bestand noch unmittelbar nach dem Dreißigjährigen Krieg die Hoffnung, daß das Deutsche Reich seine obrigkeitliche Funktionen wahrnehmen könnte. Während gegen Ende des Jahrhunderts bereits klar geworden war - sowohl praktisch als auch theoretisch 95 - , daß die politische >Monstrosität< (Pufendorf) des Reichs seine Handlungsfähigkeit längst lahmgelegt hatte und die deutschen Territorialfürsten ihre Macht unangefochten als absolut definieren konnten. 96 Diese veränderte historische Situation war es wohl auch, die dreißig Jahre nach dem Teutschen Fürsten-Staat einen staatstheoretischen Neuansatz sachlich rechtfertigen konnte, selbst wenn dieser nicht wirklich neu war, sondern im Grunde nichts anderes als eine freilich konsequenzenreiche Akzentverschiebung darstellte. Die Veränderungen im Christen-Stat gehen deutlich zu Lasten der Untertanen. War im Teutschen Fürsten-Staat noch von Rechten der Stände und Untertanen die Rede, die bei der »hohen reichs-obrigkeit« zumindest prinzipiell eingeklagt werden können, 97 so sind die Untertanen im Christen-Stat gehalten, bei vermeinten Anlässen zur Klage, »zuvörderst in sich selbst« zu gehen und zu glauben, »daß sie mit ihren Sünden alle die plagen verursachen 95

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97

Siehe zur Diskussion um die politische Form des Deutschen Reichs: Severinus de Monzambano: De statu imperii Germanici (1667). (= Samuel Pufendorf: Die Verfassung des deutschen Reichs. Herausgegeben und übersetzt von Horst Denzer. Stuttgart 1985.) Dies entsprach auch dem Ergebnis des Westfälischen Friedens, der das Reich eindeutig zum Verlierer des Dreißigjährigen Krieges machte. Vgl. dazu: Martin Heckel: Deutschland im konfessionellen Zeitalter. Göttingen 1983, S. 195ff. Sowie Johannes Kunisch: Absolutismus. Europäische Geschichte vom Westfälischen Frieden bis zur Krise des Ancien Rögime. Göttingen 1986. S. 126-129. Vgl. Seckendorff: Teutscher Fürsten-Staat, S. 48, 60, 146ff.

27 die von bösem regiment herkommen, oder doch daß die frommen und unschuldigen auch diese noth, als eine väterliche Züchtigung von Gott, erkennen und jedermann dahero ursach nehmen solte, Gott täglich anzuruffen, daß er die obrigkeit mit seinem guten geist regieren« 98 wolle. Obwohl Sekkendorff die Notwendigkeit einer Kritik am Staat und damit an der Obrigkeit im gegebenen Fall durchaus zugibt, hält er doch die kritische »betrachtung des standes der obrigkeit« für »eine schwere und gefährliche mate" ria«. 99 So sehr eine kritische Stellungnahme auch sachlich begründet sein mag, so muß sie doch von berufener Seite behutsam und respektvoll vorgebracht werden, damit nicht »bey dem unverständigen hauffen der unterthanen ein widriger und böser effect, nemlich haß und Verachtung gegen die obrigkeit oder gar auffstand und empörung veranlasset werden möchte«. 100 Überhaupt ist Seckendorff ganz in pietistischem Geist der Meinung, daß »klage und beschwerung über mängel des bürgerlichen lebens aus dem falschen Christenthum« 101 komme, und »das meiste würde nachbleiben, wenn wir rechte Christen wären, die das bürger- und land-recht im himmel vornehmlich suchten, und in dessen gewisser und gläubiger hoffhung, die zeitlichkeit vor eine elende herberge, und alles zeitliche keiner solchen sündlichen sorge, proceß und unlust werth hielten«. 102 Der Fürst ist damit der kritischen Verfügung seiner Untertanen weitgehend entzogen. Als Statthalter Gottes erscheint er aus der Perspektive seiner Untertanen selbst als Gott, der mit einer seinem Rang entsprechenden Immunität ausgestattet ist.103 Aus der Sicht Gottes allerdings macht ihn gerade seine Statthalterschaft zu einem Untertan Gottes. Diese doppelte Rolle aufgrund einer doppelten Perspektive artikuliert auch die Titularformel »von Gottes Gnaden«, 104 die Seckendorff im Christen-Stat für »keinen vergeblichen Titul« hält, während er noch im Teutschen Fürsten-Staat nur eher en passant und mehr aus historischem Interesse auf sie zu sprechen kommt. 105 Der Formel wird nun eine zentrale Funktion zugewiesen: sie indiziert einerseits die »hoheit« des Fürsten, seine 98

Seckendorff: Christen-Stat, S. 212. In den Additiones versteigt sich der ansonsten maßvolle Seckendorff zu der folgenden Behauptung: »Die weit ist viel zu böse, daß sie solte würdig seyn guter und frommer herren, sie muß haben fllrsten, die kriegen, schätzen und blutvergießen, und geistliche tyrannen, die sie mit bannzetteln, briefen und gesetz aussauσ und beschweren. Das und andere mehr straffen sind ihr verdienter lohn.« (S. 809) QQ gen Seckendorff: Christen-Stat, S. 211. 100 Seckendorff: Christen-Stat, S. 211. 101 Seckendorff: Christen-Stat, S. 194. in? Seckendorff: Christen-Stat, S. 195. 103 Vgl. Seckendorff: Christen-Stat, S. 213. Sowie Teutsche Reden, S. 283. 104 Siehe zur Interpretation, Funktion und Geschichte dieser Formel: Dreitzel: Monarchiebegriffe in der Fürstengesellschaft, S. 515-528, sowie Ders.: Absolutismus und ständische Verfassung in Deutschland, S. 92. 105 Vgl. Seckendorff: Teutscher Fürsten-Staat, S. 36.

28 Immunität gegenüber der menschlichen Gerichtsbarkeit - der Fürst als Gott der Untertanen - und gleichzeitig seine »Schuldigkeit«, seine Bindung an die göttlichen Gesetze und die Verpflichtung auf Gottes Ordnung - der Fürst als Untertan Gottes. 106 Ihrer »hoheit« bedarf die Obrigkeit »zu dämpffung der auffrührerischen gedancken der unterthanen, wann diese sich anmaßen wollen, ihr auf den Kopf zu steigen und über sie zu richten«. 107 Die »Schuldigkeit« der Obrigkeit gegenüber Gott aber braucht das Volk quasi im Gegenzug als Sicherheit dafür, daß sie den Gesetzen Gottes Folge leistet und damit beispielsweise Gerechtigkeit walten läßt. 108 Seckendorff verknüpft diese Konstruktion ausdrücklich mit der politisch vielleicht naiven, aus seiner religiösen Perspektive aber doch konsequenten Überzeugung, daß die innerliche Bindung des Fürsten an die Gesetze Gottes schließlich doch wirksamer sind als jeder »äußerliche zwang«. 109 Dies setzt selbstverständlich eine gottesfurchtige Obrigkeit voraus, die sich ihrer Bedingtheit, ihrer von Gott übertragenen und letztlich von ihm kontrollierten und sanktionierten Aufgabe bewußt ist. So bleibt als wirkungsvollste Limitation der höchsten Gewalt am Ende die Tugend des Herrschers übrig, denn Seckendorff hält die Gottesfurcht (pietas) selbst für eine Tugend, die das »fundament« aller anderen Tugenden bildet. 110 Ihr kommt diese zentrale Bedeutung zu, weil sie direkt auf die höchste Norminstanz verweist und von dort ihre Inhalte empfängt - die sittliche Qualität der Gottesfurcht ist damit nicht allein die Frucht (fehlbarer und endlicher) menschlicher Bemühungen. So kann sie fur Seckendorff eine »genitrix virtutum« im vollen Sinne sein, »sie ist kein eingebildetes müßiges Werck, in dem Hertzen eines Regenten,

106

Vgl. Seckendorff: Christen-Stat, S. 220. Vgl. dazu auch die Additiones zum Christen-Stat, in denen Seckendorff noch einmal anhand des Psalms 82 die spezifische Untertänigkeit der Obrigkeit als Gott ihrer Untertanen erläutert. Der Abschnitt trägt den Titel: »Die Obrigkeit heissen Götter, wie es zu verstehen«. (S. 803) 107 Seckendorff: Christen-Stat, S. 220. 108 Vgl. Seckendorff: Christen-Stat, S. 220. 109 Seckendorff: Christen-Stat, S. 220. Wie ernst es Seckendorff damit ist, verdeutlich auch ein Fragenkatalog, der sich unter dem Titel »Gewissens-Prüfung derjenigen, welche in beyden obern ständen leben, ob und wie fern die klagen über das verderbte Christenthum sie auch betreffen«, im Christen-Stat findet und sozusagen als Ergänzung der Ergänzung den Additiones beigegeben wurde. Bemerkenswert scheinen vor allem die folgenden zwei Fragen, die dem »obrigkeitlichen Stande« vorgelegt werden: »Ob er sein amt und gewalt erkenne allein von Gott zu haben dem er davor rechenschafft geben müsse, oder ob er in etwas gläube eine eigene macht zu haben, die er nach eigenem willen führen und brauchen dürffte?« - »Ob er ohn unterlaß, als seiner untüchtigkeit wissend, Gott dem Herrn um seine gnade und weißheit anruffe [...] und nichts in seinen regierungs-geschäfften anfange, ohne vorhero Gottes gnade inbrünstig erbeten zu haben? Ja ob er auch bete vor die unterthanen?« (S. 955) 110 Vgl. Seckendorff: Teutscher Fürsten-Staat, S. 142f. Sowie Teutsche Reden, S. 285 und 332.

29 sondern sie wircket die Klugheit und Vorsichtigkeit, die ordentliche Hofund Haushaltung, die Liebe zu den Unterthanen, die Gütigkeit und Gerechtigkeit«." 1 Seckendorffs christlicher Staat ist kein technisches Unternehmen, er ist vielmehr eine moralische Institution, die theoretisch ihre Normen von einer rechtstheologisch interpretierten christlichen Morallehre bezieht und praktisch auf die gelebte Moral ihrer Mitglieder angewiesen bleibt. Der Fürst 112 muß ebensogut moralisch sein wie seine Untertanen, denn erst in der Sphäre christlicher Moral kann es gelingen, auftretende Interessenkonflikte zu einem befriedigenden, d.h. Friede und Ordnung des Staates weiterhin gewährleistenden Ausgleich zu bringen. 113 Hierin sieht Seckendorff die entschiedene Überlegenheit seines christlichen Konzepts gegenüber jeder eudämonistisch-utilitären Staatsauffassung, die in der »Wohlfahrt des volkes den letzten zweck und die end-ursach der obrigkeit« erkennt und daraus die Befugnis des Volkes ableitet, die Obrigkeit zur Rechenschaft zu ziehen. »Es ist aber« - so erklärt Seckendorff - »dieses vorgeben nicht allein den Königen und der hohen obrigkeit beschwerlich, sondern auch dem volck gantz gefährlich und der erhaltung ruhe und friedens, die man von der obrigkeit, nechst Gott, gewarten muß, zuwider«. 114

1.4. Seckendorffs Naturrechtsentwurf: ein gescheiterter

Versuch

Seckendorff hat an keiner Stelle seines Werkes eine rechtstheologisch oder rechtsphilosophisch befriedigende Untermauerung seiner Staatstheorie geliefert. Seine Arbeiten bleiben in dieser Hinsicht gerade da, wo sie präskriptiv sind und sein wollen, moralisierend bekenntnishaft, appellativ und assertorisch. Eine theoretisch stringente Begründung, die argumentativ an den Diskussionsstand seiner Zeit Anschluß findet, lag offenbar nicht in seinem Interesse. Dies mag mit seinen praktischen Intentionen zusammenhängen,

111

112

113

114

Seckendorff: Bey Publication des Land-Tags-Abschiedes den 25. Junii, diet. Anno 1681. In: Teutsche Reden, S. 333. Bereits im Teutschen Fürsten-Staat hatte Seckendorff großen Wert auf die moralischen Qualitäten des Fürsten gelegt. Hatte er zunächst die »landesfürstliche hoheit und macht [...] für sich selbst erwogen«, so fügte er in einem zweiten Schritt diesen eher technischen Ausführungen eine eingehende Erörterung der notwendigen Herrschertugenden mit der Begründung an, daß »das heyl und wohlfahrth des landes hinwiederum an der person des herrn« (S. 132) hängt. Siehe dazu Seckendorff: Rede nach der Publication des Land-Tags Abschieds den 18. Sept. 1678. In: Teutsche Reden, vor allem S. 319. Sowie die Rede an Tit. Herrn Friedrichen, Hertzog zu Sachsen etc. Nach der Proposition auff dem Land-Tage zu Altenburg, den 16. Juni 1685. im Namen der Landstände. In: Teutsche Reden, insbes. S. 346f. Seckendorff: Christen-Stat, S. 219.

30 könnte aber auch die Folge seines erklärten Mißtrauens gegenüber jeglicher Philosophie sein, deren Anspruch auf theoretische Validität immerhin die Einheit und Gewißheit des Glaubens in Gefahr bringen kann. Für Seckend o r f liegt zumindest auf der Hand, daß »mit denen studiis philosophicis viel Irrthum bald Anfangs in die christliche Kirche«115 gekommen ist. Auch Seckendorffs Naturrechtsentwurf ist nicht geeignet, diese theoretische Lücke zu füllen. Obwohl Hans-Peter Schneider den Entwurff für »eines der eindrucksvollsten Zeugnisse protestantischer Rechtstheologie im 17. Jahrhundert«116 hält, deutet die Widersprüchlichkeit des Textes und die Tatsache, daß er Fragment geblieben ist, eher daraufhin, daß Seckendorff an den theoretischen Begründungschancen, die das Naturrecht - und sei es das christliche - bereithält, eigentlich nicht interessiert war. Bei dem Entwurff handelt es sich um eine offensichtlich nur widerwillig ausgeführte Auftragsarbeit, die auf Herzog Emsts »gnädigstes Begehren«117 begonnen wurde, und an deren Vollendung Seckendorff nicht unbedingt gelegen war. Der Umstand, daß Seckendorff den Entwurff nach eigenem Bekunden schon »vor vielen Jahren zu verfassen angefangen«118 hat, dann aber, anstatt ihn fertigzustellen, den Christen-Stat publizierte, macht seine Prioritäten unübersehbar.119 Zumal er mit dem Naturrecht - wie zu zeigen sein wird - im Grunde nicht allzuviel anzufangen wußte und ihm überdies auch eher mißtrauisch gegenüberstand. Unterstellt man einmal, daß mit dem 1625 publizierten De iure belli ac pads von Hugo Grotius die Geschichte des modernen profanen Naturrechts einsetzt - trotz gegenteiliger Auffassungen spricht doch einiges dafür120 dann mag es nach dem bisher Ausgeführten durchaus erstaunen, daß Sekkendorff bereit war, dem Begehren seines Dienstherrn so weit entgegenzukommen und den Versuch zu unternehmen, das »natürliche Recht nach Anleitung der Bücher Hugonis Grotii, und anderer dergleichen Autoren« auszuführen. Andererseits muß im Auge behalten werden, daß sich in der Grotius-Rezeption des 17. Jahrhunderts in Deutschland eine beachtliche Strömung geltend machte, die Grotius' Naturrechts-Konzeption christlich 115

116 117 118

Seckendorff: Christen-Stat, S. 172. Siehe dazu auch Gustav Marchet: Studien über die Entwicklung der Verwaltungslehre in Deutschland von der zweiten Hälfte des 17. bis zum Ende des 18. Jahrhunderts. München 1885, Reprint Frankfurt am Main 1966, S. 5. Sowie H.F.W. Hinrichs: Geschichte der Rechts- und Staatsprincipien seit der Reformation bis auf die Gegenwart in historisch-philosophischer Entwicklung. Band 2. Leipzig 1850, S. 220. Schneider: Justitia universalis, S. 256. Seckendorff: Entwurff, S. 435. Seckendorff: Entwurff, S. 435. Vgl. dazu auch Marchet: Studien über die Entwicklung der Verwaltungslehre, S. 6fF.

119 120 Siehe

ausführlicher dazu unten II. 1.2.1.

31 interpretierte und in ein christliches Naturrecht zu überfuhren suchte. 121 Selbstverständlich liegt daher zunächst die Vermutung nahe, daß Seckendorff Anschluß an eine christliche Grotius-Interpretation sucht, die sich möglichst bruchlos in den christlichen Horizont seines gesamten Denkens einfügt. Tatsächlich aber ist der Text insofern ein Stückweit komplizierter und schließlich auf eine signifikante Art widersprüchlich als Seckendorff, seiner unbestreitbar tiefen Bindung an die Prinzipien des Christentums zum Trotz, dem profanen Naturrecht erst einmal entgegenkommt, um dann den bereits erreichten Stand der Erkenntnis aus christlicher Sicht wieder zu revidieren. Seckendorffs Begriffsbestimmung des natürlichen Rechts steht zunächst Definitionen nicht nach, die auf der Basis explizit profaner Naturrechtsbegründungen formuliert wurden: »Das Natürliche Recht ist ein Gebot, Satzung oder Fürschriffi der rechten und gesunden Vernunfft, welche in dem Verstand und Gewissen des Menschen anzeigt, welcherley Thaten und Verrichtungen mit des Menschen vernünftiger und geselliger Natur überein kömmt, also Rechtswegen zu thun, oder als unrecht und schädlich zu lassen, einfolglich von Gott dem Schöpffer und Urheber der Natur geboten oder verboten seyn«.122 Charakteristisch für eine profane Version des Naturrechts ist die Inanspruchnahme der Vernunft als principium cognoscendi und die Ableitung der naturrechtlichen Normen aus der Natur des Menschen. Ebenso wie viele Theoretiker des profanen Naturrechts sieht Seckendorff die Bedeutung des natürlichen Rechts, in den rechtlichen Verbindlichkeiten, die mit ihm jenseits der Offenbarung und jenseits allen positiven Rechts zwi121

122

Dazu gehörte neben Caspar Ziegler und Johann Adam Osiander auch Seckendorffs Lehrer Johann Heinrich Boeder, durch den Seckendorff wohl schon während seines Studiums mit Grotius' De Jure Belli ac Pacis in Berührung gekommen war. Ob Seckendorff allerdings in der Lage war, während seiner Arbeit an dem Entwurjf auf Boeclers In Hugonis Grotii Jus Belli et Pacis Commentatio zurückzugreifen, ist jedoch eher unwahrscheinlich. Denn der Entwurf/ kann - weil er auf Anregung von Herzog Ernst von Sachsen-Gotha verfaßt wurde - eigentlich nur in den fünfziger Jahren des 17. Jahrhunderts geschrieben worden sein, Boeclers Commentatio aber erschien erst 1663/64, und damit in genau dem Jahr, in dem Seckendorff bei Herzog Ernst um seine Entlassung nachsuchte. Es ist kaum anzunehmen, daß Seckendorff als Präsident des Konsistoriums, als Kammerdirektor, Geheimer Rat und Kanzler in Sachsen-Gotha zu einer Zeit, da er wegen Arbeitsüberlastung um seine Entlassung bittet, sozusagen nebenher noch einen Naturrechtsentwurf in Angriff nehmen kann. Daher lassen sich Hans-Peter Schneiders Angaben zur Datierung, »die Schrift ist zwischen 1660 und 1685 verfaßt« (S. 255) schon aufgrund von Seckendorffs eigenen Mitteilungen ein wenig präzisieren. Die bestehenden Parallelen zwischen Seckendorffs Versuch und Boeclers Kommentar lassen jedoch - ebenso wie die persönliche Bekanntschaft zwischen beiden Autoren - vermuten, daß Seckendorff Boeclers Lesart des >Jus Belli< kannte. Vgl. zu Boeclers Interpretation Schneider: Iustitia universalis, S. 134142. Seckendorff: Entwurff, S. 441.

32 sehen den Völkern gestiftet werden.123 Die Auffassung, daß Gott als Schöpfer der Natur letztlich auch Schöpfer des Naturrechts ist,124 findet sich auch bei erklärten Verfechtern des profanen Naturrechts. Noch Christian Wolff erklärt in den Grundsätzen des Natur- und Völckerrechts (1754), daß diejenige Vorschrift als »natürliches Gesetz« bezeichnet wird, die ihren »hinreichenden Grund selbst in der Natur der Menschen und der Dinge hat«,125 und er fährt wenig später fort: »da das Wesen und die Natur des Menschen und der Dinge von Gott ihren Ursprung haben [...], so ist der Urheber des Gesetzes der Natur Gott selbst«.126 Allerdings ist bei Seckendorff die Existenz des Naturrechts so eng an »Willen und Wesen Gottes« gebunden, daß die in der Literatur kontrovers diskutierte Behauptung von Hugo Grotius, das Naturrecht habe auch dann noch Geltung, wenn man - frevelhafterweise - die Nichtexistenz Gottes unterstellte,127 für Seckendorff schlechterdings absurd gewesen sein muß, nach der Logik seiner Auffassung kann sie nicht einmal als Frage sinnvoll gestellt werden. Seckendorff bringt seinen profan-naturrechtlichen Ansatz noch nicht in Gefahr, wenn er behauptet, ohne die Offenbarung des göttlichen Worts hätten die Heiden nichts »gründliches« von »dem Willen und Wesen Gottes« wissen können, so daß »etliche von dem Recht und Unrecht gar irrige Meynungen gehabt«128 haben. Denn Seckendorff schließt hier die prinzipielle Erkennbarkeit des Naturrechts mit jenseits der Offenbarung angesiedelten Erkenntnismitteln strenggenommen nicht aus, sondern betont lediglich die privilegierten Erkenntnismöglichkeiten des Christen. Erst ihm erschließt sich vollständig der vorausgesetzte Zusammenhang zwischen Gott und seinen Geschöpfen und den besonderen Rechtsverhältnissen vor und nach dem Sündenfall. Indessen ist Seckendorff auf dem Wege, seinen Ansätzen zu einem profanen Naturrecht den Boden zu entziehen, wenn er behauptet, Gott habe »bey der Verkündung des Mosaischen Gesetzes in den Zehen Geboten, auch das Recht der natur auffs neue wiederholen wollen«.129 123 124

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128 129

Seckendorff: Entwurff, S. 439f. An anderer Stelle differenziert Seckendorff zwischen einer unmittelbaren und einer mittelbaren Ursache des natürlichen Rechts: »Daß wir es nun wieder zusammen fassen, und die Causes des natürlichen Rechtens kürtzlich fürstellen. So ist dessen wirckende HauptUrsache fürnemlich Gott selbst, wie oben schon erwehnt, und S. Paulus ad. Rom. I. ausführlich beweist, unmittelbar, aber die menschliche Vernunft in ihrem gemeinen ordentlichen Lauff.« (Entwurff, S. 447.) Christian Wolff: Grundsätze des Natur- und Völckerrechts. Halle 1754, Reprint Hildesheim 1980, §41. Christian Wolff: Grundsätze des Natur- und Völckerrechts, §41. Vgl. Hugo Grotius: De Jure Belli ac Pacis Libri tres. Curavit B.J.A. de Kanter-van HettingaTromp. Lugdunum Batavorum 1939, Prol. 11. Seckendorff: Entwurff, S. 438. Seckendorff: Entwurff, S. 442.

33 Zwar liegt auch in dieser Behauptung noch kein Argument gegen die Annahme eines natürlichen Rechts, das allein durch die Vernunft als Erkenntnisquelle aufgefunden wird - schließlich wurde allenthalben eingeräumt, daß der Dekalog naturrechtliche Gebote enthält - doch zieht Seckendorff den Unterschied zwischen offenbartem und natürlichem Gesetz ein, wenn er das Naturrecht im Dekalog aufgehen läßt und mehr noch, wenn er umgekehrt den gesamten Dekalog als natürliches Recht auffaßt. Genau dies tut Seckendorff schließlich, indem er eine Darstellung des Naturrechts entlang der Zehn Gebote ankündigt und dabei die Gebote der ersten Tafel nicht ausspart.130 Und mit der Behauptung, »ausser der Erkenntnis Gottes« wäre »das natürliche Recht ohne Krafft und Verbindung«131 hebt Seckendorff am Ende jegliche Notwendigkeit auf, ein profanes Naturrecht zu entwickeln. Ein natürliches Recht, das sich der Urheberschaft Gottes verdankt, ohne Gottes Wort erkennbar sein soll, aber ohne die Erkenntnis Gottes als Glaube an die Offenbarung über keine Bindungswirkung verfugt, beweist letztenendes nur, »daß fur den Bekenner der christlichen Religion das Naturrecht überflüssig ist, da es ja nichts anderes als göttliches Recht ist, wie es in der heil. Schrift überliefert ist«.132 Die Voraussetzungen fur die Weiterfuhrung seines Entwurffs im Sinne eines profanen Naturrechts sind nicht mehr gegeben, und so gesehen ist es nur folgerichtig, daß der Versuch abbricht. Möglich wäre aber immerhin noch eine Fortsetzung des Versuchs als Beitrag zu einem christlichen Naturrecht, aber auch daran hat Seckendorff ganz offenkundig kein Interesse. Hatten ihn - nach eigenem Bekunden früher einmal die »Umstände«133 daran gehindert, den Entwurf/ zu vollenden, so verzichtete er darauf, als sich endlich die Gelegenheit dazu bot, und legte - gewissermassen stattdessen - seinen umfangreichen Christen-Stat vor. In den Additiones zum Christen-Stat kommt Seckendorff auf das Naturrechtsproblem noch einmal zu sprechen und bezieht dabei ausdrücklich für die christliche Version des Naturrechts Stellung: er empfiehlt eine vollständige Ableitung des »Jus publicum universale, man heisse es nun naturale oder gentium aus den principiis christianismi«.134 Selbst das, was in diesem Zusammenhang »aus dem licht der natur herkommt« sollte nach den christlichen Prinzipien »examinirt und accomodirt«135 werden. Albertis Compendium juris naturae (1678) hält er dabei für ebenso richtungsweisend wie die 130 131

Vgl. Seckendorff: Entwurff, S. 449. Seckendorff: Entwurff, S. 470.

132 133 134 135

Marchet: Studien über die Entwicklung der Verwaltungslehre, S. 16. Seckendorff: Entwurff, S. 496. Seckendorff: Christen-Stat, Additiones, S. 883. Seckendorff: Christen-Stat, Additiones, S. 884.

34

Arbeiten Boeclers und Caspar Zieglers. 136 Gleichzeitig distanziert er sich vom Naturrecht des »furtrefflich gelehrten und hochberühmten Herr Samuel Pufendorf«, ohne sich allerdings in die »spitzige zänckerey« 137 einlassen zu wollen, die zwischen den Protagonisten des profanen und den Vertretern eines christlichen Naturrechts ausgebrochen war. 138 Obwohl sich Seckendorff insgesamt auf die Seite des christlichen Naturrechts schlägt, schließt er sich in seiner Kritik am profanen Jus naturae doch nicht den Argumenten an, die beispielsweise Alberti ins Feld gefuhrt hatte. Er macht weniger theoretische als vielmehr praktische Rücksichten geltend, deren Dringlichkeit sich von der immer wieder artikulierten Sorge um den Bestand der christlichen Religion nährt. Dabei kommt er Pufendorf theoretisch sogar ein Stück entgegen, wenn er dessen Versuch, das Naturrecht »mit abstraction von denen principiis revelatis« zu entwickeln, »an und für sich nicht verwerffen« 139 will. Dieses erstaunliche theoretische Zugeständnis wird jedoch praktisch sofort wieder neutralisiert: »aber nach meiner einfalt finde ich doch den nutzen, den man aus der separation der natürlichen principiorum, von dem jure divino revelato, oder weil es fast eines, von den zehen geboten, ziehen will so groß nicht, als er sich ansehen läßt«.140 So versucht Seckendorff in einer doppelten Hinsicht die Überflüssigkeit des profanen Naturrechts zu demonstrieren: Im Hinblick auf die Christen ist es unnötig, weil aufgrund der behaupteten inhaltlichen Identität der Zehn Gebote der gesamte Umfang naturrechtlicher Normen bereits im göttlich offenbarten Dekalog enthalten ist, und dieser bedarf weder der Bekräftigung noch einer theoretischen Validierung seines Geltungsgrundes. Und für den Verkehr mit »Türcken und Heyden« - so Seckendorffs schlichtes Argument, das im übrigen bereits formulierte Erkenntnisse wieder zurücknimmt - ist die gelehrte Ausführung eines Naturrechts allein deshalb entbehrlich, weil sie »unsere lateinischen und andere Bücher« nicht lesen. Überdies redet man mit ihnen besser »jure canonico [...], mit geschütz und schwerdt«;141 es sei denn, sie sind zivilisiert 136

Π7

Vgl. Seckendorff: Christen-Stat, Additiones, S. 884. Seckendorff: Christen-Stat, Additiones, S. 884.

138

139 140 141

Tatsächlich hatte Alberti versucht, Seckendorff in den Streit mit Pufendorf zu involvieren und das Gewicht seiner Autorität für die eigene Sache zu nutzen. Siehe: Valentin Alberti: Epistola ad illustrem excellentissimumque Seckendorffium, commentum Samuelis Pufendorf» de Invenusto Veneris Lipsiae pullo refutans. Lipsiae 1688. Das hatte dazu geführt, daß Pufendorf in Seckendorff zeitweilig einen Parteigänger seiner Gegner erkannte und angefangen hatte, seine Polemik auch gegen ihn zu richten. Vgl. Samuel Pufendorf: Eris Scandica qua Adversos Libros De Jure Naturali et Gentium Objecta Diluuntur. Frankfurt am Main 1744. Siehe dazu: Fiammetta Palladini: Discussioni seicentsche su Samuel Pufendorf. Scritti latini: 1663-1700. (Bologna) 1978, S. 251 ff. Seckendorff: Christen-Stat, Additiones, S. 884. Seckendorff: Christen-Stat, Additiones, S. 884. Seckendorff: Christen-Stat, Additiones, S. 885.

35 genug und haben über den Handel die »principia« - wie das »interesse mutuum oder beider theile nutz« - längst »ohne kopffbrechen«, d.h. aus praktischer Übung und nicht aus theoretischem Räsonnement, gelernt. 142 Denn das Räsonnement ist nach Seckendorffs Auffassung vergebens, wenn sich die Einsicht - etwa in das normativ notwendige >interesse mutuum< - nicht qua Praxis von allein ergibt. Bemerkenswert an dieser Stelle ist, daß Seckendorff weder die Existenz noch die Geltung von Normen bestreitet, die ohne den Rekurs auf die christliche Religion Verbindlichkeit besitzen. Als naturrechtliche Normen sollen sie den Christen allerdings nur über die Offenbarung zugänglich sein, während die Heiden aufgrund von praktischen Erfahrungen mit ihnen vertraut sind. Naturrecht manifestiert sich daher entweder vortheoretisch über die Praxis oder jenseits der Theorie über den Glauben. Mit dieser etwas krampfhaften Konstruktion kann Seckendorff dem Naturrecht seine spezifischen Funktionen zugestehen, gleichzeitig aber - und dies dürfte sein eigentliches Anliegen sein - den öffentlichen theoretischen Diskurs über das profane Naturrecht ausschließen. Denn dieses verleitet »zwar wohl wider der autoren intention«143 - »unsere fürwitzige und ie länger ie mehr von Gottes wort eckel habende jugend« sich von den »alten, und ihnen als Christen billich geltenden regulis«144 abzuwenden. Seckendorff befürchtet eine durch das profane Naturrecht mitverursachte und mitgetragene umfassende Säkularisierung des Gemeinwesens, als die frevelhafte Abkehr vom offenbarten Willen Gottes, die zugleich die Ordnung des Gemeinwesens insgesamt in Gefahr bringt. Die religiös inspirierte Schlichtheit seiner Argumente 145 richtet sich zwar in erster Linie gegen das profane Naturrecht, läßt im Grunde genommen aber auch das christliche nicht unberührt. Bei allem Vorzug, den letzteres zweifelsohne genießt, setzt Seckendorff gegen die nur Zank und Unfrieden verursachenden Spitzfindigkeiten der Theorie, wohl ganz in pietistischem Geist, die Einfalt unmittelbarer Frömmigkeit, die unbeirrt und glaubensstark an der Geltung des Dekalogs festhält und in ihm ihr fragloses Genügen findet. So begeht eigentlich schon das christliche Naturrecht den Fehler, theoretisch zur Disposition zu stellen, was als Glaubensgewißheit keiner Diskussion bedürfen sollte.

142 143 144 145

Seckendorff: Christen-Stat, Additiones, S. 885. Seckendorff: Christen-Stat, Additiones, S. 885. Seckendorff: Christen-Stat, Additiones, S. 885. Zu Recht macht Döring darauf aufmerksam, daß Seckendorffs Kampf gegen den Spiritualismus einerseits und die moderne Philosophie andererseits immer im Namen einer bedrohten, doch einzig gedeihlichen >Simplicitas des Glaubens< geschieht. Döring: Untersuchungen zur Entstehung des >ChristenstaatesPhilosophia Christiana< die theoretische Begründung eines christlichen Naturrechts, das eine rechtstheologisch und rechtsphilosophisch einwandfreie Norm für einen christlichen Staat bieten sollte. War Seckendorff vorwiegend auf eine praktische Perspektive festgelegt, so verfolgt Alberti umgekehrt eher theoretische Interessen, so daß sich beide als Fürsprecher eines christlichen Gemeinwesens in gewisser Weise ergänzen. Da beide Autoren positiv aufeinander verweisen, liegt es nahe, das Werk des einen als Gegenstück zum Werk des anderen zu lesen und etwa die theoretischen Defizite des Praktikers Seckendorff durch die philosophisch-theologischen Arbeiten des Theoretikers Alberti kompensiert zu sehen. Die theoretische Nähe, die beide Autoren in ihrem Kampf gegen die enttheologisierenden Tendenzen ihrer Zeit zueinander gewonnen haben, darf jedoch nicht über grundlegende Differenzen ihrer Werke hinwegtäuschen. Die Radikalität, die Albertis staatstheoretische Überlegungen kennzeichnet, ist wohl nicht zuletzt auf die Abstraktheit zurückführbar, in der dem Theoretiker Alberti praktisch-politische Probleme allein zugänglich waren - den politischen Praktiker Seckendorff dürfte sie wohl eher befremdet haben. Als Theologe und Philosoph war Valentin Alberti mit der theoretischen Bearbeitung praktisch-politischer Probleme nicht gerade vertraut. Sein Beitrag zu einer Theorie des Staates beschränkt sich daher auch auf die theologisch-philosophische Begründung von dessen grundlegenden Normen. Das führte ihn aber immerhin zu einer theologisch akzentuierten Anthropologie und einer ebenfalls aus theologischen Quellen geschöpften Theorie des Naturzustands, die als christliche Alternative zu den profanen - in Albertis Augen atheistischen - Modellen von Thomas Hobbes und Samuel Pufendorf in Stellung gebracht wird. Damit befindet sich Alberti aus einem christlich-konservativen Impuls heraus inmitten einer Diskussion, die eine neue Epoche einleiten sollte. In bezug auf staatstheoretische Fragen im engeren Sinn kommt er allerdings nicht über das hinaus, was in der lutherischen Orthodoxie seiner Zeit üblich war. Im Vordergrund stehen Probleme der Souveränitätstheorie, die nicht nur im Compendium, sondern auch in einer bereits 1673 erschienenen Schülerarbeit

146

Valentin Alberti: Compendium Juris Naturae, Orthodoxae Theologiae conformatum et in duas partes distributum. Leipzig 1678. Eine zweite, überarbeitete und mit Anhängen versehene Auflage erschien 1696.

37 von Georg Abraham von Colhas - De Temperamente) Regiminis in RepublicaH1 - in Anknüpfung an die tradierte Vorstellung eines institutionellen Gottesgnadentums bearbeitet werden, indem versucht wird, die höchste Gewalt als >immediate a Deo< zu begründen.148 Überblickt man die Schriften Valentin Albertis, 149 dann entsteht der Eindruck eines eher reaktiven als originären Werkes, das mehr und mehr defensiv und durchaus mit polemischer Schärfe die lutherische Theologie und das lutherische Bekenntnis gegen äußere und innere Einsprüche zu sichern bestrebt ist. Albertis Werk scheint zu einem wesentlichen Teil aus einer vierfachen Frontstellung entstanden zu sein: es ist ebensowohl gegen den Katholizismus 150 und den Calvinismus 151 als auch gegen den Pietismus 152 und schließlich gegen das profane Naturrecht gerichtet. 153 Vor allem die beiden letztgenannten Schauplätze theoretischer Auseinandersetzungen machen deutlich, daß Valentin Alberti - freilich aus historischer Perspektive und für ihn selbst wohl kaum einsehbar - als einer der letzten Vertreter einer zuendegehenden Epoche angesehen werden muß, der im Grunde nur noch Nachhutgefechte austragen kann. Denn Alberti versteht sich selbst als Repräsentant der lutherischen Orthodoxie, die durch die beginnende Aufklärung und durch den Pietismus ihre ehemalige philosophische und theologi-

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Valentin Alberti: De Temperamento Regiminis in Republica. [Resp.: Georgius Abrahamus de Colhas], Leipzig 1673. Auch eine weitere Schülerarbeit ist auf eine souveränitätstheoretische Fragestellung zugeschnitten: Disputatio politica de Regalibus erga subditos, juste exercendis. [Resp.: Godofredus Tilich], Leipzig 1671. 149 Siehe dazu ausführlicher unten 1.2.2.3. Siehe die immerhin 73 selbständige Titel aufführende Bibliographie in: Johann Christoph Adelung: Fortsetzung und Ergänzungen zu Christian Gottlieb Jöchers allgemeinem Gelehrten-Lexico, worin die Schriftsteller aller Stände nach ihren vornehmsten Lebensumständen und Schriften beschrieben werden. Erster Band. Leipzig 1784. Sp. 441-444. Sowie die 83 Titel umfassende Bibliographie in: Gottlieb Friedrich Otto: Lexikon der [...] Oberlausizischen Schriftsteller und Künstler. Band 1. 1800. Vgl. dazu beispielsweise Valentin Alberti: Gegen-Erweisung, daß die Lutheraner in Schlesien in keinem Stücke von der Augsburgischen Religion abgefallen sind. Leipzig 1671. Oder: Ders.: Bedenken über zwölf papistische Religions-Fragen, welche vor wenig Jahren zu Wien und Leutsch in öffentlichen Druck heraus gegeben worden. Leipzig 1693. 151 Vgl. etwa Valentin Alberti: Interesse praeeipuarum religionem Christianarum in omnibus articulis deduetum. Leipzig 1681. Nach den Angaben von Adelung erschienen bis 1729 insgesamt fünf Auflagen des lateinischen Originals, die deutsche Übersetzung dieses theologischen Hauptwerkes von Alberti wurde immerhin zweimal (1686 und 1708) auf152 gelegt. Vgl. z.B. Valentin Alberti: Vindicae exegeticae dicti Ιο. II. Leipzig 1695. Sowie ders.: Ausführliche Gegenantwort auf Speners so genannte gründliche V e r t e i d i g u n g seiner und 153 der Pietisten Unschuld. Leipzig 1696. Vgl. dazu Ernst-Dietrich Osterhörn: Die Naturrechtslehre Valentin Albertis. Ein Beitrag zum Rechtsdenken der lutherischen Orthodoxie des 17. Jahrhunderts. Diss. Freiburg im Breisgau 1962. S. 14-29.

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sehe Bedeutung zusehends einbüßte. Als orthodoxer Theologe steht er in der Tradition einer theologischen Lehre, deren Selbstbezeichnung schon die Akzentuierung von Einheit und Geschlossenheit im geglaubten Bewußtsein der Richtigkeit markiert, was wiederum den Ausschluß von allem impliziert, das heterodox oder häretisch der rechten Lehre zu widersprechen wagt. Historisch hängt die Ausbildung der Orthodoxie schon äußerlich mit der Notwendigkeit zusammen, die staatliche Anerkennung der lutherischen Konfessionskirche auch intern durch ein möglichst einheitliches Lehrgebäude zu sichern.154 Trotz der damit verbundenen vor allem dogmatisch-systematischen Leistungen auf dem Gebiet der Theologie, setzte sich die Orthodoxie engagiert für eine umfassende »Erziehung zum Glauben und zur christlichen Lebensgestaltung im Sinne des Evangeliums«155 ein. Dabei hielt sie an der lutherischen Vorstellung vom Heil als göttlicher Gnade fest: »Heilsgeschichtliche Frömmigkeit im Gegensatz zu jeder Art von Religiosität, die sich durch eigenes Tun das Heil verschaffen zu können glaubt, - eine Religiosität, die vielmehr in Demut Gottes Heilstaten annimmt und in Geduld auf Gottes Eingreifen vom Himmel her wartet, aber der Güte Gottes, der Vergebung und ewigen Seligkeit in der leidvollen Gegenwart unbedingt sicher ist, wird man als den Kern der orthodoxen Frömmigkeit bezeichnen können«.156 Vor allem in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts kommt es in der Auseinandersetzung mit Hobbes und Spinoza zu einem verstärkten Kampf gegen den Atheismus.157 In diesem Kontext ist auch Albertis Compendium zu lesen. Mit der ausdrücklichen Unterstützung von Caspar Ziegler und seinem Lehrer Jacob Thomasius tritt Valentin Alberti an, um auf naturrechtlichem Gebiet dem vor allem mit Hobbes identifizierten Einfall des Atheismus zu wehren und die Sache Gottes gegen den Betrug des Teufels zu verteidigen.158

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Vgl. Leopold Zscharnack: Art. Orthodoxie. In: Friedrich Michael Schiele und Leopold Zscharnack: Die Religion in Geschichte und Gegenwart. Band 4. Tübingen 1913. Sp. 1056. Jörg Baur und Walter Sparn: Art. Orthodoxie. In: Erwin Fahlbusch u.a. (Hrsg.): Evangelisches Kirchenlexikon. Internationale theologische Enzyklopädie. Band 3. Göttingen 1993. Sp. 955. Vgl. auch Hans Leube: Die Theologen und das Kirchenvolk im Zeitalter der Orthodoxie (1924). In: Ders.: Orthodoxie und Pietismus. Herausgegeben von Dietrich Blaufuß. Bielefeld 1975. Besonders S. 5 9 - 6 8 . Zscharnack: Art. Orthodoxie, Sp. 1066f. Vgl. Hans Leube: Die Bekämpfung des Atheismus in der deutschen lutherischen Kirche des 17. Jahrhunderts (1924). In: Ders.: Orthodoxie und Pietismus, S. 83. Vgl. den im Compendium abgedruckten Brief von Jacob Thomasius an Valentin Alberti vom 14. April 1676, es heißt dort: »Perge porro veritati adversus tetemmos errores patrocinari, hoc est, causam Dei adversus imposturas diaboli defendere.« In: Alberti: Compendium, [S. 8],

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2.1. Die >philosophia christians: Verbindung von Philosophie und Theologie »Fons nimirum e quo a Christianis pura Juris Naturalis notitia hauriri potest ac debet, est orthodoxa Doctrina de statu integritatis.«159 Aus der damit von Alberti bezeichneten Quelle ist das Naturrecht mit den alleinigen Mitteln einer auf dem lumen naturale beruhenden Philosophie nicht zu schöpfen. Das war auch nicht sein Anliegen - ganz im Gegenteil: Albertis erklärtes Ziel war ein explizit christliches Naturrecht als Gegenmodell zu einem profanen, ausschließlich auf der Vernunft basierten Naturrecht. Und christlich sollte sein jus naturae nicht etwa deswegen sein, weil es in letzter Instanz als Schöpfung Gottes gilt oder weil seine Bestimmungen inhaltlich mit dem christlich ausgelegten Dekalog kompatibel sind, sondern das von Alberti vorgelegte Naturrecht sollte vielmehr christlich sein, weil sein Realgrund, sein Geltungsgrund und sein Erkenntnisgrund Gott selbst ist, weil die Erkenntnis des Naturrechts seinen Voraussetzungen nach nur über die Offenbarung, und das heißt nur mit der Hilfe der Theologie, möglich ist. Dabei will Alberti - zumindest seinem Anspruch nach, es mag dahingestellt bleiben, ob er ihm gerecht wird - dem profanen Naturrecht nicht einfach eine theologische Version entgegenhalten. Sein jus naturale ist zwar insofern theologisch, als seine Normen aus dem nur theologisch - d.h. per revelationem - perzipierbaren status integritatis abgleitet werden, es ist aber auch philosophisch, weil Alberti die translatio »e statu integritatis in corruptum« als »dictatum rectae rationis« 160 begreift. Die für die theoretische Bearbeitung des Naturrechts notwendige Verbindung von Theologie und Philosophie soll in der Form einer »philosophia Christiana« geleistet werden. Diese sollte nach dem Willen Albertis eben nicht jener »unförmliche Mischmasch« sein, als den Christian Thomasius die anvisierte Verknüpfung von Philosophie und Theologie später immer wieder denunzierte. 161 Vielmehr war an eine >förmlichenatürlichen< Erkenntnis andererseits feststellbar ist. So hält Alberti seinem Kontrahenten Pufendorf als ein entscheidendes Argument denn auch vor, daß die Voraussetzungen seiner Theorie nicht auf Fakten, sondern auf Erfindungen beruhen.170 Indem Pufendorf auf die Offenbarung als Erkenntnisquelle verzichtet und sich nur auf das lumen naturale verläßt, verschafft er seiner Theorie nach Auffassung von Alberti - unweigerlich falsche Voraussetzungen, die selbst wiederum zu falschen Schlüssen führen, »quoniam falsum quidem semper necesse est ex falsi concludi«.171 Dieser privilegierte Wahrheitswert der Offenbarung bringt es mit sich, daß es dem christlichen Philosophen untersagt ist, etwas zu fingieren, was der Offenbarung widerspricht: »Nos tarnen Lutherani adsueti sumus ad fmgendum nihil (ne in Philosophia quidem, quia Christiani esse debet,) cujus contrarium a Deo ipse revelatum est«.172 In der Dissertatio de Jure Naturali Paradisiaco, die 1695 Albertis Sohn Christian Gottfried als Schüler seines Vaters vorgelegt hat, wird dies noch einmal apodiktisch bekräftigt: »Canon Philosophiae Christianae est: 169

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»Fons nimirum, e quo a Christianis pura Juris Naturalis notitia hauriri potest ac debet, est orthodoxa Doctrina de statu integritatis.« Alberti: Compendium, 1,1,§14, siehe auch 1,1, §20f. sowie Vorrede, S. 3. Vgl. Alberti: Compendium, 1,1,§27. Alberti: Compendium, 1,1,§28. Alberti: Compendium, 1,1,§28.

42 Cujus contrarium est revelatum, illud nec ponendum est, nec praesupponendum«. 173 Obwohl es mit Blick auf die beiden angeführten Textstellen den Anschein hat, als ginge es Alberti lediglich darum, einen Widerspruch zwischen Vernunft und Offenbarung auszuschließen, macht die Konstruktion eines christlichen Naturrechts deutlich, daß Albertis Intentionen doch weiter ausgreifen und darauf zielen, die bestimmende Funktion der Theologie sicherzustellen. Alberti gibt sich daher nicht damit zufrieden, die Übereinstimmung philosophischer Erkenntnis mit der Offenbarung als ein quasi sekundär greifendes Wahrheitskriterium zu handhaben, mit dessen Hilfe die in einem ersten Schritt gewonnene philosophische Erkenntnis in einem zweiten Schritt über den Vergleich mit der Offenbarung auf ihren Wahrheitsgehalt überprüft wird. Eine solchermaßen festgestellte Diskonvenienz könnte zwar die Unrichtigkeit der behaupteten philosophischen Erkenntnis erweisen, umgekehrt aber ließe sich mit der Hilfe einer konstatierten Konvenienz lediglich die theologische Möglichkeit, nicht aber die positive philosophische Richtigkeit beweisen. Alberti will daher die Offenbarung sofort und nicht erst im nachhinein, und zwar positiv und nicht nur negativ in den Prozeß der unmittelbaren Erkenntnisproduktion einbringen. Auf diese Weise soll durch die Verbindung von Theologie und Philosophie ein höchstmögliches Maß an Erkenntnissicherheit gewährleistet werden. Nur die Ableitung des Naturrechts aus dem offenbarungstheologisch perzipierbaren status integritatis kann gegenüber allen nicht-christlichen Modellen - heidnischen wie profanen oder gar atheistischen - in Anspruch nehmen, als Ausdruck des göttlichen Willens im vollen Sinne wahr zu sein.174 Hält man sich die Funktionen vor Augen, die der Philosophie als ancilla Theologiae üblicherweise von der (orthodoxen) Theologie zugewiesen werden, 175 dann liegt mit der von Alberti vorgeschlagenen Verbindung von Theologie und Philosophie eine Konstruktion vor, die in gewisser Weise 173

Valentin Alberti: Dissertatio e Philosophia Christiana de Jure Naturali Paradisiaco. [Resp.: Christianus Gottfried Alberti] Leipzig 1695, Epimetron.

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Siehe dazu auch Osterhörn: Die Naturrechtslehre Valentin Albertis, S. 35. Walter Sparn konstatiert auf der Grundlage von Balthasar Meisner, Johann Gerhard und Jacob Martini drei Funktionen der Magdformel: »Positiv besagt die Formel, daß die Theologie nützlicher- und notwendigerweise erstens die Instrumentaldisziplinen Grammatik, Rhetorik und Logik für die Analyse theologischer Texte und den Aufbau theologischer Diskurse, sowie alle Realdisziplinen für die Erklärung der biblischen Realien, also in der

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genauen Exegese in Gebrauch nimmt (usus organicus); zweitens sich der philosophischen Disziplinen für das Verständnis der in der Schrift und der Kirche gebräuchlichen philosophischen Begriffe bedient; drittens den sekundär unterstützenden philosophischen Beweis der eigenen und die Widerlegung der gegnerischen dogmatischen Aussage in ihre Elenchtik aufnimmt (usus kataskeuasticus resp. anaskeuasticus).« Sparn: Wiederkehr der Metaphysik. Stuttgart 1976, S. 15.

43 über das gängige Modell hinauszuweisen scheint. Philosophie wird hier nicht als bloßer habitus Instrumentalis eingeführt, der sie bei Alberti zweifellos auch ist, sondern ihr wird eine gewisse Eigenständigkeit konzediert, mit der sie - wie im Falle des Naturrechts - in der Lage ist, Leistungen der Theologie in Anspruch zu nehmen: die Philosophie entnimmt der Theologie ihre Voraussetzungen, um sie dann mit den Mitteln der recta ratio zu weiterer - dann eben philosophischer - Erkenntnis zu verarbeiten. Albertis Naturrecht ist, wie der vollständige Titel seines Compendiums anzeigt, nach der orthodoxen Theologie gestaltet, ohne aber in ihr aufzugehen. Es ist als eine philosophische Theorie konzipiert, die sich ihrer theologischen Grundlagen versichert hat und daher nicht als bloß profane Theorie angesprochen werden kann. Ungewöhnlich - womöglich neu - ist der Perspektivenwechsel: Theologie wird hier aus einem Blickwinkel gesehen und beansprucht, der von den theoretischen Bedürfnissen der Philosophie her definiert wird. Freilich kann der theologische Anteil an der Hervorbringung philosophischer Erkenntnisse seinerseits nicht auf eine instrumentale Funktion reduziert werden. Denn die der Theologie entliehenen Hypothesen stellen der Philosophie nicht bloß das richtige Material zur Verfügung, sondern legen zugleich den Erkenntnisrahmen fest, innerhalb dessen sich die Philosophie bewegen darf. So ist etwa ausgeschlossen, daß sich die Thesen der Philosophie inhaltlich gegen den Gehalt ihrer theologischen Voraussetzungen wenden. Damit ist die Dominanz der Theologie wieder gesichert. Genau in dem Sinne stellt Valentin Alberti fest, daß die philosophia Christiana mit Blick auf das Naturrecht die menschliche recta ratio nicht excludiert, wohl aber dem Wort Gottes unterordnet. 176

2.2. Ius Naturae e statu integritatis Albertis Versuch, das Naturrecht mit der Hilfe theologischer Praesuppositionen aus dem status integritatis herzuleiten, bezieht sich negativ kritisch auf alle Bemühungen, die eine Naturrechtstheorie unter Zuhilfenahme eines säkularen Naturzustands entwickeln. Den fingierten und in Widerspruch zur Offenbarung stehenden profanen Naturzustandsmodellen von Thomas Hobbes und Samuel Pufendorf setzt Alberti eine in seinen Augen wahre, weil offenbarungstheologisch verbürgte und legitimierte Version entgegen. Der status naturalis wird bei Alberti durch den biblischen status integritatis ersetzt, wobei allerdings die theorietechnischen Funktionen des ersteren weitgehend erhalten bleiben. Um später die Besonderheiten des christlichen

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Alberti: Compendium, I,3Ȥ45.

44 Naturzustandes von Valentin Alberti genauer herausarbeiten zu können, scheint es sinnvoll, bereits an dieser Stelle die prinzipiellen theoretischen Aufgaben des vor allem als profane Theorie tradierten Naturzustandsmodell kurz zu vergegenwärtigen. 2 . 2 . 1 . EXKURS.·

Das Naturzustandstheorem als »analytisch-normatives Modell« Die an sich alte Vorstellung von einem Naturzustand177 ist selbst noch in ihren neuzeitlichen und aufklärerischen Ausprägungen variantenreich und erfüllt dementsprechend je nach Theoriekontext ganz unterschiedliche Funktionen. Allen Naturzustandskonzepten gemeinsam ist jedoch ihre prinzipielle Funktion als »analytisch-normative Basis der politischen Theorie«:178 der Naturzustand fungiert in bezug auf den status civilis als kontrastives Modell, mit dessen Hilfe die grundlegenden Kategorien zur Analyse und zur theoretischen Konstruktion staatlicher bzw. gesellschaftlicher Verhältnisse entwickelt werden. Was der Staat als eine Art Negation des Naturzustandes notwendig zu leisten hat, ergibt sich so - in der Regel - ex negativo aus den beschriebenen Verhältnissen des Naturzustands. Dabei dürften sich diese Ableitungen ein Stückweit als zirkulär erweisen, verdankt sich doch die Konstruktion des Naturzustandes nicht zuletzt wiederum selbst der Negation der bestehenden und erlebten gesellschaftlichen Gegebenheiten. Die in diesem Sinn vielleicht weitestgehende Negation findet sich in Rousseaus Diskurs über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen, es heißt dort: »Ziehen wir den Schluß, daß der wilde Mensch ohne Kunstfleiß, ohne Sprache, ohne Wohnsitz, ohne Krieg und ohne Verbindung, ohne jedes Bedürfnis nach seinen Mitmenschen wie auch ohne jedes Verlangen, ihnen zu schaden, vielleicht sogar ohne jemals einen von ihnen individuell wiederzuerkennen, in den Wäldern umherschweifend, wenigen Leidenschaften unterworfen und sich selbst genug, nur die Gefühle und die Einsicht hatte, die für jenen Zustand geeignet waren; daß er nur seine wahren Bedürfnisse fühlte, nur das sah, was zu sehen er ein Interesse zu haben glaubte, und daß seine Intelligenz nicht mehr Fortschritte machte als seine Eitelkeit.«179 So beruht die mit Hilfe des Naturzustands177 Vgl. dazu etwa Hans Medick: Naturzustand und Naturgeschichte der bürgerlichen Gesellschaft. Göttingen 1973, S. 31 if. und Hasso Hofmann: Zur Lehre vom Naturzustand in der Rechtsphilosophie der Aufklärung. In: Ders.: Recht, Politik, Verfassung. Frankfurt am 178 Main 1986, S. 93ff. Medick: Naturzustand und Naturgeschichte, S. 31. 179 Jean-Jacques Rousseau: Diskurs über die Ungleichheit. Discours sur l'inögalitd. Kritische Ausgabe des integralen Textes. Neu ediert, übersetzt und kommentiert von Heinrich Meier. 3. Auflage. Paderborn, München, Wien, Zürich 1993, S. 161. Vgl. aber auch Crawford Β. Macpherson, der im Hinblick auf Hobbes konstatiert: »Hobbes' Bild vom reinen Natur-

45 theorems jeweils entwickelte politische Theorie überwiegend auf einer doppelten Negation, die allerdings aufgrund von normativen Entscheidungen und der Absicht, staatliche Verhältnisse zu verbessern, nicht zur Reproduktion des ursprünglichen status quo führte. Der Versuch, den Menschen jenseits seiner im status civilis realisierten Bedingungen und Beziehungen zu denken, blieb aber auch noch in anderer Hinsicht den jeweils gegebenen Verhältnissen verhaftet. So zeigt sich etwa, daß die »Vorstellung des staatsfreien Naturzustands ursprünglicher menschlicher Freiheit und rechtlicher Gleichheit«180 im Grunde Praxisformen sichtbar macht, die auf die »frühbürgerliche Markt- und Handelsgesellschaft«181 verweisen. Auf diesen Zusammenhang hat bereits Karl Marx in einem ursprünglich als Einleitung zu den Grundrissen der Kritik der politischen Ökonomie konzipierten, tatsächlich von ihm selbst jedoch nicht veröffentlichten Manuskript hingewiesen. Marx notierte: »Der einzelne und vereinzelte Jäger und Fischer, womit Smith und Ricardo beginnen, gehört zu den phantasielosen Einbildungen des 18. Jahrhunderts. Robinsonaden, die keineswegs, wie Kulturhistoriker sich einbilden, bloß einen Rückschlag gegen Überfeinerung und Rückkehr zu einem mißverstandenen Naturleben ausdrücken. [...] Dieser Schein und nur der ästhetische Schein der kleinen und großen Robinsonaden. Es ist vielmehr die Vorwegnahme der »bürgerlichen Gesellschaft, die seit dem 16. Jahrhundert sich vorbereitete und im 18. Riesenschritte zu ihrer Reife machte. In dieser Gesellschaft der freien Konkurrenz erscheint der einzelne losgelöst von den Naturbanden usw., die ihn in früheren Geschichtsepochen zum Zubehör eines bestimmten, begrenzten menschlichen Konglomerats machen.«182 Aus dieser Perspektive kann Medick mit einigem Recht behaupten, in der Vorstellung vom status naturalis reflektiere sich die bürgerliche Gesellschaft zum ersten Male selbst183 - auch wenn Medick die Reichweite dieser Reflexion zweifellos überschätzt.184 Die Vorstellungen vom Naturzustand werden in die einzelnen politischen Theorien normativ eingebracht. Der Modus dieser normativen Funk-

zustand ist ganz eindeutig die Negation der zivilisierten Gesellschaft: keine Industrie, keine Kultivierung des Landes, keine Schiffahrt, keine Architektur, keine Künste, keine Wissenschaften, kein gesellschaftlicher Umgang, nur >das menschliche Leben, einsam, armselig, häßlich, roh und kurzGrundrissen der Kritik der politischen Ökonomien M E W 183 42. Berlin 1983, S. 19. Vgl. Medick: Naturzustand und Naturgeschichte, S. 33. 184 Vgl. etwa die Ausführungen Hans Medicks zur angeblichen »fundamentalkritischen Funktion« des Naturzustandskonzepts von Hobbes. S. 35. 181

46 tionalisierung - der Naturzustand als Kontrastfolie in negativer oder positiver Wertungsperspektive - ergibt sich bereits aus der inhaltlichen Beschreibung des status naturalis. Die Ansätze von Thomas Hobbes, John Locke und Jean-Jacques Rousseau lassen sich als klassische Paradigmen begreifen, die für die Problematisierung und Diskussion anderer Naturzustandsvorstellungen, vor allem im Hinblick auf ihre normativen Leistungen, als Folie herangezogen werden können. Während bei Hobbes der als Krieg aller gegen alle gekennzeichnete Naturzustand 185 im status civilis durch die souveräne Gewalt vollständig liquidiert werden soll,186 der Naturzustand also normativ als Negativfolie fungiert, erscheint bei Locke der status naturalis als ein im Grunde idealer Zustand von Freiheit und Rechtsgleichheit, dessen Defizite - vor allem an Sicherheit - der Staat kompensieren soll. Daher geht es im status civilis nur um die »organisatorische Sicherung der natürlichen Rechtsform der Gesellschaft im Naturzustand«. 187 Der Naturzustand bei Locke erweist sich insofern als »doppeldeutig«: 188 einerseits fungiert er als normatives Ideal, andererseits ist er zur Realisierung seiner Vorzüge aufgrund seiner Defizite dringend auf die Sicherungsleistungen des Staates angewiesen, die wiederum aus der Perspektive des Naturzustandes beurteilbar sind. 189 Dagegen gilt in der Konstruktion Rousseaus der status naturalis als ein Zustand, »der für den Frieden und für das menschliche Geschlecht am geeignetsten ist«.190 Rousseau stellt den Wilden des »reinen Naturzustands« 191 als selbstgenügsame Kreatur vor, die »keine Fertigkeit, keine Sprache, keinen Wohnsitz, keinen Krieg« kennt und ohne stabilen Kontakt zu seinesgleichen seinen »wahren Bedürfhissen« entsprechend lebt.192 Die-

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Vgl. Hobbes: Leviathan, S. 115.

Vgl. Jürgen Habermas: Naturrecht und Revolution. In: Ders.. Theorie und Praxis. Neu187 wied und Berlin 1963, S. 68. Hofmann: Zur Naturzustandslehre, S. 106. Siehe auch Habermas: Naturrecht und Revolution, S. 68 und Medick: Naturzustand und Naturgeschichte, S. 108ff. 188 Macpherson: Besitzindividualismus, S. 268. ICQ Vgl. rHofmann: Zur Naturzustandslehre, S. 106. 190 Rousseau: Ungleichheit, S. 148. 191 Rousseau: Ungleichheit, S. 140. 192 Rousseau: Ungleichheit, S. 156. Rousseau kennt offensichtlich drei verschiedene Phasen des Naturzustandes, deren letzte als »schrecklicher Kriegszustand« (S. 176) zweifellos Parallelen zu Hobbes' Krieg aller gegen alle aufweist. Ihm voraus geht neben dem kurz skizziert »reinen Naturzustand« eine mittlere Phase, die durch einfache Formen der Geselligkeit und durch frühe Formen des Eigentums gekennzeichnet ist und von Rousseau - offenbar in gewisser Anlehnung an Lockes Vorstellung vom »Goldenen Zeitalter« (Locke: 2. Abhandlung, §111) - als glücklichste Epoche der Menschheit aufgefaßt wird: »Obwohl die Menschen jetzt schon weniger geduldig waren und das natürliche Mitleid gewisse Veränderungen erfahren hatte, muß doch diese Zeit der Entwicklung der menschlichen Fähigkeiten die glücklichste und beständigste Epoche gewesen sein, denn sie hält zwi-

47 sen säkularisierten Paradiesvorstellungen gegenüber ist bereits jeder gesellige und erst recht jeder politische oder staatlich organisierte Zustand als Degeneration prinzipiell unterlegen. Der von Rousseau als Entwicklung dargestellte Prozeß vom unentfremdeten Naturzustand zum entfremdeten Zivilzustand ist allerdings irreversibel. So fungiert der Naturzustand als normatives Ideal, ohne realisierbar zu sein; seine normative Wirksamkeit bleibt indes insofern erhalten, als ein Staat in Kenntnis dieser von Rousseau ausgeführten Zusammenhänge so eingerichtet werden muß, daß er den Naturgesetzen am nächsten kommt.193 Als Modell ist das Naturzustandstheorem vor allem in der Lage, bestimmte, für die Staatsphilosophie fruchtbarzumachende Annahmen und Kategorien zu diskutieren, zu veranschaulichen und plausibel zu machen.194 Sachlich ist das Theorem im Grunde entweder selbst eigentlich eine Anthropologie oder es muß auf einer anthropologischen Basis fußen. Daß die »Wissenschaft des Naturzustands«, von der Habermas spricht,195 tatsächlich eine > Wissenschaft vom Menschen< ist, belegen die klassischen Autoren der Naturzustandstheorie zum Teil selbst. So will Rousseau seine Abhandlung über den Ursprung und die Grundlage der Ungleichheit unter den Menschen explizit als Beitrag zur »Wissenschaft vom Menschen« verstanden wissen196 und Hobbes überschreibt sein >NaturzustandsContrat social< verheißt«. Siehe die ähnliche Auffassung Walter Euchners in »Naturrecht und Politik bei John

195 Locke«, Frankfurt am Main 1969, S. 25. Vgl. Habermas: Naturrecht und Revolution, S. 78. 196 Rousseau: Ungleichheit, S. 112, vgl. S. 120. Hobbes: Leviathan, S. 112. 198 Siehe dazu auch Macpherson: Besitzindividualismus, S. 38.

48 Gewalt und die Begründung des Zwangsmoments des Rechts, 199 über Naturrechtstheorien und über die mit ihr verbundenen Anthropologien eingebracht werden konnten und tatsächlich auch eingebracht wurden. Eine gewisse Vernachlässigung des Naturzustandstheorems beginnt - wie zu zeigen sein wird - immerhin bereits bei Christian Thomasius und setzt sich auch bei Wolff noch fort. 200 Während Kant unter anderen theoretischen Voraussetzungen wieder explizit an der Dichotomie von status naturalis und status civilis anknüpft, 201 spielt sie bei Hegel aber wieder keine Rolle mehr. 2.2.2. Konstruktionsprobleme eines christlichen Naturrechts Albertis Anspruch, das Naturrecht im Rückgriff auf den status integritatis zu rekonstruieren, wird mit einer Überlegung legitimiert, die gerade auf dem Hintergrund des lutherischen Sündenbewußtseins durchaus einen Anschein von Plausibilität aufweist. Wenn das Naturrecht seiner Dignität wegen als ein vollkommenes Normensystem aufgefaßt werden muß, es gleichzeitig aber als Naturrecht von der Natur des Menschen abgeleitet wird, dann muß die Natur des Menschen, insofern es die Ableitungsbasis eines vollkommenen Normensystems abgeben soll, selbst als vollkommen vorgestellt werden. Vollkommen aber war die Natur des Menschen nur unmittelbar nach seiner Schöpfung als gottesebenbildliches Wesen und nur bis zum Sündenfall. Alberti schließt daraus, daß allein die Natur des homo integer im status perfectus zur Ableitungsbasis des Ius naturae herangezogen werden kann, 202 denn der nach lutherischer Vorstellung durch und durch sündige Mensch des status corruptus kann als gefallene Kreatur unter den gegebenen bzw. angenommenen theoretischen Voraussetzungen sinnvollerweise kaum als normativer Maßstab in Frage kommen. 203 199 Vgl. Hofmann: Zur Naturzustandslehre, S. 108ff. An die Stelle einer Naturzustandsbeschreibung ist bei Christian Wolff eine naturrechtliche Pflichtenlehre getreten, die bestimmt, daß der Mensch verbunden ist, »mit seinem Vermögen, seiner Arbeit und seinem Exempel vielfältig zu dienen. [...] Da er nun dieser Verbindlichkeit kein GnUgen thun kan, wenn er vor sich allein in der Einsamkeit seinen eigenen Zustand nicht so vollkommen machen kan, als wenn er unter andern Menschen lebet, den er doch so vollkommen zu machen verbunden, als nur immer möglich ist: so darff er nicht vor sich wie die Thiere von andern Menschen abgesondert leben.« Christian Wolff: 201 Deutsche Politik, §1. Vgl. Immanuel Kant: Metaphysik der Sitten, A 155f., A 162f.; siehe dazu Wolfgang Kersting: Wohlgeordnete Freiheit. Berlin, N e w York 1984, S. 1 9 9 - 2 1 5 . 202 »Assertio unica: in homine integro fuit omnino jus naturale.« Alberti: De Jure Naturali Paradisiaco, §5. 203 Vgl. Alberti: Compendium, Vorrede, S. 5. Auf diese Weise wird mit letztlich theologischen Mitteln die Seins-Sollens-Metabasis umgangen, die später beispielsweise von David Hume dem profanen Naturrecht vorgeworfen wurde. Ironischerweise markiert die Tatsache, daß dieser Vorwurf Uberhaupt erhoben werden konnte, den theoretischen Fortschritt, den das profane Naturrecht gegenüber seiner christlichen Version darstellt. Daß die Ver-

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49 Mit seinem Rekurs auf den Unschuldsstand knüpft Valentin Alberti an theologische Naturrechtsbegründungen an, die in Ansätzen bereits von der Patristik entwickelt worden waren und seither immer wieder in der Diskussion auftauchten.204 Zuletzt hatte der Jurist David Mevius in seinem Prodromus jurisprudentiae gentium communis205 von 1671 das Integritätsprinzip stark gemacht. Zustimmend zitiert Alberti: »Naturam hic accipiendam, non ut per corruptam progeniem et improbos mores nunc depravata est, sed quae primitus concreata est integra ac incorrupta. [...] Unice quod humanae est naturae, ut Deus condidit, et servatam, aut, postquam corruptela invasit, reparatam voluit, inquirendum, inspiciendum, omni alii considerationi pro fundamento substituendum esse.«206 Allerdings geht Alberti über die Konzepte seiner Vorgänger hinaus, indem er stärker die quasi ontologische Differenz zwischen dem homo integer und dem homo corruptus berücksichtigt und das Normierungspotential des Unschuldsstandes aus der Perspektive der Normierungsbedürfnisse des Sündenstandes rekonstruiert. Der status integritatis und der status corruptus werden in dieser normativen Perspektive einander nicht abstrakt gegenübergestellt, sondern vielmehr konstruktiv aufeinander bezogen. Denn um zu gewährleisten, daß die Normen des Unschuldsstandes unter den völlig veränderten Gegebenheiten und Bedingungen des Sündenstandes auch tatsächlich greifen, kann das Normensystem des Paradieses nicht ohne weiteres auf die Verhältnisse des Sündenstandes übertragen werden. Dabei will Alberti freilich nicht in Frage stellen, daß der status integritatis als die normierende Instanz das Prinzip des Naturrechts liefert, während andererseits der status corruptus als normierter Bereich das Objekt des Naturrechts darstellt.207 Und Albertis Bemühen, in seiner am Integritätsprinzip orientierten Rekonstruktion des Naturrechts auch den Sündenstand zu berücksichtigen, heißt auch nicht, daß das vom status integritatis abgeleitete Naturrecht vom status corruptus aus sachlich modifiziert oder relativiert würde.208 Andernfalls geriete das von Alberti geradezu als

treter des profanen Naturrechts eigene theoretische Instrumente zur Verfügung hatten, um den sogenannten naturalistischen Fehlschluß zu vermeiden, soll unten näher ausgeführt werden. Siehe II.2.1. 204

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Vgl. dazu Erik Wolf: Das Problem der Naturrechtslehre. 3. Auflage. Karlsruhe 1964, S. 43, sowie Osterhörn: Die Naturrechtslehre Valentin Albertis, S. 3 8 - 4 1 . David Mevius: Prodromus jurisprudentiae gentium communis, pro exhibendis ejusdem principiis et fundamentis. Stralsund 1671. Siehe zu Mevius: Schneider: Justitia universalis, S. 1 9 7 - 2 0 8 , sowie ausführlich, jedoch nicht immer zuverlässig: Hinrichs: Geschichte der Rechts- und Staatsprincipien. Bd. 2, S. 1 1 8 - 1 4 5 . Alberti. Compendium, Vorrede, S. 12. »Sed distinguendum hic est inter principium et objectum Juris naturalis. N a m si ad hujusmodi axiomata respiciamus status corruptus tantum sit objectum, integer manet principium juris naturalis.« Alberti: Compendium, 1,1,§33.

50 fundamentum inconcussum eingeführte Integritätsprinzip in Gefahr, seine strikt bindende Geltungskraft einzubüßen, außerdem widerspräche dies der prinzipiellen Immutabilität des Naturrechts. 209 Dennoch sind für die adäquate normative Wirksamkeit des Verhältnisses zwischen beiden Zuständen als Relation zwischen Norm und Normiertem die Erörterung von zwei Problemkomplexen unverzichtbar. Erstens stellt sich die Frage, unter welchen theoretischen Prämissen eine im postlapsarischen Zustand vorgenommene Rekonstruktion eines auf den status integritatis zurückgehendes Naturrecht überhaupt denkbar ist. Falls die Möglichkeit eines solchen Naturrechts prinzipiell erwiesen wäre, dann würden sich sofort die beiden folgenden Fragen anschließen: welche theoretischen Mittel stehen für eine solche Rekonstruktion zur Verfügung und in welchem Umfang kann sie überhaupt geleistet werden? Zweitens muß der Modus geklärt werden, in dem die Applikation der Norm als ihre Übertragung aus dem normgebenden Unschuldsstand in den normrezipierenden Sündenstand vollzogen werden kann. Weil die Besonderheiten des status corruptus nicht den eigentlichen Sachgehalt der naturrechtlichen Normen berühren können, Alberti sie aber dennoch konstruktiv einzubringen sucht, dürften sich die Verhältnisse des postlapsarischen Zustandes vor allem im Modus der Normapplikation geltend machen und von hier aus auf die Konstruktion von Albertis Naturrecht Einfluß nehmen. ad 1.) Die Rekonstruktion des Naturrechts im Rekurs auf den durch den Sündenfall verlorenen Unschuldsstand ist nur denkbar, wenn ein solcher Rekurs überhaupt prinzipiell durchfuhrbar ist. Mit einem theologischen Argument versucht Alberti diese Möglichkeit sicherzustellen: Es sei der Vorsehung und der Güte Gottes zu danken, daß die ursprüngliche Gottesebenbildlichkeit des Menschen nicht vollständig durch den Sündenfall zerstört ist.210 Zwar ist es dem Menschen verwehrt, seine Unsterblichkeit und seine körperliche Schmerzlosigkeit wiederzuerlangen, dafür sind ihm aber angeborene theoretische und praktische Prinzipien als Reste des imago Dei geblieben: »Quaedam amisimus ex toto, adeo ut ne spes quidem, recu208 Mit der Behauptung, Alberti denke sich das Verhältnis von Unschuldsstand und Sündenstand in der Form einer »dialektischen Verflechtung«, schreibt Hans-Peter Schneider ebenso wie Ernst Osterhörn m.E. dem status corruptus zu Unrecht einen unmittelbar wirksamen Einfluß auf den Sachgehalt des Naturrechts zu. Siehe Schneider: Justitia universa209 lis, S. 250; sowie Osterhörn: Die Naturrechtslehre Valentin Albertis, S. 41. Vgl. Alberti: Compendium, 1,3,§2. 210 »Nimirum Dei Providentia ac benignitate sit, quod post lapsum inter reliquias imaginis divinae nobis ea connascuntur principia practica, quae non tantum in eodem genere actionis moralis, etsi in minore gradu, hodie possunt observari, sed et ad eas actiones, quae statui corrupto sunt propriae, in eodem valore extendi.« Alberti: Compendium, 1,1 ,§34, vgl. Alberti: De Jure Naturali Paradisiaco, §10.

51 perandi ea, in hac vita ullo modo supersit. Hujusmodi sunt immortalitas integri hominis et impassibilitas in ejus corpore. Aliqua vero deperdita quidem sunt maxima ex parte; reliquias tamen eorum permisit nobis Deus quam adminiculo ea ipsa quadantenus recuperare possumus. Pertinent hue scientiae, quibus intellectus exornatus erat, et virtutes, quibus resplendebat voluntas. Illis restituendis inserviunt principia prima Theoretica, his practi" ca.«211 Mit diesen Resten der Gottesebenbildlichkeit ist der ursprüngliche status perfectus nicht wiederherstellbar, der Sündenfall als Strafe Gottes ist nicht revidierbar, so daß nur in minderem Umfang wiedererlangt werden kann, was einmal verloren worden war. Immerhin genügen sie zur Begründung von gottgewollten Normen, die im Rückgriff auf den offenbarten status integritatis aufgefunden werden, und die fur den postlapsarischen Menschen noch immer Verbindlichkeit besitzen. 212 Weil in der Erkenntnis dieser Zusammenhänge die Offenbarung eine konstitutive Rolle spielt, ist die vollständige Erkenntnis des Naturrechts nur den Christen möglich: »Status enim integer pertinent ad ilia praesupposita, quae Philosophus non e lumine naturae, sed gratiae tantum cognoscit«. 213 Den Heiden bleibt der Zugang zu dieser Quelle ebenso wie all jenen verwehrt, die - wie die Vertreter einer profanen Naturrechts lehre - die historia sacra als konstitutives Mittel der Naturrechtserkenntnis preisgeben. 214 Obwohl auch fur sie als Geschöpfe Gottes das gottgeschaffene Naturrecht gilt, muß ihr Bemühen um die Erkenntnis des Naturrechts notwendig rudimentär und in letzter Konsequenz erfolglos bleiben. 215 Für sie ist der status integritatis als Ableitungsbasis des Naturrechts einer Erbschaft vergleichbar, die von den Eltern noch vor der Geburt der Kinder verloren wurde, denn im vorliegenden Fall ist die verlorene Sache nur noch aus der Überlieferung oder der Offenbarung zu

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Alberti: Compendium, 1,2,4. »Imo vero status ipse integer, a Christiano cognitus, sit norma status corrupti, ex orthodoxa illius notitia resultant naturaliter in homine, sana ratione usu, dictamina non pauca, quae ad observandas et confirmandas imaginis divinae reliquias, nec non ad recuperandam perfectionem moralem, quantum viribus naturalibus fieri potest, nos obstringunt.« Alberti: Compendium, 1,1,§35. Alberti: D e Jure Naturali Paradisiaco, §6, vgl. auch Alberti: Compendium, 1,1,§14.

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»Ad hanc autem scaturiginem aditus Gentiiibus erat praeclusus.« Alberti: Compendim,

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1,1,§15. Die Frage, ob Heiden den status integritatis erkennen können oder nicht, war den Zeitgenossen Albertis immerhin eine Diskussion wert, die auf dem Hintergrund der Auseinandersetzung um den christlichen status integritatis als Alternative zum profanen status naturalis gelesen werden muß. Dies belegt u.a. eine 1682 in Rostock erschienene Dissertation von Gottfried Weiß: Sententiam DN.D. Alberti de notitia status integri naturali lumini non patente adeoq; nec per id Ethnicis competente, contra DN. Prof. Strimesium a Dn. Prof. Seligmanno antihac defensam nunc alterius adversus. Resp.: Nicolaus Spranger.

52 schöpfen, nicht aber aus der Vernunft, auf die Heiden und Theoretiker des profanen Naturrechts allein verwiesen sind.216 Insgesamt wird hier eine Naturrechtskonzeption sichtbar, die sich in mindestens dreifacher Weise auf die gestalterischen Eingriffe Gottes stützt: 1. Gott hat den homo integer als sein Ebenbild geschaffen und mit der vollkommenen Natur des Menschen zugleich ein vollkommenes Normensystem hervorgebacht, dem der perfekte Mensch zwanglos und unter Wahrung seiner vollständigen Freiheit nachfolgte. 2. Gott hat die Natur des Menschen mit der Vertreibung aus dem Paradies sozusagen ontologisch verändert: aus dem homo integer wurde der homo corruptus, und mit dem Verlust der gottesebenbildlichen Natur war auch die Ableitungsbasis fur ein vollkommenes Normensystem verloren. 3. Gott hat sich dem Menschen offenbart und ihm in seiner Gnade Reste der ursprünglichen Gottesebenbildlichkeit erhalten, die es ihm ermöglichen, das Naturrecht im Rückgriff auf den status integritatis zu rekonstruieren. Auf diese Weise ist Gott als Schöpfer des Menschen nicht nur Realgrund des Naturrechts, sondern er ist auch sein Erkenntnisgrund, denn mit der Erschaffung des Menschen hat ihm Gott zugleich die erforderlichen Mittel zur Erkenntnis des Naturrechts gegeben. Und weil sich im Jus Naturae der unbedingt geltende Wille Gottes manifestiert, ist Gott schließlich auch der Geltungsgrund des Jus Naturae. Dem Menschen obliegt es schließlich mit Hilfe der Vernunft die ihm erreichbaren universalen Naturrechtsaxiome auf die besonderen Fälle im status corruptus anzuwenden: »Praecipue vero usus rationis hodie in statu corruptionis haud vulgaris est in applicatione axiomatum juris naturalis universalium, ad facta particularia«. 217 ad 2.) Aus der Perspektive des postlapsarischen Zustands ergeben sich zwei unterschiedliche Applikationsmodi der principia status integritatis. Die naturrechtlichen Normen können >formaliter< übertragen werden, wenn etwa Verhältnisse normiert werden sollen, die in gleicher Weise bereits im status integritatis existierten. So verbindet das Gebot, die Eltern zu ehren, den homo corruptus genauso wie es schon den homo integer verpflichtet hat.218 Diese zumindest theorieintern unproblematische Form der Übertragung ist dann nicht mehr möglich, wenn es um Verhältnisse oder Fakten geht, die erst mit dem Sündenfall auftraten und daher von einer formaliter vollzogenen Normapplikation nicht erreicht werden können. Um dennoch auch für diese Fälle - die zweifellos die Mehrzahl aller möglichen darstellt - die 216

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»Status enim integritatis videtur haud absimilis esse haereditati, quae a Parentibus ante natos liberos deperdita est, adeo, ut notitia ejus, tanquam rei praeteritae, non ex ratione, sed relatione aut revelatione hauriri possit.« Alberti: Compendium, 1,1,§15. Alberti: Compendium, 1,3,§46. Vgl. Alberti: Compendium, 1,1,§38.

53 normative Potenz der principia status integritatis zu sichern, sieht Alberti eine »normaliter« zu vollziehende Übertragung vor, die vom Unschuldsstand ausgeht und die in ihm verankerten Normen auf Verhältnisse ausdehnt, die dem Sündenstand eigentümlich sind. So wird das für den status corruptus geltende Gebot »servum parere Domino« aus der im status integritatis fundierten Norm »superiori est parendum« abgeleitet und auf Verhältnisse normativ bezogen, in denen Herr-Knecht-Beziehungen existieren. 219 Dabei ist zu berücksichtigen, daß das vom Naturrecht unbedingt gebotene Ehrbare (honestum) in beiden Ständen von unterschiedlicher Qualität sein kann. Während ein auf beide Stände sich beziehendes honestum von Alberti als »simpliciter tale, dependenter tarnen a Deo« 220 beschrieben wird, unterscheidet er für den status corruptus ein »alterum honestum«, das von den Voraussetzungen des Sündenstandes, von seinen besonderen Umständen und Notwendigkeiten her bestimmt ist. Dieses zweite honestum, mit dem Alberti die Realitätstauglichkeit seiner Theorie sicherstellen will, ist dem honestum simpliciter tale nicht entgegengesetzt, wohl aber deutlich von ihm unterschieden: »Alterum autem honestum in status demum corruptions natum est, pro variis ejus circumstantiis; ideoque non aliam, quam ex hypothesi, necessitatem habet. Priori vero Uli non est oppositum, etsi ab eo distinctum.«221 Angesichts dieser Differenzierungen ist es umso notwendiger, den Modus richtig zu erkennen, in dem die normaliter zu vollziehende Übertragung als extensio angemessen realisiert werden kann. 222 Denn es kommt darauf an, die extensio weder zu überziehen noch zu unterschreiten. 223 Daher sind Regeln notwendig, die zwar dem status corruptus angehören, sich aber auf den Unschuldsstand beziehen und eine korrekte Normübertragung gewährleisten. Alberti unterscheidet vier regulae generales, wobei zwei präzeptiven Regeln jeweils zwei entsprechende prohibitive Vorschriften

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Vgl. Alberti: Compendium, 1,1,§38.

Alberti: Compendium, 1,1,§39. Alberti: Compendium, 1,1,§41. Siehe zum Problem des zweifachen honestum Osterhörn: 222 Die Naturrechtslehre von Valentin Alberti, S. 6 9 - 7 6 . Während die formaliter aus dem status integritatis abzuleitenden Normen ohne weiteres klar und sicher begriffen werden können, stellt Alberti im Hinblick auf die nur normaliter herleitbaren Vorschriften folgendes fest: »Ad ea, quae id normaliter praestant, recte intelligenda, notandum est, hoc modo in status corruptionis necessario aliquam, extensionem 223 fieri.« Alberti: Compendium, 1,1,§50. Am Beispiel der im status integritatis normativ gegebenen aequalitas illustriert Alberti die Gefahr einer fehlerhaft durchgeführten extensio: während die Monarchomachen in der Ausdehnung der Gleichheit zu weit gehen, indem sie die aequalitas auch im bürgerlichen Leben postulieren und damit die formaliter gegebene Vorschrift »superiori esse parendum« verletzen, extendieren die Katholiken das Gleichheitsgebot in einem zu geringen Maße, wenn sie leugnen, daß auch einem Häretiker die ihm billigerweise zustehende Treue gehalten werden muß. Vgl. Alberti: Compendium, 1,1,§52. 221

54 zugeordnet sind: 1. Das Naturrecht schreibt vor, alles das zu tun, was dazu führt, daß der status perfectus wenigstens teilweise wiederhergestellt wird. 224 Entsprechend ist 2. alles das naturrechtlich verboten, was diese Wiederherstellung verhindert. 225 3. Das Jus Naturae gebietet, daß alles, was im status corruptus mit Notwendigkeit geschehe, in Analogie zum status integritatis getan werden müsse. 226 Umgekehrt ist 4. alles verboten, was nicht in Analogie zum Unschuldsstand getan werden kann. 227 Die Einführung eines zweiten honestum und der Versuch, mit Hilfe von Ableitungsregeln die korrekte Übertragung der principia status integritatis zu gewährleisten, machen deutlich, wie sehr Alberti bestrebt war, die beiden Stände produktiv aufeinander zu beziehen, ohne auf der einen Seite die normative Qualität des Unschuldsstandes zu reduzieren und auf der anderen Seite die spezifischen Voraussetzungen des Sündenstandes unberücksichtigt zu lassen. Die gesamte Konstruktion will von vornherein dem ja auch tatsächlich erhobenen Vorwurf begegnen, bei dem aus dem status integritatis abgeleiteten christlichen Naturrecht handele es sich um nichts anderes als um eine theologische Phantasterei, die mit den Verhältnissen post lapsum nicht kompatibel sei.228 Albertis Anstrengungen bleiben gleichwohl ohne Erfolg. Die formale Abstraktheit seiner Regeln macht eine angemessene Übertragung der principia status integritatis unmöglich, ihrer Aufgabe als Regulierungsinstrument für eine fehlerfreie extensio zu sorgen, können sie daher nicht gerecht werden. Daran ändern auch die regulae speciales nichts, mit denen Alberti den Abstand zwischen konkreter Wirklichkeit und abstrakter Regel zu überbrücken sucht.229 Vielmehr weisen sie ebenso wie die mit ihnen gegebenen Beispiele im Gegenteil unmißverständlich auf prinzipielle Probleme hin, die sich in Zusammenhang mit der extensio geradezu notwendig ergeben. Denn die an sich schmale Ableitungsbasis, die der biblische status integritatis auch dann nur bietet, wenn man ihn nicht allein bibli224 »Quicquid ad statum integritatis orthodoxe expositum hodie in moralibus ex aliqua parte recuperandum pertinet, viribusque naturae recuperari potest, id jure naturali praeceptum 225 est, ideoq a nobis faciendum.« Alberti: Compendium, 1,1,§56. »Quicquid a statu integritatis orthodoxe exposito, nos hodie magis magisque in moralibus abducit, aut in reducendo impedit, viribusque naturae declinari postest, id jure naturali prohibitum est, ideoq a nobis omittendum.« Alberti: Compendium, 1,1,§58. 226 »Quicquid ex hypothesi status corrupti necessario sit, id juxta Analogiam status integri 227 orthodoxe expositi jus naturae fieri jubet.« Alberti: Compendium, 1,1,§59. »Quicquid ex hypothesi status corrupti factu necessarium est, aut esse videtur, juxta Analogiam status integri orthodoxe expositi fieri nequit, illud Jure Naturae prohibitum 228 est.« Alberti: Compendium, 1,1,§60. Vgl. Osterhörn: Die Naturrechtslehre Valentin Albertis, S. 75. 229 Vgl. Alberti: Compendium, 1,1,§§62-66. »Hae vero generales Regulae diffundunt se in plures speciales a quatuor causis et duobus adjunctis, loci et temporis, desumendas « Alberti: Compendium, 1,1,§61.

55 zistisch, sondern auch in seiner kirchlichen Auslegung heranzieht, 230 führt notgedrungen zu spekulativen Unterstellungen und Interpolationen. Weil diese ganz offenkundig vom Wortlaut des alttestamentlichen Textes nicht gedeckt sind, 231 werden sie, um ihre Legitimität zu sichern und die Plausibilität des Modells zu erhalten, als unverdächtige extensiones ausgegeben, die lediglich verlängern, was ursprünglich gegeben ist. Dabei stellen die Ausdehnungen genau genommen selbst schon Interpolationen dar, weil durch die extensio die Qualität des Modells verändert wird. Von daher ist es von vornherein fraglich, ob der ursprüngliche normative Gehalt - um den es ja schließlich geht - überhaupt noch für die neue Qualität des Modells zulänglich ist. Eine Verbindung von Extension und externer Interpolation liegt beipielsweise vor, wenn Alberti behauptet, der Staat hätte als die vollkommenste Gemeinschaft auch im status integritatis schon existieren können, falls dieser nur lange genug bestanden hätte. 232 Alberti dehnt hier den status integritatis zeitlich aus und trägt seine Vorstellung vom Staat an den status integritatis heran. Das Beispiel belegt, daß Alberti entgegen seiner Prätentionen den Unschuldsstand nicht voraussetzungslos als Ableitungsbasis heranzieht, sondern tatsächlich ihm zunächst imputiert, was er anschließend wieder aus ihm herleitet. Alberti verfugt über eine bestimmte Vorstellung vom Staat und versucht sie mit Hilfe einer vorgeblichen Extension im Unschuldsstand zu verankern, um sie auf diese Weise normativ aufzuladen und sie schließlich als sanktifizierte, nämlich göttliche Norm aus dem status integritatis abzuleiten. Von daher funktioniert der status perfectus bei Alberti als eine Instanz, durch die bestimmte schon bestehende Vorstellungen mit einem normativen Gehalt versehen und als sanktifizierte mit einem Höchstmaß an unbestreitbarer Legitimität ausgestattet werden. Der konservative Charakter von Albertis Naturrecht liegt daher weniger in der Verbindung von Theologie und Philosophie, als vielmehr in der beschriebenen Instrumentalisierung des status integritatis. Denn Alberti versucht nicht wie auch seine Rechtfertigung der Sklaverei belegt 233 - den Mängeln des Sündenstandes mit den Normen des status perfectus kritisch zu begegnen, sondern ist bemüht, den bestehenden Zuständen eine normative Rechtfertigung zu verschaffen. 234 Der status integritatis wird daher nicht in dem

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Vgl. Alberti: Compendium, I,2,§3. Nicht von ungefähr betont Alberti immer wieder, daß es ihm um den orthodox ausgelegten Unschuldsstand geht. 231 Schon das erwähnte Gebot, die Eltern zu ehren, hat strenggenommen keinen Rückhalt im biblischen Text. Vgl. Genesis 2. 232 Vgl. Alberti: Compendium, II,14,§1. 233 Vgl. Alberti: Compendium, 1,1,§62. Siehe dazu auch Jochen Ihmels: Das Naturrecht bei Valentin Alberti. Die Lehre des Compendium Juris Naturae von 1678/96. Leipzig Diss. 1955, S. 67.

56 von Medick explizierten Sinn als »normativ-analytisches Modell«235 beansprucht: Alberti verzichtet auf die analytischen Potentiale, die seine Theorie ihrer Konstruktion nach wenigstens prinzipiell böte, und betont dagegen die normierende Funktion seiner christlichen, explizit nicht-säkularisierten Version des status naturalis.

2.3. »Majestas est immediate a Deo«: Umrisse einer theokratischen Staatsauffassung Indem Alberti unterstellt, daß der Staat als die vollkommenste Gemeinschaft auch im status integritatis existiert haben könnte,236 weist er ihm als nicht nur unmittelbar gottgewollte, sondern auch gottgeschaffene Einrichtung eine Dignität zu, die weit über den Rang hinausweist, der dem Staat in den eher funktionalistischen Konzepten von Hobbes und Pufendorf zukommt. Der Staat ist bei Alberti kein Kompensationsinstrument zum Ausgleich all derjenigen Defizite, mit denen der Mensch im postlapsarischen Zustand belastet ist. Und das heißt eben auch, daß der Staat nicht allein und nicht in erster Linie durch prudentistische Zweckmäßigkeitserwägungen strukturiert ist was selbstverständlich nicht ausschließt, daß er im status corruptus nicht auch Kompensationsaufgaben wahrnehmen muß. Mit seiner Konstruktion eines schon im status integritatis verankerten Staats weist Alberti die Vorstellung einer kontraktualistischen Staatsentstehung zurück: die vollkommenste Gemeinschaft verdankt sich nicht einer Übereinkunft potentiell freier und nur vom allgemeinen wie privaten Nutzen geleiteter Vertragspartner, denen durch den ausgehandelten Vertragsabschluß gleichermaßen Rechte wie Pflichten zuwachsen, der Staat leitet sich bei Alberti vielmehr von einem nur theologisch einholbaren transzendenten Ursprung her. Daher wird die summa potestas, durch die der Staat seine Ordnungsaufgaben erst wahrnehmen kann, auch nicht durch einen profanen Rechtsakt hervorgebracht, sondern unmittelbar von Gott selbst auf die Obrigkeit übertragen. Sie handelt damit im unmittelbaren Auftrage Gottes und nicht im Auftrag des Volkes - wohl aber weisungsgemäß zu seinem Besten. Die Obrigkeit ist als »vicarius Dei«237 nicht dem Volk, sondern allein Gott rechenschaftspflichtig. Daran ändert auch die Tatsache nichts, daß - wie Alberti konzediert - das Volk häufig selbst die Person auswählt, der später die höchste Gewalt zu-

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Siehe dazu auch: Osterhörn: Die Naturrechtslehre Valentin Albertis, S. 114f. sowie: Ihmels: Das Naturrecht bei Valentin Alberti, S. 67.

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Siehe dazu oben 1.2.2.1. Vgl. Alberti: Compendium, II,14,§1. Alberti: Compendium, II,14,§4.

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57 kommt, denn diese wird der designierten Person immer und ausschließlich von Gott übertragen.238 Um einerseits den Abstand des Volkes zur majestas zu betonen und andererseits ihre Divinität hervorzuheben, vergleicht sie Alberti mit dem Priesteramt: so wenig das Volk ein Recht hat, die Sakramente zu verwalten oder das Wort Gottes zu lehren, so wenig kommt ihm die höchste Gewalt zu.239 Die Konstruktion einer immediate-a-Deo übertragenen summa potestas bezweckt die Konzentration der staatlichen Gewalt auf nur eine Instanz unabhängig davon, ob diese Instanz aus einer oder aus mehreren Personen besteht. Denn mit der Favorisierung eines institutionellen Gottesgnadentums wird verhindert, daß das Volk in irgendeiner relevanten Form an der Konstitution der majestas beteiligt ist und aus dieser Beteiligung positive Rechte für sich ableitet. Der Gedanke an eine vom Volk ausgehende Souveränität, in welcher Spielart auch immer, soll zugunsten einer statischen Vorstellung von Ruhe und Ordnung von vornherein ausgeschlossen sein. Die für einen »theokratischen Absolutismus«240 charakteristische Konzeption von Valentin Alberti ist abgesehen von der normativen Verankerung seiner Staatsauffassung im status integritatis durchaus nicht originell. Das wollte Alberti zumindest in diesem Punkt auch nicht sein. Vielmehr sieht er sich in der Traditionslinie der lutherischen Orthodoxie, deren theokratische am institutionellen Gottesgnadentum orientierte Staatslehre auch nach Alberti noch vereinzelt fortgesetzt wurde.241 Hier wäre vor allem auf den dänischen Theologen und Hofprediger Hector Gottfried Masius hinzuweisen, der durch seine heftige Kontroverse mit Christian Thomasius und Johann Christoph Becmann einen gewissen Bekanntheitsgrad erlangt hat. In seinem 1687 in Kopenhagen erschienenen Interesse principum circa religionem evangelicam finden sich alle theokratischen Elemente wieder, die für die Staatslehre der lutherischen Orthodoxie 238

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»Verosimillimum etiam est, Majestatem a Deo conferri Magistratui semper immediate, concurrente tarnen civitate seu populo quoad designationem Personae, sive Personarum, sive earn instituerit uno acto perpetuo valituro, [in regnis successivis,] sive earn iteret saepius, [in electivis]...« Alberti: Compendium, 11,14,§3. »Sicut enim populus non habet in se Jus docendi verbum et administrandi sacramenta superius eo, quod Ministris Ecclesiae competit: ita nec Majestatem Regia majorem.« Alberti: Compendium, II, 14,§3. Siehe dazu die Definition Horst Dreitzels. »Der theokratische Absolutismus war dadurch gekennzeichnet, daß er die absolute Monarchie auf die institutionelle Stiftung Gottes oder seines im Naturrecht ausgesprochenen Willens zurückführte und dadurch zur normativen Staatsform erklärte.« Dreitzel: Monarchiebegriffe in der Fürstengesellschaft, Band 2, S. 510. Siehe zur Staatslehre der lutherischen Orthodoxie: Friedrich Fries: Die Lehre vom Staat bei den protestantischen Gottesgelehrten Deutschlands und der Niederlande in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts. Diss. Berlin 1912.

58 typisch sind. Stärker noch als Alberti, durch den Masius ganz ohne Zweifel inspiriert worden war, betont er jedoch den unbedingten Vorrang der lutherischen Konfession vor allen anderen Glaubensbekenntnissen 242 und begründet dies gerade mit dem theokratischen Gedanken einer unmittelbaren Übertragung der Majestät durch Gott: »Ex iisdem fundamentis, quibus Lutherana Religio obsequia et obedientiam Magistratui debitam inculcat, sponte fluit, Magistratum igitur resisti non posse, qualiscunque tandem fiierit«.243 So sollen mit Hilfe der Immediate-a-Deo-Konstruktion alle rechtsförmigen Ansprüche des Volkes ebenso ausgeschlossen werden wie ein von den Monarchomachen postuliertes Widerstandsrecht. Selbst der unfromme, ja tyrannische Magistrat ist - in Masius' Augen - von Gott gewollt, 244 und so gilt auch im Hinblick auf eine tyrannische Obrigkeit »qui magistratui resistit, ordinationi divinae resistit«.245 Auch bei Alberti ist die Obrigkeit dem rechtlich erzwingbaren Zugriff der Untertanen entzogen, und doch findet sich bei ihm - vor allem wenn man eine 1677 von Christian Wagner vorgelegte Schülerarbeit ebenfalls dem Werk Albertis zurechnet 246 - eine eingehende Reflexion auf die normative Einbindung der höchsten Gewalt. Wagner legt ausdrücklichen Wert auf die Feststellung, daß die höchste Gewalt nicht gleichbedeutend ist mit absoluter Gewalt. 247 Eine summa potestas, die als absolute bar jeder normativen Einbindung völlig unbeschränkt ist, existiert nicht. Zwar gehört es zum Begriff der majestas, daß ihr Inhaber nicht an die positiven bürgerlichen Gesetze gebunden ist - »Majestatem scilicet solutam Legibus esse«248 - er kann sie nach freien Stücken aufheben, verändern oder aber sich ihnen un-

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»Nulla in mundo Religio tantum favet Magistratui Politico quantum evangelica, quam Lutheranam vocamus.« Masius: Interesse, S. [131. 243 Masius: Interesse, S. 97. 244

»Quia etiam impius Magistratus est a Deo, et Dei ordinatio«. Hector Gottfried Masius: 245 Orthodoxia Lutherana. Hafniae 1688, S. 37.

Masius: Orthodoxia Lutherana, S. 36. Vgl. zu Hector Gottfried Masius: Detlef Wenzel: Les fondements du pouvoir legitime. Une controverse politico-confessionelle ä la fin du 17ieme si6cle. In: Angelika Schober (6d ): Le christianisme dans les pays de langue allemande: enjeux et döfis. Actes de la journde d'itudes qui s'est döroulde Ie ddcembre 1994 ä Universit6 de Limoges. Limoges 1997, S. 33-46; sowie Frank Grunert: Zur aufgeklärten Kritik am theokratischen Absolutismus. Der Streit zwischen Hector Gottfried Masius und Christian Thomasius über Ursprung und Begründung der summa potestas. In: Friedrich Vollhardt (Hrsg.): Christian Thomasius (1655-1728). Neue Forschungen im Kontext der Frühaufklärung. (Frühe Neuzeit, Band 37). Tübingen 1997, S. 51-77. 246 Dissertatio Politica De Majestate, ejusque Divisione in Realem et Personalem, quam adversus Monarchomachos. Praes.: Valentin Alberti, Resp.: Christian Wagner. Leipzig 1677.Wagner: De Majestate, Caput Generale, VI. 247 Vgl. 248 Wagner: De Majestate, Caput Generale, XXV.

59 terwerfen.249 Dafür ist aber der Fürst als Inhaber der höchsten Gewalt, wie übrigens auch bei Bodin,250 an die göttlichen moralischen und die natürlichen Gesetze gebunden. Der Fürst bleibt unabhängig davon, ob er fromm oder unfromm ist, als Geschöpf Gottes den moralischen Gesetzen seines Schöpfers notwendig und bedingungslos unterworfen.251 Das heißt aber auch, daß der gegen das Gesetz Gottes verstoßende Fürst nur in Gott selbst seinen Richter findet und einer zeitlichen Strafe nicht zugeführt werden kann.252 Ausführlich begründet Wagner die Bindung des Fürsten an das Naturrecht, er unterscheidet dabei vier freilich sehr eng miteinander verknüpfte Gründe: 1. Das Naturrecht ist universal gültig und immutabel, der Fürst kann daher für sich keine Ausnahme beanspruchen: »Quia vero Lex Naturae est universalis, et omnes homines obtemperare necesse est, sequitur quod Rex subditus sit Legi Naturali. Neque; vero illam potest abrogare, neque in ista dispensare quia est immutabilis.«253 2. Die Natur ist gegenüber dem Fürsten höherwertig, der Fürst ist daher ihren Gesetzen unterworfen: »Naturae enim vinculum Principis autoritatem superat, [...] natura superior Principe. Jam vero Princeps lege superiori non est solutus«.254 3. Trotz seines Ranges bleibt der Fürst Mensch und als solcher ist er an das Naturrecht gebunden: »Nam homines omnes natura sunt aequales. [...] Jam vero hominem lex illa obligat. Ergo etiam Principem.«255 Und 4. besitzt das Naturrecht seines göttlichen Ursprungs wegen unbedingte Verbindlichkeit: »Jam vero Jus Naturae ortum habet a Deo. [...] Ergo sequitur, quod omnes homines debeant observare illud jus; si omnes, Ergo et Principes.«256 Der von Alberti und seinen Schülern bemühte Nachweis einer durch die natürlichen Gesetze gegebenen strikten normativen Bindung fürstlichen Handelns richtet sich bei Wagner ausdrücklich an zwei Adressaten. Den Machiavellisten, die die Macht des Fürsten in unzulässiger Weise vereinseitigen, soll gezeigt werden, daß der Fürst entgegen ihrer Auffassung sehr 9dQ

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Vgl. Wagner: De Majestate, Caput Generale, XXXIV. Bodin spricht zwar von »absoluter Gewalt«, definiert sie aber als Befugnis, sich über »die positiven Gesetze« hinwegzusetzen und nimmt die göttlichen Gesetze ausdrücklich von dieser Freiheit aus. Jean Bodin: Sechs Bücher über den Staat. Buch I.—III. München 1981, S. 235. Vgl. Wagner: De Majestate, Caput Generale, XXVI. Vgl. Wagner: De Majestate, Caput Generale, XXVII. Wagner. De Majestate, Caput Generale, XXI1X. Wagner: De Majestate, Caput Generale, XXIX. Wagner: De Majestate, Caput generale, XXX. Wagner: De Majestate, Caput Generale, XXXI.

60 wohl normativ gebunden ist, und daß die Einhaltung der Norm durch die normgebende - freilich nicht irdische - Instanz sowohl kontrolliert als auch sanktioniert wird. Und den Monarchomachen, die dem Volk aktive Souveränitätsrechte gegenüber dem Fürsten zuschreiben und daher in Wagners Augen dem Volk mehr zukommen lassen als ihm gebührt, 257 soll vor Augen geführt werden, daß die normative Bindung des Fürsten durch Gott selbst jede weitergehende Verpflichtung gegenstandslos macht. Aktive Rechte des Volkes, die von ihm selbst eingeklagt und durchgesetzt werden können, sollen damit plausibel ausgeschaltet werden; Gott selbst ist schließlich in letzter Instanz Sachwalter des gemeinen Besten. War es gerade - zumindest in historischer Perspektive - das Verdienst der beiden genannten, diametral einander gegenüberstehenden Extrempositionen, unter Ausschluß von theologischen Voraussetzungen rein diesseitige Konfliktlösungsstrategien zu begründen, so wird hier versucht, beide Positionen noch einmal im Rückgriff auf religiös vermittelte Deutungsmuster zu überwinden. Dabei werden - wie dies bereits am Beispiel von Seckendorff vorgeführt wurde - Jenseits und Diesseits so eng aufeinanderbezogen, daß im Diesseits begangenes Unrecht im Jenseits als Sünde geahndet werden kann. Indem die diesseitige Ordnung nicht von der jenseitigen abgelöst wird, und der Gott unterstellte Ordnungswille - wenn auch in unterschiedlicher Weise - sich sowohl auf das Jenseits wie auf das Diesseits bezieht, werden die diesseitigen Verhältnisse in einen universalen Heilszusammenhang gestellt. Allerdings ohne daß dabei alle bestehenden Verhältnisse als von vornherein gerechtfertigt angesehen werden müssen. Das etwa vom Fürsten begangene Unrecht wird nicht in Recht umgedeutet - auch nicht in ein Recht, Unrecht zu tun. Die beispielsweise von Hobbes, aber auch von Spinoza behauptete Unmöglichkeit eines gegenüber seinen Untertanen unrechttuenden Fürsten ist hier ausgeschlossen. 258 Denn die Beziehung zwischen Fürst und Untertan ist nicht als Repräsentationsverhältnis gedacht, sondern als einlinige Hierarchie, die von Gott über den Fürsten zum Untertanen fuhrt. Dabei ist die jeweils höhere Instanz berechtigt, die ihr nachfolgenden normativ zu binden, während diese umgekehrt keine subjektiven Rechte gegenüber den ihr ranghöheren Instanzen geltend machen können. Insofern ist der Untertan Normadressat sowohl der göttlichen als auch der menschlichen Gesetze - er ist Untertan des Fürsten und Untertan Gottes. Dagegen ist der Fürst nur den 257 258

Vgl. Wagner: De Majestate, Caput Speciale, I. Es heißt bei Hobbes: »Weil in einem Staate, welcher freiwillig errichtet wurde, jeder von denen, die dem einen die höchste Gewalt übertrugen, sich als Urheber aller Handlungen dieses einen ansehen muß ist klar, daß der Oberherr keinem von diesen Unrecht tun kann: denn was er tut, tun sie selbst. Sich selbst aber kann niemand Unrecht zufügen.« Thomas Hobbes: Leviathan, S. 160.

61 Gesetzen Gottes unterworfen - er ist als Herr seiner Untertanen zugleich Untertan Gottes. 259 Weil die strikt bindenden Gesetze Gottes auch das Verhältnis zwischen Fürst und Untertan normieren - Wagner zeigt dies beispielsweise anhand des Vertragsrechts 260 - ist der Fürst insofern durchaus in der Lage, seine Rechtspflichten in Bezug auf seine Untertanen zu verletzen. Allerdings verletzt er damit allein göttliches Recht, und daher ist nur Gott befugt, die gestörte Ordnung wiederherzustellen. Mit dieser Konstruktion, die fur die theokratisch argumentierende lutherische Orthodoxie typisch sein dürfte, soll in einer doppelten Hinsicht politische Sicherheit und Stabilität gewährleistet werden: die Gewißheit einer übergeordneten richtenden Instanz soll zum einen den Fürsten davon abhalten, sich gegen das göttliche Gesetz zu vergehen, und zum anderen soll das Volk daran gehindert werden, sich richterliche Kompetenzen anzumaßen, die - nach Auffassung von Alberti und anderen - keine Verbesserung erwarten ließen, sondern lediglich den öffentlichen Frieden gefährdeten. Naturrecht ist hier das normative Instrument, mit dessen Hilfe Gott den Fürsten wie den Untertanen in gleicher Weise verpflichtet. Das Ius Naturae ist menschlicher Verfügung prinzipiell entzogen, denn es ist nicht nur überall und ausnahmslos gültig, es ist auch unveränderlich. 261 Insofern fungiert das Naturrecht auch nicht als Herrschaftsinstrument im Dienste fürstlicher Interessen. Der Fürst verfügt als souveräner Gesetzgeber nur über die kraft eigener Kompetenz selbst erlassenen Gesetze, deren Verpflichtungskraft längst nicht soweit reicht wie die des Naturrechts. Denn abgesehen von der grundsätzlichen Veränderlichkeit der positiven Gesetze wird auch nicht jeder Mensch durch sie verpflichtet, sondern nur die zu einem bestimmten Herrschaftsgebiet gehörigen Untertanen. Schließlich - und darin liegt eine entscheidende Begrenzung fürstlicher Verfügungsgewalt - können die menschlichen positiven Gesetze nur die äußeren Handlungen der Untertanen normieren, nicht aber ihre inneren. Dem menschlichen Gesetzgeber ist es damit befindet sich Alberti durchaus auf der Linie der lutherischen Rechtstheorie - prinzipiell verwehrt, in das Innere seiner Untertanen einzugreifen: »Civiles Legislatores, quia homines sunt, et in secreta animorum penetrate nequeunt, manet haec imperfectio, ut contentos eos esse oportest, si externae

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Vgl. dazu auch oben 1.1.3. Vgl. Wagner: De Majestate, Caput Generale, XXXIII. »Obligatio vero hujus juris tum extensive tum intensive summa est. Extenditur enim ad omnes, dum ubique valet et intenditur maxime, dum nullius arbitrio minui vel augeri potest.« Alberti: Compendium, I,3,§2. Vgl. auch: Dissertatio Moralis de Juris Naturalis, praepositivo, Rigore verisque ejus causis. Praes.: Valentin Alberti, Resp.: Gotthelff Ehrenreich Becker, XI, XXIV.

62 civium actiones ad normam legum quadrent«. 262 Das Innere des Menschen bleibt gleichwohl nicht dem eigenen moralischen Räsonnement des Einzelnen überlassen; weder hält Alberti eine nur äußere Normierung für hinreichend, noch will er die inneren moralischen Normen den Unzulänglichkeiten einer durch den Sündenfall verdorbenen Vernunft überlassen. Daher wird das menschliche Internum durch das Gewissen der göttlichen Norm des Naturrechts unmittelbar unterstellt. Gott wird dabei nicht allein die Funktion eines ursprünglichen Gesetzgebers zugeschrieben, ihm fällt darüber hinaus die Aufgabe einer unmittelbar aktiven richtenden Instanz zu, die, weil dem Schöpfer das Innere des Menschen zugänglich ist, auch jene Vergehen noch bestrafen kann, die menschlicher Wahrnehmung verborgen bleiben müssen.263 Insofern wiederholt sich im Verhältnis zwischen Gott und Mensch in gewisser Weise noch einmal das Herrschaftsverhältnis zwischen Fürst und Untertan. Göttlicher wie menschlicher Ordnungwille und Ordnungbefugnis ergänzen sich in der Normierung des Untertanen - wie es scheint - völlig lückenlos. Der Mensch ist bei Alberti als Untertan des Fürsten und als Geschöpf Gottes innerlich wie äußerlich - und damit eben vollständig - heteronomen Normen ausgesetzt. Indem deren Legitimität entweder von göttlicher Setzung oder von göttlicher Befugnis her begründet wird, wird eine eigenständige, etwa auf Vernunft basierte Normenreflektion ausgeschlossen und - durch die Logik der Konstruktion - auch plausibel für überflüssig erklärt.

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Alberti: Compendium, 1,1,§42. »Deus autem, [...] qui Jus naturae tulit, aeque ac injure suo positivo, interiorem maxime rectitudinem requirit, puniens etiam eos, qui in illud jus deliquisse non videntur nobis.« Alberti: Compendium, 1,1,42.

Die Enttheologisierung des Naturrechts und die Säkularisierung des Staates

Albertis christliches Naturrecht ist ohne nachhaltigen Erfolg geblieben lediglich eine nicht unbeträchtliche Schülerzahl war auf die Lehren ihres Mentors festgelegt und versuchte, freilich unter Anleitung und ohne jede Selbständigkeit, Albertis Überzeugungen weiter auszubauen. Noch 1736 wundert sich Gottlieb Stolle in seiner Anleitung zur Historie der Gelahrheit, daß Alberti selbst unter seinen Leipziger Kollegen keinerlei Unterstützung fand.1 Dieser Mißerfolg dürfte wohl weniger - wie Hans Peter Schneider nahelegt2 - auf die polemische Schärfe zurückzuführen sein, mit der Pufendorf und Christian Thomasius ihrem Gegenspieler begegneten. Ihre sicher zuweilen ungerechte Kritik hätte wohl kaum verfangen können, wenn nicht längst gute sachliche Gründe dafür gesprochen hätten, auf eine theologische Begründung des Naturrechts zu verzichten. Selbst ein 1711 von Joan Guilelmus Janus3 vorgelegter Versuch, Albertis Theorie zu retten, bezeugt - wohl eher unfreiwillig, daher aber desto nachdrücklicher daß Albertis christliches Naturrecht angesichts des inzwischen akzeptierten profanen Naturrechts völlig chancenlos bleiben mußte. Denn ganz im Gegensatz zu Albertis ausdrücklicher Absicht bemüht sich Janus - glaubt man der Darstellung Gottlieb Stolles - um den Nachweis, daß es Alberti in letzter Konsequenz um nichts anderes ging als um ein auf der Basis der >gesunden Vernunft< begründetes Naturrecht.4 Pufendorf hatte - wie Christian Thomasius in seiner 1719 erschienenen Historia Juris Naturalis rückblickend feststellte - den Sieg über die durch-

Vgl. Gottlieb Stolle: Anleitung zur Historie der Gelahrheit, denen zum besten, so den Freyen Künsten und der Philosophie obliegen, in dreyen Theilen nunmehr zum viertenmal verbessert und mit neuen Zusätzen vermehret, herausgegeben. Jena 1736, S. 668. Vgl. Schneider: Justitia Universalis, S. 252f. Johann Caspar Bluntschli hält weniger den Spott Pufendorfs, sondern vielmehr die »unläugbare Dürftigkeit und Armseligkeit seiner Sätze« für die entscheidende Ursache von Albertis Niederlage. Johann Caspar Bluntschli: Geschichte des Allgemeinen Statsrechts und der Politik. München 1867, S. 133. Joan Guilelmus Janus: Judicia Eruditorum de principio Juris naturalis cum vera comparata. 1711. Angaben nach Stolle: Anleitung zur Historie der Gelahrheit, S. 268. Vgl. Stolle: Anleitung zur Historie der Gelahrheit, S. 268.

64 aus ansehnliche Zahl seiner Widersacher davongetragen.5 Im Fall Albertis stand dies ftir Pufendorf selbst schon im August des Jahres 1688 fest, denn in einem Brief an Christian Thomasius konstatiert er mit der ihm eigenen rücksichtslosen Drastik: »Wegen dr. Alberti neulicher epistel, die entweder per vomitum oder per sedes scheinet ans tages licht gekommen zuseyn, bin gäntzlich MhH meinung, daß ich selbst ihn nicht mehr würdigen will ein wort zu reponiren. Jedermann muß bekennen, daß er von der schule geschlagen, und weiter an dem schweinpeltz keine ehre zu hohlen sey.« 6 Dabei hatte Pufendorf ausgefochten - wenn auch nicht zu Ende gefuhrt - was vor allem nach Meinung seiner Anhänger und deren Schüler der Niederländer Hugo Grotius begonnen hatte: obwohl in der neueren Literatur dies etwa mit Blick auf die theologischen Leistungen und Interessen von Hugo Grotius immer wieder bestritten wird,7 stand es für einen großen Teil seiner zeitgenössischen Rezipienten völlig außer Frage, daß mit Grotius' 1625 in Paris erstmals publizierten De Jure Belli ac Pacis eine umfassende Enttheologisierung des Naturrechts eingesetzt hatte.8 Allerdings war mit dem von Grotius gemachten Anfang noch nicht alles erreicht. Zwar will Christian Thomasius in ihm das »Werkzeug« erkennen, »dessen sich die Weisheit Gottes bediente, um die so lange andauernde Verwirrung des natürlichen und übernatürlichen Lichtes aufzuheben«, 9 doch übersah er dabei nicht, daß Grotius bei aller Bemühung um eine sachgerechte Unterscheidung zwischen Naturrecht, dem positivem Recht Gottes und dem der Menschen dennoch - und

Vgl. Christian Thomasius: Paulo Plenior, Historia Juris Naturalis. Halle 1719, Reprint Stuttgart-Bad Cannstatt 1972, S. 124. Pufendorf an Thomasius 28.8.1688. In: Samuel Pufendorf: Briefwechsel. Herausgegeben von Detlef Döring. (Samuel Pufendorf: Gesammelte Werke. Band 1). Berlin 1996, S. 202. Vgl. dazu u.a.: Malte Diesselhorst: Die Lehre des Hugo Grotius vom Versprechen. Köln, Graz 1959, S. 4 0 f f , sowie Günter Hoffmann-Loerzer: Grotius. In: Hans Maier u.a. (Hrsg.): Klassiker des politischen Denkens. Band 1. München 1968, S. 293-320. Zur Theologie von Hugo Grotius siehe Jan-Paul Heering: Hugo de Groot als apologeet van de christelijke godsdienst. Een onderzoek van zijn geschrift >De veritate religionis christianae< (1640). s'-Gravenhage 1992; sowie die Beiträge in: Henk J.M. Nellen und Edwin Rabbie (Hrsg.): Hugo Grotius - theologian. Essays in Honour of G.H.M. Posthumus Meyjes. Leiden 1994. Vgl. zum Beispiel Christian Thomasius: Historia Juris Naturalis, S. 4. Ders.: Vorrede von der Historie des Rechts der Natur bis auf Grotium; von der Wichtigkeit des Grotianischen Werks und dem Nutzen gegenwärtiger Übersetzung. In: Hugo Grotius: De Jure Belli ac Pacis Libri tres. Drei Bücher vom Recht des Krieges und des Friedens. Neuer deutscher Text und Einleitung von Walter Schätzel. Tübingen 1950, S. 25f.. Gottlieb Stolle: Anleitung zur Historie der Gelahrheit. Jena 1736, S. 658. Adam Friedrich Glafey: Vollständige Geschichte des Rechts der Vernunfft. Leipzig 1739, S. 34. Siehe dazu auch Knud Haakonssen: Hugo Grotius and the History of political Thought. In: Political Theory. Vol 13, No. 2. Beverly Hills, London, New Delhi 1985, S. 239. Vgl. Thomasius: Vorrede, S. 26.

65 zwar gemessen an den Standards der frühen Aufklärung - vergleichsweise stark traditionellen Theoriebeständen verhaftet blieb.10 Thomasius schrieb dies - wohlmeinend - einer kalkulierten und durchaus angezeigten Behutsamkeit im Umgang mit der einflußreichen Tradition zu, galt es doch einerseits um der Sache willen, den Zorn der Schulgelehrten »gegen die unter der Bank hervorgeholten vernünftigen Moral«11 nicht allzu sehr zu erregen, und mußte doch Grotius andererseits aus naheliegenden Gründen vermeiden, »daß man ihn so feindlich anfiel, als es hernach bei andern geschehen ist, die die Maske ablegten und die scholastischen Grillen unverborgen anzutasten sich unterstanden«.12 Zweifellos war Grotius wohl kaum daran gelegen, ausgerechnet mit einem Werk, das dem eigenen Selbstverständnis nach dem Frieden dienen sollte,13 Gräben aufzureißen und Konflikte zu schüren; daß sich die traditionellen Theorieanteile in Grotius' De jure belli ac pacis allerdings allein oder vor allem kluger Umsicht verdanken, darf indes bezweifelt werden. Ganz abgesehen von den denkbaren Motiven, die Grotius veranlaßt haben könnten, auf einen vollständigen Bruch mit der überlieferten Theorie zu verzichten, müßte die Kombination von traditionellen und innovativen Theorieelementen im einzelnen genau analysiert werden, um von Fall zu Fall verbindlich feststellen zu können, welchen Stellenwert den traditionellen Momenten im Kontext einer doch immerhin als innovativ rezipierten Theorie tatsächlich zukommt. Zugespitzt auf das Problem einer nach den Standards aufklärerischer Rechtslehre unzulässigen Vermischung von Theologie und Jurisprudenz bzw. Philosophie stellt sich daher die Frage, inwiefern Argumente, die ursprünglich dem theologischen Theorierepertoire zugehörten, geeignet sind, die hier einmal unterstellte Profanität von Grotius' Rechtstheorie wirkungsvoll in Frage zu stellen. So ist beispielsweise der Versuch, mit Hilfe von Bibelzitaten rechtstheoretische Aussagen zu stützen oder zu belegen, nicht von vornherein ein untrügliches Indiz für die theologische Unterfütterung juristischer Vorstellungen. Vielmehr muß im Einzelfall geprüft werden, worin die beanspruchte Beweiskraft der Bibel genau gesehen wurde: solange nicht das offenbarte Wort Gottes zum tragenden Beweis für Aussagen herangezogen wird, die methodisch nur

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»Hugonis Grotii intentio fuit, in libris de jure belli ac pacis separare jus naturale a jure positivo, divinum ab humano. Fundamentum posuit partim obscurum et falsum, Scholasticorum convenientiam cum sanctitate divina, partim verum, et olim jam a Cicerone de officiis inculcatum, convenientiam de socialitate humana. Immiscuit etiam multa Theologica, unde multi in eum commentati sunt.« Thomasius: Historia Juris Naturalis, S. 4. Thomasius: Vorrede, S. 26. Thomasius: Vorrede, S. 26. Vgl. Hugo Grotius: Vom Recht des Krieges und des Friedens, Kapitel 25: Schluß, nebst einer Ermahnung zur Treue und zum Frieden, S. 597f.

66 mit profanen Mitteln zu begründen wären, kann von einer relevanten Diffusion von Theologie und Jurisprudenz oder Philosophie nicht gesprochen werden.14

1. »Verissimum illud, omnia incerta esse simul a jure recessum est«: Hugo Grotius De Jure Belli ac Pacis erschien 1625 im Pariser Exil des außer Landes getriebenen niederländischen Politikers, Rechtsgelehrten und späteren Diplomaten Hugo Grotius. Das Werk ist also nach Ausbruch des Dreißigjährigen Krieges verfaßt worden und dürfte wohl nachhaltig durch die Erfahrungen des ebenfalls bis 1648 währenden achtzigjährigen Unabhängigkeitskampfes der Niederländer geprägt worden sein. Es gilt gemeinhin und zweifellos zu Recht als epochemachender Klassiker des Völkerrechts, und es ist doch - auch darüber besteht in der Forschung kein Dissens - zugleich weitaus mehr als das, denn Grotius entwickelt die theoretischen Voraussetzungen, auf deren Grundlage völkerrechtliche Regelungen allererst sinnvoll basiert werden können. So liefert Grotius nicht nur eine allgemeine Theorie des Rechts, die sowohl eine Rechtsquellenlehre umfaßt als auch eine ausführliche Erläuterung von Rechtsverletzungen und deren Folgen, sondern auch eine Theorie des Staates als dem Subjekt und Objekt völkerrechtlicher Abmachungen, wobei er den Staat nicht nur in seinen äußeren Beziehungen im Verhältnis zu anderen Staaten reflektiert, sondern - vermittelt über eine Theorie der Souveränität - auch von Fragen des inneren Staatsrechts handelt. Denn Krieg gilt ihm nicht allein als Problem zwischenstaatlicher Gewalt, Krieg existiert eben auch als innerstaatliche Auseinandersetzung, etwa als »Krieg der Untertanen gegen die Obrigkeiten«.15 Angesichts dieser weit über eine rein völkerrechtliche Fragestellung hinausweisenden Ambitionen, die letztenendes auf eine umfassende rechtliche Strukturierung aller staatlichen wie überstaatlichen Lebensverhältnisse zielt,16 kann Hasso Hofmann mit Recht folgendes feststellen: »Genau bese-

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Vgl. dazu etwa Johann Sauter: Die philosophischen Grundlagen des Naturrechts. Wien 1932, der »die Hl.Schrift [...] als Erkenntnisgrund gleichberechtigt neben der ratio« (S. 91) stehen sieht, ohne auf die grundlegenden begründungslogischen Differenzen aufmerksam zu machen. Ähnlich auch Heinrich Rommen: Die ewige Wiederkehr des Naturrechts. 2. Aufl. München 1947, S. 71, der sich in seinen Ausführungen zu Grotius so gut wie vollständig auf die von Sauter gelieferten Vorgaben verläßt. Vgl. Grotius: Vom Recht des Krieges und des Friedens, 1,4., siehe dazu ausführlich unten II. 1.3.4. Vgl. Christoph Link: Hugo Grotius als Staatsdenker. Tübingen 1983, S. 18f.

67 hen erweist sich dieses >Recht des Krieges und des Friedens< so als eine an den Kriegsgreueln der Zeit Anstoß nehmende und von daher akzidentiell völkerrechtlich orientierte, im Gedanken der Gerechtigkeit gründende, das Recht systematisch aber von den denkbaren Rechtsverletzungen her reflektierende Rechtsphilosophie - als allgemeine Rechtslehre, wie man eine solche Bearbeitung des >natiirlichen und unveränderlichen Teil(s) der Rechtswissenschaft (Prol. 31) vor Hegel genannt hat. Und in der Tat: allgemein ist diese grotianische Rechtslehre in einem dreifachen Sinn. Sie ist umfassend, einheitlich und ubiquitär«.17

1.1. Der mos geometricus und die »wahrhaft christliche Methode«: methodische Probleme Die Methode, mit der Grotius sowohl auf sein Material zugreift als auch die von ihm angestrebte vollständige Ordnung seines Gegenstandes durchführt, ist weniger einlinig und konsequent als dies durch die Forschungsliteratur häufig suggeriert wird.18 Die von Grotius in seiner Vorrede erläuterten »Hilfsmittel« und »Grundsätze«,19 auf denen sein Werk methodisch gegründet ist, umfassen sehr unterschiedliche Zugehensweisen, die auch dann nicht ohne weiteres zu integrieren sind, wenn man berücksichtigt, daß der unterschiedliche Status der von Grotius untersuchten Rechtstypen - unveränderliches Naturrecht einerseits und willkürliches positives Recht andererseits - einen unterschiedlichen methodischen Zugang unter Umständen durchaus rechtfertigen könnte. Dabei versäumt es Grotius allerdings, die differierenden Verfahrensweisen von ihren Funktionen her eindeutig zu 17

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Hasso Hofmann: Hugo Grotius. In: Ders.: Recht-Politik-Verfassung. Frankfurt am Main 1986, S. 49. Vgl. u.a. H.J. van Eikema Hommes: Hugo de Groot's betekenis voor de rechtsfilosofie. In: Encyclopedic der rechtswetenschap: Hugo de Groot 1583-1645. Zwolle 1983, S. 32-50. Trotz der von Grotius selbst vorgenommenen Differenzierungen stellt van Eikema Hommes allein auf die mathematische Methode ab. Siehe auch Panajotis Kondylis: Die Aufklärung. München 1981, S. 150-152, - der zwar einräumt, daß Grotius nicht im Stande war, seine Rechtslehre mathematisch durchzuführen, aber bereits in der Rationalität seines »normativ-unveränderlichen« Naturrechts eine »grundsätzliche Strukturähnlichkeit zur rationalistischen Erkenntnistheorie der mathematisch orientierten Naturwissenschaft« erkennen will. Christoph Hölzeis Münchner Dissertation von 1970, Grundlagen des Rechtsund Staatsdenkens bei Hugo Grotius, macht immerhin noch ansatzweise auf methodische Widersprüche aufmerksam, während Paul Ottenwälder in seiner Arbeit Zur Naturrechtslehre des Hugo Grotius (Tübingen 1950) den Anschein erweckt, als könnten die von ihm zumindest teilweise benannten unterschiedlichen Verfahrensweisen problemlos synthetisiert werden. Der Sache weitaus angemessener: Wolfgang Röd: Geometrischer Geist und Naturrecht. München 1970, S. 70-76. Grotius: Vom Recht des Krieges und des Friedens, Vorrede 39.

68 bestimmen und sie etwa über eine Hierarchie in ein nachvollziehbares Verhältnis zu setzen. Erschwerend kommt hinzu, daß den einzelnen methodischen Hinweisen nicht selten die notwendige verbindliche Klarheit und Eindeutigkeit abgeht. Dies beginnt etwa mit dem häufig überschätzten, tatsächlich aber viel zu vagen Bekenntnis zum mos geometricus. Obwohl der von Grotius exponierte Begriff eines an der vernünftigen Natur selbst orientierten Naturrechts 20 eine nach mathematischer Methode vollzogene Naturrechtsbegründung ermöglicht, vielleicht sogar nahelegt, sind die vereinzelten Hinweise kaum geeignet, einen Beweis dafür zu liefern, daß Grotius ein nach mathematischen Prinzipien organisiertes Begründungsprogramm in Anspruch nehmen wollte. In diesem Sinne untauglich ist auch eine Stelle, die von einem Teil der Literatur vorzugsweise als methodologische Grundsatzaussage angeführt wird;21 Grotius stellt gegen Ende seiner Vorrede fest: »Man tut mir unrecht, wenn man glaubt, ich hätte auf die Streitfragen der Gegenwart Rücksicht genommen, mögen sie schon bestehen oder bald hervortreten. Denn ich gestehe offen, daß ich nach Art der Mathematiker, welche ihre Figuren getrennt von den Körpern betrachten, bei der Behandlung des Rechts jeden Einzelfall außer Betracht gelassen habe« 2 2 Ein Bekenntnis zur mathematischen Methode wird man hieraus wohl nur schwerlich ableiten können, vielmehr fungiert der Hinweis auf die Mathematik strenggenommen nur als illustrativer Vergleich, wobei das tertium comparationis in der Abstraktheit und der angestrebten Allgemeingültigkeit zu finden ist. Damit ist weder etwas über die besonderen Verfahrensweisen der Mathematik im Hinblick auf die Konstruktion von Urteilen und ihrer Verknüpfung ausgesagt noch etwas über die Vorzüge mitgeteilt, die die mathematische Methode innerhalb der Rechtstheorie haben könnte. 23 Das gleiche gilt für eine andere Textstelle, die ebenfalls als Beleg für den mos geometricus bei Gro-

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Vgl. Grotius: Vom Recht des Krieges und des Friedens, 1,10,1. Siehe dazu ausführlicher unten II. 1.2.1. Vgl. etwa Ottenwälder: Naturrechtslehre, S. 3, van Eikema Hommes: Hugo de Groot's betekenis, S. 38. Dagegen hat neuerdings Robert Schnepf insgesamt zu Recht betont: »Nicht das mathematische Erkenntnisideal war für Grotius bestimmend, sondern die methodische Auseinandersetzung mit der Geschichte«. Robert Schnepf: Naturrecht und Geschichte bei Hugo Grotius. Ein methodologisches Problem rechtsphilosophischer Begründung. In: Zeitschrift für Neuere Rechtsgeschichte. Jahrgang 20, Nr. 1/2. 1998, S. 8. Grotius: Vom Recht des Krieges und des Friedens, Vorrede 58. Allerdings ist die Behauptung, »nach Art der Mathematiker« vorgegangen zu sein dennoch mehr als nur eine »Phrase« (vgl. Hofmann: Hugo Grotius, S. 51.), denn in den bescheideneren Dimensionen seiner tatsächlichen Funktion erfüllt der Hinweis durchaus seinen Zweck.

69 tius herangezogen wird. 24 Grotius stellt in Zusammenhang mit dem Problem der richtigen Erkenntnis moralischer Normen fest: »Es ist hier wie in der Mathematik, wo es gewisse Axiome und gewisse Beweise gibt, die gleich eingesehen werden und Zustimmung finden, und andere, die zwar auch wahr sind, aber nicht von jedermann eingesehen werden«. 25 Ohne die methodischen Vorgaben der Mathematik auf rechtstheoretische Materien zu übertragen, wird hier die Mathematik wiederum nur als Vergleich bemüht, das Argument soll mit Hilfe der Illustration an Aussagekraft gewinnen, ohne daß hier der Anspruch einer mathematischen Beweisführung erhoben würde. Die Mathematik fungiert bei Grotius im übrigen nicht nur als positiver Vergleichsmaßstab, sie wird vielmehr auch als negatives Distinktionsmittel beansprucht: so stellt Grotius in ausdrücklicher Anlehnung an Aristoteles beiläufig fest, daß in Fragen der Moral nicht derselbe Grad an Erkenntnissicherheit erlangt werden kann wie in der Mathematik. 26 Damit ist der mathematischen Methode strenggenommen noch keine definitive Absage erteilt worden, immerhin wäre ein Verfahren denkbar, daß sich soweit wie sachlich eben nur möglich an der Mathematik orientierte. Doch deutet bereits der positive Bezug auf Aristoteles darauf hin, daß Grotius eine mathematische Behandlung moralischer Fragen zumindest für unzureichend hält und dagegen - ähnlich wie Aristoteles - der konkreten (geschichtlichen) Erfahrung eine mindestens ebenso große Bedeutung zumißt; 27 - die Ausführung seiner Rechtslehre dürfte dies in hinreichendem Maße belegen. Die Durchführung einer mathematischen Lehrart hat später auch Christian Wolff im Werk von Hugo Grotius nicht wiederentdecken können. 28 Obwohl - wie noch zu zeigen sein wird - der Vorwurf sicherlich falsch ist, Grotius habe sich an die Lehrart gehalten, »die allgemein üblich war«, kann Wolff gerade auf dem Hintergrund seiner eigenen Metaphysik mit einigem Recht monieren, daß Grotius »seine Gründe mehr angegeben als entwickelt und noch öfter überhaupt keine Gründe angegeben« 29 habe. Dabei will er ihm »nicht zur Last legen, daß er auf das Tun und Denken der Alten so viel gibt«, doch stellt er bei aller Wertschätzung zugleich kritisch fest: »In den Tatsachen, die er anführt, stecken nicht selten Lehrsätze, und daraus ergibt

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Vgl. Holzel: Grundlagen, S. 9f. Grotius: V o m Recht des Krieges und des Frieden, 11,20,1. Vgl. Grotius: V o m Recht des Krieges und des Friedens, 11,23,1. Vgl. Aristoteles: Nikomachische Ethik, 1,1. Vgl. Hugo Grotius: De jure belli ac pacis. Editio nova cum annotatis et praefatione Chr. Wolfii. Marburg 1734. Zitiert nach Ernst Reibstein: Deutsche Grotius-Kommentatoren bis zu Christian Wolff. In: Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht. Band 15, 1953/1954, S. 77.

70 sich allerdings ein Übelstand: wichtige Begriffe, die fur das Verständnis des Ganzen notwendig sind, müssen aus verstreuten Angaben erschlossen werden und erfordern eine erhebliche Anstrengung, wenn man zu angemessenen Definitionen gelangen will; die Tatsachen verdrängen die Realität der Begriffe und nehmen den Geist gegen die logischen Voraussetzungen ein, wie wenn diese die Ausgeburten einer üppigen Phantasie wären«. 30 Was der Philosoph Christian Wolff hier mit Blick auf sein eigenes Methodenideal kritisiert, dürfte der Jurist und politische Praktiker Hugo Grotius indessen zumindest teilweise - für einen entscheidenden Vorteil seines Verfahrens gehalten haben. So sehr es auch seine »erste Sorge gewesen war, die Erörterung naturrechtlicher Fragen auf so feste Begriffe zurückzuführen, daß niemand, ohne sich Gewalt anzutun, sie verleugnen könne«,31 so wenig scheint er dies, abstrakt und a priori, allein aus den Mitteln der eigenen Vernunft unternehmen zu wollen. Mit dem Zugriff auf eine Unzahl ganz verschiedenen Quellenmaterials, das er der Geschichte, der Bibel oder den Werken anderer Autoren entnimmt, sichert sich Grotius den Zugang zu den Sedimenten fremder historischer Erfahrung und gleichzeitig die Möglichkeit, eigene Erfahrungen und Erkenntnisse zu verbreitern, zu intensivieren und nicht zuletzt zu validieren. Grotius kommt gewissermaßen der eigenen, auf Vernunft gegründeten apriorischen Erkenntnis mit der Hilfe des umfangreich aufgebotenen historischen Materials a posteriori entgegen. 32 Und dies in zweierlei Hinsicht, denn das bemühte Material besteht entweder aus historischen Fakten, die kritisch mit den eigenen Erkenntnissen vermittelt werden können, oder aus fremder theoretischer Reflexion, anhand deren das eigene Vernunfturteil überprüft werden kann. 33 30

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Zitiert nach Reibstein: Deutsche Grotius-Kommentatoren, S. 77. Grotius: V o m Recht des Krieges und des Friedens, Vorrede, 39. Vgl. dazu Emanue! Hirsch: Geschichte der neuern evangelischen Theologie. Band 1. 2. Aufl. Gütersloh 1960, S. 17. Sowie den knappen Hinweis bei van Eikema Hommes. Hugo de Groot's betekenis, S. 41 f. Im ersten Kapitel von D e jure belli ac pacis stellt Grotius ganz ausdrücklich der »scharfsinnigeren« apriorischen Naturrechtsbegründung die »gewöhnliche« aposteriorische entgegen: »A priori, si ostendatur rei alicuius convenientia aut disconvenientia necessaria cum natura rationali ac sociali: a posteriori vero, si non certissima fide, certe probaliter admodum, iuris naturalis esse colligitur id quod apud omnes gentes, aut moratiores omnes tale esse creditur.« Grotius: De jure belli ac pacis, 1,1,XII, 1. Christoph Link stellt daher zu Recht fest: »Wenn Grotius' eigene Aussagen zwischen der Fülle des Belegmaterials aus allen Zeiten und bekannten Kulturen oft nur mühsam auszumachen sind, so ist das nicht Ausdruck gelehrter Selbstgefälligkeit. Antike, Bibel, germanisches, mittelalterliches und zeitgenössisches Rechtsdenken wie dessen institutioneller Niederschlag werden kritisch gesichtet und auf ihr Erfahrungspotential hin überprüft. [...] Gerade diese breit ausgelegte Basis verhindert allzu rasche inhaltliche Verengungen naturrechtlicher Gehalte.« Link: Hugo Grotius, S. 21. Dagegen hält Hermann Klenner das von Grotius gewählte Verfahren zwar fllr »undogmatisch« und dem »monolithisch-universa-

71 Die unterschiedlichen Materialien werden dabei z.T. ihrer Gattungsunterschiede entsprechend unterschiedlich eingesetzt. So wird den »Aussprüchen der Dichter und Redner«34 kein großes Gewicht beigemessen, ihrer mangelnden Beweiskraft wegen werden sie nur zu dekorativen Zwecken herangezogen. Dagegen wird die Bibel als von Gott selbst inspirierte Quelle vor allem und zunächst zur Erörterung des göttlichen positiven Rechts beansprucht.35 Dem gleichen Zweck dienen die Beschlüsse der Synoden, denn »so weit sie richtig sind« - zeigen sie »entweder, was das göttliche Gesetz gebietet, oder sie ermahnen zu dem, was Gott genehm ist«.36 Die Geschichte, auf die Grotius besonderen Wert legt, bietet »Beispiele und Grundsät" ze«,37 wobei allerdings unklar bleibt, woher Grotius die Maßstäbe für die Gewichtung der Beispiele bezieht und auf welche Weise die spezifische Grundsätzlichkeit der konstatierten Grundsätze begründet wird. Die größte Bedeutung kommt den »Aussprüchen der Philosophen, Geschichtsschreiber, Dichter ja selbst der Redner«38 zu, mit ihrer Hilfe versucht Grotius, das Naturrecht zu beweisen. Dabei wird nicht dem Urteil eines einzelnen Autors ohne weiteres Glauben geschenkt, vielmehr kristallisiert sich in der Summe der unterschiedlichen Stimmen ein tragfähiges, d.h. beweiskräftiges Urteil allererst heraus. Denn, so erläutert Grotius, »wenn viele aus verschiedenen Zeiten und allen Orten dasselbe als gewiß behaupten«, weist »dies auf einen allgemeingültigen Grund« hin, »der in unseren Erörterungen kein anderer sein kann als die richtige Schlußfolgerung, wie sie sich aus der Natur der Sache ergibt«.39 Grotius schlägt damit ein induktives und indirektes Beweisverfahren vor, das sich als zweiter Schritt einem ihm vorausgehenden a priori vollzogenen Vernunfturteil anschließt. Die gewählte zweischrittige Vorgehensweise ist deshalb bemerkenswert, weil Grotius hier zwei unterschiedliche theoretische Stränge auf eine ausgesprochen intrikate Weise miteinander verknüpft. Dabei ist allein schon die Tatsache interessant, daß Grotius einen zweiten Schritt als indirekten Beweis für ein vorab geleistetes Vernunfturteil überhaupt für notwendig hält, obwohl doch die Grundsätze des Naturrechts - nach seinem eigenen Bekunden - »bei einiger Aufmerk-

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listischen Welt- und Rechtsbild des Mittelalters« entgegenstehend, aber er halt es auch durchaus zu Unrecht - für »prinzipienlos«. Hermann Klenner: Hugo Grotius und die Geburt des bürgerlichrationalen Naturrechts. In. Wissenschaftliche Zeitschrift der WilhelmPieck-Universität Rostock. Gesellschaftswissenschaftliche Reihe. Jahrgang 32, Heft 10. Rostock 1982, S. 7. Grotius: Vom Recht des Krieges und des Friedens, Vorrede 47. Vgl. Grotius: Vom Recht des Krieges und des Friedens, Vorrede 48-50. Grotius: Vom Recht des Krieges und des Friedens, Vorrede 51. Grotius: Vom Recht des Krieges und des Friedens, Vorrede 46. Grotius: Vom Recht des Krieges und des Friedens, Vorrede 40. Grotius: Vom Recht des Krieges und des Friedens, Vorrede 40.

72 samkeit ebenso offenbar und überzeugend [sind] wie die sinnlichen Gegenstände, die ebenfalls nicht täuschen, wenn die Sinnesorgane gesund sind«.40 Die eigene Vemunfterkenntnis, die selbst wiederum mit den Mitteln der eigenen Vernunft zu beweisen wäre, hält Grotius offenkundig - bei aller Wertschätzung eines rationalen Verfahrens - in letzter Konsequenz als alleinige Basis der Erkenntnis doch nicht für ausreichend.41 Er bemüht daher als Beweis für das eigene Vernunfturteil einen induktiv rekonstruierten consensus communis, der aber seine Beweiskraft nicht aus der bloßen Übereinstimmung bezieht - so als könne ein wahres rationales Urteil ebensogut und ohne jeden Verlust an Wahrheitsgehalt durch eine pragmatische Übereinstimmung problemlos ersetzt werden - vielmehr gilt der Konsens indirekt über die mit ihm behauptete Allgemeinheit nur deshalb als beweiskräftig, weil in ihm ein Indiz für eine richtige, aus der Natur der Sache sich ergebende Schlußfolgerung gesehen wird. Obwohl sich Grotius darüber klar gewesen sein muß, daß die von ihm beobachtete Übereinstimmung Erkenntnisse miteinander vereinbart, die sich im Einzelfall ganz unterschiedlichen Verfahrensweisen verdanken müssen - also tatsächlich nur vom Ergebnis her einander gleich sind - , analogisiert er diese Allgemeinheit indizierende Übereinstimmung mit dem von ihm offensichtlich insgesamt favorisierten rationalen Verfahren. Er tut dies, indem er den festgestellten Konsens ex post als Resultat einer richtigen Schlußfolgerung ausgibt, die genaugenommen nur der Übereinstimmung selbst unterstellt werden kann, nicht aber jeder einzelnen in den Konsens eingegangenen Erkenntnis. Tatsächlich liegt freilich keine methodisch sachgerecht vollzogene >richtige Schlußfolgerung< (»recta illatio«)vor: Grotius schreibt der Übereinstimmung bloß analogisch die erkenntnistheoretische Wertigkeit einer nichtigen Schlußfolgerung< zu. Methodisch mag dies mehr als zweifelhaft sein - es unterstreicht aber die Bedeutung, die Grotius der cognitio rationalis gegenüber einer cognitio historica einräumt. Und gleichzeitig gelingt ihm mit dieser Konstruktion die Einbeziehung der offenbar von ihm als unabweisbar erkannten historischen Erfahrung in seinen rationalen Erkenntnisprozeß. Ohne sich der Kontingenz des Geschichtlichen zu überlassen, übersetzt er quasi die Gehalte einer cognitio historica in die cognitio rationalis, um so historische Erkenntnisse für die eigene Theorie sinnvoll fruchtbar zu machen. Es muß allerdings fraglich bleiben, ob die konstatierte Übereinstimmung als Element einer cognitio historica immer nur affirmativ und nur als sekundäre Bestätigung eines vorausgehenden rationalen Urteils fungiert, oder ob die historische Erfah-

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Grotius: Vom Recht des Krieges und des Friedens, Vorrede 39. Siehe dagegen die methodischen Überlegungen von Christian Wolff in der Vorrede zu den »Grundsätzen des Natur- und Völkerrechts«. Halle 1754, Reprint 1980.

73 rung und Reflexion auch im originären Sinne theoretisch produktiv wird. 42 Die hier interpretierte Textstelle scheint lediglich eine affirmative Funktion zuzulassen, andere Textpassagen, die ganz ausdrücklich die produktive Bedeutung der Historie thematisieren, legen dagegen eine andere Lesart nahe. 43 Der gefundene Konsens beruht allerdings nur dem Schein nach auf einer quasi zufälligen und ungezwungenen Rekonstruktion: wie im Grunde nicht anders zu erwarten, wählt Grotius seine Belege nach Maßgabe seiner eigenen Erkenntnis aus, wenn auch insgesamt wohl nicht in Abrede gestellt werden kann, daß er sich durch fremde Erkenntnisse, die ihm immerhin Reflexionsmaterial bieten, anregen läßt und sie auf diese Weise in seinen eigenen Erkenntnisprozeß einbringt. Grotius macht sich hierbei eine Methode zueigen, die er selbst - vermutlich in Ermangelung einer besseren, wissenschaftlich akzeptierten Terminologie - als »wahrhaft christliche Methode« 44 (»vera Christiana disciplina«) bezeichnet, die aber tatsächlich - folgt man Grotius' eigener Beschreibung - alle geläufigen Kennzeichen der Eklektik aufweist. Diese finden sich bereits in der maßvollen anti-aristotelischen Stoßrichtung, mit der er seinen methodischen Zugriff in einer für die spätere Eklektik typischen Weise einführt und begründet. Der kritische Impetus richtet sich dabei weniger gegen Aristoteles selbst als vielmehr gegen die Aristoteliker, denn - so räumt Grotius ein - »unter den Philosophen gehört dem Aristoteles mit Recht die erste Stelle«, doch ist »dieser Vorrang in den letzten Jahrhunderten in eine Tyrannei ausgeartet, in deren Folge die Wahrheit, der Aristoteles getreulich seine Kräfte gewidmet hat, durch nichts mehr als durch seinen Namen unterdrückt« 45 wurde. Der Versuch, sich der Tyrannei einer sektiererischen Dogmatik zu entziehen, führt Grotius - zumindest an dieser Stelle - nicht zur Formulierung einer eigenen alternativen methodologischen Dogmatik, er ist vielmehr bemüht, die Lehrmeinungen der Aristoteliker eklektisch zu unterlaufen. Vor allem mit Bezug auf Lactanz, 46

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Indem er das Naturrecht bei Grotius als das ausschließliche Ergebnis einer »vernünftigen Bearbeitung der Geschichte der Rechtsmeinungen« auffaßt, tritt Robert Schnepf ganz offenkundig fllr die zuletzt genannte Sichtweise ein. Schnepf: Naturrecht und Geschichte bei Grotius, S. 13. Vgl. auch Stephen Buckle, der bündig feststellt: »Grotius treats the law of nature both innate and historical«. Stephen Buckle: Natural Law and the Theory of Property. Grotius to Hume. Oxford 1991, S. 6. Vgl. Grotius: Vom Recht des Krieges und des Friedens, Vorrede 38, 46. Grotius: Vom Recht des Krieges und des Friedens, Vorrede 42. Grotius: Vom Recht des Krieges und des Friedens, Vorrede 42. Vgl. die von B.J.A. de Kanter-van Hettinga Tromp besorgte kritische Ausgabe von De iure Belli ac pacis Lugdunum Batavorum 1939, S. 22, Fn. 1. Siehe auch Horst Dreitzel: Zur Entwicklung und Eigenart der eklektischen Philosophien In: Zeitschrift fllr Historische Forschung. Band 18, Heft 3. Berlin 1991, S. 306.

74 möglicherweise auch mit Blick auf das bekannte Paulus-Diktum »Alles aber prüfet, das Gute behaltet!«47 hebt Grotius programmatisch hervor: »Ich folge hier und anderwärts der Freiheit der alten Christen, welche auf keines Philosophen Sekte schwuren, und zwar nicht weil sie denen beistimmten, die alle Erkenntnis leugneten, was ja zu töricht wäre, sondern weil sie meinten, daß keine Sekte alle Wahrheit besessen habe und keine gewesen sei, die gar nichts Wahres erkannt hätte. Nach ihrer Ansicht bestand daher die wahrhaft christliche Methode darin, die im einzelnen zerstreute und unter die Sekten verteilte Wahrheit in ein ganzes zu sammeln«. 48 Hier wird deutlich, daß Grotius sich nicht »eher als Eklektiker« »fühlte«, wie Wolfgang Rod allzu vorsichtig formuliert,49 vielmehr gibt er sich, lange bevor die Eklektik in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts an Einfluß gewinnen sollte, 50 geradezu ausdrücklich als Eklektiker zu erkennen.51 Grotius' methodische Präferenz 47 49

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Paulus in 1. Thessalonicherbrief 5, 21. Grotius: Vom Recht des Krieges und des Friedens, Vorrede 42. Röd: Geometrischer Geist, S. 70. Als eigentliche Begründer der neuzeitlichen Eklektik werden in der Forschung vor allem Grotius' Freund Gerhard Johannes Vossius (De philosophorum sectis 1657) und der Altdorfer Philosoph Johann Christoph Sturm (Exercitatio de philosophia sectaria et electiva 1679, Philosophia eclectica 1686) genannt. Die Eklektik hatte dann vor allem durch den Einfluß von Christian Thomasius und Johann Franz Budde so weit an Bedeutung gewonnen, daß 1726 in Walchs Philosophischem Lexicon folgendes festgestellt werden konnte: »Heut zu Tag hat sich eine fast unzählige Menge derer, welche die Weltweisheit theils schriftlich, theils mündlich vorgetragen haben, die eclectische Art als die vernünftigste gefallen lassen.« (Sp. 834). Siehe dazu die an Ausführlichkeit nicht mehr zu übertreffende begriffsgeschichtliche Studie von Michael Albrecht: Eklektik. Eine Begriffsgeschichte mit Hinweisen auf die Philosophie und Wissenschaftgeschichte. Stuttgart-Bad Cannstatt 1994; sowie die Arbeiten von Helmut Holzhey: Philosophie als Eklektik. In: Studia Leibnitiana. Band XV, Heft 1. Wiesbaden 1983, S. 19-29. Werner Schneiders: Vernünftiger Zweifel und wahre Eklektik. In: Studia Leibnitiana. Band XVII, Heft 2. Wiesbaden 1985, S. 143-161. Wilhelm Schmidt-Biggemann: In nullius verba iurare magistri. Über die Reichweite des Eklektizismus. In: Ders.: Theodizee und Tatsachen. Frankfurt am Main 1988, S. 203-222. Sowie Horst Dreitzel: Zur Entwicklung und Eigenart der eklektischen Philosophien In: Zeitschrift für historische Forschung. Band 18, Heft 3. Berlin 1991, S. 281-343. Die methodische Besonderheit, die sich mit der »wahrhaft christlichen Methode« als Vorwegnahme der späteren Eklektik verbindet, scheint der bisherigen Grotius-Forschung - abgesehen von den begrenzten Ansätzen bei Röd - entgangen zu sein. Weil ihm der implizite Bezug auf die Patristik nicht deutlich war, mußte beispielsweise Ottenwälder einigermaßen ratlos konstatieren: »Diese Meinung Uber die wahrhaft christliche Methode< ist unverständlich. Das Christentum, insbesondere die alte Kirche, war sich immer bewußt, im Besitz der Wahrheit zu sein und hat es abgelehnt, bei Sekten Anleihen zu machen«. Ottenwälder: Naturrechtslehre, S. 4. Noch uninformiert über die methodischen Funktionen der Eklektik gerade im Hinblick auf das praejudicium autoritatis glaubt Christoph Holzel in der »wahrhaft christlichen Methode« das Instrument für eine »Argumentation aus der Autorität« zu erkennen. Holzel: Grundlagen, S. 8. Ein kurzer, nicht weiter gedeuteter Hinweis auf Grotius' Eklektik findet sich immerhin bei Günter Hoffmann-Loerzer: Studien zu

75 belegt, daß der von ihm rekonstruierte Konsens in gewisser Weise von ihm selbst hergestellt worden ist. Denn eine auswählende Eklektik, die gerade kein Synkretismus sein will, ist an Vorannahmen gebunden, die sowohl die Wahrnehmung der tradierten Theoriebestände als auch die eigentliche Auswahl derjenigen Theorieelemente steuert, die der eigenen Theorie implementiert werden sollen. Obwohl also die Eklektik als prinzipiell offene >Methodemodern< theory of natural law. In: Anthony Pagden (Hrsg.): The Languages of political Theory in Early-modern Europe. Cambridge 1987, S. 100. Vgl. Schneiders: Vernünftiger Zweifel und wahre Eklektik, S. 153; Dreitzel: Zur Entwicklung und Eigenart der eklektischen Philosophie^ S. 290. Schmidt-Biggemann: In nullius verba iurare magistri, S. 204. Das »paradoxe Prinzip der Prinzipienlosigkeit«, von dem Schneiders spricht (S. 153), würde insofern nur dem Schein nach, und zwar als gezielt eingesetzte und durchaus produktive Rhetorik bestehen.

76 wird nicht nur notgedrungen zu einem Sektierer - wie Schneiders betont 55 - , er ist strenggenommen immer schon einer gewesen. Allerdings liegt die methodische Besonderheit der Eklektik und damit ihre unbestreitbar innovative Potenz in der grundsätzlichen Chance, im Verlauf des eklektischen Erkenntnisprozesses selbst die ursprünglich zugrundegelegten Vorannahmen und Auswahlkriterien zu transformieren: Eklektik ist von daher in einer doppelten Hinsicht offen: zum einen bezüglich ihres theoretischen Gegenstandes und zum anderen im Hinblick auf ihre eigenen Voraussetzungen. Hierin dürfte wohl der Grund dafiir liegen, daß die Eklektik - wie im vorliegenden Fall - häufig dann auftaucht, wenn ein methodisches Paradigma bereits erkennbar erschöpft ist, gleichzeitig aber noch kein neues Paradigma definitiv an seine Stelle treten konnte und sich dennoch die Notwendigkeit unabweisbar abzeichnet, die überkommenen Theoriebestände zu sichten und mit Blick auf die neuen Problemkonstellationen neu zu befragen. Eklektik ist so gesehen weniger ein Zeichen methodischer Schwäche als vielmehr das Signum eines sich anbahnenden Neubeginns. Eklektik als Auswahl bezieht sich immer auf das Bestehende bzw. auf das Tradierte, sie war daher im 17. und 18. Jahrhundert immer auch das ausgezeichnete Instrument, Geschichte zu mobilisieren und sich des Historischen zu versichern. 56 Darum scheint es auch Grotius in erster Linie gegangen zu sein: Eklektik erlaubte ihm den Zugriff auf historische Erfahrung und ihre Reflexion; sie ermöglichte ihm die Rückbindung seiner Theorie an einmal gewesene und daher überschaubare Praxis, und zwar als theoretische Versicherung und praktische Erprobung. So gesehen steht Grotius' Rechtstheorie auf zwei sehr unterschiedlichen Beinen: zum einen beruht sie auf einer apriorischen und Erkenntnissicherheit gewährleistenden cognitio rationalis und zum anderen auf einer a posteriori ins Spiel gebrachten und über die Eklektik vermittelten cognitio historica. Auf diese Weise versucht Grotius Erkenntnissicherheit und Praxisrelevanz miteinander zu verbinden, beides dürfte er vor allem mit Blick auf den Entstehungskontext seines Werkes als ausgesprochen dringlich empfunden haben.

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Vgl. Schneiders: Vernünftiger Zweifel und wahre Eklektik, S. 153. Vgl. Schmidt-Biggemann: In nullius verba iurare magistri, S. 205. Sowie ders.: Zwischen dem Möglichen und dem Tatsächlichen. Rationalismus und Eklektizismus, die Hauptrichtungen der deutschen Aufklärungsphilosophie. In: Ders.: Theodizee und Tatsachen. Frankfurt am Main 1988, S. 7 - 5 7 , S. 31.

77 1.2. Vernunft und Offenbarung: Die Funktionen Gottes in Grotius' Rechtstheorie Die dargestellten methodischen Verfahrensweisen implizieren von sich aus keinen notwendigen Bezug zu theologischen Voraussetzungen. Eher im Gegenteil: das rationale Erkenntnisprogramm und die auf Eklektik gestützte cognitio historica schließen je für sich und erst recht in ihrer Verknüpfung einen Rekurs auf theologische und insbesondere offenbarungstheologische Positionen eigentlich aus. So wären schon von der Methode her die Weichen für eine Enttheologisierung des Naturrechts und eine Säkularisierung des Staates grundsätzlich gestellt. Das muß allerdings nicht heißen, daß im Laufe der rationalen Begründung des Naturrechts jeder wie auch immer geartete Bezug auf Gott unterbliebe. Die theoretische Differenzierung von Recht und Glauben, Jurisprudenz bzw. Philosophie und Theologie ist nicht das Resultat eines umsichgreifenden Atheismus - auch wenn dies Autoren wie Sekkendorff oder Alberti so gesehen oder doch zumindest befurchtet haben. Der Differenzierungsprozeß vollzieht sich vielmehr als sachlich erforderliche Funktionsveränderung, in deren Verlauf nicht die Existenz Gottes bestritten oder geleugnet, sondern ihm eine neue Funktion beigelegt wird.57 Unbeschadet einer Trennung von Theologie auf der einen Seite und Jurisprudenz bzw. Philosophie auf der anderen Seite wird Gott dabei auch nicht aus der rationalen Begründung des Naturrechts eliminiert - allerdings wird er dann nicht mehr theologisch als geglaubte Entität angesprochen, sondern philosophisch als rationale Voraussetzung supponiert. Wie bei Grotius eine nichttheologische Naturrechtsbegründung durchgeführt wird, die bei allen internen Schwierigkeiten und Inkonsequenzen dennoch als Beginn des profanen Naturrechts aufgefaßt werden kann, soll im folgenden ebenso gezeigt werden, wie die einzelnen Funktionen, die Gott jenseits des Naturrechts in Grotius' Rechtslehre zugewiesen werden. 1.2.1. Das rationale Naturrecht als göttliches Recht Grotius' früheste, durch einen einschlägigen Text58 dokumentierte Beschäftigung mit dem Naturrecht verdankte sich Umständen, die für jede weitere 57

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Vgl. dazu Klenner: Hugo Grotius und die Geburt des bürgerlichrationalen Naturrechts, S. 6, sowie Norman Paech: Hugo Grotius. Berlin 1985, S. 35. Hugonis Grotii De Jure Praedae. Commentarius. Ex Auctoris Codice descripsit et vulgavit H.G. Hamaker. Den Haag 1888. Der Text ist zu Grotius' Lebzeiten aus bisher nicht geklärten, vermutlich aber politischen Gründen, nie vollständig erschienen; erst gegen Ende des vergangenen Jahrhunderts ist das Manuskript durch Zufall aufgefunden und ediert worden. Nach der Einschätzung von Jan und Annie Romein hätte eine Publikation des im Auftrage und im Interesse der Ostindischen Compagnie >bewiesene< Recht auf Beute die bereits angelaufenen Friedensverhandlungen mit Spanien erheblich irritiert. Vgl. Jan und

78 Auseinandersetzung mit dem Thema prägend bleiben sollten: im Auftrag der Vereinigten Ostindischen Compagnie unternahm Grotius 1604 die theoretische Begründung und Verteidigung der von Spanien und Portugal vehement bestrittenen Seehandelsfreiheit der Niederländer - sein Interesse am Naturrecht beruhte demnach nicht auf eher esoterischen innerwissenschaftlichen Problemkonstellationen, sondern wurde durch einen konkreten politischen Konflikt motiviert, dessen unmittelbar praktische Lösung der Unterstützung durch eine praxisrelevante Theorie bedurfte. Diese an der Praxis orientierte Perspektive auf das Naturrecht als normatives Instrument konkreter Konfliktregulierung blieb Grotius auch dann noch erhalten, als er sich 1623 aller seiner öffentlichen Ämter ledig - im Pariser Exil erneut dem Naturund Völkerrecht zuwandte. Sie führte dazu, daß Grotius eine Naturrechtslehre entwickelte, die sich weit weniger auf die theoretische Explikation der formalen prima principia des Ius naturae konzentrierte als vielmehr auf die Durchführung eines aus den >mittleren Prinzipien< des Naturrechts konstruierten Rechtssystems, das durch die Vermittlung von praktischen Problemen einerseits und normativen Prinzipien andererseits und aufgrund seines so gewonnenen materialen Gehalts wirklichkeitsgestaltende Kraft entfalten sollte.59 Obwohl daher die rechtsphilosophischen Voraussetzungen, die Grotius zu Beginn seines Hauptwerks exponiert, »mehr >Begleitmusik< als Hauptthema« darstellen - wie Hans Welzel nicht ganz zu Unrecht bemerkt60 - soll hier die Begleitmusik eher als eine Ouverture angesehen werden, die Thema wie Tonlage als verbindliche Basis für alle weiteren Ausführungen vorgibt und daher von besonderem Gewicht ist. Denn schließlich ist festzustellen, daß die betonte Praxisorientierung sich nicht allein in dem Sachgehalt der juristischen Systematik niederschlägt, sondern bereits die theoretischen Voraussetzungen selbst präformiert. Schon die dem früheren De jure praedae zugrundeliegende praktisch-politische Problemstellung erforderte die Bezugnahme auf ein Normensystem, dessen Sachgehalt und dessen

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Annie Romein: Erflaters van onze Beschaving. Nederlandse Gestalten uit zes Eeuwen. Band II. Amsterdam 1938, S. 46. Für Grotius selbst dürfte sich nach der Ausarbeitung von De jure belli ac pacis, in dem er Probleme und Fragestellungen seiner früheren Arbeit wieder aufgreift, neu organisiert und vertieft, eine Publikation des vor allem durch seinen politischen Zweck theoretisch begrenzten De jure praedae von allein erledigt haben. Immerhin hatte er 1609 eine überarbeitete Fassung des zwölften Kapitels seines Frühwerks unter dem Titel Mare liberum veröffentlicht und damit vor allem in England als der mit den Niederlanden konkurrierenden Seehandelsnation ein starkes Echo hervorgerufen. Vgl. dazu: Frans de Pauw: Grotius and the Law of the Sea. Brüssel 1965; sowie das von Richard Boschan verfaßte Vorwort zu der von ihm besorgten Übersetzung: Hugo Grotius: Von der Freiheit des Meeres. Leipzig 1919. Vgl. Welzel: Naturrecht und materiale Gerechtigkeit, S. 109f. und S. 127f. Welzel: Naturrecht und materiale Gerechtigkeit, S. 128.

79 Geltung von allen Konfliktparteien kognitiv einsehbar und als verbindliches praktisch akzeptierbar war, d.h. das anvisierte Normensystem mußte vom positiven nationalen Recht beider Parteien abstrahieren und ein übergeordnetes Recht als von jedem in gleicher Weise erkennbares, strikt bindendes und unhintergehbar legitimes Recht exponieren. Mit dem Rekurs auf das Naturrecht, das von Gott dem Menschen mit der Erschaffung seiner Natur selbst gegeben worden war, konnte genau dies geleistet werden: die naturrechtlichen Normen sind von jedem Menschen über die Einsicht in die eigene Natur auffindbar, 61 und in ihnen artikuliert sich der normative Wille des Schöpfergottes, der als schlechthin inkontingente Instanz sowohl die allgemeine Verbindlichkeit als auch die jedem Zweifel entzogene Legitimität der Normen gewährleistete.62 Weil sich im Konflikt zwischen Spanien bzw. Portugal und den Niederlanden zwei Nationen mit ganz unterschiedlichen und theologisch eben auch nicht vermittelbaren Glaubensbekenntnissen gegenüberstanden, mußte dabei ein Gottesbegriff unterlegt werden, der aller offenbarungstheologischen Elemente entkleidet - die legitimitätsstiftende und -verbürgende Funktionen Gottes sichert, ohne daß die damit verbundenen theoretischen Probleme wieder zum Gegenstand (offenbarungs-) theologischer Auseinandersetzungen werden konnten. Denn damit wäre das rechtliche Problem, das sinnvollerweise nur einer rechtlichen Lösung zugeführt werden kann, wieder in eine religiöse Frage umgewandelt, deren theologische Bearbeitung unter Katholiken einerseits und Calvinisten andererseits die Chance auf einen tragfähigen Konsens von vornherein unwahrscheinlich machte. In De jure belli ac pacis hat Grotius dieses Problem mit bemerkenswerter Intensität und ohne die begrenzende Bindung an ein pragmatisch vorgegebenes politisches Ziel erneut aufgegriffen. Das Verhältnis von Gott und Naturrecht, das für die Frage nach den theologischen Anteilen in Grotius' Naturrechtslehre im Hinblick auf das in der Literatur breit diskutierte Säkularisierungsproblem von entscheidender Bedeutung ist, wird von Grotius in seiner knappen, doch implikationsreichen Naturrechtsdefinition bereits hinreichend geklärt: »Das natürliche Recht ist ein Gebot der Vernunft, welches anzeigt, daß einer Handlung wegen ihrer Übereinstimmung oder Nichtübereinstimmung mit der vernünftigen Natur selbst eine moralische Häßlichkeit oder eine moralische Notwendigkeit innewohnt, weshalb Gott als der Schöpfer der Natur eine solche Handlung entweder geboten oder verboten hat.«63 Die Definition ist durch 61 62 63

Vgl. Grotius: Von der Freiheit des Meeres, S. 18. Vgl. Grotius: Von der Freiheit des Meeres, S. 18. Grotius: Vom Recht des Krieges und des Friedens, Ι,Ι,Χ,Ι. »Ius naturale est dictatum rectae rationis indicans, actui alicui, ex eius convenientia aut disconvenientia cum ipsa

80 eine Reihe von Merkmalen gekennzeichnet, die einer kurzen Erläuterung bedürfen. 1. Das Naturrecht als »dictatum rectae rationis« beruht auf einer Erkenntnisleistung der >gesunden Vernunft. Die Vernunft selbst ist hier in einer doppelten Hinsicht das zugrundegelegte principium cognoscendi, nämlich einerseits als Instrument der Erkenntnis und andererseits insofern als Grund der Erkenntnis, als die Vernunft sich im Vollzug ihrer Erkenntnisleistung im wesentlichen auf sich selbst bezieht. 2. Denn ihre Leistung besteht im Vergleich einer Handlung mit der »vernünftigen Natur«. Dabei indiziert die Nichtübereinstimmung der Handlung mit der natura rationalis eine »moralische Häßlichkeit« (»turpitudo moralis«) und die Übereinstimmung eine »moralische Notwendigkeit« (»necessitas moralis«). Dieser formale Vorgang erhält ein materiales Moment, indem Grotius nach stoischem Vorbild die natura rationalis des Menschen mit dem »appetitus socialis« verbindet, mit dem in der Form nur dem Menschen eigentümlichen »geselligen Trieb zu einer ruhigen und nach Maßgabe seiner Einsicht geordneten Gemeinschaft«.64 Die »Sorge für die Gemeinschaft« (»custodia societatis«) ist die ursprüngliche Quelle des Rechts,65 insofern ist Recht notwendig immer konstruktiv und bewahrend auf die Gemeinschaft bezogen, Unrecht dagegen ist im Umkehrschluß das, »was dem Begriff einer Gemeinschaft vernünftiger Wesen widerstreitet«.66 Die »Sorge für die Gemeinschaft« entspricht der Vernunft,67 daher ist der appetitus socialis in gewisser Weise selbst schon vernünftig, obwohl gerade sein Charakter als »appetitus« seine Vorvernünftigkeit kennzeichnet. Zugleich aber ist die Vernunft - insofern sie bei Grotius nicht zuletzt als ein instrumentales Vermögen konzipiert ist - gegenüber dem fundamentalen Geselligkeitstrieb quasi sekundär und doch völlig unverzichtbar, denn erst durch die Vernunft gewinnt der appetitus socialis seine Gestalt als normatives Prinzip: »Der Mensch hat vor den übrigen Geschöpfen nicht bloß jenen erwähnten geselligen Trieb empfangen, sondern auch die Urteilskraft, um das Angenehme und das Schädliche zu bemessen, und zwar nicht bloß das Gegenwärtige, sondern auch das Zukünftige, und die Mittel dazu. Es entspricht deshalb der menschlichen Natur, auch hierin nach dem Maße menschlicher Einsicht dem zu folgen, was für richtig erkannt wird, und sich dabei weder durch die

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natura rationali, inesse moralem turpitudinem aut necessitatem moralem, ac consequenter ab auctore naturae Deo talem actum aut vetari aut praecipi.« Grotius: Vom Recht des Krieges und des Friedens, Vorrede 6. Grotius: Vom Recht des Krieges und des Friedens, Vorrede 8. Grotius: Vom Recht des Krieges und des Friedens, 1,1,111,1. »Societatis custodia humano intellectui conveniens.« Grotius: De jure belli ac pacis, Prolegomena 8.

81 Furcht noch durch die Lockungen einer gegenwärtigen Lust irreleiten, noch von leidenschaftlichen Erregungen hinreißen zu lassen. Was diesen Geboten widerstreitet, das ist auch gegen das Recht der Natur, nämlich der menschlichen.«68 Von daher ist mit der »natura rationalis«, von der in der zitierten Naturrechtsdefinition die Rede ist, die >natura socialis< notwendig mitgemeint, denn erst durch sie erlangt die natura rationalis ihre materialen Maßstäbe. 3. Die von der Vernunft erbrachte Erkenntnisleistung weist eine Handlung aufgrund ihrer Übereinstimmung oder Nichtübereinstimmung mit der vernünftigen Natur als moralisch häßlich oder notwendig aus. Wenn Grotius seine Naturrechtsdefinition mit der Behauptung abschließt, daß »Gott als Schöpfer der Natur« eine Handlung wegen ihrer innewohnenden moralischen Häßlichkeit oder Notwendigkeit gebietet oder verbietet, hat es den Anschein, als läge mit der Vernunfterkenntnis die naturrechtliche Norm als bindendes Gebot oder Verbot noch nicht in einem vollen Sinne vor. Erst durch das Wirken Gottes - so will es scheinen - wird der von der Vernunft aufgewiesene normative Gehalt zu einer durch die Autorität Gottes beglaubigten und allgemein verbindlichen naturrechtlichen Norm. Diese zweischrittige Konstruktion, die zwischen normativem Gehalt einerseits und normativer Geltung andererseits, zwischen Erkenntnisgrund (Vernunft) und Geltungsgrund (Gott) signifikant unterscheidet, versucht ganz offensichtlich, Gott einen subjektiven Anteil am Naturrecht zu garantieren; möglicherweise soll so die legitimitätsstiftende und -verbürgende Funktion Gottes plausibel gesichert werden. Grotius kommt hier, so scheint es zumindest, dem Voluntarismus ein Stück entgegen - allerdings nur vordergründig, denn der subjektive Spielraum, der Gott in der Konzeption eines vom göttlichen Willen abgeleiteten Naturrechts immerhin zugestanden werden muß, ist hier praktisch völlig ausgeschlossen: Gott hat weder Einfluß auf den Gehalt der naturrechtlichen Norm, noch wird Gott die Befugnis eingeräumt, die Umwandlung des von der Vernunft als an sich gut oder schlecht Erkannte in eine verbindliche naturrechtliche Norm zu verweigern.69 Der voluntaristische Rest ist in dieser marginalisierten Form genaugenommen nur noch rhetorische Floskel. Dies scheint auch eine Feststellung zu belegen, mit der Grotius unmittelbar an die zitierte Naturrechtsdefinition anschließt: »Handlungen, für welche ein solches Gebot besteht, sind an sich geschuldet oder

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Grotius: Vom Recht des Krieges und des Friedens, Vorrede 9. Hans Welzel stellt - insgesamt mit Recht, aber nicht pointiert genug - dazu fest: »Mit Suarez führt er also ein gewisses Willensmoment in den Begriff des Natunechts ein, allerdings genau wie Suarez in einer so untergeordneten Funktion, daß Gott nur das gebieten kann, was schon an sich gut oder schlecht ist.« Welzel: Naturrecht und materiale Gerechtigkeit, S. 131.

82 erlaubt, und deshalb gelten sie als von Gott notwendig geboten oder verboten«.70 Die Bemerkung leitet eine Kontrastierung von Ius naturae und Ius divinum positivum ein und macht deutlich, daß der Unterschied zwischen beiden Rechtsformen genau durch den Anteil definiert wird, den die göttliche Willkür an ihrer jeweiligen Konstitution trägt: während das göttliche positive Recht unabhängig von dem an sich Guten oder Schlechten allein auf dem Willen Gottes basiert,71 beruht das Naturrecht genau umgekehrt und unabhängig vom Willen Gottes auf dem, was an sich geschuldet oder unerlaubt ist. Die Formulierung, daß an sich geschuldete oder unerlaubte Handlungen als von Gott geboten oder verboten gelten, betont noch einmal die sachliche Unabhängigkeit der naturrechtlichen Normen vom Willen Gottes; im Grunde wird hier das Naturrecht insofern es als göttliches Gebot oder Verbot aufgefaßt wird zu einer Wahmehmungsangelegenheit der Normadressaten gemacht: das Naturrecht, dessen materialer Gehalt sich der Erkenntnisleistung der Vernunft verdankt, wird nur für ein unmittelbar gottgewolltes Gebot gehalten und als solches kommuniziert, ohne ein solches seiner Substanz nach tatsächlich zu sein.72 Grotius kam es ganz offensichtlich darauf an, das Naturrecht der unmittelbaren Verfügungsgewalt Gottes nachhaltig zu entziehen. Daher wird das Naturrecht in der ausgeführten doppelten Weise ausschließlich auf die Vernunft gegründet, nämlich auf die Vernunft als Realgrund, der den normativen Sachgehalt des Naturrechts definiert, und auf die Vernunft als Erkenntnisgrund, der die erkenntnistheoretischen Mittel dafür liefert, das Naturrecht zu konstruieren und damit normativ erst zugänglich zu machen. Grotius geht mit seinen Abgrenzungsbemühungen konsequenterweise noch einen Schritt weiter, denn das Naturrecht bleibt nicht nur sozusagen in seiner Genese vom Willen Gottes unberührt, sondern es ist auch im nachhinein dem göttlichen Einfluß entzogen: »Das Naturrecht ist so unveränderlich, daß selbst Gott es nicht verändern kann«.73 Diese prinzipielle, auch durch Gott nicht aufhebbare Immutabilität des Naturrechts74 wird in theologischen Konzeptionen in 70

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Grotius: Vom Recht des Krieges und des Friedens, I,1,X,2. »Actus de quibus tale exstat dictatum, debiti sunt aut illiciti per se, atque ideo a Deo necessario praecepti aut vetiti intelliguntur«. Siehe dazu ausführlich unten II. 1.2.2. Siehe dagegen Haakonssen, nach dessen Lesart Grotius die normative Geltung des Naturrechts ausschließlich auf den Willen Gottes gründet. Haakonssen: Hugo Grotius, S. 2S2. Grotius: Vom Recht des Krieges und des Friedens, I,1,X,5. Entgegen der hier dargelegten Auffassung behauptet Filadelfo Linares - m.E zu Unrecht daß das von Gott geschaffene Naturrecht, das qua Selbstbindung auch ihn verpflichtet, »inhaltlich« nicht »ewig unveränderlich« ist. Das von Linares reklamierte Recht der Gesetzgeber, ihre Gesetze wieder aufzuheben, bezieht Grotius explizit nur auf die Gesetzgeber (menschlicher) positiver Gesetze. (Vgl. Grotius: Vom Recht des Krieges und des Frie-

83 der Regel damit begründet, daß Gott - wegen der ihm attributiv zugeschriebenen Widerspruchslosigkeit - später nicht für schlecht halten kann, was er ursprünglich einmal für gut befunden hatte. Dies setzt freilich die Vorstellung von einem direkt und unmittelbar von Gott geschaffenen Naturrecht voraus, diese aber wird gerade von Grotius abgelehnt. Seine Begründung stellt daher noch einmal auf das notwendige Geboten- bzw. Verbotensein des an sich Guten oder Schlechten ab; illustriert wird dies an einem mathematischen Beispiel: »So wenig also Gott es bewirken kann, daß zweimal zwei nicht vier sind, ebenso wenig kann er bewirken, daß das nach seiner inneren Natur Schlechte nicht schlecht sei«.75 Weil Grotius trotz dieser von ihm selbst bemerkten und tatsächlich ja nun auch gewollten Begrenzung der göttlichen Verfügungsgewalt dennoch an der Vorstellung von der Allmacht Gottes festhält, gerät er unweigerlich in eine Aporie, die er sogar selbst benennt, theoretisch allerdings nicht befriedigend aufzulösen vermag: »Denn obgleich die Macht Gottes unermeßlich ist, so kann man doch manches ausführen, worauf sie sich nicht erstreckt. Allerdings handelt es sich bei den so ausgeführten Fällen nur um eine Ausdrucksweise, ohne daß die Worte eine Beziehung zu einer Sache selbst hätten, und sie schliessen einen Widerspruch in sich«.76 Daß Grotius - abgesehen von seinem kaum überzeugenden Relativierungsversuch - diese Aporie sozusagen sehenden Auges in Kauf nimmt, unterstreicht eigentlich nur die Dringlichkeit, mit der er die Emanzipation des Naturrechts aus der unmittelbaren Verfügungsgewalt Gottes voranzutreiben sucht. In diesen Kontext gehört übrigens auch das sogenannte, in der Forschung ebenso aufwendig wie kontrovers diskutierte »etiamsi daremus«, die Behauptung, daß das Naturrecht auch dann unverminderte Geltung hätte, »wenn man annähme, [...] daß es keinen Gott gäbe oder daß er sich um die menschlichen Angelegenheiten nicht bekümmere« »was freilich ohne die größte Sünde nicht geschehen könnte«. 77 Als im Grunde nur rhetorisch pointierte Betonung der an anderer Stelle ausführlicher begründeten Unabhängigkeit des Naturrechts von den gestalterischen Eingriffen der göttlichen Willkür nimmt die Behauptung verglichen mit

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dens, II,4,XII, 1.) Filadelfo Linares: Einblicke in Hugo Grotius' Werk >Vom Recht des Krieges und des Friedenseti88

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Zu ungenau spricht Günter Hoffmann in diesem Zusammenhang von einer »religiösen Einbindung«, die offenkundig genug sei, um keiner weiteren Erörterung zu bedürfen. Weil Hoffmann diese Einbindung nicht aus der Perspektive einer philosophisch begründeten natürlichen Religion begreift, sieht er Grotius in »tiefe Widersprüche zwischen seinem rationalen Forschen und seiner unbedingten religiösen Gläubigkeit« verstrickt. Günter Hoffmann: Die Naturrechtsauffassung des Hugo Grotius. In: Hugo Grotius. Aus Anlaß seines 400. Geburtstages. 10.4.1583 (Delft) - 28.8.1645 (Rostock). Zusammengestellt und bearbeitet von Günter Hoffmann. Rostock 1982, S. 12. Siehe zur christlichen Grotius-lnterpretation des 17. Jahrhunderts: Schneider: Justitia Universalis, S. 122-159. Vgl. den kurzen Uberblick bei Hofmann: Hugo Grotius, S. 39-45. Bei Johann Kaspar Bluntschli heißt es beispielsweise: »Erst Hugo de Groot [...] vollzog die Befreiung der Rechtslehre von der Theologie. Er that dies nicht aus Abneigung gegen die theologische Gelehrsamkeit, mit der er sich vielmehr selber sehr ernstlich beschäftigte, und noch weniger aus einer irreligiösen Gesinnung [...]. Er that es, weil er die Notwendigkeit der Scheidung erkannt hatte und die Wahrheit, welche sich seinem ernsten nachdenken enthüllt hatte, nicht leugnen mochte.« Bluntschli: Geschichte der Neueren Statswissenschaft. Allgemeines Statsrecht und Politik. Seit dem 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart. 3. Auflage München und Leipzig 1881, S. 88. Wie Schneiders bemerkt, hat bereits Christian Thomasius das >etiamsi daremus< nicht etwa als untrüglichen Beleg für eine Profanisierung des Naturrechts begrüßt, sondern im Gegenteil, seiner theoretischen Herkunft wegen, als >scholastischen< Rest kritisiert. Siehe Schneiders: Naturrecht und Liebesethik, S. 72. Einen knappen Überblick über die von der

87 amsi daremus< also bereits als Beleg fur eine vollzogene Profanisierung des Naturrechts angesehen werden kann, so wenig reicht es umgekehrt hin, die theologischen Abhängigkeiten von Grotius' Naturrecht zu beweisen. Denn das bereits im Mittelalter geübte Gedankenexperiment muß selbstverständlich im Kontext von Grotius' eigener Theorie gelesen werden und kann wie dies ja auch tatsächlich der Fall ist - von daher einen ganz anderen Stellenwert einnehmen,92 so daß mit dem >etiamsi daremus< allein sinnvollerweise weder eine Säkularisierung des Naturrechts noch ihr Gegenteil bewiesen werden kann.93 Obwohl die eine Enttheologisierung des Naturrechts betonende Traditionslinie eigentlich nie abgebrochen ist,94 machte sich in neuerer Zeit zunehmend eine Forschungsrichtung geltend, die eine genau entgegengesetzte Sehweise favorisierte. Schon 1932 befand Johann Sauter apodiktisch und sozusagen in direkter Umkehrung von Bluntschlis Auffassung: »Grotius wollte keine Trennung von Religion und Naturrecht.«95 Während es Giorgio Literatur diskutierten möglichen Vorgänger von Grotius' >etiamsi daremusimpious Hypothesis^ S. 386-389). In seinem Versuch, die innovativen Momente der Formel gegen die scholastische Tradition des Gedankenspiels abzusetzen, kommt Hervada schließlich zu dem folgenden Ergebnis: »In my view, the novelty resides in that Grotius does not establish any relation of causal exemplarity - analogy and participation - between divine nature and human nature, between God's reason and man's« 92

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(S18)· Schon Ernst Landsberg hat mit Recht auf diese nur selten hinreichend berücksichtigte hermeneutische Trivialität hingewiesen: »Ein ganz anderes Ding ist es, wenn Gabriel Biel, als wenn Hugo Grotius den Satz ausspricht, es würde ein Naturrecht auch geben, falls es keinen Gott gäbe: jener schiebt dann, im Frevelmuthe sich selbst überstürzender SpätScholastik, eine andere transcendente Gerechtigkeitsquelle ein; diesem ist es Ernst um die Beschränkung auf Menschliches.« Ernst Landsberg: Geschichte der Deutschen Rechtswissenschaft. Dritte Abtheilung. München und Leipzig 1898, S. 3. Auf den grundlegenden Unterschied zwischen den theoretischen Intentionen von Gregor von Rimini und Hugo Grotius macht auch Knud Haakonssen aufmerksam: Im Gegensatz zur Scholastik zeige Grotius, »that people unaided by religion can use their perfect - and even imperfect rights to establish the contractual and quasi-contractual obligations upon which social life rests«. Knud Haakonssen: Natural law and moral philosophy. From Grotius to the Scottish Enlightenment. Cambridge 1996, S. 29. Ähnlich Haakonssen: Hugo Grotius, S. 249. Vgl. z.B. Paul Ottenwälder: »Tatsächlich ist die Trennung zwischen Gott und Welt vollzogen.« Ottenwälder: Naturrechtslehre, S. 119. Ebenso Emanuel Hirsch: Geschichte der neuern evangelischen Theologie. Band 1, S. 15; Wolfgang Röd: Naturrecht und geometrischer Geist, S. 70; Christoph Link: Grotius als Staatsdenker, S. 19; Hermann Klenner: Hugo Grotius und die Geburt des bürgerlichrationalen Naturrechts, S. 6; Norman Paech: Hugo Grotius, S. 33-36; Hervada: The Old and the New, S. 19; Winiger: Das rationale Pflichtenrecht, S. 42ff.; Tanaka Tadashi: Grotius's Method: With Special References to Prolegomena. In: Onuma Yasuaki (ed.): A normative Approach to War. Oxford 1993, S. 29; Haakonssen: Natural law and moral philosophy, S. 29. Sauter: Philosophische Grundlagen, S. 91. Vgl. auch Ernst Lewalter: Die geistesgeschichtliche Stellung des Hugo Grotius. In. Deutsche Vierteljahrsschrift für Literatur-

88 del Vecchio für möglich hält, daß Grotius selbst keine »klare Vorstellung« vom Verhältnis zwischen Theologie und Naturrecht gehabt habe, ihm aber bei aller Ungenauigkeit schließlich doch unterstellt, er habe »nach einem allgemeinen und unbestimmt gehaltenen Glaubensbekenntnis«, »den Zugang zu einer rationalistischen und naturalistischen Rechtsauffassung« erschließen wollen, 96 sieht Ernst Reibstein nicht die Trennung von Theologie und Naturrecht vollzogen, sondern im Gegenteil die Wiederherstellung ihrer schon durch Vasquez preisgegebenen Einheit. 97 Die Frage nach dem Verhältnis von Theologie und Naturrecht wird jedoch nicht nur mit Grotius' tatsächlicher oder nur vermeintlicher Nähe zur rechtstheologischen Tradition beantwortet; nicht selten wird der Versuch unternommen, im Rekurs auf Grotius' eigene Theologie und Frömmigkeit einen konstitutiven Zusammenhang zwischen Ius naturae und Theologie nachzuweisen. Zweifellos verfolgte Grotius ausgeprägte theologische Interessen, die - wie seine von allen Konfessionen intensiv und nachhaltig rezipierte Schrift »Bewijs van den waren godsdiensten« (1622) 98 zeigt - darauf abzielten, die Gemeinsamkeiten der christlichen Bekenntnisse zu betonen und zu stärken, um auf diese Weise eine Aufhebung der Glaubensspaltung einzuleiten. 99 Gleichwohl scheidet eine Antwort auf die Frage nach der Beziehung zwischen Theologie und Naturrecht aus methodischen Gründen von vornherein dann aus, wenn sie sich im wesentlichen auf eine fragwürdige »Einsicht in die Persönlichkeit« 100 des frommen Hugo Grotius verläßt. Ebensowenig hilfreich ist der Versuch, seine theologischen Bindungen mit Hilfe der Behauptung zu untermauern, angesichts seines ansehnlichen theologischen (Euvres sei er doch »in erster Linie Theologe« 101 gewesen, so daß

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Wissenschaft und Geistesgeschichte. Band 9, Jahrgang 11. Halle an der Saale 1933, S. 269. Giorgio del Vecchio: Über die Rechtsphilosophie des Hugo Grotius. In: Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie. Band 38. Bern, München 1949/50, S. 164f. Vgl. auch ders.: Grotius und die Gründung des Völkerrechts. In: Ders.: Grundlagen und Grundfragen des Rechts. Göttingen 1963, S. 276f. Entgegen der hier vorgeschlagenen Lesart stellt Reibstein fest: »Grotius leitet das Naturund Völkerrecht, wie Vasquez, aus der menschlichen Vernunft ab, aber er macht die Trennung von der Theologie, die Vasquez vollzogen hatte, rückgangig, indem er zugleich Gott als >Gesetzgeberersten Verursachen des natürlichen Rechts anerkennt.« Ernst Reibstein: Völkerrecht. Eine Geschichte seiner Ideen in Lehre und Praxis. Band 1: Von der Antike bis zur Aufklärung. Freiburg, München 1958, S. 354.

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Unter dem Titel Sensus librorum sex quos pro veritate religionis christianae Balavice scripsit Hugo Grotius erschien bereits 1622 in Leiden die erste lateinische Ausgabe. Vgl. dazu Heering: Hugo de Groot als apologeet van de christelijke godsdienst. Hölzel: Grundlagen, S. 24. Hoffmann-Loerzer: Studien zu Hugo Grotius, S. 83; vgl. auch Crowe: The >impious Hypothesise S. 381.

89 sich Zweifel an der theologischen Substanz seines Naturrechts von allein verböten. Auf diese Weise wird schon vorab und auf methodisch dürftiger Grundlage eine Synthese formuliert, die allenfalls im nachhinein als Ergebnis einer eingehenden Analyse greifbar werden dürfte.102 Die Frage, ob Grotius bereits eine Säkularisierung des Naturrechts herbeigeführt habe, ist naheliegenderweise nicht nur ein Problem des zugrundegelegten Gottesbegriffs, vielmehr hängt ihre Beantwortung zugleich und vor allem von dem unterstellten Säkularisierungsbegriff ab. Selbstverständlich kann an dieser Stelle nicht die sehr facettenreiche theoretische Problematik des historischen Säkularisierungsprozesses103 aufgearbeitet werden einige wenige Hinweise, die sich im Moment noch an den Vorgaben der Grotius-Literatur orientieren dürfen, sind jedoch unverzichtbar. Hartmut Schiedermair hält die Auffassung, Grotius habe »die Lehre vom Naturrecht« säkularisiert, deswegen für »unzutreffend«, weil er Grotius' Naturrechtslehre unmittelbar mit der Intention verbunden sieht, nicht nur den politischen, sondern auch den religiösen Frieden zu befördern.104 Und zwar habe Grotius den letzteren als die »notwendige Bedingung für die Wiedervereinigung der getrennten Kirchen« herbeiführen wollen -»dies aber ist« - so Schiedermair - »genau das Gegenteil von Säkularisation«.105 Selbst wenn man Schiedermair entgegenkäme und konzedierte, daß De jure belli ac pacis von vornherein im Dienste christlicher Reunionsbemühungen stand, dann übersieht Schiedermair doch immer noch, daß ein säkulares Mittel durchaus die Voraussetzungen für einen nicht-säkularen Zweck schaffen kann. Die religiöse Indienstnahme des Naturrechts sagt eben noch nichts darüber aus, ob das Naturrecht an sich säkularisiert ist oder nicht. Schließlich ist es als normative Voraussetzung für Frieden auch nicht für die theo102

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Dieser Gefahr ist auch Barbara Knieper nicht entgangen. Indem sie, motiviert durch Grotius' Gottesbegriff, die Trennung von religiösen und juristischen Werken in der Weise rückgängig macht, daß sie die religiösen Arbeiten zur Interpretation der juristischen heranzieht (vgl. S. 3 4 und S. 167) wird über dieses Substitutionsverfahren das Naturrecht nicht mehr aus den eigenen theoretischen Bedingungen begriffen, ihm wird vielmehr von vornherein ein theologischer Gehalt unterstellt. Kniepers entscheidender Fehler dürfte nicht untypisch für einen großen Teil der Grotius-Literatur - bereits in einem offenbarungstheologisch verkürzten Gottesbegriff liegen, Gott als philosophische bzw. metaphysische Kategorie, wie sie in Konzepten der natürlichen Religion üblich ist und hier für Grotius festgestellt wurde, kann dabei nicht in den Blick kommen. Vgl. dazu den differenzierten Überblick von G. Marramao in: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Herausgegeben von Joachim Ritter und Karlfried Gründer. Band 8. Basel 1993, Sp. 1 1 3 3 - 1 1 6 2 . Siehe dazu ganz ähnlich auch Knieper: Die Naturrechtslehre des Hugo Grotius als Einigungsprinzip der Christenheit, S. 176f. Bereits der Titel ihrer Arbeit belegt die Stoßrichtung ihrer Interpretation. Schiedermair: Hugo Grotius und die Naturrechtsschule, S. 490.

90 logischen Inhalte zuständig, die die religiöse Grundlage für eine Vereinigung der Kirchen abgeben könnten. Wegen der angeblich ungebrochenen Beziehung zur »Tradition der mittelalterlichen und spätscholastischen Moraltheologie« konstatiert auch Franz Wieacker: »Grotius hat die Sozialethik nicht säkularisiert«. 106 Abgesehen davon dürfte die transzendente Bindung des von Grotius vorgelegten Naturrechts auch seiner engen Auslegung des Säkularisierungsbegriffs zuwiderlaufen. Eine Säkularisierung als »Verabschiedung des außerweltlichen Schöpferwillens durch die Autonomie der menschlichen Vernunft«, 107 oder gar - wie Knieper formuliert - als »radikale Trennung von Diesseits und Jenseits« 108 wird freilich in der Tat im Werk von Hugo Grotius nicht vorgeführt. Ein dermaßen verengter Säkularisierungsbegriff dürfte allerdings zur theoretischen Beschreibung eines vielschichtigen und langwierigen, spätestens mit dem Investiturstreit und seiner Trennung von sacerdotium und imperium in Gang gekommenen historischen Prozesses 109 kaum sinnvoll sein. Ein handhabbarer Begriff von Säkularisierung muß auch die einzelnen Schritte als Elemente eines komplizierten Säkularisierungsprozesses qualifizieren können, mit denen sich die anbrechende Moderne nicht nur in rechtlicher Hinsicht von den ursprünglichen religiösen Bindungen löst. Einen solchen Schritt stellt eben auch das Naturrecht von Hugo Grotius insofern dar, als es der unmittelbaren Einflußnahme Gottes entzogen, nur mit den Mitteln der recta ratio auf der Basis einer allgemeinen Vernunftnatur des Menschen rekonstruiert wird. Daher gilt bereits für das Naturrecht von Grotius, was Max Weber für das profane Naturrecht der Neuzeit insgesamt feststellt: »>Naturrecht< ist der Inbegriff der unabhängig von allem positiven Recht und ihm gegenüber präeminent geltenden Normen, welche ihrer Dignität nicht von willkürlicher Satzung zu Lehen tragen, sondern umgekehrt deren Verpflichtungsgewalt erst legitimieren. Normen also, welche nicht Kraft ihres Ursprungs von einem legitimen Gesetzgeber, sondern kraft rein immanenter Qualitäten legitim sind: die spezifische und einzig konsequente Form der Legitimität des Rechts, welche

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Franz Wieacker: Privatrechtsgeschichte der Neuzeit. 2. Auflage Göttingen 1967, S. 299. Wieacker: Privatrechtsgeschichte, S. 266. Knieper: Die Naturrechtslehre des Hugo Grotius als Einigungsprinzip der Christenheit, S. 35. Ähnliche Formulierungen finden sich auch noch an anderen Stellen der Arbeit. Allerdings stellt Knieper gelegentlich die Frage, ob der von ihr unterstellte Säkularisierungsbegriff der auch für sie unübersehbaren >Verweltlichung< des Naturrechts bei Grotius überhaupt noch angemessen ist. Vgl. S. 89, S. 114. Vgl. dazu etwa Ernst-Wolfgang Böckenfbrde: Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation. In: Ders: Recht, Staat, Freiheit. Studien zur Rechtsphilosophie, Staatstheorie und Verfassungsgeschichte. Frankfurt am Main 1991, S. 92-114.

91 übrig bleiben kann, wenn religiöse Offenbarungen und autoritäre Heiligkeit der Tradition und ihrer Träger fortfallen kann«. 110 1.2.2. Der offenbarte Wille Gottes: das Ius divinum positivum Vergleichsweise unproblematisch ist dagegen die Funktion Gottes im Hinblick auf das positive göttliche Gesetz, obwohl sich hier - wie zu zeigen sein wird - eine zunächst unerwartete Verbindung von Vernunft und Offenbarung manifestiert. Als Ius voluntarium ist das positive Gesetz Gottes systematisch klar vom unveränderlichen, ewigen und alle Menschen verbindenden Naturrecht abgesetzt. In ihm artikuliert sich als Recht nicht das, was mit Hilfe der Vernunft als das an sich Rechte erkannt wird, das sich aus der Natur der Sache zwingend geradezu von selbst ergibt, sondern in ihm manifestiert sich das, was von Gott kraft seiner selbst als Recht gewollt wurde. Das Ius divinum positivum wird als Recht erkannt, weil es von Gott willkürlich als solches gesetzt wurde, ohne daß es einen sachlich positiven Bezug zum an sich Rechten aufweist: »Hierher gehört das, was Anaxarchos bei Plutarch nur unbestimmt sagt: >Gott wollte es nicht weil es Recht sei, sondern es sei das Rechte, d.h. das vom Recht Verordnete, weil Gott es so gewollt habe.Religion bzw. Theologie, natürliche bzw. vernünftigem In: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Band 8. Basel 1992, Sp. 7 1 3 - 7 2 7 . Zum Verhältnis von Offenbarungstheologie und natürlicher Theologie siehe Hans-Joachim Birkner: Natürliche Theologie und Offenbarungstheologie. Ein theologiegeschichtlicher Überblick. In: N e u e Zeitschrift für systematische Theologie. Band 3. Berlin 1961, S. 2 7 9 - 2 9 5 . Und zum sittlichen Anliegen der natürlichen Religion vgl. Günter Gawlick: Der Deismus als Grundzug der Religionsphilosophie der Aufklärung. In: Hermann Samuel Reimarus ( 1 6 9 4 - 1 7 6 8 ) , ein bekannter Unbekannten der Aufklärung in Hamburg. Göttingen 1973, S. 1 5 - 4 3 . Grotius: V o m Recht des Krieges und des Friedens, II,20,XLV,1. Grotius: V o m Recht des Krieges und des Friedens, II,20,XLV1,1.

100 gemeinsamen Religion« orientiert sich ganz offensichtlich an den übereinstimmenden und gemeinsamen Grundlagen der großen monotheistischen Religionen: »der erste ist, daß Gott ist und daß es nur einen Gott gibt. Der zweite, daß Gott nichts sichtbares ist, sondern ein geistiges Wesen; der dritte, daß Gott die menschlichen Angelegenheiten leitet und nach Billigkeit entscheidet; der vierte, daß Gott alle Dinge außer sich selbst geschaffen hat«. 146 Daß Grotius seine vier Grundsätze trotz seiner Absicht, sie mit den Mitteln der natürlichen Religion zu begründen, gleich anschließend anhand der ersten vier Gebote des Dekalogs zu erläutern sucht, kann wohl kaum verwundern. Zum einen dürfte es wohl politisch opportun gewesen sein, von vornherein keinen Zweifel an der Kompatibilität der eigenen Konzeption mit den herrschenden religiösen Vorstellungen aufkommen zu lassen, und zum anderen war es auch aus theoretischen Gründen sinnvoll, den Beweis dafür anzutreten, daß die vier Grundsätze theoretisch fundamental genug angesetzt sind, um auch für die großen Religionen und namentlich für das Christentum zu gelten. Das Konzept einer natürlichen Religion - wie es bei Grotius vorliegt - schließt die Möglichkeit von Offenbarung nicht nur nicht aus, sondern kann nur dann aufgehen, wenn seine Grundlagen denen der offenbarten Religionen prinzipiell nicht zuwiderlaufen. 147 Der Versuch, die vier Grundsätze anhand des Dekalogs zu erläutern, darf daher auch nicht als Bemühen mißverstanden werden, eine genuin christliche Gotteslehre zu formulieren. 148 Dies bedeutete eine frappante Fehleinschätzung des theologischen und religionsgeschichtlichen Stellenwerts der Sinaioffenbarung 149 und übersähe zudem, daß Grotius seine Grundsätze mithilfe der Zehn Gebote zwar illustrieren, mitnichten aber beweisen will. Den möglichst lückenlosen und jedermann überzeugenden Beweis glaubt Grotius vielmehr durch zwei ganz bewußt jenseits offenbarungstheologischer Gewißheiten angesiedelte Verfahren erbringen zu können. Beide sind je für sich genommen von hinreichender Beweiskraft und werden von Grotius daher auch nicht in einem Ergänzungsverhältnis gedacht; ihre unterschiedliche theoretische Struktur soll aber sicherstellen, daß die vier Grundsätze einer »wahren, allen Zeiten gemeinsamen Religion« unabhängig von 146 147

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Grotius: V o m Recht des Krieges und des Friedens, II,20,XLV,1. Günter Gawlick weist auf zwei unterschiedliche Richtungen innerhalb des Deismus hin: während die eine in ihrer Orientierung an der stoischen Theologie die Anerkennung der Offenbarungsreligion prinzipiell der Entscheidung jedes Einzelnen überläßt, wird von der anderen Richtung der Gedanke einer Offenbarung völlig verworfen. Nach dieser Einteilung würde Grotius zweifellos der erstgenannten Strömung zugehören. Vgl. Gawlick: Der Deismus, S. 2 2 und 24. Vgl. Holzel: Grundlagen, S. 27f. Schließlich handelt es sich bei den Zehn Geboten ja auch nicht um ein Dokument einer genuin christlichen Offenbarung.

101 den intellektuellen Zulänglichkeit jedes Einzelnen allgemein akzeptiert werden können. Grotius fügt daher dem auf den kosmologischen Gottesbeweis gestützten rationalen Beweis einen eher pragmatischen hinzu, der sich am empirisch-intuitiven Gottesbeweis orientiert. »Die Wahrheit der obigen Betrachtungen kann auch auf Gründe, die aus der Natur der Sache entlehnt sind, gestützt werden. Der stärkste dieser Gründe ist: Die Sinne lehren uns, daß alle Dinge zwar geschaffen sind, aber daß letzten Endes alle geschaffenen Dinge zu etwas nicht Geschaffenem hinführen.«150 Diesem aus der >Natur der Sache< entwickelten und zudem noch auf die Sinne gestützten Beweis wird ein anderes Beweisverfahren gegenübergestellt, das direkt nichts mit der Sache selbst zu tun hat und eher pragmatisch auf einen consensus omnium rekurriert, dem aber als gemeinsame Einsicht aufgrund allgemeiner Erfahrungen die Fähigkeit konzediert wird, auch jene zu überzeugen, denen die Demonstrationen eines theoretisch elaborierteren Verfahrens nicht zugänglich sind: »Weil jedoch nicht alle Menschen diese und ähnliche Gründe zu fassen vermögen, so genügt es, daß Menschen aller Zeiten und Länder mit Ausnahme einiger in diesen Ansichten übereingestimmt haben; sowohl die, welche zu roh waren, als daß sie hätten betrügen wollen, als die, welche zu klug waren, um sich betrügen zu lassen. Diese Übereinstimmung bei so großer sonstiger Verschiedenheit der Gesetze und Meinungen zeigt genügend, daß diese Überlieferung von den ersten Menschen auf uns gekommen und niemals wahrhaft widerlegt worden ist. Dies allein genügt, um daran zu glauben«.151 Grotius beläßt es bei diesen eher kursorisch angelegten Beweisen. Ob ihm allerdings auf ihrer Grundlage eine anspruchsvolle und überzeugende Beweisführung gelänge, die die Wahrheit aller vier Grundsätze tatsächlich belegte, dürfte wohl insgesamt unwahrscheinlich sein. Der größte Teil der von ihm herangezogenen heidnischen Autoren ließe sich beispielsweise sicher nicht so ohne weiteres auf einen monotheistischen Konsens verpflichten. Dies hat Grotius möglicherweise selbst sehr schnell eingesehen. Immerhin hält er sich nicht lange mit den einmal formulierten vier Grundsätzen auf und reduziert sie sogleich auf zwei oberste Sätze, die beide weitaus problemloser zu belegen sind und von ihm für notwendig und unmittelbar evident gehalten werden: 1. Gott ist; und 2. Gott leitet die menschlichen Angelegenheiten.152 150 151

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Grotius: Vom Recht des Krieges und des Friedens, II,20,XLV,3. Grotius: Vom Recht des Krieges und des Friedens, II,20,XLV,3. Vgl. Grotius: Vom Recht des Krieges und des Friedens, II,20,XLVI,1. »Die übrigen Sätze« - so räumt Grotius wenig später freimütig ein - »sind nicht so offenbar: Daß es nicht mehrere Götter gibt; daß nichts was wir sehen Gott ist, weder die Welt noch der Himmel, noch die Sonne, noch die Luft, daß die Welt nicht von Ewigkeit besteht, selbst nicht dem Stoffe nach, sondern von Gott geschaffen ist. Deshalb ist die Kenntnis dieser Sätze im Laufe der

102 Sowohl die Grundsätze selbst als auch die Versuche, sie mit Mitteln des kosmologischen und des empirisch-intuitiven Gottesbeweises zu verifizieren, machen deutlich, daß Grotius bereits in der Tradition des eben erst beginnenden neuzeitlichen Deismus steht. Denn obwohl sich Grotius in seiner Konzeption nicht zuletzt auf Cicero stützen konnte,153 stimmt sie doch in hohem Maße mit den von Herbert of Cherbury, dem Begründer des neuzeitlichen Deismus, entwickelten Positionen überein.154 Die Ähnlichkeiten, die Grotius selbst freilich an keiner Stelle explizit macht, dürften wohl kaum ganz zufällig oder nur dem zwingenden Gang der Argumentation geschuldet sein. Immerhin war Grotius mit Herbert nicht nur persönlich bekannt - letzterer war zu der Zeit, als Grotius sich in Paris aufhielt, englischer Gesandter am Hof Ludwigs XIII.155 - , sondern er war auch mit Herberts Werk noch vor dessen Drucklegung in besonderer Weise vertraut. Denn während seiner Arbeit an De jure belli ac pacis wurde Grotius von Herbert um eine gutachterliche Stellungnahme zu De veritate gebeten, die - wie Günter Gawlick vermutet - sich vor allem auf die religionsphilosophischen Probleme konzentrieren sollte. Grotius gutachtete positiv und riet ebenso wie der gleichfalls herangezogene arminianische Theologe Daniel Tilenus dringend den Druck der Arbeit an - 1624, ein Jahr vor der Veröffentlichung von De jure belli ac pacis konnte De veritate dann apud autorem und ohne Ortsangabe erscheinen.156 Herbert versuchte, eine als »religio rotunda« aufgefaßte natürliche Religion auf die folgenden fünf Grundsätze zu basieren, die selbst wiederum auf einen allen Menschen gemeinsamen »instinctus naturalis« zurückfuhrbar

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Zeit bei vielen Völkern in Vergessenheit geraten und fast erloschen. Dies ist umso leichter geschehen, als eine Religion auch ohne diese Satze bestehen kann und die Sätze daher weniger für diesen Teil des Glaubens gesorgt haben.« (II,20,XLVII,1) Vgl. Marcus Tullius Cicero: Vom Wesen der Götter. Drei Bücher. Herausgegeben, übersetzt und erläutert von Wolfgang Gerlach und Karl Bayer. Darmstadt 3. Auflage 1990, 1,43 und 11,15. Sowie ders.: Gespräche in Tusculum. Herausgegeben von Olof Gigon. Darmstadt 6. Auflage 1992, 1,30. Schon der Rekurs auf Cicero selbst ist für eine deistische Position durchaus nicht untypisch, stellen doch Gerlach und Bayer im Anhang zu De natura deorum pointiert fest: »Ohne Ciceros >Natura deorum< kein europäischer Deismus«. (S. 819) Vgl. Edward Lord Herbert of Cherbury: De Veritate. Editio Tertia. Faksimile-Neudruck der Ausgabe London 1645. Herausgegeben und eingeleitet von Günter Gawlick. StuttgartBad Cannstatt 1966. Die Bekanntschaft zwischen Grotius und Lord Herbert of Cherbury ist beispielsweise durch Grotius' Briefwechsel belegt. Vgl. Briefwisseling van Hugo Grotius. Uitgegeven door P.C. Molhuysen. Tweede Deel. 30 Augustus 1618 - 30 December 1625. s'-Gravenhage 1936, S. 69, 105,442, 486. Vgl. dazu Günter Gawlick: Einleitung des Herausgebers. In: Edward Lord Herbert of Cherbury: De Veritate. Editio Tertia. Faksimile-Neudruck der Ausgabe London 1645. Stuttgart-Bad Cannstatt 1966, S. XIHf.

103 sind, sich in »notitiae communes« artikulieren und durch einen »consensus universalis« bekräftigt und bestätigt werden: 1. »Esse supremum aliquod numen«; 2. »supremum istud numen coli debere«; 3. »virtutem cum pietate conjunctam praecipuam partem cultus divini esse«; 4. »vitia et scelera quaecunque expiari debere ex poenitentia«; und 5. »esse praemium vel poena post hanc vitam«.157 Während sich Herbert in diesen »notitiae communes circa religionem« von vornherein auf den sittlichen Aspekt der natürlichen Religion konzentriert, wendet sich Grotius mit seinen vier Basissätzen zunächst den weiter ausgreifenden Problemen einer allgemeinen Gotteslehre zu, um dann aber in einem zweiten Schritt mit der Formulierung der zwei obersten Sätze direkt auf ihren sittlichen Kern zuzugreifen, der ihn im Rahmen seiner Rechtstheorie eigentlich interessiert. Denn es geht Grotius darum, im Rekurs auf die zwei obersten Sätze und mit den Mitteln der natürlichen Religion eine göttliche Instanz zu begründen, die auf einer ganz elementaren Ebene unabhängig von allen positivrechtlichen Verfügungen, die Bereitschaft zur Normbefolgung in jedem einzelnen stimuliert und motiviert. Gott als der die menschlichen Angelegenheiten leitende Schöpfer wird dabei in erster Linie als eine sanktionierende Instanz vorgestellt, der weder äußerliche noch innerliche Handlungen158 verborgen bleiben und deren Wirksamkeit sich nicht im begrenzten Diesseits erschöpft, sondern sich noch auf das unbegrenzte Jenseits erstreckt.159 Wenn Grotius betont, daß eine solchermaßen funktionalisierte Religion vor allem in der »überstaatlichen Gemeinschaft« von größtem Nutzen ist, weil sie im Gegensatz zum einzelnen Staatswesen nicht durch positive Gesetze normativ strukturiert ist, die mit legitimen Zwangsmitteln durchgesetzt werden können, dann wird deutlich, daß die religiöse Motivation zur Normbefolgung vor allem dort von Bedeutung ist, wo die naturgemäß begrenzten Kontroll- und Sanktionsinstrumente des Staates unwirksam sind.160 Damit wird aber auch offenkundig, daß die Vorstellung von der Sanktionsgewalt Gottes derjenigen des Staates in gewisser Weise nachgebildet ist und sich von dieser im Grunde nur durch die alles menschliche Maß übersteigende Dimensionen unterscheidet: die zeitlich wie räumlich unbegrenzte Sanktionsgewalt Gottes wiederholt und überbietet die Sanktionsgewalt des Staates und stellt damit sicher, daß kein normativ besetzter Raum ohne prinzipiell vollziehbare Sanktionsandrohung bleibt. Jedwede

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Herbert of Cherbury: De veritate, S. 208-222. Vgl. Grotius: Vom Recht des Krieges und des Friedens, II,20,XLV,2. Vgl. Grotius: Vom Recht des Krieges und des Friedens, Vorrede 11 und 20. Vgl. auch den fünften Punkt der notitiae bei Herbert. Vgl. Grotius: Vom Recht des Krieges und des Friedens, 11,20,XLIV,6.

104 Norm wird dadurch notwendig, immer und überall durch eine die ihre Befolgung motivierende Sanktionsandrohung unterstützt. Die Annahme eines strafenden allgegenwärtigen Gottes ermöglicht so die Vorstellung, daß keine Normübertretung ungeahndet bleibt - was der diesseitigen Strafgewalt notwendig entgehen muß, bleibt dem ewigen Richter als letzter Instanz überlassen. Daher kann Grotius auch behaupten, daß das Recht da noch seine Wirkung nicht verfehlt, wo die seine Durchsetzung garantierende Zwangsgewalt nicht vorhanden ist. Denn der Normenkonflikt wird dann über das Gewissen und mit Blick auf das Jüngste Gericht ins Innere des Menschen verlegt: »die Gerechtigkeit bringt die Ruhe des Gewissens, die Ungerechtigkeit die Qualen des Gewissens. Alle rechtlichen Leute billigen die Gerechtigkeit und verdammen die Ungerechtigkeit; die letztere hat Gott zum Feinde, die erstere zum Beschützer«.161 Auffällig an dieser Konstruktion ist, daß Gott hier nur als formale und überwiegend als negativ wirksame Disziplinierungsinstanz eingeführt wird. Es geht hier ganz offensichtlich nicht um moralische oder rechtliche Inhalte, nicht um eine etwa mit Gottes Hilfe zu befördernde Einsicht in das sittlich Gute, sondern es geht hier allein um eine geradezu technische Vorkehrung gegen Norm Verletzungen. Grotius kommt es in diesem Zusammenhang nur auf die »moralische Wirkung« an, die sich mit der Annahme eines strafenden Gottes verbindet. Dabei scheint die Androhung einer als letztenendes völlig unausweichlich vorgestellten Strafe nach Auffassung von Grotius offensichtlich in hinreichendem Maße geeignet zu sein, als negatives Instrument die Beachtung gegebener Normen zu motivieren. Obwohl die Furcht vor Strafe für sich genommen noch kein Konstitutionsmoment eines sittlichen Bewußtseins darstellt, bezeichnet sie hier doch ein praktisch wirksames Mittel zur Hervorbringung normkonformen Verhaltens, das immerhin in der Lage sein soll, einen unverzichtbaren Minimalstandard von Sittlichkeit zu gewährleisten, der wiederum als notwendige Voraussetzung für gelingende soziale Beziehungen aufgefaßt werden muß. Die Furcht vor Strafe als Movens zur Befolgung gegebener moralischer und rechtlicher Normen schließt andere Motive, die sich etwa sittlicher Einsicht verdanken, selbstverständlich nicht aus; für Grotius aber scheint die Furcht vor einer als unumgehbar vorgestellten Strafe ein sittlich umsetzbares Moment darzustellen, das weitaus elementarer angesetzt ist als jede an zufällige subjektive Voraussetzungen des Einzelnen gebundene sittliche Reflexion. Erreicht werden soll mit dieser Konstruktion über die Verhaltenssteuerung eine Stabilisierung von Verhaltenserwartungen: Handlungen werden filr den Einzelnen

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Grotius: Vom Recht des Krieges und des Friedens, Vorrede 20.

105 kalkulierbar und damit potentiell erfolgreicher, weil der Handelnde grosso modo voraussetzen kann, daß sich sein Gegenüber an einen gemeinsamen Verhaltenskodex hält. Eine ähnlich gelagerte Funktionalisierung Gottes bzw. der Religion ist auch in der späteren Aufklärung durchaus gängig,162 noch Rousseau hält es für notwendig, »daß jeder Bürger eine Religion hat, die ihn seine Pflichten lieben läßt«.163 Freilich hat sich sein Plädoyer fur eine Zivilreligion von Grotius und seinen deistischen Intentionen schon wieder weit entfernt. Grotius ging es darum, eine allgemein verbindliche weil allgemein einsehbare transzendente Instanz jenseits konfessioneller Differenzen zu begründen, mit deren Hilfe der Einzelne auch dann noch zu normkonformen Verhalten motiviert wird, wo keine äußere materiell wirksame Sanktionsinstanz vorhanden ist. Das hat prima facie nichts mit Rousseaus »rein bürgerlichem Glaubensbekenntnis« zu tun, »dessen Artikel festzusetzen, dem Souverän zukommt«,164 und es hat auch nichts mit theokratischen Vorstellungen zu tun, die noch im 17. Jahrhundert von der unmittelbar eingreifenden Sanktionsgewalt des offenbarten christlichen Gottes ausgehen.165 Obwohl Grotius seinen Überlegungen ein Schema zugrundelegt, das theokratischen Vorstellungen gelegentlich sehr nahe kommt, bewahrt ihn sowohl sein formalisierter deistischer Gottesbegriff als auch sein säkularer Staatsbegriff davor, einem theokratischen Herrschaftsmodell das Wort zu reden. Denn der Staat wird von Hugo Grotius explizit als eine säkulare Veranstaltung aufgefaßt, die sich nicht dem Willen und der Weisung Gottes verdankt, sondern als menschliche Einrichtung mit menschlichen Mitteln auf eine menschliche Erfahrung reagiert: »die Menschen [sind] nicht auf Gottes Geheiß, sondern von selbst zur staatlichen Gesellschaft zusammengetreten, nachdem sie erfahren hatten, daß die einzelnen zu schwach waren, um sich gegen die Gewalt zu schützen«.166 Diese menschliche Einrichtung kann sich allerdings - und damit wird Gott doch wieder ins Spiel gebracht - der göttlichen Billigung sicher sein. Dadurch wird aber der säkulare Staat - und daraufkommt es Grotius ganz ausdrücklich an - nicht wieder ex post in eine 162

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Vgl. zu Christian Thomasius unten III. 1.3.3. Siehe aber z.B. auch Christian Wolff: Deutsche Politik, §366, oder Hermann Samuel Reimarus: Die vornehmsten Wahrheiten der natürlichen Religion. Herausgegeben von Günter Gawlick. Band II. Göttingen 1985, S. 748f. Jean-Jacques Rousseau: Vom Gesellschaftsvertrag oder Grundsätze des Staatsrechts. Neu übersetzt und herausgegeben von Hans Brockard. Stuttgart 1979, S. 150. Rousseau: Vom Gesellschaftsvertrag, S. 151. Siehe dazu etwa oben 1.2.2.2. Grotius: Vom Recht des Krieges und des Friedens, 1,4,VII,3. An anderer Stelle heißt es: »der Staat aber ist eine vollkommene Verbindung freier Menschen, die sich des Rechtsschutzes und des Nutzens wegen zusammengetan haben«. I,1,XIV,1.

106 göttliche Unternehmung umgewandelt, denn »eine solche Billigung Gottes billigt das Gesetz immer nur als ein menschliches und auf menschliche Weise gemachtes«.167 Grotius will offensichtlich nicht darauf verzichten, über die evidente Legitimität des rational Nützlichen oder gar Notwendigen hinaus die legitimitätsstiftende Kraft Gottes heranzuziehen. Dennoch wird hier Gott unübersehbar und im Gegensatz zu allen theokratischen Konzeptionen an eine andere, nämlich letztlich sekundäre Position gerückt. Die >probatio Dei< ist hier eindeutig ein nachgeordnetes Phänomen, dem eine ganz Kette von menschlichen Aktivitäten vorausgegangen ist, die unabhängig von göttlichem Tun und Wollen ausgeführt worden sind. Erst nachdem der Mensch seine (Schutz)Bedürftigkeit erfahren hat, angemessene Kompensationsmittel ge- bzw. erfunden und schließlich umgesetzt hat, die menschliche Einrichtung also bereits in vollem Umfang installiert ist, wird ihr nachträglich die göttliche Billigung zuteil. Auf diese Weise wird menschlicher Erfahrung in hohem Maße Rechnung getragen und entsprechender menschlicher Gestaltung ein ungewohnt großer Spielraum gewährt, ohne freilich die Beziehung zur legitimierenden Kraft des göttlichen Willens tatsächlich preiszugeben. Die dennoch dokumentierte >Zweitrangigkeit< Gottes dürfte aus der Sicht einer theologisch-theokratischen Position kaum akzeptabel sein. Schon die Dequalifizierung des einmal zur Gestaltung allen menschlichen Zusammenlebens als essentiell angenommenen Befehls Gottes zur bloß nachträglichen Bestätigung markiert eine entscheidende Differenz zwischen Grotius' Vorstellung und geläufigen theokratischen Anschauungen, denn indem die Funktion Gottes systematisch auf eine sekundäre Stelle verschoben wird, werden ursprünglich theologisch besetzte Positionen geräumt und für nicht-theologische, mithin originär politische Dispositionen freigegeben, die Erweiterung politischer Handlungsspielräume wird damit theoretisch erst ermöglicht. Weil Grotius immer bemüht ist, biblische Positionen sozusagen als weitere Lehrmeinung für die Unterstützung seiner eigenen insgesamt profanen Sehweise fruchtbar zu machen, versucht er gerade nicht einer Auseinandersetzung mit dem Römerbrief des Apostel Paulus aus dem Wege zu gehen. Im Gegenteil: Grotius legt eine Interpretation vor, die sich in markanter Weise von der theokratischen Auslegungstradition unterscheidet und durchaus auf der Linie des bisher dargestellten liegt. Bereits der als Textreferat gedachte Teil seiner Ausführungen weicht deutlich von der theokratischtheologischen Lesart ab: während noch Jahrzehnte nach Grotius Autoren

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Grotius: Vom Recht des Krieges und des Friedens, 1,4,VII,3.

107 wie Johann Gerhard,168 Johann Friedrich Horn,169 Valentin Alberti170 oder Hector Gottfried Masius171 die Behauptung des Apostels »non est enim potestas nisi a Deo: quae autem sunt a Deo ordinatae sunt« zum Stützpfeiler ihrer theokratischen Konzeptionen ausbauen, ist Grotius dagegen gerade bestrebt, theokratische Konsequenzen zu vermeiden. Mit einer gewissen Souveränität gegenüber dem Wortlaut der Textstelle172 erklärt er, daß man die »Obrigkeit so ansehen« müsse, »als ob sie von Gott selbst bestellt sei«, weil Gott die »Einrichtung des Befehlens und Gehorchens gebilligt habe«.173 Wurde von den Fürsprechern der theokratischen StaatsaufFassung die göttliche Ordination der Obrigkeit als biblisch verbürgtes Faktum angesehen, das als solches noch immer unbedingte Gültigkeit beanspruchen durfte, so nimmt Grotius der behaupteten Tatsache ihre ursprüngliche Substanz und macht sie letztlich zu einer bloßen Als-ob-Vorstellung, deren Inhalt nicht mehr auf einer Tatsachenfeststellung beruht, sondern zur Angelegenheit einer pragmatisch funktionalisierbaren Bewußtseinshaltung geworden ist. Die entschiedene Distanz zu theokratischen Konzeptionen wird vollends unübersehbar, wenn Grotius die Römerbriefpassage auf eine recht unorthodoxe Weise für seine Begründung des Widerstandsverbots174 heranzieht. Während die theokratische Paulus-Interpretation im Widerstandsverbot den ausdrücklichen Willen Gottes artikuliert sieht, abstrahiert Grotius vom theologischen Gehalt dieser Stelle und führt sie auf eine rationale Einsicht zurück, die sich ihrerseits nicht zuletzt praktischer Erfahrung verdankt: »Mir scheint indessen der Apostel hier den allgemeinen Endzweck dieser Einrichtung im Auge zu haben, d.h. die öffentliche Ruhe, in der die Ruhe des einzelnen eingeschlossen ist. Es ist unzweifelhaft, daß wir in der Regel dieses Gut durch die Staatseinrichtung erlangen«.175 Das Widerstandsverbot

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Vgl. Joannes Gerhardus: De Magistratu Politico. In: Ders.: Loci Theologici. (1657) Tomus Sextus. Berlin 1868. S. 279. Siehe zu Horn: Heinrich de Wall: Die Staatslehre Johann Friedrich Horns (ca. 16291665). Aalen 1992, hier besonders S. 116 ff. Vgl. dazu oben 1.2.2.3.

Siehe zu Hector Gottfried Masius: Frank Grunert: Zur aufgeklärten Kritik am theokrati172 schen Absolutismus, S. 59flf. Vgl. dagegen Grotius' eher konventionellen philologischen Textkommentar in seinen »Annotationes in Epistolas Apostolicas et Apocalypsin«. In: Hugo Grotius: Opera Omnia Theologica. Tomus II, Volumen II. Reprint der Ausgabe Amsterdam 1679. Stuttgart-Bad 173 Cannstatt 1972, S. 749. Grotius: Vom Recht des Krieges und des Friedens, I,4,IV,1. »Quare potestas publicae eo loco nobis habendae sunt, quasi ab ipso Deo essent constitutae«. 174 Siehe zur Widerstandstheorie ausführlicher unten II. 1.3.4. 175 Grotius: Vom Recht des Krieges und des Friedens, I,4,IV,2. »Mihi videtur Apostolus considerasse finem universalem isti ordini propositum, qui est tranquillitas publica in qua

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wird damit nicht theologisch, sondern letztlich pragmatisch begründet: der Nutzen eines Staates, der sich aus der Realisierung seines Endzwecks ergibt, ist in seinem praktischen Wert so hoch angesetzt, daß die den Staat in seinem Bestand gefährdende Widerstandshandlungen nicht nur formal verboten sein müssen, sondern erkennbar in Niemandes Interesse liegen können. Daß diese praktisch-pragmatische Erkenntnis ausgerechnet - wenn auch etwas gewaltsam - aus einem ursprünglich theokratischen Axiom entwickelt wird, markiert einen fundamentalen, die Säkularisierung entscheidend vorantreibenden Paradigmen- und Perspektivenwechsel.

1.3. Der Staat als Instrument des Rechtsschutzes Weil Hugo Grotius mit De jure belli ac pads auf die theoretische Grundlegung eines Völkerrechts zielt, verzichtet er naheliegenderweise auf eine systematische Ausführung einer eigenen Staatstheorie; ein De republica überschriebenes Kapitel, das mit und seit Samuel Pufendorf zum kanonisierten Bestandteil von Naturrechtskompendien gehören sollte, wird man bei Grotius vergeblich suchen. Das heißt freilich nicht, daß Grotius keine prinzipielle Reflexion darüber angestellt hätte, aufgrund welcher Bedingungen ein Staat überhaupt notwendig geworden ist, welche Zwecke und welche Aufgaben er daher zu erfüllen hat oder welche Verfahren für die Hervorbringung der Staatsgewalt konstitutiv sind und welche Rechtsfolgen sie implizieren. Völkerrecht als rechtliche Beziehungen zwischen Staaten setzt Staaten als handlungsfähige Rechtssubjekte voraus; und so ergibt sich für Grotius geradezu zwangsläufig die Notwendigkeit, auf einen großen Teil des Repertoires an staatstheoretischen Problemen und Fragestellungen eigene Antworten oder Lösungsvorschläge bereitzuhalten. Dabei kann er es insgesamt bei vereinzelten Hinweisen und knappen Skizzen belassen, nur selten - etwa im Zusammenhang mit dem Widerstandsrecht und der damit verbundenen Souveränitätstheorie - hält Grotius eine ausführlichere Darstellung für unverzichtbar. Seine Vorgehensweise erschwert die Rekonstruktion einer in sich geschlossenen Staatstheorie; angesichts der sehr unterschiedlichen, über den Text verstreuten Einzelaussagen ist ein kohärentes Theoriegebäude kaum zu eruieren: offensichtliche Widersprüche werden von Grotius nicht geglättet und Unklarheiten nicht ausgeräumt.176 Dennoch lassen sich Umrisse einer

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et singulorum comprehenditur. Et sane quin plerumque hoc bonum per potestas publicas consequamur, dubitandum non est«. Vgl. Link: Hugo Grotius als Staatsdenker, S. 17; siehe auch Tanaka Tadashi, der häufiger Grotius' Mangel an Eindeutigkeit beklagt und schließlich etwas resignativ feststellt: »At any rate, it is difficult to gain an overall unterstanding of Grotius's view of the state, be-

109 Staatstheorie nachzeichnen, die vor allem im Rekurs auf die stoische Theorietradition dem staatsphilosophischen Denken des 17. und 18. Jahrunderts wichtige Impulse gegeben hat, ohne freilich die politische und philosophische Radikalität etwa eines Thomas Hobbes je erreicht zu haben. 1.3.1. Vom »appetitus societatis« zum Schutz vor Gewalt: Elemente einer Staatszwecklehre Gemessen an den theoretischen Standards, die später vor allem Hobbes und Locke fllr die angelsächsische und Pufendorf und Thomasius fllr die deutsche Diskussion einführten, bleiben die von Grotius angestellten Überlegungen zur Notwendigkeit der menschlichen Vergesellschaftung und ihrer politisch-rechtlichen Manifestation in der Staatsgründung theoretisch eher unbefriedigend. Dies liegt vor allem an der mangelnden Systematik: aus unverfügbaren anthropologischen Voraussetzungen einerseits und kontingenten historischen Erfahrungen andererseits bezieht Grotius unterschiedliche Motive, die er mehr zu einem Nebeneinander arrangiert anstatt sie in ein stringentes und nachvollziehbares Verhältnis zu setzen. Als der hervorragende und für Grotius' Anschauung im Vergleich zu Hobbes und Pufendorf spezifische Antrieb zur Vergesellschaftung wird allgemein der »appetitus societatis« angesehen. Im Rückgriff auf eine der stoischen Theorietradition entnommenen Gedankenfigur177 unterstellt Grotius dem Menschen als besondere Wesenseigentümlichkeit einen »geselligen Trieb zu einer ruhigen und nach dem Maß seiner Einsicht geordneten Gemeinschaft mit seinesgleichen«.178 Die doppelte Natürlichkeit von Gesellschaftstrieb einerseits und vernünftiger Einsicht andererseits werden hier als basale Voraussetzungen für jedwede Form von Vergesellschaftung postuliert.179 Die Vorstellung eines von Natur aus gegebenen Geselligkeitstriebs, mit dessen Hilfe die Vergesellschaftung als quasi naturwüchsiger Vorgang plausibel gemacht werden kann, ist naheliegend und vergleichsweise unspektakulär. Für Thomas Hobbes, der seine Staatstheorie auf der Basis einer genau entgegengesetzten Anthropologie entwickelt, beruht die

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cause he does not develop a theory of the state as an end in itself, nor does he always discuss the state, imperium, and related concepts in a consistent way«. Tanaka Tadashi: State and Governing Power. In: Onuma Yasuaki (ed.): A normative Approach to War. Oxford 1993, S. 145. Vgl. die Nachweise in der von de Kanther-van Hettinga Tromp besorgten Ausgabe sowie Cicero: Der Staat, S. 55. »Inter haec autem quae homini sunt propria, est appetitus societatis, id est communitatis, non qualiscunque, sed tranquillae et pro sui intellectus modo ordinatae cum his qui sunt generis«. Grotius: De jure belli ac pacis, Prol. 6. Zur Bedeutung dieser Konstruktion für die Begründung des Naturrechts siehe oben II. 1.2.1.

110 von aristotelischen so gut wie von der stoischen Überlieferung getragenen Annahme einer natürlichen gesellschaftlichen Disposition des Menschen schlicht auf einem »Irrtum, der aus einer allzu oberflächlichen Betrachtung der menschlichen Natur herrührt«.180 Sein Vertrauen in die natürliche Soziabilität des Menschen war längst erschüttert, als verläßliches Fundament für ein befriedetes Gemeinwesen kam sie auf keinen Fall in Betracht. Und so wählt Hobbes den extremen, nach eigenem Bekunden aber realitätsnäheren Fall des asozialen Menschen als Ausgangspunkt für seine Überlegungen. Seine Konstruktion vertraut darauf, daß der Einzelne aus Gründen eines erst reflexiv und damit sekundär einzuholenden Selbsterhaltungsinteresses von seinen unmittelbaren Interessen im Kontext einer gegebenen Praxis absieht. Das Konzept ist insofern riskant, als die Normen, die Sozialität erst stiften und schließlich dauerhaft instituieren, zunächst mit den unmittelbar praktischen Interessen des Einzelnen und seiner von Hobbes konstatierten natürlichen Disposition kollidieren.181 Erst über eine sekundäre Klugheitsreflexion wird den Normen ein Anhalt für ihre eigene Verwirklichung verschafft. Grotius' Auffassung hat dagegen den theorietechnischen Vorteil, daß die Norm selbst schon a priori einen Rückhalt in der sie hervorbringenden Wesensnatur des Menschen hat. Das bei Hobbes unaufhebbar prekäre Verhältnis von machtvoll befriedendem Staat einerseits und in letzter Konsequenz kriegerischem Naturzustand andererseits besteht bei Grotius von vornherein nicht. Der appetitus societatis bietet a priori die aussichtsreiche Chance auf ein friedliches Gemeinwesen, indem er den Frieden als naturgemäßen Normalfall und den Krieg als regelungsbedürftige Anomie ausgibt. Der Geselligkeitstrieb definiert eine natürliche Sozialität, in deren Rahmen sich die verschiedenen Formen praktischer Vergesellschaftung erfolgreich vollziehen können. Zugleich fungiert er als Voraussetzung oder als Ermöglichungsbedingung gelingender Sozialität, denn durch ihn ist im Menschen selbst die prinzipielle Bereitschaft zur Normbefolgung verankert. Die Norm hat bei Grotius im Gegensatz zu Hobbes insofern einen natürlichen Ansatz zu ihrer Verwirklichung. Das bloße Selbsterhaltungsinteresse, das bei Hobbes zusammen mit einer Klugheitserwägung zur Vergesellschaftung führt, hätte Grotius wohl kaum für ein tragfähiges Fundament gehalten, seine Kritik an der allein auf Nutzen abstellenden Rechtstheorie von Karneades macht dies hinreichend deutlich. Obwohl Grotius sein Konzept vom appetitus societatis nicht weiter ausgestaltet, dürfte er wohl mit Cicero darin übereinstimmen, daß es ohne die wesenseigentümliche Geselligkeit des Menschen weder fur

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Hobbes: Vom Menschen. Vom Bürger, S. 76. Vgl. Hobbes: Vom Menschen. Vom Bürger, S. 75f., sowie ders.: Leviathan, S. 94ff.

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die Gerechtigkeit noch für das Gemeinwesen insgesamt irgendeinen plausiblen Anhalt gäbe.182 Mit dem Geselligkeitstrieb als grundlegende Voraussetzung ist aus staatstheoretischer Sicht freilich noch längst nicht alles erreicht. Der appetitus societatis ist eben nicht die »Ursache der Staatsgründung«,183 sondern nur seine wichtigste anthropologische Voraussetzung,184 und so kommen weitere anthropologisch und historisch begründete Motive hinzu, mit deren Hilfe die besonderen Funktionen einer Vergesellschaftung in der Form eines institutionalisierten Staates erst hinreichend sichtbar werden. Ebenfalls in Anlehnung an stoische Vorstellungen185 und quasi als Vorwegnahme von Pufendorfs imbecillitas-Gedanken hält Grotius die natürliche Schwäche des Einzelnen für ein entscheidendes Movens zur Vergesellschaftung: »denn der Schöpfer der Natur wollte, daß wir als Einzelne schwach seien und zum rechten Leben vieles bedürften, damit wir desto mehr zur Pflege der Geselligkeit angetrieben würden«.186 Die Besonderheiten der menschlichen Schwäche werden an dieser Stelle nicht näher bestimmt, entsprechend unklar bleibt auch der spezifische Nutzen, den die Vergesellschaftung zur Kompensation natürlicher Schwächen erbringen soll. Nicht gerade erhellend stellt Grotius lediglich fest: »Ebenso war der Nutzen die Veranlassung zur Entstehung des bürgerlichen Rechts; denn jene erwähnte Vergesellschaftung oder Unterwerfung hat aus irgendeinem Nutzen ihren Anfang genommen«.187 Hier könnte der Nutzen noch vornehmlich in der solidarischen Kombination von Kräften und Vermögen bestehen, die alle Beteiligten zur gemeinsamen Kompensation ihrer natürlichen Schwächen aufbringen. Von Konflikten oder Interessenkollisionen unter den Menschen ist an dieser Stelle noch nicht die Rede, es geht zunächst nur um den notwendigen Ausgleich natürlicher Defizite, wobei die Natur selbst über den appetitus societatis die grundlegende Voraussetzung für diesen Ausgleich bereithält.

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Es heißt bei Cicero in Zusammenhang mit der »natürlichen Geselligkeit«: »Denn gäbe es im Menschen nicht zur Gerechtigkeit bestimmte Samen sozusagen, würde man weder irgendeine Entwicklung der übrigen Tugenden noch des Gemeinwesens selbst finden.« Cicero: Der Staat, S. 55. So etwa Link: Hugo Grotius als Staatsdenker, S. 22. Vgl. dazu auch Ottenwälder: Zur Naturrechtslehre des Hugo Grotius, S. 81 und Norman Paech. Hugo Grotius, S. 74. Beide Autoren führen die Staatsgründung übereinstimmend auf andere Ursachen zurück, ohne freilich die theoretische Funktion des appetitus societatis hinreichend zu würdigen. Vgl. Cicero: Der Staat, S. 169, 195. Grotius: Vom Recht des Krieges und des Friedens, Vorrede 16. Grotius: Vom Recht des Krieges und des Friedens, Vorrede 16.

112 Der durch die Vergesellschaftung anvisierte Nutzen erhält allerdings eine neue Qualität und eine schärfere Kontur, wenn Grotius an einer anderen Stelle des Textes als Grund für die Einrichtung einer societas civilis explizit die historische Erfahrung des Einzelnen benennt, schutzlos fremder Gewalt ausgesetzt zu sein: »Indessen sind die Menschen nicht auf Gottes Geheiß, sondern von selbst zur staatlichen Gesellschaft zusammengetreten, nachdem sie erfahren hatten, daß die Einzelnen zu schwach waren, um sich gegen die Gewalt zu schützen. Daraus ist die Staatsgewalt hervorgegangen«.188 Die Gewalterfahrung der Einzelnen wird an dieser Stelle als die unmittelbare Ursache einer als wirksame und dauerhafte Schutzmaßnahme konzipierten staatlichen Vergesellschaftung aufgefaßt. Die Schwäche des Einzelnen ist hier nicht mehr seine natürliche Bedürftigkeit, die ihn auf die solidarische Hilfe anderer angewiesen sein läßt - so wie das Kind der Unterstützung durch die Eltern bedarf - vielmehr liegt seine Schwäche nun in seinem Unvermögen, sich der Gewalt der anderen nachhaltig erwehren zu können. Damit wechselt die Ebene des Konfliktes: ging es zunächst noch darum, in der Auseinandersetzung mit der nichtmenschlichen Natur Leben und Überleben gemeinsam zu sichern, so sind nun Vorkehrungen gegen Gefahren zu treffen, die von anderen Menschen ausgehen. Weil die notwendigen Schutzmaßnahmen in der Vergesellschaftung von Menschen bestehen, befindet sich hier der Mensch prinzipiell in der doppelten Rolle des Widersachers einerseits und des Schutzgenossen andererseits. Es ist möglicherweise kein Zufall, daß Grotius genaugenommen nur an dieser Stelle die Entstehung des Staates explizit aus nur einem definitiven Grund herleitet. Es darf daher vermutet werden, daß nicht der appetitus societatis oder die natürliche Schwäche des Menschen die genaue Ursache des Staates sind, sondern tatsächlich nur die Gewalterfahrung, wobei nicht bestritten werden soll, daß die Bedürftigkeit ebenso wie der Geselligkeitstrieb an der Vergesellschaftung zu einer societas civilis ihren je eigenen, wenn auch eher unspezifischen Anteil haben.189 Im Gegensatz zu Thomas Hobbes bietet Hugo Grotius keine weitergehende und überzeugende Analyse der von ihm konstatierten und an entscheidender Stelle theoretisch eingebrachten Gewalterfahrung. So bleibt unklar, von wem die Gewalt genau ausgeht und wen sie betrifft; handelt es sich um einen Konflikt zwischen potentiell verfeindeten Gruppen, etwa 188 Grotius: Vom 189

Recht des Krieges und des Friedens, 1,4,VII,3.

Paul Ottcnwälder stellt daher zu Recht fest: »Der Grund zum Zusammenschluß ist aber nicht der Geselligkeitstrieb, wie nach den Ausführungen in Prol. 6 zu erwarten wäre, sondern die Absicht, sich vor der Gewalt der anderen zu schützen.« (S. 81) Vgl. auch die ganz ähnliche Einschätzung von Norman Paech: Hugo Grotius, S. 74.

113 Familien oder Clans, oder unterstellt Grotius ähnlich wie Hobbes und später auch Thomasius eine Auseinandersetzung zwischen Individuen? Ungeklärt bleibt auch die nicht erörterte Korrelation zwischen dem appetitus societatis und der tatsächlichen Gewalt, was zu der Frage nach ihrem Grund führt: worin besteht der eigentliche Gegenstand der Auseinandersetzung, und welche anthropologischen oder historischen Voraussetzungen und Umstände haben die natürliche Wirksamkeit des Geselligkeitstriebes soweit verhindern können, daß nicht friedliches Miteinander, sondern Gewalt die Szenerie beherrscht? Grotius läßt diese Fragen weitgehend unbeantwortet. Zugleich ist aber klar, daß er die Gewalt für so gravierend hält, daß er den hebräischen Pirke Aboth zustimmend mit den folgenden Worten zitiert: »Gäbe es keine Obrigkeit, so würde einer den anderen verschlingen«.190 Einen gewissen Aufschluß vor allem über den Gegenstand und den Grund der Gewalt gibt allerdings der von Grotius skizzierte Übergang vom naturzuständlichen Gemeineigentum zum Privateigentum. Denn das durch Rechtstitel ausgezeichnete Privateigentum ist zu seiner nachhaltigen Sicherung gegen die Übergriffe Dritter auf rechtliche Regelungen angewiesen, die nur der Staat wirkungsvoll bereitstellen kann. Der ursprüngliche, durch Gemeineigentum geprägte Zustand, in dem jeder nach seinen Bedürfnissen soviel von den vorhandenen Gütern nehmen und verzehren konnte, wie ihm beliebte,191 war nur unter der Bedingung von »großer Einfachheit«, d.h. extremer Anspruchslosigkeit, oder »sehr starker, gegenseitiger Liebe« dauerhaft aufrechtzuerhalten.192 Beide Bedingungen waren - wie Grotius mit einem historischen Hinweis zu belegen versucht nur in unerheblichen Ausnahmefällen zu erfüllen.193 Und so führt Grotius die Einführung des Privateigentums auf eine Kombination von objektiven 190 Grotius: Vom Recht des Krieges und des Friedens, I,4,IV,2. Wörtlich heißt es im 9. Traktat der 4. Ordnung des Babylonischen Talmud: »Bete für das Wohl der Obrigkeit. Wenn die Furcht vor ihr nicht wäre, würde einer den andern lebendig verschlingen«. Zitiert nach: Der Babylonische Talmud. Übertragen und erläutert von Jakob Fromer [1924], Neudruck Wiesbaden 1984, S. 19. Einen weiteren Beleg für diese Auffassung findet Grotius bei Chrysostomos: »Wolltest du die Obrigkeiten in den Städten aufheben, so würden wir ein Leben führen, unvernünftiger als das der unvernünftigen Tiere, und würden einander beißen und aufzehren« (1,4,IV,2). Es scheint, als habe die Vorstellung eines naturzuständlichen >bellum omnium contra omnes< eine lange Tradition, die eben nicht zuerst bei Hobbes und auch nicht erstmals bei Grotius für die Staatstheorie fruchtbar gemacht wur191 de. Vgl. Grotius: Vom Recht des Krieges und des Friedens, 11,2,11,1. 192 »Hinc factum ut statim quisque hominum ad suos usus ampere posset quod vellet, et quae consumi poterant consumere. [...] Neque is status durare non potuit, si aut in magna, quadam simplicitate perstitissent homines, aut vixissent inter se in mutua quadam eximia ca193 ritate.« (11,2,11,1) Grotius: Vom Recht des Krieges und des Friedens, 11,2,11,2.

114 und - weitaus gravierenderen - subjektiven Gründen zurück. Die zahlenmäßige Vermehrung der Menschen und die mit ihr verbundene Verknappung der zur Verfugung stehenden Güter gehört zu den objektiven Faktoren; bedeutungsvoller und für Grotius' gesamte Theorie signifikanter ist der subjektive Entschluß der Menschen, den ursprünglichen >status simplicitatis< zu verlassen: anstatt »in diesem einfachen und unschuldigen Leben« zu bleiben, strebten sie »nach mancherlei Künsten«, 194 sie »begnügten sich nicht mehr, von wilden Früchten zu leben, Höhlen zu bewohnen, nackt zu gehen oder sich in Baumrinde und Tierfelle zu kleiden, sondern sie verlangten nach einer feineren Lebensweise«. 195 Bemerkenswert an dieser Stelle ist, daß Grotius dies Streben nach mancherlei Künsten im biblischen Baum der Erkenntnis symbolisiert sieht und daher den Wunsch, die >simplicitas< aufzugeben, mit dem Sündenfall zu assoziieren scheint. Indem Grotius jedoch den >status simplicitatis< als Zustand ausgesprochener Dürftigkeit beschreibt und eben nicht, der biblischen Überlieferung entsprechend, ein von Gott geschaffenes Paradies unterstellt, macht er den Wunsch nach einer »feineren Lebensweise« plausibel, ohne ihn von vornherein mit einer schweren moralischen Hypothek zu belasten. Ohne gegen ein Verbot Gottes zu verstoßen, entscheidet sich bei Grotius der Mensch aus eigener Erfahrung und aufgrund seines eigenen freien und eben auch legitimen Willens dafür, seine Lebensumstände angenehmer zu gestalten. Dabei ist sich Grotius durchaus bewußt, daß die damit sich notwendigerweise ergebenden Unterschiede im Streben bzw. in der Betätigung (»diversitas studiorum«) - wie er mit einem Hinweis auf Kain und Abel, also wiederum am biblischen Beispiel zeigt - zu Eifersucht bzw. Rivalität (»aemulatio«) und schließlich zum Mord führen. 196 Dennoch ist Grotius weit davon entfernt, die Wiederherstellung der preisgegebenen Ursprünglichkeit einzuklagen, selbst die »Ehrsucht« (»ambitio«), in der Grotius die vornehmliche Ursache für die Zerstörung der Eintracht sieht, hält er entgegen der Tradition nicht nur für ein Laster, einen moralischen Defekt, dem mit allen Mitteln zu begegnen sei, vielmehr zählt er sie zu den »edleren Fehlern« (»Vitium generosius«) und konzediert ihr auf diese Weise schließlich doch noch positive moralische Qualitäten, die sich etwa innerhalb seines Gemeinwesens produktiv umsetzen lassen.197 Das legitime Verlangen nach einer »feineren Lebensweise«, d.h. nach einem höheren Reproduktionsniveau, wird bei Grotius nicht nur zur unmittel194 195 196

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Grotius: Vom Recht des Krieges und des Friedens, 11,2,11,2. Grotius: Vom Recht des Krieges und des Friedens, 11,2,11,4; vgl. dazu auch Buckle: Natural Law and the Theory of Property, S. 37. »Antiquissimae artes agricultura et pastura in primis fratribus apparuerunt: non sine aliqua rerum distributione. ex studiorum diversitate aemulatio, etiam caedes.« (11,2,11,2) Vgl. Grotius: Vom Recht des Krieges und des Friedens, 11,2,11,3.

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baren Ursache von Rivalitäten, die sich in offener Gewalt manifestieren können, vielmehr bringt der Wunsch nach einem Leben jenseits ursprünglicher Dürftigkeit zugleich den Gegenstand hervor, an dem sich die Rivalität entzündet: die neuen Bedürfnisse waren nicht mehr durch die einfache Besitzergreifung der vorhandenen natürlichen Güter zu befriedigen; Arbeit mußte von jedem Einzelnen verausgabt werden und deren Produkte konnten wegen fehlender »Gerechtigkeit und Liebe«198 nicht mehr gemeinsam angeeignet werden. Das so entstehende Privateigentum war zwar die Folge von Arbeit, doch wurde es erst durch einen rechtlichen Vorgang tatsächlich eingeführt: das Produkt ist bei Grotius nämlich nicht allein schon deshalb Eigentum des Produzenten, weil er Arbeit zu seiner Herstellung hat aufwenden müssen,199 vielmehr wird die verbindliche Aneignung produzierter Güter erst mit der Hilfe eines ausdrücklichen oder stillschweigenden Vertrages vollzogen.200 In ihm sieht Grotius - nicht nur in privatrechtlichen Zusammenhängen - das schlechthin ausgezeichnete Mittel, auf der Basis von Gegenseitigkeit und Freiwilligkeit verbindliche Rechtstitel zu erwerben und zu übertragen.201 Die Verträge haben als Medien der Rechtsgestaltung schon vor der Einrichtung eines Staates naturrechtliche Geltung, eine vollständige Sicherung bestehender Rechtstitel ist jedoch nur durch den Staat möglich. Obwohl Grotius im Gegensatz zu später hervortretenden Autoren die Staatsbildung nicht genetisch aus den Bedingungen eines vorstaatlichen Zustands nachvollzieht, wird doch deutlich, daß die auf Ruhe und Ordnung abzielende societas civilis202 in erster Linie Konflikte befrieden soll, die sich durch das freiwillige Verlassen einer elementaren Reproduktionsstufe und dem damit verbundenen Übergang vom Gemeineigentum zum Privateigentum geradezu notwendig ergeben. In unübersehbarer Anlehnung an Cicero defi198 199

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Grotius: Vom Recht des Krieges und des Friedens, 11,2,11,4. Vgl. dazu John Locke, der in den Zwei Abhandlungen über die Regierung feststellt: »Die Arbeit seines Körpers und das Werk seiner Hände sind, so können wir sagen, im eigentlichen Sinne sein Eigentum. Was immer er also dem Zustand entrückt, den die Natur vorgesehen und in dem sie es belassen hat, hat er mit seiner Arbeit gemischt und ihm etwas eigenes hinzugefügt. Er hat es somit zu seinem Eigentum gemacht.« (S. 216f.) Vgl. auch Reinhard Brandt. Eigentumstheorien, S. 40; vgl. dazu auch Buckle: Natural Law and the Theory of Property, S. 42. Die Vorstellung eines (natur)rechtsverbindlichen pactum taciturn bedeutet keine Schwächung des kontraktualistischen Arguments - wie Haakonssen vermutet (S. 243) - , sondern eher seine Steigerung. Denn die Annahme eines stillschweigenden Vertrages trägt der Tatsache Rechnung, daß der Eigentumserwerb unter den als empirisch vorgestellten Bedingungen eines vorstaatlichen Zustandes wohl nur in Ausnahmefällen auf eine explizite vertragliche Übereinkunft beruhen kann. Die problematische Konstruktion eines stillschweigenden Vertrages will die grundlegende Bedeutung des Vertragsgedankens gegen die Einsprüche der Empirie sichern. Vgl. Grotius: Vom Recht des Krieges und des Friedens, 1,4,11,1 und 1,4,IV,2.

116 niert Grotius den Staat dementsprechend als »eine vollkommene Verbindung freier Menschen, die sich des Rechtsschutzes und des Nutzens wegen zusammengetan haben«.203 »Vollkommen« (»perfectus«) ist die Verbindung, weil dem Staat mit seiner Gründung gegenüber seinen Mitgliedern ein »höheres Recht« zuwächst, das etwa deren naturrechtliche Lizenz zur Selbstjustiz aufhebt.204 Das auf diese Weise geschaffene prinzipielle Gewaltmonopol ermöglicht es dem Staat, seine Sicherungsfunktionen wahrzunehmen, indem es die Kontrahenten dazu zwingt, ihre Auseinandersetzung juristisch zu prozedieren und sich der Entscheidung einer übergeordneten, gemeinsam und freiwillig akzeptierten Instanz zu unterstellen.205 Dieser primär juristischen Funktion entsprechen die der Tradition entnommenen juristischen Staatsaufgaben:206 Gesetzgebung und Rechtsprechung. Dabei übersieht Grotius freilich nicht, daß als dritte Aufgabe des Staates die >Politik< im engeren Sinne hinzukommen muß, hierunter faßt er etwa die Krieg und Frieden betreffende Handlungen, aber auch reine Verwaltungstätigkeiten.207 1.3.2. Die Vertragslehre Obwohl Grotius in der einschlägigen Literatur zur politischen Philosophie des Kontraktualismus entweder überhaupt keine oder eine nur sehr unzureichende Berücksichtigung findet,208 ist sich die Grotius-Forschung darüber weitgehend einig, daß Grotius die Entstehung des Staates auf einen vertrag-

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Grotius: Vom Recht des Krieges und des Friedens, I,1,XIV,1: »Est autem Civitas coetus perfectus liberorum hominum, iuris fruendi et communis utilitatis causa sociatus«. Bei Cicero heißt es ganz ähnlich: »>Es ist alsodas Gemeinwesen die Sache des Volkes, ein Volk aber nicht jede irgendwie zusammengescharte Ansammlung von Menschen, sondern die Ansammlung einer Menge, die in Anerkennung des Rechtes und der Gemeinsamkeit des Nutzens vereinigt ist.«< Cicero: Der Staat, S. 53. 204 Vgl. Grotius: Vom Recht des Krieges und des Friedens, 1,3,1,2; 1,3,11,1 sowie 1,4,11,1 und II,5,XXII. Siehe zum ius puniendi bei Grotius. Gerald Härtung: Von Grotius zu Pufendorf. Die Herkunft des säkularisierten Strafrechts aus dem Kriegsrecht der Frühen Neuzeit. In: Fiammetta Palladini und Gerald Härtung (Hrsg.): Samuel Pufendorf und die europäische Frühaufklärung. Werk und Einfluß eines deutschen Bürgers der Gelehrtenrepublik nach 300 Jahren (1694-1994). Berlin 1996. Dazu die Rezension von Frank Grunert in: Archiv 205 für Rechts- und Sozialphilosophie. Band 83, Heft 3. Wiesbaden 1997, S. 447-451. Vgl. Grotius: Vom Recht des Krieges und des Friedens, 1,3,1,1. 206 207 208

Grotius orientiert sich hier ausdrücklich an Thukydides und Aristoteles. Vgl. Grotius: Vom Recht des Krieges und des Friedens, 1,3,VI,2. Vgl. J.W. Gough: The Social Contract. A Critical Study of its Development. 2nd Edition Oxford 1957, S. 80f. Rolf Lieberwirth: Die historische Entwicklung der Theorie vom vertraglichen Ursprung des Staates und der Staatsgewalt. Berlin 1977, S. 30f. Wolfgang Kersting: Artikel >Vertrag, Gesellschaftsvertrag, Herrschaftsvertraghermeneutisch< eingesetzten Vertragsvorstellung bestehende politische Verhältnisse interpretierten und die Mutualitätsbeziehung zwischen Fürst und Untertanen im gegebenen politischen Kontext mit rechtlichen Inhalten versahen.211 Weil Grotius demgegenüber bereits moderne »legitimationstheoretische Fragestellungen«212 bearbeitet, die - wie im einzelnen noch zu zeigen sein wird - sowohl die Staatsgründung selbst als auch souveränitätstheoretische, die Beziehung zwischen Regierung und Regierten berührende Probleme betreffen, darf er noch vor Hobbes als ein Vertreter des von Kersting so genannten »konstruktiven Kontraktualismus« angesehen werden.213 Diese Einordnung ist auch dann gerechtfertigt, wenn Grotius die Vertragskategorie nicht nur zur theoretischen Begründung des Staates heranzieht, sondern sich ihrer darüberhinaus zur Bestimmung des rechtlichen Verhältnisses von Regierung und Regierten bedient und damit unter veränderten theoretischen Bedingungen auf Momente des mittelalterlich-feudalen Vertragsdenkens zurückgreift. In der Tat scheint bei Grotius ein zweistufiges Vertragsmodell vorzuliegen, das sich mit ständischer Akzentuierung bereits bei Johannes Althusius findet und später von Samuel Pufendorf mit einer klaren absolutistischen Perspektive in einer Weise systematisch ausgebaut wurde, die für die deut209

Vgl. etwa Haakonssen: Hugo Grotius and the history of political thought, S. 244. Hofmann: Hugo Grotius, S. 50. Holzel: Grundlagen, S. 123ff. Klenner: Hugo Grotius und die Geburt des bürgerlich-rationalen Naturrechts, S. 8. Link: Hugo Grotius als Staatsdenker, S. 22f. Paech: Hugo Grotius, S. 73ff. Siehe dagegen Tanaka Tadashi, der sich angesichts der mangelnden logischen Konsistenz von Grotius' Theorie nicht entschliessen mag, Grotius umstandslos der modernen Vertragstheorie zuzurechnen. Tadashi: State and Gover210 ning Power, S. 131-133. Kersting: Politische Theorie, S. 15, ders.: Vertrag, Gesellschaftsvertrag, Herrschaftsver211 trag, S. 901. Siehe zur Unterscheidung zwischen mittelalterlichem Vertragsdenken und modernen Kontraktualismus auch Richard Saage. Vertragsdenken als frühbürgerliche Gesellschaftstheorie (Hobbes, Locke, Rousseau). In: Ders.: Vertragsdenken und Utopie. Frankfurt am Main 1989. S. 47f. Kersting: Politische Philosophie, S. 14. 213 Vgl. zur Unterscheidung zwischen >hermeneutischem< und >konstruktivem< Kontraktualismus Kersting: Politische Philosophie, S. 14. Kersting schließt hier an Vorgaben von Harro Höpfl und Martyn P. Thompson an, die in ganz ähnlicher Weise zwischen »constitutional· und »philosophical contractarianism< unterscheiden. Siehe Harro Höpfl, Martyn P. Thompson: The History of Contract as a Motif in Political Thought. In: American Historical Review. 84/1979, S. 919-944.

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sehe Aufklärung lange Zeit verbindlich blieb.214 Allerdings sind die beiden Verträge, von denen bei Grotius die Rede ist, nicht so ohne weiteres mit dem Doppelvertrag identisch, den Pufendorf für die Entstehung eines »sachgerechten und vollkommenen Staates«215 unbedingt fordert. Denn in allen einschlägigen, die Vergesellschaftung betreffenden Textstellen spricht Grotius immer schon von einem Staat (»civitas«) als dem Ergebnis dieser Verbindung.216 Weil diese durch nur einen Vertrag geschaffene Gemeinschaft bereits über alle Merkmale zu verfügen scheint, die einen Staat ausmachen - z.B. die Fähigkeit, positive Gesetze zu geben217 - ist ein weiterer Vertrag zur vollständigen Instituierung eines Staates nicht unbedingt notwendig. Schließlich kommt bei Grotius dann doch ein zweiter Vertrag ins Spiel, wenn eine Regierung auf der Grundlage des naturrechtlich gebotenen Mehrheitsprinzips218 gewählt und ihm auf vertraglichem Wege die vorher schon bestehende Staatsgewalt übertragen wird. Je nach Vertragsinhalt, der bei Grotius nicht so eindeutig festgelegt ist wie bei Pufendorf, ließe sich dann von einem pactum subiectionis oder aber - eher nach dem Vorbild von Althusius - von einem pactum mandati219 sprechen. Insofern wäre doch ein zweistufiges Vertragsmodell anzunehmen, daß allerdings nicht über dieselbe notwendige Stringenz verfügt wie Pufendorfs Lehre vom Doppelvertrag. Daß Grotius die ursprüngliche Assoziation auf eine vertragliche Grundlage stellt, ist zwar nicht gänzlich unbestritten,220 doch lassen die Hinweise etwa in den Paragraphen 15 und 16 der Vorrede keinen anderen Schluß zu. 214 Siehe dazu ausführlich unten II.2.2. Schon an dieser Stelle sei angemerkt, daß Christian Thomasius in den Fundamenta bereits in Ansätzen eine Vertragsvorstellung entwickelte, 215 die eher auf Kant voraus- als auf Pufendorf zurückwies. Siehe dazu unten III.2.3.2. Samuel von Pufendorf: Uber die Pflichten des Menschen und des Bürgers nach dem Gesetz der Natur. Herausgegeben und übersetzt von Klaus Luig. Frankfurt am Main 1994, S. 165. 216 217 Vgl. Grotius: Vom Recht des Krieges und des Friedens, 1,1,XIV; 1,4,VII,3; II,5,XXII. Vgl. Grotius: Vom Recht des Krieges und des Friedens, II,5,XIII. 218 Vgl. Grotius: Vom Recht des Krieges und des Friedens, II,5,XVII. 219 Vgl. Althusius: Politica, S. 329. Siehe dazu Otto von Gierke: Johannes Althusius und die Entwicklung der naturrechtlichen Staatstheorien. 2. Auflage Breslau 1902, Neudruck 220 Aaalen 1958, S. 83. Vgl. Rolf Lieberwirth, der den Vergesellschaftungsprozeß allein durch den appetitus societatis gewährleistet sieht. Lieberwirth: Die historische Entwicklung, S. 34. Auch Erik Wolf hält einen gesellschaftsbegründenden Vertrag für nicht gegeben: »Nur zur Begründung des Herrschaftsamts und seiner Pflichten, nicht zur Begründung politischer Gemeinschaft überhaupt, zog Grotius gelegentlich den zivilistischen Vertragsgedanken heran.« Weil aber doch ganz unübersehbar von Verträgen die Rede ist, muß Wolf, um seine Auffassung gegen Einsprüche zu sichern, den notwendigerweise utilitaristisch gefärbten Vertrag uminterpretieren: »Der >VertragBundamtslosen< Einzelnen, sondern auch - wie Grotius in expliziter Abgrenzung von monarchomachischen Positionen betont - die niederen Obrigkeiten. Gegen die Vorstellung, niedere Obrigkeiten seien dazu sowohl 308 Grotius: Vom Recht des Krieges und des Friedens, 1,4,11,1. An anderer Stelle heißt es ebenso lapidar wie pragmatisch: »Für das öffentliche Leben ist aber unzweifelhaft jene bezeichnende Ordnung des Befehlens und Gehorchens die Hauptsache, und dies kann 309 nicht bestehen, wenn Widerstand gestattet ist.« 1,4,IV,5. Nova vulgata Bibliorum Sacrorum, Rom. 13,4. 310 Grotius: Vom Recht des Krieges und des Friedens, Vorrede 18.

143 berechtigt als auch verpflichtet, dem »Unrecht der höchsten Staatsgewalt Widerstand entgegenzusetzen«, führt Grotius seinen strikten Souveränitätsbegriff, aus dessen Perspektive die niederen »Obrigkeiten in ihrem Verhältnis zu der übergeordneten Staatsgewalt [...] nichts anderes als Privatpersonen«311 sind. Ihre von der summa potestas lediglich abgeleitete Macht reicht nicht aus, um die Handlungen der Staatsgewalt - seien sie recht oder unrecht - ungültig zu machen. Obwohl Grotius ein ius resistendi also prinzipiell ablehnt, hält er dennoch - wie nahezu die gesamte Tradition - passiven Widerstand dann für erlaubt, »wenn der Inhaber der Staatsgewalt etwas befehlen sollte, was dem Naturrecht oder dem Gebote Gottes wiederspricht«.312 Der menschliche Befehl der summa potestas wird so durch ein höherwertiges Gesetz neutralisiert. Und in der »schwersten und offenbarsten Gefahr« ist sogar aktiver Widerstand als unmittelbare, »mit Rücksicht auf das allgemeine Wohl« ausgeführte Notwehr zugelassen: »Dennoch kann ich nicht ohne Unterschied die einzelnen oder einen Teil des Volkes verdammen, wenn sie sich des letzten Notrechtes zu ihrem Schutz in einer Weise bedienen, daß sie dabei die Rücksicht auf das allgemeine Wohl nicht aus den Augen setzen«.313 Diese vorwiegend naturrechtlich gestützten Ausnahmen begründen nach Grotius jedoch noch kein Widerstandsrecht im eigentlichen Sinne; auch den Katalog von sieben Fällen, in denen Resistenz erlaubt sein soll, will Grotius bezeichnenderweise ausdrücklich nicht als Einführung eines Widerstandsrechts verstanden wissen. Aus diesem Grunde schickt er seinen Ausführungen die folgende Bemerkung voraus: »Wir haben gesagt, daß es richtig ist, sich nicht den Inhabern der höchsten Staatsgewalt zu widersetzen. Jetzt muß indessen der Leser an einiges erinnert werden, damit er nicht diejenigen als Verletzer dieses Gebots ansehe, die es in Wahrheit nicht sind«.314 Wer also in den noch zu erörternden Fällen Widerstand leistet, macht von natürlichen oder positiven Rechten Gebrauch, ohne sich dabei auf ein Widerstandsrecht berufen zu müssen. Die markante Konstruktion eines Rechts auf Widerstand bei gleichzeitiger Ablehnung eines Widerstandsrechts ist in ihrer Widersprüchlichkeit durchaus einer Erklärung bedürftig.315 Ein näherer Blick auf 311

Grotius: Grotius: 313 Grotius: 314 Grotius: 315

Vom Vom Vom Vom

Recht Recht Recht Recht

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Krieges Krieges Krieges Krieges

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des des des des

Friedens, Friedens, Friedens, Friedens,

1,4,VI, 1. 1,4,1,3. 1,4,VII,4. 1,4,VII,15.

In der Literatur haben sich soweit absehbar vor allem Kurt Wolzendorff (Staatsrecht und Naturrecht in der Lehre vom Widerstandsrecht des Volkes gegen die rechtswidrige Ausübung der Staatsgewalt. Breslau 1916; Reprint Aalen 1961, S. 247-261) und Paul Ottenwälder um eine Klärung bemüht, während dagegen die neuere Literatur diesem zweifellos signifikanten Problem keine weitere Aufmerksamkeit geschenkt hat. Vgl. Linares: Einblicke, S. 66-76; Link: Hugo Grotius als Staatsdenker, S. 29-31 sowie Paech: Grotius,

144

die von Grotius benannten Fälle wird den Widerspruch vermutlich nicht auflösen, doch dürften die theoretischen Voraussetzungen und Hintergründe sichtbar werden, die zu dem vorliegenden Widerspruch geführt haben. Von hier aus sind dann Aufschlüsse zu erwarten, die Grotius' Staatskonzeption insgesamt betreffen. 1. Widerstand als Bestrafung einer unrechttuenden bzw. gesetzesbrecherischen Obrigkeit ist dann erlaubt und insofern kein Verstoß gegen das prinzipielle Widerstandsverbot, wenn die Obrigkeit der rechtmäßigen Gewalt des Volkes untersteht. In diesem Falle sind der Obrigkeit die Souveränitätsrechte in nur beschränktem Umfang übertragen worden, die eigentliche Souveränität liegt hier im Grunde bei dem im Einzelfall auch strafberechtigten Volk.316 2. In Fällen, in denen der Inhaber der summa potestas seine Souveränitätsrechte aufgegeben hat, wird er zum Privatmann und verliert seinen Anspruch auf Gehorsam. Das Problem des erlaubten oder unerlaubten Widerstandes ist hier genaugenommen gegenstandslos. Die sich aufdrängende Frage, inwieweit der Privatmann ex post für gesetzeswidrige Handlungen belangt werden kann, die er als Souverän begangen hatte, läßt Grotius unberücksichtigt.317 3. Die Unterscheidung zwischen imperium und seinem modus habendi318 macht Grotius für den dritten Fall fruchtbar: demnach darf sich ein Volk einem Herrscher widersetzen, der die ihm übertragene Herrschaft veräußern will, obwohl er mit dem ius imperandi nicht zugleich den Besitz der Herrschaft erworben hat. Mit dem Versuch, eine nur de iure usufructuario erhaltene Herrschaft zu veräußern, verfügt der imperans über fremdes Recht, seine Handlung ist daher grundsätzlich nichtig. Durch diese Verletzung einer höherwertigen Rechtsposition ist Resistenz ohne ein Verstoß gegen das prinzipielle Widerstandsverbot gerechtfertigt. 4. Widerstand ist auch dann erlaubt, wenn das Volk gegen einen Herrscher vorgeht, der sich selbst zum hostis populi macht: »denn der Wille zu herrschen und der Wille zu verderben können nicht zugleich nebeneinander bestehen. Wer sich deshalb zum Feind des ganzen Volkes erklärt, entsagt damit der Herrschaft«.319 Der Widerstand richtet sich hier nicht gegen einen rechtmäßigen Souverän, sondern genaugenommen gegen eine Privatperson, die ihre faktische Macht zu einem unrechtmäßigen Krieg gegen die eigenen S. 78-82. Die Besonderheiten von Grotius' Widerstandstheorie werden auch von Tadashi nicht gesehen, vgl. Tadashi: State and Governing Power, S. 143f. 316 Vgl. Grotius: Vom Recht des Krieges und des Friedens, 1,4,VIII. 317 Vgl. Grotius: Vom Recht des Krieges und des Friedens, 1,4,IX. 318 Siehe dazu oben II. 1.3.3. 319 Grotius: Vom Recht des Krieges und des Friedens, I,4,X.

145 Untertanen nutzt. Während Christoph Link hierin die »säkularisierten Reste der alten Lehre vom Großtyrannen«320 erblickt, erkennt Kurt Wolzendorff in der Konstruktion eine Rechtfertigung des niederländischen Freiheitskampfes, der freilich - dies sei in Parenthese angemerkt - ein offensives Widerstandsrecht für sich in Anspruch genommen hatte,321 und zwar unter explizitem Bezug auf monarchomachische Vorstellungen, gegen die Grotius bezeichnenderweise sein Widerstandsverbot formuliert. Wolzendorff sieht seine Vermutung - wahrscheinlich zu Recht - durch Grotius' Hinweis bestätigt, daß ein Herrscher vornehmlich dann zum hostis populi werden kann, wenn er über mehrere Völker herrscht. Denn in dieser Situation »kann es vorkommen, daß er zugunsten des einen das andere verderben will«.322 Daß Grotius mit dieser Konstruktion die Niederlande vor der Unabhängigkeitserklärung von 1581 im Blick hat, kann in der Tat wohl keinem Zweifel unterliegen.323 Die von Grotius angeführten Fälle fünf, sechs und sieben lassen sich kurz summarisch darstellen. Denn in allen drei Fällen ist Widerstand deswegen kein Verstoß gegen das prinzipielle Widerstandsverbot, weil der imperans die vertraglich vereinbarten Grenzen seiner Souveränität verletzt hat. Der Widerstand trifft in diesen Fällen daher nicht mehr auf einen rechtmäßigen Souverän. So verliert der imperans etwa seine Herrschaft, wenn er sich über die Bedingungen hinwegsetzt, die ihm bei der Übertragung der Herrschaft auferlegt wurden (5).324 Darüberhinaus darf einem Herrscher bei geteilter Staatsgewalt widerstanden werden, falls er zu Unrecht »in den ihm nicht zustehenden Teil der Staatsgewalt eingreift«325 (6). Und schließlich berücksichtigt Grotius noch die Möglichkeit einer ausdrücklichen Positivierung des Widerstandsrechts; bei der translatio imperii können Bedingungen

320

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322 323 324 325

Link: Hugo Grotius als Staatsdenker, S. 31. Siehe auch ders.: Jus resistendi. Zum Widerstandsrecht im deutschen Staatsdenken. In: Convivium utriusque. Alexander Dordett zum 60. Geburtstag. Herausgegeben von Audomar Scheuermann et al. Wien 1976, S. 58. Vgl. Richard Saage: Herrschaft, Toleranz, Widerstand. Studien zur politischen Theorie der Niederländischen und Englischen Revolution. Frankfurt am Main 1981, S. 23ff. Ein Vergleich zwischen Grotius und den calvinistischen Monarchomachen Beza, Hotman und dem Autor der Vindiciae contra tyrannos kann hier aus naheliegenden Gründen nicht geleistet werden. Ein solche - zweifellos lohnende - Analyse müßte nicht nur die veränderte politische Situation reflektieren, sondern auch den dezidiert theologischen Impetus der Calvinisten angemessen berücksichtigen. Vgl. dazu die Einleitung von Jürgen Dennert zu: Beza, Brutus, Hotman. Calvinistische Monarchomachen. Übersetzt von Hans Klingelhöfer. Herausgegeben und eingeleitet von Jürgen Dennert. Köln und Opladen 1968. Grotius: Vom Recht des Krieges und des Friedens, 1,4,XI. Vgl. Wolzendorff: Staatsrecht und Naturrecht, S. 252. Vgl. Grotius: Vom Recht des Krieges und des Friedens, 1,4, XII. Vgl. Grotius: Vom Recht des Krieges und des Friedens, 1,4,XIII.

146 definiert werden, unter denen ein ius resistendi rechtmäßig ausgeübt werden kann (7).326 Die prinzipielle Ablehnung des Widerstandsrechts verhindert offenkundig nicht, daß Grotius dem rechtmäßigen Widerstand einen doch relativ großen Spielraum zugesteht. Inhaltlich gesehen bleibt dieser bedingt erlaubte Widerstand kaum hinter den Vorstellungen einer entwickelten Widerstandslehre zurück. Insofern ist Wolzendorff zu folgen, wenn er folgendes feststellt: »Er ist - wenn ich so sagen darf - nur dem Titel, nicht dem Inhalte seiner Lehre nach zu den Leugnern des Widerstandsrechts zu rechnen«.327 Angesichts von Umfang und Reichweite des bedingt zugelassenen Widerstandes entsteht der Eindruck, daß bei Grotius das Widerstandsverbot nur so weit reicht, wie es tatsächlich reicht: Widerstand ist verboten, es sei denn, er ist erlaubt. Und genau darauf scheint es Grotius in der Tat angekommen zu sein: durch die Erlaubnis wird die Resistenz zu einer rechtmäßigen Intervention. Insofern fungiert die Erlaubnis als Unterscheidungskriterium zwischen dem nach wie vor verbotenen Widerstand einerseits und einer rechtmäßigen Intervention andererseits. So erscheint der erlaubte Widerstand bei Grotius - entgegen der begriffsgeschichtlichen Tradition - genaugenommen als eine contradictio in adiecto, so daß der erlaubte Widerstand tatsächlich kein Widerstand mehr ist. Die Rechtmäßigkeit der an seine Stelle tretenden Intervention ist souveränitätstheoretisch vermittelt, denn die aufgeführten sieben Fälle sind letztlich nur zwei souveränitätstheoretischen Argumenten subsumierbar: 1. die Intervention geschieht zu Recht, wenn der Inhaber der Staatsgewalt - aus welchen Gründen auch immer - nicht mehr rechtmäßig über die Rechtstitel seiner Souveränität verfugt. Der Widerstand trifft dann nicht mehr auf einen Souverän und kann daher auch keine Souveränitätsrechte verletzen.328 2. Unter den Bedingungen einer kontraktuell eingeschränkten Souveränität kann Widerstand als positivrechtlich legitimierte Intervention rechtmäßig ausgeübt werden.329 Die Intervention richtet sich auch in diesen Fällen nicht gegen einen souveränen Herrscher im vollen Sinne, vielmehr handelt es sich genaugenommen - wie Link bemerkt - um »Organstreitverfahren im Gewände des Widerstandsrechts«.330 Damit wird deutlich, daß Grotius Widerstand begrifflich auf Fälle einschränkt, in denen sich die Resistenz gegen das Unrecht eines Herrschers richtet, der noch rechtmäßig und in vollem Umfang auf die Rechtstitel seiner Souveränität 326 327

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329 330

Vgl. Grotius: Vom Recht des Krieges und des Friedens, 1,4,XIV. Wolzendorff: Staatsrecht und Naturrecht, S. 249. Siehe auch Ottenwälder: Naturrechtslehre, S. 95. Siehe die Fälle 2,3,4 und 5. Siehe die verbleibenden Fälle 1,6 und 7. Link: Hugo Grotius als Staatsdenker, S. 31.

147 bestehen kann. In der Konsequenz seiner Souveränitätstheorie muß Grotius ein prinzipielles Widerstandsverbot verfechten; seine Vertragslehre dagegen ermöglicht bestimmte Formen von Widerstand, allerdings nur indem sie ihn gleichzeitig in eine quasi verfassungsgemäße, mithin rechtmäßige Handlung transformiert. Der Widerspruch zwischen dem Widerstandsverbot einerseits und einem kasuistisch eingeführten Recht auf Widerstand andererseits wird also durch eine begriffslogische Operation - zumindest dem Schein nach - aufgelöst.331 Diese Operation ist nach Ansicht von Wolzendorff deswegen notwendig geworden, weil Grotius angesichts des geltenden Rechts seiner Zeit nicht in der Lage war, sein Widerstandsverbot strikt durchzuhalten. Wolzendorff sieht darin allerdings kein pragmatisches Zugeständnis an das zeitgenössische positive Recht, sondern - weil Widerstand eben bis ins späte 18. Jahrhundert nur als Wirkung einer ständischen Staatsordnung denkbar war - ein eindeutiges Bekenntnis zum Ständestaat.332 Daraus schließt Wolzendorff weiter, daß Grotius »für den Staat seiner Zeit, für das auf der ständischen Staatsordnung aufgebaute Gemeinwesen« hat schreiben wollen, und dies, obwohl Grotius' »System« - wie Wolzendorff immerhin einräumt - »als Ausdrucksmittel für die staatsrechtliche Struktur des Staatswesens nicht sehr geeignet«333 ist. Ob Grotius tatsächlich einen ständischen Staat favorisiert oder ob bei ihm nicht viel eher längst absolutistische Vorstellungen eine Rolle spielen, ist nicht so ohne weiteres zu entscheiden. Gegen Wolzendorff ist im Hinblick auf das Widerstandsrecht jedoch immerhin festzustellen, daß sich Grotius seinen angeblichen Versuch, für eine ständische Staatsordnung einzutreten, nicht ausgesprochen leichtgemacht hat. Vermutlich wäre eine positive Orientierung am gemäßigten Widerstandsrecht von Johannes Althusius den politischen Bedürfhissen der Niederlande sehr viel gemäßer gewesen. Auf jeden Fall bleibt Wolzendorff eine befriedigende Erklärung für den Umstand schuldig, daß Grotius unter allen Bedingungen am prinzipiellen Widerstandsverbot festhält, zumal die Einführung der sieben Fälle nicht einer hinterrücks betriebenen Restitution des Widerstandsrechts dient, sondern vielmehr als ein Mittel zur Sicherung des Widerstandsverbots fungiert. Die widersprüchliche Konstruktion eines Widerstandsverbots auf der einen Seite und eines kasuistisch eingeführten Rechts auf Widerstand auf der anderen Seite ist wohl kaum alternativ zu lösen. Eine Entscheidung für oder gegen einen ständischen bzw. einen absolutistischen Staat wird sich daher auch nicht am Widerstandsrecht ablesen lassen. Die widersprüchliche Kon331

Vgl. dazu auch Wolzendorff: Staatsrecht und Naturrecht, S. 256f. Vgl. Wolzendorff: Staatsrecht und Naturrecht, S. 259. Wolzendorff: Staatsrecht und Naturrecht, S. 259.

148 struktion des Widerstandsrechts läßt sich allerdings als ein markanter Hinweis auf die widersprüchliche Situation deuten, in der sich Grotius offensichtlich theoretisch befindet. Zwei gegenläufige historische Erfahrungen scheinen hier aufeinanderzutreffen: das ist zum einen der niederländische Befreiungskampf, der am ehesten noch in ständischen Kategorien faßbar ist, und das ist zum anderen die seit 1618 immer deutlicher werdende Notwendigkeit eines den Religionskrieg pazifizierenden und die öffentliche Sicherheit garantierenden Absolutismus. Mit beiden Erfahrungen verbinden sich ganz unterschiedliche Perspektiven, die im Werk von Grotius auf eine widersprüchliche Weise verknüpft werden - die Beziehung zwischen seiner Souveränitätstheorie und der Vertragslehre dokumentiert dies ebenso deutlich wie die daraus hervorgehenden Probleme der Widerstandstheorie.

1.4. Juristischer Kontraktualismus< Durch die Erörterung der Souveränitätstheorie und des Widerstandsrechts hat die von Grotius vorgelegte Version des Kontraktualismus zusätzlich an Kontur gewonnen. Dabei dürfte eine Vertragstheorie sichtbar geworden sein, die den Vertrag als originäres Instrument der Rechtsgestaltung ungewöhnlich ernst nimmt und ihm eine sich in allen Bereichen des sozialen Lebens niederschlagende Wirksamkeit unterstellt. Als der natürlichste modus obligandi spielt der Vertrag bereits in dem Augenblick eine Rolle, in dem der Einzelne die Unmittelbarkeit seiner natürlichen Beziehungen verläßt und zugleich gezwungen wird, eine künstliche Grenze zwischen Mein und Dein zu ziehen. Die privatrechtliche Bedeutung des Vertrages setzt sich öffentlichrechtlich fort: auf der Grundlage eines Vertrages schließen sich die Einzelnen zusammen und bilden so eine »societas perfectissima«, vertraglich einigen sie sich auf einen Inhaber der summa potestas und übertragen ihm wiederum vertraglich die höchste Gewalt, deren Geltungsumfang und dauer selbst Gegenstände des Vertrages sind. Schließlich kann mit Hilfe weiterer Verträge der Inhaber der Staatsgewalt speziellen Verbindlichkeiten unterworfen werden, die durch die historische Situation notwendig geworden sind. Insgesamt erfüllt der Vertrag bei Grotius eine dreifache Funktion: 1. er definiert verbindliche Rechtspositionen; 2. er schafft Stabilität, indem er den Zwang legitimiert, mit dem die Rechtspositionen im Bedarfsfalle gesichert werden können; und 3. zieht der Vertrag regulierte Verfahren nach sich, deren Aufgabe es ist, kontraktuell geschaffene Rechtspositionen auch wieder aufzulösen. Ein Vertrag ist also unter bestimmten Bedingungen in der Lage, vertragliche Verbindlichkeiten zu annullieren, ohne die allgemeine Rechtsgrundlage anzutasten. Insofern ist der Vertrag von sich aus kon-

149 servativ und dynamisierend zugleich. Konservativ, weil er nicht alles auf einmal in Frage stellt, und dynamisierend, weil er das ausgezeichnete Mittel ist, auf eine sich verändernde Realität und neue Interessenlagen angemessen zu reagieren. Der Vertrag stellt sich daher auf den verschiedenen Ebenen seiner Wirksamkeit als Instrument einer lernfähigen Ordnung dar. Verglichen mit dem eminenten Gestaltungspotential, das Grotius dem Vertrag zumißt, nimmt sich der von Thomas Hobbes entwickelte Kontraktualismus geradezu dürftig aus. Es stellt sich sogar die Frage, ob der Hobbessche Vertrag gemessen an den juristischen Standards einer Vertragslehre Uberhaupt als solcher angesprochen werden darf.334 Dies kann an dieser Stelle nicht vertieft werden, doch sei hier auf zwei Momente hingewiesen, die nicht nur einen signifikanten Unterschied zu Grotius' Vertragstheorie markieren, sondern überhaupt zu den einzigartigen Eigentümlichkeiten des Hobbesschen Kontraktualismus zählen. 1. Während es Grotius in der Regel um eine vertraglich begründete und damit rechtlich gesicherte Mutualitätsbeziehung zwischen imperans und subditi geht, hält Hobbes jegliche rechtliche Verbindlichkeit des Souveräns gegenüber den Untertanen bereits für einen Unsicherheitsfaktor, der die innere Sicherheit des Staates gefährdet. Daher ist seine Vertragstheorie so konstruiert, daß der Souverän zwar das Resultat des Vertrages ist, er aber dabei nicht als normativ gebundener Vertragspartner in Erscheinung tritt. Der Vertrag ist bei Hobbes eine Vereinbarung der noch nicht vergesellschafteten Menschen untereinander: »Ich autorisiere diesen Menschen oder diese Versammlung von Menschen und übertrage ihnen mein Recht, mich 334

In der Literatur sind immer wieder Stimmen laut geworden, die aus unterschiedlichen Gründen der Hobbesschen Konstruktion die Qualität eines Vertrages abgesprochen haben. Vgl. die Vorbehalte von John Gough in: The Social Contract, S. 112, sowie Jean Hampton: Hobbes and the Social Contract Tradition. Cambridge 1986. Ihr Versuch, im Rekurs auf den Motivationshintergrund der Vertragschließenden den Vertragscharakter der Übereinkunft infragezustellen, ist von Wolfgang Kersting zu Recht kritisiert worden; siehe Kersting: Politische Philosophie, S. 89. Mit der Frage nach dem vorliegenden Vertragstypus befaßt sich Ludwig Siep in: Vertragstheorie - Ermächtigung und Kritik von Herrschaft? In: Udo Bermbach und Klaus-M. Kodalle (Hrsg.): Furcht und Freiheit. Leviathan-Diskussion 300 Jahre nach Thomas Hobbes. Opladen 1982. S. 129-145. Er sieht den Typ eines Tausch- bzw. Kaufvertrages realisiert, der aufgrund seiner besonderen Ausgestaltung zwar herrschaftslegitimierend, jedoch nicht herrschaftsbegrenzend wirke (S. 134). In der im Anschluß an Sieps Beitrag abgedruckten >Diskussion< konzediert Eberhard Simons dem Vertrag allenfalls eine »Scheinbedeutung«, die gegenüber dem entscheidenden »Furcht-Zwang-Mechanismus« sekundär bleibe (vgl. S. 147). Auch Kersting, der Hobbes immerhin in der Rolle eines GrUndervaters des modernen philosophischen Kontraktualismus sieht, räumt ein, daß »die von der Forschung verwendeten Kennzeichnungen für die Hobbessche Vertragslehre [...] alle nicht dem Sprachgebrauch des Autors [entstammen]. Hobbes redet weder von einem Staatsvertrag noch von einem unbedingten Herrschaftsvertrag«. Kersting: Vertrag, Gesellschaftsvertrag, Herrschaftsvertrag, S. 920.

150 zu regieren, unter der Bedingung, daß du ihnen ebenso dein Recht überträgst und alle ihre Handlungen autorisierst«.335 Der von jedem mit jedem geschlossene Vertrag weist zwei distinkte Momente auf: zum einen die Vertragshandlung selbst, die in der Tat über die do-ut-des-Struktur des Tauschbzw. Kaufvertrages verfügt,336 und zum anderen die Autorisierung, die als Vertragsinhalt nicht wiederum selbst ein Vertrag ist, für die Konstitution der Souveränität jedoch von entscheidender Bedeutung ist.337 Der Vertrag ist daher nicht »Herrschaftsvertrag und Gesellschaftsvertrag uno actu« - wie Kersting gelegentlich behauptet338 - , sondern Gesellschaftsvertrag plus Autorisierung - die Rede vom Herrschaftsvertrag impliziert noch zu sehr eine vertragliche Verbindlichkeit zwischen Souverän und Untertanen, die Hobbes gerade ausdrücklich ausschließen will.339 Der Vertrag begünstigt einen vertragsunbeteiligten Dritten, der durch die Autorisierung als dem Inhalt des Vertrages erst zum Souverän wird, während alle anderen durch ebendiesen Vorgang zu Untertanen werden.340 Mit der Autorisierung erkennt jeder Einzelne den Willen des Souveräns als seinen eigenen an. So wird schließlich auf der Grundlage einer »absorptiv-identitären Repräsentation«341 eine Vereinigung der Willen erreicht, die eine politische Artikulation der partikularen Willen a priori ausschließt. Der Sinn dieser raffinierten Konstruktion liegt in einer doppelten Konsequenz, die Hobbes von vornherein angesteuert hat: 1. Weil der Souverän als Vertragspartner nicht am Vertrag beteiligt ist, »kann seitens des Souveräns der Vertrag nicht gebrochen werden, und folglich kann sich keiner seiner Untertanen von seiner Unterwerfung befreien, indem er sich auf Verwirkung beruft«.342 2. »Da jeder Untertan durch diese Einsetzung Autor aller Handlungen und Urteile des eingesetzten Souveräns ist, so folgt daraus, daß dieser durch keine seiner Handlungen einem seiner Untertanen Unrecht zufügen kann, und daß er von keinem von ihnen eines Unrechts angeklagt wer-

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Hobbes: Leviathan, S. 134. Vgl. Siep: Vertragstheorie, S. 132f. »Der Hobbessche Staatsvertrag« - so stellt Kersting fest - »nimmt damit die merkwürdig paradoxe Gestalt eines horizontalen Unterwerfungvertrags an, den die sich unterwerfenden untereinander schließen, der jedoch die Instanz, der sich alle unterwerfen, nicht mit einbezieht.« Kersting: Politische Philosophie, S. 85. Vgl. auch Herfried Münkler: Thomas Hobbes. Frankfurt am Main, New York 1993, S. 134f. Kersting: Gesellschaftsvertrag, S. 921. Siehe dagegen Ulrich Weiß, der durch die Autorisierung ein »Rückkopplungsverhältnis« für gegeben hält, durch das der Souverän an den Untertan gebunden wird. Ulrich Weiß: Das philosophische System von Thomas Hobbes. Stuttgart-Bad Cannstatt 1980, S. 186. Vgl. Hobbes: Leviathan, S. 134f. Kersting: Politische Philosophie, S. 93. Hobbes: Leviathan, S. 137.

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den darf«.343 Der rechtliche Grundsatz »volenti non fit iniuria« erfährt hier auf politischem Gebiet eine ganz ungewöhnliche Steigerung. Diese vor allem auf staatliche Stabilität und Sicherheit abzielenden Konsequenzen gehören konstitutiv zu dem Legitimationsprogramm der von Hobbes favorisierten extremen Form des politischen Absolutismus, dessen theoretische Manifestation etwa in Deutschland erhebliche Kritik auf den Plan gerufen hat.344 2. Das zweite Spezifikum des Hobbesschen Vertrages ist weitgehend eine Folge des ersten. Die Funktion des Vertrages erschöpft sich bei Hobbes ganz offensichtlich in der technischen Hervorbringung der souveränen Instanz, die selbst schon nicht mehr normativ an den Vertrag gebunden ist. Dessen normative Wirksamkeit reicht - falls man überhaupt von einer solchen sprechen kann - daher auch nicht über den Konstitutionsakt hinaus, so daß später weder rechtlich noch politisch auf den Vertrag rekurriert werden kann. Er fungiert allenfalls noch als ein politisches Lehrstück, das den Untertanen vor Augen führt, daß alle noch so beklagenswerte Unternehmungen des Souveräns letztlich auf einer von ihnen selbst geschaffenen Legitimationsgrundlage basieren und daher im Grunde nichts anderes darstellen als Manifestationen ihres eigenen Willens. Der Vertrag steht so als ein ideologisches Mittel im Dienste von eher konservativen Interessen. Ansonsten hat nach Erschaffung des »sterblichen Gottes« nur noch das normative Geltung, was der Leviathan als Gesetz setzt und durchsetzt. »Denn durch diese ihm von jedem einzelnen im Staate verliehene Autorität steht ihm so viel Macht und Stärke zur Verfügung, die auf ihn übertragen worden sind, daß er durch den dadurch erzeugten Schrecken in die Lage versetzt wird, den Willen aller auf den innerstaatlichen Frieden und auf gegenseitige Hilfe gegen auswärtige Feinde hinzulenken.«345 Die dem Schrecken des Leviathan ausgesetzten Untertanen werden durch eine doppelte Furcht davor bewahrt, die souveräne Gewalt in Frage zu stellen, nämlich durch die Furcht vor der Gewalt des Naturzustandes und die Furcht vor der Sanktionsgewalt des Staates. Die durch den Vertrag hergestellten Rechtsverhältnisse sind genaugenommen - und daraus macht Hobbes auch gar keinen Hehl - legitimierte Gewaltverhältnisse - »auctoritas non Veritas facit legem«. Der von Grotius vorgelegte Kontraktualismus ist dagegen weitaus bodenständiger, er ist weniger abstrakt, weniger radikal und theoretisch weniger raffiniert. Und das liegt in erster Linie an den Funktionen, die Grotius 343

Hobbes: Leviathan, S. 139. Vgl. dazu unten II.2.2. 345 Hobbes: Leviathan, S. 134.

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152 den Verträgen zumißt. Denn im genauen Gegensatz zu Hobbes erfüllen sie bei Grotius auf den verschiedenen Ebenen ihrer Wirksamkeit ganz konkrete Aufgaben der Rechtsgestaltung, sie definieren verbindliche Rechtspositionen. Diese Aufgabe können Verträge allerdings nur dann erfüllen, wenn sie sich im Kontext eines umfassenden Rechtsverständnisses als juristisch tragfähig erweisen. Weil Verträge bei Grotius ihre normative Substanz sowohl aus dem Naturrecht als auch aus dem positiven Recht beziehen, hat er zumindest theorieintern - keine Mühe, Verträge als Mittel der Rechtsgestaltung umfassend einzusetzen. Diese explizit juristischen Momente unterscheiden den von Grotius entwickelten Kontraktualismus von einer philosophischen Vertragslehre, wie sie Thomas Hobbes vorgelegt hat, und rücken sie gleichzeitig in die Nähe des hermeneutischen Kontraktualismus, der nach Ansicht von Wolfgang Kersting346 für die mittelalterliche Vertragslehre kennzeichnend ist. Weil Grotius aber doch unübersehbar nicht nur bestehende Verhältnisse vertragstheoretisch interpretieren will, sondern nach Maßgabe juristischer Kategorien eine konstruktive Gestaltung anvisiert, ist sein Kontraktualismus freilich kaum mit der hermeneutischen Variante der Vertragslehre zu identifizieren. Vielmehr schafft Grotius durch die Verknüpfung von konstruktiven Elementen des philosophischen Kontraktualismus mit der rechtsverbindlichen Konkretheit des hermeneutischen Kontraktualismus eine dritte Form, die wohl am besten als juristischer Kontraktualismus< zu bezeichnen ist. Diese im 17. und 18. Jahrhundert durchaus einflußreiche juristische Version der Vertragslehre ist bei Grotius - wenn man so will - der authentische Ausdruck für sein Bemühen, Recht als »Grundwissenschaft des sozialen Lebens«347 zu begreifen, denn - so stellt Grotius in den Prolegomena zu De jure belli ac pacis fest - »verissimum illud, omnia incerta esse simul a jure recessum est«.348

2.»Genuinum fundamentum Juris Naturae ex conditione hominis«: Samuel Pufendorf Was bei Hugo Grotius aufgrund eines anderen Erkenntnis- und Darstellungsinteresses nur eher en passant und dazu noch mit interpretationsbedürftiger Undeutlichkeit Erwähnung findet, wird von Samuel Pufendorf gut eine Generation später - systematisch aufgenommen und nicht selten in ausdrücklicher Abgrenzung von Grotius fortentwickelt. Pufendorf steht zwar 346

Vgl. Kersting: Politische Philosophie, S. 13f. Wolf: Rechtsdenker, S. 267. 348 Grotius: De jure belli ac pacis, prol. 22. 347

153 - wie die Philosophie- bzw. Wissenschaftgeschichtsschreibung der Aufklärung gerne betont349 - in der Traditionslinie des von Grotius begründeten modernen Naturrechts, doch ist er nichts weniger als ein bloßer Systematisierer seines niederländischen Vorgängers,350 denn der 1632 in Kursachsen geborene Samuel Pufendorf war sowohl politik- als auch theoriegeschichtlich ganz neuen Einflüssen ausgesetzt und insofern bereits Kind einer anderen Zeit. Pufendorf konnte sich eben nicht nur auf Grotius beziehen, sondern er war bereits in der Lage, sein Naturrecht und seine daraus entwikkelte Staatstheorie in Auseinandersetzung mit Thomas Hobbes zu konstruieren. Methodisch formulierte er hierbei Ansprüche, die zwar Grotius, nicht aber Hobbes fremd gewesen waren: Pufendorf wollte sich nicht lediglich mit einer systematisierenden Unterscheidung zwischen dem Ius naturae und anderen Rechtstypen begnügen, er zielte vielmehr mit Hilfe der mathematischen Methode auf eine wissenschaftliche Begründung des Naturrechts insgesamt.351 Im Gegensatz zu Grotius, der während des Dreißigjährigen Krieges ein vornehmlich völkerrechtliches Interesse verfolgte, ging es Pufendorf dabei - nach dem Ende des Dreißigjährigen Krieges und mit Blick auf die durch ihn geschaffenen politischen Probleme - genaugenommen um eine naturrechtlich begründete Staatstheorie. Pufendorf kehrt damit die von Grotius vorgenommene Gewichtung um: während Grotius den Staat eher notgedrungen als theoretische Voraussetzung des Völkerrechts erörterte, behandelt Pufendorf das Völkerrecht lediglich im letzten Buch seines 1672 erschienenen Ius naturae et gentium als eines von mehreren Handlungs-

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Vgl. etwa Christian Thomasius: Einleitung zur Hof-Philosophie. Frankfurt und Leipzig 1710, Reprint: Ausgewählte Werke, Band 2. Hildesheim, Zürich, New York 1994, S. 46; ders.: Paulo Plenior, Historia Juris naturalis. Halle 1719. Reprint Stuttgart-Bad Cannstatt 1972, S. 6.; siehe auch Gundling in: Nicolaus Hieronymus Gundlings Erläuterung über Samuelis Pufendorfi zwey Bücher De officio de hominis et civis secundam legem naturalem, aus dessen Academischen Discourse ehedem von einem Gundlingischen Zuhörer aufgezeichnet, und nunmehro zum Druck befördert von Christoph Friderich Ahrmann. Hamburg 1744, S. 2. Daß Pufendorf noch von der Literatur des 20. Jahrhunderts nicht selten als ein unproduktiver Nachahmer von Hugo Grotius angesehen wurde, zeigt Vanda Fiorillo: Von Grotius zu Pufendorf. Wissenschaftliche Revolution und theoretische Grundlagen des Rechts. In: Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie, Vol. LXXV, Wiesbaden 1989, S. 221f. In seiner Historia juris naturalis stellt Thomasius fest: »Hugonis Grotii intentio fuit, in libris de jure belli ac pacis separare jus naturale a jure positivo, divinum ab humano.« (S. 4) Und im Hinblick auf Pufendorf heißt es: »1s sub manuductione Weigelii primus in Germania cogitavit moralia principia ad scientiam redigere in elementis Jurisprudentiae universalis, methodo mathematica conscriptis, ubi Grotio et Hobbesio se multum debere fatetur.« (S. 6)

154 feldern des Staates.352 Mit dieser staatstheoretischen Perspektivierung seines Naturrechts reagiert Pufendorf ganz ohne Zweifel auf eine politische Problemlage, die sich im wesentlichen als das Ergebnis des Dreißigjährigen Krieges beschreiben läßt. Der ökonomische und soziale Wiederaufbau konnte angesichts der im Westfälischen Frieden besiegelten politischen Bedeutungslosigkeit des Kaiserreiches nur durch die einzelnen Territorialstaaten selbst geleistet werden. 353 Diese Aufgabe erforderte einerseits ein hinreichendes Maß an innerer Stabilität und andererseits einen effizienten Staatsapparat, der über die notwendigen Machtmittel verfügt, um politische Maßnahmen ohne Reibungsverluste auch praktisch durchzusetzen. Pufendorfs Naturrecht erfüllt in dieser Situation eindeutig eine legitimatorische Funktion: sein naturrechtlich begründeter politischer Absolutismus verschafft dem Staat die theoretische Legitimation, indem er eine rechtliche Begründung seiner Handlungs- und Gestaltungskompetenz liefert.

2.1. Nutzenkalkül und göttlicher Befehl: die Naturrechtsbegründung Die Säkularisierung des Naturrechts ist bei Grotius noch nicht das Resultat einer theoretischen Anstrengung, die von vornherein diesem Resultat gegolten hätte, vielmehr ergibt sie sich geradezu zwanglos aus einem eher praktischen Systematisierungsinteresse. Dagegen war Pufendorfs Versuch, das Naturrecht im Rückgriff auf die Natur des Menschen theoretisch zu begründen, immer schon darauf gemünzt, alle offenbarungstheologischen Elemente aus der - dem Anspruch nach - rein wissenschaftlichen Naturrechtsbegründung herauszuhalten. Die unveränderliche Universalität des Naturrechts war eben nur denkbar, wenn es von den Einflüssen einer letztlich nur partikularen Offenbarung ausgenommen bleibt. Obwohl Pufendorf die Bedeutung der Moraltheologie insgesamt nicht in Abrede stellt, bestreitet er doch entschieden ihre rechtliche Funktion und weist ihr lediglich geistliche Aufgaben zu: »Das Naturrecht lehrt also die Menschen, wie sie dieses Leben in rechter Gemeinschaft mit anderen Menschen zu verbringen haben. Demgegenüber wendet sich die Moraltheologie an den Menschen, soweit er Christ ist und demgemäß den Vorsatz haben muß, nicht allein dieses Leben mit Anstand zu verbringen, sondern die Frucht seiner Fröm-

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Vgl. zur untergeordneten Bedeutung des Völkerrechts bei Pufendorf Behme: Samuel von Pufendorf: Naturrecht und Staat. Eine Analyse und Interpretation seiner Theorie, ihrer Grundlagen und Probleme. Göttingen 1995, S. 167. Vgl. dazu Rudolf Vierhaus: Deutschland im Zeitalter des Absolutismus (1648-1763). Göttingen 2. Auflage 1984; sowie Johannes Kunisch: Absolutismus. Europäische Geschichte vom Westfälischen Frieden bis zur Krise des Ancien Rdgime. Göttingen 1986.

155 migkeit vor allem nach dem Ende des Lebens zu erwarten. Unter dem Gesichtspunkt der Moraltheologie hat der Mensch also seine wahre Heimat im Himmel, hier aber auf Erden ist er nur Gast oder Wanderer«.354 Naturrecht und Moraltheologie sind jedoch nicht allein durch die Felder ihrer moralischen Wirksamkeit voneinander getrennt, viel wichtiger ist, daß sie über je verschiedene Erkenntnisquellen verfugen, aus denen sie wiederum mit eigenen Methoden ihre spezifischen Erkenntnisse schöpfen. Zwischen dem lumen rationis und dem lumen revelationis besteht prinzipiell keine Verbindung, sie sind - obwohl sie sich beide letztlich von Gott herleiten - theoretisch nicht vermittelbar. Zwar hat Pufendorf eingeräumt, daß auch die christlichen Tugenden »die Menschen ganz nachdrücklich zu einem Leben in der Gemeinschaft anhalten« und auf diese Weise »die Einhaltung der rechten Ordnung im bürgerlichen Leben« höchst wirksam fördern, doch hat dies die Phalanx seiner orthodoxen Kritiker weder beeindruckt noch besänftigt. Die explizite theoretische Verabschiedung der Theologie aus dem Naturrecht mochte die lutherische Orthodoxie begreiflicherweise nicht unwidersprochen hinnehmen: mit der theoretischen Dequalifizierung ihrer als Leitwissenschaft angesehenen Disziplin sahen die orthodoxen Theologen auch ihre bisher fraglos akzeptierte praktische Hegemonie nachhaltig in Frage gestellt. Die eskalierende Auseinandersetzung hielt beinahe zwanzig Jahre an und zählt als Symptom eines epochalen Umbruchs nicht von ungefähr zu den »schwersten Gelehrtenkämpfen der Barockzeit«.355 Der Streit wurde mit allen nur denkbaren sachlichen und unsachlichen Mitteln ausgetragen. Joshua Schwartz und Nicolaus Beckmann etwa legten bereits 1673 einen Index novitatum vor, in dem sie Pufendorfs Verstöße gegen die fundamentalen Lehrsätze des rechten Glaubens Punkt für Punkt vorführten.356 Der denunziatorische Zweck dieser Liste wurde freilich verfehlt: Schwartz und Beckmann fielen bei ihrem schwedischen Dienstherrn selbst in Ungnade 354 355

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Pufendorf: Über die Pflicht, S. 15. Hans Welzel: Die Naturrechtslehre Samuel Pufendorfs. Ein Beitrag zur Ideengeschichte des 17. und 18. Jahrhunderts. Berlin 1958, S. 31. Vgl. dazu auch Detlef Döring: Pufendorf-Studien. Beiträge zur Biographie Samuel von Pufendorfs und zu seiner Entwicklung als Historiker und theologischer Schriftsteller. Berlin 1992, S. 33f. Trotz ihrer zweifellos epochalen Bedeutung ist die Aufarbeitung dieser Auseinandersetzung noch immer ein dringendes Desiderat. Mit der bereits 1978 erschienenen Studie Discussioni seicentesche su Samuel Pufendorf von Fiammetta Palladini ist immerhin ein wichtiger Anfang gemacht - die Erfassung und kurze Beschreibung der im Zusammenhang der Kontroverse erschienenen Texte verschafft der noch ausstehenden philosophischen, juristischen und theologischen Analyse die notwendigen Voraussetzungen. Index quarundam novitatum, Quas Dnus Samuel Puffendorff Libri suo de Jure Naturae et Gentium Contra orthodoxa fundamenta Londini edidit. Anno M.DC.LXXIII. Der Text findet sich auch in Pufendorfs Apologia, die seine 1686 publizierten Eris scandica eröffnet.

156 und wurden gar am Ende des Landes verwiesen.357 Dagegen hatten Johann Adam Schertzer und Valentin Alberti in Leipzig mehr Glück: sie erreichten immerhin ein zeitweiliges Verbot von Pufendorfs naturrechtlichem Hauptwerk. Allerdings hat Alberti auch die theoretische Auseinandersetzung nicht gescheut, sein 1676 zum ersten Mal erschienenes und oben bereits ausführlicher analysiertes Compendium Juris Naturae gehört vermutlich zu den elaborierteren Arbeiten, die im Kontext dieser Debatte entstanden sind.358 Obwohl es theoretisch den Argumenten Pufendorfs letztlich unterlegen blieb, genoß das Compendium nicht nur in Kreisen der Orthodoxie ein beträchtliches Ansehen359 - zumindest sein Anliegen verdient es, vor allem auf dem Hintergrund des sich vollziehenden epochalen Umbruchs ernst genommen zu werden. Gegen Albertis Versuch, im Rückgriff auf den biblischen status integritatis und mit Hilfe der reliquiae imago dei dem Naturrecht ein theologisches Fundament zu verschaffen,360 macht Pufendorf eine Reihe von schwerwiegenden Vorbehalten geltend: 1. Die Ableitung eines universal gültigen Naturrechts aus einer partikularen Offenbarung hält Pufendorf schlechterdings für absurd, denn nur jene können offenbarungstheologischen Normen unterworfen sein, denen das lumen revelationis auch tatsächlich zuteil geworden ist; ein universal gültiges Naturrecht kann sich daher nur auf das gründen, was allen Menschen gemeinsam ist, und das ist ihre Vernunft und ihre Natur: »Qui, uti doctrinam de imagine Dei ignorant, ita et ius ei fundamento innixum adspernabuntur. Quod si igitur usus huius iuris debet esse universalis, idem ex principio, quod ab omnibus hominibus qua talibus admittitur, nempe ex ratiociniis, ex inspecta rerum et hominum natura collectis, est derivandum«.361 2. Der status integritatis war lediglich eine zeitlich sehr begrenzte Angelegenheit von nur zwei Menschen. Jeder Versuch, aus dieser Konstellation verbindliche Normen zu gewinnen, die für die qualitativ und quantitativ völlig anders dimensionierten Verhältnisse des postlapsarischen Zustandes sowohl Geltung als auch Wirksamkeit beanspruchen können, stößt an die Grenze des biblisch Verbürgten und kann sich daher nur auf nicht eben beweiskräftige - Spekulationen stützen: »Quae enim super hac re 1S7 Vgl. dazu Glafey: Vollständige Gcschichte des Rechts der Vernunft, S. 206. Das Compendium ist nicht der einzige Text, den Alberti in der Auseinandersetzung mit Pufendorf publizierte, Fiammetta Palladini macht in ihrer Arbeit noch auf sechs weitere Schriften aufmerksam, vgl. Palladini: Discussioni, S. 211-214, 229-232, 248-258, 2 6 4 359 271. Man denke etwa an die von Seckendorff in den Additiones zum Christen-Stat formulierte Anerkennung. Siehe oben 1.1.4. 360 Siehe dazu oben 1.2.2.2. 361 Pufendorf: Eris Scandica, S. 203. Vgl. dazu auch Pufendorf: Über die Pflicht, S. 15.

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157 disputantur, nulla solida demonstratione, sed probabilis tantum coniecturis nituntur, quibus quisque ex suo ingenio addit, demitue«.362 Daher sind auch alle Bemühungen vergeblich, die »vim obligativam status integri ad ius naturae hodie« >normaliter< oder >formaliter< zu übertragen.363 Zumal 3. dem homo corruptus des postlapsarischen Zustandes die vom homo integer abstrahierte Norm nicht angemessen sein kann: die Diät des Gesunden wird beim Kranken wohl kaum etwas ausrichten können.364 Zur Begründung einer im gegenwärtigen Zustand ebenso gültigen wie wirksamen Norm darf sich der Philosoph schließlich nur auf das verlassen, was ihm durch Vernunft und Beobachtung tatsächlich zugänglich ist: »Philosophus autem id tantum respicit, quomodo in praesens illa se habeat, non considerato, in olim ea aliter se habuerit«.365 Bei aller Kritik an einer theologischen Fundierung des Naturrechts ist Pufendorf dennoch weit davon entfernt, bei der Konstruktion seines naturrechtlichen Ansatzes allein auf die immanenten Qualitäten von menschlicher Vernunft und menschlicher Natur zu vertrauen, vielmehr weist er dem transzendenten Gott eine normative Funktion zu, die weit über das hinausgeht, was Grotius dem Schöpfergott theoretisch abverlangt.366 Und doch bleibt Pufendorf innerhalb der Grenzen, die durch die Reichweite der natürlichen Vernunft gesteckt sind, denn Gott wird in Pufendorfs Naturrecht als Gott der natürlichen Theologie nicht per lumen revelationis geglaubt, sondern mit Hilfe des >Lichts der Vernunft erkannt.367 So wird aus der Erkenntnisperspektive der natürlichen Vernunft die in eine Theorie des natürlichen Rechts funktional eingebrachte Religion zu einer natürlichen Religion, die ohne offenbarungstheologische Gehalte sich »auf den Umkreis dieses Lebens beschränkt und nicht beiträgt zur Erlangung des ewigen Heils«.368 Auf

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Pufendorf: Eris Scandica, S. 203. Vgl. auch Pufendorf: Über die Pflicht, S. 18. Pufendorf: Eris Scandica, S. 209. »Perinde ac si quis dicere velit, regulas curandi morbus per extensionem quandam ex diaeta sani hominis provenisse; aut diaetam febricitantis ad diaetam sani hominis normaliter referri.« Pufendorf: Eris Scandica, S. 209. Pufendorf: Eris Scandica, S. 208. Vgl. auch Pufendorf: Über die Pflicht, S. 208. ünbeschadet der von ihm mitbetriebenen Säkularisierung des Naturrechts, war Pufendorf - wie Döring verschiedentlich nachweist - vor allem gegen Ende seines Lebens davon überzeugt, daß die doctrina moralis erst dann abgerundet ist, wenn sie nicht nur die Pflichten des Menschen und des Bürgers, sondern auch - und zwar im Rahmen einer Theologia moralis - die Pflichten des Christen darstellt: »Allein die Moraltheologie sei in der Lage aufzuzeigen, wie die Gesellschaft (socialitas) >in supremum et perfectissimum gradum< versetzt werden kann« (S.171). Detlef Döring: Säkularisierung und Moraltheologie bei Samuel Pufendorf. In: Zeitschrift filr Theologie und Kirche. 90. Jahrgang (1993), S. 156-174; siehe auch ders.: Pufendorf-Studien, S. 73ff. Vgl. Pufendorf: Über die Pflicht, S. 51. Pufendorf: Über die Pflicht, S. 56.

158 die sich aufdrängende Frage, wie die Erkenntnis Gottes durch die natürliche Vernunft erkenntnistheoretisch im einzelnen zu denken ist, gibt Pufendorf keine befriedigende Antwort. Er beläßt es bei der Feststellung, daß dem gesamten Menschengeschlecht schon immer zwei fundamentale Überzeugungen geläufig waren: 1. Gott existiert, und 2. das Hei! des Menschen beruht auf der Existenz Gottes.369 Mit dieser zweiten Überzeugung verknüpft Pufendorf ein Gedankenspiel, das allerdings ein bezeichnendes Licht auf seine geradezu pragmatische Funktionalisierung Gottes wirft. Angesichts der seit je tradierten und allgemein akzeptierten Auffassung von der heilswirksamen Existenz Gottes müßte - so lautet Pufendorfs Überlegung derjenige, »der Gott leugnen wollte, auch nachweisen, daß dem Menschen mit dem Atheismus besser gedient ist als mit der Beibehaltung einer sinnvollen Verehrung Gottes«.370 Um sein Gedankenspiel sicherheitshalber wieder in gottesfürchtige Bahnen zu lenken, betont Pufendorf sogleich, daß dieser atheistische Nachweis »auf keinen Fall« möglich ist. Dennoch wird hier offensichtlich die Frage nach Gott, unabhängig von seiner Existenz, allein von seiner Funktion her gestellt und beantwortet, wobei dem Atheismus sogar theoretisch die Chance gegeben wird, mit eigenen Mitteln die von Gott besetzte Funktionsstelle gegebenenfalls neu zu besetzen. In dem Gedankenspiel entscheidet dann allein die Funktionstüchtigkeit der atheistischen Alternative über ihre Zulässigkeit. Aber selbstverständlich ist dies alles tatsächlich nicht möglich, und daher »muß man die Gottlosigkeit derer, die den Glauben auf jede Art und Weise untergraben wollen zutiefst verabscheuen und mit schweren Strafen ahnden«.371 Gleichwohl wird an dieser Stelle deutlich, daß Gott aus der Perspektive der natürlichen Vernunft vor allem - oder gar ausschließlich - funktional wahrgenommen wird, ganz ähnliche Konstruktionen finden sich, wie zu zeigen sein wird, noch an weiteren, theoretisch durchaus markanten Stellen der Pufendorfschen Naturrechtslehre. Als sachlich angemessene Alternative zu einem offenbarungstheologisch begründeten Naturrecht konstruiert Pufendorf eine säkularisierte Naturrechtslehre, die sich auf eine »sorgfältige Erforschung von Natur und Ver-

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Vgl. Pufendorf: Über die Pflicht, S. 51. Pufendorf: Uber die Pflicht, S. 51. »Simulque cum generis humani salutem ea persuasione contineri hactenus creditum sit, ostendam ipsi praetera fuerit, generi humano per atheismum melius consuli, quam retento sano cultis Numinis«. Samuel Pufendorf: De officio hominis et civis juxta legem naturalem libri duo. In: ders.: De officio. Herausgegeben von Gerald Härtung. Gesammelte Werke, Band 2. Berlin 1997, S. 24. Pufendorf: Über die Pflicht, S. 51.

159 anlagung des Menschen«372 stützt. Denn »erst nach der Erkenntnis der Gemeinsamkeiten in Veranlagung und Lage der Menschen« zeigt sich, »welche Gesetze ihre Sicherheit gewährleisten«.373 Das Grundgesetz des Naturrecht wird dabei jedoch nicht so ohne weiteres aus der vorfindlichen Natur des Menschen abgeleitet, vielmehr fuhrt erst ein insgesamt doch aufwendiger, über verschiedene Schritte vermittelter Erkenntnisprozeß zu seiner Formulierung. Die organisierende Instanz dieses Erkenntnisprozesses ist bei Pufendorf die recta ratio,374 ihr werden auf den verschiedenen Ebenen des Vorgangs strukturell sehr unterschiedliche Erkenntnisleistungen abverlangt. Die Rekonstruktion der einzelnen Schritte könnte die Chance bieten, den üblicherweise gegen Naturrechtskonzeptionen erhobenen Vorwurf einer logisch fehlerhaften Ableitung präskriptiver Normen aus deskriptiven Sätzen die Grundlage zu entziehen.375 Es lassen sich - soweit absehbar - insgesamt fünf Schritte unterscheiden: 1. Die recta ratio konstruiert einen von Pufendorf selbst als »fictio contrarii« eingeführten Naturzustand, der die natürlichen, von jeder Kultur noch unberührten Wesenseigentümlichkeit des Menschen sichtbar machen soll. 2. Mit Hilfe des fiktiv geschaffenen Naturzustands beobachtet die natürliche Vernunft geradezu empirisch zwei Merkmale, die für die menschliche Natur kennzeichnend sind: zum einen ist der Mensch »das Lebewesen, das am meisten auf seine Selbsterhaltung bedacht ist«,376 und zum anderen ist der Mensch von Natur aus gänzlich hilflos: »kaum ein anderes Geschöpf ist bei seiner Geburt so schwach, daß es geradezu ein Wunder wäre, wenn er ohne Hilfe von Seiten anderer Menschen erwachsen würde«.377 3. Aus dieser Be372

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Pufendorf: Über die Pflicht, S. 45. Ähnlich heißt es in De jure naturae et gentium: »Nobis nulla via propior videtur, et magis adposita, ad investigandum jus naturale, quam ipsam hominis naturam, conditionemque, et inclinationes accuratius contemplari«. Pufendorf: Samuel Pufendorf: De jure naturae et gentium. Erster Teil: Text (Liber primus - Liber quartus). Herausgegeben von Frank Böhling. Gesammelte Werke, Band 4.1. Berlin 1998, S. 146. Pufendorf: Über die Pflicht, S. 45.

»In eo plerique conveniunt, jus naturale ex ipsa hominis ratione eruendam, idemque adeo ex istius recte se habentis dictamine profluere.« Pufendorf: De jure naturae, S. 144. 375 Auf das prinzipielle Problem einer Sein-Sollens-Metabasis hat bereits David Hume aufmerksam gemacht. Vgl. David Hume: A Treatise on Human Nature. Oxford 1888, S. 469f. Siehe dazu Norbert Hoerster: Zum Problem der Ableitung eines Sollens aus dem Sein in der analytischen Moralphilosophie. In: Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie. Vol. 1969, S. 1 Iff. Otfried Höffe: Politische Gerechtigkeit, S. 103. Im Hinblick auf Pufendorf hat zuletzt Thomas Behme »eine stillschweigende Transformation von einer deskripten Anthropologie in präskriptive Naturrechtsnormen« festgestellt. Behme: Samuel von Pufendorf: Naturrecht und Staat, S. 74. 376 177 Pufendorf: Über die Pflicht, S. 47. Pufendorf: Uber die Pflicht, S. 45; vgl. auch Pufendorf: De jure naturae, S. 148. Vgl. dazu Behme: Samuel von Pufendorf, S. 60; sowie Horst Denzer: Moralphilosophie und Natur-

160 obachtung schließt die recta ratio, daß der Mensch sein Leben nur erhalten kann, wenn er es in Gemeinschaft mit seinesgleichen führt, und d.h. - so fährt Pufendorf fort - »er muß sich mit seinen Mitmenschen zusammentun und sich ihnen gegenüber so betragen, daß sie ihrerseits nicht jeden Vorwand ergreifen, ihm zu schaden, sondern statt dessen bereit sind, auch seinen Vorteil zu gewähren und zu fördern«.378 In De jure naturae et gentium wird der utilitaristische Akzent dieser Überlegung noch weitaus stärker betont. Auf die Frage, was angesichts der beschriebenen anthropologischen Merkmale »nach dem Recht der gesunden Vernunfft« vonnöten sei, heißt es in der 1711 in Frankfurt am Main erschienenen Übersetzung: »Nicht anders kann es seyn, als daß alle und jede Gliedmassen des Menschlichen Geschlechts, wann sie verlangen, daß es ihnen wohl gehen solle, und wenn sie desjenigen Guten, welches sonst ihren Zustande convenabel ist, theilhafft werden wollen, sich für allen Dingen der Geselligkeit befleissigen«.379 Diese geradezu prudentistische, die Mittel zu einem Zweck erwägende Überlegung ist das entscheidende Verbindungsstück zwischen der anthropologischen Deskription und der naturrechtlichen Norm. Die hier utilitaristisch eingeführte »socialitas« ergibt sich zwar zunächst nur als Schlußfolgerung aus einer Beschreibung, doch ist ein Teilstück der Beschreibung, nämlich das Selbsterhaltungsinteresse, bereits als ein Zweck akzeptiert, so daß schon an dieser Stelle ein normativ funktionalisierbares Element auftaucht, das auf die »socialitas« als dem Mittel zu diesem Zweck übergeht.380 Und so formuliert die natürliche Vernunft unter der vorausgesetzten Allgemeinheit des bisher Beschriebenen und Geschlossenen in einem 4. Schritt die folgende

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recht bei Samuel Pufendorf. Eine geistes- und wissenschaftsgeschichtliche Untersuchung zur Geburt des Naturrechts aus der Praktischen Philosophie. München 1972, S. 92ff. Pufendorf: Über die Pflicht, S. 47f. Pufendorf: Acht Bücher vom Natur- und Völkerrechte. Franckfurt am Mayn 1711, 11,3,15. »Ejusmodi animali, ut salvum sit, bonisque fruatur, quae in ipsius conditionem heic cadunt, necessarium est, ut sit sociabile, id est, ut coniungi cum sui similibus velit, et adversos illos ita se gerat, ut ne isti ansam accipiant eum laedendi, sed potius rationem habeant ejusmodi commoda servandi aut promovendi.« Pufendorf: De jure naturae et gentium, S. 148. Weil dem Selbsterhaltungsinteresse hier bereits ein Wert zugeschrieben wird, verliert der Vorwurf eines naturalistischen Fehlschlusses bereits an dieser Stelle seine Berechtigung. Siehe dagegen Thomas Behme, nach dessen Auffassung der Normcharakter der socialitas tatsächlich »in der Vorstellung von der Geschöpflichkeit des Menschen« gründet. Die naturrechtliche Norm verdanke sich nicht einer zweckrationalen Konstruktion, sondern sei auf einen gottgewollten »Naturzweck des Menschen« zurückführbar, der auf die teleologischen Vorstellungen der »aristotelisch-scholastischen Tradition« verweise. Thomas Behme: Gegensätzliche Einflüsse in Pufendorfs Naturrecht. In: Fiammetta Palladini und Gerald Härtung (Hrsg.): Samuel Pufendorf und die europäische Frühaufklärung. Werk und Einfluß eines deutschen Bürgers der Gelehrtenrepublik nach 300 Jahren (1694-1994). Berlin 1996, S. 76f.

161 Grundregel des Naturrechts: »quilibet homini, quantum in se, colendam et conservandam esse pacificam adversus alios socialitatem, indoli et scopo generis humani in universum congruentem«.381 Die auf der beschriebenen Weise aufgefundene Norm ist zwar eine evident nützliche Vorschrift der natürlichen Vernunft, doch verfügt sie bisher - nach Auffassung von Pufendorf - noch nicht über die ΒindungsWirkung eines Gesetzes, »denn ein Gesetz setzt eine Obrigkeit voraus, die so beschaffen ist, daß sie die Leitung der anderen tatsächlich übernommen hat«.382 Weil an dieser Stelle nur der Schöpfergott als Obrigkeit in Frage kommt, führt die recta ratio in einem 5. und letzten Schritt den von ihr erkannten Gott als Geltungsvoraussetzung des Gesetzes in die Naturrechtsbegründung ein. Gott wird hier als eine Instanz in Anspruch genommen, die eine vernünftige Nützlichkeitserwägung in ein verbindliches Gesetz transformiert. Das Naturrecht ist bei Pufendorf erst als Befehl Gottes tatsächlich ein Gesetz, das übrigens wie jedes andere vollkommene Gesetz nicht nur eine Norm, sondern zugleich eine Sanktionsandrohung enthält. Mit dieser Konstruktion soll ausgeschlossen werden, daß der Mensch das Naturrecht - entsprechend seiner utilitaristischen Herleitung - nur aus kluger Einsicht in den eigenen Nutzen achtet, so wie »ein Krancker den Rathe und der Fürschrifft eines Medici folget«.383 Das Naturrecht wird insofern zwar von der recta ratio in ihrem Sachgehalt erkannt, doch beruht seine Geltung allein auf dem Willen Gottes. Daher muß Pufendorf auch mit aller Entschiedenheit Grotius' Auffassung von der gottunabhängigen Perseitas des Naturrechts zurückweisen.384 Der Wille Gottes wird hier jedoch nicht als ein Faktum der Offenbarung wahrgenommen, sondern - zumindest dem Anspruch nach - wiederum von der natürlichen Vernunft aus der Schöpfung selbst geschlossen: Die Menschheit verdankt, »ebenso wie die übrige Schöpfung, Gott nicht nur ihr Dasein, sondern weiß sich auch in seiner gegenwärtigen Lage unter der Lenkung seiner Vorsehung geborgen. Daraus folgt: Gott will, daß der Mensch die Kräfte, die er im Unterschied zu den Tieren in sich spürt, zur Wahrung der Unverletztlichkeit seiner Natur einsetzt, damit sich das menschliche Leben vom gesetzlosen Zustand der Tiere abhebe. Das läßt sich aber nur durch Gehorsam gegenüber

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Pufendorf: De jure naturae et gentium, S. 148. Pufendorf: Über die Pflicht, S. 48. Pufendorf: Acht Bücher vom Natur- und Völcker-Rechte, 11,3,19. Vgl. Pufendorf: De jure naturae et gentium, S. 153. Vgl. zu Pufendorfs Kritik an Grotius: Fiorillo: Von Grotius zu Pufendorf, S. 322ff.; Gerald Härtung: Die Naturrechtsdebatte. Geschichte der Obligatio vom 17. bis 20. Jahrhundert. 2. Auflage. Freiburg i.Br. und München 1999, S. 36f., 55ff.; Kari Saastamoinen: The Morality of the Fallen Man. Samuel Pufendorf on natural Law. Helsinki 1995, S. 1 lOff.

162 dem Naturrecht erreichen. Daher ist klar, daß Gott den Menschen zu dessen Befolgung verpflichtet hat«.385 Der eigentliche Normcharakter des Socialitas-Gebotes hat - so läßt sich abschließend feststellen - genaugenommen zwei unterschiedliche Quellen, die der Norm auch zwei unterschiedliche Verbindlichkeitsgrade verleihen: 1. Die Norm wird durch eine prudentistische oder utilitaristische Reflexion gewonnen, die ihrerseits auf der beobachteten menschlichen Bedürfnisnatur und dem als Zweck akzeptierten menschlichen Selbsterhaltungsinteresse fußt. 386 Diese prudentistische Norm ist zwar aufgrund der Allgemeinheit ihrer Voraussetzungen universal gültig, doch hält Pufendorf den Grad ihrer Verbindlichkeit nicht für hinreichend. Daher führt er 2. das durch die recta ratio erkannte und für nützlich befundene Gesetz der Natur auf den Willen Gottes zurück und macht es auf diese Weise zu einem strikt verbindlichen Befehl Gottes.387 Diese von der recta ratio verlangte Funktionsstelle kann Gott jedoch nur besetzen, wenn zugleich gewiß ist, daß sich alles - die Schöpfung, die Natur des Menschen, die natürliche Vernunft und ihre Erkenntnisse - dem Willen Gottes verdankt. Wenn Pufendorf schließlich gar erklärt, daß das Naturrecht »ausdrücklich von Gott selbst zur Erfüllung seiner Ziele eingesetzt worden«388 ist, dann verschafft er - wie Simone Zurbuchen zu Recht feststellt - dem Naturrecht mit Hilfe der natürlichen Theologie eine teleologisch dimensionierte ontologische Grundlage.389 Die metaphysische Konstruktion trägt, wie bereits die prudentistische Reflexion, dazu bei, daß Pufendorf nicht über den Weg einer Sein-Sollens-Metabasis zu seiner Naturrechtsnorm gelangt, denn das naturrechtlich Gesollte wird mit Hilfe der natürlichen Theologie als das von Gott Gewollte ausgewiesen - und zwar leistet dies eine natürliche Vernunft, die selbst eine Hervorbringung Gottes ist und daher zu dieser Erkenntnis autorisiert ist.390

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Pufendorf: Über die Pflicht, S. 49.

Siehe dazu Hans Welzel, der schon vergleichsweise früh auf die implizite Werthaltigkeit der Selbsterhaltung hingewiesen hat, Welzel: Naturrechtslehre, S. 45. 387 Vgl. dazu Behme: Samuel von Pufendorf, S. 75; sowie Denzer: Moralphilosophie und 388 Naturrecht, S. 270. Pufendorf: Uber die Pflicht, S. 49; »intelhgitur quoque a Deo obligatum hominem ad isthanc servandam, tanquam medium non ex arbitrio hominum inventum, ac ex eorum libidine mutabile, sed expresse ab ipso Deo huic fini procurando constitutum.« Pufendorf: 389 De Officio, S. 23. Vgl. Simone Zurbuchen: Naturrecht und natürliche Religion. Zur Geschichte des Toleranzbegriffes von Samuel Pufendorf bis Jean Jacques Rousseau. Würzburg 1991, S. 24. 390 Vgl. dagegen Röd: Geometrischer Geist, S. 87 und S. 91.

163 2.2. Die Lehre vom Doppelvertrag Für die theoretische Konstruktion eines legitimen Staatswesens greift Pufendorf wiederum auf die Vorstellung eines Naturzustandes zurück. Doch handelt es sich diesmal nicht um den als »fictio contrarii« eingeführten »status naturalis in se«, sondern um den durchaus historisch konzipierten »status naturalis in ordine ad alios homines«.391 In diesem Naturzustand leben die Menschen in kleinen, unabhängigen Siedlungsformen »selbständig und in eigner Machtvollkommenheit«,392 ihre natürliche Freiheit wird nicht durch die legitime Befehlsgewalt einer Obrigkeit eingeschränkt. Obwohl dieser allein durch das Naturrecht regulierte status naturalis bei Pufendorf im Gegensatz zum Hobbesschen »bellum omnium contra omnes« - eher ein »Stand des Friedens«393 ist, darf der Beständigkeit dieses Friedens, etwa wegen der »unendlichen Verschiedenheit der Neigungen und Wünsche«394 doch nicht allzuviel Vertrauen entgegengebracht werden. Weil äußerliche Garantien in Form legitimierter Zwangsgewalt fehlen, bleibt dieser naturrechtlich vorgeschriebene Frieden des natürlichen Zustandes ausgesprochen unsicher. Und so hält Pufendorf - ähnlich wie vor ihm Grotius - das Bestreben, sich gegen stets drohende Gewalt zu schützen, für die »eigentliche und wichtigste Ursache«395 der Staatsgründung. Zur Erlangung von Sicherheit und um den Preis der natürlichen Freiheit geben die Menschen ihre natürliche Souveränität auf und vereinigen ihre partikularen Willen, indem sich »jeder dem Willen eines einzelnen anderen Menschen oder einer Anzahl von Menschen unterwirft, mit der Folge, daß in Zukunft als Willen aller einzelnen angesehen wird, was jene über die für die gemeinsame Sicherheit notwendigen Dinge denken«.396 Der Vorgang wird bei Pufendorf systematisch in drei distinkte Schritte untergliedert, die vor allem für die Rechtsstellung des Volkes von Bedeutung sind.397 In einem ersten Vertrag (pactum unionis) schließt sich eine in der natürlichen Freiheit lebende und noch unstrukturierte Menge von Menschen zu einer Gemein391

Vgl. dazu Behme: Samuel von Pufendorf, S. 61; sowie Denzer: Moralphilosophie und Naturrecht, S. 99ff. 392 -IQ-l Pufendorf: Über die Pflicht, S. 143. Pufendorf: Acht Bücher vom Natur- und Völcker-Rechte, 11,2,12. 394 Pufendorf: Über die Pflicht, S. 160. 395 Pufendorf: Über die Pflicht, S. 161. 396 Pufendorf: Über die Pflicht, S. 164. 397 Obwohl Pufendorf den »status naturalis in ordine ad alios homines« als historisch gegeben ansetzt, entwickelt er daraus keine historische, sondern eine »rationale Erklärung der Staatsentstehung«, an den vielfältigen historischen Gründen und Zufälligkeiten ist Pufendorf in seiner Staatsgründungslehre nicht interessiert. Siehe Denzer: Moralphilosophie und Naturrecht, S. 165.

164 schaft zusammen. Dieser Zusammenschluß enthält vor allem ein Zukunftsprogramm, denn in ihm manifestiert sich die Absicht der Vertragspartner, »sich für immer zu einer Gemeinschaft zusammen [zu] schließen und die Anliegen ihrer Wohlfahrt und Sicherheit durch gemeinsamen Beschluß und gemeinsame Führung besorgen«398 zu wollen. Diesem ersten Vertrag folgt ein gemeinschaftlicher Beschluß über die Regierungsform des späteren Staates (decretum), und schließlich folgt ein zweiter Vertrag (pactum subiectionis), »durch den einer oder mehrere bestimmt werden, denen die Leitung des im Entstehen begriffenen Staates übertragen wird. Durch diesen Vertrag verpflichten sich die Leiter des Staates zur Sorge für gemeinsame Sicherheit und Wohlfahrt und die Bürger zum Gehorsam«.399 Erst nach Abschluß dieses zweiten Vertrages ist der Staat als eine eigene Rechtspersönlichkeit gegründet, die Staatsgewalt konstituiert und die Unterscheidung zwischen imperantes und subditi vertraglich vollzogen. Die dem Anschein nach klare und zunächst analytisch nachvollziehbare Konstruktion eines doppelten Vertrages hinterläßt jedoch theoretische Probleme, auf die bereits Leonhard Krieger aufmerksam machte und die Thomas Behme noch einmal aufgreift.400 Vor allem ist fraglich, welchen Status die durch den pactum unionis hervorgebrachte Gemeinschaft hat und wer genau als Vertragspartner des nachmaligen Herrschers401 auftritt: jedes einzelne Individuum oder die Gemeinschaft als rechtsfähiges Gesamtsubjekt? Pufendorfs Vorstellungen scheinen an dieser Stelle die notwendige Eindeutigkeit vermissen zu lassen. Während er einerseits der durch den ersten Vertrag geschaffenen Gemeinschaft eine gewisse Entscheidungs- und Handlungsfähigkeit konzediert, ist aber doch andererseits klar, daß er ein Volk als »persona moralis composita« erst dann für gegeben hält, wenn durch den zweiten Vertrag die Vereinigung der Willen unter einem einzigen Willen tatsächlich vollzogen ist. Weil die Gemeinschaft demnach nur als Volk in einem rechtsgültigen Sinne handlungsfähig ist, können als Vertragspartner des Herrschers nur die einzelnen Individuen in Betracht kommen. Diese Lesart wird etwa durch Textstellen gestützt, in denen Pufendorf die vertraglich eingegangene Gehorsamsverpflichtung von jedem einzelnen Untertanen

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Pufendorf: Über die Pflicht, S. 165. Pufendorf: Über die Pflicht, S. 165. Vgl. Krieger: The Politics of Discretion. Pufendorf and the Acceptance of Natural Law. Chicago 1965, S. 123ff.; Behme: Samuel von Pufendorf, S. 125ff. Abgesehen davon stellt sich natürlich auch die Frage, mit welcher wie vereinbarten Prozedur der spätere Souverän Uberhaupt ausgewählt wird. Vgl. dazu Krieger: Politics of Discretion, S. 123, sowie Welzel: Naturrechtslehre, S. 65.

165 betont.402 Wenn Behme daraus schließt, daß die Funktion des ersten Vertrages auf die »explizite Vorgabe von Wesen und Ziel der intendierten Vereinigung«403 beschränkt bleibt, die dann in einem zweiten Schritt erst wirklich geschaffen wird, dann minimalisiert er die Bedeutung dieses ersten Vertrages in einem Maße, das den Sinn des pactum unionis insgesamt in Frage stellt 404 Schließlich ist nicht einzusehen, warum ein Vertrag geschlossen wird, dessen einzige Funktion in einer gemeinsamen Absichtserklärung besteht, zumal dem ersten Vertrag selbst schon notwendigerweise eine gemeinsame Absicht zugrundelag, die nach der Logik von Behme die Annahme eines dem ersten Vertrag noch einmal vorgelagerten Vertrags rechtfertigte - was dann ad infinitum fortgesetzt werden könnte. Auch wenn Pufendorf zugunsten einer unmittelbareren Bindungswirkung des Vertrages Individuen als Vertragspartner des Souveräns postuliert, so ist damit freilich noch nicht gesagt, daß die durch den ersten Kontrakt formierte Gemeinschaft nicht doch Subjekt verbindlicher Handlungen sein kann. Immerhin wird ihr von Pufendorf der Beschluß über die zukünftige Regierungsform zugemutet, der sich nicht naturwüchsig von selbst ergibt, sondern notwendigerweise einen doch irgendwie - von Pufendorf allerdings im Dunkeln gelassenen - Beratungs- und Entscheidungsprozeß erfordert. Schließlich erlangt der pactum unionis noch ein politisches Gewicht, wenn während eines Interregnums der eigentliche Souverän nicht mehr bzw. noch nicht existiert: »In dieser Zeit fällt der Staat zurück auf eine weniger vollkommene Form, und die Bürger sind nur noch durch den ersten Vertrag einander verbunden«.405 Der erste Vertrag ist in dieser Periode das einzige normative Band zwischen den Bürgern - weil mit dem Souverän die legislative und exekutive Gewalt fehlt, scheinen positivrechtliche Normen vorübergehend außer Kraft zu sein. Seine Stabilität behält der unvollkommene Staat denn auch durch eher pragmatische Momente: Pufendorf nennt den Namen des Staates, die Vaterlandsliebe der Bürger und und ihre Eigentumsinteressen.406 Dabei bietet der erste Vertrag die praktische und normative Grundlage für die

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Vgl. etwa Pufendorf: De jure naturae et gentium. Zweiter Teil: Text (Liber quintus - Liber octavus). Herausgegeben von Frank Böhling. Gesammelte Werke, Band 4.2. Berlin 1998, S. 647f. Siehe dazu Behme: Samuel von Pufendorf, S. 125. Behme: Samuel von Pufendorf, S. 125. Vgl. dazu auch Krieger, der unter der Voraussetzung, daß Individuen die Vertragspartner des Souveräns sind, den ersten Vertrag fllr Überflüssig hält. Krieger: Politics of Discretion, S. 124. Mit einer deutlichen Orientierung an Hobbes hielt auch schon Nikolaus Hieronymus Gundling den ersten Vertrag für entbehrlich, vgl. Gundling: Erläuterung über Samuelis Pufendorfi zwey Bücher De officio hominis et civis, S. 237. Pufendorf: Über die Pflicht, S. 179. Vgl. Pufendorf: Über die Pflicht, S. 179.

166 »volle Wiederherstellung der Staatsgewalt«,407 d.h. in dem von ihm geschaffenen normativen Rahmen wird durch die Mitglieder des »coetus« verbindlich gehandelt und damit gültige Fakten geschaffen. Diese Funktion kann der pactum unionis freilich nur wahrnehmen, weil er nicht durch den zweiten Vertrag absorbiert wurde und daher durch dessen Auflösung nicht ebenfalls endgültig verschwunden ist. Der erste Vertrag bleibt vielmehr - das belegt der Fall des Interregnums - immer präsent, daher droht bei Aufhebung des Herrschafts- und Unterwerfungsvertrages nicht - wie bei Hobbes - der Rückfall in den Naturzustand.408 Wer auch immer als Vertragspartner des Souveräns angenommen wird, unzweifelhaft ist, daß sich Pufendorfs Konstruktion eines doppelten Vertrages ausdrücklich von der Hobbesschen Staatsgründungstheorie abgrenzt.409 Während Hobbes eine vertragliche Verpflichtung des Herrschers gegenüber seinen Untertanen explizit ausschließen will,410 geht es Pufendorf genau umgekehrt um eine vertraglich geregelte Mutualitätsbeziehung: dem zugesicherten Gehorsam steht sozusagen als äquivalente Gegenleistung die vom Herrscher eingegangene Verpflichtung gegenüber, fiir Sicherheit und Wohlfahrt zu sorgen. Pufendorf ist ganz offensichtlich daran gelegen, den Vertragspartner des Souveräns - sei es das einzelne Individuum oder das Volk als Rechtssubjekt auch dann noch zu erhalten, wenn es sich dem Willen einer Herrschaftsinstanz unterworfen hat 411 Indem Pufendorf durch seinen pactum subiectionis die Herrschaftsbeziehung zwischen imperans und subditus als ein Rechtsverhältnis definiert, scheint er sich dem juristischen Kontraktualismus anzuschließen, der - wie gezeigt - auch von Grotius vertreten wurde.412 Freilich bleiben die politischen Gestaltungsmöglichkeiten dieses Konzeptes unter den absolutistischen Auspizien der Pufendorfschen Staatstheorie nahezu völlig unrealisiert, denn der Vertrag bringt bei aller Rechtlichkeit doch eine Herrschaftsbeziehung hervor, in der die Rechte des Beherrschten auf die Pflichten des Herrschers im Gegensatz zu dessen

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Pufendorf: Über die Pflicht, S. 179. Eine solche Aufhebung ist für Pufendorf - das sei hier vorsichtshalber angemerkt - nur als natürliche Unterbrechung der Herrschaftssukzession möglich, eine formelle Aufkündigung, die unter bestimmten Umständen auch Grotius für denkbar hielt, ist bei ihm ausgeschlossen. Sein Herrschafts- und Unterwerfungsvertrag ist eben kein pactum mandati. Vgl. Pufendorf: De jure naturae et gentium, S. 646. Siehe dazu oben II. 1.3.2. Vgl. dazu auch Notker Hammerstein: Samuel Pufendorf. In: Michael Stolleis (Hrsg.): Staatsdenker, S. 183f. Siehe dazu Simone Goyard-Fabre, die Pufendorfs Konzept gegenüber dem artifiziellen Kontraktualismus von Hobbes für »beaucoup plus concrete et pragmatique« halt. Simone Goyard-Fabre: Pufendorf et le Droit naturel. Paris 1994, S. 175.

167 Zwangsrechten unvollkommen bleiben.413 Diese kontraktilen geschaffene und durch das imperium begründete Asymmetrie wird auch nicht dadurch kompensiert, daß die Reichweite der Staatsgewalt durch den Zweck des Staates begrenzt wird.414 Obwohl Pufendorf verlangt, daß »nicht mehr durch staatliches Gesetz geregelt werden [soll], als für das Wohl des Staates und der Bürger unerläßlich ist«,415 hat diese von der Natur der Sache her gegebene Limitation praktisch keine Auswirkungen, denn es bleibt dem Souverän überlassen, den vorgegebenen Staatszweck inhaltlich zu füllen und die geeigneten Mittel zu seiner Realisierung durch kluge Einsicht zu finden und anzuwenden. Für den Untertan besteht tatsächlich keine Möglichkeit, seine Erkenntnisse und Interessen wirkungsvoll einzubringen.416 Er schuldet den »rectores civitatis« »Achtung, Treue und Gehorsam«, und damit ist verbunden, »daß er sich mit der bestehenden Lage zufrieden gibt, nicht auf Umsturz sinnt und auch keinem anderen Herrscher mehr ergeben ist und Bewunderung oder Verehrung zollt. Weiter darf der Bürger auch nur Gutes und Ehrenhaftes über die Lenker des Staates und alle ihre Maßnahmen denken und äußern«.417 An eine Öffentlichkeit als allgemein zugänglicher Reflexionsraum für politische Belange ist bei Pufendorf daher noch nicht zu denken. Ganz anders dagegen Christian Thomasius, der etwa mit seinen Monatsgesprächen zumindest in Ansätzen die öffentliche und damit immer auch politische Selbstverständigung des Publikums probte.

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Vgl. Pufendorf: De jure naturae et gentium, S. 26 lf. Daher stellte Wyduckel treffend fest: »Pufendorf bleibt damit im Rahmen eines an Staat und Souveränität orientierten obrigkeitlichen Herrschaftskonzepts, das gewisse rechtliche Bindungen keineswegs ausschließt, den konstruktiven Weg zu einer rechtlich verfaßten staatlichen Herrschaftsgewalt jedoch nicht zu weisen vermag.« Dieter Wyduckel. Die Vertragslehre Pufendorfs und ihre rechtsund staatstheoretischen Grundlagen. In: Fiammetta Palladini und Gerald Härtung (Hrsg.): Samuel Pufendorf und die europäische FrUhaufklärung. Werk und Einfluß eines deutschen Bürgers der Gelehrtenrepublik nach 300 Jahren (1694-1994). Berlin 1996, S. 164. Vgl. zur limitierenden Funktion des Staatszwecks Christoph Link: Herrschaftsordnung und bürgerliche Freiheit, S. 132ff. Pufendorf: Über die Pflicht, S. 183. Insofern stellt Franz Neumann zu Recht fest, daß es bei Pufendorf »keine Garantie für die tatsächliche Erfüllung des Staatszwecks gibt«. Franz Neumann: Die Herrschaft des Gesetzes. Frankfurt am Main 1980, S. 125. Pufendorf: Über die Pflicht, S. 211. Vgl. dazu auch Wolfgang Weber: Prudentia gubernatoria. Studien zur Herrschaftslehre in der deutschen politischen Wissenschaft des 17. Jahrhunderts. Tübingen 1992, S. 135ff.

Aufklärung und Absolutismus: Christian Thomasius

Während Pufendorfs Interesse an Recht und Rechtlichkeit das organisierende Zentrum auch seiner nicht-juristischen Arbeiten darstellt,1 verschieben sich bei Thomasius ganz unübersehbar die Gewichte: zwar ist er ebenso wie Pufendorf von der grundlegenden Bedeutung des Rechts überzeugt, doch zielt sein Anspruch auf nicht weniger als eine umfassende, beim Einzelnen ansetzende Reform des sozialen Lebens insgesamt. Seine juristischen und rechtsphilosophischen Bemühungen sind so gesehen nur ein - freilich bedeutender - Teil eines gelegentlich revidierten, in seinen Grundsätzen aber doch weitgehend durchgehaltenen Programms, das auf die Realisierung von Wahrheit und Tugend abzielt. Bei Christian Thomasius lassen sich bereits nahezu alle »Grundideen«2 auffinden, die für die deutsche Aufklärung charakteristisch sind, er gilt daher zweifellos zu Recht als »Hauptinitiator der Aufklärung in Deutschland«.3 Aufklärung als »kritisches Denken in praktischer Absicht«4 wird von Thomasius auf vielfältige Weise betrieben. Dabei lassen sich sein Kampf gegen Aberglaube5 und Vorurteile,6 sein zeitweiliges Bekenntnis zur Eklek-

Vgl. Notker Hammerstein: Samuel Pufendorf. In: Stolleis (Hrsg.): Staatsdenker, S. 191ff. Norbert Hinske unterscheidet in seinem »Versuch einer Typologie« Programmideen (Aufklärung, Eklektik, Selbstdenken, Mündigkeit und Perfektibilität), Kampfideen (Kampf gegen Vorurteile, Aberglauben und Schwärmerei), Basisideen (Bestimmung des Menschen, Allgemeinheit der Menschenvernunft) und schließlich abgeleitete Ideen (Öffentlichkeit, Pressefreiheit, Unparteilichkeit, Liberalität und Toleranz). Originär politische Ideen, die sich der aufklärerischen Rechts- und Staatsphilosophie verdanken, fehlen in dieser Typologie. Zu nennen wären etwa: (Rechts)gleichheit und Freiheit bzw. Selbstbestimmung auf der Grundlage subjektiver Rechte. Norbert Hinske: Die tragenden Grundideen der deutschen Aufklärung. Versuch einer Typologie. In: Raffaele Ciafardone: Die Philosophie der deutschen Aufklärung. Texte und Darstellung. Stuttgart 1990, S. 407ff. Siehe zum Begriff und zur Epoche der Aufklärung auch Werner Schneiders: Hoffnung auf Vernunft. Aufklärungsphilosophie in Deutschland. Hamburg 1990; sowie ders.: Aufklärung und Vorurteilskritik. Stuttgart-Bad Cannstatt 1983, S. 23-29,und ders.: Das Zeitalter der Aufklärung. München 1997. Werner Schneiders: Die wahre Aufklärung. Freiburg, München 1974, S. 14. Siehe auch ders.: 300 Jahre Aufklärung in Deutschland. In: Ders. (Hrsg.): Christian Thomasius, S. 8ff Sowie Raffaele Ciafardone: Die Philosophie der deutschen Aufklärung, S. 16. Schneiders: Die wahre Aufklärung, S. 14. Vgl. dazu Martin Pott: Aufklärung und Aberglaube. Tübingen 1992, S. 78ff.

170 tik7 und sein Eintreten für die Emanzipation der praktischen Philosophie von der Theologie im wesentlichen auf seine vehemente Kritik am praxisfernen Wissenschaftsbetrieb seiner Zeit zurückführen. Gegen die »praeiudicia Cartesianorum« und die »ineptiae Peripateticorum«8 formuliert Thomasius eine am Nutzen orientierte und daher auf Praxis angelegte »Gelahrheit«, »durch welche ein Mensch geschickt gemacht wird das wahre von den falschen, das gute von dem bösen wohl zu unterscheiden, und dessen gegründete wahre, oder nach Gelegenheit wahrscheinliche Ursachen zu geben, umb dadurch sein eigenes als auch anderer Menschen in gemeinen Leben und Wandel zeitliche und ewige Wohlfahrt zu befördern«9. Diese allgemeine, als »Weltweißheit« begriffene »Gelahrheit« wird bei Thomasius zum Gegenstand eines Bildungsprogramms, das sich nicht nur an den akademischen Fachgelehrten wendet, sondern an ein allgemeines Publikum adressiert ist, denn die »Weltweißheit ist so leichte, daß dieselbe von allen Leuten, sie mögen seyn, von was für Stande oder Geschlechte sie wollen, begriffen werden kann«.10 Dieser praxisorientierte Begriff von Weltweisheit verfügt über zwei Elemente, die die politische Philosophie und die Staatsphilosophie von Thomasius mit Vorzeichen versehen, die für Pufendorf offenbar noch außerhalb seines Horizontes lagen: 1. die prinzipielle Orientierung am Nutzen, und 2. die grundsätzliche Beteiligung aller vernunftbegabten Menschen in der Auseinandersetzung mit Fragen, die alle angehen. ad 1.) Thomasius unterscheidet zweierlei Nutzen: den »gemeinen Nutzen« des Staates und den »privaten Nutzen« des Einzelnen. Beide sind natürlich eng aufeinander bezogen, und doch ergeben sich durch die Handhabung der Differenzierung interessante politische Perspektiven. Obwohl der private Nutzen dem gemeinen untergeordnet ist, hält es Thomasius für evident, daß »kein gemeiner Nutzen begriffen werden kan, wenn die eintzelen Personen in einem miserabeln Zustand leben«.11 Der gemeine Nutzen bemißt sich also ein gutes Stückweit am privaten Nutzen der Einzelnen, und d.h., daß die Kategorie des Nutzens ein Bewertungskriterium für staatliche Verhältnisse abgibt, das auch noch dem Einzelnen mit Blick auf seine eigenen Verhältnisse zugänglich ist. Und das Nützliche zu erkennen, steht dem Einzelnen, der durch die leichte Weltweisheit instruiert ist, durchaus zu

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Vgl. dazu Schneiders: Aufklärung und Vorurteilskritik, S. 92ff. Vgl. dazu Albrecht: Eklektik, S. 398ff. Siehe den vollständigen Titel der Philosophia aulica. Thomasius: Einleitung zur Vernunftlehre. Halle 1691, Reprint: Ausgewählte Werke. Band 8. Hildesheim, Zürich, New York 1998, S. 75f. Noch in den Cautelen zur Erlernung der Rechts-Gelehrtheit bestimmt Thomasius die »Weißheit« als »eine lebendige Erkäntniß des wahrhafft Guten« (S. 1). Thomasius: Einleitung zur Vernunftlehre, S. 13. Thomasius: Gemischter Discurs. In: Kleine Teutsche Schriften, S. 252.

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Gebote. Der private Nutzen kann aber auch für Thomasius nicht Staatsaufgabe sein; das würde die Differenz zwischen gemeinem und privatem Nutzen nicht nur tendenziell, sondern tatsächlich aufheben. Seinen privaten Nutzen muß jeder selbst betreiben, die dazu nötigen Kenntnisse will Thomasius als politische Privatklugheit lehren: »Als wäre die Politique wohl höchst unvollkommen, wenn man der Jugend nicht gewisse Lehr-Sätze giebet, nach welcher sie salvis semper regulis honestatis in vita civili ihren Nutzen zu befördern, und ihren Schaden abzuwenden, vergewissert sey könte«12. Die Differenzierung zwischen gemeinem und privatem Nutzen führt zu einer doppelten Politik, nämlich zu einer Politik des Staates, die zwar den Nutzen des Einzelnen nicht aus dem Auge verlieren darf und doch der Verfügung des Untertanen - wie noch zu zeigen sein wird - entzogen bleibt, und zu einer Privatpolitik, mit deren Hilfe der Untertan sozusagen unterhalb der politischen Sphäre des Staates auf gesellschaftlicher Ebene seinen Nutzen vermehrt. Dieser Handlungsspielraum des Einzelnen muß im Blick auf die absolutistische Staatskonzeption von Thomasius präsent gehalten werden. ad 2.) Indem Thomasius eine Weltweisheit lehrt, die alle angeht und grundsätzlich von allen betrieben werden kann, öffnet er - wie sich am Beispiel der Monatsgespräche belegen läßt13 - die zuvor exklusive Gelehrtenrepublik für ein allgemeines, interessiertes Publikum. Damit werden die quasi-liberalen Implikationen dieses esoterischen Konzepts - Denkfreiheit und Gleichheit aller vor dem Urteilsspruch einer allgemeinen Vernunft - in die exoterische Sphäre der allgemeinen Diskussion überführt. Die Gelehrtenrepublik als Residuum >vernünftiger Liberalität wird bei Thomasius entscheidend erweitert, doch bleibt sie noch immer ein Residuum. Denn der Modellcharakter der Gelehrtenrepublik wird von Thomasius nicht politisch umgesetzt. Die zumindest denkbar gewordene und von Thomasius z.T. selbst realisierte öffentliche Diskussion mündet bei ihm nicht in politischer Partizipation; er läßt es bei der eingeforderten Denkfreiheit bewenden.14 Dennoch dokumentiert sich hier eine aufklärerische Bewußtseinshaltung, die bei der Rezeption von Thomasius' Staatsphilosophie berücksichtigt werden muß.

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Thomasius: Gemischter Diskurs, S. 252. Vgl. Frank Grunert: Von polylogischer zu monologischer Aufklärung. Die Monatsgespräche von Christian Thomasius. In: Werner Schneiders und Martin Fontius (Hrsg.): Die Philosophie und die Belies lettres. Berlin 1997, S. 21-38. Vgl. auch Thomasius: Neue Erfindung einer wohlgegründeten und filr das gemeine Wesen höchstnöthigen Wissenschafft, das Verborgene des Hertzens anderer Menschen auch wider ihren Willen aus der täglichen Conversation zu erkennen. In: Kleine Teutsche Schriften, S. 458f.

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Die rechtsphilosophischen Grundlagen

1.1. Abgrenzungen: Theologie und Jurisprudenz - Offenbarung und Vernunft Die Notwendigkeit, Jurisprudenz und Theologie voneinander zu trennen und ihnen aufgrund ihrer unterschiedlichen Erkenntnisverfahren auch verschiedene Erkenntnisbereiche bzw. -gegenstände zuzuweisen, war Thomasius selbst - wie er in der Dissertatio prooemialis der Institutiones mitteilt zunächst nicht einsichtig. Die in diese Richtung unternommenen Vorstöße von Grotius und Pufendorf schienen ihm durchaus verdächtig. Obwohl er gleich zu Beginn seiner Studien von der »Wichtigkeit und Artigkeit dieser Lehre [...] eingenommen« (»dignitas et elegantia«) war, hatte er nicht von des »Grotii Irrthümer in der Religion«15 absehen wollen bzw. können. Und in Pufendorfs De iure naturae et gentium mochten ihm »einige Dinge nicht gefallen, welche der gemeinen Lehre vom ewigen Gesetz Gottes, von der Übereinstimmung mit Gottes Heiligkeit, von der Moralität, die vor dem göttlichen vorher gehen soll, u.d.gl. zuwider waren«.16 Den dominierenden Einfluß der Theologie Gebiete der Rechts- und Sittenlehre - dem auch Thomasius sich nicht hat entziehen können - führt er in der Dissertatio prooemialis auf einen im engeren Sinn wissenschaftsgeschichtlichen und einen eher politischen Grund zurück. Zum einen waren die Theologen in der Lage, sich juristischer oder philosophischer Gegenstände und Problembestände zu bemächtigen, »quod Philosophi Catalogo undecim virtutum Aristotelico, & Icti Glossatoribus suis contenti, Theologis, Pontificiis primum, tum & nostris ansam dederint nobilem sapientiae partem neglectam & a Domino vacuam occupandi«.17 Und andererseits gelang es ihnen, ihre einflußreiche Stellung - ihr theoretisches Monopol mit seinen praktischen Konsequenzen - wirkungsvoll zu sichern, indem sie jede abweichende Lehrmeinung für Ketzerei ausgaben und auf diese Weise quasi kriminalisierten.18 Thomasius' argumentatives Vorgehen gegen diesen »un-

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Thomasius: Drey Bücher der Göttlichen Rechtsgelahrheit, in welchen die Grundsätze des natürl. Rechts nach denen von dem Freyherm von Pufendorff gezeigten Lehrsätzen deutlich bewiesen, weiter ausgearbeitet, und von denen Einwürffen der Gegner derselben, sonderlich Herrn D. Valentin Alberti befreyet, auch zugleich die Grundsätze der Göttlichen allgemeinen geoffenbarten Gesetze gezeiget werden. Halle 1709, Vorrede §5. Thomasius: Göttliche Rechtsgelahrheit, Vorrede §6. Thomasius. Institutiones iurisprudentiae divinae, Diss, prooem. §10. Im Hinblick auf den letzten Punkt erweist sich der »Mischmasch« von Theologie und Jurisprudenz »nicht allein als abgeschmackt, sondern auch auf gewisse Masse gefährlich« (Monatsgespräche I, S. 337).

173 förmlichen Mischmasch«19 von Theologie, Jurisprudenz und Philosophie realisiert in nuce - seinem Auditorium gegenüber unverkennbar in pädagogischer Absicht pointiert - wesentliche Elemente seines »aufklärerischen Programms«.20 Zunächst stellt er klar, daß es nicht Sache von Privatpersonen ist, jemanden »für einen Ketzer zu erklären«, selbst die Geistlichkeit ist hier unbefugt, denn diese Macht und dieses Recht gehört zu den Regalien, mit denen der Fürst in die Lage versetzt wird, ordnungpolitische Aufgaben zum Wohl des Gemeinwesens wahrzunehmen.21 Thomasius' zweiter, weitreichender Schritt ist die Selbstbefreiung vom Vorurteil der Autorität, mit dem er »das Joch der Sectirischen Philosophie«22 abwirft, um auf diese Weise die theoretische Voraussetzung für eine sachorientierte Trennung zwischen Theologie und Jurisprudenz allererst zu schaffen. Im Vertrauen auf die eigene Vernunft und das eigene gereiftere judicium schließt er die Augen seines Gemüts, »damit sie der Glanz menschlichen Ansehens nicht verblenden solte, und gedachte nicht mehr, wer, oder wie ein grosser vornehmer Mann es sey, der dieses oder jenes geschrieben, sondern überlegte nur die Beweisthümer auf beiden Seiten, und betrachtete, was dieser vorgab, jener aber widerstritte, und was der eine behauptete, der ander aber beantwortete« 23 Damit einher geht im expliziten Rekurs auf Johann Christoph Sturm ein Bekenntnis zur »Philosophia Eclectica«, die allein - weil sie der autoritären Bindungen an die Lehrmeinung einer »Philosophia sectaria« ledig ist - die Inanspruchnahme »Philosophischer Freyheit« und eigenes Nachdenken ermöglicht.24 Im Ergebnis hat dann Thomasius die explizit angekündigte Trennung von Theologie und Rechtswissenschaft25 in den Institutiones doch nicht so radikal durchgeführt, wie es erwartet werden konnte. Theologie und Rechtsgelehrtheit sind nach seiner Auffassung zwar prinzipiell durch ihren End19 20

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Thomasius: Göttliche Rechtsgelahrheit, Vorrede §31. Siehe zu Thomasius' aufklärerischen Bestrebungen: Werner Schneiders: 300 Jahre Aufklarung in Deutschland. In: Ders. (Hrsg.): Christian Thomasius 1655-1728. Hamburg 1989; sowie ders.: Vernunft und Freiheit. Christian Thomasius als Aufklärer. In: Studia Leibnitiana. Jahrgang 11 (1978), Heft 1, S. 3-21. Vgl. Thomasius: Göttliche Rechtsgelahrheit, Vorrede §31; siehe dazu auch Thomasius: Monatsgespräche I, S. 728. Siehe zum KetzerbegrifF bei Christian Thomasius: Simone Zurbuchen: Gewissensfreiheit und Toleranz: Zur Pufendorf-Rezeption bei Christian Thomasius. In: Palladini und Härtung (Hrsg.): Samuel Pufendorf und die europäische Frühaufklärung, S. 172f. Thomasius: Göttliche Rechtsgelahrheit, Vorrede §13. Thomasius: Göttliche Rechtsgelahrheit, Vorrede §11. Vgl. Thomasius: Göttliche Rechtsgelahrheit, Vorrede §33. Vgl. zur Sturm-Rezeption von Thomasius: Michael Albrecht: Thomasius kein Eklektiker? In: Schneiders (Hrsg.): Christian Thomasius, S. 73-94. Thomasius: Göttliche Rechtsgelahrheit, Vorrede §50.

174 zweck voneinander geschieden: während es die Aufgabe der Theologie ist, die ewige Glückseligkeit des Menschen zu fördern, ist es der Rechtswissenschaft um die zeitliche Glückseligkeit zu tun, und so ist sie nur mit den Gesetzen - in Auslegung und Anwendung - befaßt, »welche des Menschen zeitliche Glückseligkeit angehen«. 26 Dieses Unterscheidungsmerkmal räumt der Rechtsgelehrtheit aber eine Kompetenz nicht nur im Hinblick auf die menschlichen Gesetze ein, sondern dehnt ihre Kompetenz auf die göttlichen Gesetze aus, deren Urheber Gott ist, und zwar nicht allein auf die natürlichen Gesetze, deren principium cognoscendi die recta ratio ist, sondern selbst noch auf die offenbarten Gesetze Gottes, die per revelationem divinam einsehbar sind.27 Die von daher göttliche Rechtsgelehrtheit hat mit den göttlichen Gesetzen zu tun, die die zeitliche Glückseligkeit des Menschen betreffen. 28 Insofern ist das Objekt der Jurisprudentia divina einerseits das natürliche Gesetz, das mit der vernünftigen Natur des Menschen notwendig übereinstimmt 29 und durch die >gesunde Vernunft< erkannt wird, andererseits aber auch die Gesetze des ius divinum positivum universale, soweit sie die »officia hominum erga alios homines« 30 betreffen. Theologie und Jurisprudenz kommen hier noch in zwei von Thomasius selbst benannten Hinsichten überein: 1. das objectum demonstrations beider Disziplinen ist unter anderem die lex divina positiva universale; 2. die göttliche Offenbarung ist im Hinblick auf diesen Gegenstand für beide Wissenschaften das primum principium demonstrationis. 31 Theologie und Rechtsgelehrtheit, die Thomasius sich nicht scheut, auch »jurisprudentia christiana« zu nennen, 32 sind noch über die Geltung des göttlich offenbarten Gesetzes miteinander verbunden. Allerdings ist die Naturrechtslehre - Schneiders stellt dies zu Recht fest - von der Theologie bereits vollständig unabhängig. 33 Denn in-

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Thomasius: Göttliche Rechtsgelahrheit, Ι,ΙΙ, 162. »Different itaque initio I. lex naturalis & divina positiva Principio cognoscendi, quod in lege naturali est recta ratio, in divina autem positiva revelatio divina.« Thomasius: Institutiones iurisprudentiae divinae, 1,2,64. »Jurisprudentia divina est prudentia leges divinas, salutem hominis in hac vita concernentes, explicandi & applicandi ad actiones hominum.« Thomasius: Institutiones iurisprudentiae divinae, 1,2,1. Vgl. zur Unterscheidung zwischen lumen naturale und lumen revelationis Thomasius: Einleitung zur Vemunftlehre, S. 80ff. Thomasius: Institutiones iurisprudentiae divinae, 1,2,71. Thomasius: Institutiones iurisprudentiae divinae, 1,2,133. Vgl. Thomasius: Institutiones iurisprudentiae divinae, 1,2,136. Thomasius: Institutiones iurisprudentiae divinae, 1,2,136. Vgl. Schneiders: Naturrecht und Liebesethik, S. 105. Was hier im Hinblick auf das Verhältnis zwischen Theologie und Naturrecht festgestellt wurde, gilt jedoch nicht hinsichtlich des Verhältnisses zwischen Theologie und Rechtswissenschaft überhaupt: die Verbindung beider Disziplinen ist nicht - wie Hans-Peter Schneider behauptet - »endgültig gelöst«. Schneider: Justitia universalis, S. 209.

175 dem Thomasius - wie vor ihm bereits Grotius und Pufendorf - die recta ratio zum principium cognoscendi des Naturrechts macht, löst er das Jus naturae aus religiös-theologischen Bindungen und bezieht explizit Stellung gegen die orthodoxe Konzeption von Valentin Alberti, die das Naturrecht aus dem status integritatis ableitet.34 Die Perspektive dieser hier noch nicht vollständig durchgeführten Trennung von Theologie und Jurisprudenz ist dennoch bereits klar: es geht letztenendes um die theoretische Selbständigkeit der Rechtsgelehrtheit durch >Entmachtung< der Theologie, denn dieser wird mit Hilfe der quasi vorausgesetzten Stufung von zeitlicher und ewiger Glückseligkeit die begründete Einflußnahme auf zeitliche Belange streitig gemacht. Für den Lutheraner Thomasius dürfte wohl nicht ganz unerheblich gewesen sein, daß die von ihm angestrebte Trennung von Theologie und Jurisprudenz sich nicht zuletzt auf die »Zwei-Reiche-Lehre« Martin Luthers stützen konnte.35 Thomasius' sogenannte religiöse Krise - diese Phase umfaßte die Jahre 1693-1699 36 - führte schließlich unter dem Einfluß des Pietismus wieder zur Aufwertung der Theologie, nun aber als »wahrer Theologie«.37 Dabei wird die in den Institutiones vorgenommene Unterscheidung von zeitlicher und ewiger Glückseligkeit wieder weitgehend zurückgenommen: Thomasius hält die Auffassung für falsch, »das höchste Philosophische Gut« sei »von der höchsten Theologischen Glückseligkeit gantz dem Wesen nach unterschieden, durch eine absonderliche Art der wahren Glückseligkeit«.38 Daher sei es ebenfalls falsch, wenn der Mensch es nicht »vor nöthig hält sich umb das ewige Gut hier in diesem Leben zu bekümmern, sondern vermeint, es sey am besten, wenn er fein nach seinen natürlichen Begierden hier lebe, nach diesem Leben werde es sich mit der andern Glückseligkeit auch schon finden, und wie er dieses zeitliche Leben mit dem künfftigen verwechsele, also werde er auch diese zeitliche Philosophische Glückseligkeit mit der Theolog. und ewigen verwechseln«.39 Die von ihrem Endzweck her auf die 34

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Siehe dazu oben 1.2.2.2. Zur Frage der Erkennbarkeit des status integritatis und seiner Funktion in der Theorie von Christian Thomasius siehe dazu unten III.2.1.1. Vgl. dazu Johannes Heckel: Lex Charitatis. Eine juristische Untersuchung über das Recht in der Theologie Martin Luthers. Köln, Wien 1973. Vgl. Schneiders: Naturrecht und Liebesethik, S. 238. Zustimmend auch Martin Pott: Thomasius' philosophischer Glaube. In: Schneiders (Hrsg.): Christian Thomasius, S. 233; andere Datierungen bei Max Wundt: Die deutsche Schulphilosophie im Zeitalter der Aufklärung. Tübingen 1945, S. 52 (1694-1708), Ernst Bloch: Naturrecht und menschliche Würde. Frankfurt am Main 1961, S. 325f. (1692-1707), Gunter Grimm: Literatur und Gelehrtentum in Deutschland. Tübingen 1983, S. 347 (1692-1702). Thomasius: Ausübung der Sittenlehre. Halle 1696. Reprint: Ausgewählte Werke. Band 11. Hildesheim, Zürich, New York 1999, S. 521. Thomasius: Ausübung der Sittenlehre, S. 542. Thomasius: Ausübung der Sittenlehre, S. 543.

176 ewige Glückseligkeit gerichtete Theologie wird, weil ewige und zeitliche Glückseligkeit nur ihrem Grad nach verschieden sind, von Thomasius aus dem Jenseits ins Diesseits zurückgeholt. Denn es ist »gar leicht«, »nach der blossen und sich selbst gelassenen Vernunft zuletzt in die grösten und schädlichsten Irrthümer zu fallen«, aber »dannenhero auch dieses zu erkennen, und sich dafür zu hüten, [ist] nicht blosse Natur, sondern eine Gnade von Gott«.40 Der prinzipielle Unterschied zwischen Theologie einerseits und Jurisprudenz oder Philosophie (die durchaus nicht funktionslos wird) andererseits bleibt gleichwohl erhalten, denn er ist durch die Begrenztheit von Philosophie und Jurisprudenz, die sich auf die recta ratio als principium cognoscendi verlassen müssen, immer schon prägnant gegeben und wird vorausgesetzt, wenn Thomasius fordert: »Alle wahre Philosophie soll nichts anders seyn, als daß sie den Menschen gleichsam mit der Hand zur wahren Theologie leite«.41 Als 1699 der Summarische Entwurff derer Grund-Lehren, die einem Studioso Juris zu wissen, und auff Universitäten zu lehren höchstnöthig erscheint, hat Christian Thomasius seine religiöse Krise bereits überwunden.42 Dieser Programmentwurf ist für den vorliegenden Zusammenhang insofern von Interesse, als Thomasius hier eine Abgrenzung der vier Fakultäten vornimmt. Er tut dies, indem er deren Aufgaben innerhalb seiner Konzeption teils neu, teils pointierter oder klarer als bisher definiert. Dabei ist er sich zum einen der Unmöglichkeit bewußt, daß alle Fakultäten aufeinander abgestimmt »in allen Stücken einerley Lehre«43 führen könnten, zum anderen erkennt er, daß die definierten Grenzen nicht statisch sein können: die vier Disziplinen der vier Fakultäten lassen sich nicht jeweils aus der je eigenen Logik heraus und ohne Anleihen bei den anderen Wissenschaften entwickeln. Die Position, die der Theologie dabei zugewiesen wird, ist in ihrer Ambivalenz signifikant: durch Behauptungen wie »ubi desinit Philosophus, Medicus, Jure Consultus, ibi incipit Theologus«44 wird zwar die Wertschätzung der Theologie expressis verbis beteuert, doch wird die Theologie dabei gleichzeitig beträchtlich isoliert. Die Hilfsfunktionen der drei Fakultäten, Philosophie, Medizin und Jurisprudenz, die Thomasius für die Theo-

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Thomasius: Ausübung der Sittenlehre, S. 532. Thomasius: Ausübung der Sittenlehre, S. 521. So stellt Thomasius etwa - um nur einen prägnanten Beleg an dieser Stelle zu liefern ganz unpietistisch fest, »daß Gott alle Creaturen nicht zur Traurigkeit, oder Unglück, sondern zum glücklichen oder vergnügten Leben geschaffen« hat (1,1,22). Zur Funktion der Schrift als Dokument der überwundenen Krise und als Vorbereitung von zentralen Positionen in den Fundamenta siehe unten III. 1.4. Thomasius: Summarischer Entwurff, Vorrede §9. Thomasius: Summarischer Entwurff, Vorrede §7.

177 logie vorsieht,45 entfalten ihre eigene Dialektik: einerseits wird die Theologie in ihrer Bedeutung hervorgehoben, andererseits wird sie zu einer quasi sekundären und damit tendenziell marginalisierten Wissenschaft; im Grunde sind die zentralen zeitlichen Probleme längst bearbeitet, wenn die Theologie die Bühne betritt.46 Die Aufgabenverteilung der vier Fakultäten sieht im einzelnen folgendermaßen aus: Die Philosophie gilt Thomasius als »Anführerin zur wahren Weißheit«, und bleibt damit dennoch »ein gemeines Instrument (der) drey höhern Facultäten« 47 Die Bestimmung geht offenkundig über den Philosophiebegriff der Institutiones hinaus, denn die »ehrliche Dienstmagd«48 wird, obwohl sie eine facultas Instrumentalis bleibt, als Anführerin zur wahren Weisheit zu einer fundierenden theoretischen Instanz der facultates principales. Die in diesem Zusammenhang weniger wichtige Medizin soll »Mittel und Wege zeigen [...], die Glückseligkeit der Leibes-Gesundheit zu erhalten, und wenn sie verlohren ist, wieder zu bringen« 49 Die Rechtsgelehrtheit ist äußeren Zwecken verpflichtet, die sich auf das Zusammenleben der Menschen beziehen. Sie soll »Mittel und Wege zeigen«, »den eusserlich politischen Frieden und Ruhm zu befördern, und dessen geschehene turbation wieder zu bringen«.50 Dazu muß sie die göttlichen und weltlichen Gesetze verstehen, auslegen und in Rat und Tat anwenden. Insofern ist sie zunächst eine Wissenschaft, die mit gegebenen Gesetzen umgeht, gleichzeitig aber ist sie gehalten, auch Gesetze zu schaffen, indem sie Gesetzesvorlagen erarbeitet und sie den Gesetzgebungsinstanzen vorschlägt.51 Thomasius spricht hier von den göttlichen und weltlichen Geset45

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»Und wir drey übrigen Facultäten sollten uns bemühen, aus dem Verstand und Hertzen unserer Auditorum den gröbsten Mist auszureumen, damit hernach die Herren Theologi nicht so viel Hindernüß finden, wenn sie die Göttlichen Geheimnisse dem menschlichen Verstand, und die Verleugnung sein selbst dem menschlichen Hertzen beybringen wollen.« (Vorrede, §7) Die Ambivalenz dieser Zuarbeiterfunktion wird u.a. deutlich, wenn Thomasius behauptet, mit Hilfe seines Konzepts von der Natur des Menschen könne er ohne Rückgriff auf die Heilige Schrift »mit allen ietzo in Schwang gehenden Ketzereyen und Secten glimpflich [...] disputieren, und ihnen zeigen [...], daß der Grund ihres Irrthums aus einem irrigen Concept von dem Wesen des Menschen herrühre« (Vorrede §8). Und dies nicht zuletzt mit dem Erfolg, die »guten Lehren derer Herren Theologorum« (Vorrede §8) einsichtiger zu machen. Die Handreichung belegt genaugenommen, daß Thomasius als Philosoph von vornherein mit den Inhalten der christlichen Religion übereinkommt, d.h. der Philosoph ist christlich ohne den Umweg über die theologische Unterweisung. Thomasius: Summarischer Entwurff, 1,111,19. Thomasius: Göttliche Rechtsgelahrheit, Ι,1,166. Thomasius: Summarischer Entwurff, 1,111,20. Thomasius: Summarischer Entwurff, Ι,ΠΙ,21. Vgl. Thomasius: Summarischer Entwurff, 1,111,35.

178 zen, ohne eine genauere Erläuterung, vor allem der göttlichen Gesetze, vorzunehmen. Es fragt sich beispielsweise, ob der Begriff - wie noch in den Institutiones - die Gesetze der Natur ebenso umfaßt wie die offenbarten Gesetze Gottes. Historisch läßt sich die Aufhebung des ius divinum positivum universale, das Thomasius spätestens in den Fundamenta endgültig fallenläßt, bereits an dieser Stelle vermuten, denn der Summarische Entwurf/ der Grund-Lehren erweist sich in vielen Details als eine Vorstufe der in den Fundamenta schließlich ausgeführten Konzeption; verläßliche Anhaltspunkte für die eindeutige Entscheidung der vorliegenden Frage bietet der Text indes nicht. Dieser nach außen gewendeten Zuständigkeit der Rechtsgelehrtheit steht eine ihrem Zweck entsprechend nach innen gewendete Theologie gegenüber. Die »Gottes-Gelahrtheit« soll »noch viele verborgene Wege des menschlichen Elends, und der Boßheit des Hertzens anzeige(n), auch den Zustand der verlohrenen Glückseeligkeit beschreibe(n), und die Mittel und Wege zur innerlichen Ruhe der Seelen, als der eintzigen und wahren, auch ewigen Glückseeligkeit zu gelangen, aus heiliger Schrifft deutlich und insonderheit anweisen«.52 Die sich bereits hier abzeichnende Innen-AußenDichotomie, die wenig später nicht nur für das Verhältnis von Recht und Moral eine wichtige Rolle spielen wird, unterscheidet Theologie und Jurisprudenz nach ihren jeweiligen Arbeitsbereichen, wobei beide Disziplinen ganz offensichtlich einander ergänzen sollen. Dies wird unübersehbar, wenn Thomasius feststellt, daß der äußerliche Friede - der prinzipiell eine Angelegenheit der Rechtsgelehrtheit ist - durch »unweise Leute turbiret werde, die keine innerliche Ruhe besitzen«,53 und die daher ein Fall für die theologische Unterweisung sind. Der Theologie wird so zwar eine wichtige Funktion zugewiesen, juristische Normenbegründungen, wie es der Orthodoxie vorschwebte und wie es die Institutiones zumindest im Bereich des ius divinum positivum noch zu gestatten scheinen, fallen hier allerdings eindeutig aus dem Rahmen ihrer Kompetenz. Die Theologie scheint allerdings an Bedeutung wieder zu gewinnen, wenn Thomasius - möglicherweise als unüberwundener Rest seiner religiösen Krise - an der Heiligen Schrift als der (einzig authentischen) Quelle »wahrer Weißheit«54 festhält. Von daher - so 52 53 54

Thomasius: Summarischer Entwurff, I,III,22. Thomasius: Summarischer Entwurff, 1,111,29. Thomasius: Summarischer Entwurff, 1,11,70. Daher behauptet Horst Dreitzel, Thomasius sei »auf seine Weise [...] Biblizist« geblieben: »Die Eigenart des Thomasius und damit auch eine wesentliche Grenze seiner Wirksamkeit war, daß er daran festhielt, diese Auffassung als Philosophia Christiana zu verstehen, daß er ihre einzig vollständige Darstellung in der Bibel fand.« Horst Dreitzel: Christliche Aufklärung durch fürstlichen Absolutismus. Thomasius und die Destruktion des frühneuzeitlichen Konfessionsstaates. In: Vollhardt (Hrsg.): Christian Thomasius ( 1 6 5 5 - 1 7 2 8 ) , S. 37. Freilich scheinen originär re-

179 Thomasius weiter - finden sich in ihr auch die Grundregeln »von der wahren Gliickseeligkeit der Menschen in diesem Leben«.55 Und so sind verglichen mit der Bibel »alle Cicerones, Grotii, ingleichen Taciti, Machiavelli, so genante politische Memoires, Hommes de Cours, u.s.w.« »nur Affenwerck«.56 Tatsächlich wird diese Wertschätzung der Heiligen Schrift jedoch nicht auf die Theologie als Wissenschaft verlängert. Eher im Gegenteil: der Einfluß der Theologie wird fast explizit ausgeschaltet, indem Thomasius hervorhebt, daß »die heilige Schrifft für einen Weißheit suchenden in denen Stücken, die zur Erlangung wahrer Gliickseeligkeit gehören, so klar und deutlich sey, daß er keiner menschlichen Auslegung bedürffe«.57 So tut der Weisheitliebende gut daran, die Bibel ohne alle »Vorreden und Glossen« 58 zu rezipieren. Es scheint, als würde hier die religiös gebundene Weisheit der Heiligen Schrift in eine säkulare Weisheit überführt, die Thomasius zu Beginn des Summarischen Entwurffs als »lebendig Erkenntnüß des wahrhafften Guten« definiert.59 Diese Transformation geschieht mit Hilfe des >Weisenäußerliche< von der innerlichen Maxime abgesetzt wird und von außen dem Einzelnen gleichsam auferlegt wird. Ihre Geltung ist von seiner Zustimmung prinzipiell unabhängig. Thomasius hebt drei auf unterschiedlichen Ebenen angesiedelte Wesensmerkmale des Menschen hervor, die eine solche Richtschnur erforderlich machen: 1. Durch die Schwäche seines Leibes bedingt, ist der Mensch nicht imstande, seine Existenz aus eigener Kraft und ohne die Unterstützung anderer zu erhalten, daher ist er zu gegenseitiger Hilfeleistung verpflichtet.100 2. »Das ganze menschliche Geschlecht [würde] untergehen«, wenn die vom verderbten, postlapsarischen Gemüt herrührende Bosheit des Menschen nicht durch »eine Furcht eines größeren Übels im Zaum gehalten würde.«101 3. Die Kräfte des Gemüts selbst treiben den Menschen trotz aller postlapsarischen Unvollkommenheit zur Furcht Gottes und zu einem geselligen Leben an. Diese Geselligkeit erfordert notwendig eine Richtschnur, denn keine Gesellschaft ist ohne Gesetz denkbar: »Außerhalb der Gesellschaft ist 95

Thomasius: De Crimine Bigamiae, §11. Vgl. dazu Schneiders: Naturrecht und Liebesethik, S. 99. 96 Vgl. Thomasius: De Crimine Bigamiae, §7. 97 Vgl. Thomasius: De Crimine Bigamiae, §15. 98 Vgl. Thomasius: De Crimine Bigamiae, §14. QQ Thomasius: Göttliche Rechtsgelahrheit, 1,3,82. 100 Vgl. Thomasius: Institiones jurisprudentiae divinae, 1,3,84. 101 Thomasius: Göttliche Rechtsgelahrheit, 1,3,85.

186 kein Recht. In einer jeden Gesellschaft ist ein Recht«.102 Die unterschiedlichen »ingenia und Zuneigungen«103 machen die Einrichtung von Gesetzen notwendig, die sich selbst wieder einer anderen höheren Ordnung verdanken.104 Thomasius mißt diesem Argument - das Gesetz sei eine notwendige Folge der natürlichen Kräfte des Gemüts - die größte Beweiskraft zu, denn wenn diese für Wesen und Endzweck des Menschen charakteristischen Kräfte nur mit der Hilfe von Gesetzen realisierbar sind, impliziert dies im Hinblick auf die natura hominis die Naturnotwendigkeit der Gesetze. Insofern kann Thomasius feststellen: »Dum vero actionis suas cum essentia sua confert, videt, quod sua natura non admittet, ut sit exlex & actiones suas sine norma quadam instituat«.105 Inbegriff dieser äußerlichen Richtschnur ist das Gesetz, das - wie bei Pufendorf - als ein die >Untertanen< bindender »Befehl der Obrigkeit«106 aufgefaßt wird: »Lex est jussus imperantis obligans subjectos, ut secundum istum jussum actiones suas instituant«.107 Damit begründet das naturnotwendige Gesetz als Befehl, der Gehorsam verlangt, schon an dieser Stelle und noch ganz unabhängig von den Verhältnissen im status civilis - die Dichotomie von Imperans und Parens, die ebenso, wie das Gesetz selbst, für eine jede Gesellschaft kennzeichnend ist und auch dann noch prinzipiell gegeben ist, wenn Gebietende und Gehorchende - wie etwa in einer demokratischen Gesellschaft - nicht voneinander geschieden sind.108 Der Imperans als Urheber des Gesetzes, der berechtigt ist, sein Wollen als Sollen für andere zu formulieren und durchzusetzen, ist entweder Gott, dem als Schöpfer dieses Recht zusteht, oder der Mensch, der das »Recht andern zu befehlen entweder unmittelbarerweise aus der göttlichen Bestallung, oder vermittelst der Einwilligung eines anderen Menschen«109 erlangt. Diese rechts10? Thomasius: Göttliche Rechtsgelahrheit, I,l,100f. Thomasius: Göttliche Rechtsgelahrheit, 1,3,86. 104 »Deprehendit inter homines esse maximam ingeniorum & inclinationum diversitatum, qualis non est in bestiis, quae non solum directionem legis requirit, ne per earn turbetur vita tranquilla, sed & ipsa, quatenus ad iuvandam hominis tranquilitatem conducit, ordine aliquo & norma habet opus.« Thomasius: Institutiones jurisprudentiae divinae, 1,3,86. 105 Thomasius: Institutiones jurisprudentiae divinae, 1,3,20. 106 Thomasius: Göttliche Rechtsgelahrheit, 1,1,28. 107 Thomasius: Institutiones jurisprudentiae divinae, 1,1,28. 108 Vgl. Thomasius: Göttliche Rechtsgelahrheit, 111,6,65. Zur Dichotomie von Imperans und Parens in der Demokratie siehe auch: Christian Thomasius: Dissertatio De hominibus propriis et liberis Germanorum. Respondent: Hieronymus von der Lahr. Halle 1701. §XLIII.: »In civitate quae in terminis liberae Republicae manet, ex iis quae modo de collegii dicta sunt, facile apparet, qua ratione cives omnes liberi sint, etiamsi omnes sint subditi, quia scilicet omnes in legum constitutione votis suis concurrunt adeoque conjunctim sumti imperium habent, legesque in Democratia satis evidentur respiciunt utilitatem 109 communem vel omnium, vel certe plurimum.« Thomasius: Göttliche Rechtsgelahrheit, 1,1,78. 103

187 theoretischen Fixierungen erweisen bereits an dieser Stelle ganz unmittelbar ihre staatstheoretische Relevanz, denn indem Thomasius als Quellen filr diese menschliche Befehlsgewalt sowohl die »göttliche Bestallung« als auch die Einwilligung anderer benennt, bleibt zunächst unklar, wessen Recht sich welcher Quelle genau verdankt. Leitet sich die Befehlsgewalt des weltlichen Imperans, also des Fürsten, direkt aus einer »göttlichen Bestallung« im Sinne einer unmittelbaren Beauftragung durch Gott ab, und betrifft die Einwilligung nur vertragstheoretische Probleme auf privatrechtlicher Ebene? Oder basiert diese Befehlsgewalt doch >nur< auf der Einwilligung derer, die schließlich gehorchen sollen? Damit ist das Problem der Begründung von Souveränität angesprochen, das hier freilich noch nicht diskutiert werden kann. Es sei allerdings darauf hingewiesen, daß die lateinische Fassung ohne jedoch die Unklarheit wirklich beseitigen zu können - eher die Position andeutet, die Thomasius dann im dritten Buch der Institutiones in der Frage der Souveränitätsbegründung beziehen wird. Denn die »göttliche Bestallung« des deutschen Textes, die eine theokratische, >immediate-aDeo< abgeleitete summa potestas nahelegt, übersetzt den Begriff »concessio divina«, der bereits bei Grotius eine Rolle spielte und die direkte Übertragung der Befehlsgewalt eher ausschließt. Dies deutet eher daraufhin, daß Gott, weil er die Existenz eines Gesetzes und damit einer Obrigkeit will, die Konstitution weltlicher Souveränität per concessionem (Zugeständnis, Bewilligung) gewährt und damit nur die Voraussetzung schafft für die faktische, nur durch Einwilligung, d.h. durch Vertrag erreichbare Konstitution der höchsten Gewalt. So immerhin würden »concessio divina« und »consensus alterius« plausibel miteinander vermittelt.110 Wie auch immer das imperium des Menschen an dieser Stelle hergeleitet wird, Tatsache bleibt, daß sowohl Gott als auch der Mensch Urheber von Gesetzen sind, die demnach in göttliche und menschliche Gesetze eingeteilt werden. Ihr Adressat ist der Mensch als ein »lebendig vernünfftig Geschöpff«,111 das als Vernunftwesen über Verstand, Willen und Sinnlichkeit verfügt, und daher überhaupt erst in der Lage ist, als Adressat von Normen normengeleitet zu handeln. Er muß also qua Verstand in der Lage sein, die ihm über die Sinne vermittelte Wirklichkeit begrifflich zu fassen und moralisch zu beurteilen, und er muß qua Willen imstande sein, im Rekurs auf die (moralischen) Erkenntnisleistungen des Verstandes Handlungsimpulse zu

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Dieser Lesart steht allerdings entgegen, daß sowohl der lateinische als auch der deutsche Text auf diese Vermittlung offenkundig verzichtet: »Homo imperium vel immediate ex concessione nanciscitur, vel intercedente consensu alterius hominis«. Thomasius: Institutiones jurisprudentiae divinae, 1,1,78. Thomasius: Göttliche Rechtsgelahrheit, 1,1,35.

188 geben. 112 Der Begriff des Gesetzes als Richtschnur erfordert nämlich, »daß der Mensch nach seinen natürlichen Kräfften so wohl nach dem Gesetz, als wider das Gesetz leben könne.« Insofern können Gesetze nur Handlungen betreffen, die in der Willkür des Menschen stehen. So begründet ein als prinzipiell frei vorausgesetzter Wille, der aufgrund der Erkenntnisse des Verstandes eine Wahl trifft, die Rechtsposition bzw. -fahigkeit des Menschen, denn auf ihm beruht die Zurechnung der Handlungen: der aus freiem Willen handelnde Mensch wird als Urheber seiner Handlungen erkannt, die er verantworten muß, und deren Wirkungen er - im bösen wie im guten - zu tragen hat. Damit wird der Mensch im doppelten Sinn des Wortes zum Rechtssubjekt: zum einen schafft er durch sein Handeln faktisch rechtlich relevante Tatbestände und begründet Recht als subjektive Rechte oder Ansprüche, und zum anderen ist er als »subjectus seu parens« 113 auf den rechtlichen bzw. gesetzlichen Rahmen verpflichtet, der ihm durch den Imperans vorgeschrieben ist. Insofern wird unterschieden zwischen dem Recht als Berechtigung, qualitas moralis activa, das die Freiheit des Einzelnen erweitert, und der Verpflichtung (obligatio), qualitas moralis passiva, die die Freiheit des Einzelnen einschränkt. 114 Beide beruhen letztlich auf dem Gesetz als dem Willen des Imperans, der qua Gesetz sowohl Verpflichtungen begründen als auch Rechte gewähren kann. Das Recht und die Verpflichtung stehen in genauer Korrelation zueinander: das Recht des einen impliziert in der Regel die Verpflichtung des anderen. Daher gibt es ebenso viele Einteilungen der Verpflichtung wie Einteilungen des Rechts. 115 Diese von Thomasius vorgenommene Bestimmung des Rechts als »facultas« 116 ist auch für die Staatstheorie von nicht unerheblicher Bedeutung, denn abgesehen von dem eher privatrechtlich relevanten Recht an Dingen oder Verrichtungen hebt er - durchaus im Rückgriff auf die Vorarbeiten von Pufendorf und Grotius - drei weitere Einteilungen hervor, die er weiter differenziert: so unterscheidet Thomasius 1. zwischen angeborenem

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Der Vorgang kann hier nur kurz in seinem rechtstheoretisch relevanten Kern wiedergegeben werden; tatsächlich unterscheidet Thomasius zwischen zwei Wirkungen des Verstandes: 1. einer apprehensio simpliciter, die nur zu »dunklen Bildungen« (»ideis confusibus«) führt, und 2. die eigentliche ratiocinatio, deren Ergebnis klare Begriffsbildungen und moralische Urteile sind. Analog dazu differenziert Thomasius den Willen in »appetitus« und »electio«, wobei der appetitus die erste und electio die zweite Wirkung des Verstandes voraussetzen. Vgl. dazu Thomasius: Institutiones jurisprudentiae divinae, 1,1,44 und 49. Thomasius: Institutiones jurisprudentiae divinae, 1,1,32. Vgl. Thomasius: Institutiones jurisprudentiae divinae, 1,1, §§82f,85,134; siehe dazu auch Schneiders: Naturrecht und Liebesethik, S. lOOf. »Tot sunt divisiones obligationis, quod fuere divisiones juris.« Thomasius: Institutiones jurisprudentiae divinae, 1,1,138. Thomasius: Institutiones jurisprudentiae divinae, 1,1,134.

189 und erlangtem Recht;117 2. zwischen vollkommenem und unvollkommenem Recht,118 und 3. zwischen hohem und gemeinem Recht.119 ad 1. Das angeborene Recht ist unmittelbar von Gott gegebenes Recht, das Geltung hat auch ohne die Einwilligung dessen, der dadurch verpflichtet wird. Die Gewalt der Eltern über die Kinder nennt Thomasius als Beispiel für dieses noch gänzlich unspektakuläre Ius connatum; der Weg bis hin zu dem letztlich aus ihm hervorgegangenen unveräußerlichen Menschenrecht, das am Ende des 18. Jahrhunderts gegenüber dem fürstlichen Souverän eingeklagt wird, ist noch lang.120 Diesem angeborenen Recht steht das erlangte (ius acquisitum) gegenüber, das auf der vertraglichen Einwilligung beider Vertragspartner beruht. Als Beispiel für ein erworbenes Recht gibt Thomasius hier die summa potestas an. Die Einteilung des Rechts in Ius connatum und Ius acquisitum entspricht - wie Thomasius betont - der Einteilung in Naturrecht und Völkerrecht auf der einen und >bürgerlichesgesunder Vemunft< erkannt wird und sich als Norm auf Verrichtungen bezieht, die mit der vernünftigen Natur notwendig übereinkommen bzw. ihr zuwider sind,129 beruht die Erkenntnis des positiv-göttlichen Gesetzes auf der Offenbarung und betrifft die »actiones intermedias«, die mit der Natur weder übereinstimmen noch ihr zuwider sind:130 »Lex divina positiva est lex divina, hominibus per revelationem divinum publicata, ea quae necessariam connexionem cum hominis natura rationali non habent, determinans.«131 Wie ebenfalls schon ausgeführt wurde, befaßt sich die Rechtsgelehrtheit mit den offenbarten Gesetzen, soweit sie die zeitliche Glückseligkeit und die Pflichten des Menschen gegenüber anderen betreffen; die auf die ewige Glückseligkeit bezogenen offenbarten Gesetze - d.h. die eigentlichen Glaubensartikel - bleiben der Theologie überlassen. Im Gegensatz zu letzterer, die als Theologia moralis die Gebote des Dekalogs unterschiedslos lehrt, differenziert die Rechtsgelehrsamkeit die Zehn Gebote nach natürlichen und offenbarten Gesetzen.132 Nicht zuletzt von dieser Unterscheidung aus wird die systematische Funktion des Ius divinum positivum einsehbar: offenbar existieren Normen, deren Geltung einerseits für die menschliche Gemeinschaft für unverzichtbar gehalten werden, die andererseits aber nicht 128

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Siehe dazu unten III.2.4.2. Vgl. Thomasius: Institutiones jurisprudentiae divinae, 1,2,72. Vgl. Thomasius: Institutiones jurisprudentiae divinae, 1,2,64 und 71. Thomasius: Institutiones jurisprudentiae divinae, 1,2,117. Vgl. Thomasius: Institutiones jurisprudentiae divinae, 1,2,140.

192 aus der Natur des Menschen deduzierbar sind und daher nicht dem Naturrecht zugeschlagen werden können. Das Ius divinum positivum als Gegenstand seiner Rechtslehre bietet die Möglichkeit, diese Normen, soweit sie in der Heiligen Schrift promulgiert wurden, aus dem offenbarten Willen Gottes abzuleiten und damit gegen jeden Zweifel zu sichern, der ihre Geltung in Frage stellt. Das spätere Schicksal des positiv-göttlichen Rechts in den Fundamenta scheint diese Lesart zu unterstützen, denn obwohl Thomasius hier das Ius divinum positivum als Gegenstand seiner Rechtslehre aufgibt, hält er doch an den ihm zuvor zugeordneten Normen fest, indem er wie das Beispiel der Ehegesetze exemplarisch belegt - sie jenseits der göttlichen Offenbarung neu fundiert. Diese sachliche Notwendigkeit des positivgöttlichen Rechts133 belegt, daß das Verhältnis zwischen Ius naturae und Ius divinum positivum als aufeinander abgestimmtes Zusammenspiel betrachtet werden muß, und nicht als »antithetisch« oder als »Geltungskonkurrenz zweier Universalrechte«134 aufgefaßt werden kann, die selbst dann, wenn sie so gegeben wäre, wie Buchholz sie beschreibt, nicht als »dialektisch« bezeichnet werden könnte. Eine solche Konkurrenz wäre nur dann überhaupt denkbar, wenn die Normen beider Rechte einander widersprächen, da sie beide aber letztenendes im Willen Gottes gründen, müßte diesem dann Widersprüchlichkeit unterstellt werden, eine Sichtweise, die weder aus der Perspektive des Christentums noch aus der einer Theologia naturalis nachvollziehbar ist. Die nicht zuletzt auf dieser vermeintlichen Konkurrenz basierende These von Stephan Buchholz - die antithetische Konstruktion beider Rechte intendiere die Begünstigung des positiven »ius humanum als die eigentliche Bezugsgröße dieser ganzen rechtstheoretischen Operation« erweist sich insofern bereits von seinen Voraussetzungen her als nicht tragfähig. Auf einen Ertrag der Unterscheidung zwischen natürlichem und offenbartem Gesetz macht Thomasius selbst aufmerksam, und zwar behauptet er, daß diese »distinction unbeschreiblichen Nutzen hat in Erörterung der sonst überaus schweren controversien, von Pflicht des Fürsten in Betrachtung dergleichen Gebote, und ob er macht habe darinnen zu dispensiren oder nicht, oder von der Macht und Gewalt Gesetze zu geben«.135 Weil Thomasius jedoch auf nähere Ausführungen verzichtet, bleibt unklar, was diese Differenzierung genau leistet, dies umso mehr als beide Gesetze der menschlichen Willkür prinzipiell entzogen sind. Die lex divina positiva kann nur von Gott als ihrem Urheber verändert werden, und nur er ist befugt, Aus-

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Vgl. Schneiders: Naturrecht und Liebesethik, S. 105. n< Buchholz: Recht, Religion und Ehe, S. 60f. Thomasius: Göttliche Rechtsgelahrheit, 1,2,40. 134

193 nahmen ihrer Geltung zu gestatten,136 und das Ius naturae gilt wegen der Unveränderlichkeit der menschlichen Vernunftnatur überhaupt als immutabel und indispensabel,137 so daß im Hinblick auf die von Thomasius erwähnten Kontroversen eigentlich nur eine Unterscheidung von göttlichem und menschlichem Recht diesen »unbeschreibliche Nutzen« haben kann, es sei denn, Thomasius gesteht - was im Moment allerdings noch nicht absehbar ist - dem menschlichen Gesetzgeber in der Realisierung göttlicher Gesetze doch noch einen gewissen Entscheidungsspielraum zu. Ebenso wie das positiv-göttliche Recht verdankt sich das Naturrecht der Urheberschaft Gottes:138 Gott als Schöpfer des Menschen hat gewollt, daß der Mensch vernünftig sei und seine Handlungen einer Norm unterwerfe. Daraus folgt »wenn kein widerwertiger Schluß daraus entstehen soll, daß Gott solche Verrichtungen habe gebieten wollen, welche die vernünftige Natur nothwendig befördern, und dasjenige verbieten wollen, was derselben zuwider ist«.139 Von daher ist als oberstes Gebot formulierbar: »Fac ea, quae necessario conveniunt cum natura hominis rationali, et, quae eidem repugnant, omitte.«140 Diese Norm ist im Gegensatz zu den qua revelatione erkennbaren positiven Gesetzen Gottes den Menschen nicht unmittelbar gegeben, sondern muß, wie Thomasius mit seiner Ableitung selbst vorfuhrt, mit Hilfe der recta ratio aufgefunden werden. Die gesunde Vernunft liest gleichsam, was als Naturrecht dem Menschen ins Herz geschrieben steht.141 Thomasius hält an dieser auf Paulus zurückgehenden metaphorischen Formulierung wohl nicht zuletzt deshalb fest, weil sie zwei wichtige Aspekte seiner frühen Naturrechtskonzeption sinnfällig macht. Zum einen trägt sie der Tatsache Rechnung, daß das Naturrecht sich nicht menschlicher Urheberschaft verdankt, sondern sich letztlich vom Willen Gottes herleitet: Gott als Creator ist hier Autor oder Scriptor der Herzensinschrift und damit Legislator. Zum anderen weist die Metapher daraufhin, daß die Richtschnur des Naturrechts nicht außerhalb des Menschen, sondern in der Natur des Menschen selbst zu finden ist, und daß der Mensch in der Lage ist, ohne den Umweg Uber eine Gotteserkenntnis aus eigenen Kräften sowohl die Richtschnur des Naturrechts als auch seine einzelnen Normen zu erkennen. Indem die Natur des Menschen in erster Linie als Vemunftnatur aufgefaßt wird142 weist Thomasius der Vernunft eine doppelte Funktion zu: einer136 137 138 139 140 141 142

Vgl. Thomasius: Institutiones jurisprudentiae divinae, 1,2,118. Vgl. Thomasius: Institutiones jurisprudentiae divinae, 1,2,98. Vgl. Thomasius: Institutiones jurisprudentiae divinae, 1,3,6. Thomasius: Göttliche Rechtsgelahrheit, 1,2,72. Thomasius: Institutiones jurisprudentiae divinae, 1,2,7. Vgl. Thomasius: Institutiones jurisprudentiae divinae, 1,2,97 sowie 1,4,28. Vgl. Thomasius: Institutiones jurisprudentiae divinae, 1,4,51.

194 seits ist sie Mittel zur Erkenntnis der Norm, andererseits aber ist sie insofern deren Grundlage, als die naturrechtliche Norm aus ihrem Wesen abgeleitet wird. Die recta ratio als Erkenntnismittel bezieht sich autoreflexiv auf sich selbst, um qua Selbsterkenntnis zur Formulierung von Handlungsnormen zu gelangen, die als naturrechtliche aufgrund ihrer Herkunft vernunftrechtliche sui generis sind. Maßstab ist dabei nicht die empirische corrupta ratio, sondern die corrupta ratio, insofern sie unter den Bedingungen des status corruptus überhaupt noch eine recta ratio sein kann. D.h., um sinnvolle Normen für den Stand nach dem Fall formulieren zu können, geht Thomasius zwar von einer prinzipiell verderbten Vernunft aus, orientiert sich aber am Wesen einer verderbten Vernunft in ihrer unter den gegebenen Bedingungen größtmöglichen Richtigkeit oder Vollkommenheit.143 Mit dieser metaphysischen Konstruktion,144 die dem empirischen Menschen Normen nach Maßgabe des Wesens der menschlichen Vernunft vorschreibt, gelingt es Thomasius, den Zirkel zu vermeiden, den Stephan Buchholz ihm zu Unrecht vorwirft.145 Buchholz' Interpretation läßt die metaphysische, eindeutig teleologische Dimension der Konstruktion außer acht; sie will Thomasius die Absicht nachweisen, die Position des positiven Rechts und damit die Stellung des Fürsten als Gesetzgeber auf Kosten des Naturrechts aufzuwerten. Thomasius soll dies leisten, indem er bewußt das Naturrecht einerseits theoretisch-systematisch unbefriedigend fundiert und es andererseits materiellrechtlich dürftig ausstattet. Im Rahmen einer absolutistischen, auf Stabilität abzielenden Staatskonzeption ist an ein kritisches Naturrecht in der Tat nicht zu denken. Ob Thomasius allerdings von vornherein und nur im politischen Interesse des absolutistischen Fürsten handelt, ist allerdings doch sehr fraglich. Thomasius' formale Bestimmungen sind angewiesen auf inhaltliche Konkretisierungen. Wenn geboten ist, daß eine Handlung mit der Vernunft übereinkommt und sie dies leistet, soweit sie »an sich selbst den Frieden und

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»Igitur nos quidem primario considerabimus naturam hominis prout est, corrupta nimirum, at, [...] suo modo adhuc recta.« Thomasius: Institutiones jurisprudentiae divinae, 1,4,49. Vgl. auch Schneiders: Naturrecht und Liebesethik, S. 105. So behauptet Buchholz: »Das Problem des Zirkels, das immer über den diversen Naturrechtsbegründungen schwebt, drängt sich bei Thomasius geradezu auf: der Erkenntnisvorgang der >recta ratio< richtet sich auf die >convenientia cum natura hominis rationale, um die Norm des Naturrechts zu gewinnen; die >norma legis naturalis< ist aber die >naturalis ratio< (die Gemeinvernunft als »ipsa humani generis conditio« entsprechend seiner abstrakten Anthropologie), das Gesetz - als moralisches Regulativ des menschlichen Handelns - ist die Norm für den Menschen und der Mensch gleichzeitig die Norm für das Gesetz.« Buchholz: Recht, Religion und Ehe, S. 74f.

195 die Ruhe des menschlichen Geschlechts befördert«,146 das Konvenienzgebot also umformulierbar ist in die Forderung, Friede und Ruhe des menschlichen Geschlechts zu fördern, dann muß der Zusammenhang von Vernunft und menschlicher Gesellschaft aus der Vernunft selbst notwendig demonstrierbar sein. Thomasius gelingt dies, indem er Vernunft als immer schon notwendig auf Gesellschaft bezogen auffaßt. Vernunft ist Denken und Denken als die Verknüpfung von Termini bzw. Propositionen ist immer auf Worte angewiesen, die sinnvoll nur innerhalb einer Kommunikationsgemeinschaft fungieren können.147 Insofern kann Thomasius behaupten: »Die Vernunft ist niemahls ohne Rede. Die Rede ausser der Gesellschaft hat keinen Nutzen und die Vernunft giebt sich ausser der Gesellschaft nicht hervor«.148 Die Vernunft zielt daher immer schon notwendig auf die Gesellschaft als die Bedingung ihrer Möglichkeit, so daß »die vernünftige Natur des Menschen nichts anderes ist als die gesellige Natur des Menschen«.149 Das Konvenienzgebot, das sich zunächst auf die Vernunftnatur des Menschen bezog, kann daher entsprechend umformuliert werden: »Fac ea, quae necessario conveniunt cum vita hominis sociali, et, quae eidem repugnant, omitte«.150 Dabei wird nicht die »Zweispurigkeit von Rationalität und Sozialität«151 zugunsten der Geselligkeit einfach aufgehoben, vielmehr bleibt das Gebot, in Übereinstimmung mit der Vernunft zu handeln, in der zuletzt zitierten Konvenienzformel vor allem durch die vorgeführte Ableitung von der Vernunftnatur notwendig erhalten. Thomasius betont diesen Zusammenhang noch einmal ausdrücklich, wenn er die Deutlichkeit des obersten Gebotes beweist: »Wenn Gott gewolt hätte, daß der Mensch dasjenige nicht thun solte, was mit menschlicher Geselligkeit überein kömpt, so hätte er nicht gewolt, daß er solte vernünfftig seyn. Ein unvernünfftiger Mensch aber ist ein Wort das sich selbst widerspricht«.152 Unklar ist aber dennoch, ob die Vernunft tatsächlich das die Geselligkeit fundierende Prinzip ist, eine

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Der lateinische Text der im Reprint greifbaren 7. Auflage, Halle 1730, lautet: »Voco autem necessarium actionis cum actione convenientiam, quoties actio promovet per se pacem humani generis & tranquillitatem.« Er folgt damit der bereits in der Übersetzung von 1709 verwendeten Formulierung, während die 1. Auflage von 1688 sich offenbar an den Worten der Dissertatio De Crimine Bigamiae orientiert, denn nach den Angaben von Schneiders heißt es dort: »Voco autem necessariam actionis cum ratione convenientiam, quoties actionis omissio humano generi indulta ex necessaria consequentia produceret generis humani interitum.« Siehe Schneiders: Naturrecht und Liebesethik, S. 107. Vgl. Thomasius: Institutiones jurisprudentiae divinae, 1,4,52. Thomasius: Göttliche Rechtsgelahrheit, 1,4,54. Thomasius: Göttliche Rechtsgelahrheit, 1,4,63. Thomasius: Institutiones jurisprudentiae divinae, 1,4,64. Vgl. Buchholz: Recht, Religion und Ehe, S. 75. Thomasius: Göttliche Rechtsgelahrheit, 1,4,65.

196 Lesart, die von Werner Schneiders favorisiert wird. 153 Die Vernunft ist zwar nicht als gottgegebene Potenz, wohl aber insofern sie in ihrer Aktualisierung auf Kommunikation angewiesen ist, ein quasi sekundäres Phänomen, das Gesellschaft als Realisierung der Geselligkeit eher voraussetzt als begründet. Thomasius weist selbst darauf hin, daß die Worte, die die Vernunft zu ihrer Selbstaktualisierung bedarf, die Existenz einer Gesellschaft voraussetzen, die sich ihrer als Verständigungsmittel bedient: »Die Worte aber [...] werden den Dingen gegeben von den Menschen, welche in einerley Gesellschafft leben«. 154 Diese Gesellschaft scheint sich einer ihr vorausliegenden Geselligkeit als Neigung zur Gesellschaft zu verdanken. »Geselligkeit«, so stellt Thomasius ohne Berufung auf die Vernunft fest, »aber ist eine allgemeine dem menschlichen Geschlecht von Gott eingepflanzte Neigung, wodurch der Mensch verlangen trägt mit andern Menschen ruhig und glückselig zu leben«.155 Insofern ist die Geselligkeit ein eigenständiges Vermögen, das ohne die Vernunft begründbar ist und daher nicht als bloße »Eigenschaft der Vernunft« aufgefaßt werden darf. Vernunft und Geselligkeit sind zwei miteinander eng verknüpfte und dennoch - auch in naturrechtlicher Perspektive - voneinander geschiedene Prinzipien. 156 Thomasius ist demnach in der Lage, das zitierte oberste Gebot des Naturrechts auch ohne die Herleitung aus der Vernunft allein aus dem Geselligkeitsprinzip zu begründen. Daß er dies dennoch nicht tut, wirft ein bezeichnendes Licht auf die eminente Bedeutung, die er selbst der Vernunft in der Begründung des Naturrechts zuweist. Insofern ist das Naturrecht von Thomasius in der Tat ein »Naturrecht der Vernunft«. 157 Die menschliche Vernunftnatur weist im Hinblick auf die Gesellschaft drei verschieden gewichtete Implikationen auf: 1. Sie erfordert, insofern sie zu ihrer Realisierung auf Kommunikation angewiesen ist, eine Gesellschaft als Kommunikationsgemeinschaft. 2. Die Vernunft bzw. die Kommunikation bedarf als Bedingung ihrer Realisierung nicht nur irgendeiner Gesell153

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So heißt es bei Schneiders: »Doch kann diese durch die enge Verknüpfung von Vernunft und Geselligkeit ermöglichte Bestimmung des Naturrechts nicht darüber hinweg täuschen, daß Thomasius' Naturrecht der Geselligkeit im Grunde ein Naturrecht der Vernunft ist. Geselligkeit ist zwar ein Hauptmerkmal der Vernunft, und Vernünftigkeit kann folglich durch Geselligkeit näherhin bestimmt werden; dennoch ist Geselligkeit eben nur eine Eigenschaft der Vernunft, die selbst das letzte, wenn auch nur formale Prinzip des Naturrechts bleibt. Geselligkeit ist vernünftig, weil Vernunft gesellig ist.« Schneiders: Naturrecht und Liebesethik, S. 111. Thomasius: Göttliche Rechtsgelahrheit, 1,4,52. Thomasius: Göttliche Rechtsgelahrheit, 1,4,55. Unterstützt wird diese Lesart durch Thomasius' Ausführungen in der Einleitung zur Sittenlehre (Halle 1692. Reprint: Ausgewählte Werke. Band 10. Hildesheim, Zürich, New York 1995), vgl. dortS. 91ff. Schneiders. Naturrecht und Liebesethik, S. 111.

197 schafl, sondern einer ruhigen und friedlichen Gesellschaft. Vernunft entfaltet hier eine unmittelbare normative Wirksamkeit, die sich noch in der Staatstheorie niederschlägt.158 3. Wenn Thomasius behauptet, eine friedliche Gesellschaft sei nicht zuletzt deshalb notwendig, weil in einer unruhigen sich nicht »vernünffteln«159 läßt, dann wird hier die Verwirklichung der Vernunft selbst als Zweck der Gesellschaft greifbar. Dieser Aspekt wird von Thomasius nur knapp angedeutet, obwohl sich die Frage, ob und inwieweit die Vernunft sich materiell in einer Gesellschaft umsetzt, inwieweit schließlich Vernunft selbst Zweck der Gesellschaft ist, durchaus im Raum steht. Bisher fungierte die Vernunft eher als formale Begründungskategorie. Die Gesellschaft als eine »verniinfftelnde« oder zugespitzt als >philosophische< weist als Konzept über den rechtstheoretischen Rahmen der Institutiones hinaus. Allerdings hat es den Anschein, als käme Thomasius in der Einleitung zur Sittenlehre auf dieses Konzept - freilich in verwandelter Form - noch einmal zurück. Zumindest spielt der Zusammenhang von Geselligkeit bzw. Gesellschaft und Vernunft vermittelt über den kommunikativen Charakter der Vernunft im Umfeld der Theorie von der vernünftigen Liebe noch einmal eine Rolle.160 Nicht zuletzt aus staatstheoretischer Perspektive stellt sich die Frage nach dem Verhältnis zwischen dem Jus humanum als dem im engeren Sinn positiven Recht und dem Jus naturae. Thomasius selbst hat in den Institutiones dieser Frage erstaunlich wenig Beachtung geschenkt. Seine Ausführungen zur Herkunft naturrechtlicher Normen und ihrer damit verbundenen Immutabilität und Indispensabilität hält Thomasius offensichtlich für hinreichend, um sowohl die Verbindlichkeit des Naturrechts als göttliches Recht zu begründen als auch die prinzipielle Widerspruchsfreiheit zwischen Ius naturae und Ius humanum zu postulieren. Immerhin stellen zwei von den drei Büchern der Institutiones naturrechtliche Pflichten dar, deren Geltung für Thomasius außer Frage steht. Und so ist es in erster Linie die Funktion des positiven Rechts, die Realisierung der naturrechtlichen Normen zu ga158 159

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Vgl. dazu die Ausführungen zum Endzweck des Staates unten III.2.2. Thomasius: Göttliche Rechtsgelahrheit, 1,4,55. »Igitur, dum hominem rationalem dicimus, idem est, ac si dicamus socialem. Socialitas vero est inclinatio communis, toti humano generi a Deo indita, vi cujus desiderat vitam aliis hominibus beatam et tranquillam. Cur vero tranquillam? quia in statu turbulento, qua tali ratiocinamur«. Thomasius: Institutiones jurisprudentiae divinae, 1,4,55. Vgl. dazu Thomasius* Einleitung zur Sittenlehre, Halle 1692, worin Thomasius die vernünftige Liebe als die »Vereinigung gleicher Gemüther, die das gröste Gut besitzen« (S. 88), nämlich die Glückseligkeit als »ruhige und mäßig sich verändernde Gedanken« (§62), und die Vernunft als »auf Geselligkeit angelegte als innerliche und äußerliche Rede« (vgl. S. 89) in einen genauen Zusammenhang bringt. Vgl. zum Konzept der vernünftigen Liebe ausführlich Schneiders: Naturrecht und Liebesethik, S. 143ff.

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rentieren, und zwar im Bedarfsfall mit der Hilfe von Zwangsmitteln. Denn »ob wohl das natürliche Gesetz gebeut, daß die Menschen niemand kein Unrecht thun sollen, ob auch gleich dasselbe zur Gnüge einblauet, daß wer den andern beleidiget, der Straffe nicht entgehen werde, so kan doch die Ehrfurcht, die man vor diesem Gesetz hat, den Menschen nicht verschaffen, daß sie bey ihrer natürlichen Freyheit in gnugsamer Sicherheit leben können [...]. Und weder die Furcht vor Gott, noch das beissen ihres bösen Gewissens kräftig gnug ist, aller Menschen Bosheit im Zaum zu halten, aldieweil sich nur auffs gegenwärtige sehen, umbs zukünftige aber sich wenig bekümmern, und allein durch die Dinge sich bewegen lassen, die in die äuserlichen Sinne fallen«.161 Stellt man die Frage nach dem Verhältnis zwischen Ius naturae und Ius humanuni mit Blick auf die den status civilis kennzeichnende Dichotomie von imperans und subditus, dann ist feststellbar, daß das Naturrecht - wie das göttlich positive Recht - über das primum principium practicum »Gehorche dem der dir zu befehlen hat« (»Imperanti Pare«)162 zum einen den Untertanen verpflichtet, sowohl Gott als auch dem Fürsten als seinen imperantes zu gehorchen und damit den Geltungsanspruch des positiven Rechts anzuerkennen,163 zum anderen aber den Fürst dazu verbindet, sich den Gesetzen Gottes zu unterwerfen. Dementsprechend ist der Fürst zwar nicht an die von ihm selbst gegebenen Gesetze gebunden, wohl aber an die von Gott unmittelbar gegebenen positiv-göttlichen Gesetze und an das auf Gott zurückgehende Naturrecht. Allerdings wird der Fürst durch das Naturrecht nur innerlich verpflichtet, so daß denkbare Kollisionen zwischen positivem Recht und Naturrecht zumindest praktisch weitgehend folgenlos bleiben. Dies garantiert auf der einen Seite das primum principium practicum und auf der anderen Seite die Souveränität des Fürsten. Aus der Verletzung des Naturrechts wächst dem Untertanen kein subjektives Recht zu, das er gegenüber dem Souverän einklagen könnte, ihm stehen keine Institutionen zur Seite, die ihm die notwendigen Rechts- und Zwangsmittel bieten könnten. Der Fürst ist zwar an die Gesetze Gottes gebunden, aber auch nur Gott gegenüber zur Rechenschaft verpflichtet.164

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Thomasius: Göttliche Rechtsgelahrheit, 111,6,24. Thomasius: Göttliche Rechtsgelahrheit, 1,3,34. Siehe dazu die zutreffende Feststellung von Peter Krause, das NaturTecht der Aufklärung weise den Geltungsanspruch des positiven Rechtes nicht zurück, sondern begründe ihn. Peter Krause: Naturrecht und Kodifikation. In: Ders. (Hrsg.): Vernunftrecht und Rechtsreform. (Aufklärung. Jahrgang 3, Heft 2.) Hamburg 1988, vor allem S. 23, aber auch S. 17. Siehe dazu die kritische Einschätzung in Buchholz: Recht, Religion und Ehe, S. 77f.

199 1.3.3. Gott als Quelle und Garant des Rechts Bei aller anvisierten Abgrenzung juristischer Theoriebestände von theologischen fallen Gott auch in der Rechtstheorie der Institutiones noch entscheidende Funktionen zu. Dies ist jedoch insofern kein Widerspruch, als Gott von der Warte einer theologia naturalis gedacht wird und die prima causa alles Seienden darstellt; er wird auf diese Weise - wie schon bei Grotius und bei Pufendorf - zu einem Postulat der Vernunft: »Alles was in der Welt zu finden ist nicht von sich selbst, sondern von einem andern, wir befinden aber, daß auch dasjenige, wovon etwas anders ist, nicht von sich selbst seyn könne, und so weiter. Darumb ist von nöthen, weil der Verstand nicht leidet, daß man in Untersuchung der Ursachen ohne Ende und auffhören fortgehe, daß wir bey einer ersten Ursache still stehen. Dieselbige aber ist Gott«.165 Der Wille Gottes, von dem Thomasius »nur nach Menschen weise« reden will - »Gott hat eigentlich keinen Willen«166 - fungiert in der Rechtstheorie der Institutiones als Quelle und als Garantieinstanz des Rechts. Gott hat den Menschen als vernünftige Kreatur geschaffen, die als solche ihre Handlungen einem Gesetz unterwerfen muß: »Es reimet sich nicht mit dem Wesen einer lebendigen vernünftigen Creatur, daß sie ohne Gesetz lebe«.167 Daher kommt Gott als Creator - wie die Vernunft zu erkennen gibt - eine legitime Herrschaft über den Menschen zu, die er darüber hinaus auch tatsächlich ausüben will. Gott will - so stellt Thomasius in einer geradezu pointiert antiepikuräischen Wendung fest - »sich menschlicher Geschäfte annehmen«168 und gibt den Menschen unmittelbar durch die Offenbarung positive Gesetze und mittelbar durch die Erschaffung einer bestimmten Menschennatur natürliche Gesetze, die der Mensch in Liebe zu Gott und in Furcht vor seiner Strafe befolgen soll. Gott ist jedoch nicht nur Urheber dieser göttlichen Gesetze, sondern mehr noch: alles »Menschen Recht aber muß ursprünglich von dem Willen Gottes, und überhaupt von dem Willen des Oberherrn hergeleitet werden, welcher so fern er der Freyheit Raum lässet, ein Recht hervorbringt, so fern er sie aber einschränket, so heisset es ein Gesetz und ist ein Ursprung der Verbindnis«.169 Insofern kann Thomasius feststellen: »legum omnium fons est voluntas divina«.170 Denn die Befugnis, positives Recht zu schaffen, erhält der Mensch letztlich nur »ex concessione divina« und die Verbindlichkeiten, die damit etwa nach dem Vertragsmodell hergestellt werden, gelten strenggenommen nur, weil Gott einerseits die Geltung 165 166 167 168 169 170

Thomasius: Thomasius: Thomasius: Thomasius: Thomasius: Thomasius:

Göttliche Rechtsgelahrheit, 1,3,48. Göttliche Rechtsgelahrheit, 1,2,6 Fn. d. Göttliche Rechtsgelahrheit, 1,3,75. Göttliche Rechtsgelahrheit, 1,3,72. Göttliche Rechtsgelahrheit, 1,1,85. Institutiones jurisprudentiae divinae, 1,2,85.

200 positiver Gesetze will und eben auch die Vertragstreue gebietet171 und andererseits Recht als »absolute d.h. übergesetzliche Urmacht«172 garantiert: »Kein Verbindnis hat stat, wo kein Oberherr ist, am allerwenigsten aber, wenn kein Gott wäre. Woraus abermahls folget, daß die Verbindnis nicht eigentlich aus den Verträgen entstehet«.173 Wenn Thomasius dem als Erläuterung in einer Fußnote noch hinzufügt »weil Verträge unter gleich und gleich auffgerichtet werden«,174 dann wird hier ein Argument hervorgehoben, das für seine Rechtstheorie überhaupt kennzeichnend ist und insofern noch seine Staatstheorie betrifft: Recht bedarf einer übergeordneten Instanz, die seine Geltung und Durchsetzung garantiert; ein Aspekt, der bereits in der Definition des Gesetzes als Gehorsam erzwingender Befehl unübersehbar war. Eine andere Funktion Gottes offenbart eine weitere Anmerkung zu §136, es heißt dort: »Denn wenn kein Gott wäre, würden anderer Ober ihre Gesetze nur so lange eine Furcht zu wege bringen, so lange sie mächtig sind«.175 Hier wird deutlich, daß die sich nicht zuletzt in der menschlichen Liebe zu Gott und der Furcht vor seinen Strafen artikulierende Existenz Gottes sozial disziplinierend wirkt, was im Hinblick auf das Gemeinwesen als nicht zu unterschätzendes Stabilisierungsmoment zum Tragen kommt.176 Die Existenz Gottes und seine kollektive Anerkennung als normative Instanz schafft einen gesellschaftlichen Grundkonsens, der einerseits die weltliche Obrigkeit von der permanenten Aktualisierung ihrer Macht befreit und andererseits soziales Handeln vereinfacht, weil es auch ohne die ständige Zuhilfenahme von Rechtsmitteln berechenbar wird. Indem Gott als »Garant des rechtlichen Geordnetseins dieser Welt«177 aufgefaßt wird, muß jede atheistische Position auf eine Zerstörung des »funaments der moralität «178 hinauslaufen. Thomasius' unduldsame Haltung gegenüber Atheisten und Spinozisten - dokumentiert etwa in der Auseinandersetzung mit Ehrenfried Walther von Tschirnhaus und Theodor Ludwig

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Vgl. dazu Karl Heinz Dries: Die Rechtslehre des Thomasius, unter besonderer Berücksichtigung seines Rechtsbegriffes. Diss. Köln 1963, S. 21 f. Schneiders: Naturrecht und Liebesethik, S. 101.

Thomasius: Göttliche Rechtsgelahrheit, 1,1,136. Thomasius: Göttliche Rechtsgelahrheit, 1,1,136,Fn h. 175 Thomasius: Göttliche Rechtsgelahrheit, 1,1,136,Fn g. 176 »Es ist aber unser Absehen nicht zu behaupten, daß die Religion eine blosse bürgerliche Erfindung sey, sondern daß selbige vielmehr zu allen Dingen nutze ist, und sonderlich das Band bürgerlicher Gesellschafft zusammenhält.« Thomasius: Von der Pflicht eines Evangelischen Fürsten, die Besoldungen und Ehren-Stellen der Kirchen-Diener zu vermehren. 177 In: Auserlesene deutsche Schriften. Teil 2, S. 395. Buchholz: Recht, Religion und Ehe, S. 70. 178 Thomasius: Göttliche Rechtsgelahrheit, 1,3,88. 174

201 Lau179 - dürfte hierin ihre eigentliche Begründung finden. Günter Gawlick hat zwei diskutable Gründe für Thomasius' Kampf gegen Spinozisten und Atheisten vorgeschlagen.180 Die hier gebotene Begründung verleiht dem zweiten Vorschlag Gawlicks - die Inanspruchnahme der Freiheit des Verstandes ist gebunden an die Anerkennung Gottes als Oberherrn - eine rechtstheoretische Dimension. Die Anerkennung Gottes ist hier noch die Basis, auf der sowohl Verständigung als auch soziales Handeln letztlich nur möglich sind; der Vernunft allein wird offenbar nicht zugetraut, eine solche tragfUhige Basis zu schaffen. Der Atheismus aber kann als Aufkündigung dieses Grundkonsenses begreiflicherweise nicht geduldet werden.181 Was Gawlick als »strukturellen Mangel«182 sowohl für Thomasius' Theorie als auch für andere Theorien der Toleranz und Denkfreiheit konstatiert, ist eigentlich kein Bruch in der Theorie, sondern bezeichnet die definitive Grenze der Toleranz, die sich aus der Sicht etwa von Thomasius notwendig ergibt.183 179 Vgl. Günter Gawlick: Thomasius und die Denkfreiheit. In: Schneiders (Hrsg.): Christian Thomasius, S. 262ff. Zur Auseinandersetzung mit Tschirnhaus siehe Jean-Paul Wurtz: Tschirnhaus und die Spinozismusbeschuldigung. Die Polemik mit Christian Thomasius. In: Studia Leibnitiana. Jahrgang 13, Heft 1. Wiesbaden 1981. Zu Thomasius' Haltung im Fall Lau siehe: Thomasius: Elender Zustand eines in die Atheisterey verfallenen Gelehrten. In: Theodor Ludwig Lau (1670-1740): Meditationes philosophicae de Deo, Mundo, Homine (1717). Meditationes, Theses, Dubia philosophico-theologica (1719). Dokumente. Mit einer Einleitung herausgegeben von Martin Pott. Stuttgart-Bad Cannstatt 1992. Vgl. auch Gottfried Stiehler: Beiträge zur Geschichte des vormarxistischen Materialismus. 180 Berlin 1961. Siehe Gawlick: Thomasius und die Denkfreiheit, S. 270-272. 181

Interessanterweise war dies nicht Thomasius* letztes Wort. In der posthum erschienenen Vollständigen Erläuterung der Kirchenrechts-Gelahrtheit (zuerst erschienen 1738) beschreibt er die Atheisten als emsthafte und stille Melancholiker, denen »niemand wegen ihres äusserlichen Wandels was Büses nachreden kann« (S.59). Und mit Blick auf den inneren Frieden des Gemeinwesens hält er schließlich die Sanktionsgewalt eines auf äußere Schädigungen reagierenden Strafrechts für ein ausreichendes Sicherungsmittel: »Dann was gehet es andere Leute an, daß einer so gottlos ist? Schadet aber ein solcher Mensch anderen Leuten, so wird er von dem Fürsten wegen des Schadens gestrafet« (S.67). Christian Thomasius: Vollständige Erläuterung der Kirchenrechts-Gelahrtheit. 2. Auflage Frankfurt und Leipzig 1740, Reprint Aalen 1981. 182 183 Gawlick: Thomasius und die Denkfreiheit, S. 272. Thomasius' Argumentation trifft sich in gewisser Hinsicht mit der von Locke, der den Atheisten die Auflösung aller gesellschaftlichen Bindungen vorwirft und von daher ihren Ausschluß von der Toleranz rechtfertigt. Siehe John Locke: Ein Brief über Toleranz. Hamburg, 2. Auflage 1967, S. 95. Auch Christan Wolff empfiehlt - bei aller Reserve gegen vorschnelle »Atheistenmacherey« - Gottesleugner nicht zu dulden (vgl. Deutsche Politik §368): »allein da die Furcht Gottes, welche durch die Religion besteht, es mag eine kindliche oder knechtische seyn, gleichwohl den Menschen verbindet, das Gute zu thun und das Böse zu lassen, was er wegen seiner Unwissenheit und aus Mangel der Einsicht in die Beschaffenheit der freyen Handlungen nicht thun, noch lassen würden; so hebet man doch durch die Atheisterey die Verbindlichkeit auf, welche bey den meisten den grösten Nach-

202 1.4. Consilium et imperium: Zur Rechtstheorie der Fundamenta Nach der Überwindung seiner »religiösen Krise« arbeitete Thomasius ein neues Naturrechtssystem aus, das auf der Grundlage neu gewonnener Erkenntnisse die Institutiones in ihren rechtsphilosophischen Voraussetzungen ersetzt und ihre naturrechtliche Pflichtenlehre auf dieser Basis verändert und verbessert. Die Fundamenta juris naturae et gentium von 1705 wollen endgültig jene Irrtümer im Natur- und Völkerrecht beseitigen, die noch vom »scholastischen Unflath«184 herrühren und sich sowohl bei Grotius und Pufendorf als auch in den Institutiones finden. Drei Neuerungen hält Thomasius selbst in der Vorrede für zentral: 1. Auf voluntaristischer Grundlage wird das Verhältnis zwischen Wille und Verstand neu bestimmt und damit der Rechtstheorie eine neue anthropologische Basis geschaffen.185 2. Der Begriff des Gesetzes wird neu gefaßt, so daß die göttlichen Gesetze - Naturund Völkerrecht - nur noch als Gesetze in einem weiteren Sinne betrachtet werden, während die mit tatsächlicher Straf- und Zwangsgewalt ausgestatteten menschlichen Gesetze als Gesetze im engeren Sinn gelten.186 3. Theologie und Jurisprudenz werden endgültig voneinander getrennt: Natur und Offenbarung sind zwei verschiedene Prinzipien, die nicht miteinander vermengt werden dürfen. Als Folge dieser kategorialen Trennung verliert das Jus divinum positivum seine juristische Relevanz; Thomasius erkennt es nach genauerer Überlegung als »figmentum« und rühmt sich, nachdem er der erste war, der es als Gesetz begründete, nun wiederum der erste zu sein, der dies als Irrtum erkennt.187 Hinzu kommt, daß sich der naturrechtliche Neuansatz mit einer methodischen Neuorientierung verbindet: Thomasius will sein Natur- und Völkerrechts - wie der Titel bereits ausweist - »ex sensu communi« deduzieren oder, wie es in der deutschen Übersetzung heißt »nach dem sinnlichen Begriff aller Menschen« vorstellen. Diese methodische Vorgabe scheint insgesamt weniger für einen methodisch dezidierten Empirismus als Erkenntnis-

druck hat.« (Deutsche Politik §369) In diesem Zusammenhang ist noch die Auffassung interessant, die der Atheisterey-Artikel in Zedlers Universal-Lexicon dokumentiert. Der Verfasser erkennt im Atheismus ein »grosses Elend«, das jeder verabscheuen wird, »dem seine eigene Wohlfahrt lieb ist«. Strafwürdig ist der Atheismus als Irrtum jedoch nicht, »werde aber dergleichen Lehren verbreitet, und hierdurch andre Leute verführet«, dann kann der Irrlehren propagierende Atheist »mit gutem Recht mit öffentlicher Strafe belegt werden«, allerdings nicht als Atheist, sondern nur als Aufrührer. (Band II, Sp. 2023) 184

Thomasius: Grund-Lehren des Natur- und Völcker-Rechts, Vorrede §1. Vgl. Thomasius: Grund-Lehren des Natur- und Völcker-Rechts, Vorrede §§6,23. 186 Vgl. Thomasius: Grund-Lehren des Natur- und Völcker-Rechts, Vorrede §9f. 187 Vgl. Thomasius: Grund-Lehren des Natur- und Völcker-Rechts, Vorrede §16f. 185

203 prinzip einzutreten, als vielmehr Allgemeinverständlichkeit188 und unmittelbar praktische Relevanz anzuvisieren, die Thomasius zu sichern sucht, indem er von der »täglichen Sinnligkeit« (»sensus quotidianus«) ausgeht.189 So beabsichtigt er »allenthalben der gemeinen Sinnligkeit zu folgen«, und ist »nicht gesonnen [...], solche Meinungen auffs Tapet zu bringen, die vieler subtilen abstractionen benöthiget seyn, sondern deren Wahrheit ein ieder, der nur ein wenig fleißiger acht haben wil, bey sich selbst empfindet«.190 Zweifellos verschafft sich Thomasius mit dem über die »gemeine Sinnligkeit« geleisteten Rekurs auf eine »empiristische Psychologie und Anthropologie«191 eine neue und erweiterte materielle Basis, die er jedoch letztenendes - wie zu zeigen sein wird - wieder in ein metaphysisches Konzept einbindet.192 Für seinen naturrechtlichen Neuansatz konnte Thomasius auf eigene Vorarbeiten zurückgreifen. In diesem Zusammenhang ist vor allem auf theoretischen Erträge der Oberservationes selectae hinzuweisen, die von 1700 bis 1705 als Periodikum erschienen sind.193 Vor allem die 12. Observatio aus dem Jahre 1700 - »Natura hominis. Liberias voluntatis. Imputatio in poenam« - und die 27. von 1702 - »Natura legis tarn divinae, quam humanae« - wurden von der bisherigen Forschung als Vorstufen zu den Fundamenta bestätigt.194 Zu den Vorarbeiten muß jedoch auch der Summarische Entwurff derer Grundlehren von 1699 gerechnet werden,195 in dem bereits erstaunlich viele Bestimmungen vorliegen, die im allgemeinen für Spezifika der Fundamenta gehalten werden. Dazu gehört etwa die Unterscheidung von Toren oder Narren einerseits und Weisen andererseits, wobei bereits hier den letzteren die Aufgabe zufällt, den Narren auf den rechten Weg zu helfen, denn ein Weiser soll sich befleissigen, »denen so in der Thorheit ste188

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Vgl. Thomasius: Grund-Lehren des Natur- und Völcker-Rechts, Vorrede §22. Thomasius: Grund-Lehren des Natur- und Völcker-Rechts, Vorrede §29. Wobei der im Titel exponierte »sensus communis« nicht das »allgemein Anerkannte als Kriterium der Wahrheit« meint - wie Röd in Geometrischer Geist und Naturrecht behauptet (S. 152) sondern zunächst nur das allgemein Nachvollziehbare. Thomasius: Grund-Lehren des Natur- und Völcker-Rechts, Vorrede 26. Röd: Geometrischer Geist und Naturrecht, S. 151. Siehe dazu auch Wolfgang Röd, der die Fundamenta wegen ihrer erkenntnistheoretischen Grundlagen einerseits für eine »Zäsur in der Entwicklung der Naturrechtslehre« (S. 151) hält, andererseits aber die metaphysische Verankerung der Rechts- und Staatsphilosophie einräumt. Röd: Naturrecht und geometrischer Geist, S. 152. Siehe Gertrud Schubart-Fikentscher: Unbekannter Thomasius. Halle 1954, besonders S. 45-54. Vgl. dazu ausführlich Buchholz: Recht, Religion und Ehe, S. 134-155; aber auch Wolfgang Wiebking: Recht, Reich und Kirche in der Lehre des Christian Thomasius. Diss. Tübingen 1973, München 1973, S. 66ff. und Schneiders: Naturrecht und Liebesethik, S. 239f. Siehe dagegen Schneiders: Naturrecht und Liebesethik, S. 239.

204 ken, dieselbe zu benehmen, oder ihnen in ihrem Elend sonst beyzuspringen.«196 Auf die Fundamenta weist auch die Bestimmung des Gesetzes als »rechtlicher Zwang«197 voraus, der die »unweisen Leute« im Zaum halten soll, 198 ebenso die am GesetzesbegrifF orientierte Unterscheidung zwischen Lehrern und Regenten: »§1. Daß das Ampt eines Lehrers und eines Regenten gantz unterschieden sey« [...] §3. Daß das Wesen eines Regenten in dem Bestraffungs- und Zucht-Recht bestehe. §4. Daß das Wesen eines Lehrers hingegen Liebe und Sanfftmuth sey«. 199 Und schließlich wird auch die spätere Unterscheidung zwischen Naturrecht im engeren Sinn und Sittenlehre greifbar, wenn Thomasius als »Haupt-Regul« des Naturrechts die des späteren iustum angibt und, analog dazu, als Hauptregel der Sittenlehre, die des späteren honestum nennt.200 1.4.1. Die neuen anthropologischen Grundlagen: Zum Verhältnis von Wille und Verstand Thomasius' rechtstheoretischer und naturrechtlicher Neuansatz basiert in erster Linie auf neugewonnenen, während der sogenannten »religiösen Krise« erworbenen anthropologischen Erkenntnissen, von denen aus die ursprünglichen Annahmen einer - wie es zunächst scheint - durchgreifenden Revision unterzogen werden. Im Zentrum steht die Neubestimmung des Verhältnisses zwischen Wille und Verstand: Thomasius will den »alle Wissenschaften angehenden Haupt-Irrthum von der [...] Herrschafft des Ver196

Thomasius: Summarischer Entwurff, 1,11,107. Insofern stellt Werner Schneiders zu Unrecht fest: »Zwar sieht er im Summar. Entwurf der Grundlehren aus dem Jahre 1699 noch keine Möglichkeit, wie der Mensch, dessen Wesen im Willen besteht, sich natürlicherweise, d.h. aus eigener Willenskraft oder mit Hilfe anderer Menschen, sollte bessern können«. (Schneiders: Naturrecht und Liebesethik, S. 139). Da aber andererseits Schneiders' Auffassung mit Thomasius' Diktum übereinkommt, der Mensch könne »durch die natürlichen Kräfte seines Willens sein Hertz nicht reinigen« (Summarischer Entwurff 1,11,9), markiert der Text in der Theorieentwicklung von Thomasius offenkundig einen nicht uninteressanten Umbruch: einerseits ist der Mensch ohne Gottes Hilfe außerstande, zur Weisheit zu gelangen, andererseits fungiert gleichzeitig bereits der Weise als Aufklärer der Narren. Schließlich stellt Thomasius geradezu optimistisch fest: »daß kein Mensch so böse und thöricht sey, der nicht gut und weise werden könne«. (Summarischer Entwurff 1,11,15) 197 Thomasius: Summarischer Entwurff, 1,111,31. 198 Thomasius: Summarischer Entwurff, I,III,29f. 199 Thomasius: Summarischer Entwurff, I,IV.

200

»§ 18. Daß die Sitten-Lehr die Haupt-Regul habe; Was ihr wolt daß euch die Leute thun sollen, das thut ihr ihm auch, und das Recht der Natur: was ihr nicht wolt daß euch die Leute thun sollen, das thut ihr ihnen auch nicht« Thomasius: Summarischer Entwurff I,XV,18. Vgl. auch die bereits in nuce vorliegende, später systematisches Gewicht erlangende Innen-Außen-Dichotomie des Normenbezuges: »Unterschied der Sitten-Lehre, und des Rechts der Natur, der Liebe und Gerechtigkeit«. Thomasius: Summarischer Entwurff, I,XV,1.

205 standes über den Willen« beseitigen und »das gantze Gebäude der Moral« (»totum aedificium morale«)201 daher auf eine ganz andere Weise errich. „ 202 ten. Die geläufige Vorstellung vom Verstand als der normgebenden Instanz, die den Willen zur Realisierung der Norm veranlaßt, kehrt Thomasius (zunächst) um: der Verstand wird zum Erfüllungsinstrument des Willens. Der Wille wird bestimmt als »Begierde im Hertzen« (»concupiscentia in corde«) und jede Begierde wiederum ist Liebe, die ein Verlangen darstellt, »sich mit der geliebten Sache zu vereinigen.« Daher ist ein Verlangen schließlich eine »Sehnsucht etwas zu thun (conatus agendi)«.203 Dem Verstand fällt dabei die Aufgabe zu, den conatus voluntatis zu ihren Befriedigungen zu verhelfen; d.h. im hier zugrundeliegenden Zweck-Mittel-Schema ist der Zweck durch die Begierden des Willens immer schon gegeben, während der Verstand angetrieben vom Willen - die Mittel zur Realisierung dieser Begierden finden muß: »At conatus voluntatis non solum dirigit potentia locomotivum corporis, sed impellit intellectum ipsum, ut rem armatam valde consideret, & de mediis cogitet adipiscendi eam, eaque fruendi«.204 Da der Zweck notwendig auf die Mittel seiner Realisierung angewiesen ist, ist der Wille immer mit dem Verstand verknüpft, wobei der Wille als das Primäre, Zwecksetzende den Verstand bewegt: »Sed voluntas semper mo vet intellectum«.205 Der Verstand ist dabei nicht in der Lage, normative Präferenzen dem Willen gegenüber durchzusetzen.206 Was der Wille filr angenehm hält, kann der 201 202

203 204 205 206

Thomasius: Grund-Lehren des Natur- und Völcker-Rechts, Vorrede 6. Wie Thomasius ursprünglich das Verhältnis von Verstand und Willen, vor allem in seiner politischen Dimension, gedacht hat, belegt prägnant die kleine Schrift Von den Mängeln der Aristotelischen Ethic, und von andern das Jus publicum betreffenden Sachen (1688): »Denn so viel als Menschen auff der Welt leben, die leben ordentlich miteinander in einer bürgerlichen Gesellschaft verknüpfft, und haben solchergestalt nicht alleine die Pflicht, mit der sie dem ganzen menschlichen Geschlecht verbunden sind, sondern auch ihre Schuldigkeit gegen das gemeine Wesen, worinnen sie leben zu beobachten. Beydes können sie nicht füglich thun, wenn sie nicht zuvor ihren Verstand von den allgemeinen Irrthümem gesäubert haben, und der Beschaffenheit ihrer Gesellschaft, darinnen sie sich aufhalten, wohl kundig sind, dieweil der Wille niemals ohne rechtschaffene Erbauung des Verstandes was fruchtbarliches vollbringen kann, der Verstand aber, wenn er die praejudicia alberner, obschon gemeiner Gründe nicht beyseite leget, gar leichte dem Willen etwas Schädliches, als wenn es nützlich, oder was erbahres als wenn es schändlich wäre mißrathen wird.« Thomasius: Von den Mängeln der Aristotelischen Ethic. In: Kleine Teutsche Schriften, S. 75. Thomasius: Grund-Lehren des Natur- und Völcker-Rechts, 1,1,34. Thomasius: Fundamenta juris naturae, 1,1,35. Thomasius: Fundamenta juris naturae, 1,1,37. Vgl. dazu auch Schneiders: Naturrecht und Liebesethik, S. 245; Dries: Die Rechtslehre des Thomasius, S. 42. Sachlich falsch ist mit Blick auf die Fundamenta die folgende Feststellung von Klaus Luig: »Der Verstand führt die Befehle des Willens nicht blindlings aus, sondern hat Freiheit bei der Beurteilung der Frage, ob das Gewollte gut oder schlecht ist.

206

Verstand sich nicht als unangenehm vorstellen; das als angenehm Empfundene muß er als gut, das dem Willen Unangenehme als böse auffassen. 207 Ohne daß der Verstand irgend in der Lage wäre, dem Willen eine »Norm oder Richtschnur« vorzuschreiben, 208 bewegt sich der einzig von seinen Begierden getriebene Mensch in einem außermoralischen Zirkel, der für das Zusammenspiel von Wille und Verstand kennzeichnend ist: von der Begierde bewegt kann der Verstand nicht umhin, ihr einerseits - soweit ihm möglich - Befriedigung zu verschaffen und sie andererseits - und zwar irrtümlich - als moralisch gut zu qualifizieren. 209 Eine Willensfreiheit, die auf tatsächlich begründete moralische Urteile rekurrieren könnte, ist damit unmöglich: der Wille ist prinzipiell frei von den normativen Ansprüchen des Verstandes und gegebenenfalls frei von äußerlichem Zwang. Entscheidungsfreiheit im Sinne einer Fähigkeit oder Möglichkeit frei zu wählen, hat der immer schon von seinen Leidenschaften und Begierden okkupierte Wille allerdings nicht: 210 er wäre prinzipiell auch nicht die Instanz, die über das Vermögen zu urteilen verfügt, dies ist Aufgabe des Verstandes, der allerdings im voluntaristischen Konzept von Thomasius vom Willen dominiert wird und seiner traditionellen Einflußmöglichkeiten beraubt ist.211 Insofern kann der beschriebene Zirkel vom einzelnen in ihm befangenen Menschen offenbar nicht aus eigener Kraft aufgebrochen werden: er verfügt über kein Vermögen, das in der Lage wäre, moralische Urteile als handlungsleitende Normen durchzusetzen. Daran scheint auch die Tatsache zunächst nichts zu ändern, daß Thomasius eine Verstandestätigkeit ohne die Präformation des Willens explizit konzediert: »Denn der Verstand urtheilt von der Natur der Sachen, auch von dem Bösen und Guten frey, so offt er von dem Willen nicht angetrieben wird. Er stehet aber dem Willen zu Diensten, so ferne er von demselben angetrieben wird«. 212 Einen solchen Verstand, der frei vom Willen den Unterschied zwischen dem wahren Guten und dem scheinhaft

207

Der menschliche Verstand ist also mit Vernunft begabt und kann urteilen, ob das Gewollte auch gut ist, und dementsprechend die Handlungen des Menschen einrichten. Daher bedarf es einer Norm, nach der der Verstand bemessen werden kann, was gut oder schlecht ist.« Klaus Luig: Christian Thomasius. In: Stolleis (Hrsg.): Staatsdenker, S. 231. Siehe dazu auch Luig: Das Privatrecht von Christian Thomasius zwischen Absolutismus und Liberalismus. In: Schneiders (Hrsg.): Christian Thomasius, S. 152.

Vgl. Thomasius: Fundamente juris naturae, 1,1,46. Vgl. Thomasius: Fundamenta juris naturae, 1,1,96; vgl. auch 1,1,97 und 46f. 209 210 Vgl. Thomasius: Fundamenta juris naturae, 1,1,46. Der Wille hat »keine Freyheit, das ist, keine Wahl oder Willkühr« Thomasius: GrundLehren des Natur- und Völcker-Rechts, 1,1,66. 211 Vgl. dazu auch Röd: Geometrischer Geist und Naturrecht, S. 165; sowie Rüping: Die Naturrechtslehre des Christian Thomasius und ihre Fortbildung in der Thomasius-Schule. 212 Bonn 1968, S. 35. Thomasius: Grund-Lehren des Natur- und Völcker-Rechts, 1,1,64, vgl. auch 1,1,37 und 65.

208

207 Guten erkennt, bezeichnet Thomasius als »gesunde Vernunfft« (»recta ratio«), den unfreien Verstand dagegen als »verdorbene Vernunfft« (»ratio corrupta«).213 Auf diese Weise erhält Thomasius einen doppelten Verstandes- bzw. VernunftbegrifF, der unübersehbare Analogien zu der etwa von Kant später vorgenommenen Unterscheidung und Hierarchisierung von Verstand (intellectus) und Vernunft (ratio) aufweist.214 Denn der freie Verstand bzw. die freie Vernunft (recta ratio) wäre über die ihm zugestandene Fähigkeit zur Erkenntnis des Guten zu moralisch begründeten Zwecksetzungen in der Lage, während der unfreie Verstand (ratio corrupta) lediglich als Mittel zur Erfüllung heterogener Zwecke fungiert. Wenn auch die recta ratio nicht imstande ist, den Willen zu lenken - zumindest nicht ohne weiteres - räumt Thomasius immerhin die Möglichkeit der Erkenntnis des moralisch Guten prinzipiell ein, und damit ist bereits der erste Ansatz gemacht, den strikten Charakter seines voluntaristischen Konzepts zu unterlaufen. Denn klar ist, daß der Mensch einer Norm zur Vermeidung des »bellum omnium contra omnes« bedarf,215 nicht weniger klar ist aber auch, daß diese Norm zugleich erkennbar, akzeptierbar und realisierbar sein muß. Unter den Bedingungen vollständiger Willensunfreiheit als Entscheidungsunfreiheit dürfte dies jedoch nicht zu leisten sein. Thomasius kann daher nicht umhin, sein strikt voluntaristisches Konzept, das Wahlfreiheit geradezu deterministisch ausschließt, durchlässiger zu machen; so kann er notwendigerweise eben nicht - wie Schneiders behauptet - »mit der Idee, daß des Menschen Wille unfrei sei, wirklich ernst machen.«216 Vielleicht erweist sich denn auch von hier aus der in der Literatur über Thomasius allenthalben konstatierte Pessimismus als sein genaues Gegenteil: Thomasi213

213

216

Thomasius: Grund-Lehren des Natur- und Völcker-Rechts, 1,1,90. »Ratio vero ipsa, seu intellectus hominis, quando libera est, i.e. a voluntate non movetur, & ita cognoscit differentiam inter bonum verum & apparens, recta dicitur: At ubi a voluntate impulsa bonum apparens pro vero habet, dicitur ratio corrupta.« Vgl. Kant: Kritik der reinen Vernunft. Zur Bestimmung des Verstandes als »Vermögen zu urteilen«, S. 110 (B 94), zum Begriff der Vernunft als »Vermögen der Prinzipien«, S. 312 (B 356) sowie zum »praktischen Gebrauch der reinen Vernunft«, S. 676 (B 832). »Dicta hactenus ostendunt, normam actionibus humanis esse necessariam, cum maxima damna sint oritura inter homines, si quilibet ageret secundum instinctum proprium tot infinitis modis instinctui aliorum repugnatem, & revera oriturum esset parvo temporis spatio bellum omnium contra omnes.« Thomasius: Fundamenta juris naturae, 1,4,1. Siehe dazu auch Schneiders: Naturrecht und Liebesethik, S. 255; Dries: Die Rechtslehre des Thomasius, S. 55. Thomasius scheut sich in diesem Zusammenhang nicht, eine noch in den Institutiones bekämpfte Formulierung von Thomas Hobbes zu verwenden. Schneiders: Naturrecht und Liebesethik, S. 241. Siehe dagegen aber Buchholz, der der Unfreiheit des Willens eine zentrale Position innerhalb seiner Argumentationen zuweist. Buchholz: Recht, Religion und Ehe, S. 134-182. Dagegen stellt Röd zutreffend fest, daß Thomasius seine voluntaristische Position nicht tatsächlich durchhalten kann. Vgl. Röd: Geometrischer Geist und Naturrecht, S. 166.

208 us unternimmt die Begründung von moralisch und rechtlichen Normen und zeigt die Möglichkeit ihrer Realisierung unter den denkbar schlechtesten Voraussetzungen der menschlichen moralischen Disposition; damit konfrontiert er seine Theorie mit Bedingungen und Problembeständen, deren Bewältigung schließlich zum Kriterium für die Leistungsfähigkeit seiner Theorie werden. Aufklärung unter den erschwerten Bedingungen pessimistischer - genauer: realistischer - Grundannahmen nährt sich genau besehen von einem geradezu unerschütterlichen Optimismus, der sich auch in der Behauptung dokumentiert, »daß kein Mensch so böse und thöricht sey, der nicht gut und weise werden könne«.217 1.4.2. Die Auffindung der Norm und ihre Umsetzung: Der Weise als Normgeber - der Törichte als Normadressat »Alle Menschen sind von Natur thöricht und närrisch, und wenn dieses vielleicht gar zu hart klingen solte, unweise.«218 Ihren Leidenschaften - vor allem Wollust, Ehrgeiz und Geldgeiz - unterworfen, halten sie »eine augenblicke und empfindliche Kützelung der Haupt-Leidenschaft vor ein angenehmes Gut, und der Beraubung dieser Kützelung vor einen Schmertzen«.219 So leben die törichten Menchen220 von Natur aus in einem Zustand, der dem Krieg ähnlicher ist als dem Frieden.221 Sie bedürfen daher einer Norm, die geeignet ist, den ständig drohenden Krieg aller gegen alle wirksam zu unterbinden. Die Auffindung und Durchsetzung der Norm ist unter den beschriebenen anthropologischen Bedingungen prinzipiell an zwei Voraussetzungen gebunden, die sich ihrerseits auf weitere Prämissen stützen: 1. Es bedarf einer Instanz, die prinzipiell in der Lage ist, die notwendige Norm aufzufinden bzw. zu formulieren. Weil in den Fundamenta Gott als unmittelbarer Normgeber nicht mehr in Frage kommt, müssen es Menschen sein, die aufgrund ihrer Fähigkeiten dazu imstande sind: d.h. sie müssen befähigt sein, ihre ursprüngliche schlechte Willensdisposition zu überwinden, das wahre Gute mit Hilfe »gesunder Vernunft« zu erkennen und als Norm zu etablieren. 217

Thomasius: Summarischer Entwurff, 1,11,12. Vgl. auch Thomasius: Kurtzer Bericht von denen künftigen Thomasischen Collegiis und Schriffien (1705). In: Auserlesene deutsche 218 Schriften. Teil II, S. 336. Thomasius: Grund-Lehren des Natur- und Völcker-Rechts, 1,3,4. 219 Thomasius: Grund-Lehren des Natur- und Völcker-Rechts, 1,3,22. 220

221

Dabei ist Torheit nicht mit Dummheit zu verwechseln. Der Mangel, den Thomasius nicht müde wird zu konstatieren, ist kein intellektueller, sondern ein moralischer, das Problem liegt nicht in der Unzulänglichkeit des Verstandes, sondern in der Verblendung des Herzens. Siehe dagegen Luig: Das Privatrecht von Christian Thomasius, S. 153. Vgl. Thomasius: Fundamenta juris naturae, 1,3,55.

209 2. Die Norm ist auf Vermittlung angewiesen und muß daher überhaupt vermittelbar sein. Thomasius will in seiner Theorie »von den Sitten der thörichten den Anfang machen und dann sehen, wie und wieweit, aus denenselben weise Leute werden können«.222 Dazu ist erforderlich, daß die Norm überhaupt einen Ansatzpunkt hat, um greifen zu können. So muß die Norm zum einen die ursprüngliche Willensdisposition des Toren in einer Weise miteinbeziehen, daß selbst dieser geneigt ist, der von außen an ihn herangetragenen Norm zu folgen. Dies setzt auf Seiten des Törichten gewisse Vorleistungen voraus, zumindest muß er den Normgeber als dazu befähigt oder berechtigt erkennen. Zum anderen muß die Norm oder ein unverzichtbarer Teil der Norm auch gegen den Willen der Toren (rechtmäßig) durchgesetzt werden können. Die vorausgesetzte allgemeine, geradezu naturgemäße Torheit des Menschen macht die Begründung einer authentischen Normgebungsinstanz zu einem theoretisch nicht leicht zu bewältigenden Unternehmen - vor allem dann, wenn die anthropologischen Basisannahmen nicht revidiert werden sollen. Da eine authentische Norm weder aufgefunden noch durchgesetzt werden könnte, wenn ein Narr befugt ist, anderen Narren Regeln vorzuschreiben, kann die Normgebung sinnvollerweise nur von einem Weisen geleistet werden - Thomasius geht es nicht um die Formulierung irgendwelcher willkürlicher Regeln, sondern er zielt auf wahre Normen als Mittel zur Realisierung des moralisch oder sittlich Guten. Woher unter den vorausgesetzten Bedingungen aber ein Weiser zu nehmen sei, hält Thomasius selbst für eine schwere »Haupt-Frage«.223 Er kann zur Lösung dieses Problems nun nicht umhin, sein voluntaristisches Konzept weiter zu unterlaufen. Hatte er bereits eingeräumt, daß die Erkenntnis des wahren Guten dann möglich ist, wenn der Verstand vom Willen unbeeinflußt bleibt, so muß er nun in einem weiteren Schritt die prinzipielle Dominanz des schlechten Willens neutralisieren, um der gewonnenen Erkenntnis des Guten die Realisierungsmöglichkeiten zu sichern. Thomasius versucht dies, indem er für den (prinzipiell) exzeptionellen Fall des Weisen eine günstige Mischung der Hauptaffekte - Wollust, Ehrgeiz, Geldgeiz - annimmt, durch die die Affekte einander so weit relativieren, daß »ausgeglichenes Wollen« und damit »dauerhafte Überlegung« ermöglicht wird.224 Eine Affektenmischung, die dies gestattet, erkennt Thomasius nur in der Mixtur von Ehrgeiz und Wollust; so heißt es, nachdem alle anderen denkbaren Varianten verworfen wurden: »Denique qui voluptate, ambitione temparata pollent, ad regendos 222

223 224

Thomasius: Grund-Lehren des Natur- und Völcker-Rechts, 1,3,6. Thomasius: Grund-Lehren des Natur- und Völcker-Rechts, 1,4,3. Schneiders: Naturrecht und Liebesethik, S. 256.

210 alios & normam iis praescribendam sunt aptissimi, quia jam alibi ostensum est, quod mixtura voluptatis valde temperet excessus ambitionis, & mixtura ambitionis temperet excessus voluptatis, ita ut ex hac mixtura maximae oriantur virtutes, quarum homines natura sunt capaces, item quod haec mixtura gignat excellentiam ingenii & judicii ac placidem & humilem tolerantiam ac amorem infirmorum. Et testatur experientia, quod tales homines, si justam aetatem aut senectutem attigerint, soleant esse sapientissimi inter alios homines.« 225 Thomasius hat damit sein voluntaristisches Konzept an entscheidender Stelle zumindest eingeschränkt, denn der Weise erkennt und formuliert die notwendige Norm qua »gesunder Vernunft«, sein gewissermaßen affektuell stillgestellter oder lahmgelegter Wille hat diese Erkenntnis erst ermöglicht, und schließlich gestattet die AfFektenmischung von Ehrgeiz und Wollust, daß der Wille wieder durch die Verstandeserkenntnis geleitet wird, denn dies dürfte wohl die Voraussetzung für die Realisierung der Norm sein, die der Weise zunächst an sich selbst vollzieht. Thomasius hat damit die moralphilosophischen Probleme seines Voluntarismus einer geradezu handstreichartigen Lösung zugeführt: 226 durch eine günstige Konstellation der Affekte ist hier das rationale Erkennen der Norm ebenso möglich geworden wie die vernünftige Anleitung des Willens. Weil rationales Erkennen insofern voluntaristisch ermöglicht wird, bleibt Thomasius zwar insgesamt systematisch im Rahmen seines voluntaristischen Konzeptes, doch bleibt die Möglichkeit von Moral abhängig von den tatsächlichen Chancen rationaler Erkenntnis. Unter den erschwerten Bedingungen voluntaristischer Komplizierungen bleibt die Erkenntnis moralischer Normen eine Leistung der recta ratio. Aber auch bei der Normvermittlung wird sich zeigen, daß Thomasius seinen strikten voluntaristischen Ansatz nicht in allen Stücken durchhalten kann. 227 Thomasius unterscheidet zwei dem Weisen zur Verfügung stehende Formen der Normgebung: »der Weise theilet denen Narren einen Rath mit, oder herrschet über sie«.228 Beratung und Herrschaft fallen an dieser Stelle ihrer kategorialen theoretischen Entfaltung noch beide dem Weisen zu; später, wenn dieses Modell von consilium und imperium auf die komplexen Bedingungen des Gemeinwesens übertragen wird, sieht Thomasius eine Arbeitsteilung zwischen dem für die Beratung zuständigen Lehrer (doctor) und dem herrschaftsausübenden Fürsten (princeps) vor, 229 offenbar in der Absicht, dem Weisen in der Gestalt des Lehrers eine Möglichkeit zur poli225

Thomasius: Fundamenta juris naturae, 1,4,13f. Vgl. Schneiders: Naturrecht und Liebesethik, S. 254. 227 Vgl. auch Rüping: Die Naturrechtslehre des Christian Thomasius, S. 42. 228 Thomasius: Grund-Lehren des Natur- und Völcker-Rechts, 1,4,32. 229 Vgl. Thomasius: Fundamenta juris naturae, I,4,87f. 226

211

tischen Mitsprache zu sichern, um damit - nicht zuletzt aus praktischen und damit vernünftigen Erwägungen heraus - politisch einen aufgeklärten Absolutismus zu etablieren.230 Rat und Herrschaft werden von Thomasius offenbar mit Blick auf ihre rechts- und moralphilosophisch bedeutsame Rolle genau definiert und voneinander abgegrenzt. Zwar kommen imperium und consilium darin überein, daß mit ihrer Hilfe der Törichte das Gute begehren und das Übel fliehen soll, doch bietet bereits die Frage, wem Rat oder Herrschaft nutzen sollen, ein entscheidendes Abgrenzungskriterium: »Der in einem genauem Verstände genommen Rath ist von der Herrschaft unterschieden, daß jener allemahl und vornehmlich auf desjenigen Nutzen setzen soll, der Rath verlangt, (obgleich die Narren gemeiniglich hauptsächlich auf ihren eigenen Nutzen sehen) die Herrschaft aber auch nach der Natur des Geschafftes und Weißheit pfleget theils vornehmlich auff den Nutzen der gehorchenden, als die väterliche Herrschafft, theils auff den gemeinen Nutzen des gebietenden als die herrschaftliche Gewalt, zu sehen«.231 Während der Rat in der Regel auf Verlangen erteilt wird und mit Hilfe von Vernunftschlüssen zu überzeugen sucht,232 wird die Norm von der Herrschaft auch gegen den Willen der Törichten und notfalls mittels Zwang durchgesetzt, den Thomasius als Macht definiert, »den Thörigten einen empfindlichen Schmertzen zuzufügen, der von dem Willen des zufügenden dependiret«.233

230

»Imperantium et docentium officia esse distinctissima nec facile combinari posse. Imperantis est cogere, docentis adhortari, precari. Docens non imperat imperanti, imperans vero punit docentem. Imperans intendit emendare actiones extemas voluntatis; Docens et errores intellectus et cupidines internas voluntatis.« Thomasius: Historia contentionis inter imperium et sacerdotium. Halle 1722, Reprint Aalen 1994, S. 4f. Siehe dazu Buchholz, der gegen Thomasius' unübersehbare politische Intentionen eine Personalunion von Wei231 sen und Fürsten unterstellt. Buchholz: Recht, Religion und Ehe, S. 172. Thomasius: Grund-Lehren des Natur- und Völcker-Rechts, 1,4,50. Die Frage, wem eine bestimmte Form der Gewalt zugute kommt - auch formulierbar als Frage nach dem spezifischen Interesse bestimmter Gewalt - ist, wie auch das angeführte Zitat belegt, definiens der Gewalt- bzw. Herrschaftsformen. Auf diese Weise wird eindeutig zwischen väterlicher und fürstlich herrschaftlicher Gewalt unterschieden. Die Abgrenzung ist zwar seit Aristoteles geläufig, doch wurde der Fürst immer wieder mit dem Gehorsam beanspruchenden Vater verglichen. Siehe beispeilsweise Pufendorf: Über die Pflicht, S. 176; oder auch Christian Wolff: Deutsche Politik §264. Kant hat dann später - ähnlich wie schon Spinoza im Tractatus (vgl. S. 483) - kritisch darauf reagiert. Kant: Metaphysik der Sitten, Β 200. 232 Das im lateinischen Text verwendete »persuadere« wird im deutschen mit »überreden« wiedergegeben, wobei eine quasi aktive Rolle des Narren bei der Normvermittlung, die im kognitiven Nachvollzug einer Einsicht bestehen könnte, nahezu verlorengeht. Eine Übersetzung des Verbs »persuadere« mit »überzeugen« würde eine Bedeutungsvariante von »persuadere« hervorheben, mit der an einer aktiven Rolle festgehalten wird. Inwieweit diese Übersetzung tatsächlich angemessen ist, soll im folgenden erörtert werden. Siehe dazu Schneiders, der von »überredender Argumentation« spricht und damit eine aktive Rolle 233 des Toren in Abrede stellt. Vgl. Schneiders: Naturrecht und Liebesethik, S. 258. Thomasius: Grund-Lehren des Natur- und Völcker-Rechts, 1,4,57.

212 Dieses letzte Abgrenzungskriterium - Zwang oder Überzeugung als Durchsetzungsmittel - weist bereits hier auf die erwähnte politische Arbeitsteilung voraus, denn die zwingende Herrschaft kann ohne die den Fürsten zukommende »Hoheit nicht begriffen werden«,234 während die Beratung prinzipiell ein im Hinblick auf ihren Machtstatus symmetrisches Verhältnis zwischen Beratenem und Berater voraussetzt. Damit wird zum einen schon an dieser Stelle der Zwang als Machtmittel an eine legitime Herrschaftsinstanz gebunden, der Hoheit bzw. Souveränität rechtmäßig zukommt: der Zwang wird so reserviert für eine Instanz, die befugt ist, ihn auszuüben. Zum anderen kündigt sich hier die später zentrale Bedeutung erlangende Innen-Außen-Dichotomie an, denn absehbar ist, daß die Herrschaft qua Zwangsmittel nur äußere Handlungen betreffen kann, der auf pädagogische Wirksamkeit angelegte Rat hingegen bezieht sich auch auf das Internum des Menschen. Die »Application der Richtschnur« kann nur gelingen, wenn - wie oben kurz angedeutet wurde - einerseits die Willensdisposition des Törichten einen Ansatz zur Durchsetzung der Norm bietet, und wenn andererseits der Tor bereit ist, gewisse, nicht zuletzt kognitive, Vorleistungen zu erbringen, denn die Narren können sich »ohne Weiser Leute Beyhilffe nicht bessern. Jedoch haben auch die Weisen der Narren Hilffe von nöthen«.235 Zunächst ist entscheidend, daß die Affekte der Narren aufgrund ihrer prinzipiellen Handlungsorientiertheit - jede Begierde ist eine »Sehnsucht etwas zu thun«236 - immer schon notwendig verbunden sind mit der Hoffnung auf Affektbefriedigung und der Furcht vor Frustration: »Quae hactenus de spe & metu hominum diximus, ostendunt, voluntatem hominis semper conjunctam esse cum spe aut metu, adeoque nullam actionem voluntariam dari sine spe aut metu«.237 Furcht und Hoffnung als die zwei »Eigenschafften der Haupt-Affecte« (»affectiones affectuum primorum«)238 können von außen erzeugt werden, so daß der Fürst und der Weise durch die Erregung von Furcht und Hoffnung durch consilium und imperium Einfluß auf die Narren gewinnen. Consilium und imperium kommen insofern darin überein, daß »beyde eine Hoffnung und Furcht bey den thörigten erwecken, das wahrhafft Gute zu begehren und das wahrhaffte Übel zu fliehen«.239 Was hier wie eine psychotechnische Manipulation aussieht,240 der der Tor bedingungslos ausgeliefert zu sein scheint, braucht in dem Maße nicht tat234

Thomasius: Grund-Lehren des Natur- und Völcker-Rechts, Thomasius: Grund-Lehren des Natur- und Völcker-Rechts, 236 Thomasius: Grund-Lehren des Natur- und Völcker-Rechts, 237 Thomasius: Fundamente juris naturae, 1,2,95. 238 Thomasius: Fundamenta juris naturae, 1,2,8. 239 Thomasius: Grund-Lehren des Natur- und Völcker-Rechts, 240 Vgl. Schneiders: Naturrecht und Liebesethik, S. 2 5 9 , 2 6 1 . 235

1,4,51. 1,7,3. 1,1,34.

1,4,35.

213 sächlich eine zu sein, wie dem Narren bei der »Application der Richtschnur« eine aktive Rolle zugestanden wird, d.h. wie dem Narren immer auch zumindest ein unverzichtbares Stückchen Weisheit konzediert wird, und der seinen Affekten vollständig unterworfene Tor als quasi absoluter Tor nicht die einzige Erscheinungsweise der Torheit ist, ja vielleicht nicht einmal ihr Normalfall ist. Dem Narren ein Mindestmaß an Weisheit zuzugestehen, heißt jedoch, den im Zusammenhang mit dem Weisen bereits unterlaufenen und partiell aufgegebenen Voluntarismus nun auch im Hinblick auf den Toren in gewissen Grenzen zu revidieren. Eine solche aktive Rolle wird dem Narren bereits zugewiesen, wenn zwischen vernünftiger und unvernünftiger Hoffnung bzw. Furcht (»metus & spes est vel rationalis vel irrationalis«) unterschieden wird - eine Differenzierung, die auf dem Hintergrund des prinzipiell voluntaristisch orientierten Ansatzes der Fundamenta durchaus erstaunlich ist und von einiger Tragweite sein dürfte. Thomasius konstatiert: »Wiederum ist die Furcht so wohl, als die Hoffnung entweder vernünftig oder unvernünftig. Die vernünftige ist, wenn der fürchtende oder hoffende Mensch das Vermögen der entweder helffenden oder streitenden Kräffte recht erweget und also sich fürchtet, wo er sich zu fürchten hat, und hoffet, wo etwas zu hoffen ist. Die unvernünftige ist, wo er solche Kräffte verkehret erweget und sich fürchtet, wo nichts zu fürchten oder auch wo nichts zu hoffen ist; hoffet, wo er sich zu fürchten oder zum wenigsten nichts zu hoffen hat«.241 Falls diese Unterscheidung auch für den Narren Geltung hat, wird ihm über Vernunft oder Unvernunft der von ihm empfundenen Furcht oder Hoffnung eine sachgerechte Entscheidung abverlangt. Diese rationale Erkenntnisleistung, die die Sache selbst betrifft, geht noch einen Schritt über das von Schneiders exponierte Problem hinaus, wie der zur Normerkenntnis unfähige Tor erkennen kann, wer als Weiser legitimiert ist, ihm die Norm vorzuschreiben. Die aktive Rolle, die dem Toren bei der »Application der Richtschnur« zugewiesen oder zugemutet wird, zeigt sich vor allem darin, daß der Narr als Voraussetzung für die Umsetzung der Norm ihre Nützlichkeit (erkennend) nachvollziehen muß, denn der Weise ist bemüht, den Törichten durch »handgreifliche Vernunft-Schlüsse«242 (»ratiocinationes palpabiles«) »deutlich darzulegen, daß dasjenige, was er rathet, entweder demselben, welchem Rath ertheilt, nützlich sey, oder daß dasjenige was gebothen wird, ihm doch wenigstens nicht schade«.243 Dieser festzustellende Nutzen kann sich jedoch nicht auf die unmittelbare Befriedigung der primären Affekte

241 242 243

Thomasius: Grund-Lehren des Natur- und Völcker-Rechts, 1,2,29. Thomasius: Grund-Lehren des Natur- und Völcker-Rechts, 1,4,56. Thomasius: Grund-Lehren des Natur- und Völcker-Rechts, 1,4,49.

214 beziehen; für nützlich kann nicht gehalten werden, was vordem der böse, den Affekten anheimgegebene Wille für angenehm oder gut befand - die Realisierung von Normen als moralische wäre solchermaßen wohl kaum möglich. Das Nützliche muß strenggenommen von einer Position aus als solches qualifiziert werden, die sowohl moralisches Handeln ermöglicht als auch die Willensnatur des Menschen berücksichtigt, sie muß sich quasi in der Mitte von rationaler Moral und voluntaristischen Antrieben befinden. Der Narr muß um Willen dieses Nutzens bereit sein, seine primären Affekte zu dämpfen. Dies erfordert eine den primären Affekten überlegene Position, von der aus in genauer Distanz zu den Affekten diese nach Maßgabe des Nützlichen gesteuert werden können, indem sie durch ein übergeordnetes Willensziel überboten werden. Als ein solches Willensziel, das zugleich eine den Affekten überlegene Position einnimmt und als Kriterium für die Nützlichkeit der Norm den Willen als zentrale facultas des Menschen nicht ausschaltet, führt Thomasius den allen Menschen - bei aller affektueller Unterschiedlichkeit - gemeinsamen Willen zu einem glückseligen und langen Leben ein: »Alle Menschen kommen darin überein, daß sie gern [...] sehr lange, und wenn es möglich wäre, ewig leben wollen, einen solchen Abscheu haben sie alle vor dem Tode. Sie kommen auch darinnen überein, daß sie ihr Leben gerne in der grössten Glückseeligkeit zubringen wollen«.244 Dieses gegenüber den ursprünglichen Affekten gleichsam sublimierte und sekundäre Willensziel macht die Dämpfung, ja Unterdrückung der primären Affekte, die das Leben verkürzen und den Toren ins Unglück stürzen, zu einem nützlichen Unterfangen. Seine praktische und theoretische Bedeutung manifestiert sich schließlich in seiner Etablierung als selbst allen Narren einsichtige »allgemeine Richtschnur aller Verrichtungen [...] und Grund-Satz des im weiten Verstände gewonnenen Natur- und Völcker-Rechts«: »dasjenige muß man thun, was der Menschen Leben sehr lang und glückseelig machet; und dasjenige muß man meiden, was das Leben unglückselig machet und den Todt befördert. Dieser Satz ist wahr. Denn wir haben gesaget, daß darinnen die Thorheit der menschlichen Leidenschafften bestehe, daß da alle Menschen das längste und glückseligste Leben lieben, jedennoch alle durch ihre Verrichtungen das Leben verkürtzen und solches unglückselig machen«.245 So finden sich bei der Umsetzung der Norm durch den Törichten als eigentlichen Normadressaten sowohl rationalistische als auch voluntaristische Motive: der Weise versucht dem Toren die Nützlichkeit der von ihm rational, d.h. unbeeinflußt von einem bösen Willen erkannten Norm darzulegen, 2ΛΛ

245

Thomasius: Grund-Lehren des Natur- und Völcker-Rechts, 1,1,121 f. Thomasius: Grund-Lehren des Natur- und Völcker-Rechts, 1,6,21 f.

215 der Tor muß ihre Nützlichkeit erkennend nachvollziehen, indem er die Tauglichkeit der Norm an ihrer Fähigkeit mißt, ihm zu einem langen und glücklichen Leben zu verhelfen.246 Dazu ist erforderlich, daß der Tor bereits eine gewisse Distanz zu seinen Affekten gewonnen hat und bereit ist, für das angestrebte Glück und für ein langes Leben als quasi übergeordnetes Willensziel seine ansonsten destruktiven Affekte zu dämpfen, was allerdings wiederum die Erkenntnis oder eine entsprechende Erfahrung voraussetzt, daß das unmittelbare Ausleben der Affekte zu Unglück und empfindlicher Verkürzung des Lebens führt. Das bisher Dargestellte muß im Grunde bereits von einem Toren ausgehen, der selbst schon ein Stückweit in der Weisheit fortgeschritten und daher etwa imstande ist, sich raten zu lassen und dabei den Nutzen des Rates einzusehen. Das ist dem von Thomasius exponierten Begriff des Toren nicht unangemessen, denn Thomasius hat das Verhältnis bzw. den Unterschied zwischen dem Toren und dem Weisen viel dynamischer konzipiert, als der erste Anschein dies vermuten läßt.247 Daß aus Toren Weise werden ist zwar nicht der Regelfall, aber dennoch ein unbedingt notwendiger Vorgang als Voraussetzung für die Existenz von Weisen, die raten und herrschen und den Bestand erreichter Weisheit sichern: »Sed si non posset applicari norma hominibus, non darentur sapientes. Atqui sapientes & olim fuerunt jam adhuc sunt. Dantur apud omnes populos, & in omnibus statibus«.248 Nicht zuletzt ist die vernünftige Gestaltung des Gemeinwesens auf weise Menschen angewiesen, und nicht umsonst begnügt sich der für die Ausbildung von Beamten bestellte Thomasius etwa in den Cautelen der Rechts-Gelahrheit nicht mit der Beschreibung »der wahren Gelehrsamkeit und Weißheit überhaupt«,249 sondern läßt dem eine »Lehre von den Mitteln die Weißheit zu erlangen«250 gleich folgen. Weise fallen also nicht vom Himmel, sie werden zu einem nicht unerheblichen Teil gemacht, d.h. sie werden (von Thomasius) ausgebildet. Und schließlich scheint Thomasius eine dem gemäßigten Optimismus Kants251 nicht unähnliche Auffassung vom Fortschritt des Menschen zu haben, denn er stellt fest, daß »die Menschen nach und nach von der Thorheit zu Weißheit kommen«.252 Ob damit tatsächlich ein ge246

Im tatsächlichen Nutzen oder Unnutzen der Norm müßte sich dann übrigens ex post die Frage nach Legitimation des Normgebers als Weisen beantworten lassen. 247 Vgl. dagegen Schneiders: Naturrecht und Liebesethik, und Buchholz: Recht, Religion und Ehe, die dieses Verhältnis m.E. zu statisch anlegen. 248 249 Thomasius: Fundamenta juris naturae, 1,7,2. Thomasius: Cautelen zur Erlernung der Rechts-Gelahrheit, Capitel 1. 250 251 252

Thomasius: Cautelen zur Erlernung der Rechts-Gelahrheit, Capitel 2. Vgl. Kant: Über den Gemeinspruch. A 275. Thomasius: Fundamenta juris naturae, 1,6,74: »Cum vero ab insipientia homines per gradus perveniant ad sapientiam«. Die Hoffnung auf eine schrittweise sich vollziehende

216

schichtlich perspektivierter Fortschritt der Menschheit gemeint ist, wie es zunächst den Anschein hat, kann allenfalls vermutet werden, am Text definitiv belegbar ist diese Vermutung jedoch nicht. Andererseits gibt es natürlich auch den Toren, der unfähig oder Unwillens ist, sich zu bessern. Er ist unzugänglich für die Ratschläge des Weisen, und nur die Zwangsgewalt der Herrschaft vermag sein Handeln zu steuern. Neben ihm unterscheidet Thomasius noch zwei weitere Typen des Narren, so daß graduelle Unterschiede der Torheit sichtbar werden. Thomasius nimmt drei Differenzierungen vor: er unterscheidet zwischen dem »allergrößten Narren«, dem »mittleren Narren« und dem »geringsten Narren«. Die »allergrößten Narren« beanspruchen für ihr Tun und Lassen völlige Freiheit und stören damit die Freiheit anderer und schließlich den äußerlichen Frieden: »Bey diesen richtet ein Mann mit einrathen nichts aus, sondern hier ist die Herrschafft nöthig«.253 Die »mittleren Narren« lassen den äußeren Frieden unbeeinträchtigt, sie sind allerdings auch nicht geneigt, anderen in ihrer Bedürftigkeit beizustehen. Dieser sozialen Indifferenz kann nach Auffassung von Thomasius eher mit den Mitteln des consilium als mit denen des imperium begegnet werden, denn die mittleren Toren sind für gewöhnlich bereit, den Rat zu akzeptieren; andererseits stellt Thomasius aber auch fest: »Alldieweil aber dennoch durch dergleichen lieblose Vorrichtungen andere gar leicht gereitzet werden, andern Schaden zu thun, also schliessen auch dergleichen Verrichtungen die euserliche Furcht der Herrschaft nicht gantz und gar aus«.254 Die »geringsten Narren« schließlich bedürfen der Herrschaft als Steuerungsinstanz überhaupt nicht mehr. Zwar »müssen sie denen Begierden sehr öffters nachgeben« doch tut ihnen dieses sofort wieder leid, und sie »wünschen sich täglich die Mäßigung der Affecten«.255 Sie haben mit dem »untersten Grad der Thorheit« bereits den ersten Grad der Weisheit erreicht, so daß sie als eigentlich schon Weise den fremden Rat nur noch als Selbststeuerungsmittel benötigen. Von diesen unterschiedlichen Graden der Torheit aus lassen sich verschiedene Funktionalisierungen von Furcht und Hoffnung als Steuerungsmittel feststellen. Die von außen durch den Weisen induzierte Furcht oder Hoffnung wird für den Toren der »geringsten Narrheit« zu einem primären movens für Verhaltensänderungen, die er aufgrund eines Rates selbständig

Verbesserung findet sich auch an anderen Stellen des (Euvres von Christian Thomasius, ein etwas abseitiger Beleg findet sich beispielsweise in der Dissertatio inaugurates sustinens: Emendationem administrationis lustitiae neque facilem, neque difficilem esse et caute suscipiendam [Respondent: Henricus Kühn]. Halle 1717, S. 77f. 253 Thomasius: Grund-Lehren des Natur- und Völcker-Rechts, 1,4,74. 254 Thomasius: Grund-Lehren des Natur- und Völcker-Rechts, 1,4,75. 255 Thomasius: Grund-Lehren des Natur- und Völcker-Rechts, 1,4,76.

217 auf dem Hintergrund seiner Interessen kalkuliert, für den Toren der »allergrößten Narrheit« dagegen fungieren Furcht und Hoffnung als quasi manipulative Steuerungsmittel, an deren Handhabung der Tor schlechterdings keinen Anteil hat. Die unterschiedlichen Grade der Torheit belegen, daß die »Application der Richtschnur« und damit die Aufklärung als Fremdaufklärung in den Fundamenta nicht auf das Modell eines strikten aufgeklärten Absolutismus< beschränkt ist, innerhalb dessen der Weise den Toren zum Guten zwingt, indem er - ohne daß dies vom Toren wirklich nachvollziehbar wäre - mit der Hilfe von Furcht und Hoffnung die affektdominierte Willensdisposition des Toren geschickt ausnutzt. Die Grade der Torheit weisen vielmehr auf ein Aufklärungskonzept hin, das für das Interaktionsverhältnis vom aufklärenden Weisen und aufzuklärendem Narren tatsächlich alle Varianten von Aufklärung als Fremdaufklärung und Selbstaufklärung bereithält. Wenn also die Bandbreite vom nur noch zwingbaren oder manipulierbaren Toren bis zum Weisen reicht, der erst durch Ausbildung seine Narrheit hat ablegen können, dann kann allerdings von einer »Heteronomie des Sittlichen« bei Thomasius in einem genaueren Sinne nicht gesprochen werden. Moral und moralisch intendierte Aufklärung ist nicht nur ein »Problem praktischer Psychologie« oder »Psychotechnik«,256 sondern das Problem einer sinnvollen Affektenkontrolle, mit deren Hilfe der Einfluß letztlich doch wieder rationaler Normen, nämlich rational bestätigter und rational applizierter Normen, gesichert werden kann. Thomasius' Affektenpsychologie verfügt so gesehen über ein starkes und unverzichtbares rationales Element. 1.4.3. Die Normen: iustum, honestum, decorum Den beiden dargestellten Formen der Normvermittlung - Rat und Herrschaft - entsprechen prinzipiell zwei unterschiedliche Formen der Norm - das Gerechte (iustum) und das Ehrbare (honestum) - , die zwei verschiedenen Geltungsbereichen zugeordnet werden - den äußerlichen und den innerlichen Handlungen bzw. den Gesinnungen - und von daher unterschiedliche Inhalte aufweisen. Hinzu kommt das Anständige (decorum) als eine dritte Norm, die in einem Zwischenbereich von äußerlichem Gerechten und innerlichem Ehrbaren angesiedelt ist und sich innerhalb dieses Innen-AußenSchemas nicht nur einer eindeutigen Zuordnung, sondern wohl auch insgesamt einer eindeutigen Begründung entzieht.257 Dennoch erkennt Thomasius diesem decorum eine wichtige Rolle als ein Faktor sozialer Produktivität zu, 256

257

Schneiders: Naturrecht und Liebesethik, S. 259. Vgl. dazu Schneiders: Naturrecht und Liebesethik, S. 284.

218 die er offenbar zu sichern sucht, indem er dem decorum einen systematischen Platz innerhalb seines Naturrechts zuweist. Alle drei Normen zielen auf das Glück, das strenggenommen nur als Glück aller vorstellbar ist,258 und nur erreichbar ist, wenn alle drei Normen zusammen realisiert werden. Thomasius' Differenzierung zwischen dem Gerechten, Ehrbaren und Anständigen als voneinander abgegrenzten Normtypen basiert im wesentlichen auf der Unterscheidung von innen und außen. Das iustum bezieht sich normativ auf äußere Handlungen und zielt auf die Bewahrung des äußeren Friedens. Sein aus der Goldenen Regel259 deriviertes Prinzip lautet daher negativ: »Quod tibi non vis fieri alteri ne feceris«.260 Die Begründung für die Beschränkung des Gerechten auf äußerliche Handlungen liefert Thomasius im Zusammenhang der Erörterung von Recht und Gesetz, die als Positivierung und Institutionalisierung des Gerechten von diesem her ihren normativen Gehalt beziehen. Das Gesetz als qualitas moralis passiva und sein Korrelat, das Recht als qualitas moralis activa, erfordern einerseits zwei konfligierende Parteien und andererseits einen materiellen Tatbestand, also äußerliche Handlungen bzw. Unterlassungen, die Gegenstand von subjektiven Rechten oder Verpflichtungen sind.261 Gesetzliche Regelungen können weder dort greifen, wo kein materieller Tatbestand erhebbar ist - etwa bei allen inneren Handlungen, Gesinnungen, Gedanken etc. - noch sind sie dort anwendbar, wo es keine zwei Parteien gibt, wiederum etwa bei allen inneren Handlungen und sich selbst gegenüber eingegangenen inneren Verpflichtungen: »Ergo jus omne externum est, non internum«.262 Die Geltung des Rechts bzw. des Gesetzes für nur äußerliche Handlungen bietet gleichzeitig die Voraussetzung für ein neues definiens des Gesetzes: im Gegensatz zu innerlichen Verpflichtungen sind gesetzlich gebotene oder verbotene äußere Handlungen erzwingbar. So definiert Thomasius das Gesetz als unmittelbar gebietenden oder verbietenden jussum universale imperantium in republica, der das Recht zu strafen und gerichtlich zu zwingen impliziert.263 Diese prinzipielle Erzwingbarkeit des Rechts macht die - noch in den Institutiones verwendete und von Grotius übernommene - Unterscheidung zwischen vollkommenem und unvollkommenem Recht hinfällig: Recht ist in erster Linie ein Herrschaftsinstrument, das den »Willen und desselben äuserliche

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Vgl. Thomasius: Fundamenta juris naturae, 1,6,26. Vgl. Matthäus 7, 12. Thomasius: Fundamenta juris naturae, 1,6,42. »Patet igitur, quod jus, item obligatio externa juri correspondens, & injuria, semper supponant duos homines. Unde nemo habet proprie jus in se ipsum, nec sibi injuriam facere potest, ne sibi obligatur.« Thomasius: Fundamenta juris naturae, 1,5,16. Thomasius: Fundamenta juris naturae, 1,6,17. Thomasius: Fundamenta juris naturae, I,5,3f.

219 Freyheit im Zaume«264 halten soll und nur als erzwingbares und damit vollkommenes Recht überhaupt Recht ist.265 Die Erzwingbarkeit des Rechts und seine Beschränkung auf äußere Handlungen zeitigen systematische Erträge von nicht zu unterschätzender Bedeutung. Einerseits sichert die Erzwingbarkeit dem Recht die notwendige Verbindlichkeit und Durchsetzungsfähigkeit, so daß der äußerliche Frieden als Zweck des Rechts prinzipiell erreichbar ist - die Mittel dafür stehen zumindest zur Verfügung. Andererseits werden der Reichweite des erzwingbaren Rechts durch seine Beschränkung auf äußerliche Handlungen klare Grenzen gesetzt. Alles, was sich im Internum des Individuums abspielt, ist prinzipiell dem Zugriff äußerer Zwangsgewalt entzogen. Religiöser Toleranz und Denkfreiheit ist damit prinzipiell eine juristische Basis geschaffen, die noch gestützt wird durch die von Thomasius immer wieder betonte praktische Unmöglichkeit, das Innere des Menschen wirksam zu kontrollieren.266 Freilich darf sich dieses dem Zwang entzogene Internum nicht in einer Weise artikulieren oder gar in Handlungen umsetzen, die den äußerlichen Frieden gefährden oder manifest verletzen - soweit kommt auch Thomasius, durchaus zeitüblich und klare Prioritäten setzend, dem Ruhe und Ordnung anstrebenden absolutistischen Staat entgegen. Aber selbst in diesen Fällen ist nicht das Internum, sondern die aus ihm entstehende äußerliche Handlung nach den Kriterien von Recht und Unrecht justiziabel.267 So wie das iustum sich auf äußerliche Handlungen bezieht und äußerliche Verpflichtungen bewirkt, normiert das honestum oder das Ehrliche innere Handlungen und schafft dementsprechend innere Verpflichtungen, die nicht gegenüber anderen Menschen bestehen, sondern die der Einzelne sich selbst gegenüber eingeht.268 Das honestum ist damit aller äußerlichen Verfügung entzogen und unerzwingbar, es zielt auf den innerlichen Frieden oder auf die Gemütsruhe als die entscheidende Voraussetzung für den »höchsten Grad der Glückseligkeit«.269 So ist das honestum - in praktischer 264 265

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Thomasius: Grund-Lehren des Natur- und Völcker-Rechts, 1,5,9. »Nam omne jus est perfectum, & jus imperfectum non habet oppositum Imperium: jus imperfectum non ulterius tendit, quam ad ea, quae ab altera peto ex regulis decori, non justi.« Thomasius: Fundamenta juris naturae, 1,5,23. Vgl. etwa Thomasius: Chur-Brandenburgischer Unterthanen doppelte Glückseligkeit, so sie wegen des durch Churfl. scharffe Edicta verbesserten Geistlichen und weltlichen Standes zu geniessen haben. (1690) In: Auserlesene deutsche Schriften. Teil I, §4. Vgl. oben den Hinweis auf die in Zedlers Universallexicon gelieferte Konstruktion zur juristischen Verfolgbarkeit des Atheismus, S. 226. Vgl. Thomasius: Fundamenta juris naturae, 1,5,§§18,24. Thomasius: Grund-Lehren des Natur- und Völcker-Rechts, 1,6,79. Thomasius greift in der Bestimmung der Glückseligkeit als Gemütsruhe erneut auf Überlegungen aus seiner Einleitung in die Sittenlehre zurück. Der dort an Epikur und Seneca orientierte Glückseligkeitsbegriff fungiert - wie noch zu zeigen sein wird - als Modell fllr die auf anderer Ebene

220 Hinsicht - zwar von geringerer Bedeutung, weil es nur das »unterste Übel im Zaum« hält und die Unterlassung der von ihm gebotenen Verrichtungen als immer nur innerliche niemandem unmittelbar schadet. In moralischer Hinsicht ist es aber höherwertig, weil die »Regeln des ehrlichen das höchste Gut« befördern, indem »sie zeigen, wie der Brunquell aller Thorheit in den Brunquell der Weißheit zu verwandeln sey«.270 Der größte Weise aber ist, wer den inneren Frieden erreicht und damit »Herr seiner Begierden ist«, er kann gar nicht anders, als qua Einsicht gleichzeitig »gerecht und anständig« zu leben. Thomasius stellt daher fest: »Die Regeln des gerechten sind n o t wendiger, weil ohne solche das menschliche Geschlecht untergehen würde, und die Narren nicht könten auf den Weg der Weißheit gebracht werden. Die Regeln des ehrlichen sind vortrefflicher und herrlicher, weil sie die Menschen zu dem höchsten Grad der Glückseligkeit bringen, und weil ohne dieselben niemand wahrhafftig weise seyn kann.«271 Weil ein wirklicher Weiser ein seltener Vogel auf Erden ist - »haec rara avis in terris« - , wenn auch »die Menschen nach und nach von der Thorheit zur Weißheit kommen«, ist es »nöthig, daß wir mit dem mitlern zu frieden seyn, wenn wir nichts bessers haben können. Diesemnach dürffen wir uns nicht verwundern, daß diejenigen vor Weise gehalten werden, die anständig leben«.272 Auf diese Weise fällt dem decorum als dem Mittleren eine eminent praktische Bedeutung zu. Das decorum273 nimmt eine Position zwischen dem iustum und dem honestum ein: während »die Regeln des Gerechten [...] das euserste Böse« zähangesiedelte Glückseligkeit innerhalb eines Gemeinwesens. Vgl. dazu Dorothee Kimmich: Lob der >ruhigen Belustigungdecorum< hängt vom Vorhandensein rechtlich gleichgültiger Handlungen ab, und in diesem Sinn umschreibt es die Lehre jenes öffentlichen Bereiches, der von keinem Gesetz bestimmt werden darf und seit Anfang des 19. Jahrhunderts mit dem Begriff >bürgerliche Gesellschaft< bezeichnet wird«. Merio Scattola: >Prudentia se ipsum et statum suum conservandic Die Klugheit in der praktischen Philosophie der frühen Neuzeit. In: Vollhardt (Hrsg.): Christian Thomasius (1655-1728), S. 352.

222 Stärker noch als durch das decorum, das selbst bereits als Gegenstand der Politik und damit als öffentliches Handeln bestimmt wird,278 wird die Gesellschaft durch Thomasius' »Politische Klugheitslehre« akzentuiert.279 Indem die »Politische Klugheitslehre« als Privatpolitik des Einzelnen ausgeführt wird, der mit den Mitteln der Klugheit die Realisierung seiner Interessen unterhalb der politischen Ebene des Staates betreibt, werden bereits hier zentrale Momente des Gesellschaftlichen entwickelt, die auf die später von Hegel durchgeführte begriffliche Unterscheidung von Staat und Gesellschaft vorausweisen.280 Dabei bleibt dem Staat jedoch eine wichtige Aufgabe vorbehalten: die Entwicklung einer vom unmittelbaren staatlich-politischen Handlungszusammenhang abgehobenen eigenständigen Sphäre gesellschaftlichen Handelns erfordert die prinzipielle vom Staat zu leistende Pazifizierung der Verhältnisse, die insbesondere durch die Etablierung eines machtgestützten Rechtssystems erreicht wird; der Staat wird auf diese Weise zum primären Garanten der Gesellschaft als der spezifische Raum bürgerlichen Handelns. Möglich wurde diese von Thomasius offenbar angestrebte sachliche - begrifflich jedoch nicht durchgeführte - Trennung von Staat und Gesellschaft nicht zuletzt durch die systematische Reduzierung des im Staat zu institutionalisierenden iustum auf eine nur negative, nur limitierende Funktion: Schadensabwehr allein als die spezifische Leistung des iustum kann, der im ersten Teil der Fundamenta entwickelten Systematik zufolge, funktionierende und produktive soziale Verhältnisse nicht schaffen, wenngleich der Begriff der Schadensabwehr später wieder in der theoretischen Begründung des Staates und seiner Funktionen so weit gefaßt wird bzw. gefaßt werden muß, daß sie über ihre rein negative Funktion hinaus etwa in der Formulierung der Hoheitsrechte und der sich daraus ableitenden Gebote positiv produktiv wird. Das Spezifikum des decorum im Unterschied zum iustum und honestum liegt in der positiven Normierung äußerer Handlungen. Seine Regel »Quod vis ut alii tibi faciant, tu ipsis facies«281 - macht deutlich, daß das decorum nicht oder nicht in erster Linie auf Anstand als Vermeidung von Ärgernis oder Anstoß zielt.282 Es fungiert auch nicht oder nicht in erster 278

Vgl. Thomasius: Fundamenta juris naturae, 1,5,58. Siehe zur Begriffsgeschichte der >Klugheit< die ausführliche Darstellung von Merio Scattola: >Prudentia se ipsum et statum suum conservandic Die Klugheit in der praktischen Philosophie der frühen Neuzeit. In: Vollhardt (Hrsg.): Christian Thomasius (1655-1728), S. 333-363; sowie die knappen Hinweise von Frank Grunert: Art. >Klugheitsozialem surplus< hinauslaufen. Denn das decorum verlangt bei aller Unerzwingbarkeit vom Einzelnen, mehr zu leisten als rechtlich von ihm gefordert werden kann, d.h. - wie Thomasius selbst erläutert - er soll nicht auf der Durchsetzung seines Rechts unter allen Umständen beharren, er soll anderen Gefälligkeiten oder gar Wohltaten erweisen, von anderen nichts Unangenehmes einfordern, freigiebig sein etc.284 Das decorum hält dazu an, sich Freunde zu schaffen, anderen Hilfe zu leisten und damit den äußeren Frieden aktiv zu befördern.285 Dieser sozial-produktive Aspekt des decorum im Sinne eines >sozialen surplus< ist in nuce auch an seiner Regel ablesbar: der in ihrem Sinne Handelnde bezieht sich produktiv auf sein Gegenüber, indem er ihm maßnehmend an dem, was er für sich selbst als zuträglich und wünschenswert hält, mehr zukommen läßt als er verpflichtet ist. Die Handlung setzt ein surplus um, das noch gesteigert wird, wenn in einer umgekehrt verlaufenden Handlung - wie erwartet werden kann - dem Adressaten der Handlung wiederum mehr zuerkannt wird als ihm rechtmäßig zusteht. Auf diese Weise werden die sozialen Standards einer Gesellschaft insgesamt optimiert - so daß im Grunde über die unmittelbar gegebene individuelle Aneignung hinaus auch von einer kollektiven Aneignung dieser sozialen Mehrleistung gesprochen werden kann dies etwa im Gegensatz zu den individuell angeeigneten Erträgen von klugem Handeln im Sinne der »politischen Klugheitslehre«, das in der Realisierung individueller, häufig ökonomischer Interessen besteht.

283

Vgl. Schneiders: Der Verlust der guten Sitte, S. 76. Siehe zur Steuerung von Verhaltenserwartungen Niklas Luhmann, der diese Leistung dem Recht zuschreibt: »Zwischenmenschliche Interaktion kann nicht allein durch gluckhafte Koinzidenz des momentanen Erlebens und Handelns Zustandekommen. Sie bedarf angesichts der Fülle möglicher Verhaltensweisen einer selektiven Abstimmung, die nicht improvisiert werden kann.« - »Das Recht gewährleistet, mehr oder weniger eingemischt in die kognitive Erwartungsbildung, ergänzend die Möglichkeit, Verhaltenserwartungen enttäuschungsfest zu stabilisieren und ermöglicht so >Investitionen< in das eigene Erwarten - Investitionen an Interessen, aber auch an Selbstdarstellung: Man kann riskieren zu zeigen, wie man erwartet, wenn man rechtmäßig erwartet, und wird im Enttäuschungsfalle nicht blamiert sein als jemand, der töricht und unrealistisch erwartet hatte. Insofern ist das Recht Grundlage allen Vertrauens.« Luhmann: Positivität des Rechts als Voraussetzung einer modernen Gesellschaft. In: Ders.: Ausdifferenzierung des Rechts. Frankfurt am Main 1981, S. 114 und S. 118. Vgl. auch Luhmann: Das Recht der Gesellschaft. Frankfurt am Main 1995, S. 124ff. 284 Vgl. Thomasius: Fundamenta juris naturae, I,6,56ff.; siehe dazu auch Schneiders: Natur285 recht und Liebesethik, S. 283. Vgl. Thomasius: Fundamenta juris naturae, 1,6,35.

224 Die Produktion eines >sozialen surplus< und seine kollektive Aneignung ist für Thomasius ein unverzichtbarer Vorgang für die Herstellung eines wirklich befriedeten Gemeinwesens. Die damit verbundene Beherrschung der Affekte, die auch durch das iustum und honestum bewirkt werden soll,286 bezeichnet, soweit sie explizit verlangt wird, eine markante Position innerhalb des von Norbert Elias rekonstruierten >Prozesses der Zivilisa" tionProzeß der Zivilisation< für die Schaffung eines vernünftigen Gemeinwesens selbst in die Hand nimmt. 1.4.4. Naturrecht und positives Recht Die Unterscheidung von imperium und consilium spielt bei der Beschreibung von Naturrecht und positivem Recht und vor allem bei der Bestimmung ihres Verhältnisses zueinander wiederum eine wichtige Rolle. Denn abweichend von den Institutiones schränkt Thomasius den Gesetzesbegriff im engeren Sinn mit seinen spezifischen unmittelbaren Wirkungen Gebieten und Verbieten sowie Zwingen und Strafen auf das positive Recht bzw. positive Gesetz ein, während er dem Naturrecht nur noch beratende Funktionen zugesteht. Als Gesetz im engeren Sinn bestimmt Thomasius die Befehle der imperantes in der Republik: »Stricte lex sumitur pro jussio imperantium seu Dominorum, sive Regum & Magistratum, strictissime pro jussibus universalibus imperantium in Republica«.294 Das Gesetz ist damit zunächst menschliches Gesetz, dessen Zweck es ist, den Einzelnen zu verpflichten und seine »äußerliche Freyheit im Zaume« zu halten. Es ist gegebenes und veränderbares Gesetz, das um seiner Geltung willen der Publizierung durch den Gesetzgeber bedarf.295 Demgegenüber steht das ius naturae, das im weiteren Sinne alle moralischen Gebote umfaßt, also neben den Geboten des iustum auch die des honestum und decorum, im engeren Sinne aber nur die Normen

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Vgl. Elias: Über den Prozeß der Zivilisation, II, S. 312-314. Thomasius: Fundamenta juris naturae, 1,5,3. Vgl. Thomasius: Fundamenta juris naturae, 1,5,§§29,32,45.

226 des iustum benennt, die als erzwingbare und unverzichtbare positives Gesetz werden. Das Naturrecht ist göttlichen Ursprungs, es ist - wie es auch schon in den Institutiones hieß - den Menschen vom Schöpfer ins Herz geschrieben worden. Es bedarf insofern keiner Publizierung und kann durch »Vernunft-Schluß« von einem »ruhigen Gemüth«296 erkannt werden; es ist als Norm für alle Menschen unabhängig von ihrer Haltung zu Gott verbindlich und unveränderlich.297 Diese näheren Bestimmungen von positivem Recht bzw. Gesetz und Naturrecht differieren zunächst kaum von den entsprechenden Ausführungen in den Institutiones. Entscheidend und innerhalb der Theorie von Thomasius innovativ ist jedoch die folgende Feststellung: »hüte dich demnach, daß du nicht meinest, als wenn das natürliche und gegebene, das göttliche und menschliche Gesetze Arten von einerley Natur wären: Das natürliche und göttliche Gesetze gehöret mehr zu denen Rathschlägen, als zu denen Herrschafften; das menschliche Gesetze in dem eigentlichen Verstand genommen wird nur von der Norm der Herrschafft gesaget«.298 Hier wird expressis verbis der mit dem imperium verbundene engere Begriff des Gesetzes für das positive reserviert, während das Naturrecht nur noch als consilium fungieren kann. Damit wird zwar nicht die Geltung des Naturrechts, wohl aber seine materielle Durchsetzbarkeit empfindlich berührt. Die Möglichkeit zu zwingen und zu strafen, also Herrschaft auszuüben, steht dem Naturrecht nicht zur Verfügung, »die Straffe ist ihrer Natur nach menschlich und willkührlich, weil eine jede Straffe von einem herrschenden Menschen aufgelegt wird. Das Recht der Natur saget bloß, daß die Übertreter Straffe verdienen.«299 Allerdings sieht Thomasius ein der menschlichen Strafe durchaus analoges Durchsetzungsmittel für das Naturrecht vor, von dem er sich offensichtlich Wirksamkeit verspricht. Den Verstoß gegen die Gesetze der Natur bestraft Gott als ihr Urheber selbst und zwar nicht sichtbar, sondern »verborgen und heimlich, das ist, die Verknüpfung des Übels mit der Sünde fället nicht in die Augen, obgleich vielleicht das Übel selbst sichtbar ist.«300 Mit dieser Konstruktion versucht Thomasius einerseits die Verbindlichkeit des Naturrechts zu sichern, andererseits macht er zugleich deutlich, daß das Naturrecht eigentlich nur ein Ordnungsinstrument Gottes ist, der Untertan also nicht mit Hilfe des Naturrechts gegen eine ungerechte Obrigkeit vorgehen kann. Prinzipiell aber ist Gott eher ein Lehrer des Naturrechts, der als Weiser dem Törichten über das Naturrecht Rat erteilt und allenfalls JOf.

Thomasius: Grund-Lehren des Natur- und Völcker-Rechts, 1,5,29. Vgl. Thomasius: Fundamenta juris naturae, 1,5,8; sowie 1,5,45. 298 Thomasius: Grund-Lehren des Natur- und Völcker-Rechts, 1,4,35. 299 Thomasius: Grund-Lehren des Natur- und Völcker-Rechts, 1,5,38. 300 Thomasius: Grund-Lehren des Natur- und Völcker-Rechts, 1,5,39. 297

227 als Vater, nicht aber als Herr oder Fürst vorgestellt werden kann, »weil es der Vollkommenheit göttlicher Gütigkeit eher zukommet, der Menschen bestes zu suchen, als in denen der Menschen Hertzen eingeschriebenen Gesetzen auf despotische Art und Weise seinen Nutzen zu suchen. Allein des Vaters befehliche sind mehr Rathschläge, als Herrschaften«.301 Das Naturrecht als iustum bleibt auch als consilium die das positive Recht normierende Instanz - und zwar wird das Gerechte des Naturrechts in der idealisierten Konstruktion der Fundamenta über die Positivierung gleichzeitig zum Legalen.302 Andersherum, so betont Thomasius, kann »wieder das in einer engern Bedeutung genommene Recht der Natur, welches die Beleidigung anderer Menschen verbietet, [...] das publicierte Recht gar nichts mit einem Nachdruck disponieren«.303 Das Naturrecht als natürliches Gesetz (qualitas moralis passiva) schafft eine Verpflichtung, derer sich der Mensch nicht entledigen kann. Diesem Gesetz unterliegt auch die menschliche Gesetzgebung, so daß nach Auffassung von Thomasius gilt: »Lex naturalis non potest directe mutari a lege positiva«.304 Worin die durch das »directe« angedeuteten Bedingungen bestehen, die eine nur als Verstoß denkbare Änderung der lex naturalis rechtfertigen, deckt Thomasius allerdings nicht auf. Dem prinzipiell unveränderlichen Gesetz steht das als qualitas moralis activa gefaßte natürliche Recht des Naturrechts gegenüber, das als »attributum personae« sowohl veräußerlich ist, als auch vom positiven Recht verändert und eingeschränkt werden kann.305 Dies wird dem positiven Recht vom Naturrecht aus ebenso gestattet wie die positiv-rechtliche Normierung alles dessen, was das Naturrecht von sich aus unberührt läßt, was aber zur Erfüllung etwa des Staatszwecks normiert werden muß.306 Mit dieser expliziten Einschränkbarkeit des natürlichen Rechts als angeborenes subjektives Recht sind die Menschenrechte des ausgehenden 18. Jahrhun-

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305 306

Thomasius: Grund-Lehren des Natur- und Völcker-Rechts, 1,5,41. Vgl. Schneiders: Naturrecht und Liebesethik, S. 276. Positivierbar sind nur die Normen, die durch das imperium auch erzwingbar sind, also nur die Normen des iustum, nicht aber die des honestum und decorum. Hierin liegt eine entscheidende Begrenzung der staatlichen oder fürstlichen Macht, die Stephan Buchholz in seiner Bewertung der Theorie von Thomasius nicht berücksichtigen kann, weil er unzutreffend von einer »generellen Positivierbarkeit alles dessen« ausgeht, »was in dem weiten Spektrum von >iustum, honestum et decorum< vorfmdlich ist.« Buchholz: Recht, Religion und Ehe, S. 176. Thomasius: Grund-Lehren des Natur- und Völcker-Rechts, 1,5,53. Thomasius: Grund-Lehren des Natur- und Völcker-Rechts, 1,5,64. Vgl. Thomasius: Fundamenta juris naturae, 1,5,64. Vgl. zum Verhältnis zwischen positivem Recht und Naturrecht die Ausführungen von Jan Schröder: >Naturrecht bricht positives Recht< in der Rechtstheorie des 18. Jahrhundert? In: Dieter Schwab et al. (Hrsg.). Staat, Kirche, Wissenschaft in einer pluralistischen Gesellschaft. Festschrift zum 65. Geburtstag von Paul Mikat. Berlin 1989, S. 419-433.

228 derts - obwohl sie im Grunde schon benennbar werden - noch einmal in weite Ferne gerückt. Die in den Fundamenta geleistete Einschränkung des Gesetzesbegriffs auf das erzwingbare positive, also herrschaftlich realisierbare Recht und die damit einhergehende Bestimmung des Naturrechts wurde möglich durch die systematische Entfaltung der Innen-Außen-Dichotomie, der damit verbundenen Unterscheidung von erzwingbaren und unerzwingbaren Normen und die daraus resultierende Einführung von imperium und consilium als die beiden Modi der Normapplikation. Der Sache nach liegt diese doppelte Reduzierung durchaus in der Konsequenz dessen, was in den Institutiones bereits zur Bestimmung des positiven Rechts und des Naturrechts ausgeführt worden ist. Denn auch in den Institutiones wurde das Gesetz als Befehl gedacht, wobei das Gesetz als menschliches positives Gesetz über Zwangsmittel zu seiner Durchsetzung verfügte, während das Naturrecht als Befehl Gottes zwar nicht minder strikt bindend war, allerdings nicht mit Hilfe von Zwang realisiert werden konnte. So wirkten bereits in den Institutiones ohne daß dies eigens erörtert worden wäre - das positive Gesetz äußerlich und das göttliche Gesetz innerlich, denn der Fürst als die dem positiven Gesetz nicht unterworfene Gesetzgebungsinstanz war nur über das Gewissen durch das Naturrecht gebunden. Thomasius' Neufassung des Verhältnisses von positivem Recht und Naturrecht geschieht offenbar in einer von ihm selbst nicht thematisierten Anlehnung an Thomas Hobbes. Denn ähnlich wie später Thomasius definierte bereits Hobbes im 1651 erschienenen Leviathan das Gesetz als Befehl der Obrigkeit und setzt es explizit vom Rat ab,307 den zu befolgen - im Gegensatz zum Befehl - niemand gezwungen werden kann.308 Außerdem findet sich auch bei Hobbes die Feststellung, das Gesetz bedürfe, um gültig zu sein, der mündlichen oder schriftlichen Bekanntmachung,309 und schließlich unterscheidet Hobbes unveränderliche natürliche Gesetze und qua positives Gesetz einschränkbare natürliche Rechte, die aber beide dem Naturrecht angehören.310 Obwohl Thomasius' Überlegungen sachlich und in der Konsequenz der berühmt gewordenen Formulierung von Thomas Hobbes, »auctoritas non Veritas facit legem«, wohl kaum nachstehen, geht es ihm dennoch nicht um ein Gesetz, das »zu einer bloßen willkürlichen und äußerlichen Strafandrohung«311 degeneriert. Vielmehr ist es an Funktionen gebunden, die durch den Endzweck des Staates definiert sind, und schließlich wird 307

ins Tin 311

Vgl. Hobbes: Leviathan, S. 228. Vgl. Hobbes: Leviathan, S. 196. Vgl. Hobbes: Leviathan, S. 207. Vgl. Hobbes: Leviathan, S. 205. Schneiders: Naturrecht und Liebesethik, S. 264.

229 durch das weiterhin bestehende Gebotensein des Naturrechts als göttlicher Norm willkürlichen Maßnahmen prinzipiell Grenzen gesetzt. So daß der Gesetzgeber bei Thomasius auf das Naturrecht als grundlegend normierende Instanz verwiesen bleibt, selbst wenn die nur als consilium aufgefaßten Normen des Naturrechts gegen das positive Recht nicht materiell rechtlich durchgesetzt werden können. Damit erweist sich der >Rechtspositivismus< von Thomasius eher als >gesetzestechnischer< Rechtspositivismus, der immerhin noch die Orientierung des Gesetzgebers an überpositiven Normen vorsieht und weniger als absolutistischen Rechtspositivismus, der dem Gesetzgeber das >Recht< einräumt, »beliebige Bestimmungen in den Rang geltenden Gesetzes« zu erheben.312 Diese rechtspositivistische Konstruktion zielt im Grunde auf einen das Recht garantierenden Staat und damit letztlich auf eine Variante des Rechtsstaates. Die Konstruktion ist dabei ebenso ertragreich und modern, wie sie unter den Bedingungen des politischen Absolutismus prekär bleiben muß. Ertragreich ist sie, weil die Klarheit darüber, daß nur das Recht ist, was als solches vom Gesetzgeber erlassen und publiziert worden ist, ein ius certum schafft, das dem Verlangen nach »Allgemeinheit, Gleichheit und Rechtsgewißheit«313 entgegenkommt, indem es nicht zuletzt alle konkurrierenden Rechtsquellen ausschließt. Dabei verliert das Naturrecht seinen Charakter als fundierende Norm nicht, wohl aber seinen definitiven Rechtscharakter, aufgrund dessen es zuvor zum doppelten Boden des positiven Rechts hat werden können.314 Modern ist die Einschränkung des Rechts auf positives Recht, weil es in der Lage ist, sich in seinen Normierungsleistungen der Dynamik einer sich rasch entwickelnden und komplexer werdenden Gesellschaft anzupassen.315 Über ein Bewußtsein von Dynamik verfügte Tho312 Otfried Höffe: Das Naturrecht angesichts der Herausforderung durch den Rechtspositivismus. In: Das Naturrechtsdenken heute und morgen. Hrsg. von Dorothea Mayer-Maly und Peter M. Simons. Berlin 1983, S. 318. Siehe dort neben der Unterscheidung von gesetzestechnischem und absolutistischem Rechtspositivismus auch die Erörterung weiterer Spielarten des Rechtspositivismus. Siehe zur Funktion des Naturrechts als »Maßstab für den Gesetzgeber« auch Rolf Lieberwirth: Christian Thomasius und die Gesetzgebung. In: 313 Schneiders (Hrsg.): Christian Thomasius, S. 174. Peter Krause: Naturrecht und Kodifikation, S. 17. 314 Ganz ähnlich befindet Welzel: »Mag die Positivität auch keineswegs, wie der Positivismus meinte, den Begriff des Rechts erschöpfen - ein Wesensmoment ist sie: Erst die Ordnung, die wirklichkeitsgestaltende Kraft hat, ist Recht, und die idealste Ordnung, die diese Kraft nicht besitzt, erfüllt diese elementarste Voraussetzung des Rechtsbegriffs nicht. Diese Einsicht hatte für das Naturrecht die weittragende Folge, daß es seinen Anspruch, Recht zu sein, aufgeben mußte. Es umfaßt vielmehr nur einen Teil des Rechtsbegriffs, nämlich seine ideell-normativen Elemente.« Welzel: Naturrecht und materiale Gerechtigkeit, S. 165. Sie dazu auch Röd: Geometrischer Geist und Naturrecht, S. 175f. 315 Siehe dazu genauer Niklas Luhmann, der in der Positivität des Rechts eine Voraussetzung für die moderne Gesellschaft erkennt, und in seiner Beschreibung der Leistungen des po-

230 masius durchaus, denn schon 1688 heißt es in der kleinen Schrift Von denen Mängeln der Aristotelischen Ethic: »Mein lieber Freund. Die Zeiten ändern sich täglich«.316 Thomasius' Rechtspositivismus ist unter den Bedingungen des politischen Absolutismus prekär, weil der Extremfall einer Kollision von legalem positivem, aber ungerechtem Recht mit den gerechten Normen des Naturrechts nicht zugunsten des Gerechten auf rechtlichem Wege aufgelöst werden kann.317 Der politische Absolutismus hält im Fall ungerechter, aber legaler Gesetze nicht die Möglichkeit bereit, die Realisierung der naturrechtlich gerechten Norm einzuklagen. Dies setzte zum einen die Kodifikation naturrechtlicher Normen etwa in der Form eines Verfassungsrechts voraus, und zum anderen erfordert es die Einrichtung einer übergeordneten Gerichtsinstanz, deren höchstrichterliche Rechtsprechung auch den Gesetzgeber bindet. Damit wäre jedoch bereits ein Element von Gewaltenteilung realisiert, die Thomasius - wie zu zeigen sein wird - aus Gründen der inneren und äußeren Sicherheit des Staates ablehnt. Um aber dieser denkbaren, offenkundigen Schieflage des Rechts - ungerechtes Recht aufgrund eines gesetzestechnischen Rechtspositivismus ohne Gewaltenteilung - zu begegnen, versucht Thomasius im Sinne eines aufgeklärten Absolutismus, der zunächst den Fürst als Gegenstand der Aufklärung anvisiert, überwiegend nicht-rechtliche und nur appellativ wirksame Sicherungsmechanismen zu schaffen - die Installierung eines Weisen als Ratgeber ist da nur die markanteste Maßnahme.

316

sitiven Rechts den Zusammenhang von Recht und Gerechtigkeit aufgibt: »Erst dann gilt Recht positiv, wenn die Entscheidbarkeit und damit die Änderbarkeit des Rechts permanente Gegenwart wird und als solche ertragen werden kann. Zur Positivität gehört, daß das >jeweils< geltende Recht als Selektion aus anderen Möglichkeiten bewußt wird und kraft dieser Selektion gilt. Das jeweils geltende positive Recht schließt diese anderen Möglichkeiten zwar aus, eliminiert sie aber nicht aus dem Horizont des Rechtserlebens, sondern halt sie als mögliche Themen des Rechts präsent und verfügbar für den Fall, daß die Änderung des geltenden Rechts opportun erscheint.« Luhmann: Ausdifferenzierung des Rechts, S. 125. In: Christian Thomasius: Kleine Teutsche Schriften. Halle 1701. S. 87f.

317

Die Behauptung Wiebkings, Thomasius habe klar festgelegt, daß das Naturrecht positives Recht bricht, ist schlicht falsch und verkennt die innovative Leistung des Rechtspositivismus. Wiebking: Recht, Staat und Kirche, S. 90f. Siehe dagegen Rtlping, der zwar vage aber insgesamt wohl zurecht »Widersprüche« konstatiert, »die in der Rechtslehre selbst angelegt sind.« Rüping: Theorie und Praxis bei Christian Thomasius. In: Schneiders (Hrsg.): Christian Thomasius 1989, S. 140.

231 2.

Der absolutistische Staat als >Rechtsstaat
bellum omnium contra omnes< gedacht worden. Wenn der deutsche Text »Mißtrauen« als Übersetzung von »dissidentia« anbietet, dann geht er in der Abschwächung weiter als das lateinische Original: denn während mit »dissidentia« eine offenbar immer schon gegebene Uneinigkeit gemeint ist, die tendenziell zu einem offenen Konflikt führt oder führen kann, weist der Begriff »Mißtrauen« auf keine aktuelle Uneinigkeit hin, vielmehr wird diese als immer mögliche nur permanent erwartet. Thomasius: Göttliche Rechtsgelahrheit, 111,6,4. Vgl. Christian Wolff: Deutsche Politik, §214. Vgl. zur Unterscheidung zwischen älterem und neuerem NaturTecht Diethelm Klippel: Politische Freiheit und Freiheitsrechte im deutschen Naturrecht des 18. Jahrhunderts. Paderborn 1976. Sowie ders.: Naturrecht als politische Theorie. Zur politischen Bedeutung des deutschen Naturrechts im 18. und 19. Jahrhundert. In: Hans Erich Bödeker und Ulrich Herrmann (Hrsg.): Aufklärung als Politisierung - Politisierung der Aufklärung. Hamburg 1987. S. 267. Und ders: Von der Aufklärung der Herrscher zur Herrschaft der Aufklärung. In: Werner Schneiders (Hrsg.): Aufklärung als Mission. La mission des Lumiöres. Akzep-

232 einer Stärkung absolutistischer staatlicher Gewalt möglich war, den reglementierenden Einfluß des Staates in allen Lebensbereichen der Untertanen zu sichern: »Von größter Bedeutung filr die Herrschaftspraxis des absoluten Fürstenstaats erwies sich aber, daß der Gedanke der Glückseligkeit als Staatszweck nicht die Ausbildung individueller Freiheit bewirkt oder vorangetrieben hat. Denn indem er die Beförderung des Gemeinwohls Herrscher und Staat zur Pflicht machte, rechtfertigte er den permanenten Zugriff und die allgegenwärtige Aufsicht der Obrigkeit und schuf auf diesem Wege jenes Klima treu ergebener Untertänigkeit, das dem Fürstenstaat des Absolutismus gerade im Zeitalter der Aufklärung sein eigentümliches Gepräge gegeben hat. Der Staatszweck der Wohlfahrt und Glückseligkeit wurde zur Grundlage und Legitimation einer unbegrenzten Ausdehnung staatlicher Wirksamkeit.«322 Klippel spricht daher wiederholt vom älteren Naturrecht als »aufgeklärtes Fürstenrecht und aufgeklärte Fürstenethik«, die bzw. das »spezifisch auf die Interessen der souveränen Fürsten zugeschnitten ist«.323 Wobei er freilich weder den Aufklärungsaspekt des Begriffs »aufgeklärte Fürstenethik« hinreichend würdigt, noch das theoretische und politische Anliegen der jeweiligen Autoren in einer bestimmten historischen Situation angemessen berücksichtigt - dem Absolutismus als markantes Moment in der historisch anstehenden Rationalisierung des politischen Handelns und der Modernisierung des Staates, wie etwa Kunisch den Absolutismus beschreibt,324 schenkt Klippel nicht die notwendige Beachtung. Schließlich wäre überhaupt zu fragen, ob der naturrechtlich begründete Machtzuwachs der Fürsten im Absolutismus nach der ihnen theoretisch zugewiesenen Funktion tatsächlich >politisch< umgesetzt werden konnte; wurde der Fürst wirklich als politisch Handelnder vorgestellt? Daß der Fürst eigentlich keine Instanz aktiven politischen Handelns ist, hat mit bemerkenswerter Offenheit bereits Nicolaus Hieronymus Gundling betont. Die politische Kultur des Absolutismus ist für ihn längst eine Expertenkultur geworden: »Bey dem Fürsten selbst kommet das meiste auf die Staats-Bedienten an. Diese regieren gemeiniglich; der Fürst wird regiert. Magister est Minister; Minister Magister. Das kommet von der Schwachheit des Verstandes oder den Pas-

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323

324

tanzprobleme und Kommunikationsdefizite. Accueit röciproque et difficult^ de communication. Marburg 1993, S. 160, 163. Johannes Kunisch: Absolutismus, S. 28. Klippel. Von der Aufklärung der Herrscher zur Herrschaft der Aufklärung, S. 161; vgl. auch ders.: Politische Freiheit, S. 94; sowie ders.: Naturrecht als politische Theorie, S. 268. Vgl. Kunisch 1986, S. 21 f. Siehe auch Rudolf Vierhaus: Deutschland im Zeitalter des Absolutismus. Göttingen 2. Auflage 1984. S. 147f.

233 sionen der Fürsten her«.325 Und auch bei Wolff scheint der Fürst im Grunde nur noch eine formale Instanz zu sein, die nicht mehr aktiv gestaltet, sondern Kraft ihrer Souveränität andernorts - etwa in der Akademie - gefällten materialen Entscheidungen Gesetzeskraft verleiht. Von dieser Warte aus, die den Blick freigibt auf Momente einer verdeckten Marginalisierung souveräner Fürsten als politisch Handelnde, ließe sich die Frage, inwieweit das ältere Naturrecht auf die Interessen der Fürsten zugeschnitten war, neu stellen, denn es steht eigentlich noch dahin, ob die Funktionen, die von der Theorie den Fürsten zugedacht wurde, tatsächlich nach dem Geschmack der empirischen Fürsten war. Daß es innerhalb der Theorie nicht darum ging, politische Wirklichkeit abzukupfern und theoretisch zu afFirmieren, hat sogar der nicht eben progressive Christian Wolff immer wieder betont.326 Völlig unbestritten aber bleibt, daß »Glückseligkeit« und »Wohlfahrt« bzw. »aller Dinge Genüge« als positive Staatszwecke prinzipiell unbegrenzte staatliche Eingriffsmöglichkeiten sicherten. Im Hinblick auf Thomasius aber fragt sich nun, ob er diese Begriffe ebenfalls inhaltlich so füllt, daß sie als Mittel zur Legitimierung nahezu grenzenloser staatlicher oder fürstlicher Herrschaft fungieren können. Die Auffassung, die als Staatszweck bestimmte, in der Regel über die unmittelbar notwendige Subsistenz hinausreichende, materielle Wohlfahrt fungiere als Mittel, die staatliche Gewalt als prinzipiell grenzenlose theoretisch zu begründen, basiert auf der Annahme, daß dieser Staatszweck sich unmittelbar in konkrete Staatsaufgaben umsetzt. Der Staat müßte demnach entweder selbst als Wirtschaftssubjekt auftreten, das unternehmerisch die erforderlichen Leistungen erbringt, oder die auf seinem Territorium befindliche Wirtschaft kontrollieren und dirigieren; eine Vermischung von beiden Funktionen wäre noch als eine dritte Variante denkbar. Historisch gesehen hat diese Annahme ihren guten Sinn: »Der Entwicklungsrückstand durch den Krieg und die Stagnation der Nachkriegsära haben [...] die Regierungen in besonderem Maße herausgefordert. Als andere Kräfte erschöpft waren, 325

326

Nicolaus Hieronymus Gundling: Einleitung zur wahren Staatsklugheit. Aus desselben mündlichen Vortrag ehemals von aufmerksamen Zuhörern aufgezeichnet. Itzo aber aus zuverlässigen Handschriften zusammen getragen und zu allgemeinem Gebrauche dem Druck Uberlassen. Frankfurt und Leipzig 1751, S. 35. Vgl. Christian Wolffs Deutsche Politik'. »Allein ich rede jetzt als ein Weltweiser, von dem, was mit Vernunft geschehen kan und soll. Trifft es mit dem überein, was üblich ist, so erkennet man, daß unsere Einrichtungen vernünftig sind. Findet man hingegen, daß es anders beschaffen, als wie es erwiesen; so lernet man, worinnen noch eine Besserung vorzunehmen«. (§370) Vgl. dazu auch Diethild Maria Meyring: Politische Weltweisheit. Studien zur deutschen politischen Philosophie des 18. Jahrhunderts. Diss. Münster 1965, S. 88ff. Dagegen hebt Christoph Link vor allem die »restaurativen Tendenzen« in Wolffs Werk hervor, in: Link: Herrschaftsordnung und bürgerliche Freiheit, S. 54.

234 kam ihre geschichtliche Stunde.«327 Dies gilt filr den wirtschaftlichen Bereich wohl in besonderem Maße: die staatliche Gewerbeförderungspolitik und der Merkantilismus mögen als Stichwörter gelten, die einerseits die notwendig gewordene wirtschaftlich aktive Rolle des Staates markieren, andererseits aber auch für gleichzeitige Bevormundung und staatlichen Dirigismus stehen.328 Und schließlich darf wohl auch nicht übersehen werden, daß die Vorstellung, der Staat habe die Bevölkerung mit materiellen Gütern zu versorgen, in einer Zeit, da Hungersnöte zum einen noch nicht lange zurücklagen und zum anderen noch immer befürchtet werden mußten, von nachvollziehbarer Attraktivität war. Allerdings ist fraglich, ob dieser historische Befund ohne weiteres mit der Theorie von Christian Thomasius in Einklang gebracht werden kann. Dies setzte voraus, daß innerhalb der Theorie Staatszweck und Staatsaufgaben so eng aufeinander bezogen sind, daß in diesem Punkt von einer Identifikation der Staatsaufgaben mit dem Staatszweck gesprochen werden kann.329 Wenn prinzipiell an der begrifflichen und praktischen Differenz von Staatszweck und Staatsaufgaben festgehalten werden muß, wobei die notwendige Beziehung zwischen beiden nicht in Abrede gestellt wird, dann läßt sich die Realisierung des Staatszwecks als intendierter Effekt von staatlichen Vorkehrungen begreifen, die nicht in einem unmittelbar kausalen, sondern nur in einem mittelbaren Zusammenhang mit diesem Effekt stehen. Für den vorliegenden Fall heißt das: der Staatszweck kann erreicht werden, ohne daß der Staat als Wirtschaftssubjekt oder als dirigierende und bevormundende Instanz fungiert, und zwar indem er etwa mit rechtlichen Garantien die Rahmenbedingungen für erfolgreiches Wirtschaften sicherstellt. Die Realisierung des Staatszwecks - materielle Wohlfahrt oder aller Dinge Genüge - ließe sich so etwa als Effekt einer unter rechtlichen Bedingungen vollzogenen und (positiv-)rechtliche Bedingungen schaffenden Vergesellschaftung qualifizieren. Die unmittelbare Identifizierung des Staatszwecks mit den Staatsaufgaben dürfte sich aus dieser Perspektive nicht selten als unrichtig erweisen, was natürlich nicht heißt, daß diese Identifikation im Einzelfall nicht doch berechtigt sein kann. Es handelt sich insofern um zwei prinzipielle Möglichkeiten, wobei nur eine differenzierte Analyse ergeben kann, welche von beiden Möglichkeiten im jeweiligen Fall tatsächlich vorliegt. 327 Vierhaus: Zeitalter des Absolutismus, S. 25. MO 329

Vgl. Vierhaus: Zeitalter des Absolutismus, S. 27 und S. 45ff. Dahinter steht nicht zuletzt die Frage, ob Thomasius' Theorie die bestehenden Verhaltnisse einfach zu affirmieren sucht, oder ob sie den historischen Gegebenheiten gegenüber eine kritische Distanz behält - letzteres wird von Klippel filr das altere Naturrecht Uberhaupt und von Buchholz speziell für Thomasius in Abrede gestellt.

235 Welcher Variante Thomasius den Vorzug gibt, läßt sich nicht mit letzter Sicherheit sagen, die oben zitierte Textstelle gibt zur Klärung ebensowenig her wie parallele Stellen. Allerdings mögen Thomasius' privatrechtliche Überlegungen, die - wie Klaus Luig in verschiedenen Untersuchungen immer wieder betont330 - unverkennbar liberale Züge tragen, als Indikator dafür gelten, daß Thomasius den Bürger gerade in ökonomischen Belangen nicht als »Objekt obrigkeitlicher Fürsorge des Wohlfahrtsstaates«331 ansieht. Von daher ist anzunehmen, daß Thomasius die Staatsaufgaben nicht mit dem Staatszweck identifiziert. Stand es für Christian Wolff noch ganz außer Frage, daß der Staat unmittelbar gestaltenden Einfluß auf wirtschaftliche Prozesse nimmt und sowohl Preise als auch Löhne maßnehmend am gemeinen Besten festlegt,332 so erkennt Thomasius dagegen bereits in den Institutiones eine gewisse Preisfreiheit an: die Bestimmung des Preises ist in erster Linie Sache der Wirtschaftenden und orientiert sich an der »Seltsamkeit« (»raritas«) der Waren333 und der für sie aufgewendeten Arbeit. Insofern verfügt die Fixierung der Preise über eine objektive Basis, die jeder Willkür sowohl der Wirtschaftenden als auch der Fürsten durch die Natur der Sache Grenzen setzt. »Der gemeine Preiß ist zwar noch gantz gemein, daß man nemlich siehet auff den Marckkauff, bey welchen über die Seltsamkeit der Wahren, auch die Arbeit und Unkosten gerechnet werden, welche die Kauffleute gemeiniglich in Zuführe und Handthierung ihrer Wahren auffwenden, ingleichen ob etwas in grosser Menge, oder einzeln gekaufft oder verkaufft wird. Es verändert sich auch der gemeine Preiß geschwinde, nachdem etwas guten oder schlechten Abgang hat, item nach dem das Geld oder die Wahre beschaffen«.334 Und Thomasius fährt fort: »In solchen Dingen nun, bey welchen gedachte Umstände zu beobachten sind, kan der Fürst ihrer wundersamen Veränderung halben, wegen ihres Preisses nichts gewisses verordnen, sondern muß den Tax der gemeinen Willkür der Käuffer und Verkäuffer überlassen«.335 Diese

330

331 332 333 334

Vgl. Klaus Luig: Bemerkungen zum Problem des gerechten Preises bei Christian Thomasius. In: K.-H. Pollock (Hrsg.): Tradition und Entwicklung. Gedenkschrift für J. Riederer. Passau 1981, S. 167-179. Ders.: Der gerechte Preis in der Rechtstheorie und Rechtspraxis von Christian Thomasius (1655-1728). In: Diritto e potere nella storia europea. Atti del quarto Congresso internazionale della Societä Italiana die Storia del Diritto. Firenze 1982, S. 775-803. Sowie zuletzt ders.: Das Privatrecht von Christian Thomasius zwischen Absolutismus und Liberalismus. In: Werner Schneiders (Hrsg.): Christian Thomasius, S. 148-172. Luig: Das Privatrecht von Christian Thomasius, S. 151. Vgl. Christian Wolff: Deutsche Politik, §§280, 282, 377, 384. Thomasius: Institutiones jurisprudentiae divinae, 11,11,28. Thomasius: Göttliche Rechtsgelahrheit, 11,11,46. Thomasius: Göttliche Rechtsgelahrheit, 11,11,47.

236 prinzipielle >Liberalität< hat allerdings auch wieder ihre Grenzen, denn Thomasius stellt fest: »Wenn aber der Fürst siehet, daß er selbst den Preiß der Dinge Recht und Macht habe, welches sonderlich in den Dingen die der Abnutzung und in einheimischen Sachen, Item in gemeiner Arbeit angehet, so ist es wohl am besten, daß er solches thue allen Streit zu vermeiden«.336 Die Bestimmung der Umstände, unter denen die Festsetzung eines solchen »pretium legitimum« gerechtfertigt ist, bleiben äußerst vage. Denn unklar ist, was in diesem Zusammenhang »Recht und Macht« tatsächlich heißt. Die Übersetzung geht allerdings mit diesen Begriffen weit über den Wortlaut des lateinischen Originaltextes hinaus, anstelle von »Recht und Macht« ist hier nur von »posse« die Rede.337 Damit werden in Zusammenhang mit dem »pretium ligitimum« zwei für die Staatsphilosophie von Christian Thomasius markante Argumentationen sichtbar, die vor allem im Hinblick auf die Begrenzung der höchsten Gewalt noch eine Rolle spielen werden: 1. Wirtschaftliche Prozesse sind dem fürstlichen Einfluß nicht in erster Linie durch subjektive Rechte der wirtschaftlich Tätigen weitgehend entzogen, sondern durch die objektive von der Sache her gegebene Unmöglichkeit wirksamer Einflußnahme. Interessant ist dieses Argument vor allem deshalb, weil es Thomasius gelingt, ohne von seinem absolutistischen Staatsmodell abzurücken, die Reichweite fürstlicher Macht im Rekurs auf das praktisch Mögliche bzw. Unmögliche de facto zu begrenzen. Auf diese Weise bereitet er explizit liberalen Positionen zweifellos den Boden. 2. Die reglementierenden fürstlichen Initiativen - hier die Festsetzung des Preises - bedürfen um ihrer Rechtfertigung willen die Bindung an einen bestimmten, ihnen spezifischen Zweck: ihre Aufgabe ist es, »Streit zu vermeiden«, also den inneren Frieden des Gemeinwesens zu sichern. Eine in ökonomischen Belangen liberale Haltung bekundet Thomasius noch in einer anderen Hinsicht, und zwar billigt er den Untertanen eine erstaunliche soziale Mobilität und Eigenverantwortlichkeit zu, indem er die Wahl des Standes, d.h. des Berufes der Verantwortung jedes Einzelnen anheimstellt. Will Christian Wolff den Zugang zu den jeweiligen Berufen reglementieren und die Anzahl derer, die einem bestimmten Gewerbe nachgehen, behördlich festlegen,338 heißt es dagegen bei Christian Thomasius: »Daher ist nun die Frage, was man vor einen Stand wählen solle? Hierauf dienet zur Antwort: wehle Anfangs einen, und zwar einen gewissen Stand. §35. Hernach so muß man nichts vornehmen oder thun, worzu man nicht 336 337

338

Thomasius: Göttliche Rechtsgelahrheit, II,11,53. »Quodsi tarnen princeps videat, quod ipse rerum pretia determinare possit, [...] ad lites praescindendas optimum est, si hoc faciat.« Thomasius: Institutiones jurisprudentiae divinae, 11,11,53. Vgl. Christian Wolff: Deutsche Politik §282.

237 geschickt ist, und worzu man keine Lust hat [...] §36. Gleichwie nun so leicht keiner eine Lebenart erwehlet, worzu er keine Lust hat, also ist sehr unvernünfflig gehandelt, wenn die Eltern ihre Kinder zwingen einen solchen Stand zu wählen«.339 Von dem reglementierenden Ordnungswillen des Fürsten oder des Staates ist hier nicht die Rede. Er spielt auch keine Rolle in den Überlegungen, die Thomasius in den Cautelen zum »Oeconomischen Studio« anstellt. Die Ökonomie als »Klugheit, ein Vermögen zu erwerben und zu administriren«340 betrifft den Einzelnen als privat, d.h. in eigener Verantwortung, wirtschaftender Bürger. Dieser muß sich ganz im Sinne der von Max Weber eindrucksvoll beschriebenen >protestantischen Ethik< »vor den subtilen Mönchsmüßiggang hüten und festiglich glauben, daß der Mensch zur Arbeit destiniret sey, und daß derjenige, welcher nicht arbeitet auch nicht wert sey, daß er isset«341 Diese ethische Dimension des Wirtschaftens setzt sich mit erkennbar liberaler Akzentuierung über das Private hinaus auf der Ebene des staatlichen Nutzens fort: »Hieraus ist nun leicht zu erachten, daß derjenige viel tugendhafter handele, auch dem gemeinen Wesen weit mehr nutze, der nach seinem Stand propre lebet, und also vielen Leuten zu thun und was zu verdienen gibt, als derjenige, so sich genau behilfft, und sein Vermögen solcher unnützen Erden-Lust, wie die heutige Bettler und die Mönche sind, giebet«.342 Nach dem bisher Ausgeführten läßt sich wohl mit gutem Grund vermuten, daß Thomasius mit der Formulierung der Autarkie bzw. aller Dinge Genüge oder materielle Wohlfahrt als Staatszweck nicht die vollständige staatliche Reglementierung wirtschaftlicher Prozesse vor Augen gehabt hat, vielmehr scheint es, als würde sich - nach Auffassung von Thomasius - der ökonomische Bereich als eigener, der direkten Einflußnahme des Staates weitgehend entzogener Bereich selbstständig organisieren, jedoch nicht ohne die unverzichtbaren staatlichen Garantien - vor allem Rechtssicherheit - in Anspruch zu nehmen. Auf diese Weise konstituierte sich mit Hilfe des Staates - oder genauer: aufgrund des Staates - über die Ökonomie organisiert eine bürgerliche Gesellschaft, die sozusagen unterhalb der staatlichen Ebene angesiedelt ist, und zwar sowohl von ihr abgegrenzt als auch mit ihr verknüpft. Die Realisierung des Staatszwecks, aller Dinge Genüge oder materielle Wohlfahrt, ließe sich so als mittelbarer Effekt staatlicher Vorkehrungen begreifen, der insofern nicht das Ergebnis unmittelbar staatlicher Gestaltung ist. 339

340 341 342

Thomasius: Cautelen zur Erlernung der Rechts-Gelahrtheit, S. 433f., siehe analog dazu Summarischer Entwurff I,XVII,43-45. Thomasius: Cautelen zur Erlernung der Rechts-Gelahrtheit, S. 423. Thomasius: Cautelen zur Erlernung der Rechts-Gelahrtheit, S. 423. Thomasius: Cautelen zur Erlernung der Rechts-Gelahrtheit, S. 425.

238 So wie der Begriff >Autarkie< bzw. die Wendung >aller Dinge Genüge< der Überprüfung bedurften, muß nun auch der Begriff >GlückseligkeitKünstlichkeit< einer menschlichen Ordnung voraussetzt und den Menschen einen Platz als Bauer, Adeliger u.dgl. anweist (4).370 Mit dieser etwas umständlichen Einteilung, die nur sehr von Ferne an die Differenzierung von ebenfalls vier Naturzuständen bei Pufendorf erinnert,371 verfolgt Thomasius ein explizit systematisches Interesse: »Wir haben aber auch diese Einteilung des natürlichen Standes nicht vergebens gesetzt. Denn der erste natürliche Stand wird seinen Nutzen haben in Herleitung der Pflichten des Menschen gegen Gott und in dem Gebot, daß man Gleichheit halten soll. Der andere, wenn man beweisen soll, daß eine Gesellschaft nothwendig sey. Der dritte eine Vergleichung unterschiedener Gebote des natürlichen Rechts so wohl auch anderswo. Der vierte gehöret in die Rechtsgelahrtheit, vornehmlich in die menschliche Rechtsgelahrtheit«.372 Das dichotomische Modell von status naturalis und status civilis wird hier als Dichotomie von natürlichen und willkürlichen Zuständen über seine klassische Funktion innerhalb der Staatsphilosophie hinaus für die Begründung nahezu aller naturrechtlicher Problemkomplexe in Anspruch genommen. Der klassische status naturalis, der für die Staatsphilosophie von Bedeutung ist, dürfte mit dem dritten natürlichen Stand identisch sein, der in direkter Opposition zum bürgerlichen Zustand steht. Dieser dritte natürliche Stand ist dann auch immer gemeint, wenn später von den »Ungelegenheiten« des natürlichen Standes die Rede ist,373 zu deren Behebung der Staat gegründet wird. Als Teil des postlapsarischen Standes gelten für den status naturalis diejenigen Kennzeichen, die Thomasius für den Stand nach dem Fall feststellt. Systematisch stellen sie in der Tat lediglich die direkte negative Wendung der paradiesischen Vollkommenheiten dar: neben den Unzulänglichkeiten des Leibes, der Bedrohung durch Krankheit und Tod, nennt Thomasius den üblen Einfluß der Affekte auf den Willen und die reduzierte »Schärffe des Verstandes«.374 Weil die paradiesische Fülle an lebensnotwendigen Gütern im Stand nach dem Fall verloren war, der Acker anstatt Früchte Disteln trug und die notwendig gewordene Arbeit nur unter Mühen geleistet werden konnte, wurde, vor allem nach der Vermehrung der

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372 373 374

Vgl. Thomasius. Göttliche Rechtsgclahrheit, 1,2,50-55. Vgl. dazu Denzer: Moralphilosophie und Naturrecht, S. 99ff; sowie Behme: Samuel von Pufendorf, S. 57ff. Thomasius: Göttliche Rechtsgelahrheit, 1,2,58. Thomasius: Göttliche Rechtsgelahrheit, 111,6,21. Thomasius: Göttliche Rechtsgelahrheit, 1,2,29.

246 Menschheit, die Einführung des Eigentums notwendig.375 Fortdauernde Verteilungskämpfe um die gemeinsam oder einzeln erarbeiteten Güter sollen damit verhindert werden: »Derhalben ist hier das gewisseste, daß die Theilung des Eigenthums der Dinge im Stande nach dem Fall mehrenteils daher entstanden sey, damit Hadder vermieden würde«.376 In letzter Konsequenz macht Thomasius jedoch nicht die Knappheit vorhandener Güter für die Einführung des Eigentums verantwortlich, sondern die erst mit dem Sündenfall entstandene »Boßheit der Menschen und (die) Nachlassung der Lie' be«.377 Mit der Einführung des Eigentums waren die Voraussetzungen für weitere >Gesellschaftsformen< geschaffen, die im status integritatis noch nicht bestanden hatten. Zunächst die »Gesellschafft unter Herren und Gesinde«, die ebenso herrschaftlich organisiert ist wie die vordem durch »höchste Gleichheit«378 gekennzeichnete Ehe und die »Gesellschafft unter Eltern und Kindern«. Diese societas herilis beruht auf einer doppelten »Nothdurfft«:379 der eigentumbesitzende Herr bedarf zum Erhalt und zur Vermehrung seines Vermögens der fremden Hilfe eines Knechtes, der selbst ohne Eigentum geblieben ist, und seinen Unterhalt durch Arbeit verdienen muß, indem er sich als »Werckzeug« (»instrumentum«)380 im Hause des Herrn verwenden läßt.381 Daß demnach die ursprüngliche Verteilung des Eigentums nicht nur Eigentümer, sondern auch Nicht-Eigentümer hervorgebracht hat, wirft ein Licht auf den Modus der Verteilung, von Thomasius wird dies jedoch nicht weiter problematisiert. Zweifellos identifiziert er hier den ihm de facto doch unbekannten status naturalis mit den ihm zugänglichen historischen Strukturen, die von ihm damit als quasi-notwendige, weil eigentlich immer schon gegebene Strukturen akzeptiert werden. Die Einführung des Eigentums im status naturalis ist notwendig flankiert von quasi-rechtlichen Übereinkünften - Thomasius spricht explizit von »Vergleichen« (»pacta«)382 - , die allenfalls naturrechtlich fundiert sein können und eine Vorform des späteren positiven Rechts im status civilis darstellen. Diese »Vergleiche« sind als Absprachen jedoch nicht in der Lage, das Eigentum wirksam gegen Übergriffe zu sichern: der status naturalis läßt die libertas naturalis des Einzelnen noch uneingeschränkt, es existiert noch keine Instanz, die Recht nicht nur setzt, sondern auch durchsetzt, und zwar

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381 382

Thomasius: Thomasius: Thomasius: Thomasius: Thomasius:

Institutiones jurisprudentiae divinae, II,10,100f. Göttliche Rechtsgelahrheit, 11,10,104. Göttliche Rechtsgelahrheit, 11,10,98 Fn t. Göttliche Rechtsgelahrheit, 11,10,72. Göttliche Rechtsgelahrheit, 111,5,2.

Thomasius: Göttliche Rechtsgelahrheit, 111,5,3. Vgl. Thomasius: Institutiones jurisprudentiae divinae, 1,2,36. Thomasius: Göttliche Rechtsgelahrheit, II, 10,101.

247 wirksam und für alle verbindlich. Diese prinzipielle Unsicherheit will Thomasius jedoch nicht, wie Thomas Hobbes, als Krieg aller gegen alle verstanden wissen. Die stete Furcht, in der der Einzelne im status naturalis zu leben hat, begreift er daher auch nicht als »ein grosses Schrecken des Gemtlths wegen eines bevorstehenden grossen Unglücks«, wie es einer quasi permanenten offenen oder latenten Kampfsituation entspräche, sondern weitaus abgeschwächter als »eine Muthmassung eines künftigen Schadens, und ein Mißtrauen«.383 Indem der Staat schließlich die Sicherungsleistung erbringen soll, auf die das Eigentum seit seiner Einführung angewiesen ist, erweist sich die Konstitution des Staates als eine über das Sicherheitsbedürfhis der Eigentümer vermittelte Konsequenz bestehender Eigentumsverhältnisse. Der Unterschied zwischen status integritatis und dem postlapsarischen Naturzustand ist kategorial und die Vertreibung aus dem Paradies irreversibel; der göttlichen Strafe kann der Mensch sich nicht entziehen. Allenfalls ist er in der Lage, indem er mit den ihm verbliebenen Verstand den bösen Neigungen des Willens entgegentritt, nicht weiter abzusinken: »Diese Veränderungen in dem Menschen müssen wir uns so groß einbilden, daß es schlechter dinge unmüglich ist, daß der Mensch diese Vollkommenheiten durch natürliche Mittel in diesem Leben verbessern könne«.384 So vergleicht Thomasius den Menschen im Stand der Unschuld sinnfällig »mit einem [...], der 100 000 Thaler hat«, während der Mensch nach dem Fall »das meiste von dieser summa im Schiffsbruch verlohren, und nicht mehr als 100 Thealer davon erhalten hat. Dieser muß sich bemühen, daß er nur nicht weniger als 100 Thaler habe, nicht daß er mehr habe«.385 Indem Thomasius strikt die Berücksichtigung der »Natur des Menschen [...] wie sie ist« fordert, wendet er sich einerseits kritisch-polemisch gegen die Versuche der Orthodoxie, das Naturrecht im Rückgriff auf den status integritatis zu formulieren und andererseits gegen utopische Entwürfe, etwa des platonischen Typs, die auf andere Weise ideale Konstruktionen zur fundierenden Norm machen: »Wir gehen ja nicht mit Vorstellungen (ideis) der Menschen umb, sondern mit Menschen, welche wircklich vorhanden seyn: bey denen muß man solch Mittel gebrauchen, die zu ihrer Erhaltung dienen. Ich halte auch derjenige werde schlechte Gnade verdienen, der einen Fürsten, welcher ihn wegen gemeinen Nutzens der Republic umb Rath fragte, in Mori Schlarauffenland weisen wollte«.386 181 384

386

Thomasius: Thomasius: Thomasius: Thomasius:

Göttliche Göttliche Göttliche Göttliche

Rechtsgelahrheit, Rechtsgelahrheit, Rechtsgelahrheit, Rechtsgelahrheit,

111,4,18 1,2,40. 1,2,40. 1,4,45.

248 2.1.2. Die Aufgabe des Naturzustandstheorems in den Fundamenta Die theoretischen Veränderungen und Innovationen in den Fundamenta betreffen auch Thomasius' Theorien von den vorstaatlichen Zuständen, und zwar doch weitergehender als dies zunächst zu vermuten war. Der in den Fundamenta vollzogenen definitiven Trennung von Theologie und Jurisprudenz fällt die theoretische Inanspruchnahme des status integritatis zum Opfer. Thomasius enthält sich aus zwei, von ihm selbst benannten Gründen387 aller Ausführungen zum Stand der Unschuld: 1. Die Annahme eines status integritatis kann sich nur auf die Heilige Schrift als Quelle stützen, deren Verwendung im juristischen Kontext bedeutet aber bereits die Vermischung von Natur und Offenbarung als die verschiedenen, nicht kompatiblen Prinzipien von Theologie und Jurisprudenz. 2. Der Stand der Unschuld hat keinerlei praktische Relevanz: er ist vollständig verloren, d.h. zum einen hat der gegenwärtige status corruptus nichts mehr mit ihm gemein und zum anderen ist er unwiederbringlich.388 Der Verzicht auf die theoretische Inanspruchnahme des status integritatis für juristische bzw. rechtsphilosophische Fragestellungen und Problembestände bedeutet indes nicht, daß Thomasius als Christ nicht auch weiterhin an die ursprüngliche Existenz des von Gott geschaffenen Paradieses glaubte. Selbst in wissenschaftlichen Zusammenhängen kommt Thomasius gelegentlich auf den status integritatis zurück. So wird beispielsweise in der neunten Anmerkung der Auserlesenen Anmerkungen über allerhand wichtige Materien und Schriften (1704) mit dem Titel Von Schulen vor der Sündfluth, unter ausdrücklichem Hinweis auf die in den Institutiones bereits formulierten Erkenntnisse, der Auffassung entgegengetreten, im Stande der Unschuld sei eine Unterweisung der Kinder notwendig gewesen und habe ein »Regiment ohne Gewalt und Zwang« bestanden.389 Und in der späten, 1724 in den Gemischten Händeln erschienenen Schrift Kurtze Lehr-Sätze vom Recht eines Christlichen Fürsten in Religions-Sachen taucht der Stand der Unschuld noch einmal in Zusammenhang mit dem friedenssichernden Zweck des States auf: »IV. Wenn überall Friede wäre, wäre kein gemein Wesen, und folglich auch kein Fürst oder höchste Gewalt. V. Demnach wäre im Stande der Unschuld kein gemeines Wesen oder Republique gewesen.«390 387 Die angeführten Gründe verdanken sich freilich Einsichten, die Pufendorf längst formu388 liert hatte. Vgl. Fundamenta juris naturae, Vorrede §17 und §19. 389 Vgl. Thomasius: Von Schulen vor der Sündfluth. In: Auserlesener Anmerckungen über allerhand wichtige Materien und Schrifften. Erster Theil. Franckfurt und Leipzig 1704, 390 S. 99-105. Thomasius: Kurtze Lehr-Sätze vom Recht eines Christlichen Fürsten in Religions-Sachen, S. 3, §5.

249 Thomasius verzichtet in den Fundamenta aber nicht nur auf den historisch ohnehin überholten Versuch, den status integritatis für rechtsphilosophische Belange fruchtbar zu machen, sondern gibt darüber hinaus auch das Naturzustandstheorem selbst - in Thomasius' ursprünglichem Schema den status naturalis innerhalb des status corruptus - weitgehend auf, indem er es auf seinen anthropologischen Kern reduziert. An die Stelle des vormaligen Naturzustands, der dem status civilis vorgelagert war - bei Thomasius offenbar sogar historisch, in anderen Theorien häufig nur hypothetisch - tritt eine Anthropologie. Wenn Thomasius behauptet »Alle Menschen sind von Natur aus thöricht und närrisch«,391 dann hat er keinen dem status civilis hypothetisch oder historisch vorgelagerten Naturzustand vor Augen, sondern benennt eine anthropologische Grundbefindlichkeit, die für alle Menschen zu allen Zeiten typisch ist. Insofern erlöst der status civilis den Menschen auch nicht aus den Verhältnissen des status naturalis, sondern er fungiert als technische Vorkehrung gegen die immer bestehenden destruktiv sich auswirkenden anthropologischen - also weder erworbenen noch prinzipiell oder vollständig aufhebbaren - Wesenseigentümlichkeiten des Menschen. Die systematische Stelle des Naturzustandstheorems als Modell wird nun von denjenigen anthropologischen Überlegungen besetzt, die in der vorliegenden Untersuchung in den Kapiteln über das Verhältnis von Wille und Verstand und über den Toren als Normadressat dargestellt wurden und bei Thomasius in die Erkenntnis münden: »daß die menschlichen Verrichtungen einer Norm benöthiget seyn, weil die grössesten Schäden und Nachtheile unter den Menschen entstehen würden, wenn ein jeder nach seiner eigenen Neigung, welche auf so viele unendliche Art und Weise der Neigung anderer widerstrebet, handeln wolte, und würde gewis in kurtzer Zeit ein Krieg aller wieder alle entstehen«.392 In den bereits erwähnten Kurtzen Lehr-Sätzen vom Recht eines Christlichen Fürsten in Religions-Sachen, in der Thomasius die wesentlichen Elemente seiner Staatstheorie in nuce skizziert, geht er noch einen Schritt weiter: von einem dem status civilis vorausgehenden Naturzustand ist nicht mehr die Rede, auch nicht von einem natürlichen Zustand aller Menschen, wohl aber vom Unfrieden in der Welt, und von der Funktion des Staates, Frieden herzustellen und zu bewahren. Die Reduzierung pointiert das Wesentliche: für die Begründung des Staates im Hinblick auf seinen Endzweck reicht die eigentlich empirische Feststellung des Unfriedens bzw. des gefährdeten Friedens systematisch aus. Thomasius leitet aus dem aufgefundenen bzw. prinzipiell auffindbaren Defizit (Unfrieden) das geeignete Mittel -1Q1

392

Thomasius: Göttliche Rechtsgelahrheit, 1,3,4. Thomasius: Göttliche Rechtsgelahrheit, 1,4,1.

250 zu seiner Kompensation (Staat) ab, ohne auf ein Naturzustandsmodell und ohne explizit - wohl aber notwendig implizit - auf eine Anthropologie zu rekurrieren. Thomasius konnte auch deshalb in den Fundamenta auf das Naturzustandstheorem verzichten, weil er dessen besondere Leistungen als Modell eines vorstaatlichen Zustandes für seine eigene Theorie nicht bedurfte. Darüber hinaus scheint es, als hielte er die Annahme eines historischen Naturzustandes als Basis für staatstheoretische Ableitungen angesichts seiner Unbelegbarkeit für unzureichend - zumindest hat er in der ähnlich gelagerten Frage nach dem ebenfalls geschichtlich nicht verbürgten ersten Ursprung der Republik ganz ähnlich argumentiert.393 Und im Vergleich mit dem immer noch in Frage kommenden hypothetischen Naturzustand hielt er eine explizite Anthropologie offenbar für theoretisch leistungsfähiger, zumal sie im Ausgang von empirisch vorfindlichen Menschen formulierbar ist und auf die letztlich unbefriedigend bleibende Konstruktion hypothetischer Zustände verzichten kann. Dabei darf natürlich nicht übersehen werden, daß ein Rest der das Naturzustandstheorem motivierenden Fragestellung erhalten bleibt, denn der anthropologische Befund ist staatstheoretisch nur fruchtbar zu machen, wenn er eine Antwort auf die Frage gibt, was wäre, wenn ein Staat nicht bestünde, und von dieser Antwort her der Endzweck eines Staates begründbar wird.394 Die Aufgabe des Naturzustandstheorems hat natürlich unmittelbare staatstheoretische Folgen, so wird zumindest der kontraktualistischen Annahme eines Gesellschaftsvertrags als Ursprung des Staates weitgehend der Boden entzogen. Daher wird sich die Frage stellen, welche theoretischen Aufgaben einem Kontraktualismus zugewiesen werden, der als Staatsgründungstheorie nicht mehr in Frage kommt.395

393

Vgl. Thomasius: Institutiones jurisprudentiae divinae, 111,6,3 und 5. Insofern spricht Thomasius natürlich nicht von ungefähr immer noch vom status naturalis, von dem es heißt: »Itaque status naturalis hominum omnium accurate loquendo nec status belli est, nec status pacis, sed confusum chaos ex utroque, plus tarnen participans de statu belli, quam de statu pacis.« Und anknüpfend an das in der Hofphilosophie bereits verwendete Bild vom Mittelweg fügt Thomasius in einer Fußnote hinzu: »Sic mediam tenes vi am inter Hobbesianos & Scholastico-Aristotelicos« (Thomasius: Fundamenta juris naturae, 1,3,5). Aber auch das kann nicht darüber hinwegtauschen, daß es Thomasius längst 395 um etwas anderes geht. Inwieweit Thomasius mit der hier beschriebenen Aufgabe des Naturzustandstheorems bereits in den Fundamenta die von Diethelm Klippel konstatierte Revision der alteren Konzeptionen vom Naturzustand durch das sogenannte »neuere Naturrecht« in gewisser Weise vorweggenommen oder auch nur vorbereitet hat, läßt sich im Moment nur vermuten. Genaueres müßte eine noch ausstehende Untersuchung zur Geschichte des Naturzustandstheorems im deutschen Naturrecht erst noch erbringen. Vgl. Klippel: Politische

394

251 2.3. Die Staatsgründung - die Konstitution der summa potestas Mit der Gründung des Staates und der damit verbundenen Konstitution der höchsten Gewalt (summa potestas) wird eine Instanz geschaffen, die den Endzweck des Staates realisieren soll, indem sie die Unsicherheit des vorstaatlichen Zustands aufhebt und Ruhe und Frieden garantiert. Die Theorien über die Gründung des Staates knüpfen in der Regel an Naturzustandstheorien an und versuchen häufig, über die Beschreibung des Gründungsaktes die Verteilung politischer Macht auf Herrschende einerseits und Beherrschte andererseits, auf Obrigkeit und Untertanen theoretisch zu legitimieren oder zumindest plausibel zu machen. Daher kommt der Beschreibung des Staatsgründungsaktes aber auch dem Verzicht auf eine solche theoretische Rekonstruktion als einem Indikator für die staatstheoretischen Akzente und politischen Interessen des jeweiligen Autors eine besondere Bedeutung zu. Thomasius hat sich mit dem Problem der Staatsgründung sowohl in den Institutions als auch in den Fundamenta mit unterschiedlichen Akzentuierungen und daher entsprechend differierenden Perspektiven befaßt; beide Ansätze sollen im folgenden erörtert werden. 2.3.1. Der Kontraktualismus in den Institutiones Noch bevor Thomasius seine an Pufendorf angelehnte kontraktualistische Staatsgründungstheorie expliziert, versucht er noch einmal genauer zu klären, was der Staatsgründungsakt im einzelnen zu leisten hat und wofür er eigentlich Ausdruck ist. Dazu greift Thomasius erneut auf die Frage zurück, was den Menschen vor der Bosheit anderer und dem daraus entstehenden Unglück wirksam zu schützen vermag. Und er stellt - ebenfalls in enger Anlehnung an Pufendorf - fest, daß die prinzipielle Unsicherheit des status naturalis nur durch den Zusammenschluß »einer grossen Menge Leute« aufgehoben werden kann, welche »nicht plötzlich und unbedachtsam zusammen gelauffen, oder einer hie, der ander da hinaus will, sondern welche darinnen untereinander einig sind, was vor Mittel zu demselben Zweck zugebrauchen, und in solcher Einigkeit verharren«.396 Demnach ist ein wirksamer Schutz an drei Voraussetzungen gebunden: 1. Es muß sich eine große Menge von Menschen zusammenschließen, deren Anzahl groß genug ist, damit ihr die Bündelung ihrer Kräfte hinreichend viel Macht und Gewalt

396

Freiheit und Freiheitsrechte, S. 114ff. Sowie ders.: NaturTecht als politische Theorie. In: Bödeker und Herrmann (Hrsg.): Aufklarung als Politisierung, S. 273. Thomasius: Göttliche Rechtsgelahrheit, 111,6,26.

252 sichert. Die »grosse Menge« muß 2. einig sein in der Wahl von Mitteln und Zwecken und 3. diese Einigkeit dauerhaft aufrechterhalten. Diese dauerhafte Einigkeit einer großen Menge Menschen als Voraussetzung für die Aufhebung der vorstaatlichen Unsicherheiten ist nicht ohne weiteres herstellbar, die anthropologische Verfaßtheit des homo corruptus steht dem entgegen. Und zwar gilt es zwei »Lastern« (»vitia«) der Menschen zu begegnen: 1. der Verschiedenheit der Neigungen und Urteile, die die Menschen aus Dummheit und Trotz ihre Meinungen bis aufs Äußerste verfechten lassen,397 und 2. der Nachlässigkeit oder Scheu »etwas freywillig zu thun, das dem gemeinen Besten zuträglich ist«.398 Dem ersten Laster wird durch die »ewige« Vereinigung aller entgegengetreten,399 dem zweiten aber, indem »eine Gewalt auffgerichtet wird, welche denen welche sich der gemeinen Wohlfart widersetzen, ein gegenwärtiges und in die Sinne fallendes Übel anthun könne, welches geschieht, wenn alle und jede sich verbinden, daß sie ihre Kräffte also gebrauchen wollen, wie es derselben Gewalt gefallen wird«.400 Notwendig ist also im Hinblick auf die Laster des homo corruptus nicht nur die Vereinigung der Willen, sondern notwendig ist gleichzeitig die Schaffung einer Gewalt, die legitimiert ist, gegebenenfalls mit Zwang, d.h. mit Hilfe von Strafandrohung, das Verhalten Einzelner im Sinne der gemeinen Wohlfahrt zu steuern. Interessant ist bereits an dieser Stelle, daß die aufzurichtende Gewalt in ihrem Willen offenbar unabhängig ist vom Willen aller, also keinen vereinigten Willen im Sinne eines volonte gönörale darstellt, sondern eine eigenständige Instanz, nach deren Willen alle ihre Kräfte gebrauchen.401 Der Wille aller geht in der gemeinsamen Verpflichtung, sich dem Willen dieser konstituierten höchsten Gewalt zu unterwerfen, auf. Der Wille dieser Gewalt wird als legaler und damit als legitimer von vornherein akzeptiert. Wenn auch dabei der fremde Wille nicht als eigener Wille angesehen und affirmiert wird, wie es etwa Hobbes postuliert,402 ist eine Kollision zwischen dem Willen der höchsten Gewalt

397

Vgl. Thomasius: Institutiones jurisprudentiae divinae, 111,6,27. Thomasius: Göttliche Rechtsgelahrheit, 111,6,27. Vgl. auch Pufendorf: Über die Pflicht, 399 S. 164. Anstelle von »ewig«, das die Irreversibilität der Vereinigung betont und damit wohl auch gleichzeitig normativ postuliert, ist im lateinischen Text weniger ausgreifend von »perpetuus« die Rede, womit die notwendige Dauerhaftigkeit hervorgehoben wird, ohne daß dabei die Vereinigung der Willen als ein für alle mal gültiger Akt vorgestellt wird. 400 Thomasius: Göttliche Rechtsgelahrheit, 111,6,27. 401 Diese Differenz zwischen dem Willen aller und dem Willen dieser Gewalt pointiert der lateinische Text stärker noch als der deutsche: »quod sit, si omnes & singuli se obligaverint, quod eo modo vires suas sint applicaturi, sicut illa potestas voluerit« Thomasius. Institutiones jurisprudentiae divinae, 111,6,27.

398

253 und dem Willen aller, der faktisch gar nicht mehr existiert, weil er qua Vertrag aufgegeben wurde, im Grunde ausgeschlossen. Die eigentliche Vertragstheorie zielt genau auf diesen Zusammenhang, sie stellt genaugenommen nur die formal-juristische Umsetzung der von Thomasius vorgeführten Mittel dar, den Lastern des homo corruptus zu begegnen. Thomasius sieht, wie schon Pufendorf,403 eine in drei Schritten zu vollziehende Staatsgründung vor, die aus zwei Verträgen (»duo pacta«) und einer Verordnung (»unum decretum«) besteht. Der erste Vertrag ist ein Gesellschaftsvertrag: die zwar in natürlicher Freiheit sich befindenden Menschen formieren sich durch die Organisation ihrer disparaten Willen und Interessen zu einer Gemeinschaft. Alle Beteiligten versichern sich gegenseitig, daß sie sich in einen »beständigen Hauffen zusammen thun, und Mitbürger untereinander werden wollen«.404 Die so konstituierte Gesellschaft ist noch keine Republik, immerhin ist sie jedoch in der Lage, sich über die einzuführende Regierungsform zu verständigen und damit eine Entscheidung zu fällen, die auf einer quasi-souveränen Kompetenz beruht. Über das Verfahren, wie eine solche Entscheidung, die in einem Dekret festgehalten und publiziert wird, genau zustandekommt, gibt Thomasius ebensowenig Auskunft wie Pufendorf. Der lapidare Hinweis, »nach diesem Vertrage muß ferner eine Verordnung gemacht werden, was vor eine Regierungs-Form eingeführet werden solle«405 läßt vermuten, daß es Thomasius nicht um die politischen Implikationen ging, die von einer gemeinschaftlichen Entscheidung über die Regierungsform ableitbar sind, sondern wohl nur um eine logische Verbindung zwischen dem ersten und dem zweiten Vertrag. Denn dieser zweite Vertrag ist ein Herrschafts- und Unterwerfungsvertrag, der sowohl eine Entscheidung über die einzurichtende Regierungsform voraussetzt als auch eine Auswahl derer, die auf der Grundlage des zweiten Vertrags regieren sollen. Mit diesem Vertrag verbinden sich »derjenige oder diejenigen [...] welchem oder welchen die Regierung der neuen Republic übergeben wird [...] vor gemeine Sicherheit und Wohlstand« (securitas et salus communis) zu sorgen, »die andern aber« verpflichten sich, Gehorsam zu leisten und ihren Willen und ihre Kräfte dem Willen der Regierung zu unterwerfen.406 Erst mit Abschluß dieses zweiten Vertrages und der damit 402

403

404 405

Siehe Hobbes: Leviathan, S. 155; vgl. dazu ähnlich auch Rousseau, nach dessen Auffassung allerdings der Bürger im volontd gdnörale quasi materialiter seinen eigenen partikularen Willen noch wiedererkennen kann. Siehe Rousseau: Gesellschaftsvertrag, S. 17. Siehe Pufendorf: Von dem Natur- und Völcker-Rechte, S. 463-465. Dazu Denzer: Moralphilosophie und NaturTecht, S. 168. Thomasius: Göttliche Rechtsgelahrheit, 111,6,29. Thomasius: Göttliche Rechtsgelahrheit, 111,6,30. »Post decretum circa formam regiminis altera pacto opus est, quo constituuntur ille vel illi, in quem vel quos regimen nascentio civitatis confertur, quo quidem pacto hi ad curam

254 verbundenen Konstitution der höchsten Gewalt ist eine Republik tatsächlich gegründet.407 Die vertraglich zugesicherte Unterwerfung als Gegenleistung für »Sicherheit und Wohlstand« macht noch einmal deutlich, was bereits vorhin hervorgehoben wurde: mit der Unterwerfung unter den Willen der höchsten Gewalt verzichtet der Untertan auf die Aktualisierung seines eigenen Willens und akzeptiert die verbindliche Dominanz des obrigkeitlichen Willens als rechtmäßigen und als von ihm - dem Untertan - prinzipiell gewollten Willen. D.h. der Untertan bekundet qua Vertrag seinen Willen, daß ein obrigkeitlicher Wille als Ruhe und Frieden garantierender Faktor sei, und unterwirft sich ihm prinzipiell und aktuell ungeachtet seiner eigenen konkreten Interessen. Auf diese Weise verdankt sich die höchste Gewalt dem Willen aller, wobei dies jedoch in der Regel, dem vorliegenden Vertragsmodell entsprechend, die einzige verbindliche Willensäußerung aller ist. Als Untertanen sind sie nach Abschluß des zweiten Vertrages fortan auf den Willen der höchsten Gewalt verwiesen. Dabei ist der Untertan nicht, wie beispielsweise bei Rousseau oder auch bei Johannes Althusius, sowohl Bürger, der an der Souveränität teilhat, als auch zugleich Untertan, der den vom Souverän gegebenen Gesetzen unterworfen ist.408 Obgleich es von Thomasius Äußerungen gibt, die genau dies nahelegen, wie beispielsweise die in den Monatsgesprächen zu findende Behauptung, »Die Obrigkeit vertritt die Person ihrer Untertanen«,409 oder die Definition der Republik als eine »moralische zusammengesetzte Person«: »Daher nun eine Republic völliger beschrieben werden kan, daß sie sey eine moralische zusammen gesetzte Person, deren Willen so aus vieler Menschen Vergleich verwickelt und vereiniget ist, vor ihrer aller Willen gehalten wird, damit sie aller und jeder Kräfifte und Vermögen zum gemeinen Fried und Ruhe gebrauchen möge«.410 Thomasius Beschreibung der höchsten Gewalt gibt demgegenüber aber doch

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communis securitatis & salutis, reliqui ad obsequiam his praestandum se obstringunt, suasque voluntates & vires illius vel illorum voluntati & directioni subjiciant«. Thomasius: Institutiones jurisprudentiae divinae, 111,6,31. Vgl. auch die analoge Definition der Republik in den Kurtzen Lehr-Sätzen von 1724: »Durch das gemeine Wesen verstehe ich die bürgerliche um gemeinen Friedens willen mit der höchsten Gewalt versehene Gesellschafft«. Thomasius: Kurtze Lehr-Sätze, S. 3, §2. Vgl. Rousseau: Gesellschaftsvertrag, S. 19: »Was die Mitglieder betrifft, so tragen sie als Gesamtheit den Namen Volk, als Einzelne nennen sie sich Bürger, sofern sie Teilhaber an der Souveränität, und Untertanen, sofern sie den Gesetzen des Staates unterworfen sind.« Eine ähnliche Konstruktion sieht auch Kant vor: der stimmberechtigte Bürger ist Mitgesetzgeber und gleichzeitig den Gesetzen als Untertan unterworfen. Siehe Metaphysik der Sitten, A 166, A 168f, A202f„ sowie Gemeinspruch, A 244. Thomasius: Monatsgespräche, Februar 1689, S. 229. Thomasius: Göttliche Rechtsgelahrheit, 111,6,63. Vgl. auch Pufendorf: Über die Pflicht, S. 164.

255 zu verstehen, daß er keinen rechtmäßigen Willen der Untertanen vorsieht, den diese gegen die mit der höchsten Gewalt ausgestatteten Regierung durchsetzen könnte. Der gute Bürger (»bonus civis«) ist bei Thomasius - wie die deutsche Übersetzung hervorhebt - ein »getreuer Unterthaner [...], welcher dem Befehl seiner Obern willig gehorcht« 411 und nicht Teilhaber des Souveräns, der mit Blick auf den Endzweck der Republik die Regierung zur Rechenschaft zieht und gegebenenfalls aus ihrer Verantwortung entläßt.412 Dennoch verfügt das von Thomasius vorgeführte dreigliedrige Staatsgründungsmodell prinzipiell über politische Chancen, die zwar nicht auf eine Souveränität des Volkes hinauslaufen, Elemente einer solchen Volkssouveränität aber durchaus präsent halten. Diese Chancen gründen in der Unterscheidung von Gesellschafts-und Unterwerfungsvertrag, auf die beispielsweise die Staatsphilosophie von Thomas Hobbes als rigidere Variante des Absolutismus verzichtet. So scheint in der dreigliedrigen Konstruktion von Thomasius das durch Vertrag gestiftete Volk eine Art Souveränität auszuüben413 noch bevor die eigentliche Staatssouveränität als die Souveränität der Regierung durch den Herrschafts- und Unterwerfungsvertrag begründet worden ist. Diese Souveränität artikuliert sich in der Entscheidung über die Regierungsform, in der Auswahl derer, denen die höchste Gewalt übertragen werden soll und schließlich im freien Abschluß des Herrschafts- und Unterwerfiingsvertrags. Obwohl das Volk mit der Schließung dieses Vertrages seine ursprüngliche Souveränität wieder aufgibt und Thomasius eine wirkliche Volkssouveränität für gefährlich hält,414 bleibt die Souveränität des Volkes doch nicht funktionslos. Thomasius unterscheidet insgesamt drei Fälle, in denen ihr entscheidende Aufgaben zuwachsen, die sich allerdings in der Regel nach wie auch immer geendeten Herrschaftsperioden auf die Neukonstitution eines Herrschafts- und Unterwerfungsvertrages beschränken und die höchste Gewalt unberührt lassen. So etwa in der Wahlmonarchie: nach dem Tod eines Regenten wird während eines damit verbundenen Interregnums in Analogie zum ursprünglichen Staatsgründungsakt ein neuer Herrschafts- und Unterwerfungsvertrag ge411

412 413

»Bonus vero civis ille dicitur, qui jussis imperantium prompte paret« Thomasius: Institutiones jurisprudentiae divinae, 111,6,23. Siehe dazu etwa Althusius: Politica, S. 136. Diese Souveränität ist nicht die höchste Gewalt im eigentlichen Sinn, mit deren Konstitution eine zu Zwang und Strafe befugte übergeordnete Instanz geschaffen wird, die durch den Abschluß des Gesellschaftsvertrages aber noch nicht hervorgebracht wird. Siehe dazu die erste Observatio des sechsten Bandes der Observationes selectas von 1702: Historia Sectae Machiavellistarum et Monarchomachorum\ es heißt dort: »Duo sunt in doctrina politica scopuli quasi vitandi, hinc Machiavellistorum, inde Monarchomachorum doctrina: Utraque enim rebus publicis valde periculosa est & damnosa.« Thomasius: Observationes selecta, VI, 1,1.

256 schlossen. Außerdem kennt Thomasius ausdrücklich die zeitliche Befristung von Herrschafts- und Unterwerfungsverträgen, dabei widerspricht es nicht der höchsten Gewalt, wenn ein Monarch nach Ablauf der Frist vom Volk zum Rücktritt gezwungen wird, denn dieser »gerechte Zwang«415 hat erst in dem Augenblick statt, da der Fürst vertragsgemäß der höchsten Gewalt ledig ist.416 Die weitreichendste Rolle spielen diese souveränitätsähnlichen Befugnisse des Volkes allerdings im Hinblick auf die nach Thomasius durchaus akzeptable, am Ständestaat orientierte Einschränkung der Regierungsvollmacht, die »einige Völcker fiir rathsam gehalten« haben, weil »eines Menschen Urtheil von Irrthümem nicht befreyet ist, und der Wille sich leicht zum bösen lencket, besonders in so grosser Freyheit«.417 Die Einschränkung - nach Thomasius' Beschreibung geradezu ein Gebot der Vernunft - ist, wie er ausführt, »geschehen, da sie den König an gewisse Gesetze wegen Verwaltung der Stücke der Regierung, als sie ihm das Reich auffgetragen, verbunden, und wenn solche Geschaffte, welche des Landes Wolfahrt betreffen, und welche zuvorher nicht beschrieben werden können, vorfielen, gewollt, daß dieselben nicht ohne des Volcks vorwissen und Einwilligung oder vor dessen auf Reichstage beruffene Abgeordnete, vorgenommen werden sollten, damit der König desto weniger Gelegenheit haben möge von der Wolfart des Reiches abzuweichen«.418 Thomasius bezeichnet diese die Macht des Fürsten einschränkenden Gesetze als »Grund-Gesetze« (»leges fundamentales«),419 die, weil der Fürst prinzipiell unabhängig von bürgerlichen Gesetzen ist, nicht eigentlich Gesetze als vielmehr Verträge sind.420 Mit Hilfe dieser Verträge sichert sich das Volk politischen Einfluß und bleibt tendenziell neben, im Extremfall sogar gegen den Fürsten, Subjekt politischen Handelns. Das Problem jedoch dürfte die Umsetzung des politischen Willens des Volkes sein, denn eine dem Fürst überlegene und ihn verpflichtende Instanz, die dessen höchste Gewalt rechtmäßig überbieten und das Recht des Volkes mit Zwang durchsetzen kann, existiert in der absolutistischen Konzeption von Thomasius nicht. Insgesamt ist die Staatsgründungstheorie von Christian Thomasius ebenso wie die analogen Theorien eines Teils seiner Zeitgenossen durch drei historisch bedeutsame Modernisierungsleistungen gekennzeichnet.

415 416 417

418 419 420

Thomasius: Göttliche Rechtsgelahrheit, 111,6,124. Vgl. dazu die Ausführungen zu Grotius' Widerstandslehre oben 11,1.3.4. Thomasius: Göttliche Rechtsgelahrheit, 111,6,129. Vgl. auch Pufendorf: Über die Pflicht, S. 177. Thomasius: Göttliche Rechtsgelahrheit, 111,6,130. Thomasius: Göttliche Rechtsgelahrheit, 111,6,131. Vgl. Thomasius: Institutiones jurisprudentiae divinae, 111,6,131.

257 1. Die Vertragstheorie ermöglicht eine rationale Begründung von Herrschaft, die auf Legalität beruht.421 2. Der Abschluß des Gesellschafts- und insbesondere des Unterwerfungsvertrags als Konstitution der höchsten Gewalt schafft ein staatliches Gewaltmonopol, das konkurrierende Kräfte auf legaler Basis den Einfluß entzieht und prinzipiell die Gewähr für Rechtssicherheit durch Rechtsetzung und Rechtsdurchsetzung bietet. 3. Damit verbunden ist die hier theoretisch vorgezeichnete »Formierung eines umfassenden Untertanenverbandes durch Nivellierung der sozialen Unterschiede im Hinblick auf die Obrigkeit im Staate«.422 Die damit prinzipiell gegebene Rechtsgleichheit aller Untertanen schafft die Voraussetzungen für die spätere definitive Differenzierung von Staat und Gesellschaft, die sich bereits bei Thomasius massiv ankündigt und damit für eine >liberale< »staatsbürgerliche Gesellschaft«, deren interne Differenzierung - der Idee nach - auf individueller Leistung beruht. So zielt Thomasius' Staatsgründungstheorie auf einen Staat ab, der alle von Max Weber beschriebenen Attribute des modernen Staates aufweist: »Für unsere Betrachtung ist also das rein Begriffliche festzustellen: daß der moderne Staat ein anstaltsmäßiger Herrschaftsverband ist, der innerhalb eines Gebietes die legitime physische Gewaltsamkeit als Mittel der Herrschaft zu monopolisieren mit Erfolg getrachtet hat und zu diesem Zweck die sachlichen Betriebsmittel in der Hand seiner Leiter vereinigt, die sämtlichen eigenberechtigten ständischen Funktionäre aber, die früher zu Eigenrecht darüber verfügten, enteignet und sich selbst in seiner höchsten Spitze an deren Stelle gesetzt hat«.423 2.3.2. Kontraktualismus und historische Betrachtung der Staatsentstehung - der Neuansatz der Fundamenta Die in den Institutiones entfaltete kontraktualistische Staatsgründungstheorie taucht in den Fundamenta in ihrer ursprünglichen Form nicht wieder

421

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Siehe dazu die drei Legitimitätsgründe von Herrschaft - >SitteGnadengabe< und >LegalitätKompetenzPolitik< würde für uns also heißen: Streben nach Machtanteil oder nach Beeinflussung der Machtverteilung, sei es zwischen den Staaten, sei es innerhalb eines Staates zwischen den Menschengruppen, die er umschließt. [...] Wer Politik treibt, erstrebt Macht: Macht entweder im Dienst anderer Ziele - idealer oder egoistischer oder Macht »um ihrer selbst willenc um das Prestigegefühl, das sie gibt, zu genießen.« (S. 822) »In wesentlich charakteristischerer Art scheidet man die >politische< Seite oder Tragweite einer Angelegenheit, oder den »politischem Beamten, die >politische< Zeitung, die >politische< Revolution, den »politischem Verein, die >politische< Partei, die >politische< Folge von anderen: wirtschaftlichen, kulturlichen, religiösen usw. Seiten oder Arten der betreffenden Personen, Sachen, Vorgänge, - und meint damit alles das, was mit den Herrschaftsverhältnissen innerhalb des (nach unserem Sprachgebrauch:) »politischem Verbandes: des Staats, zu tun hat, deren Aufrechterhaltung, Verschiebung, Umsturz herbeiführen oder hindern oder fördern kann, im Gegensatz zu Personen, Sachen, Vorgängen, die damit nichts zu schaffen haben.« (S. 30) Siehe dazu auch die analogen Ausführungen Webers in: Politik als Beruf. In: Max Weber: Schriften zur Sozialgeschichte und Politik. Herausgegeben und eingeleitet von Michael Sukale. Stuttgart 1997, S. 273.

268 bleiben. Politisches Handeln< wird von Thomasius - wie seine Politische Klugheitslehre belegt - auf eine Ebene unterhalb des Staates verwiesen und wird so zu einer eigentlich unpolitischen >Privatpolitik< des Bürgers als Bourgeois auf einer gesellschaftlichen Ebene.473 Staatliches Handeln ist tendenziell kein politisches, sondern eher ein administratives, und diese Tendenz wird durch die Einbeziehung des Weisen als Ratgeber, der den Fürsten nach der Maßgabe wahrer Nonnen unterweisen soll, eher noch verstärkt als relativiert. Der Staat steht weder dem Untertan noch dem Fürsten, der nach Thomasius ein »Friedens-Amt« auszufüllen hat,474 zur politischen Disposition, der Staat ist ein vernunftgemäßes, d.h. rationales Instrument zur Sicherung des Friedens. Trotz der von Thomasius betonten Notwendigkeit einer absolutistischen Herrschaft führt er im Anschluß an Pufendorf einen bemerkenswerten Sonderfall an, in dem die Untertanen bei faktischer Herrschaftslosigkeit die Garantiefiinktionen der Regierung selbst übernehmen und zumindest eine Zeitlang aufrechterhalten. Diesen Zustand sieht Thomasius im Interregnum gegeben: »In dem Interregno, ob gleich die Republic in eine unvollkommene Form verfället, in dem die Unterthanen nur durch den ersten Vergleich untereinander verbunden seyn, so wird sie doch ziemlich dadurch befestigt, daß sie noch den Nahmen der Liebe zum Vaterlande haben, und der meisten Unterthanen Haab und Gut an dem Ort gleichsam angehefftet ist, welches getreue Unterthanen beweget, daß sie die Zeit über freywillig friedlich untereinander leben, und ie eher ie lieber dazu thun, daß eine völlige Regierung wieder angerichtet werden möge« 475 Hierdurch wird deutlich, daß Thomasius auch jenseits des Naturzustands einen herrschaftsfreien Raum prinzipiell für möglich hält. Im Interregnum fällt der Herrschaftsvertrag weg, gleichzeitig bleibt der Gesellschaftsvertrag jedoch erhalten. Die dadurch entstehenden Unsicherheiten werden aufgefangen durch die Liebe der Untertanen zum Vaterland - einer nicht durch den Herrscher vermittelten Qualität - und nicht zuletzt durch die Sorge um den Erhalt des überwiegend immobilen Eigentums. Die Untertanen, die in dem Augenblick eigentlich keine sind, werden von Thomasius dennoch als »treu« (»bonus«) bezeichnet. Das weist daraufhin, daß die Untertanen entweder den ehemals bestehenden Herrschaftsanspruch weiterhin akzeptieren oder den noch nicht bestehenden eines neuen Regenten antizipieren. In jedem Fall fingieren sie die Geltung 473

474 475

Vgl. dazu Schneiders: Thomasius politicus. Einige Bemerkungen über Staatskunst und Privatpolitik in der aufklärerischen Klugheitslehre. In: Norbert Hinske (Hrsg.): Zentren der Aufklärung I: Halle. Aufklärung und Pietismus. Heidelberg 1989, S. 98, 102-104, 106. Vgl. Thomasius: Cautelen zu Erlernung der Rechts-Gelahrtheit, S. 419. Thomasius: Göttliche Rechtsgelahrheit, 111,6,107.

269 einer faktisch nicht bestehenden Herrschaft und unterwerfen sich damit nicht einer tatsächlichen, sondern einem abstrakten Prinzip von Herrschaft aus Angst vor Unsicherheit und der damit verbundenen Einsicht in die Notwendigkeit. Der so konstituierte politische Raum ist daher nicht wirklich herrschaftsfrei, sondern nur frei von tatsächlicher Herrschaft, es herrscht also eigentlich eine Fiktion von Herrschaft, die imstande ist, vorübergehend Ordnung zu garantieren. Immerhin sind die Untertanen über diese Konstruktion offenkundig in der Lage, sich zumindest zeitweilig selbst zu beherrschen. Diesem freiwilligen Vorgehen traut Thomasius allerdings nicht allzu viel zu - zumindest nicht auf längere Sicht. Und so hält er es insgesamt für besser, wenn der Regent bereits vor seinem Ausscheiden für das Interregnum geeignete Personen bestellt, die in dieser Übergangszeit regieren. Außerdem zeichnet sich der treue Untertan dadurch aus, daß er alles daran setzt, »daß eine völlige Regierung wieder angerichtet werden möge«.476 2.4.1. Die Monarchie - beste Regierungsform mit Vorbehalten Obwohl Christian Thomasius in den Institutiones, den systematischen Erfordernissen seiner Darstellung entsprechend, nicht nur auf die Monarchie, sondern auch auf die Aristokratie und die Demokratie als mögliche Staatsformen hinweist,477 kann es doch keinen Zweifel daran geben, daß er die Monarchie als diejenige Regierungsform vor Augen hat, die in der Lage ist, den Endzweck des Staates adäquat zu realisieren. Aristokratie und Demokratie sind für ihn - in seiner historischen Situation kann dies kaum verwundern - weit weniger von Interesse, als selbst für Aristoteles. Thomasius geht es um eine »ordentliche Republic« (»respublica regularis«), und die ist gegeben, »wo die höchste Gewalt in einer Person also vereiniget ist, daß sich dasselbe unzerteilt und unzerrüttet nach einem Willen durch alle Theile und Geschaffte der Republic ausbreitet, wo sich dieses nicht findet, ist es eine unordentliche Republic«.478 Wenn auch diese »Person«, in der die höchste Gewalt vereinigt ist, als eine juristische aufzufassen ist, die aus mehreren natürlichen Personen bestehen kann, so ist doch die Monarchie mit dem Monarchen an der Spitze geradezu der klassische Typus einer »ordentlichen Republic«, die gerade weil sie eine Teilung der Gewalt ausschließt effizient 476 477

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Thomasius: Göttliche Rechtsgelahrheit, 111,6,107. Vgl. Thomasius: Institutiones jurisprudentiae divinae, 111,6,33. Thomasius reproduziert hier das traditionelle Schema der auf Aristoteles zurückgehenden klassischen Staatsformenlehre. Mit dem Unterschied, daß bei Aristoteles die Demokratie noch als verfehlte Form der Politie gilt: während in der Politie »die Menge zum allgemeinen Nutzen regiert«, regieren in der Demokratie die Armen zu ihrem eigenen Nutzen, wie entsprechend in der Oligarchie als der Fehlform der Aristokratie die Reichen nach Maßgabe ihres eigenen Interesses regieren. Siehe Aristoteles: Politik, S. 114. Thomasius: Göttliche Rechtsgelahrheit, 111,6,32.

270 funktioniert und daher tüchtig ist, »den Zweck der Republik zu errei" chen«.479 Denn wenn die »Stücke der höchsten Regierung« »getheilet werden, also daß etliche im Grunde bey einem, die andern aber bey einem andern seyn, so muß daraus eine unordentliche und übel an einander hangende Republic entstehen, indem alsdenn nicht nur die eine Gewalt bey entstandenen Streit entweder ledig stehen, oder der andern zu Dienste stehen muß, sondern auch wenn solcher gestalt die Vereinigung des Willens mangelt, welches die Seele der Republic ist, in diesem verderbten Stande die gröste Gelegenheit zu innerlichen Kriegen gegeben wird«.480 Dennoch findet die Monarchie nicht in jeder Hinsicht und nicht allen ihren Ausprägungen Thomasius' uneingeschränkte Zustimmung, er hält kritische Distanz und nimmt sich die Freiheit, auf Schwächen und Gefahren der Monarchie eindrücklich hinzuweisen. Einen Beleg hierfür liefert nicht zuletzt die kurze 1702 erschienene Skizze De Historia Sectae Machiavellistarum et Monarchomachorum, die als Observatio I in den sechsten Band der Observationum selectarium ad rem litterariam spectantium aufgenommen wurde. Die Lehren der beiden dargestellten »Secten« markieren Extrempositionen, die Thomasius ausdrücklich verwirft: sowohl die Volkssouveränität, für die die Monarchomachen eintreten, als auch das, seiner Auffassung nach, von den Machiavellisten propagierte uneingeschränkte Recht des Fürsten, nach ausschließlich privatem Interesse und ohne Rücksicht auf das Wohl des Volkes zu verfahren, hält Thomasius für gefährlich und verdammenswert.481 In der expliziten Gegenüberstellung der Übel dieser Extrempositionen wird gegen Ende der kleinen Schrift quasi in doppelter Weise ex negativo ein für Thomasius typischer Mittelweg greifbar. Thomasius fuhrt in sechs Punkten folgende Übel auf: »1) Machiavellismus aperit fenestram Atheismo, Monarchomachia Polytheismo seu multitudini & confusioni religionum. 2.) Machiavellismus Reges facit Tyrannos, monarchomachia populum Regicidam. 3.) Machiavellistae supparasitantur Regibus, Monarchomachia populo. 4.) Machiavellistae tollunt Reipubl. divisionem moralem, in rectam & aberrantem: Monarchomachi numericum in Monarchiam, Aristocratiam, Democratiam. 5.) Machiavellismus e subditis, Monarchomachia e Regibus facit mancipia. 6.) Machiavellismus civibus servitutem 479 480 481

Thomasius: Göttliche Rechtsgelahrheit, 111,6,156. Thomasius: Göttliche Rechtsgelahrheit, 111,6,157. »Duo sunt in doctrina politica scopuli quasi vitandi, hinc Machiavellistarum, inde Monarchomachorum doctrina: Utraque enim rebus publicis valde periculosa est & damnosa Machiavellismi primum principium est, imperantibus pro supremo sine propositum esse debere, commodum privatum, h.e. imperantium, tametsi illud cum bono publico subditorum minime sit coniunctum. Monarchomachorum verum: in qualibet Republica summam potestatem ad extremum esse populi.« Thomasius: Historia Sectae, S. 1 f., §1.

271 parat, Monarchomachia omnium rerum licentiam introducit«.482 Thomasius geht es demnach um eine Regierungsform, die im Gegensatz zur monarchomachistischen Variante der Volksouveränität Ordnung garantiert, dabei aber nicht die Ordnung in Sklaverei umschlagen läßt, wie es Thomasius der machiavellistischen Variante des Absolutismus unterstellt. Beiden Positionen wirft er bezeichnenderweise vor, sowohl der Moral als auch der (christlichen) Religion zu widerstreiten, was daraufhindeutet, daß vor allem die christliche Religion für Thomasius auch hier noch ein unverzichtbares Moment, ja Fundament für ein gelingendes Zusammenleben der Menschen darstellt. In den 1717 erschienenen Anmerkungen zum Testament Melchiors von Osse hebt Thomasius noch einmal expressis verbis Stärken und Schwächen der Monarchie hervor und deckt mit wünschenswerter Offenheit seine eigenen >politischen< Optionen als Gelehrter auf. Der Auffassung Melchiors von Osse, »die Monarchia und eines Menschen Regierung, sonderlich da solche Regierung erblich ist« sei »die beste und bequemste« Regierungsform483 hält Thomasius entgegen, daß »eine jede Regiments-Form, und so wohl die Wahl - als die erbliche Monarchie [...] ihren Nutzen und Mängel«484 hat. Insofern existiert offenbar nach seiner Auffassung keine Regierungsform, die als die beste schlechthin anzusehen ist.485 Die Monarchie bietet indes immerhin die Chance, »daß, wenn der Monarch selbst regieret, nicht so leicht als wie in Aristocratien nach Gelegenheit der verschiedenen factionen eine Veränderung und Ungewißheit der Aufhaltung des Rechts entstehen könnte«.486 Hier zeigt sich noch einmal unmißverständlich, daß Thomasius in erster Linie einen vor allem durch Rechtssicherheit gekennzeichneten >Rechtsstaat< anvisiert, wobei die >Rechtsstaatlichkeit< ihm als Kriterium für die Beurteilung der Regierungsformen dient. Daher schätzt er die Monarchie 482 Thomasius: Historia Sectae, S. 8f., §10. Thomasius: D. Melchiors von Osse Testament gegen Hertzog Augusto Churfilrsten zu Sachsen, Sr. Churfilrstl. Gnaden Rathen und Landschafften. 1556. Anitzo zum ersten mahl völlig gedruckt, auch hin und wieder durch nützliche Anmerckungen erläutert. Nebst einer Vorrede und Anhang. Halle 1717, S. 49. Osse knüpft sein Urteil freilich an die Bedingung, daß der »Herr ein gottseeliger, kluger, frommer Mann ist, der den gemeinen Nutz liebet, und mit Rath gottseeliger, weiser, fromme Leute regieret« (S. 50). Thomasius geht auf diese Bedingung mit keinem Wort ein, offenbar hat er die Hoffnung auf einen guten und weisen Fürsten längst aufgegeben, ihm geht es, wie zu zeigen sein wird, nur noch darum, den Einfluß von »klugen und vernünfftigen Leuten« zu sichern, die mit ihren »Rathschlägen« das 484 Gemeinwesen verbessern. Thomasius: Testament, S. 49, Anm. 21. 485 Vgl. dazu auch Wiebking: Recht, Reich und Kirche, S. 181. Vgl. dazu auch Christian Thomasius. Vorschlag wie ein junger Mensch zu einem honneten und galanten Leben zu reformieren sey. In: Ders.: Kleine Teutsche Schriften. Halle 1701, S. 251. 486 Thomasius: Testament, S. 49, Anm. 21.

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272 auch nur in dem Maße positiv ein, wie sie in der Lage ist, rechtsstaatliche Verhältnisse zu garantieren, und er steht ihr unumwunden kritisch gegenüber, wo ihre strukturellen Schwächen Rechtssicherheit und Rechtsgleichheit hintertreiben.487 So kritisiert er das Überhandnehmen der »Ungewißheit der Rechte« und die »Langwierigkeit der Processe« in den »teutschen Fürstenthümern«.488 Und Thomasius erkennt zudem die politischen und rechtlichen Unsicherheiten, die von den unkontrollierbaren »factionibus« bei Hofe herrühren: sie sind es, die das »Gemüth eines Regenten« zu dominieren und für eigene Interessen zu nutzen suchen, und sie sind es, die auf diese Weise die praktische Realisierung »heylsamer consiliorum von Verbesserung des Justiz-Wesens«489 vereiteln. Zu schweigen davon, daß »man auch in Monarchien, sie mögen beschaffen seyn, wie sie wollen, nicht eine allzu grosse Menge von Exempeln aufzuweisen haben, daß die gewaltigen bey Hofe (so lange sie nicht in Ungnade verfallen) gleicher weise oder so prompt und geschwind als andere delinquenten bestrafft werden«.490 Dennoch hält Thomasius - wohl nicht zuletzt aus einem historischen Mangel an praktikablen Alternativen - an der Monarchie insgesamt fest. Auch wenn er, eine gewisse Offenheit in der Frage der besten Regierungsform prätendierend, festellt: »Dannenhero abstrahiren heut zu tage kluge und vernünfftige Leute von der Zänckerey wegen dieser Streit-Frage, und sind hingegen ein jeder mit der Regiments-Form zufrieden, die sie an dem Orte finden, wo sie Unterthanen sind, sind auch versichert, daß sie theils ohne Begehung einer Missethat, theils ohne Gefahr, theils ohne Verletzung der allgemeinen Regeln der Klugheit, an die Umkehrung einer RegimentsForm, und Verwandlung derselben in eine andere nicht gedencken, vielweniger dieselbe verlangen, am wenigsten aber daran arbeiten können, jedoch unbescheidet ihrer Rathschläge, wie das Regiment, salva forma regiminis, zu verbessern sey«.491 Thomasius zielt auf einen Rechtsstaat als Garanten des äußeren und inneren Friedens, und wie mangelhaft eine Regierung auch immer beschaffen sein mag, wie weit sie auch immer von diesem Ziel entfernt ist, Thomasius will dieses Ziel mit Hilfe der »Rathschläge« von 487

Daher wird man Thomasius' Vertrauen in die absolute Monarchie wohl kaum als »naiv« bezeichnen können. Siehe Dreitzel: Christliche Aufklärung durch fürstlichen Absolutismus, S. 46. 488 Vgl. Thomasius. Testament, S. 49, Anm. 21. Thomasius: Testament, S. 49, Anm. 21. 490 Thomasius: Testament, S. 51, Anm. 23. Effizienz und Geheimhaltung hält Christian Wolff für die entscheidenden Vorteile der Monarchie, er räumt aber zugleich kritisch ein, daß in einer Monarchie die Untertanen der Böswilligkeit und Unfähigkeit eines unumschränkt herrschenden Monarchen schutzlos ausgeliefert sind. Vgl. Wolff: Deutsche Politik, §257— 259. 491 Thomasius: Testament, S. 50, Anm. 21.

273 »klugen und vernünfftigen Leuten« - mithin von Gelehrten, die sein praxisorientiertes Gelehrtenideal realisieren - durch Reform rechtmäßig erreichen. Unabdingbar ist ihm allerdings dafür die prinzipielle Rechtmäßigkeit, solcherlei Ratschläge zu erteilen: es muß »klugen und vernünfftigen Leuten«, die nicht zu Räten des Fürsten bestellt sind, erlaubt sein, mit Ratschlägen zur Verbesserung des Gemeinwesens beizutragen. Damit ist im Grunde ein öffentlicher politischer Diskurs gefordert, der zweifellos über das hinausweist, was zur Zeit von Thomasius an öffentlicher Auseinandersetzung tatsächlich praktiziert worden ist.

2.4.2. Limitationen der höchsten Gewalt Thomasius war sich der Gefahren, die von der höchsten Gewalt in einer absoluten Monarchie ausgehen, durchaus bewußt. Daher bemühte er sich, Eingrenzungen der höchsten Gewalt bzw. der Reichweite ihrer Machtbefugnisse auf verschiedenen Ebenen theoretisch zu begründen, und zwar ohne dem Untertanen vollkommene Rechte gegenüber dem Fürsten zuzubilligen und ohne die höchste Gewalt zu teilen. Soweit absehbar, unterscheidet Thomasius vier Möglichkeiten oder Mittel, die höchste Gewalt zu begrenzen: 1. die Bindung des Fürsten an die Vorschriften des Naturrechts; 2. die strikte Bindung der höchsten Gewalt an den staatlichen Endzweck als die quantitative und qualitative - Bemessung der Reichweite der höchsten Gewalt nach den Erfordernissen des Endzwecks; 3. die Einrichtung von »Grund-Gesetzen« (»leges fundamentales«) und 4. den theoretisch geführten Nachweis von praktischen Realisierungsgrenzen. ad 1) Wenn auch der Fürst als Inhaber der höchsten Gewalt den bürgerlichen Gesetzen nicht unterworfen ist, so bleibt er doch an das Naturrecht als das von Gott gegebene natürliche Gesetz gebunden. Hierin liegt ein gewisser, wenn auch nicht einklagbarer Schutz des Untertanen gegenüber dem Fürsten, der sich in letzter Konsequenz allerdings auch nur vor Gott, dem Urheber des Naturrechts und letzten Richter, verantworten muß. Wie ideologisch ein solches Konstrukt aus heutiger Perspektive auch immer scheinen mag, vor dem Hintergrund eines lebendigen Glaubens und eines durch den Protestantismus verstärkten Sündenbewußtseins dürfte eine solche Argumentation von Thomasius' Zeitgenossen wohl kaum als wohlfeile Vertröstung auf ein Jenseits aufgefaßt worden sein. ad 2) Bei Thomasius fungiert der Endzweck eines Staates nicht nur als Begründungsmoment der höchsten Gewalt, sondern zugleich als Limitationsinstanz der summa potestas: einerseits erfordert die Realisierung des staatlichen Endzwecks die Konstitution einer höchsten Gewalt und andererseits wird das Maß der höchsten Gewalt bzw. die Reichweite ihrer Machtbe-

274 fugnisse durch die Definition des Endzwecks festgelegt.492 So heißt es in der Abhandlung vom Recht Evangelischer Fürsten in Mittel-Dingen oder Kirchen-Ceremonien: »Wannenhero ausser Zweiffei es also kommen muß, daß einem Fürsten so viel Gewalt zukommen müsse, als zu Erhaltung des Endzwecks der Republicq, nemlich zur innerlichen und äuserlichen Ruhe und Frieden, erfordert wird.«493 Und ähnlich prägnant formuliert Thomasius in Das Recht Evangelischer Fürsten in theologischen Streitigkeiten ( 1 6 9 6 ) : »Sehe ich auff den Endzweck der Republicq, und lerne daraus, wie weit sich die Macht eines Fürsten erstrecke.«494 Die höchste Gewalt hat den Zweck, inneren und äußeren Frieden zu sichern und zu garantieren, sie kann sich von daher nur reglementierend auf Handlungen beziehen, die die Verwirklichung des Endzwecks gefährden: »Dis ist mein principium: Weil der Fürst die äuserliche Ruhe schützen soll, so hat er alles, was dieselbe turbiret, zuverbieten, was sie aber nicht turbiret, müße er dulten«.495 Diese Indienstnahme des staatlichen Endzwecks als limitierende Instanz der höchsten Gewalt ist nicht zuletzt deswegen bemerkenswert, weil Thomasius damit dem zeitüblichen Staatsräsongedanken offenkundig widerspricht. Das auf Machiavelli zurückgehende Konzept versuchte, »die absolute Vorherrschaft des Nutzens des Staates und der Gesellschaft«496 als eine faktisch grenzenlose Veranstaltung staatlicher Macht zu begründen, wobei die Interessen und Rechte einzelner Menschen ohne Berücksichtigung blieben.497 Indem Thomasius bemüht ist, entgegen dieser Vorstellung über die Beschreibung des staatlichen Endzwecks eine Grenze staatlicher Befugnisse zu definieren, scheint er den Untertanen einen gewissen Schutz vor dem unbegrenzten Zugriff der fürstlichen bzw. staatlichen Macht schaffen zu wollen. Und zwar setzt er dem grenzenlose Machtentfaltung ermöglichenden Nutzen des Staates (Nutzen für den Staat) - quasi in Umkehrung der Perspektive den die Macht limitierenden Zweck des Staates (Nutzen durch den Staat) entgegen.498 Zu Recht spricht daher auch Christoph Link von »limitierenden 492

Siehe dazu auch Wiebking: Recht, Reich und Kirche, S. 98ff. Thomasius: Abhandlung vom Recht Evangelischer Fürsten in Mittel-Dingen, S. 108. 494 Thomasius: Das Recht Evangelischer Fürsten in theologischen Streitigkeiten. Halle 1696, 495 §9. Thomasius: Dreyfache Rettung des Rechts Evangelischer Fürsten. Frankfurt am Main 1701, S. 98. Mario A. Cattaneo: Staatsräsonlehre und Naturrecht im strafrechtlichen Denken des Samuel Pufendorf und des Christian Thomasius. In: Roman Schnur (Hrsg.): Staatsräson. 497 Berlin 1975, S. 429. Vgl. Cattaneo: Staatsräsonlehre und Naturrecht, S. 429. 493

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Thomasius' Gegenposition zur Staatsräson hat Cattaneo anhand von dessen Straftheorie prägnant demonstriert. Siehe Cattaneo: Staatsräsonlehre und Naturrecht, S. 437. Ob Thomasius allerdings »ein klares Bekenntnis zum Liberalismus« (S. 438) unterstellt werden kann, darf wohl angesichts seiner eindeutig absolutistischen Staatstheorie mit Fug be-

275 und expansiven Tendenzen« der Staatszwecklehre.499 Die Konstruktion ist freilich nicht unambivalent, denn die Grenze, die der Endzweck der höchsten Gewalt setzt, ist nicht fixiert und wohl auch kaum sinnvoll fixierbar, so daß unter Hinweis auf die Erfüllung des staatlichen Endzwecks, diese Grenze der höchsten Gewalt nahezu beliebig verrückbar ist. In einem absolutistischen Staat, in dem die Bürger ihre Ansprüche nicht rechtswirksam zur Geltung bringen können - also nicht in der Lage sind, das rechte, vom staatlichen Endzweck her zu bestimmende Maß der höchsten Gewalt gerichtlich verbindlich feststellen zu lassen - , muß die angestrebte Begrenzung der höchsten Gewalt letztlich ohne den gewünschten politischen Effekt bleiben. ad 3) Die unmittelbarste Form der Eingrenzung fürstlicher Macht dürfte die Einrichtung von »Grund-Gesetzen« darstellen, die dem Volk nach ständischem Muster einen gewissen politischen Einfluß sichern sollen: »Aldieweil aber eines Menschen Urtheil von Irrthümern nicht befreyet ist, und der Wille sich leicht zum bösen lencket, besonders in so grosser Freyheit; also haben einige Völcker vor rathsam gehalten, die Ausübung der Regierung mit gewissen Gesetzen einzuschräncken. [...] Welches geschehen, da sie den König an gewisse Gesetze wegen Verwaltung der Stücke der Regierung, als sie ihm das Reich auffgetragen, verbunden, und wenn solche Geschaffte, welche des Landes Wolfart betreffen, und welche zuvorher nicht beschrieben werden können, vorfielen, gewolt, daß dieselben nicht ohne des Volks vorwissen und Einwilligung, oder vor dessen auff Reichstage beruffene Abgeordneten, vorgenommen werden solten, damit der König desto weniger Gelegenheit haben möge an der Wolfart des Reichs abzuweichen«.500 Da die höchste Gewalt - bei Thomasius wie in der absolutistischen Staatstheorie überhaupt - gesetzlich nicht gebunden werden kann, sind diese »leges fundamentales« Verträge, die den Fürsten nur naturrechtlich verpflichten und deren Erfüllung von Seiten des Volkes auch nicht eingeklagt werden kann. Daher behauptet Thomasius völlig zu Recht, daß »mit der Hoheit der Regierung ihre Einschränkung«501 nicht streitet. So daß auch hier die Kollision unterschiedlicher politischer Interessen von Fürst und Untertan praktisch ausgeschlossen bleibt, wenngleich sich denken läßt, daß der Fürst auf längere Sicht in empfindliche politische Schwierigkeiten geraten dürfte, falls er die »rechtmäßigem Ansprüche seiner Vertragspartner fortgesetzt mißachtet. Die Berücksichtigung eingegangener Verbindlichkeiten ist hier dann doch ein Gebot der politischen Klugheit. Weil Thomasius an dieser Stelle auf eine

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zweifelt werden. Daß er aber half, liberalen Positionen den Boden zu bereiten, steht gleichwohl außer Frage. Vgl. Link: Herrschaftsordnung und bürgerliche Freiheit, S. 132ff. Thomasius: Göttliche Rechtsgelahrheit, 111,6,127. Thomasius. Göttliche Rechtsgelahrheit, 111,6,127.

276 nähere Ausführung der rechtlichen Bindung durch »leges fundamentales« verzichtet, darf wohl angenommen werden, daß er hierbei die üblichen Verfassungsgegebenheiten in den einzelnen Territorien des Reiches vor Augen hat. Eine politische Stärkung der Stände lag sicher nicht in seinem Interesse. ad 4) Eine Grenze in der Reichweite fürstlicher Macht erkennt Thomasius schließlich in allem, was den fürstlichen Willen einfach praktisch nicht unterworfen sein kann und daher prinzipiell der fürstlichen Verfügbarkeit entzogen bleibt. Dazu gehören alle Vorgänge, die sich im Internum des Individuums abspielen. Die Beschränkung des reglementierenden Zugriffs der höchsten Gewalt auf äußere Handlungen, die geeignet sind, den äußeren und inneren Frieden zu stören502 wird nicht nur naturrechtlich und vom staatlichen Endzweck her geleistet, sondern gleichzeitig durch die Behauptung begründet, daß alle weitergehenden Machtansprüche prinzipiell nicht zu realisieren seien. So stellt Thomasius fest: »Alldieweil aber kein Mensch ein Hertzenskundiger ist, und eines andern heimliche Tücke errathen kan, solche widersinnige Gedancken auch den gemeinen Friede nicht stören, muß ein Fürst zu frieden seyn, wenn seine Unterthanen ihre bösen Gedancken nur verborgen halten, und sie bezwingen, daß sie nicht in bösen Händeln ausbrechen, und nur andern kein Aergernis geben, dergleichen zu thun«.503 Auf diese Weise sind der fürstlichen Gewalt alle Glaubensangelegenheiten entzogen, denn es ist »nicht müglich, daß menschlicher Zwang eine innerliche Erkänntnis göttlicher Warheit in uns zu wege bringen könnte«,504 und schließlich - so konstatiert Thomasius - hat »bey Auffrichtung der bürgerlichen Gesellschafft kein Volck der Obrigkeit ihren Willen in ReligionsSachen unterworffen, noch vernünffiig unterwerffen können«.505 Ebenfalls der fürstlichen Gewalt entzogen ist »alles Thun und Lassen des menschlichen Verstandes, so ferne derselbe mit dem Begriff eines Dinges zu thun hat«:506 »Der menschliche Verstand ist von Gott so hoch privilegieret, daß er keiner menschlichen Herrschafft unterworffen: Denn wenn einer die Warheit erkennen soll, kann er nicht anders dazu gelangen, denn daß man ihm Grund und Ursach vorstelle, welchen er Beyfall geben muß«.507 Diese Denkfreiheit 502

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Wie Thomasius in den Kurtzen Lehr-Sätzen erläutert, sind - unter der Voraussetzung, daß sie den Frieden nicht gefährden - auch Handlungen erlaubt, die sich den »bösen Grundneigungen« der Menschen verdanken. Vgl. Thomasius: Kurtze Lehr-Sätze, §14f. Thomasius: Chur-Brandenburgischer Unterthanen doppelte Glückseeligkeit, S. 17. Thomasius: Vom Recht Evangelischer Fürsten in Mittel-Dingen, S. 132. Thomasius, Kurtze Lehr-Sätze, §26. Thomasius: Kurtze Lehr-Sätze, §13. Thomasius: Vom Recht Evangelischer Fürsten in Mittel-Dingen, S. 132. Vgl. auch die ähnlichen Ausführungen in Monatsgespräche, Dezember 1689, Beschluß und Abdanckung des Autoris, S. 1148f.; sowie in Neue Erfindung einer wohlgegründeten und für das gemeine Wesen höchstnöthigen Wissenschafft, das Verborgene des Hertzens anderer

277 impliziert ein gewisses Maß an Meinungsfreiheit, denn mit der Freiheit des Verstandes ist für Thomasius zum einen verbunden, daß die Veröffentlichung wissenschaftlicher Schriften - »Sachen, die die Vernunfft angehen«508 - nur der »allgemeinen censur der verntinfftigen Menschen«509 unterworfen sind, und zum anderen verlangt es die Freiheit des Verstandes, daß niemand dazu veranlaßt werden darf, von »seiner Erkänntniß anders« zu reden, »als er dencket«.510 Thomasius macht hier die Innen-Außen-Dichotomie fruchtbar, die - wie gezeigt - im Zusammenhang mit der Differenzierung der verschiedenen Normtypen in den Fundamenta bereits eine wichtige Rolle spielten. Und er knüpft dabei, ohne dies freilich explizit kenntlich zu machen, an den ganz analogen Überlegungen Martin Luthers an, die dem Lutheraner Thomasius ohne Zweifel geläufig waren. Denn Luther unterscheidet, im Anschluß an die Zwei-Reiche-Lehre Augustins, das Reich Gottes vom Reich der Welt, das »geistliche Regiment«, »das fromm macht« und das »weltliche Regiment«, »das äußerlichen Frieden schafft und bösen Werken wehrt«.511 Die Gesetze des weltlichen Regiments erstrecken sich lediglich auf »Leib und Gut und was äußerlich ist auf Erden. Denn über die Seele kann und will Gott niemanden regieren lassen als sich selbst allein«.512 Und Luther stellt fest: »der Seele Gedanken und Gesinnungen können niemand außer Gott offenbar sein. Darum ist es umsonst und unmöglich, jemanden zu gebieten oder ihn mit Gewalt zu zwingen, so oder so zu glauben«.513 Angesichts dessen erweist sich die Innen-Außen-Dichotomie von Thomasius als eine in staatstheoretischer Perspektive säkularisierte Variante der Zwei-Reiche-Lehre Luthers, denn dessen auf den Glauben bezogenen Aussagen werden von Thomasius um eine philosophische Dimension erweitert. So wird an dieser Stelle in nuce faßbar, daß die Aufklärung in Deutschland mit einer Reformulierung von Erkenntnissen und Bekenntnissen der Reformation einsetzt.

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Menschen auch wider ihren Willen aus der täglichen Conversation zu erkennen, S. 458f. Siehe dazu auch Gawlick: Thomasius und die Denkfreiheit, in: Schneiders (Hrsg.): Christian Thomasius, S. 256-273. Thomasius: Monatsgespräche, Dez. 1689, S. 1150. Thomasius: Monatsgespräche, Dez. 1689, S. 1150. Thomasius: Kurtze Lehr-Sätze, §16. Martin Luther: Von weltlicher Obrigkeit, wie weit man ihr Gehorsam schuldig sei (1523), S. 46. Siehe auch Luther: Von der Freiheit eines Christenmenschen (1520), S. 239. Siehe zu Luthers Zwei-Reiche-Lehre: Johannes Heckel: Lex Charitatis, S. 32ff. Luther: Von weltlicher Obrigkeit, S. 60. Luther: Von weltlicher Obrigkeit, S. 63. Vgl. auch Luther: Vermahnung zum Frieden auf die zwölf Artikel der Bauernschaft in Schwaben (1525), S. 106.

278 Thomasius' Versuche, die höchste Gewalt in der Reichweite ihrer Macht zu begrenzen, beabsichtigen ganz offensichtlich, den Gefahren zu begegnen, die von einer absoluten Monarchie ausgehen. Der durch nichts eingeschränkte absolute Monarch ist für Thomasius tendenziell ein Unsicherheitsfaktor. Daher versucht er, in seiner Staatstheorie Mechanismen zu entwikkeln, die sicherstellen, daß der Fürst sein Amt nach Maßgabe des gemeinen Besten »verwaltet«.514 Ob die hier dargestellten Begrenzungsversuche tatsächlich greifen und die gewünschten Erfolge zeitigen, steht allerdings dahin. Denn das Bemühen, den Absolutismus wirkungsvoll einzuschränken und gleichzeitig an ihm festzuhalten, die höchste Gewalt wirkungsvoll zu limitieren ohne sie zu teilen, dürfte tatsächlich unmöglich sein. Daß Thomasius dies offensichtlich dennoch versucht, also den Absolutismus für nötig hielt und doch seine Gefahren realisiert, ja möglicherweise sogar nicht mehr an ihn glaubt, legt den Schluß nahe, daß in Thomasius' Staatsphilosophie die Grenze des Absolutismus sichtbar wird, über die hinauszuweisen Thomasius selbst nicht imstande war.

2.5. Chancen politischer Veränderungen: Modelle der Politikberatung Während etwa Seckendorff und Alberti die unübersehbar gewordene historische Dynamik ihrer Zeit mit der Hilfe von ausgesprochen konservativen Konzepten bremsen oder gar zum Stillstand bringen wollen, scheint Christian Thomasius den historischen Wandel ausdrücklich zu begrüßen. Er sieht und stilisiert sich als Teil einer epochalen Bewegung, der er als ihr Exponent noch entscheidende Impulse vermittelt. Daß die Zeiten sich täglich ändern,515 liest Thomasius allerdings weniger den politischen Ereignissen ab obwohl er gelegentlich die »doppelte Glückseligkeit« kurbrandenburgischer Untertanen preist - vielmehr konstatiert er Innovationen, die sich vornehmlich auf wissenschaftlichem Gebiet abspielen. Thomasius glaubt 1688 noch recht euphorisch, »Gott sey Danck in einem solchen seculo« zu leben, »in welchen die gelehrte Welt ihre bißher behauptete allgemeine Irrthümer nach und nach erkennen lernet«.516 Und 1691 - gut ein Jahr nach seiner Übersiedlung nach Halle - heißt es wortgewaltig und nicht minder optimistisch: »wir haben noch nicht Ursache zu frolocken, daß wir allbereit durchgehende in einem solchen Zustande lebeten, der keiner fernem Ausbesserung von nöthen hätte. Aber doch ist unser gegenwärtiger Zustand umb ein sehr

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Thomasius. Kurtze Lehr-Sätze, §51. Vgl. Thomasius: Von denen Mängeln der Aristotelischen Ethic, und von anderen das Jus publicum betreffenden Sachen, S. 87f. Thomasius: Von denen Mängeln der Aristotelischen Ethic, S. 87.

279 merckliches besser, als da wir noch unter dem harten Joch menschlicher Autorität, und zwar einer höchst unvernünfftigen Autorität schmachteten, und mit Händen und Füssen in dem Kercker einer unwissenden und betrügerischen Weisheit angefesselt lagen, dergestalt, daß wir uns nicht regen kunten«.517 Fast einhundert Jahre später sollte Immanuel Kant prägnanter zwar, aber in der Sache ganz ähnlich für seine Zeit feststellen, daß »wir« zwar nicht in einem »aufgeklärten Zeitalter« leben, »aber wohl in einem Zeitalter der Aufklärung«.518 Weil aber Gelehrsamkeit sich bei Thomasius erst durch ihren praktischen Nutzen legitimiert,519 erwartet er von den neuen wissenschaftlichen Errungenschaften eben auch praktische und schließlich nicht zuletzt politische Effekte. Freilich kann er unter politischen Bedingungen, unter denen selbst juristische Vorlesungen zum Jus publicum nicht selten fur gefährlich gehalten wurden,520 praktische Reformen des Gemeinwesens nicht ähnlich lautstark propagieren, wie theoretische Innovationen innerhalb seiner eigenen Profession. Wenn Thomasius dennoch ankündigt, über »die deutliche Erkäntniß des Staates und dessen Veränderungen«521 zu lesen, macht er politische Veränderungen immerhin zum Thema. Obwohl er dabei vor allem die historische Perspektive betont, klammert er den politischen status quo seiner Gegenwart doch nicht aus - die aufklärerische Kompetenz der Geschichte beschränkt sich eben nicht nur auf die Vergangenheit, sie ist auch für die Gegenwart fruchtbar zu machen. Im Discours, welcher gestalt man denen Frantzosen in gemeinem Leben und Wandel nachahmen solle? wird dies am scheinbar unverfänglichen Beispiel von »Sitten und Manieren« in nuce vorgeführt: »Es ist von Anfang der Welt in denen meisten Republiquen 517

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Thomasius: Diskurs von der Freyheit der itzigen Zeiten gegen die vorigen. In: Kleine Teutsche Schriften, S. 395. Daß Thomasius auch im Alter noch an dieser Sicht festgehalten hat, belegt Friedrich Vollhardt an einem 1723 erschienenen Text, siehe Friedrich Vollhardt: >Die Finstemüß ist nunmehro vorbeynatürlichen Kern< als Fundament einer allgemeinen Verhaltens- und Erwartungssicherheit gewährleistenden Sittlichkeit. Und 4. taucht etwa bei Christian Thomasius die christliche Religion als ein moralischer Anspruch auf, der an einen christlichen Fürsten gerichtet wird. Denn der christliche Fürst wird aufgrund der christlichen Normen, denen er sich unterstellt, höheren Pflichtanforderungen ausgesetzt als ein Fürst, der lediglich auf dem unverzichtbaren Fundament der natürlichen Religion steht: »ein christlicher Fürst soll, als ein Fürst das Amt eines Fürsten, und als ein Christlicher Fürst die Pflicht eines Christen beobachten«.3 Die Religionsfreiheit seiner Untertanen bleibt von diesen besonderen Pflichtanforderungen unberührt. Schließlich hält Thomasius wohl konsequenter noch als Pufendorf vor ihm und Christian Wolf!4 nach ihm an der Erkenntnis fest, daß »die bürgerliche Gesellschafft [...] wegen des Gottesdienstes nicht entstanden noch gemacht worden« ist, sie »befördert auch die Frömmigkeit nicht, und hat den Gottesdienst nicht erfunden, braucht auch selbigen nicht als ein Instrument die Unterthanen zu regieren«.5 Die Emanzipation von (offenbarungs)theologischen Begründungsmustern zielte auf eine diesseitsorientierte normative Fundierung des Staates: der Staat sollte >Rechtsstaat< werden, d.h. er sollte selbst mit rationalen Mitteln begründet werden, und seine Funktion sollte in einer umfassenden Rechtstätigkeit bestehen, die selbst wiederum rational nachvollziehbaren, rechtlichen Bewertungskriterien zugänglich zu sein hatte.6 Als eine der zentralen Argumentationsfiguren im Prozeß der Verrechtlichung des Politischen fungierte die Vertragslehre, die etwa seit Grotius in Teilen der Diskussion als juristischer Kontraktualismus< tradiert wurde. Der Vertrag ermöglichte sowohl die Legitimation der sich historisch herausbildenden Machtkonzentration als auch deren rechtliche Ordnung. Herrschaft konnte rationalisiert werden, d.h. sie wurde durchschaubarer, prinzipiell begrenzbar und auf eine nachvollziehbare Art handhabbarer gemacht. Der rationalisierte Staat ist an bestimmte Funktionen gebunden und auf bestimmte Zwecke festgelegt, er bringt nicht mehr - wie dies Piaton im Kriton behauptet - alles her-

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Christian Thomasius: Kurtze Lehr-Sätze vom Recht eines Christlichen Fürsten in Religions-Sachen, §LXIII. Siehe die ganz explizite Funktionalisierung der Religion in der Deutschen Politik von Christian Wolff, in §319 heißt es etwa: »Da die Erkäntniß Gottes die Ausübung der Tugend und Unterlassung der Laster erleichtert, im gemeinen Wesen aber davor zu sorgen ist, daß die Leute tugendhafft werden, und die Laster fliehen: so hat man auch davor zu sorgen, wie sie in der Erkäntniß Gottes zunehmen.« Vgl. auch die §§366, 368f., 439. Thomasius: Kurtze Lehr-Sätze, §XXV. Vgl. Christoph Link: Anfänge des Rechtsstaatsgedankens in der deutschen Staatsrechtslehre des 16. bis 18. Jahrhunderts. In: Roman Schnur (Hrsg.): Die Rolle der Juristen bei der Entstehung des modernen Staates. Berlin 1986, S. 775ff.

291 vor und ist daher auch nicht legitimiert über alles zu verfügen. Dennoch bleibt auch bei Thomasius der Staat absolutistisch verfaßt, d.h. er schließt die Bürger von der Teilhabe an der höchsten Gewalt aus: der Bürger ist Untertan und seine auch für Thomasius nicht absehbare Metamorphose zum Citoyen steht noch aus. Bei aller geforderten Denk- und Religionsfreiheit und der doch in Maßen zugebilligten wirtschaftlichen Freiheit ist die politische Freiheit für den Untertan von Thomasius nicht vorgesehen. Der Untertan soll glückselig sein, d.h. er soll in friedlichen Verhältnissen ein gedeihliches Leben führen können. Genau diese Glückseligkeit als Frieden aufgrund von Rechtssicherheit wird - darin liegt eine gewisse Pointe - später von Rousseau - in einem zugegebenermaßen für ihn untypischen Passus - tatsächlich >Freiheit< genannt: »In Genua steht über den Gefängnissen und auf den Galeerenketten das Wort: Freiheit. Die Anwendung des Wahlspruchs ist schön und richtig. In der Tat hindern die Übeltäter aller Stände den Bürger daran, frei zu sein. In einem Land, wo alle diese Leute auf den Galeeren wären, würde man sich der größten Freiheit erfreuen«.7

Rousseau: Gesellschaftsvertrag, S. 171.

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Von der Kunst Vernünftig und Tugendhaft zu lieben, als dem eintzigen Mittel zu einem glückseligen, galanten und vergnügten Leben zu gelangen; Oder Einleitung in die SittenLehre. Halle 1692. Reprint: Band 10 der Ausgewählten Werke von Christian Thomasius. Hildesheim, Zürich, New York 1995. Klag- und Trauerrede, welche, als der entseelte Körper des hochseeligen S.T. Herrn Geheimbde Raths und Cantzler von Sekendorff etc., etc. von Halle nach Meuselwitz am 29 Decembris 1692 abgefllhret wurde. In: Ders.: Kleine Teutsche Schriften. Halle 1701. Gemischter Discurs über etliche neue Collegia. In: Ders.: Kleine Teutsche Schriften. Halle 1701. Dem Durchlauchtigsten, Großmächtigsten Fürsten und Herrn, Herrn Friedrich dem III. etc. etc., seine unterthänige Liebe zu bezeigen, lieset D. Christian Thomas P.P. über der von Höchstged. S. Churfl. Durchl. Bey der Inauguration der Friderichs-Universität zu Halle, denen gesamten Professoribus so theuer anbefohlenen Einigkeit, sich selbst eine nachdrückliche und scharffe Lection, und wiederholet als ein Widerhall die Empfehlung gleicher Einigkeit in einer treugemeinten Vermahnung an die gesammte studirende Jugend. (1694) In: Ders.: Kleine Teutsche Schriften. Halle 1701. Disputatio XII. Respondente DN. Matthias Holzklau. In: Theses XLVIII ex Institutionibus Jurisprudentiae Divinae excerptae et in Universitate Fridericiana sub praesidio Christiani Thomasii. Disputationibus XII. Halle 1694. Abhandlung vom Recht Evangelischer Fürsten in Mittel-Dingen oder Kirchen-Ceremonien. (1695) In: Ders.: Außerlesene und in Deutsch noch nie gedruckte Schriften. Halle 1705. Oster-Gedancken, Oder vom Zorn und der bitteren Schreib-Art wider sich selbst. (1695) In: Ders.: Kleine Teutsche Schriften. Halle 1701. Von der Artzeney wider die unvernünfftige Liebe und der zuvorher nöthigen Erkäntnüß Sein selbst. Oder: Ausübung der Sittenlehre. Nebst einem Beschluß, worinnen der Autor den vielfältigen Nutzen seiner Sitten-Lehre zeiget, und von seinem Begriff der Christlichen Sitten-Lehre ein aufrichtiges Bekäntnüß thut. Halle 1696. Reprint: Band 11 der Ausgewählten Werke von Christian Thomasius. Hildesheim, Zürich, New York 1999. De praescriptione regalium ad jura subditorum non pertinente. Halle 1696. Das Recht Evangelischer Fürsten in Theologischen Streitigkeiten. Halle 1696. Summarischer Entwurff derer Grund-Lehren, die einem Studioso Juris zu wissen, und auff Universitäten zu lernen nöthig, nach welchen Christian Thomas, künfftig, so Gott will Lectiones privatissimas zu Halle, in vier verschiedenen Collegiis anzustellen gesonnen ist. Halle 1699. Reprint Aalen 1979. Bericht von Einrichtung des Paedagogii zu Glaucha an Halle, nebst der von einem gelehrten Mann verlangten Erinnerung über solche Einrichtung. Frankfurt und Leipzig 1699. Erinnerung über den andern Theil der Grund-Lehren (1701). In: Ders.: Außerlesener und dazu gehöriger Schriften Zweyter Theil. Franckfurt und Leipzig 1714. Erinnerung wegen derer über den dritten Theil seiner Grund-Lehren, Bißher gehaltenen Lectionum privatissimarum und deren Verwandlung in Lectiones privatas. Absonderlich aber wegen zweyer instehenden Collegiorum de fundamentis jurispublici und de Synopsi jurisprudentiae publicae, Ingleichen Wegen neuer Lectionum publicarum de jure decori oder Von Recht derer Sitten und Gewohnheiten. In: Ders.: Außerlesener und dazu gehöriger Schriften Zweyter Theil. Franckfurt und Leipzig 1714. Dissertatio de hominibus propriis et libris Germanorum. Halle 1701. Dreyfache Rettung des Rechts Evangelischer Fürsten in Kirchen-Sachen. Frankfurt am Main 1701. Erinnerung wegen seiner künfftigen Winter-Lectiones. In: Ders.: Außerlesene und in Deutsch noch nie gedruckte Schriften. Halle 1705. Abhandlung vom Recht Evangelischer Fürsten in Solennitäten bey Begräbnissen. (1702). In: Ders.: Außerlesene und in Deutsch noch nie gedruckte Schriften. Halle 1705. De Historia Sectae Machiavellistarum et Monarchomachorum. In: Observationum Selectarum ad rem litterariam spectantium. Tomus VI. Halle 1702. Von Schulen vor der Sündfluth. In: Ders.: Auserlesener Anmerckungen über allerhand wichtige Materien und Schrifften. Erster Theil. Franckfurt und Leipzig 1704.

299 Fundamenta juris naturae et gentium ex sensu communi deducta, in quibus ubique secernitur principia honesti, justi ac decori, cum adjuncta emendatione ad ista fundamenta institutionum jurisprudentiae divinae. Editia quarta. Praecedentibus auctior et correctior. In usum auditorii Thomasiani. Halle 1718. Reprint Aalen 1963. (Erstausgabe όα Fundamenta: 1705.) Grund-Lehren des Natur- und Völcker-Rechts, nach dem sinnlichen Begriff aller Menschen vorgestellet, in welchen allenthalben unterschieden werden die Ehrlichkeit, Gerechtigkeit und Anständigkeit; denen beygeftlget eine Verbesserung der Göttlichen Rechts-Gelahrtheit nach dessen Grund-Lehren, zum Gebrauch des Thomasianischen Auditorii. Halle 1709. Von der Pflicht eines Evangelischen Fürsten, die Besoldungen und Ehren-Stellen der Kirchen-Diener zu vermehren. (1714) (Übersetzung von; De Officio principis evangelici circa augenda salaria et honores ministrorum ecclesiae. (1707). In: Ders.: Außerlesener und dazu gehöriger Schriften Zweyter Theil. Franckfurt und Leipzig 1714. Vorrede von der Historie des Rechts der Natur bis auf Grotium; von der Wichtigkeit des Grotianischen Werkes und von den Nutzen gegenwärtiger Übersetzung. In: Hugo Grotius: De Jure ac Pacis Libri Tres. Drei Bücher vom Recht des Krieges und des Friedens. Paris 1625. Nebst einer Vorrede von Christian Thomasius zur ersten deutschen Ausgabe des Grotius vom Jahre 1707. Herausgegeben von Walter Schätzel. Tübingen 1950. Kurtzer Entwurff der politischen Klugheit, sich selbst und andere in allen menschlichen Gesellschaften wohl zu rathen und zu einer gescheidten Konduite zu gelangen. Halle und Leipzig 1707. Reprint der Ausgabe Frankfurt und Leipzig 1710, Frankfurt am Main 1971. Höchstnöthige Cautelen welche ein Studiosus Juris, der sich zur Erlernung der Rechts-Gelahrheit auff eine kluge und geschickte Weise vorbereiten will, zu beobachten hat. Andere und verbesserte Auflage 1729. (Erstausgabe der Cautelen. 1713). Erinnerung über den vierdten Theil der Grund-Lehren. In: Ders.: Außerlesener dazu gehöriger Schriften Zweyter Theil. Franckfurt und Leipzig 1714. Höchstnöthige Cautelen welche ein Studiosus Juris, der sich zu Erlernung der KirchenRechts-Gelahrheit auff eine kluge und geschickte Weise vorbereiten will, zu beobachten hat. 2. Auflage Halle 1728. D. Melchiors von Osse Testament gegen Hertzog Augusto Churfürsten zu Sachsen, Sr. ChurfUrstl. Gnaden Rathen und Landschafften. 1556. Anitzo zum ersten mahl völlig gedruckt, auch hin und wieder durch nützliche Anmerckungen erläutert. Halle 1717. Dissertatio inaugural is sustinens: Emendationem administration is lustitiae neque facilem, neque difficilem esse est caute suscipiendam. [Resp.: Henricus Kühn]. Halle 1717. Paulo Plenior, Historie Juris Naturalis. Halle 1719. Reprint Stuttgart-Bad Cannstatt 1972. Historia contentionis inter imperium et sacerdotium. Breviter Delineatum usque ad saeculum XVI. Cum appendice supplementorum ad cap. 17 cautelam circa praecognita iurisprudentiae ecclesiasticae de iure summarum potestatum circa sacra. Halle 1722. Reprint Aalen 1994. Kurtze Lehr-Sätze vom Recht eines Christlichen Fürsten in Religions-Sachen. In: Ders.: Vernünftige und Christliche aber nicht scheinheilige Thomasische Gedancken und Erinnerungen über allerhand gemischte Philosophische und Juristische Händel. Andrer Theil. Halle 1724. Vollständige Erläuterung der Kirchenrechts-Gelahrtheit. 2. Auflage Frankfurt und Leipzig 1740. Reprint Aalen 1981. Walch, Johann Georg: Philosophisches Lexicon. Leipzig 1726. Reprint Hildesheim 1968. Weiß, Gottfried: Sententiam DN.D. Alberti de notitia status integri naturali lumini non patente adeoq; nec per id Ethnicis competente, contra DN. Prof. Strimesius a Dn. Prof. Seligmanno anthac defensam nunc alterius adversus. [Resp.: Nicolaus Spranger]. Rostock 1682. Wolff, Christian: Grundsätze des Natur- und Völkerrechts. Halle 1754. In: Ders: Gesammelte Werke. Herausgegeben und bearbeitet von J. Ecole, H.W. Arndt, Ch. A.Corr, J.E. Hofmann, M. Thomann. I. Abteilung. Deutsche Schriften. Band 19. Hildesheim, New York 1980. Vernünfftige Gedancken von dem gesellschaftlichen Leben der Menschen und insonderheit dem gemeinen Wesen (Deutsche Politik). In: Ders.: Gesammelte Werke. Herausge-

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