Hegels Staatsphilosophie und das internationale Recht [Reprint ed.]

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Hegels Staatsphilosophie und das internationale Recht [Reprint ed.]

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Hegels Staatsphilosophie und das Internationale Recht Von

Adam von Trott zu Solz mit einem Geleitwort von Hans Rothfels

X 233 .H46T7 1967

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Vandenhoeck & Ruprecht in Göttingen

Adam von Trott zu Solz Hegels Staatsphilosophie und das Internationale Recht

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Hegels Staatsphilosophie und das Internationale Recht Von

Adam von Trott zu Solz mit einem Geleitwort von Hans Rothfels

VANDENHOECK & RUPRECHT IN GÖTTINGEN

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Neudruck der Ausgabe von 1932. Erschienen als Heft 6 der „Abhand¬ lungen aus dem Seminar für Völkerrecht und Diplomatie an der Uni¬ versität Göttingen" (herausgegeben von Herbert Kraus).

© Vandenhoeck & Ruprecht in Göttingen 1967 — Printed in Germany — Ohne ausdrückliche Genehmigung des Verlages ist es nicht gestattet, das Buch oder Teile daraus auf foto- oder akustomechanischem Wege zu ver= vielfältigen. — Druck: G. Münch, Göttingen. 6144

ZUM GELEIT Die Tatsache, daß auf Initiative des Verlages eine vor 35 Jahren veröffentlichte Dissertation neu vorgelegt wird, erfährt ihre einleuchtende Rechtfertigung sowohl von der Person des Autors wie vom Thema her, man könnte auch sagen von der eigentümlich wechselseitigen Beziehung zwischen beiden. Adam von Trott zu Solz, der 1931 als 22jähriger in Göt¬ tingen promovierte, ist eine der vitalsten und faszinierendsten Figuren unter den Männern des deutschen Widerstands gegen Hitler. „Die Luft in einem Raum schien sich zu verändern, wenn er ihn betrat", so hat ein nachlebender Freund bezeugt. Und bereits im Jahre des Abschlusses der Dissertation beeindruckte einen Oxforder Studiengenossen die Strahlkraft dieses jungen Deutschen so, daß er und andere englische Freunde ihn berufen glaubten, das zukünftige Schicksal Deutschlands und „damit Europas" mitzugestalten. Jeder Beitrag zum Lebensbild dieses ungewöhnlichen Mannes, dem nach dem Abschluß der HegelArbeit nur noch 12 Jahre vergönnt waren, bis das Todesurteil des Volksgerichtshofs am 26. August 1944 vollstreckt wurde, wird willkommen sein1. 1 In England wird der Plan einer Biographie mit Energie verfolgt. Die wichtigste, materialreiche und durch die persönliche Nähe unvergleichliche (auch im folgenden weitgehend benutzte) Grundlage dafür hat die Witwe Adams Dr. Clarita von Trott in einem Schreibmaschinenmanuskript von 300 Seiten 1957/58 „den Freunden vorgelegt". Ihr ist auch die eindrückliche Skizze des Lebensweges zu verdanken, die abgedruckt ist in dem anläßlich der Einweihung der „Vertriebenen-Siedlung Adam von Trott zu Solz in Kassel" erschienenen Bande: Ein Leben für die Freiheit (Kassel 1960), S. 13-50. Ebenda (S. 87 ff.) der Tübinger Vortrag des jüngeren Bruders Heinrich von Trott zu Solz: Vom unbewältigten Widerstand. Ferner sei erwähnt die gedankenreiche Rede, die der Biograph Bonhoeffers, Pfarrer Eberhard Bethge, bei der Eröffnung des „Adam-von-Trott-Hauses", eines Studentenwohnheims der Evangelischen Akademie in Berlin-Wann-

iAibbö^

VI Adam von Trott wurde 1909 in Potsdam geboren. Der Vater war damals Oberpräsident von Brandenburg, er wurde noch im gleichen Jahr preußischer Kultusminister (bis 1917). Dann übernahm er das Oberpräsidium in Kassel, bis die Fa¬ milie sich 1919 endgültig in Imshausen bei Bebra niederließ. Die Mutter war eine Tochter des Botschafters aus der BismarckZeit von Schweinitz. Unter ihren Ahnen befand sich John Jay — erster Chief Justice des Supreme Court und Freund Washing¬ tons —, dessen Porträt auffallende Ähnlichkeit mit dem späten Nachfahren Adam gezeigt haben soll. Wie dem auch sei — für Trott, wie übrigens auch für den Grafen Helmuth James Moltke, der ihm ein naher Freund werden sollte, ist das angel¬ sächsische Element der Herkunft nichts Beiläufiges gewesen. Jedenfalls war es kein Zufall, daß Trotts geistiges Interesse und seine praktisch-politische Energie sich sehr wesentlich auf das deutsch-englische Verhältnis als ein „Hauptthema seines Lebens" richten wird. Und es mag hier schon angedeutet sein, daß eben in dieser Bemühung die Schwungkraft wie auch die Problematik der Hegelschen Staatsphilosophie eine besondere Rolle spielt. Nach den Knaben- und Schuljahren, die Trott in Berührung mit der Jugendbewegung brachten und schon sein ausge¬ sprochenes Talent für die Begründung lebenslanger Freund¬ schaften zeigten, begann er im Sommer 1927 das wesentlich dem Vater zuliebe gewählte Studium der Jurisprudenz in Mün¬ chen. Die nächsten drei Semester studierte er in Göttingen, er wurde dem Herkommen folgend Corpsstudent und war zum Vertreter des 1. Chargierten ausersehen, aber zugleich suchte er aufs intensivste seine eigenen Interessen und seinen eigenen Weg herauszufinden.

Schon dem Gymnasiasten hatte ein

see, am 12. Dezember 1962 gehalten hat (Vierteljahreshefte für Zeit¬ geschichte XI, S. 213 ff.). Ich selbst habe mehrfach dokumentarisches Material wesentlich zur Außenpolitik und der internationalen Stellung von Trotts mit entsprechenden Einführungen veröffentlicht (ebenda V, S.388ff., VII, S.318ff. und XII, S.300ff.).

VII Ferienaufenthalt in Genf im Haus des Generalsekretärs des YMCA die erste Berührung mit amerikanischer Atmosphäre gebracht, auch mit Freunden seiner Mutter von christlichen Konferenzen, so mit Visser't Hooft, der während des Krieges als Generalsekretär des ökumenischen Rats der Kirchen eine Denkschrift Trotts nach England übermitteln wird2. Er hat nach einer Erzählung von 1945 sich noch damals an die Ge¬ spräche mit dem 17jährigen erinnert. — Eine nachhaltigere Berührung mit der angelsächsischen Welt geschah dann wäh¬ rend eines Kurzsemesters in Oxford. Trott erwarb sich nicht nur einen großen Freundeskreis, sondern suchte auch auf Grund dieser Begegnungen Klarheit zu gewinnen über die tiefe Ver¬ schiedenheit, aber ebenso über die Ergänzungsmöglichkeit englischen und deutschen Wesens. In einer kleinen Schrift „Impressions of a German Student in England" faßte er seine Eindrücke zusammen. Und es darf wohl als bezeichnend gelten, daß

ihm

neben

dem

„sicheren

Fundament

einer

heilen

Nationalgeschichte" als wesentlich für die englische Haltung auffiel: „Die Antwort auf Probleme ist das Handeln." Ein weiteres Ergebnis des Englandaufenthalts war die erste Berüh¬ rung mit einem Kreis jüngerer Sozialisten. Die Auseinander¬ setzung mit seinem älteren Bruder, der seinen Weg als Arbeiter in einer Maschinenbaufabrik begonnen hatte, dürfte wohl ge¬ holfen haben, den Boden dafür zu bereiten. Mit der Rückkehr nach Deutschland und dem neuen Studien¬ ort Berlin vertieften sich diese Beziehungen. Trott trat dem Kreise um die Zeitschrift „Neue Blätter für den Sozialismus" nahe, einem Organ des ethischen Sozialismus, an dem spätere Mitstreiter in der Widerstandsbewegung wie Mierendorff und Haubach mitwirkten. Auch die Berührung mit SiegmundSchultze, dem Begründer der „Sozialen Arbeitsgemeinschaft Ost-Berlin", mag erwähnt werden. Aber es würde zu weit hier führen, alle die neuerworbenen Freunde zu nennen. Einer von 2 V.f.Z.V, S. 390.

VIII ihnen hat die dürftige Studentenbude geschildert, in der Trott hauste, mit dem wackligen Tisch, auf dem das „Kapital" von Karl Marx und Hölderlins Gedichte nebeneinanderlagen. Der ehemalige Corpsstudent pflegte nahen Umgang mit einem Bau¬ arbeiter, den er schon von Liverpool her kannte, er nahm teil an Aussprachen über das Thema „Arbeiter und Student". Aus solchen Erfahrungen folgerte er in einer Notiz von 1930, daß „der ernsthafte Proletarier" instinktiv meist genau wisse, „wann die Worte eines Intellektuellen emstzunehmen sind". Was ihn selbst zu solchen Kontakten wie später zu denen mit seinen außenpolitischen Partnern befähigte, lag nach dem Urteil eines Freundes darin, daß er „sein Gegenüber ohne viel Worte von der Lauterkeit seines Anliegens" überzeugte. Aus der Intensität der beiden Berliner Semester kehrte Trott 1930 zum Abschluß des Studiums nach Göttingen zurück. Er trat in das völkerrechtliche Seminar von Herbert Kraus ein und promovierte im Juli 1931 mit der Hegel-Arbeit. Schon vorher hatte er das Referendarexamen bestanden. Aber ehe es zur Fortsetzung der Berufsausbildung kam, trat ein glückhaftes Ereignis, ein „Glückstornado", wie Trott meinte, von großer Folgewirkung ein. Er wurde für zwei Jahre Rhodes-Stipendiat in Oxford. Es kann hier nur angedeutet werden, was diese Jahre (1931 bis 1933) für ihn bedeuteten. Nicht unwichtig war, daß erst im Balliol-College der zweite Teil der Hegel-Schrift beendet wurde. Beim Studium der „Modern Greats" fand Trott am ehesten in der politischen Philosophie sein „aktiveres theore¬ tisches Interesse" befriedigt. Es ist ja bekannt, daß seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts Hegels Rechts- und Staats¬ philosophie in England, insbesondere aber in Oxford, einen zunehmend breiten Raum in der Diskussion einnahm3. Über einen der führenden Köpfe dieses „Second Oxford Movement" 8 Vgl. u. a. K. Dockhorn, Die Staatsphilosophie des englischen Idealis¬ mus (Köln 1957).

IX hat Trott später (1938) in einem Aufsatz gehandelt4. Er be¬ tonte bei aller Verschiedenheit des typisch englischen und des typisch deutschen Ausgangspunkts — von der Idee hier, von der Erfahrung dort — die starke Gemeinsamkeit in einer „von Hegels ganzheitlichem Denken" inspirierten Lehre und in der beiden Geistesrichtungen gestellten Aufgabe, „auch im modernen Staat das Gebot der Persönlichkeit zu erfüllen". Trott selbst wurde im zweiten Oxforder Jahr Präsident der „Jowett-Society", einer philosophischen Gesellschaft, die gewiß noch nie von einem Deutschen geleitet worden war. Aber auch an dem so entwickelten politischen Klubleben Oxfords nahm er lebhaft teil, so am „Labour-Club", der ihn in Kontakt mit Führern der englischen Arbeiterpartei brachte. Nicht weniger bedeutsam und im äußeren Verlauf noch folgenreicher war der Eintritt in einen erweiterten Freundeskreis, dem Männer und Frauen der intellektuellen wie der gesellschaftlich-politischen Elite angehörten. Oxford, so schrieb er dem Vater, habe ihm mehr gegeben als er je ausdrücken könne: „Die edelsten Tradi¬ tionen Europas, wenn auch teils kaum merklich und unbewußt, leben hier nebeneinander ..." Bei aller Offenheit und Empfänglichkeit Trotts für solche Erfahrungen waren seine englischen Freunde nie darüber im Zweifel, daß er „typisch deutsch" (wenn auch glücklicherweise nicht „pompous") sei. In der Tat mochte der Aufenthalt im Ausland die Bindung an Heimat und heimatliche Art nur noch verstärken. Um so bedrückender waren die Nachrichten, die der „Machtergreifung" vom Januar 1933 vorausgingen. Ein englischer Freund ist Zeuge der Reaktion Trotts gewesen noch in der gleichen Nacht, als Adam die Nachricht von Hitlers Kanzlerschaft in der Zeitung las. Sie zeigt einen überaus klaren Vorausblick sowohl für das Ausmaß des Unheils, das Deutsch¬ land befallen habe, für die persönliche Gefährdung vieler 4 B. Bosanquet und der Einfluß Hegels auf die englische Staatsphilo¬ sophie. Zeitschr. f. deutsche Kulturphilosophie IV, S. 193 ff. (Tübingen 1938).

X Freunde und Bekannter, für die Erschwerung seiner eigenen Berufslaufbahn, als auch insbesondere für die Notwendigkeit und die Problematik eines Widerstands „von innen", der unter Umständen die Tarnung als Parteimitglied erfordern werde. Nachdem Trott im Sommer 1933 nach Deutschland zurück¬ gekehrt war, wurde die Erschwerung der Berufslaufbahn bald offenbar. Das Ergebnis verschiedener Ausbildungsstationen war, daß ihm, der keiner NS-Organisation beitrat und dies „nicht ausweichend, sondern prinzipiell" begründete, die Er¬ nennung zum Regierungsreferendar versagt und statt dessen „Milieuvoreingenommenheit" und — ironisch genug — „Mangel an kämpferischem Geist" bescheinigt wurden. Es erscheint fast verwunderlich, daß dem Anwärter für den Justizdienst, der in Kassel sich durch einen Vortrag über „Rußlands wirtschaft¬ liche und politische Entwicklung" (ein für ihn „faszinierendes" Thema) exponierte, der einem jungen kommunistischen Straf¬ gefangenen Lenins Randbemerkungen zu Hegels Dialektik in einem Tarneinband in die Zelle schmuggelte, der ungescheut mit sozialistischen und jüdischen Freunden Umgang hielt, nichts Schlimmeres passierte als ein „befriedigend" im Assessor¬ examen vom Oktober 1936. Auch die Einleitung und der Kommentar, die er 1935 zu einer Ausgabe von Schriften Hein¬ rich von Kleists schrieb5 und die ein Beispiel des indirekten Schießverfahrens gegen das Regime sind, machten Trott nicht für den Staatsdienst akzeptabler. Nach einem Ansatz als Jour¬ nalist — auch der Beruf des Wirtschaftsjuristen wurde er¬ wogen — ergriff er die Chance eines dritten Jahres als RhodesScholar, das der Vorbereitung einer wissenschaftlichen Laufbahn auf dem Gebiet des Völkerrechts dienen und ihn in den Femen Osten führen sollte. Die Weltreise (Februar 1937 bis Dezember 1938) begann in den Vereinigten Staaten, wo sich ihm für seine spätere Tätigkeit wertvolle Verbindungen eröffneten; sie bedeutete mit 5 Heinrich von Kleist, Politische und journalistische Schriften (Pots¬ dam 1935).

XI einem einjährigen Aufenthalt in Peking, dem noch ein kürzerer in Japan und noch einer in China folgten, wie die Biographin bemerkt, „die große Atempause seines Lebens". Die intensive Beschäftigung mit chinesischer Philosophie trug aber nicht nur, was die Freunde später zu beobachten glaubten, zur „Gelassen¬ heit" seiner doch immer auf Tat gespannten Art bei, sondern hatte auch direkte politische Bezüge. Sie galt vornehmlich den Staats- und Herrschervorstellungen und damit den „staats¬ politischen Hintergründen des fernöstlichen Konflikts", über die nach der Rückkehr ein Vortrag in Berlin Aufschluß zu geben suchte6. Und wie für Trott in Europa das Wunschbild der deutsch-englischen Kooperation auf der Grundlage selbst¬ erlebter wechselseitiger Ergänzung trotz allem Bestand hatte, so glaubte er in Ostasien die Möglichkeit solchen Zusammen¬ wirkens zur Herstellung des Friedens zu sehen. Eine Denk¬ schrift für die Trustees der Rhodes-Stiftung legte das im ein¬ zelnen dar7. Trotts Heimkehr, durch den Tod des Vaters beschleunigt, fiel in die schlimme Zeit nach den Novemberpogromen und in die Phase offenbarer Kriegsvorbereitungen. Er hätte jede Mög¬ lichkeit gehabt — damals wie auch 1933 — im Ausland zu bleiben. Manche seiner englischen Freunde haben ihm verdacht, daß er es nicht tat; sie sahen nicht, daß man deutscher Patriot und Nazi-Gegner zugleich sein konnte. Trott hingegen war überzeugt, daß eine Gegenfront nur von innen aufgebaut wer¬ den konnte, nur durch Deutsche, die im Lande blieben „auf alle Gefahr der Demütigung und der Niederlage hin". Sein Eintritt in das Auswärtige Amt im Mai 1940 (wie auch die Parteimitgliedschaft) diente der Tarnung einer solchen Front. Damit mündet die Lebensbahn Trotts in die allgemeine Ge¬ schichte des Widerstands, spezieller in seine Beziehungen zu Beck und Goerdeler, zu Hassel und Leuschner, zu seinen sozia6 Gedruckt in: Zeitschr. f. ausländisches öffentliches Recht und Völker¬ recht IX, Nr. 2 (Berlin 1939). 7 Vgl. V.f.Z.XII, S. 305.

XII listischen Freunden und insbesondere zum Kreisauer Kreis. Es muß hier genügen, kurz die Etappen seiner äußeren Tätigkeit zu berühren. Sie führte ihn im Juni 1939 in einer viel mi߬ verstandenen Mission nach England* 8. Es ging an der Oberfläche darum, durch einen mit den dortigen Verhältnissen Vertrauten Informationen nach Berlin gelangen zu lassen, die Ribbentrops These vom degenerierten Charakter der Engländer widerlegten und Hitler damit wie mit der Aussicht ehrenvoller Bedingungen vom Kriege abhalten mochten. Der Kern der Gespräche aber, die Trott vor allem mit dem Außenminister Lord Halifax und dem künftigen Botschafter in Washington Lord Lothian, schließlich auch mit dem Premier Neville Chamberlain, hatte, lief darauf hinaus, ihnen eine deutliche Demonstration eng¬ lischer Kriegsentschlossenheit für den Fall, daß Hitler Polen angriff, nahezulegen und zugleich um ihr Verständnis für die innere Situation Deutschlands und um Solidarität mit der deutschen Opposition zu werben. In Übereinstimmung mit den Bemühungen Weizsäckers um die Erhaltung des Friedens deutete auch Trott, wie es andere Mitteilungen aus Berlin taten, die Möglichkeit an, daß zwischen Hitler und Stalin etwas im Spiel sei. Nach Kriegsausbruch gelang es ihm, trotz englischer Blockade Washington zu erreichen. Mit der persönlichen Übergabe einer Denkschrift, die bis zum Außenminister Hüll und zu Roosevelt gelangte, mit zwei Aussprachen im State Department, suchte er die damals noch neutralen Vereinigten Staaten für eine öffentliche Garantierung maßvoller Friedensbedingungen zu gewinnen9. Es sollte damit der Anschein eines Vemichtungskampfes gegen das deutsche Volk, diese Trumpfkarte national¬ sozialistischer Propaganda, widerlegt und so der Weg der Opposition erleichtert werden. Zugleich aber ging es Trott um die Werbung für ein Bündnis der „constructive elements" in 8 Akten zur Deutschen Ausw. Politik, Serie D, VI, S. 562—570. 8 Für ausführlichere Darlegungen und die Dokumente dazu vgl. V. f. Z. VII, S. 318 ff.

XIII allen Ländern und einen Appell an die solidarische Verant¬ wortung der westlichen Welt. Noch einmal gegen alle Warnungen seiner Freunde zurück¬ gekehrt, fand er während der Kriegsjahre Arbeit in der Infor¬ mationsabteilung des Auswärtigen Amts. Auf seine Teilnahme am inneren Widerstand ist hier nicht einzugehen. Trott hatte sehr bestimmte gesellschaftspolitische Vorstellungen, die er etwa dahin präzisierte, es gelte, „das Personalprinzip des Westens mit dem Realprinzip des Ostens" zu verbinden. Anders ausgedrückt: Wie es ihm um die Bewahrung der letzten Werte, um Freiheit und Würde des Menschen, ging, so sahen er und manche seiner Freunde durchaus die Notwendigkeit einer produktiven Auseinandersetzung mit der kommunisti¬ schen Ideenwelt. Von hier aus erhalten seine außenpolitischen Bemühungen ihre tiefere Dimension. Sie schlossen wesentliche Kontakte jenseits der Grenzen ein, eine möglicherweise bedeut¬ same Rolle im Gefolge der Verhandlungen zweier deutscher Pastoren mit dem Bischof von Chichester10, eine Reihe pro¬ grammatischer Niederschriften, die ins Ausland gelangten, zuletzt noch Unterredungen mit englischen Vertrauenspersonen in Stockholm. Von der schon erwähnten Denkschrift, die durch die Hände von Visser't Hoof ging und die Churchill „very encouraging" fand, meinte Trotts naher Freund David Astor, sie zeige, daß Adam „die Eigenschaften und das Kaliber eines großen europäischen Staatsmannes" besitze. Noch bedeutsamer wohl waren die „Bemerkungen zum Friedensprogramm der Amerikanischen Kirchen", die Trott im Oktober 1943 nieder¬ schrieb und die auch ihren Weg über Genf nahmen11. Sie geben neben vielen anderen wesentlichen Hinweisen auf den Rechtsgedanken als das grundlegende Prinzip internationaler Ordnung und auf „christliche Sachgerechtigkeit" der Einsicht stärksten Ausdruck, daß die Entwicklung insbesondere „in Europa die Unzulänglichkeit des souveränen Nationalstaats als 10 Vgl. V.f.Z.V, S. 375.

11 Ebenda XII, S.318.

XIV letzter internationaler Instanz erweist und auf größere Zu¬ sammenfassung der einzelnen Völker hindrängt". Die vielfachen Bemühungen Trotts haben kein unmittelbares Echo gefunden, so sehr sie ihm persönlich ein Vertrauens¬ kapital verschafft haben mögen, auf das nach dem Sturz des Regimes ein Wechsel wohl zu ziehen gewesen wäre. Trott jedenfalls hielt trotz aller Enttäuschung daran fest, daß nach geglücktem Aufstand die Feindseite verhandlungsbereit sein würde. Er hat mit dieser Zuversicht in der entscheidenden Be¬ sprechung fünf Tage vor dem 20. Juli Stauffenberg im Ent¬ schluß zur Tat bestärkt. Den Konsequenzen des gescheiterten Attentats und der Be¬ ziehung zum engsten Kreis des Widerstands hat sich Trott nicht entzogen und nicht entziehen wollen. In einem sehr persönlichen Abschiedsbrief, den er im Angesicht des Todes schrieb, gab er seinem Schmerz darüber Ausdruck, „die be¬ sonderen Kräfte und Erfahrungen", die er „in fast zu ein¬ seitiger Konzentration" in sich ausgebildet habe, nun vielleicht nie mehr dienend zur Verfügung stellen zu können . . . Darum bin ich aus der Fremde mit allen ihren Verlockungen und Möglichkeiten immer mit Unruhe und begierig dorthin zurück¬ geeilt, wo ich mich zu dienen berufen fühlte ..." Ein erstes Zeugnis dieser Konzentration in Richtung der zwischenstaatlichen Verhältnisse ist — noch in rein theoreti¬ scher Form — die Hegel-Schrift mit ihrer Blickrichtung auf die Probleme internationalen Rechts. Sie wirft ein Licht voraus auf den Lebensgang ihres Autors, insbesondere auf das für ihn so wichtige deutsch-englische Verhältnis. Zugleich aber ist das Thema selbst bedeutsam genug, um von diesem Lebens¬ gang, von weiteren Notizen Trotts, wie überhaupt von der kritischen Situation der dreißiger Jahre her beleuchtet zu werden. Am Anfang solcher hinführender Betrachtung mag ein Satz stehen, den Trott sich 1930 aufzeichnete: „Die Selbstbehaup¬ tung des Staates auf dem Wege der Rechtsentwicklung nicht

XV dem des Krieges ist heute zu erstreben. Krieg als gerechte Ent¬ scheidung des Weltgerichts über die historische Daseinsberech¬ tigung eines Volkes ist heute eine Absurdität." Und ein Jahr später heißt es in seinen Notizen: „Es bedarf einer Philosophie, die nicht wie die Hegels eine altgewordene Gestalt der Welt prachtvoll nachdenkt, — sondern eine(r),die mit gleichenMaßen und gleicher Kraft mit dem Aufrichten einer neuen Weltgestalt nicht nur, sondern mit der Verwirklichung einer neuen Idee von menschlicher Persönlichkeit beginnt." Nach solchen Zita¬ ten, die der Dissertation vorausgehen, wird man von vorn¬ herein nicht vermuten wollen, daß diese nur einer sachgerech¬ ten und mit innerer Zustimmung versehenen Interpretation des Hegelschen Gedankengebäudes oder, wie man gemeint hat, seiner Rechtfertigung in einer bestimmten verabsolutie¬ renden Richtung dienen sollte. In der Tat betont schon die Einleitung, daß zwar Hegels Autorität den „Leugnern" des Völkerrechts eine „geradezu unantastbare philosophische Rückendeckung" zu bieten scheine, daß aber nur von seiner „metaphysischen Grundkonzeption der sich in Staat und Geschichte manifestierenden Idee" her sowohl seine Abwehr eines vom naturrechtlichen Denken ge¬ forderten Völkerrechts, wie auch der Anstoß eines positiven Völkerrechtsdenkens zu begreifen sei. Dem entspricht die deutliche Zweiteilung der Schrift, die zuerst, wie ausdrücklich gesagt wird, Hegels Stellungnahme zum Thema aus dem syste¬ matischen Gesamtzusammenhang seiner Philosophie hervor¬ treten lassen will, unkritisch und ohne eigene Wertung. Ganz wird auf sie freilich — gemäß Trotts „aktiverem theoretischen Interesse" — doch nicht verzichtet. Erst recht steht der zweite Teil unter der wohl mit vom Englandaufenthalt beeinflußten, also auf das „Handeln" gerichteten Frage: „Was sollen wir tun?" Sie bedarf indessen — und das mag zugleich Abwehr des englischen Empirismus sein — sowohl des philosophischen Hintergrunds, um nicht rein pragmatisch beantwortet zu wer¬ den, wie auch der Beurteilung der Hegelschen Lehre „nach

XVI ihrem auch für die Gegenwart gültigen praktischen Gehalt". Es wird nicht nötig sein, hier diesen philosophischen Hinter¬ grund, den „Systemzusammenhang", in dem für den HegelInterpreten Recht und Sittlichkeit,

Gesellschaft und

Staat

stehen, nachzuzeichnen. An seinem tiefen Hineingezogensein in dies „prachtvolle Nachdenken einer altgewordenen Gestalt der Welt" ist ebensowenig zu zweifeln wie an seinem weit¬ gehenden Mitgehen mit dem, wie es in einer Notiz heißt, „riesenhaften Ein- und Ausatmen", mit dem dialektischen „Begriffsübergang" vom Staat über das „äußere Staatsrecht" zur „Weltgeschichte". In scheinbarem Widerspruch zu der „Hellsichtigkeit für das Kommende", die man Trott mit Recht nachgerühmt hat12, und zu seiner Notiz von 1930 wird Hegels Wort von „der Weltgeschichte als dem Weltgericht" ohne kritischen Kommentar zitiert. Das gleiche gilt von der so sehr an die „Stahlbad"-Theorie erinnernden Rechtfertigung des Krieges, weil er „ebenso die sittliche Gesundheit der Völker in ihrer Indifferenz gegen die Bestimmtheiten und gegen das Angewöhnen und Festwerden derselben erhält, wie die Be¬ wegung der Winde die Seen vor der Fäulnis bewahrt, in welche sie eine dauernde Stille, wie die Völker ein dauernder oder gar ein ,ewiger Friede' versetzen würde". Der Widerspruch löst sich bis zu einem gewissen Grade, indem immer wieder — und in scharfer Antithese zu Kant — das Hegelsche Grundprinzip in der Frage des internationalen Rechts hervorgehoben wird: Keine universale Ordnung abstrakt formaler Art hält das Ganze zusammen und auch kein „Prätor"; die Vernunft er¬ scheint nur in den „unterschiedenen souveränen Willen". — Was aus der logisch-metaphysischen Struktur des Staates folgt, — „Individualität und damit Entgegensetzung" —, ist zugleich „das Gesetz der weltgeschichtlichen Erscheinungen". Im Blick auf diese durchgehende Konzeption glaubt Trott die so oft gegen Hegel erhobenen Vorwürfe der Staatsver12 G. Bethge, a.a.O.

XVII göttlichung, der Propagierung des Machtstaatsgedankens in Deutschland (Heller) wie auch der Verherrlichung des Krieges zurückweisen zu können. Macht sei eben nicht zu verstehen in der „primitiven und brutalen" Bedeutung des Wortes, son¬ dern im Sinn „der sich gegen jeden Widerstand zur Geltung bringenden selbstbewußten sittlichen Substanz". Zugleich aber wird die Frage nach der Zeitbedingtheit, nach der Anwendbar¬ keit der Hegelschen Lehre auf gegenwärtige Zustände, doch auch im ersten Teil der Schrift schon durchaus gestellt. Und am Schluß dieses Abschnittes findet sich der Hinweis auf die „dialektische" (nicht monistische) Möglichkeit einer Versöh¬ nung des Prinzips der „lex suprema salus populi" mit einer „durch die konkrete Existenz der Sittlichkeit im Staat be¬ grenzten, aber auch zuverlässig fundierten Ordnung des zwi¬ schenstaatlichen Verhältnisses". Der zweite Teil führt diese Linie einer positiven „Auf¬ hebung" der Antinomie zwischen souveränem Staat und inter¬ nationaler Ordnung weiter fort. Und man wird annehmen dürfen, daß die Ausarbeitung in England mit zu der „neuen Fragestellung" beigetragen hat. Trott selbst beschreibt sie in einer Sonderanzeige der Abhandlung als Ausgang vom „eigent¬ lich Praktischen in der Rechtsphilosophie, nämlich der subjek¬ tiven Willens- und Gewissensentscheidung", die ihrerseits „von einem historisch-politischen Aufgabenbereich untrennbar ist". Eine Besprechung der Schrift durch den Wiener Völker¬ rechtler Verdross13 hebt denn auch hervor, daß der Verfasser sich nicht mit einer überaus sorgfältig durchgeführten „stati¬ schen Hegeldarstellung" begnüge. Aus der treffenden Charak¬ terisierung der für Hegel sich „erst aus einem konkret-inhalt¬ lich zu bestimmenden Lebensbereich" ergebenden ethischen Pflicht werde richtig gefolgert, daß seine Völkerrechtslehre aus konkreter Lage heraus zu verstehen sei und mit einer „Wand¬ lung des historisch-politischen Lebensbereiches selbst" eine Änderung erfahren könne. 13 Zeitschr. f. öffentliches Recht XIII, S. 623 (Wien 1933).

XVIII Man wird diese Wandlung im Sinne Trotts gewiß nicht als relativistische oder opportunistische Erweichung des strengen Hegelschen Gedankenganges aufzufassen haben. Wohl aber findet Trott, daß die von Hegel selbst betonte „Bedeutung des subjektiven Willensentscheides" zurückgedrängt sei gemäß der „zeitgebundenen Seite" in der Konzeption der für Hegel gegen¬ wärtigen Epoche. Sie war in Europa durch das Nebeneinander¬ stehen souveräner Nationalstaaten gekennzeichnet, während das Maß ihrer Interdependenz, insbesondere ihrer wirtschaft¬ lichen Verflochtenheit, sich nicht voraussehen ließ. Was in Trotts Friedensdenkschrift von 1943 als „Unzulänglichkeit des souveränen Nationalstaats" statuiert wird, klingt schon in der Weiterführung des Hegelschen Souveränitätsprinzips an, — nicht als Hindernis, sondern als „eigentliche Voraussetzung für internationale Wirklichkeitsgestaltung im Sinne der Erfül¬ lung auch gemeinsamer historisch-politischer Aufgaben". Diese Weiterführung ist möglich, wenn der souveräne Staatswille aus der von Hegel geforderten „Wirksamkeit einer das Volks¬ ganze integrierenden sittlichen Gewissenstätigkeit" begriffen wird. Sehr deutlich ist in diesem Gedankengang die Begren¬ zung der Staatsallmacht durch sittlichen Willensentscheid ver¬ knüpft mit der Verantwortung für eine menschenwürdige Ord¬ nung des internationalen Bereichs. Vielleicht wird man auch das als Vorausblick ansprechen dürfen auf die beiden Rich¬ tungen, in denen der Widerstand sich dem vor der Tür stehen¬ den totalitären und unmenschlichen Regime wird entgegen¬ zusetzen haben. Trotts Beschäftigung mit Hegel hat noch einigen Fortgang gehabt. Er rühmte seiner Philosophie nach, daß sie vermöge der spekulativen Form des Begriffs ein „freies Fortdenken ermöglicht". Er plante 1934 eine Auswahl von Hegels Schrif¬ ten, deren Zweck sein sollte, „ein Tor in die weite Sprach- und Wirklichkeitsfülle der historischen Weltansicht Hegels aufzu¬ stoßen". Ein Jahr später aber schreibt Trott von der „Abwen¬ dung" von Hegels Staat, die er nicht mehr habe zu Papier

IXX bringen können. „Seit England bin ich in die Ströme des un¬ mittelbaren Lebens so stark zurückgerissen worden, daß mein Versuch, mich ,explicite' zu dieser Philosophie zu stellen, in immer weitere Ferne gerückt ist. In England freilich füllte sich auch jene dynamische (Hegelsche) Begriffswelt mit der An¬ schauung echter politischer Lebendigkeit..." Im gleichen Brief, im Vorausblick auf die Asienreise geschrieben, wird das Thema der Schrift von 1932 noch einmal aufgegriffen, aber jetzt in einer kritischen Zuspitzung der Problematik, die wie für unsere Tage geschrieben scheint: Hegel, so lesen wir, hielt es für eine Utopie, „ein System legaler Völkerverhältnisse zu errichten,. .. aber ist das heute nicht gleichbedeutend damit, daß man das Ausbleiben der sonst notwendigen Selbstvernichtung der Na¬ tionen für eine Utopie hält"? Tübingen, März 1967

H. R.

Meinem Vater

Vorwort. Bei denen, die in der nachkantischen idealistischen Philo¬ sophie nichts anderes sehen als einen erhabenen Selbstbetrug, wird die vorliegende Arbeit auf Verständnis kaum hoffen dürfen; ebensowenig aber bei denen, die in einer HegelDarstellung nicht mehr als eine Chronik aus der politischen Biedermeierzeit erblicken. Hegels Staatsphilosophie ist eine unbestreitbare geistige Realität, mag sie auch häufiger die Rolle einer geheimen In¬ spirationsquelle als die eines bewußten ideologischen Hinter¬ grundes in den von ihr beeinflußten Doktrinen und Program¬ men spielen. In Anerkennung dieser Tatsache habe ich mich bemüht, den eigentlichen ideologischen Gehalt ihrer Stellung¬ nahme zum internationalen Problem herauszuarbeiten — einem Problem, das zwar für Hegel wesentlich nur erst ein politi¬ sches und noch nicht in dem gleichen Maße wie für uns ein rechtliches und wirtschaftliches war —, in dessen gegenwär¬ tiger Behandlung aber nun auch in diesen beiden Hinsichten mit Fug von einem schwerwiegenden ideologischen Einfluß Hegels gesprochen werden kann. Beim Abschluß meiner Arbeit möchte es mir jetzt fast als eine Anmaßung erscheinen, wenn ich zu diesem schlichten Zweck die Gefolgschaft des Lesers durch die Nachentwicklung des philosophischen Unterbaues der politischen Lehre Hegels in Anspruch genommen habe. Nur so jedoch glaubte ich eine ebenso zuverlässig wie gangbare Brücke von dem geläufigen rechts- und staatswissenschaftlichen Bewußtsein zu einer in¬ haltlich richtigen Darlegung der politischen Lehre Hegels

4 schlagen zu dürfen. Der Verzeihung des Hegel-Kenners bin ich mir sowohl hierfür als für manche der Mängel gewiß, die sich aus der beträchtlichen sprachlichen Schwierigkeit erklären, denen eine jede Hegel-Darstellung irgendwie begegnen muß. Ich hoffe aber auch mit der Geduld des mit Hegel weniger vertrauten Lesers insoweit wenigstens rechnen zu dürfen, als ich es mir habe angelegen sein lassen, die Ergebnisse dieser politischen Philosophie mitsamt ihren eigenen Hauptvoraus¬ setzungen nachzuentwickeln und so ihrem Verständnis als eines Ganzen ebenso wie dem ihres unmittelbar auf das Völ¬ kerrecht bezüglichen Teiles zu dienen. Hierzu verdanke ich Herrn Professor Kraus und seinen Seminaren eine gründliche Einführung in die Probleme des internationalen Rechts; Herrn Professor Binder habe ich mei¬ nen aufrichtigen Dank dafür auszusprechen, daß er mich an seinem Kreis teilnehmen und so im gemeinsamen Studium von seiner vorbildlichen Vertrautheit mit Hegels Philosophie lernen ließ. Balliol College Oxford, im Sommer 1932.

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Inhaltsverzeichnis. Einleitung: Über Absicht und Aufbau der Darstellung

...

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I. Teil: Das internationale Recht im System der Rechtsphilosophie. 1. Kapitel: Philosophische Voraussetzungen.18 a) Vom absoluten Idealismus.18 b) Von der Dialektik des Begriffes.22 c) Vom Systemzusammenhang.24 2. Kapitel: Das System des „Rechts“.28 3. Kapitel: Der Sittlichkeitsbegriff in der Rechtsphilosophie . 34 a) Abstraktes Recht.35 b) Moralität.37 c) Die sittliche Substanz und ihre Gliederung .... 41 4. Kapitel: Die Gesellschaftslehre und ihr besonderer Bezug auf das internationale Recht.43 a) System der Bedürfnisse.45 b) Die Rechtspflege.46 c) Polizei und Korporation.48 5. Kapitel: Die Staatsidee.52 I. Der Staat als die Wirklichkeit der Idee.53 II. Die Bedeutung der Staatsidee für die internationale Sphäre . 56 a) Der Übergang der Staats- in die Geschichtsphilosophie . 59 b) Der sittliche Staatswille als das Prinzip der weltgeschicht¬ lichen Bewegung.64 6. Kapitel: Das innere Staatsrecht.67 I. Innere Verfassung für sich.69 II. Souveränität gegen außen.71 7. Kapitel: Das äußere Staatsrecht.75 8. Kapitel: Der Staatswille und das Problem internationaler Ordnung

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II. Teil: Sittliche Gewissensentscheidung und souveräner Staatswille. 1. 2. 3. 4.

Kapitel: Konkreter Einzelwille und Freiheitsidee .... 92 Kapitel: Sittliches Gewissen und historisch-politische Wirklichkeit 99 Kapitel: Gesellschaftsmoral und Staatsverantwortung . .111 Kapitel: Der souveräne Staatswille.119 a) Verfassung und Souveränität.121 b) Staatswille und Nationalität.131 c) Staatswille und internationales Entscheidungsgebiet .136 Literaturverzeichnis.143

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Abkürzungen. R.Phil. = Grundlinien der Philosophie des Rechts (ed. Lasson, 2. Auf].). G.Phil.= Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte (ed. Brunstäd). Enz. = Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften (ed. Rosenkranz). Phän. = Phänomenologie des Geistes (ed. Otto Weiß). WW = Sämtliche Werke (ed. Glöckner). Die ohne nähere Angaben zitierten Paragraphen entstammen der Rechtsphilosophie.

Einleitung. Auf internationalem Gebiet berechtigt Hegels Einfluß auf die rechtliche und politische Denkungsart des Jahrhunderts zu ganz besonderem Interesse, weil es eben hier seiner Lehre mit zuzuschreiben ist, daß sich überhaupt grundsätzliche Zweifel an der Möglichkeit einer zwischen den Staaten geltenden rechtlichen Ordnung, insbesondere einem aus naturrechtlichem Denken klar geforderten Völkerrecht entgegenstellten. Seine gewichtige Autorität mag für die „Leugner“ des Völkerrechts zunächst wie eine geradezu unantastbare philosophische Rückendeckung wirken. Andrerseits scheint sich an dem unmittelbaren Widerhall, den Hegels Stellungnahme zum Völkerrecht fand, die Richtig¬ keit des Verdachtes zu bestätigen, der darin liegt, wenn Heller sagt: „Darin besteht ja das Geheimnis der umfassenden Wir¬ kung Hegels, die er insbesondere auf das politische Denken des deutschen Volkes wie kein einziger anderer Denker aus¬ geübt hat: daß seine vorsichtige, alle Gegensätze in sich ver¬ einigende Politik auf einem philosophischen System fußte, an das jede Richtung Anschluß finden konnte1.“ Denn einerseits scheint Hegels Völkerrechtsauffassung bei seinen trotz Nationalstolz weitgehend weltbürgerlich gesinnten Zeit¬ genossen auf Entrüstung gestoßen zu sein2, andererseits aber auch gerade zur Entwicklung eines positiven Völker¬ rechtsdenkens Anstoß gegeben zu haben. Wenn Jahn über 1 a. a. O. (Literatur-Verzeichnis) Heller S. 135. 2 Vgl. z. B. Kaltenborn-Stachau a. a. O. Kahle S. 150, 104 u. a.

8 „Hegels verzweifelte Ansicht vom Völkerrecht“ den Witz macht, „daß es darin besser sei, Gewalt zu studieren als Recht3“ so hat doch auf der anderen Seite zum Beispiel4 Arnold Rüge, nachdem er sich in seinen „Halleschen Jahr¬ büchern“ im einzelnen kritisch mit Hegels Ansicht vom Völ¬ kerrecht auseinandergesetzt hatte5, 1848 in der Nationalver¬ sammlung zu Frankfurt gerade mit Berufung auf diese Philo¬ sophie das Bekenntnis zu „Völkerkongreß“ und Völkerrecht gefordert6. Diese anscheinende Vieldeutigkeit Hegels folgt nun wohl weniger aus einer „vorsichtigen, alle Gegensätze in sich ver¬ einigenden Politik“, sondern aus dem Wesen der seine prak¬ tische Stellungnahme überall innerlich bedingenden Welt¬ ansicht selbst, deren notwendige Folge es dann ist, die ver¬ nünftigen Gehalte des ihr gegenwärtig erscheinenden politi¬ schen Bewußtseins, auch die scheinbar sich bekämpfenden Tendenzen7 zusammenzufassen und als Glieder einer syste¬ matischen Totalität zu lehren. Eine Interpretation, die sich auf Hegels Stellung zu Recht und Staat beschränkt, vermag wohl diese oder jene Seite als von ihm bejaht oder verneint zu behaupten, niemals aber den Sinn dieser Stellungnahme zu begreifen, ohne ihren Ausgangspunkt von dem philosophi¬ schen Totalitätscharakter der Hegelschen Lehre genommen 3 Zitiert in Oppenheim, System des Völkerrechts, S. 6. 4 Auch andere haben versucht, von Hegel aus die Grundlagen einer positiven Völkerrechtswissenschaft zu legen. Vgl. vor allem die zit. Schriften von Fallati, Fricker, Hälschner und Pütter. 5 Vgl. A. Rüge, Kritik des Völkerrechts usf. a. a. O. — Wir kön¬ nen es hier dahingestellt sein lassen, ob Rosenkranz im stren¬ geren Sinne der Hegelschen Philosophie Rüge vielleicht mit Recht einen „Dilettanten“ genannt hat (vgl. den zit. Artikel im Staatslexikon, S. 652); ein gleiches Schicksal widerfuhr übrigens auch Rosenkranz, wenn auch weniger unverblümt, in der zit. Rede von Lassalle (vgl. auch Löwenstein, S. 154, Anm. 23). — Ein gutes Beispiel für die mit einer Fortentwicklung Hegelscher Erkenntnisse verbundenen Schwierigkeiten! 6 Stenogr. Ber. Bd. 2, S. 1090. 7 z. B. die konservative und die liberale. Vgl. Lasson, Einl. zur R.Phil.

9 zu haben. Und der innere Bezug auf Hegels metaphysische Grundkonzeption der sich in Staat und Geschichte manifestie¬ renden „Idee“ ist gerade für seine Stellungnahme zum Pro¬ blem internationaler Ordnung mit besonderer Strenge ma߬ gebend, so daß ihr Verständnis auch nur von hier aus er¬ schlossen werden kann8. Nichts wäre andererseits falscher als zu glauben, daß eine bestimmte logische Denkfolge und nicht gleichzeitig die reiche Fülle seiner Anschauung von Staat und Geschichte Hegels Stellung zum internationalen Recht bedingen. Darum erwiesen sich auch Versuche, das ganze Problem auf wenige logische Grundstrukturen zurückzubeziehen, als durchaus unzureichend, und es mußte versucht werden, Hegels Ansicht von Staat und Geschichte in ihrem Wesen als aus der Idee hervorgehende „wirkliche“ Totalitäten zu begreifen. Hiermit aber wird die Behandlung des vorliegenden Problems zurückverwiesen auf eine zunächst notwendige möglichst eindringliche Erfassung der Grundvoraussetzungen dieser Philosophie. Von hier ausgehend gliedert sich unsere Darstellung in zwei Hauptteile, deren zweiter dann von einer wesentlich unterschiedenen Einstellung zu Hegels Staatsphilosophie her¬ rührt. Dieser Unterschied ist zu besserem Verständnis des Bezweckten von vornherein klarzulegen: Der erste Teil sucht, völlig unkritisch, Hegels eigene Stellungnahme zu unserem Thema aus dem Gesamtzusammenhang seiner Philosophie hervortreten zu lassen und zu diesem Zwecke das gestellte Problem aus den systematischen Grundlagen der Hegelschen Staatslehre selbst zu entwickeln. Hierbei war es notwendig, der Hegel eigentümlichen wissenschaftlichen Haltung folgend, die für unser Problem wesentlichen Dinge zunächst lediglich in dem strengen Zusammenhang seiner spekulativ-dialek¬ tischen Wirklichkeitsdeutung zu erfassen, während es darüber 8 Überhaupt ist es eine Selbstverständlichkeit, daß eine philo¬ sophische Behandlung auch des speziell völkerrechtlichen Problems auf die Grundlagen des Rechts- und Staatsbegriffs zurückzugehen hat. S. a. Kraus, Problem der internationalen Ordnung usw., S. 17.

10 hinaus unserer Darstellung eigentlich darum geht, die von Hegel auf internationalem Gebiet für notwendig befundenen Maximen des tatsächlichen Staatsgebahrens und damit einer konkreten Willenshaltung herauszufinden. Dieser auf die praktische Folgerung drängenden Frage konnte aber erst Raum gegeben werden, nachdem Hegels wissenschaftliche Position nach ihrer methodischen und inhaltlichen Bedeutung klargestellt worden war. Denn eine Bestimmung des prak¬ tischen internationalen Verhaltens des Staates ist so lange sinnlos, als wir nicht wissen, was in dieser Philosophie eigent¬ lich „Staat“ bedeutet, und auch diese Frage wiederum ist un¬ möglich zu beantworten, ohne zuvor Hegels Begriff von Sitt¬ lichkeit, Recht, Wollen und Denken, wie sie für ihn einer aus dem anderen notwendig folgen, erfaßt zu haben. Jede wissen¬ schaftliche Stellungnahme Hegels wird zentral von dem Wesen seines spekulativen Denkens zusammengehalten; von dieser gedanklichen Mitte mußte also auch hier seine Position bis in die Einzelheiten unseres Problems hinein verstanden wer¬ den. Damit aber, wie gesagt, ist die Aufgabe erst halb erfüllt, denn aus dieser Entwicklung der wissenschaftlichen Stellung¬ nahme Hegels wird noch nicht eindeutig klar, was sie für eine praktische Willenshaltung auf den von ihr einbezoge¬ nen Gebieten, insbesondere dem internationalen, bedeutet und bedeuten will, weiter aber auch, inwieweit sie und namentlich ihre Einschränkungen eine von ihrer historischen Zeitverknüpftheit unabhängige Geltung beansprucht. Unter Voraus¬ setzung der Kenntnis des systematischen Zusammenhangs der Hegelschen Ergebnisse stellt also der zweite Teil die Frage nach ihrem auch für die Gegenwart gültigen prak¬ tischen Gehalt. Während der erste Teil, sich eng an Hegel anschließend, seine Stellung und Behandlung unseres Pro¬ blems berichtet, so fragt der zweite in bezug auf die gleichen Gegenstände: Was sollen wir tun? Und ohne diese zweite, praktisch auf sich selbst stehende Fragerichtung hätte der erste Teil lediglich den Wert eines für den Kundigen ohnehin über¬ flüssigen Kommentars, während andererseits ohne zuvorige

11 systematische Entwicklung der Hegelschen Ansicht selbst der zweite Teil und seine moralisch-praktische Frage ihres wesens¬ notwendigen philosophischen Hintergrundes bar geblieben wäre. Indem aber so von dem in Hegels Staatsphilosophie selbst systematisch fundierten Ort des selbstverantwortlichen moralischen Subjekts ausgegangen werden konnte, leuchtete von hier aus ihr gesamter Gehalt, insbesondere ihre für das internationale Problem und auch noch für die Gegenwart gül¬ tigen Prinzipien in einem neu belebten Sinne auf. Auf die mannigfaltigen, Hegel mit Kant und seinen an¬ deren großen Vorgängern der idealistischen Epoche verbin¬ denden und trennenden Bezüge, so wichtig sie auch für das Verständnis von Hegels Werk sind, kann im Rahmen unseres Themas nicht näher eingegangen werden. Es mag jedoch von Nutzen sein, den charakteristischen Grundgesichtspunkt, unter dem Hegels Ablehnung eines allgemein bindenden Völker¬ rechts von Anbeginn stand9, schon vordeutend dadurch zu kennzeichnen, wie er sich von der bekannten Völkerrechts¬ auffassung Kants10 abhebt. Während bei Kant ein das ganze System der praktischen Vernunft beherrschendes und unter allen Verhältnissen un¬ bedingt festgehaltenes Prinzip auch das Völkerrecht als ethische Pflicht einzuordnen ermöglicht* 11, ergibt sich bei Hegel grundsätzlich die ethische Pflicht erst aus einem kon¬ kret-inhaltlich zu bestimmenden Lebensbereich, dessen Erhal¬ tung und verantwortliche Gestaltung höchste Forderung auch für die zwischenstaatlichen Verhältnisse bleibt. Das Kernprinzip der Kantischen Ethik, der kategorische Imperativ, fordert die dem allgemeinen Vernunftprinzip ge9 Die erste prinzipielle Stellungnahme zum Völkerrecht findet sich in dem Aufsatz „Ueber die wissenschaftlichen Behandlungsarten des Naturrechts“ (1802); grundsätzlich bleibt sie in allen seinen späteren Schriften beibehalten. 10 Vgl. Kraus, Das Problem der internationalen Ordnung bei Im¬ manuel Kant. 11 Zu dem Folgenden vgl. Stahl, Geschichte der Rechtsphilosophie.

12 mäße Bestimmung des Willens, denn durch dieses allein wird seine sittliche Freiheit und Integrität gewährleistet. Vernunft im Sinne der kritischen Philosophie fordert zum Aufbau ihres Systems die Ausschaltung aller durch die materielle Erfah¬ rungswelt entgegentretenden Verhältnisse und Zufälligkeiten. Auch auf dem Gebiete der praktischen Philosophie ist nach Kant die formale Allgemeingültigkeit das bestimmende Prin¬ zip. Hierin liegt auch das Wesen jenes „Grundgesetzes der reinen praktischen Vernunft“ und weiterhin der nach Morali¬ tät und Legalität wesentlich geschiedenen formalen Anwen¬ dung des Freiheitsprinzips: Das Bereich der sittlichen Freiheit als im Innern gegen das Walten der natürlichen Begierden und Neigungen durchgesetzt, ist die Moral; vor äußerer Be¬ einträchtigung wird es geschützt durch das Rechtsgesetz. „Das Recht des Menschen muß heilig gehalten werden, der herrschenden Gewalt mag es noch so große Aufopferung kosten.“ Diese Grundbestimmung bleibt ausschlaggebend für die Privatrechte des Einzelnen, das Staats- und Völkerrecht12. Als Schützer dieses Menschenrechtes ist der Staat nur ein Not¬ institut im mittelbaren Dienst der Sittlichkeit13. Und ebenso wie die Menschen aus dem Zustand der Rechtslosigkeit in den Staatsverband genötigt werden, der durch seine im Dienste der Sittlichkeit ausgeübte Zwangsgewalt den Naturzustand in Recht verwandelt, so haben die Staaten sich in einen Völker¬ bund zu verbinden. Über dem Staatenleben steht das Ideal eines ewigen Friedens, dem „höchsten politischen Gute“. — So ist auch die internationale Sphäre von dem kategorischen Sittengesetz erfaßt, Völkerrecht und Politik dem gleichen, letztlich individual-ethischen Prinzip unterworfen. „Es wird zur obersten Aufgabe des Völkerrechts als eines Rechtes für Staa¬ ten, über die Vermittelung des Friedenszustandes zwischen freien Staaten die menschliche Freiheit zu gewährleisten14.“ Folgerichtige Durchführbarkeit dieser Ethik und Rein¬ heit ihres sittlichen Ideals — das sich ja gerade grundsätzlich 12 Vgl. hierzu Landsberg, Geschichte der Rechtswissenschaft. 13 Vgl. Kraus a. a. O. S. 15. 14 Kraus a. a. O. S. 39.

13 den empirischen Inhalten gegenüber formal verhält, um so zu einer von ihnen nicht bedingten, ewigen Gültigkeit zu kom¬ men — gehen aber auf Kosten der Fülle der inhaltlichen Problematik aller ethischen Entscheidung. Als ideales Postu¬ lat wird es der Eigentümlichkeit der von ihm jeweils erfaßten Sphäre nicht gerecht und steht so letztlich auch den geschicht¬ lichen Realitäten fremd gegenüber15, was als Vorwurf der immer wiederkehrenden Polemik Hegels gegen den „ewigen Frieden“ zugrunde liegt16. Schon aus diesen umrißhaft angedeuteten Grundsätzen der kantischen Behandlung unseres Problems gegenüber hebt sich die kritische Stellungnahme Hegels klar ab. Der Haupt¬ gesichtspunkt seines Widerspruchs findet sich schon in seiner im Aufsatz „Über die wissenschaftlichen Behandlungsarten des Naturrechts“ enthaltenen Auseinandersetzung mit Kants Rechtslehre. Zunächst widersetzt er sich der erwähnten scharfen Tren¬ nung von Legalität und Moralität, die nicht nur eine Un¬ treue gegen die als Grundprinzip aufgestellte moralische Frei¬ heit des Einzelnen bedeute, sondern diese sogar ausdrücklich vernichte, indem das System der Freiheit durch ein ihm un¬ versöhnt gegenüberstehendes des Zwanges entkräftet werde17. Die erforderliche Versöhnung von Freiheit und Notwendig¬ keit, von moralischer Selbstbestimmung und rechtlichem Zwang müsse hier unmöglich bleiben, da dem individualisti¬ schen Ausgangspunkt dieser Lehre neben der inhaltlichen Bestimmtheit der sittlichen Verhältnisse überhaupt die An¬ schauung des sittlichen Bereichs als eines Ganzen abgehe. Dieses Ganze stellt sich ihm hier nun als die das konkrete Leben eines Volkes ausmachende „sittliche Totalität“ dar18. In ihr finden sowohl Recht als Moralität ihre aus dem Ganzen bedingte und zu begreifende Funktion. 15 Vgl. hierzu Lask, a. a. O. S. 10. 16 Vgl. die unten besprochenen Stellen. WW I, S. 487 u. R.-Phil. S. 259, 268, 350, 369. 17 Vgl. Rosenzweig, I. S. 157. 18 WW I, S. 486. — Wir gehen hier absichtlich auf keinerlei Einzel-

14 ln dieser in sich gegliederten und belebten Konzeption der sittlichen „Totalität“ haben wir den Kern von Hegels Staatsanschauung vor uns, an dem er Zeit seines Lebens fest¬ gehalten hat19, und der in seiner Rechtsphilosophie zur end¬ gültigen systematischen Form entfaltet ist. Zugleich findet sich hier schon im Grunde vorgezeichnet Hegels endgültige Behandlung des Völkerrechts, die wir in der systematischen Darstellung wiederfinden werden. Das ethische Problem — hier erscheint es zusammen¬ gefaßt als „Idee der absoluten Sittlichkeit“ — ist nur in der Anschauung der konkreten, sittlichen Wirklichkeit eines Volkes (später Staates20/21) zu erkennen. Auf der inhaltlichen Bestimmung dieses Gegenstandes liegt das Schwergewicht von Hegels philosophi¬ schem Interesse für Recht und Staat. Und für diese absolute Gestalt, heißt es dort, „kann sie (die Idee) nicht zur Gestaltlosigkeit des Kosmopolitismus fliehen, noch zu der Leerheit der Rechte der Menschheit und der gleichen Leerheit des Völkerstaates und der Weltrepublik (als welche Abstrak¬ tionen und Formalitäten das gerade Gegenteil der sittlichen Lebendigkeit enthalten, und ihrem Wesen nach gegen Indi¬ vidualität protestantisch und revolutionär sind)22“. Ganz klar wird schon hier festgestellt, daß der Gesichts¬ punkt des Privatrechts ebensowenig wie der Moral zureicht, heiten ein, um diese im Naturrechtsaufsatz (1802) noch auf anderer philosophischer Grundlage ruhende politische Lehre, nicht mit der später darzustellenden der Rechtsphilosophie (1821) zu verwirren. — Es handelt sich zunächst lediglich darum, diese schon hier festgefügte Konzeption

der

„sittlichen Totalität“ dem formalethischen

Prinzip

Kants gegenüberzustellen.

19 Dies wird von Busse a. a. O., S. 129 ff. teilweise im Gegensatz zu Rosenzweig überzeugend nachgewiesen. 2o/4i Metzger a. a. O. S. 313,1. 22 WW I, S. 536. — Schon in seinen Jugendschriften ist von ähn¬

lichem als von „schaler Erfindung“ die Rede, denn „ein Gedachtes kann kein geliebtes sein“. (Nohl, Jugendschriften, S. 295. Zitiert auch bei Heller a.a.O. S. 29.)

15 um das Gebahren des Volksganzen, das Völkerrecht zu normieren: Würde sich „das moralische Prinzip ... an die Spitze des Völkerrechts stellen“, so wäre das „ebensosehr die größte Schwäche als der tiefste Despotismus und der gänz¬ liche Verlust der Idee einer sittlichen Organisation ..., da das moralische Prinzip wie das des bürgerlichen Rechts nur im endlichen und einzelnen (d. h. innerhalb des Volkes) ist“23. Vielmehr muß diese allein wertbedingende „sittlicheTotalität“ ihre Individualität gegen feindliche Völker zu verteidigen und durchzusetzen bereit sein, wozu der volle Einsatz des Indi¬ viduums für das Ganze gefordert ist. Und weil im Krieg durch die Gefährdung der Existenz des Ganzen der opferbereite Ein¬ satz aller innerhalb desselben liegenden Gliedexistenzen und deren Solidarität mit dem gemeinsamen ethischen Zweck ge¬ fordert ist, sagt Hegel hier vom Krieg, daß er „ebenso die sittliche Gesundheit der Völker in ihrer Indifferenz gegen die Bestimmtheiten und gegen das Angewöhnen und Festwerden derselben erhält, wie die Bewegung der Winde die Seen vor der Fäulnis bewahrt, in welche sie eine dauernde Stille wie die Völker ein dauernder oder gar ein „ewiger Frieden“ versetzen würde”2i. Wir sehen hier selbst das Phänomen des Krieges allein in seiner Wirkung auf das Innere der beschriebenen sitt¬ lichen Welt aufgefaßt und es in seiner ganzheitsbezogenen sittlichen Lebendigkeit zu steigern bestimmt. In seinem wesentlichen Befaßtsein mit diesem aus eigener Totalität sich nährenden wirklichen Lebensbereich liegt die Wurzel für Hegels polemische Abneigung gegen die Lehren, für die es lediglich eine Frage der Konsequenz ist, auch die Beziehungen der Völker zueinander ethisch zu normieren. Dem abstrakten ethischen Imperativ, der sich auch in der internationalen Sphäre als das Maßgebliche bewährt, stellt sich so Hegels Konzeption der „sittlichen Totalität“ als ein funda¬ mental Unterschiedenes gegenüber. 23 Ebenda. 21 wwi, S. 487. Diese Stelle führt Hegel sogar ausdrücklich noch¬

mals in der R.Phil. § 329 an.

16 Die hier herangezogene Auseinandersetzung Hegels mit Kant unternahm er zu einer Zeit und von einem philosophi¬ schen Standpunkt aus, der ihn noch innig mit Schelling ver¬ knüpfte. Aber auch in seiner endgültigen ethischen Lehre bleibt — gerade auf dem Gebiete des Völkerrechts — die Be¬ deutung dieser „sittlichen Totalität“ ausschlaggebend; daß sie allerdings nicht eine Hypothese ist, aus der das System der sittlichen Werte deduziert wird, sondern eine für ihn aus den metaphysischen Grundanschauungen seiner Weltansicht nachentwickelte, lebendige „Wirklichkeit“ können wir nur aus diesen Grundlagen selbst und damit auch so erst seine Stellung zum internationalen Recht wahrhaft verstehen. Demgemäß muß auch der vorliegenden Darstellung das Grundthema von Hegels System des absoluten Idealismus und dessen prinzipielle Anforderungen an das philosophisch¬ wissenschaftliche Begreifen zugrunde gelegt werden, um dann das System des „Rechts“ in seiner eigentümlichen Bestim¬ mung als die zu objektiver Wirklichkeit sich entfaltende Idee erfassen zu können. Von hier aus kann dann der Aufbau der Rechtsphilosophie, abstraktes Recht, Moralität, Sittlichkeit und Familie, bürgerliche Gesellschaft und Staat in den Grundzügen (und zwar unter gleichzeitigem Hinweis auf die jeweilige Be¬ deutsamkeit dieser Begriffsstufen für das internationale Recht) nachentwickelt werden: Erst mit der nach Hegel im Staat verwirklichten Idee liegt das Problem seiner Beziehung zu anderen Staaten nach seiner notwendig vorauszusetzenden inneren begrifflichen Struktur klar. Während es für Hegels Staatsidee selbst nicht an wissen¬ schaftlichen Darstellungen fehlt25, stand für die nähere Er25 Von den zitierten Arbeiten waren diejenigen von Wenke und Giese für ein erstes Vertrautwerden mit Hegels politischer Philosophie die wertvollste Hilfe. Für ein näheres Eindringen bestätigte sich mir das Gleiche von den zitierten Abhandlungen von Binder und Larenz. Was die Entwicklungsgeschichte der politischen Theorie Hegels an¬ betrifft, so steht Rosenzweigs Buch gewiß an erster Stelle, während dasjenige Hellers, natürlich neben den Werken Meineckes, die auf¬ schlußreichsten

Verbindungslinien

zu vorangegangenem und

nach-

17 fassung des Verhältnisses von Staats- und Geschichtsphilo¬ sophie, die nunmehr vor allem als Problem auftauchte, eben¬ sowenig wie für Hegels Behandlung des „äußeren Staats¬ rechts“ selbst Literatur zur Verfügung. — Es stellte sich heraus, daß die systematische Bedingtheit der Stellung¬ nahme Hegels zum Völkerrecht recht eigentlich in diesem Ineinandergreifen der Erscheinungsfor¬ men der Idee in Staat und Geschichte liegt, das also nach seinen Grundbestimmungen auseinanderzusetzen war Damit endlich wurde Hegels dialektischer Begriffsüber¬ gang vom Staat über das „äußere Staatsrecht“ zur „Welt¬ geschichte“ begreiflich, und es konnte mit einer zusammen¬ fassenden Übersicht über die nach diesen systematischen Voraussetzungen für Hegel in der internationalen Sphäre mög¬ lichen „Rechts“bezüge der erste Teil dieser Abhandlung ab¬ geschlossen werden. In der Gegenüberstellung von Hegels Jugendarbeit mit Kant haben wir bereits umrißhaft die Grundkonzeption an¬ gedeutet, von der aus seine auch später beibehaltene Völker¬ rechtsauffassung verständlich wird. Nunmehr aber kommt es darauf an, die philosophische Entwicklung jener schon dort maßgeblichen „sittlichen Totalität“, die Möglichkeit überhaupt eines solchen Resultates einzusehen. Hierzu aber ist es in der Tat notwendig, von Ausgangspunkt und Wesen der Philo¬ sophie Hegels einen näheren Begriff zu bekommen. folgendem Staatsdenken vermittelte; in gleicher Richtung bietet eine Fülle interessanten Materials die zuletzt erschienene Arbeit von Löwen¬ stein. Wichtige Anregungen besonders für den zweiten Teil gaben mir die originalen und wertvollen Untersuchungen von Foster (vgl. u. S.121). In Glöckners lebenswarmer Schilderung von Flegels Persönlichkeit und Werk fand sich endlich eine Biographie, die in schönem Gegen¬ satz zu der beinahe gespenstigen Gelehrtenwürde, mit der sich sonst das Andenken Hegels leicht umkleidete, ein menschliches Bild dieses großen Denkers zeichnet.

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Ahhandlgn. a. d. Völkerrecht 6: v. Trott zu Solz.

2

18

I. Teil. Das internationale Recht im System der Rechtsphilosophie. 1. Kapitel. Philosophische Voraussetzungen. Unser Vorhaben, einen Standpunkt, den Hegel gleichsam an der Peripherie seiner Lehre — und zwar zu dem Problem des internationalen Rechts — einnimmt, zugleich aus der not¬ wendigen Bedingtheit durch seine zentralen philosophischen Voraussetzungen darzustellen, kann naturgemäß nur mit be¬ wußter Selbstbeschränkung unternommen werden. In einer rechtsphilosophischen Abhandlung darf und kann der Haupt¬ wert nicht auf eine lückenlose Deduktion der metaphysisch¬ logischen Fundamente gelegt werden, deren besondere Folgerungen sie aufzuweisen hat. Und doch ist mit der Eigenart der Lehre Hegels die unbedingte Forderung gegeben, den Totalitätscharakter ihres ganzen Sinnzusammenhanges erfaßt zu haben, da allein von diesem aus die jeweilige Be¬ dingtheit der einzelnen Bestimmungen in das rechte Licht fällt. Erst dann ist es möglich, die resultierende Lehre vom Staate und ihre für uns wichtigen Konsequenzen aus ihrem eigenen Elemente zu begreifen. Darum gilt es hier wesentlich, die umspannende Grundintention dieser Philosophie aufzu¬ spüren, um dann aus ihr die uns angehenden Gebiete der¬ selben richtig deuten zu können, nicht etwa den Versuch zu unternehmen, eine vollständige Charakteristik dieser Welt¬ ansicht zu geben. a) Vom absoluten Idealismus. Die Philosophie des absoluten Geistes gelangte zu ihrer Grundlegung in Hegels erstem größeren Werke, der „Phäno-

19 menologie des Geistes“. Schon die Anlage dieses Buches ver¬ mag uns einen ersten Aufschluß über die von ihr geplante Er¬ arbeitung des Grundelements der Hegelschen Philosophie zu geben, aus dem nachher die ganze systematische Lehre als dessen endgültige Formung sich erheben sollte: Es ist die im absoluten Wissen erfaßte Idee — die Wahrheit, daß das Abso¬ lute Geist ist. Zu dieser Wahrheit hin soll die Phänomenologie den wissenschaftlichen Weg bahnen; denn als Geist ist das Absolute nicht mehr nur vermittels philosophisch-ästhetischer Anschauung und religiöser Offenbarung, sondern im Elemente des reinen Denkens philosophischer Erkenntnis zu erschließen. Dieses wissenschaftliche Endergebnis ist zugleich für den Weg seiner Erreichung der bestimmende Leitstern. Denn: Ist das alles bedingende Absolute Geist, so muß sich nicht nur alle Realität, sondern auch alles Wissen von ihr als in Wahr¬ heit Selbstverwirklichung und Selbsterkenntnis des Geistes erweisen. Diesen Erweis ist die Phänomenologie des Geistes durch Darstellung der Entwicklung des auf den einander folgenden Bewußtseinsstufen „erscheinenden Wissens“ anzu¬ treten bestimmt, indem alles Bewußtsein und die in ihm ge¬ faßte Inhaltlichkeit der Weltgegenstände nun als immer nur vorläufiges Phänomen des Geistes begriffen wird. Und zwar erfolgt dieses Unternehmen von doppelten Ausgangspunkten, indem nämlich einmal die jeweilig beobachtete Wissensstufe in dem eigenen Verhältnis zur Welt, also wie sie „an sich“ ist, sodann aber in ihrem Abstand zu unserem beobachtenden, sie in sich fassenden Wissen, also so, wie sie „für uns“ er¬ scheint, begriffen wird1. Auf die solchergestalt von Hegel nachentwickelten Be¬ wußtseinswelten haben wir hier nicht einzugehen; es gilt uns lediglich, wie gesagt, aus dem Grundplan dieses Werkes die Hauptmerkmale des Weges und Zieles einzusehen, um die mit dessen Erreichung grundsätzlich formulierte Wissensstufe des absoluten Idealismus nach ihrem philosophisch-wissen¬ schaftlichen Umfang und Anspruch ermessen zu können. 1 Vgl. Wenke, S. 84. 2*

20 Der Fortgang von den primitivsten Stufen menschlichen Wissens zu den immer höheren zeigt das gemeinsame Merk¬ mal eines wachsenden Absorbierens der ursprünglich gegen¬ ständlichen „Substanz“ in das Bewußtsein selbst: Eine „pro¬ duktive Skepsis“ treibt das menschliche Wissen, die ihm voraufgehende Bewußtseinswelt in sich „aufzuheben“. Die wahre Substanz — „das objektive Ziel der dialektischen Be¬ wußtseinsfolge“2 — ist der absolute, sich selbst realisierende Geist; aber von ihr hat das Bewußtsein solange eine nur erst äußerliche und darum beschränkte Konzeption, bis sich eine Höhe des Bewußtseins ergibt, in dem der gesamte Ertrag vorangegangener philosophischer Erkenntnis und zugleich die Gesamtheit möglicher Bewußtseinsgegenstände begriffen ist. Mit ihm ist zugleich der doppelte wissenschaftliche Ausgangs¬ punkt (das „in sich“ begreifen wollen der „an sich“ seienden Bewußtseinswelten) gerechtfertigt und ein neues philosophi¬ sches Wissen formuliert. Hier, im „absoluten Wissen“, sind „Substanz“ und „Sub¬ jektivität“ identisch, die bisher nach Innerlichkeit und Äußer¬ lichkeit unterschiedene Bewegung ist in dem absoluten Be¬ wußtsein selbst begriffen — das Absolute, bisher Gegenstand aller philosophischen Bemühungen, erkennt, denkt sich im „absoluten Wissen“ selbst. Das Absolute als Geist ist also keine These, die gläubig hingenommen oder nur von Auserwählten geschaut (Schelling) oder von moralisch Starken nachgeschaf¬ fen werden soll (Fichte): Sie führt in diesem wissenschaft¬ lichen Fortgang ihren Selbstbeweis, in dem der Geist am Ende der Entwicklung allen Wissens um die Welt sich selbst als deren Sinn und Sein gedacht hat3. Diese Zentralbestimmung der Subjektivität der Substanz macht das „Innerste der Spekulation“ aus und ist das im System später als „absolute 2 Vgl. auch Wenke, S. 83/87, s. o. 3 Als Durchführung dieser Grundkonzeption erhellt es, warum Hegel seine Philosophie eine Theodizee nannte, indem alles aus die¬ sem Zentrum heraus begriffene als Auslegung oder Darstellung des Wesens Gottes gefaßt werden kann.

21 Idee“ formulierte Kernprinzip der Philosophie Hegels. Sie schwebt in absolut bei sich seiender Freiheit in der Mitte des Ganzen und ist das „Allgemeine“, das alles Denken und Sein aus sich hervorbringt und es als die besonderen Manifesta¬ tionen des eigenen Wesens in ewig lebendige und unzerstör¬ bare Einheit aufhebt. „In dem Ganzen der Bewegung, es als Ruhe aufgefaßt, ist dasjenige, was sich in ihr unterscheidet und besonderes Dasein gibt, als ein solches, das sich erinnert, aufbewahrt, dessen Dasein das Wissen von sich selbst ist, wie dieses ebenso unmittelbar Dasein ist4.“ Hier liegt der innerste Trieb dieser Philosophie, von dem aus jede einzelne ihrer Bestimmungen Sinn erhält, weil von hier aus die in ihr gedachten Begriffe und besonderen Da¬ seinszusammenhänge sich zugleich als konkrete Manifestatio¬ nen des allgemeinen Weltwesens darstellen. Es ist das Ele¬ ment der „Philosophischen Wissenschaft“ im Sinne Hegels — des absoluten Idealismus. Diese in der Phänomenologie ent¬ wickelte Höhe der Bildung des philosophischen Bewußtseins, in dem das in der Vergangenheit von der Philosophie umrungene Absolute als zu seinem Selbstbegriff gekommen gilt, öffnet sich den Zugang zu den tiefsten Gründen des Weltzu¬ sammenhangs und nimmt an ihnen teil, denn in ihm „denkt sich“ der allgemeine Geist, dessen Schöpfung das Ganze ist. Freilich bleibt Hegels Philosophie nicht bei dem Begriff des absoluten Wissens stehen, sondern erkennt die wissen¬ schaftliche Forderung bezüglich der systematischen Entfaltung dieser spekulativ erfaßten Wahrheit an. Den ganzen Umfang der bisherigen Erkenntnisgegenstände will sie von diesem Zentrum aus bestimmen — oder besser den ganzen Welt¬ gehalt nach seinem Zusammenhang in dieser Idee begreifen. Dieser Intention dient sein System, das die Welt als aus diesem spekulativen Kern sinnvoll entfaltet und durchdrungen nach¬ denkt und so als dessen konkrete Schöpfung begreift5. 4 Phän. S. 37. 5 Vgl. Wenke S. 73.

22 b) Von der Dialektik des „Begriffs“. Nachdem das Sich-selbst-Denken und Hervorbringen des allgemeinen Geistes sich für Hegel als das schöpferische Prin¬ zip des Ganzen ergeben hat, gilt es ihm nunmehr, alles Beson¬ dere als dessen Form und Zusammenhang zu begreifen; denn hierin allein liegt das Kriterium der Wahrheit dieses Beson¬ deren. Nicht durch ein von außen an die Sache herangetrage¬ nes, logisches oder auch bewegliches Denkschema kann dieser immanente Zusammenhang gefunden werden, denn die Wahr¬ heit eines Gegenstandes ist eben dieses, wie jene Substanz sich in ihm denkt; und so muß also in dem Gegenstand selbst seine Wahrheit zugleich als absolutes Vermitteltsein auf¬ gewiesen werden. Und in der Tat erweist es sich, daß der Versuch, einen reinen Gedankeninhalt isoliert zu begreifen, an einem ihm innewohnenden Element scheitert, dessen konsequente Auf¬ nahme ihn jedoch jenem gesuchten Zusammenhang zuführt. Grob gesprochen ist dieses Element die Negation des voll¬ ständigen Zusammenhanges, die sich als Spannung an dem verselbständigten Glied äußert6. Jede Bestimmung, die sich für sich als absolut behaupten will, muß daher durch das Den¬ ken in ihrer Eigengeltung verneint und ihrem Eingespanntsein in das Ganze gesetzt werden — an jedem Versuch, diese To¬ talität in eine Gedankenbestimmung zu fassen, muß sich die Inhaltsfülle der ganzen, noch nicht einbezogenen Wahrheit als Negation bewähren. Es ist dies das notwendig in jedem vereinzelten Gedankeninhalt auftauchende dialektische Moment, der innere Widerspruch, den alles Wirkliche in sich trägt7. Im Sinne dieser treibenden Kraft, die Wahrheit einer Be¬ stimmung fassen zu wollen, erfordert „die Arbeit des Begriffs“, die ohne von außen irgendwelche Gedankenelemente hinein6 Vgl. hierzu Wenke, S. 28 ff. 7 Logik 11,58: „Der Widerspruch ist Wurzel aller Tätigkeit, Bewegung und Lebendigkeit.“

23 zunehmen8, die notwendige Eigenbewegtheit' einer jeden Materie und ihr Forttreiben zu immer adäquaterem Erfülltsein mit dem absoluten Gehalt zu erfassen sucht. Wo alle Bestimmung als Selbstentfaltung des Absoluten zu fassen ist, da reichen nun naturgemäß „Begriffe“ im Sinne der formalen Logik, die in Analyse und Kombination gehandhabte Diskreta sind, nicht zu9. Es bedarf einer absoluten lo¬ gischen Form, die zugleich geeignet ist, die feinsten Besonde¬ rungen eines Inhaltes zu erfassen, und trotzdem die in ihnen waltende Einheit wiederzugewinnen. Dies bildet die innere Notwendigkeit des „konkret-allgemeinen“ Begriffs, der über den Unterscheidungen des fixierenden Verstandes das Ein¬ heitsziel der Vernunft10 bewahrt. Er allein vermag es, einen Inhalt als den Ausdruck der in ihm immanent wirkenden all¬ gemeinen Substanz hervorgehen zu lassen, und seinen in dieser Bestimmtheit zusammengehaltenen Sinn weiteren Gestaltun¬ gen der Idee wiederum zugrunde zu legen. Unsere allgemeine Charakteristik muß sich auf Andeu¬ tungen beschränken. Angesichts des auf das Begreifen be¬ stimmter Inhalte hindrängenden Zusammenhanges un¬ serer Arbeit kann auf das logische Wesen des „Begriffs“ hier nicht näher eingegangen werden, und so muß das Gesagte zur Erklärung des für alles Weitere fundamentalen Umstandes ge¬ nügen, daß es in Hegels Philosophie der „Begriff“ ist, durch den die absolute Idee sich in der Mannigfaltigkeit ihrer ausge¬ breiteten Bestimmungen selbst erfaßt, und daß durch diese spekulative Form jeder Gehalt zugleich in seiner inneren Eigentümlichkeit entwickelt und in den absoluten Zusammenhang mit der Einheit des Ganzen gesetzt wird. Darum ist der „Begriff“ auch der für die Erfassung der philosophischen Resultate Hegels schlechthin prinzipielle Leitfaden, der über die immer wieder¬ kehrende Zwiespältigkeit und aus dem allgemeinen Sinn an¬ scheinend herausbrechende dialektische Bewegung derWelt8 Enzykl. S. 54. 9 Heimsöth, S. 17/18. 10 nämlich jenen „Zusammenhang“.

24 dinge ihre ganze Gegenständlichkeit zugleich als das konkrete Sein des Geistes erweisen soll. Im Dienste dieser wahrhaft unendlichen Aufgabe ist diese Dialektik nicht „äußeres Tun eines subjektiven Denkens, sondern die eigene Seele des In¬ halts, die organisch ihre Zweige und Früchte hervortreibt"11. In dem spekulativen Kernprinzip des Absoluten als Geist und der mit dem dialektisch-bewegten „Begriff" statuierten Möglichkeit, dessen Selbstentfaltung wissenschaftlich nachzu¬ denken, haben wir zur Grundintention der Philosophie Hegels und zugleich zu ihrer selbstgestellten Aufgabe eine erste Beziehung gewonnen. Sie wird, wie wir sahen, gelöst durch die „Arbeit des Begriffes", die in einem umfassenden, dialektischen Progreß alle wesentlichen Weltgegenstände in ein universales System der philosophischen Wissenschaften einbezieht. c) Vom Systemzusammenhang. Durch einen kurzen Überblick über die den Hauptteilen des Systems zugrunde liegenden Themen und deren sich er¬ gänzender, wissenschaftlicher Reproduktion des „Ganzen" mag nun die vorliegende Darstellung zu diesem in einen näher bestimmten Bezug gesetzt werden. Dabei werden uns die bisher erarbeiteten Merkmale für die Grundrichtung dieses allumfassenden, wissenschaftlichen Unternehmens überhaupt und für seine jeweilige Thema¬ stellung von vornherein die richtige Ausgangsebene anweisen: Wissen wir doch, daß das hier am Werk befindliche philo¬ sophische Bewußtsein sich mit den von ihm erfaßten Inhalten der Welt identisch weiß, — daß hier nur die im Absoluten sich denkende Substanz zu der begrifflichen Ordnung ihrer jeweiligen Inhalte sich ausbreiten soll. Mit dieser Rückerinnerung vermögen wir Thema und Geltungsanspruch der Logik — des ersten Systemteils — zu verstehen: Das „sichdenkende Ganze" wird hier zunächst in seinen eigenen Wesensbestimmungen, ehe sich diese noch 11 § 31.

25 in der Form natürlichen oder geistigen Lebens verkörpert haben, entwickelt. Die Kategorien des Seins und des Den¬ kens, die an sich entgegengesetzten Welten anzugehören scheinen, führen sich hier auf ihre Einheit in der sichbegreifenden „Idee“ zusammen und zurück, denn sie ist ja recht eigentlich der Ursprung dieser Selbstbewegung. Nicht mehr Gedankengesetze sind diese Kategorien, in denen ein widerstrebender Stoff bewältigt wird, sondern notwendig der Ursprung alles natürlichen und geistigen Stoffes selbst, der sich aus diesen „Gedanken Gottes vor der Schöpfung“ be¬ stimmt und auf deren jedwedem Dasein immanenter Struktur alles Folgende beruht. Es bereitet sich hier die logisch-onto¬ logische Formulierung des Absoluten, die sich adäquat weder im „Sein“ noch im „Wesen“, sondern erst in dem „Begriff“ als dem „an und für sich Seienden“ vollendet erfassen läßt. Getragen aber ist diese Entwicklung schon von Anfang an von jener notwendig dialektischen Selbstbewegung der sich in die Form des Begriffs fassenden Gehalte, die von dem reinen Sein, der nach Hegel durchaus leersten Bestimmung zu immer konkreteren Definitionen des Absoluten forttreibt. Dieses besteht nun am Ende der Logik nicht mehr allein in jener den Urgrund des Seins und des Denkens ausmachenden, spekulativen Identitätsthese, sondern in dessen vollendeter Entwicklung aller seiner inneren Bestimmungen. Die schlechthin grundlegende Bedeutung dieser „Logik“12 für alle weiteren Resultate des Systems (eine philosophische Auseinandersetzung mit Hegel hätte deswegen von hier aus¬ zugehen13) erhellt aus ihrer hier nur anzudeutenden Funk12 Wie weit sie über den Rahmen einer bloßen „Denkordnung“ hinausgeht, ergibt sich schon unmittelbar aus ihrer oben bezeichneten Thematik. 13 Vgl. Wenke, S. 5. Eine solche wird hier nicht versucht, son¬ dern es gilt uns lediglich in der insbesondere zu behandelnden Problemsphäre die „Notwendigkeit des Begriffs“ und damit ihr Be¬ ruhen auf dem logischen Geiste zu erfassen. Nur so allerdings ver¬ mag ein auf das Inhaltliche gerichtete Interesse an Hegels Resultaten, diesen gerecht zu werden.

26 tion, alle Kategorien gegenständlichen Wissens — die folgerichtig die innere Struktur allen weiteren Inhalts philosophischer Wissenschaft ausmachen — auf das Grund¬ thema der vernünftigen Einheit, auf den sich denkenden und als objektive Wahrheit setzenden Begriff, die absolute Idee hinzuordnen. Den zweiten Hauptteil des Systems bildet die Philo¬ sophie der Natur. Diese stellt das Negative, das „Anderssein“ der absoluten Idee dar — nicht jedoch als ihr fremd gegenüberstehender Bereich, sondern als „frei aus sich entlassene“ Schöpfung. So ist die Natur die besondere Be¬ stimmung der absoluten Idee, in der sie als in einem „an¬ deren“, ihr fremden Element wirksam ist, ihm auch ihre im¬ manente Gesetzmäßigkeit verleiht; diese aber trägt den Cha¬ rakter äußerer Notwendigkeit und nicht eines auf freier Selbst¬ bestimmung beruhenden und darum ihr endgültig ad¬ äquaten Daseins14. „Die Natur ist an sich in der Idee gött¬ lich, aber wie sie ist, entspricht ihr Sein ihrem Begriffe nicht, sie ist vielmehr der unaufgelöste Widerspruch. Ihre Eigen¬ tümlichkeit ist das Gesetztsein, das Negative — so ist die Natur auch als Abfall der Idee von sich selbst ausgesprochen worden, indem die Idee als diese Gestalt der Äußerlichkeit in der Unangemessenheit ihrer selbst mit sich ist15.“ Wie in die¬ sem — materiellen — Inhalt der Natur die eigene Selbst¬ bestimmung des Begriffs die Sinngebung all jener „Kräfte, Gesetze und Gattungen“16 ausmacht, erweist der Aufbau der Naturphilosophie im einzelnen. In ihrer „Totalität“ betrachtet ist sie die große Stufe des Systems, auf der die Idee sich als das, was sie „an sich“ ist, als gesetzmäßig entfaltetes Leben, zugleich aber mit dem absoluten Ziel, daß sie „diese Bestimmtheit, in welcher sie nur Leben ist, aufhebe und sich zur Existenz des Geistes hervorbringe, der die Wahrheit und der Endzweck der Natur und die wahre Wirklich¬ keit der Idee ist“17. 14 Enz. § 243. 16 Enz. § 246.

15 Enz. § 248. 17 Enz. § 251.

27 Dieses in der Naturphilosophie immer klarer hervor¬ tretende Endziel ist in dem Übergang des Begriffes von der Natur in den Geist vollendet — und in der menschlichen Seele kommt der Geist zur, wenn auch zunächst noch unvollkom¬ menen, Existenz. ln dem dritten Teil des Systems — der Philosophie des Geistes — entfaltet sich die Idee nun in dem „ihr angemesse¬ nen Dasein“, denn mit jedem weiteren Entwicklungsinhalt des Begriffs ist nunmehr zugleich eine (sich stetig vervoll¬ kommnende) wirkliche Erscheinungsform des Geistes gesetzt. Diese Selbstverwirklichung der Idee bereitet sich zunächst in der Seele des einzelnen Menschen, um sich dort von den naturverwandteren Daseinsformen des Fühlens, Empfindens und Vorstellens zu der absoluten Form des freien Denkens zu läutern. Erst auf dem Felde des freien, vernünftigen Bewußt¬ seins, das von Willkür und Widerstreit der Triebe gereinigt und doch von der Kraft dieses zuvor entwickelten natürlichen Lebens getragen ist18, findet der Geist in der Wirklichkeit das Organ, in dem er frei „bei sich“ zu sein vermag. Die freie, allgemeine Bildung des subjektiven Bewußtseins weiß sich eins mit dem allgemeinen Geiste, als dessen zunächst nur abstrakte Manifestation und als die Grundlage und Tätigkeit weiterer Selbsthervorbringung des Geistes. Denn der im Er¬ kennen zunächst nur theoretische Besitz des in der Welt wir¬ kenden Geistes vollendet sich mit dessen völliger Durch¬ dringung zu dem den Inhalt in seiner Allgemeinheit als „sein¬ eigen“ wollenden Geist19. Mit diesem Willen ist der Übergang in die Objektivität gewonnen. Hier setzt der objektive Geist sein Dasein in dem immer bewußter von ihm durchdrungenen Leben der Geschichte durch: In Recht und Staat ist die Idee realisiert und von ihr aus wird die Zufälligkeit menschlicher Willkür und der in blinder Notwendigkeit wirkenden Natur überwunden. Die Versöhnung dieses Kampfes aber liegt für Hegel nicht in 18 Vgl. Enz. § 400. Anm. und § 381. 19 Enz. § 468 ff.

28

der ewig zwiespältigen, d. h. auf dem stetigen Kampf des Wil¬ lens gegen seine Naturbeherrschtheit beruhenden Wirklichkeit des objektiven Geistes, sondern im absoluten Geist selbst, der religiösen Sphäre, in der die absolute Idee die aus ihr ent¬ sprungenen Reiche der Natur und des Geistes hinter sich läßt, um in Kunst als der sinnlichen Anschauung der Idee, in der Religion als der „vorstehenden“ Vereinigung mit dem Abso¬ luten und in der Philosophie als dem reinen Begriff ihrer selbst zu sich zurückzukehren. Mit diesem durchaus unvollständigen und nur das We¬ sentlichste hervorhebenden Eindruck von der Erkenntnis¬ grundlage und dem systematischen Zusammenhang der Philo¬ sophie Hegels müssen wir uns begnügen, um jetzt die hier insbesondere zu betrachtenden Gestaltungen der Idee, und zwar nun aus der leitenden Perspektive dieser Sinntotalität, in Angriff zu nehmen. Wie die eigene dialektische Fortbestimmung des Begriffs den großen Kreis der Gestaltungen der Idee systematisch schloß, so ist dieser Kreis selbst aus einer Mannigfaltigkeit in sich geschlossener wissenschaftlicher „Totalitäten“ gebildet. Und ebenso wie eine jede von diesen Sinn und Eigenberechti¬ gung nur in der absoluten Totalität der Idee hat, so sind alle besonderen Bestimmungen eines solchen Systemteiles aus der bestimmenden und umfassenden Allgemeinheit der in ihm jeweils zugrunde gelegten Gestalt der Idee in ihrem eigent¬ lichen Sinn abzuleiten. 2. Kapitel. Das System des „Rechts“. „Recht“ im Sinne Hegels, dem wir auf dem Hintergrund des bisher Entwickelten jetzt vor allem näher zu kommen haben, und damit zugleich die Gesamtheit der ethischen und politischen Probleme wird in seiner Lehre vom „objek¬ tiven Geiste“ entwickelt; und zwar ist das Thema dieses spe¬ ziellen Systemteils die Idee, wie sie sich als freier Wille zum umfassenden Bereich der geistigen Wirklichkeit objektiv her¬ vorbringt.

29 Nachdem die Idee sich aus der unvollkommenen Form der Natur zu der ihrem Wesen entsprechenden Gestalt des Geistes hervorgebracht und sich als wirkliche Substanz des menschlichen Bewußtseins in Erkenntnis und Wille ein theo¬ retisches und praktisches Dasein geschaffen hat, muß sie sich nunmehr als der wahrhafte Bestimmungsgrund auch der von diesem ausgehenden objektiven Wirklichkeitsgestaltung erwei¬ sen1. Als abstrakte Grundform für diesen Erweis gebraucht Hegel den Begriff des „allgemeinen, freien Willens“. Denn in ihm ist die Möglichkeit einer subjektiv ebenso als objektiv geistigen Wirklichkeit der Idee im Kern enthalten2. Seine völlige begriffliche Entfaltung ist für Hegel gleichbedeutend mit der Welt des „Rechts“. Denn: „Der Boden des Rechts ist überhaupt das Geistige, und seine nähere Stelle und Aus¬ gangspunkt der Wille, welcher frei ist, so daß die Freiheit seine Substanz und Bestimmung ausmacht und das Rechts¬ system das Reich der verwirklichten Freiheit, die Welt des 1 Die „Idee“ als Natur und das menschliche Bewußtsein, seine Denk- und Willenskräfte als die sich im subjektiven Geist mani¬ festierende Idee, liegt an der Schwelle des objektiven Geistes „be¬ griffen“, aber zugleich „aufgehoben“ hinter uns. Dies bedeutet, daß in dem Gegenstand der Philosophie des objektiven Geistes, der letzten Endes mit dem Ganzen der geschichtlichen Wirklichkeit zusammen¬ fällt, nicht nur die Totalität der Natur, das zu räumlicher Mannig¬ faltigkeit ausgebreitete Leben, sondern die gesamte Problematik einer nur in einzelmenschlichen Seelen- und Bewußtseinszuständen sich manifestierenden Anthropologie und Psychologie konkret mit¬ enthalten sind, obwohl sie aus dem gegenständlichen Fokus des „Be¬ griffs“ herausgerückt sind und nunmehr nur als Moment eines weiter¬ gespannten Ganzen Vorkommen. 2 In der Darstellung des Systems in der Enzyklopädie ergibt sich dieses Grundprinzip aus der von dem theoretischen und praktischen Geist dialektisch konstituierten Stufe des „freien Geistes“, der als Wille das Dasein der Idee verwirklicht. In der Einleitung zur Rechts¬ philosophie ist das gleiche Prinzip in der Deduktion des allgemeinen freien Willens entwickelt (Enz. §§ 443—482, R.Phil. §§ 5 ff.). Wir brauchen hierauf an dieser Stelle nicht näher einzugehen, weil der zweite Teil vom praktischen Standpunkt aus eine Auseinandersetzung des Hegelschen Willensbegriffes fordert (vgl. u. S. 93 ff.).

30 Geistes aus ihm selbst hervorgebracht als eine zweite Na¬ tur ist3.“ Wir können die ausführliche Wesensbestimmung des all¬ gemeinen freien Willens, kraft deren er hier die Grundgestalt der Idee ist, nur dann übergehen, wenn wir uns prinzipiell auf die Zentralbestimmung der Idee in Hegels Philosophie über¬ haupt zurückbesinnen; denn in analoger Weise geht aus dem allgemeinen, freien Willen das System des „Rechts“ hervor, wie aus der absoluten Idee die Gesamtheit aller Bestim¬ mungen. Er ist, wie gesagt wurde, die Idee in der Gestalt des sich zu objektivem Dasein bestimmenden Geistes; als Wille bringt er sich hier aus der freien All¬ gemeinheit des Denkens gegenständlich hervor und verhält sich zu der so geschaffenen Objektivität frei zu sich selbst4. Nur aus dieser zentralen Bestimmung des allgemeinen Wil¬ lens als die von der Idee angenommene Gestalt, sich Wirk¬ lichkeit zu geben, folgt zugleich Sinn und Zusammen¬ hang des ganzen „objektiven Geistes“5. In diesem schöpfe¬ rischen Prinzip6 verkörpert sich die Idee, weil in ihm selbst die Notwendigkeit liegt, daß er sich gegenständlich hervor¬ bringt und nunmehr ebensosehr als objektive wie als sub¬ jektive Wirklichkeit „da ist“. Denn als allgemeinem Wil¬ len entspricht es dem Inhalt und Antrieb seiner selbst, daß die aus ihm hervorgehenden Gestaltungen das „wahrhaft all¬ gemeine“ zur Geltung bringen. Er schafft nicht eine ma¬ terielle oder in der jeweiligen Zwecksetzung erschöpfte Exi3 § 4. 4 Es handelt sich also nicht etwa um den Willen als eine empi¬ rische Fähigkeit, sondern um den allgemeinen, allen Seelen- und Be¬ wußtseinskräften zugrunde liegenden Begriff des freien Willens. in diesem Verhältnis liegende praktische Seite

des

Die

Hegelschen

Willensbegriffs wird später auseinandergesetzt. S. u. S. 97 ff. 5 „Von dieser zentralen Stelle aus muß das System der Rechts¬ philosophie verstanden werden.“ Binder, Freiheit als Recht, S. 166. 6 „Diese Tätigkeit des Willens ... ist . . . die wesentliche Ent¬ wicklung des substantiellen

Inhalts der Idee, eine Entwicklung, in

welcher der Begriff die zunächst selbst abstrakte Idee zur Totalität ihres Systems bestimmt.“ — § 28.

31 stenz, sondern ein allgemein geltendes „Dasein der Freiheit“, das aller vereinzelnden Willensbetätigung als deren unwandel¬ bare Sinngebung zugrunde liegt7. „Dies, daß ein Dasein überhaupt Dasein des freien Willens ist, ist das Recht. Es ist somit überhaupt die Frei¬ heit als Idee8.“ Dies eben bedeutet, „daß das Rechtssystem das Reich der verwirklichten Freiheit, die Welt des Geistes aus ihm selbst hervorgebracht als eine zweite Natur“ ist9. Alles „Recht“ bestimmt sich für Hegel nach Maßgabe der sich in ihm wollenden substantiellen Idee. Mit dieser metaphysischen Verwurzelung allen Rechts ist zugleich ausgesprochen, daß es als „Dasein der Freiheit“ immer zugleich von der inner¬ sten Substanz10 des Berechtigten oder Verpflichteten heraus, durch die er als geistiges Wesen an der bestimmung¬ gebenden Idee teil hat, gewußt und gewollt ist, und in Wahr¬ heit niemals „von außen“ an ihn in Form einer Beschränkung oder als Abhängigkeit von einer Norminstanz herantritt. Diese aus der Substanz des freien, geistigen Subjekts „immanent plastisch“ hervorgebildete Rechtsauffassung muß uns in der konkreten Entwicklung der Gestaltungen des Rechts immer gegenwärtig bleiben, denn es bildet am Ende den Grund dafür, daß ein Völkerrecht, das an die höchste Daseinsform des freien Willens, den Staat, „von außen“ beschränkend herantritt, von Hegel nicht anerkannt werden kann. Der „allgemeine Wille“ bleibt allen Gestaltungen der Rechtswirklichkeit immanent und zwar ergeben sich diese aus der in dialektischem Progreß vollzogenen Selbstaus¬ legung und Konkretisierung dieses Prinzips11. Durch die im Willensbegriff liegende Grundspannung, eine dem inneren Wesen der Idee auch in äußerem Dasein entsprechende Ob7 Vgl. Larenz, Logos XX, 2. Dialektik des Willens usf. s § 29. 9 Vgl. o. S. 30. 10 Nicht notwendig auch von seinem empirischen Willen, der un¬ gebildet oder gar bewußt widerrechtlich sein kann. 11 Vgl. hierzu vor allem Zus. zu § 32. 12 S. o. S. 22.

32 jektivität hervorzubringen, wird die zunächst abstrakte Bestim¬ mung des allgemeinen Willens über sich hinaus zur Setzung einer bestimmten im wirklichen Dasein vorfindbaren Form und sodann durch die in dem jeweiligen Inhalt selbst auf¬ tauchende dialektische Bewegung12 zu dem notwendigen Er¬ folge fortgetrieben, mit jeder Begriffsstufe eine solche Da¬ seinsgestalt der Freiheit, die einer realen Rechtssphäre ent¬ spricht, zu erklären und den weiteren hierarchisch anzuglie¬ dern. Durch diese fortschreitende Konkretion der sich von seinem Willensbegriff aus fordernden Inhalte gelingt es He¬ gel, endlich ein die ganze Weite der rechtlichen und poli¬ tischen Wirklichkeit nach ihrer von ihm vorausgesetzten wesentlichen Idee enthaltendes Begriffsbild auszuspannen. Auch hier ergibt sich also sein wissenschaftliches Resul¬ tat nicht durch ein äußeres Nähertreten an die Vorgefundenen Gegenstände des Rechts und des Staates, sondern aus der eigenen dialektischen Fortbestimmung dieser Gegenstände selbst, wie sie sich ihm als objektive Wirklichkeit der Idee notwendig in den absoluten Zusammenhang des Systems einspannen. Dieser dialektische Aufbau der Welt des Rechts13 — er bildet das Thema der Rechtsphilosophie — vollzieht sich nun in der aufeinanderfolgenden Ausweitung des „Daseins der Freiheit“ zu drei hauptsächlichen Totalitäten: Die erste ist in den sie konstituierenden Momenten zu¬ nächst noch abstrakt, die eigentliche Grundlegung der „Ethik“ Hegels, — die aus abstraktem Recht und Moralität sich konstituierende Sittlichkeit. Die zweite ist die konkrete sittliche Totalität14 — der 18 Vgl. Zus. zu § 33: „Wenn wir hier vom Rechte sprechen, so meinen wir nicht bloß das bürgerliche Recht, das man gewöhnlich darunter versteht, sondern Moralität, Sittlichkeit und Weltgeschichte, die ebenfalls hierher gehören, weil der Begriff die Gedanken der Wahrheit nach zusammenbringt.“ 14 Sie entspricht cter in der Einleitung herangezogenen „sittlichen Totalität“ des Aufsatzes „Über die wissenschaftlichen Behandlungs¬ arten des Naturrechts“. Vgl. o. S. 11 ff.

33 Staat; in ihm wird für Lebensverhältnisse eines Die dritte ist die, fassend bewahrheitende, geschichte.

Hegel die Gesamtheit der sittlichen Volkslebens zusammengehalten. das sittlich-staatliche Ergebnis um¬ universale Totalität — die Welt¬

Kein Ergebnis der Hegelschen politischen Philosophie läßt sich richtig bewerten, wenn man nicht die hierarchische Grundanordnüng dieser drei wissenschaftlichen „Totalitäten“ in ihr wirklich begriffen hat. Wie sich inhaltlich die Subjektivität des „allgemeinen Willens“ für Hegel aus ihrer zunächst noch abstrakten Substantialität zum konkret erscheinenden „System des Rechts“ entfaltet, können wir nur in dem dialektischen Progreß des Begriffes verfolgen; denn wir können den von Hegel an¬ genommenen streng sich gliedernden Zusammenhang der geistigen Wirklichkeit und diese sie wesentlich konstituieren¬ den Totalitäten (sittliche Substanz, Staat, Geschichte15), auf die es hier vor allem ankommt, nur dann „begreifen“, wenn wir, wenigstens im Grundriß, die dialektische Notwendigkeit dieser ideellen Entfaltung von bedingenden Wesensgrund¬ lagen zu ihren konkret erscheinenden Gestaltungen verfolgen. Dabei hat sich die Darstellung naturgemäß an den Auf¬ bau der Rechtsphilosophie selbst zu halten16, gleichzeitig aber bei der jeweiligen Behandlung der einzelnen Stufen beson¬ ders ihre relative Bedeutsamkeit für das Endziel der Darstel¬ lung, die systematische Erfassung des Problems internatio¬ naler Ordnung bei Hegel ins Auge zu fassen. 15 Jede dieser Totalitäten ist, wie wir sehen werden, in der an¬ dern als Moment mitenthalten, und es ist daher möglich, im Rahmen einer jeden die Elemente der übrigen mitauszudrücken; indem die erste im Dasein einer bestimmten praktischen, menschlichen Willens¬ haltung entspricht, versucht es der zweite Teil, von ihr aus unser ganzes Problem zu umspannen. 16 Die Kapiteleinteilung hält sich nicht streng an die dialektischen Zäsuren, weil die Inhalte zugleich nach ihrer Bedeutsamkeit für die vorliegende Aufgabe einzuteilen waren. 3 6144 Abhandlgn. a. d. Völkerrecht 6: v. Troit zu Solz.

34 3. Kapitel. Der Sittlichkeitsbegriff in Hegels Rechtsphilosophie. Die dialektische Konstituierung des Begriffes der „Sitt¬ lichkeit“ bildet den ersten Hauptteil der Rechtsphilosophie; in ihm wird die Grundlegung zu der konkreten Darstellung der Freiheitsidee in der Wirklichkeit vollendet. Wir wiesen oben kurz darauf hin, daß in Hegels Kritik an Kant des letzteren Trennung von Legalität und Morali¬ tät einen Haupteinwand bildete1. Dieser Abschnitt enthält nun seine eigene Lösung dieses für alle Rechtsphilosophie funda¬ mental wichtigen Verhältnisses: der problematischen Be¬ ziehung von objektiv-rechtlicher Notwendigkeit und subjektiv¬ moralischer Freiheit. Angesichts der erst auf dieser Lösung aufgebauten, uns näher angehenden Gestaltungen rechtlicher Wirklichkeit werden wir die dialektische Entwicklung dieser Problemlösung nur in ihren Grundzügen verfolgen und haben sie dann in dem weiteren vorauszusetzen2. Mit der dialek¬ tischen Deduktion des Sittlichen und dem mit ihm zugleich geführten wissenschaftlichen Nachweis, daß, wie wir Hegel schon in seinem Naturrechtsaufsatz fordern fanden, keiner der Teilgesichtspunkte, nämlich weder Recht noch Moral allein dazu ausreicht, die internationale Sphäre zu normieren oder zu werten, haben wir uns dann in der weiteren Dar¬ stellung der Hegelschen Theorie bewußt von der Vorstellung, die die internationalen Probleme entweder juristisch oder moralisch beurteilt, abzuwenden. Zur Klärung mag daran zu¬ rückerinnert werden, daß in der von Hegel geforderten Ver¬ söhnung des anscheinenden Gegensatzes von Recht und Moral eben jene Forderung des konkreten Lebensbereiches, aus dem für ihn die Fragen des Rechts und der Moral erst wahrhaft Sinn erlangen, und die wir als die ihn charakteri1 S. o. S. 13. 2 Im zweiten Teil unserer Darstellung werden wir dann auf die gerade in diesem Teil der Hegelschen Rechtsphilosophie liegenden Orundelemente der praktischen Willenshaltung zurückkommen.

35 stisch von Kant unterscheidende Grundansicht hervorhoben3, im Begriff der Sittlichkeit zur Geltung und Erfüllung kommen wird. Die philosophische Begründung und Realisierung dieser Versöhnung, die wir oben mit der „sittlichen Totalität“ als typisch andeuteten, ermöglicht sich für Hegel durch das in den besonderen Gestaltungen des Rechts und der Moral sich notwendig erhaltende und sie durchgängig bestimmende Grundprinzip der Idee des allgemeinen Willens, die sich hier in diesen verschiedenen und doch auseinanderfolgenden Me¬ dien objektives Dasein gibt. a) abstraktes Recht. Die Idee des allgemeinen, freien Willens wird zunächst in ihrer unmittelbaren Gestaltung be¬ griffen und erscheint so als „abstraktes Recht“. Der Wille wird hier noch in unmittelbarer Identität mit sich selbst gefaßt und verhält sich so als „ausschließende Einzelheit“ zu seinen Bestimmungen und Zwecken als zu einer „äußeren unmittel¬ bar Vorgefundenen Welt“4/5- Sein Begriff ist in das Kernprinzip der „Person“ gefaßt, deren rechtliches Dasein zunächst in ihren Beziehungen zu einer „Sache“ liegt. Aus dieser Be¬ ziehung gehen die Grundbestimmungen dieser Daseinsstufe des allgemeinen Willens: Eigentum, Vertrag, Unrecht, endlich auch Zwang und Verbrechen dialektisch hervor. Festzuhalten ist das durchaus formelle und abstrakte der von dieser Be¬ griffsstufe aus erfaßten Erscheinungsformen der Freiheits¬ idee. Ihr Dasein ist erst die äußere Freiheitssphäre der „Per¬ son“, die als der Bereich ihrer (unmittelbaren) Willensver¬ fügungen in der „Sache“ verkörpert wird. Daß die Person die Sache in ihrer äußeren Gewalt hat, macht ihren Be¬ sitz, und daß der freie Wille in diesem Besitz der Sache sich gegenständlich und damit zu einem in der Sache wirklich da-seienden Willen wird, „das rechtliche darin die Bestim¬ mung des Eigentums aus“6. Im Vertrag nun vermittelt sich das Eigentumsverhältnis durch den Willen auch einer anderen Person, — also einem 3 Vgl. Einleitung S. 14.

4/6 § 34.

6 § 45. 3*

36 gemeinsamen Willen: „Diese Beziehung von Willen auf Willen ist der eigentümliche und wahrhafte Boden, in wel¬ chem die Freiheit Dasein hat7.“ Zu betonen ist aber auch hier, daß das Vertragsverhältnis den rein formellen Charakter einer Fortbestimmung der unmittelbaren und rein äußer¬ lichen Freiheit trägt, also für Hegel völlig ungeeignet ist, höhere Daseinsgestalten der Idee, etwa die Grundlagen des Staates, zu erklären, wie es Rousseau unternahm. Sagt auch Hegel später von den internationalen Traktaten, daß sie die formelle Natur von Verträgen haben8, so dürfen sie doch keineswegs in ihrem Wesen von dieser Stelle seiner Rechtsphilosophie aus analysiert werden9. Ganz abgesehen davon, daß sich die Grundlage für die Realisierung des zu¬ nächst noch abstrakten Vertragsverhältnisses erst in der Rechtspflege der bürgerlichen Gesellschaft (§ 209) findet, also erst dort das Thema „Vertrag“ objektiv erledigt ist, liegt das Problem des völkerrechtlichen Vertrags wesentlich darin, ob der Staatswille angesichts der ihm eigenen konkreten Inhaltlichkeit, von der hier auf der Stufe des abstrakten Rechts schlechthin noch nicht die Rede sein kann, in ihm eine Ver¬ bindlichkeit eingeht. Wir kehren also zum Vertrag als abstrakter Rechtsform zurück. In der gegenseitigen Anerkennung von Eigentum und anderweitig bestimmtem Vertragsinhalt sind die einzelnen Personen in sachlich bestimmter Rechtsgemeinsamkeit gebun¬ den. Hier taucht nun weiterhin die Möglichkeit auf, daß die besonderen Willen nicht mit dem allgemeinen solchergestalt 7 § 71. 8 § 332. 9 Ein Hinweis von Glöckner (Hegel, 1. Bd., S. 266/267), daß das Recht zwischen den Staaten mangels einer geltenden Völkerrechts¬ ordnung einen dem abstrakten Recht (oder gar der Moralität) ähn¬ lichen Charakter trage, darf in diesem Zusammenhang nur im Sinne einer gewissen Analogie, nicht aber so verstanden werden, als ob das zwischenstaatliche Recht von dieser Begriffsstufe aus zu behandeln sei, die doch nur ein Moment des Sittlichkeitsbegriffes und darum nur innerhalb des ihn verwirklichenden Staates ihre Gültig¬ keit hat.

37 in einem Rechtsgegenstand erscheinenden Willen überein¬ stimmen. Diese Widersetzung der Zufälligkeit und Willkür des besonderen Willens wird im Unrecht entwickelt, das zunächst unbefangen, dann unter dem vorgetäuschten Scheine des Rechts (Betrug), endlich in unverhohlener Verletzung des allgemeinen Willens (Zwang und Verbrechen) be¬ gangen werden kann. Durch die strafende Gerechtigkeit wird die so entstehende Diskrepanz zwischen dem besonderen und allgemeinen Willen nicht nur als solche (an sich), sondern auch in dem Verbrecher aufgehoben, denn auch seinem Wil¬ len ist die allgemeine Substanz der Freiheit immanent, so daß durch die Notwendigkeit des Willensbegriffs auch die Strafe objektiv und subjektiv erklärt ist. ln diesem Fortgang aber hat sich zugleich als notwendig erwiesen, daß der all¬ gemeine Wille als subjektiv selbstbewußter im Bestraften so¬ wohl als im Strafenden in die Erscheinung tritt. Diese Forde¬ rung eines Willens, der als besonderer subjektiver Wille das Allgemeine als solches wolle, begründet für Fiegel den Begriff der Moralität, der somit „nicht nur ein gefordertes, sondern in dieser Bewegung selbst hervorgegangen ist“10. b) Moralität. Während in der Stufe des „abstrakten Rechts“ nur erst von dem Prinzip der sich äußerlich reali¬ sierenden Freiheit die Rede war, handelt es sich in der Mo¬ ralität um das Prinzip der freien Innerlichkeit des Subjekts. Konnte jene Stufe als die der unmittelbaren, all¬ gemeinen Freiheit formuliert werden, die sich zu der strikten Abgrenzung der persönlichen, äußeren Freiheitssphären ge¬ staltete, so ergab sich weiter aus ihr die notwendige Be¬ lebung mit einem besonderen Willen, der nunmehr auf dieser dialektischen Stufe des Begriffs jenem gegenüber als ein selb¬ ständiger auftritt. Während sich auf jener Stufe die Idee als abstrakter Begriff der „Person“ formierte, gibt sie sich hier die Gestalt des „Subjekts“11, das sich nunmehr jener Welt unmittelbar gegenständlichen „Daseins der Freiheit“, dem abstrakten Recht, und zwar als die mit jenen Gestaltungen 10

§ 103.

11

§ 105.

38 zunächst unvermittelte und selbständige subjektive Existenz der Freiheitsidee gegenüberstellt. Wie sich nun gerade durch diesen in ihrem eigenen Da¬ sein gesetzten Widerspruch für Hegel die substantiell einheit¬ liche Wirklichkeit der Idee des freien Willens bereitet, bildet das Ziel der dialektischen Entwicklung der „Moralität“. Sie enthält zunächst die Bestimmung, daß dem moralischen Willen nur die in seinem Vorsatz gelegenen Handlungen zu¬ gerechnet werden dürfen, daß er ferner auch für den weiter gespannten Rahmen seiner Absicht verantwortlich ist12. „Der Wert des Menschen wird nach seiner inneren Handlung geschätzt und somit ist der moralische Standpunkt die für sich seiende Freiheit13.“ Die Gesamtheit des in seinen Absichten bezweckten sub¬ jektiven Interesses nennt Hegel das „Wohl“ des Subjektes. Und dieses subjektive Wohl, das gleichsam den realen Rah¬ men der Einzelexistenz und ihrer moralischen Belange be¬ zeichnet, gerät (z. B. in der Not konkreter Selbsterhaltung) notwendig in Konflikt mit jenem als feste Rechtsinstitute be¬ stimmten Dasein der Freiheit, dem abstrakten Recht14. In dieser Kollision erweist sich die Endlichkeit und Zufälligkeit des Gegen einander-Bestehens dieser Stufen der Freiheit, die innere Unselbständigkeit des abstrakten Rechtsstand¬ punktes, aber auch diejenige des subjektiven Wohls und da¬ mit die Notwendigkeit, die widersprechenden Forderungen beider aus dem ihnen identisch zugrunde liegenden Prinzip der Freiheit zu lösen. Ausdruck dieser — wenn auch zunächst nur im Begriff gegebenen und nicht zugleich als konkretes Dasein anweis¬ baren Identität — ist das Gute, die ideale Bestimmung des allgemeinen sowohl als des besonderen Willens. In dem Be¬ griff des Guten sind die das einzelne Wohl nicht berücksich¬ tigenden Elemente des abstrakten Rechts ebenso wie die dem Subjekt in seiner Isolierung abgehende Notwendigkeit der allgemeinen Freiheitsordnung enthalten. Konkret ist jedoch der 12 §§ 115 ff. und 199 ff.

15 Zus. zu § 112.

14 §§ 127—128.

39 tatsächliche Zwiespalt zwischen unbedingter Freiheit der sub¬ jektiven Existenz und objektiv und allgemein festliegender Freiheitsordnung nicht versöhnt; von hier aus wird nun diese Spannung zwischen subjektiv existierender und allgemein normierter Idee zu seinem vollen Gewicht ausgetragen: Die wirklichkeitslose, abstrakte Fortbestimmung des objektiv Guten steht der sich nur aus sich selbst bestimmenden Sub¬ jektivität, dem Gewissen, gegenüber, das zwar in dem Ein¬ zelnen zur Existenz kommt, aber als bloß formales Prinzip des Inhaltes und darum der Wirklichkeit entbehrt15. Sowohl die an sich allgemeine, notwendige Ordnung des Guten, als auch die subjektive Existenz der Freiheit im Gewis¬ sen reichen allein nicht dazu aus, die Selbstrealisation der Idee zu vollenden; dieser tiefe Gegensatz zwischen dem unmittel¬ baren und dem in sich reflektierten, dem objektiv festumrissenen und dem subjektiv autonomen Dasein des allgemeinen Willens drängt zu einer konkreteren Erfassung der sich in bei¬ den Gestaltungen manifestierenden Substanz der Freiheit fort: „Das Dasein der Freiheit, welches unmittelbar als das Recht16 war, ist in der Reflexion des Selbstbewußtseins zum Guten bestimmt; das Dritte, hier in seinem Übergang als die Wahrheit dieses Guten und der Subjektivität, ist daher ebenso die Wahrheit dieser und des Rechts. — Das Sittliche ist subjektive Gesinnung aber des an sich seienden Rechts17.“ Im Begriff der Sittlichkeit ist die subjektive Freiheit mit ihrer notwendigen objektiven Gestaltung versöhnt, indem diese Gestaltung und ihre notwendigen Ordnungen hier als der inneren Bestimmung des Subjekts adäquater Inhalt ebensosehr von ihm in sich aufgenommen, als willentlich und zwar in konkretem, objektivem Dasein von ihm verwirklicht werden. Diese subjektiv-objektive Einheit ist die „sittliche Substanz“, die ebensosehr subjektiver, „recht-schaffener“ Wille als das Wesen seines objektiven Lebensbereiches bildet18. 15 Vgl. hierzu Teil II, S. 103. 16 Gemeint ist hier natürlich das „abstrakte Recht“. 17 § 141, Anm. 18 Vgl. hierzu Teil II, S. 107 ff.

40 In dieser grob nachgezeichneten dialektischen Bewegung ordnet sich für Hegel die Stufe der Moralität als der Übergang von der unmittelbaren und darum noch abstrakten zur kon¬ kret wirklichen Idee folgerichtig in die Selbstentfaltung des allgemeinen freien Willens ein. Mit ihr hat die Idee das für ihre reale Selbstdarstellung wesentliche Moment ihrer Existenz im besonderen Willen aufgenommen, nachdem jedoch — und dies ist gerade als die festgehaltene Entgegensetzung gegen Kant höchst wichtig — die Exklusivität der subjektiven ethischen Autonomie in ihrer Eigen¬ geltung verneint und damit die Unmöglichkeit fest¬ gestellt ist, vom subjektiven Willen allein her zur Sittlichkeit zu kommen. Die Moralität hat für den Standpunkt der Ethik Hegels die größte Bedeutung, die hinsichtlich der persönlichen Einzelentscheidung unten näher entwickelt wird19. Sie läßt uns die für ihn grundlegende Tendenz, die wir schon in der Konzeption der „sittlichen Totalität“ als das charakteri¬ stische empfanden, wiedererkennen: Die Abneigung gegen eine vom Individuum aus konstruierte und die Forderung einer objektiven Pflichtenordnung, die er, ebenso wie seinerzeit in den „Sitten eines Volkes“20, hier in der zu objektiver Lebens¬ wirklichkeit entfalteten sittlichen Idee, in Familien- und Staats¬ leben sieht. Das Ethos liegt nicht schon in dem subjektiven Impuls, sondern letztlich, wie wir sehen werden, in den aus der weiteren Entwicklung der Freiheitsidee bestimmten ob¬ jektiven Lebensbereichen21. Für uns ergibt sich hieraus, daß von Hegels Standpunkt aus auch eine Beurteilung des internationalen Pro¬ blems von der subjektiven Perspektive der Moralität ein¬ seitig und widersinnig wäre, sondern vielmehr im Zusam¬ menhang der objektiven sittlichen Verhältnisse — insbeson¬ dere also des Staates — seine ethische und rechtlicheWertungzu finden hat. 19 Vgl. hierzu Teil II, S. 99 ff. 21 Vgl. u. S. 108.

90 WW I, 396.

41 c) Die sittliche Substanz und ihre Gliederung. Die Schaffung einer fest umrissenen Daseinssphäre der Frei¬ heit im Rechtszustand und ihre Verankerung in der lebendigen Selbstbestimmung des freien subjektiven Willens bilden die allein zwar abstrakten, aber notwendigen Voraussetzungen, in deren gegenseitiger Durchdringung sich nun das gewußte und gewollte Gute zugleich als innerer Bestimmungsgrund und als äußeres Werk des freien Willens verwirklichen kann. Die Sittlichkeit ist „der zur vorhandenen Welt und zur Natur des Selbstbewußtseins gewordene Begriff der Freiheit“22. Der Standpunkt des Gewissens sowohl als die starren Forde¬ rungen des Rechts sind hier in ihrer lebendigen Einheit „auf¬ gehoben“. Der allgemeine Wille ist in konkretem „An und für sich sein“ lebendig wirksam, findet nicht in Gesetzen und Einrichtungen noch als Inhalt des individuellen Selbstbewußt¬ seins allein, sondern in unmittelbarer Einheit dieser beiden Bereiche seine Wirklichkeit. „Weil die sittlichen Bestimmun¬ gen den Begriff der Freiheit ausmachen, sind sie die Substantialität oder das allgemeine Wesen der Individuen, welche sich dazu nur als ein Accidentelles verhalten. Ob das Individuum sei, gilt der objektiven Sittlichkeit gleich, welche allein das Bleibende und die Macht ist, durch welche das Leben der Individuen regiert wird23.“ Und doch liegt in seinem Verhältnis zu der sittlichen Substanz auch nicht der leiseste äußere Zwang für das Indivi¬ duum. Vielmehr findet es in dem tätigen Anschluß an diese Wirklichkeit seine eigentliche Freiheit, wie sie weder das Be¬ harren auf dem Standpunkt des Gewissens, noch weniger aber der natürliche Wille gewähren könnte. Hier findet nach Hegel das Individuum seinen eigenen Geist und Grund, „in welchem es sein Selbstgefühl hat, und darin als seinem von sich ununterschiedenen Elemente lebt, — ein Verhältnis, das unmittel¬ bar noch identischer als selbst Glaube und Zutrauen ist“24. Sich als Glied dieser sittlichen Substanz zu wissen, führt zur Verwirklichung der höchsten Freiheit und bildet den inneren 22

§

.

142

2:1 Zus. zu § 145.

24 § 147.

42 Bezug alles sittlichen Handelns der Individuen; an die objek¬ tive Gestaltung des Sittlichen in Gesetzen und Einrichtungen sind sie also in der Pflicht gegen ihre eigenste Freiheit ge¬ bunden. Diese über das „leere Prinzip der moralischen Sub¬ jektivität“ zu konkreten Lebensbereichen fortgehende Ver¬ wirklichung des Sittlichen wird in dem nun folgenden Teil der Rechtsphilosophie nachentwickelt. Die unmittelbare Gestaltung des sittlichen Geistes sieht Hegel in der Familie, die jedoch ihrem natürlichen Wesen nach sich auflösen und dem Begriff einer Vielzahl selbstän¬ diger Personen in der „bürgerlichen Gesellschaft“ weichen muß, die sich dann allerdings wiederum durch den allgemeinen sittlichen Zweck bedingt findet, der im Staat als gewußte und gewollte Totalität des konkreten Volkslebens gestaltet wird. Hegels begrifflicher Fortgang, der nunmehr in dem pla¬ stischen Stoff des sozialen Lebens die schöpferische Wirklich¬ keit der sittlichen Substanz aufzudeuten bestimmt ist, wählt sich diesen für alles folgende bezeichnenden Ausgangspunkt: Die Familie ist für Hegel die Grundgestalt des Sittlichen, denn sie enthält ein Lebensverhältnis, in dem die Innerlichkeit der Beteiligten (Moral) zugleich frei zu einem objektiven Rechts- und Wirkungsbereich steht. Das sittliche Selbst¬ bewußtsein ist hier in der Tat einer Substanz verbunden, deren Verwirklichung ihm zugleich die eigene Freiheit bedeutet. Hier finden wir eine erste Erfüllung des Maßstabes, aus dem sich für Hegel das Ganze der sittlichen Wirklichkeit bestimmt25. Die Familie beruht zunächst auf dem geistig-natürlichen Band der Liebe, in der sich die Ehegatten und Kinder nicht als selbständige Personen, sondern als Mitglieder einer Gemein¬ schaft empfinden. Die Ehe ist das Fundament dieser Gemein25 Die innere Verwandtschaft seines sittlichen Staates mit dem Familienverhältnis könnte wiederholt aufgezeigt werden. An einer Stelle seiner Geschichtsphilosophie sagt Hegel geradezu, daß der Staat aus dem Element der Familie geschaffen sei. Vgl. auch §§ 203, 350.

43 Schaft und ist als solches „eines der absoluten Prinzipien, worauf die Sittlichkeit eines Gemeinwesens beruht“26; ihr Wesen folgt weder aus physischen Trieben noch aus recht¬ licher Vereinbarung der Ehegatten, sondern birgt als Bestim¬ mung der sittlichen Substanz die freie Persönlichkeit beider in lebendiger Einheit, in der die Forderungen der Innerlichkeit sowohl als der rechtlichen Freiheitsordnung sich zugleich er¬ füllen. Im Rechtsverkehr tritt die Familie als eine Person in Er¬ scheinung27 und erhält in den Kindern, in ihrer Ernährung und Erziehung eine weitere Bereicherung ihres inneren Le¬ bens28. Zugleich aber erweist sie sich damit als die nur vor¬ läufige Gestalt sittlicher Gemeinschaft, indem sie mit Selb¬ ständigwerden der Abkömmlinge in eine Vielheit von Per¬ sonen auseinandertritt.

4. Kapitel. Hegels Gesellschaftslehre und ihr besonderer Bezug auf das internationale Recht. Die Lehre von der „bürgerlichen Gesellschaft“ nimmt die wissenschaftliche Nachentwicklung der Wirklichkeit des Sittlichen mit dieser Tatsache der notwendigen Auflösung der Familie in eine Vielheit von Personen als Ausgangspunkt auf. Indem der Einzelne als für sich selbständige Existenz, in freier Besonderheit gefaßt wird, ist zunächst nicht der grundsätz¬ lich einende und auf den allgemeinen Vernunftzweck sich be¬ ziehende Gesichtspunkt der sittlichen Idee, sondern es sind die praktischen Existenzgesetze dieser Personenviel¬ heitmaßgeblich; das egoistische Privatinteresse des Einzelnen bildet den Ausgangspunkt. Daß sich aber auch in diesem „System der Atomistik“* 1 selbst die Notwendigkeit eines die Existenz des Besonderen bedingenden Allgemeinen ergibt, bildet das immanente Ziel dieser dialektischen Begriffsstufe. Da bei den einzelnen Bestimmungen der bürgerlichen Ge¬ sellschaft ihr Bezug auf die internationale Sphäre auszuführen 26 Anm. zu § 167. 1 Enz. § 523.

27 § 173.

28 § 174.

44 sein wird und dadurch die prinzipielle systematische Bedingt¬ heit dieses Abschnittes aus den Augen verloren werden könnte, empfiehlt es sich, diese von vornherein festzustellen: Jener in viele selbständige Privatpersonen besonderteZustand erweist sich durch eine Interessengemeinsamkeit verbunden. Als „formelle Allgemeinheit“, worunter praktisch der not¬ wendig sich ergebende Zusammenhang allen egoistischen In¬ teressenverfolgs verstanden werden kann, gestaltet sie sich näher in drei Stufen: System der Bedürfnisse, Rechtspflege, Polizei und Korporation. Aus der formellen, die lediglich den Zwecken der Be¬ sonderheit dient, bereitet sich so der Begriff einer wahren Allgemeinheit vor, die Selbstzweck ist und in sich die Totali¬ tät der vorher versprengten „Atome“ und zugleich die ganze Fülle ihrer inhaltlichen Belange verwirklicht. Aus der Un¬ zulänglichkeit und Bedingtheit des formell-allgemeinen Inter¬ essengemeinsamen ergibt sich als deren wahrhafte Grundlage und Voraussetzung: der Staat. Die in ihm umfassend verwirk¬ lichte sittliche Substanz wird schon hier und zwar zunächst von der Seite ihrer „in die Besonderheit verlorenen“ Akzi¬ denzen realistisch aufgefaßt. Denn die in ihm zur daseienden Totalität vollendete Freiheitsidee setzt notwendig die tatsäch¬ liche Freiheit aller in ihm verwobenen Gliedexistenzen voraus2. Für das Wesen des Staates ist also die Erkenntnis dieser Sphäre, in der sich seine Glieder frei für sich entfalten, um erst so in eine von ihnen selbst erstrebte, substantielle To¬ talität Zusammengehen zu können, von grundlegender Wich¬ tigkeit. Zugleich aber muß bei der Erfassung der bürgerlichen Gesellschaft unbedingt festgehalten werden, daß es sich hier erst um eine durchaus unvollständige Seite des Staatsgedan¬ kens handelt3, gleichsam um die für sich genommene Betrach¬ tung der Blätterkrone eines Baumes, die doch ohne Stamm und Astwerk nicht möglich ist. Nur als Moment der Selbst¬ entfaltung der „sittlichen Substanz“, nicht als eine selbständig 2 Vgl. u. S. 54 ff. u. Teil II, S. 112 u.

3 Vgl. Enz. § 523.

45 haltbare Bestimmung des aus ihr hervorgehenden Gemein¬ wesens ist die bürgerliche Gesellschaft zu fassen. Wenn sich also auch die mannigfaltig besonderte bürger¬ liche Gesellschaft als die gleichsam „weltoffene“ international interessierte und verflochtene Seite des Staates erweist, so muß doch die Grundtendenz dieser dialektischen Stufe fest¬ gehalten werden, nämlich die Notwendigkeit, daß die sittliche Idee in den subjektiven Besonderheiten ihre wahre Einheit als allgemeine Subjektivität wiederfinden muß, um so in Wahrheit zur Substanz der Freiheit ihrer Glieder zu werden. a) Zunächst wird als „System der Bedürfnisse“ jener der freien Ausbildung der Besonderheit gegenüber¬ stehende formell-allgemeine Interessenkomplex entwickelt, aus dem der Einzelne Befriedigung und Garantie seiner egoistischen Sonderexistenz schöpft und dessen gesetzmäßige Struktur die Volkswirtschaft ausmacht4. Die in ihr enthaltene Allgemeingesetzlichkeit liegt nicht nur der Bedürfnisbefriedi¬ gung, sondern der gesellschaftlichen Teilung der Arbeit zu¬ grunde, deren notwendig zunehmende Spezialisierung und Mechanisierung Hegel ebensowohl sah, wie überhaupt die Grundprobleme der in sich fortschrittlichen, modernen Ge¬ sellschaftsentwicklung5. Notwendig besondert sich die Art der Teilnahme an dem Arbeit und Bedürfnisbefriedigung vermittelnden „allgemeinen Vermögen“6 der Gesellschaft in drei Stände: den bäuerlichen, den Gewerbestand und den allgemeinen (für den Staat tätigen) Stand. Das Ständewesen ist für den systematischen Zusam¬ menhang des Ganzen insofern von besonderer Bedeutung, weil hier die Grundlebensbedingungen („die besonderen Sy¬ steme der Bedürfnisse“)7 des Gemeinwesens in einer wenn auch egoistisch betriebenen Gemeinsamkeit organisiert sind. „Hier ist die Wurzel, durch die die Selbstsucht sich an das 4 Vgl. Zus. zu § 189. 5 6 Dieses durch die allseitige gebildete „Vermögen“ ist in dem Geschicklichkeit zu verstehen.

Vgl. u. S. 51. Verschlingung der Abhängigkeit doppelten Sinne von Kapital und 7 § 201 R.Phil.

46 Allgemeine, an den Staat knüpft, dessen Sorge es sein muß, daß dieser Zusammenhang ein gediegener und fester sei8.“ b) Die Rechtspflege sichert als Realisation des zu¬ nächst abstrakten Prinzips der freien Person die tatsächliche Betätigung der besonderen Freiheit im Verkehr der bürger¬ lichen Gesellschaft. Das Rechtsprinzip als die unmittelbare Form des allgemeinen Willens9 erscheint erst hier als not¬ wendig ausgeübtes Recht. „Wenn es auch aus dem Begriff kommt, so tritt es doch nur in die Existenz, weil es nützlich für die Bedürfnisse ist10.“ Erst wo die Persönlichkeit in ihrer Teilnahme an dem gesellschaftlichen „Vermögen“ und in ihrer Reflektion hier¬ über wirklich „gebildet“ ist, ergibt sich das Bedürfnis, ihre äußere Sphäre gesetzlich zu regeln und in allen möglichen Besonderungen zu durchdringen. Ausdrückliche Bedeutung für unseren Problemzusammen¬ hang gewinnt die Lehre von der Rechtspflege durch folgendes: Die Übung des Prinzips der Persönlichkeit ist n i c h t n a t i o nal begrenzt11: „Der Mensch gilt so, weil er Mensch ist, nicht weil er Jude, Katholik, Protestant, Deutscher, Italiener usf. ist12.“ Die Anerkennung des Gedankens der Rechtspersönlich¬ keit, dieser Grundbedingung des Wirtschaftsverkehrs, ist also nach Hegel auf das gesamte, auch internationale Gebiet pri¬ vater Rechtsgebarung ausgedehnt. Dies stimmt überein mit dem in der Lehre des „äußeren Staatsrechts“ gleichsam bei¬ läufig (denn sonst ist hier ausschließlich nur die Beziehung der Staats ganzen zueinander entwickelt) eingefügten Satz: „Was im Frieden ein Staat dem Angehörigen eines anderen an Rechten für den Privatverkehr einräumt usf., beruht vor¬ nehmlich auf den Sitten der Nationen als der inneren, unter allen Verhältnissen sich erhaltenden Allgemeinheit des Be¬ tragens.“ Dies findet hier in dem allgemeingültigen Grund¬ prinzip der Rechtspflege der bürgerlichen Gesellschaft seine 8 Zus. zu § 201. Vgl. auch Teil II, S. 120. 9 Vgl. Kap. 3a. 10 Zus. zu § 209. 11 § 209. 12 Vgl. auch § 190.

47 völlige Erklärung, und in ihr läge darum nach Hegel die Grundlage13 des internationalen Privatrechts. Die Gerichte verfahren nach den jeder Kulturgesellschaft selbstverständ¬ lichen Rechten der privaten „Person“ ohne Bevorzugung der eigenen Nationalität. Dieser Teil des internationalen Rechts beruht also auf der Rechtsstruktur der bürgerlichen Gesellschaft, ihre Prin¬ zipien gelten für die gesamte Welt wirtschaftlichen Verkehrs. Jedoch reichen sie für eine über den Privatverkehr hinaus¬ gehende Grundlegung des internationalen Rechts nicht aus: Hegel vergißt nicht, an dieser Stelle vor solchen Versuchen zu warnen: „Dies Bewußtsein, dem der Gedanke (nämlich der der freien Persönlichkeit — nicht das Faktum der Staatsangehörig¬ keit) gilt, ist von unendlicher Wichtigkeit, nur dann mangel¬ haft, wenn er etwa als Kosmopolitismus sich dazu fixiert, dem konkreten Staatsleben gegenüberzustehen14.“ Nur die Privat¬ person, nicht den Staat, geht dieses Prinzip internationalen Rechtsverkehrs etwas an; und mit dieser beschränkten Seite desselben müssen wir uns hier genügen lassen, ehe nicht das Staatsganze in seinem Begriff entwickelt ist. Von grundsätzlichem Interesse ist die in der Lehre von der „Rechtspflege“ entwickelte Beziehung von Recht und Ge¬ setz. „Was Recht ist, erhält erst damit, daß es zum Gesetz wird, nicht nur die Form seiner Allgemeinheit, sondern seine wahrhafte Bestimmtheit“15; „es muß denkend gewußt wer¬ den, es muß ein System in sich selbst sein, und nur als solches kann es bei gebildeten Nationen gelten“16. Nur das gesetzte Recht ist somit wahrhaft verbindlich. 13 Zu den besonderen Problemen des internationalen Privatrechts findet sich bei Hegel nichts. 14 § 209. 15 R.Phil. § 211. 16 Zus. zu § 211. — Hege|s bekannte Polemik gegen die höhere „Lebendigkeit“ des Gewohnheitsrechts, gegen Savigny und dessen negative Meinung „von dem Beruf unserer Zeit zur Gesetzgebung“ kann hier übergangen werden. Es handelt sich hier nur um die „Form“, in der das Recht als solches gewußt wird, metaphysicher Ge¬ halt und Ursprung desselben kann als „Dasein der Freiheit“ für Hegel ohnehin nicht zweifelhaft sein.

48 Andererseits aber ist die Tatsache, daß ein Satz positiv rechtens ist, kein Grund, daß er im Sinne des in der Rechts¬ philosophie entwickelten Begriffes wirklich (d. i. vernünf¬ tiges) Recht ist. Durch diese Entgegensetzung ist nach Hegel das Verhältnis der positiven Rechtswissenschaft und der Rechtsphilosophie bestimmt: Während jene aus den ge¬ setzlichen Rechtsquellen abzuleiten hat, was rechtens ist — sie „ist insofern eine historische Wissenschaft, welche die Autorität zu ihrem Prinzip hat“17 —, weist diese die Vernunft, die „Natur der Sache“ selbst auf. Darum wird auch die Frage der Rechtsphilosophie nach der Vernünftigkeit des Völker¬ rechts durch die Antwort, daß es tatsächlich angewendet werde, weder bejaht noch verneint. c) Diente auch die Rechtspflege dem formell-allgemeinen Schutz der Besonderheit, so ist dies noch konkreter die Auf¬ gabe der Polizei als der „sichernden Macht des Allgemei¬ nen, welches in der bürgerlichen Gesellschaft enthalten ist“. Ebenso wie die Rechtspflege ist sie Organisationsform der bürgerlichen Gesellschaft, wenn sie auch vom Staat aus unter¬ halten wird18. Eine schrankenlose Ausübung an sich rechtlicher Posi¬ tionen kann zu einer empfindlichen Schädigung des Einzel¬ wohles und auch jenes „formell-allgemeinen“ Interessenkom¬ plexes der bürgerlichen Gesellschaft führen: diese zu ver¬ hindern, fällt in die Vorsorge der Polizei. „Es sind die Sitten, der Geist der übrigen Verfassung, der jedesmalige Zustand, die Gefahr des Augenblicks usf., welche die näheren Bestim¬ mungen geben19.“ Auch der Abschnitt über die Polizei enthält für unser Thema eine besondere Bedeutung. Wir finden hier die grund¬ sätzliche Erkenntnis der internationalen Belange der bürgerlichen Gesellschaft entwickelt, deren Schutz der Polizei — und nicht unmittelbar dem Staat! — anvertraut ist. Auf diese Seite der Polizeiaufgaben haben wir uns hier zu beschränken und finden zunächst, daß für den 17 § 212.

18 Vgl. § 287.

19 § 234.

49 Umstand der „Abhängigkeit großer Industriezweige von aus¬ wärtigen Umständen und entfernten Kombinationen“ eine „allgemeine Vorsorge und Leitung notwendig“ befunden wird. Hiermit wird vor allem die Zollpolitik gemeint sein, die also auch aus dem Gesichtspunkt der „bürgerlichen Ge¬ sellschaft“ bestimmt wird. Ganz offenbar aber bezieht sich diese Stelle nur auf präventive Schutzmaßnahmen für den Fall internationaler Konjunkturschwankungen20 und nicht auf das für den modernen Machtstaatsgedanken21 unentbehrliche Moment der Steigerung internationaler Konkurrenzfähigkeit durch öffentliche Maßnahmen. Wichtiger noch ist die von Hegel erkannte expansive Tendenz der bürgerlichen Gesellschaft, die „innerhalb ihrer selbst in fortschreitender Bevölkerung und Industrie begriffen“ ist. Absatz- und Arbeitsmarkt werden knapp, und es ergeben sich die Spannungen der Überproduktion und Arbeitslosig¬ keit22. Handel und Gewerbe finden in dem Meer „das nach außen sie belebende natürliche Element“. Die immanent not¬ wendige Expansion der bürgerlichen Gesellschaft treibt sie aufs Weltmeer, das Hegel sich in diesem Zusammenhang als ein Bereich unerschöpflicher Möglichkeit zur Lösung der inneren Problematik der Gesellschaft vorstellt23. „Durch diese ihre innere Dialektik wird die bürgerliche Gesellschaft über sich hinausgetrieben, zunächst diese bestimmte Gesellschaft, um außer ihr in andern Völkern, die ihr an den Mitteln, woran sie Überfluß hat, oder überhaupt an Kunstfleiß usf. nachstehen, 20 Es handelt sich darum, „die gefährlichen Zuckungen und die Dauer des Zwischenraumes, in welchem die Kollisionen auf dem Wege bewußtloser Notwendigkeit ausgleichen sollen, abzukürzen und zu mildern“. 21 Der auch u. E. nur einem mißverstandenen Hegel zur Last zu legen ist. z. B. Heller a. a. O. 57 ff. Dagegen Qiese S. 108 ff. (Vgl. auch u. S. 54.) 22 § 245. 23 Einer Erschöpfung der Exportmärkte und der neuen damit entstehenden Welt-Wirtschaftslage ist allerdings noch nicht gedacht. — Vgl. u. S. 51. 6144

Abhandlgn. a. d. Völkerrecht 6: v. Trott za Solz.

4

50 Konsumenten und damit die nötigen Subsistenzmittel zu suchen14.“ Ausfuhr und der aus ihr entstehende wechselseitige Welthandel erscheinen Hegel als ein geradezu unbegrenztes Mittel, „wodurch sie teils einen Teil ihrer Bevölkerung in einem neuen Boden die Rückkehr zum Familienprinzip, teils sich selbst damit einen neuen Bedarf und Feld ihres Arbeits¬ fleißes verschafft“25. Auch Welthandel und Kolonisation fallen unter die Vorsorge der Polizei26 — sie sind nicht Staatszweck. Dieser wird als die allgemeine sittliche Substantialität erst dann in der bürgerlichen Gesellschaft offenbar, wenn sich das Besondere bewußt und gewollt als Allgemeines gestaltet, was in beschränktem Maße schon in der „Korporation“ der Fall ist. Sie ist der Zusammenschluß von Berufsgenossen zur gemeinschaftlichen Verwirklichung der ihrer Betätigung eigen¬ tümlichen Belange. Hier organisiert sich das Besondere selbst zu einem wenn auch beschränkten Allgemeinen. Hegel mißt der Korporation eine besondere Bedeutung als die Sittlichkeit konstituierendes Moment bei; in dieser „bewußten Tätigkeit für einen gemeinsamen Zweck“ sieht er „die Versittlichung des einzeln stehenden Gewerbes und sein Hinaufnehmen in einen Kreis, in dem es Stärke und Ehre gewinnt“27. War die Familienpietät eine erste substantielle, so ist die Standesehre die in der Gesellschaft gegründete zweite „sitt¬ liche Wurzel des Staates“: Indem sie das Individuum zur freien Tätigkeit für ein „Allgemeines“ anhält, vermittelt sie den Übergang zum Begriff des Staates, dessen Thema der Ge¬ danke des umfassendsten an und für sich allgemeinen sitt¬ lichen Zweckes und dessen Wirklichkeit ist. Zuvor ist jedoch das aus der Lehre von der bürgerlichen Gesellschaft für das internationale Problem Gewonnene noch¬ mals zusammenfassend festzustellen: Hegel erkannte durchaus die „über sich hinaus“ drän¬ gende, d. h. internationale Tendenz dieser Sphäre des Ge¬ meinwesens und weist zur Lösung dieser Spannung den Weg 24 § 246.

25 § 248.

26 § 249.

27 Zus. zu § 255.

51 zum Weltmeer. Das eine Grundprinzip des Wirtschaftsver¬ kehrs, die Notwendigkeit des gleichmäßigen rechtlichen Schutzes erkennt er ausdrücklich als über die Grenzen der Na¬ tionalität hin geltend an. Der internationale Privatrechtsver¬ kehr beruht auf dem Rechte des in seiner Besonder¬ heit freien Bürgers, dem Grundprinzip der bür¬ gerlichen Gesellschaft. Hierin wie in der Kolonisations¬ möglichkeit sah Hegel das zur Befriedigung des bezeichneten „expansiven“ Moments der bürgerlichen Gesellschaft Not¬ wendige erschöpft28. Vor allem sahen wir grundsätzlich, daß Hegel den Zu¬ sammenhang von Wirtschaft und Staat in der zugrunde liegen¬ den sittlichen Einheit29 des letzteren bedingt sieht, und daß dies bezüglich der weltwirtschaftlichen Interessen der bürger¬ lichen Gesellschaft dadurch zum Ausdruck kommt, daß deren 28 Hierin liegt zugleich die bestimmte Zeitbedingtheit von Hegels Ansicht. Er sah auch eine internationale Seite des Wirtschaftslebens, aber nicht eine Sachlage, in der die Mehrzahl der gesellschaftlichen Bedürfnisse und dementsprechend Berufszweige unmittelbar von der internationalen Konjunktur abhängt. Diese Ausweitung der wirtschaft¬ lichen Lebensbasis der Gesellschaft begann vor seinen Augen einzu¬ setzen und doch konnte er noch jenen „formell-allgemeinen“ Inter¬ essenkomplex als ein vom Staate — als „vornehmlich sich in sich be¬ friedigendem Ganzen“ -— umfaßtes und beherrschtes „Moment“ an¬ nehmen.

Gerade dadurch aber, daß das

„Vermögen“

der bürger¬

lichen Gesellschaft an Arbeits- und Verdienstmöglichkeit nicht mehr national, sondern international bedingt ist, ist das „internationale Pro¬ blem“ heute weitgehend zur Existenzfrage geworden. — So hat Hegel mit diesem Rückschlag der internationalen Expansion und der daraus folgenden Umwandlung

der weltwirtschaftlichen Problemlage

auch

nicht deren Konsequenzen für das Verhältnis der Staaten realisieren können.

Dies

wird sich bei der

rechts“ bewahrheiten.

Die

auf

Darstellung dem

des „äußeren Staats¬

wirtschaftlichen Ge¬

biete vollzogenen, tiefgreifenden Umwälzungen sind der

entscheidende Einwand gegen Versuche, die Re¬

sultate der Hegelschen Lehre unmittelbar auf gegen¬ wärtige Zustände anwenden zu wollen. 29 Vgl. den Anfang dieses Kapitels: Die bürgerliche Gesellschaft (Wirtschaft) ist nur als Moment des Staates denkbar.

4*

52 freie Selbstgestaltung zwar gewährt ist, sie in ihrer Besonder¬ heit aber keineswegs „Staatszweck“ sind, vielmehr ihre höhere Leitung einem Organ der gesellschaftlichen Sphäre selbst, der Polizei anvertraut ist. Nicht in der weltwirtschaftlichen Lei¬ stungsfähigkeit, sondern in der durch ihn zu organischer To¬ talität vollendeten Sittlichkeit eines Volkslebens sah Hegel „die Macht“ des Staates verankert30. Es war somit klar, daß nicht schon in der Sphäre der bürgerlichen Gesellschaft an die rechtsphilosophische Er¬ fassung des internationalen Problems, soweit es über die privatrechtlichen Interessen hinaus das Verhältnis der Staaten selbst zueinander betrifft, gedacht werden konnte31. Diese Sphäre war von Anfang an in ihrem bedingten Verhältnis zu der übergreifenden Einheit des Staatsganzen aufzufassen. Schon am Ende der dialektischen Auflösung der Familien¬ sittlichkeit in die Besonderheit der bürgerlichen Gesellschaft hatte sich in dieser selbst eine Organisation des Allgemeinen, wenn auch in dem beschränkten Umfange der Korporation, angebahnt. Durch diesen Übergang32 vermittelt sich in dem Begriff die Subjektivität eines Allgemeinen, von dem aus nun¬ mehr zwar alle bisherige Besonderheit in ihrer Freiheit be¬ lassen, aber zugleich in die „übergreifende“ Sinneinheit des Staatsganzen aufgehoben wird.

5. Kapitel. Die Staatsidee. Aus der dialektischen Selbstentfaltung der sittlichen Substanz ergibt sich in ihrer konkreten Gestaltung die Not¬ wendigkeit einer alle Besonderungen der bürgerlichen Gesell¬ schaft umfassenden allgemeinen Willens- und Bewußtseins¬ einheit, und diese sucht Hegel nun im „Staat“ zu begreifen. Im Zusammenhang der Selbstentfaltung der Freiheits¬ idee in ihren jeweiligen Erscheinungsformen ist hier die voll30 Vgl. hierzu Teil II, S. 129. 31 Siehe Vogel, Hegels Gesellschaftsbegriff, S. 102. 32 Im Kapitel 6 setzt die Darstellung an diesem Punkt der kon¬ kreten dialektischen Begriffsentwicklung wieder ein.

53 kommene Darstellung jenes zu Beginn noch abstrakten Prin¬ zips vollendet, dessen Wahrheit sich recht eigentlich erst in diesem Resultat bewährt. Im Staat kommt die Idee des all¬ gemeinen freien Willens zu erscheinendem Dasein; ihre in der sittlichen Substanz erreichte konkret-allgemeine Grund¬ legung wird auf dieser Stufe des dialektischen Progresses als selbstbewußte Wirklichkeitsgestaltung begriffen: „Der Staat ist die Wirklichkeit der sittlichen Idee — der sittliche Geist als der offenbare sich selbst deutliche substan¬ tielle Wille, der sich denkt und weiß und das, was er weiß und insofern er es weiß, vollführt1.“ I. Der Staat als die Wirklichkeit der Idee.

Ehe wir uns den aus diesem Staatsbegriff gezogenen tief¬ greifenden Folgerungen, die insbesondere auch unsere Frage¬ stellung angehen, zuwenden können, müssen wir suchen, ihn möglichst eindringlich in seiner umfassenden Bedeutsamkeit einzusehen. Nur durch prinzipielle Rückerinnerung an die spekulative Grundbestimmung der „Idee“, in sich zugleich Substanz und Subjektivität, lebendiges Dasein und dasselbe einheitlich be¬ herrschender Begriff zu sein, kann diese von aller gewöhn¬ lichen Staatsauffassung so durchgreifend abweichende Kon¬ zeption des Staates festgehalten werden. Nur wenn es gelingt, sich aller Vorstellung des Staates als einer Überbaukonstruk¬ tion, eines Zweck- oder Notinstituts oder zwischen Menschen abgeschlossenen Vertrages radikal zu entschlagen, und man statt dessen den Staat als die alle Fasern objektiv-geistiger Tätigkeit „aufhebende“ und sie zugleich mit einer allumfas¬ senden subjektiven Willenseinheit beseelende existierende „Idee“ faßt, vermag man die systematische Bedeutsamkeit richtig zu erfassen, die Hegel dieser Bestimmung allen voran¬ gegangenen und folgenden gegenüber zumißt. Ihr Material nämlich hat dieses „Dasein der Idee“ in all den bisher entwickelten Freiheitsbestimmungen und gewährt diesen erst den realen Boden, auf dem sich ihre besondere 1 § 257.

54 Existenz entfalten und erhalten kann2. Als existierende Idee der Freiheit bildet der Staat logischerweise die substantielle Grundlage aller vorangegangenen Willensgestaltungen. Ihre umfassende Totalität kommt ebenso im selbstbewußt-mensch¬ lichen Tun als in der objektiv-notwendigen Freiheitsordnung zur Existenz3. Indem alles subjektive Streben nach dem objektiven SichWissen und Wollen der Freiheit erst in dieser Willenseinheit zu sinngemäßer Erfüllung kommt, bedeutet der Staat das lebendige Werk aller Momente geistigen Tuns, sei dieses nun rechtlicher, moralischer, wirtschaftlicher, sozialer, wissen¬ schaftlicher oder religiöser Art. Die tätige Versöhnung des subjektiven Bewußtseins mit diesem ihm tiefstens zugrunde liegenden vernünftigen Zweck macht in seiner zusammen¬ gefaßten Einheit4 die Wirklichkeit der Idee im Staate, die Subjektivität der Substanz des in allen seinen Bestimmungen zu konkretem Dasein entwickelten freien Willens aus. Das subjektive Geistesleben findet im „Staat“ die freie und vollständige Vereinigung mit der objektiven geistigen Wirklichkeit, mit dem „absoluten Zweck der Vernunft, daß die Freiheit wirklich sei“5. — „Die objektive Existenz dieser Vereinigung ist der Staat, welcher somit die Grundlage und der Mittelpunkt der anderen konkreten Seiten des Volkslebens ist, der Kunst, des Rechts, der Sitten, der Religion, der Wissenschaft6.“ Die Tragweite dieser mit dem Geist überhaupt sich iden¬ tifizierenden Konzeption des Staates hat neuerdings besonders Giese dargestellt und gegen die bekannte polemische Be¬ urteilung von Hegels „Staatsvergötterung“ und „Machtstaats¬ gedanken“ verwahrt7. Gegenüber solchen abgelösten Be¬ trachtungsweisen war es notwendig, die durchgehende Im¬ manenz des Geistbegriffes hervorzuheben, wie er sich für 2 Vgl. § 256, Anm. 3 § 257. 4 Die dann in der Staatsverfassung politisch organisiert ist, vgl. u. S. 69. 5 Zus. zu § 258. 6 O.Phil. S. 89. 7 a.a.O. S. 110 ff.

55

Hegel in Staatsmacht, Volksgeist und Weltgeist8, anderer¬ seits aber auch in der Einzelseele manifestiert. „Ist doch das Allgemeine zugleich das Allerindividuellste, das das Ein¬ zelne gerade zu einem Besonderen, Eigentümlichen macht, es ist das Göttliche, das in dieser Gestalt erscheint9.“ Es ist leicht einzusehen, wie schweren Mißverständnissen diese philosophische Fassung des Ausdruckes „Staat“ aus¬ gesetzt sein mußte. Hegel sagt selbst10: „Diese Benennung ist dadurch der Zweideutigkeit ausgesetzt, daß man mit Staat und Staatsrecht im Unterschied von Religion, Wissenschaft und Kunst gewöhnlich nur die politische Seite bezeichnet. Hier aber ist der Staat in einem umfassenderen Sinne genommen, so wir auch den Ausdruck Reich gebrauchen, wo wir die Er¬ scheinung des Geistigen meinen.“ Seine zentrale und um¬ fassende Stellung in dem System geistiger Werte ist nur ein¬ zusehen aus der dialektischen Entfaltung des allgemeinen freien Willens zur Mannigfaltigkeit der ihm eigentümlichen Bestimmungen, der unsere Darstellung zu folgen hatte, und der diese in ihrer Gesamtheit in sich zusammennehmenden, nunmehr aber zugleich konkret wirklichen Idee der Freiheit. Jede abstrakte Betrachtung des Resultates ohne die in ihm „aufgehobene“ Fülle von näherer Bestimmung des geistigen und rechtlichen Lebens muß zu dem Eindruck der Monstrosi¬ tät führen, der dann dem Ernst und dem umfassenden Sinn dieser Konzeption nicht gerecht werden kann. Als die existierende Totalität aller objektiven Werte und des sich in ihnen aktualisierenden objektiven Lebens des Geistes ließe sich naturgemäß die Staatsidee in die mannig¬ faltigsten Zusammenhänge hinein verfolgen* 11. Obwohl im zweiten Teil dieser Abhandlung von einer anderen Seite aus und ausführlicher auf den systematischen 8 Vgl. u. S. 135. 9 a. a.O. S. 111. 10 G.Phil. (ed. Lasson) S. 93. 11 Als solche behält sie auch ihre Bedeutung für die Sphären des absoluten Geistes. Vgl. G.Phil. S. 89/99 und die bei Hegel immer wiederkehrende Diskussion des Verhältnisses von Kirche und Staat R.Phil. § 270, Enz. § 552.

56 Orundbezug, den der „Staat“ im Zusammenhang der mora¬ lischen und sittlichen Bestimmungen hat, eingegangen wird, können wir schon aus dem hier Entwickelten auf seinen we¬ sentlichen Charakter schließen. Wir sahen, daß die Moralität aus sich notwendig zur „sittlichen Substanz“ herüberführte12; erst in der Identität des subjektiven Gewissens mit diesem ob¬ jektiven Inhalt wurde seine Problematik in den Bereich objek¬ tiver Wirklichkeit hinübergeführt. Dieser mit der sittlichen Substanz konstatierte Inhalt hat aber seine vollständige Ent¬ faltung und Bestimmung im Staat gefunden. Die inner¬ liche Beziehung des Einzelnen zum Staat hat also ebenfalls einen endgültigen ethischen Charak¬ ter — der Staat ist die sittliche Substanz des individuellen Handelns, und indem der Staat die folgerichtige Realisation des Sittlichkeitsbegriffs darstellt, ist nach ihm zu handeln höchste Pflicht und Tugend, zugleich aber wahrhafte Selbst¬ befreiung des Staatsbürgers. So ist diese immanente Einheit des Staates mit dem sitt¬ lichen Einzelbewußtsein Hegels endgültig abschließende Antwort auf die sich ergebende ethische Frage nach dem Wert subjektiver Handlungen13. II. Die Bedeutung der Staatsidee für die internationale Sphäre14.

Die im Staat zur objektiven Existenz kommende Totalität der rechtlichen und geistigen Werte hat aber noch eine wei¬ tere umfassende systematische Bedeutung. Schon aus dem bisher Gesagten geht hervor, daß die Staatsidee zunächst nicht nur an bestimmte Lebensverhältnisse geknüpft ist, sondern eine prinzipielle Lösung des Problems geistig-gemein¬ schaftlicher Lebensgestaltung aus der in sich notwendigen 12 Vgl. o. S. 39. 13 Vgl. hierzu den zweiten Teil unserer Darstellung. 14 Diese Bezeichnung, die sich bei Hegel ebensowenig wie über¬ haupt das Wort „international“ findet, ist für die hier darzustellende Problemebene provisorisch gebraucht, da sich erst am Ende unserer Untersuchung ihre unmittelbare Identität mit der welthistorischen Er¬ scheinungsebene heraussteilen wird.

57 Gliederung des Freiheitsbegriffs darstellt. So werden wir es begreifen, daß sie über ihre konkrete Ausgestaltung in einem unmittelbar daseienden Staatskörper, über ein bestimmtes Volk hinaus, ewige Gültigkeit besitzt; und dies hat für die Fragestellung unseres Themas eindringlichste Bedeutung. „Der Staat ist der Geist, der in der Welt steht“, und es ist notwendig, hierin zunächst die unbedingte und unter den ver¬ schiedensten praktischen Verhältnissen gültige Vollendung jener Entwicklung der Bestimmungen des freien Willens zu sehen. „Staat“ ist geistige Wirklichkeit, die in sich selbst als Idee und erst später nach dem Grade ihrer unmittelbaren Realisierung in einem individuellen Zustand zu fassen ist. „Bei der Idee des Staates muß man nicht besondere Staaten vor Augen haben, nicht besondere Institutionen, man muß vielmehr die Idee, diesen wirklichen Gott für sich betrachten15.“ Von hier aus erst sehen wir es ein, daß in der Staats¬ idee auch noch weiter gefaßte Sphären der geistigen Wirklich¬ keit als lediglich die des einzelnen Gemeinwesens zusammen¬ laufen, und diese Einsicht ist für den weiteren Verfolg unseres Themas grundlegend wichtig. Prägen wir uns die von Hegel seinen weiteren Entwick¬ lungen zunächst nur programmatisch vorangestellte Ein¬ teilung dieser objektiven Sphären ein: „Die Idee des Staates hat: a) unmittelbare Wirklichkeit und ist der individuelle Staat als sich auf sich beziehender Organismus — Ver¬ fassung oder inneres Staatsrecht; b) geht sie in das Verhältnis des einzelnen Staates zu anderen Staaten über — äußeres Staatsrecht; c) ist sie die allgemeine Idee als Gattung und absolute Macht gegen die individuellen Staaten, der Geist, der sich im Prozesse der Weltgeschichte seine Wirklichkeit gibt16.“ Versuchen wir, den dieser Einteilung zugrunde liegen¬ den systematischen Zusammenhang — in ihm ist auch die 15 Zu § 258.

16 § 259.

58 Sphäre des uns besonders angehenden „äußeren Staatsrechts“ eingeschlossen — schon hier17 prinzipiell zu klären. Denn nur so wird es sich als möglich erweisen, Hegels Stellungnahme zum Völkerrecht unverwirrt mit fremden Zusammenhängen klar aus ihren philosophischen Voraussetzungen herauszu¬ schälen, worauf es uns vor allem ankommt. Die Staatsidee erscheint in dieser Einteilung zunächst als individueller in sich selbständiger Staat, endlich als be¬ sonderer durch den allgemeinen Geist der Weltgeschichte bestimmter. „Die Individualität ist von der Besonderheit zu unterscheiden; sie ist Moment des Staates selbst, während die Besonderheit der Geschichte angehört18.“ Hier gilt es, von vornherein die Vertiefung des dialek¬ tischen Fortganges um eine weitere Dimension zu erfassen: Die durch die Entwicklung des Begriffs im Staat heraus¬ gebildete Totalität aller Freiheitsbestimmungen ist selbst als besonderes Glied eines umfassenderen all¬ gemeinen Zusammenhanges — nämlich der Welt¬ geschichte — zu begreifen. Dabei ist die im konkreten Staate zur Ausprägung gelangende Idee das zugleich diesem weiteren Zusammenhänge immanente Prinzip. Über ihre konkrete Realisation im einzelnen individuellen Staate hinaus hat die Idee die Bedeutung eines der Geschichte zugrunde liegenden universalen Sinnprinzips. Dieser in der Weltgeschichte sich entfaltende Sinn-Kern wird aber realisiert von einzelnen 17 An sich ermöglicht der assertorische Charakter einer jeden Einteilung, deren Richtigkeit sich erst in der dialektischen Entwicklung des sich gliedernden Inhaltes zu erweisen hat (vgl. R.Phil. § 33), zu¬ nächst nur eine Aussicht auf den Gang der dialektischen Problem¬ bewältigung, nicht die Einsicht in deren inhaltliche Struktur selbst, die hier erst schematisch erscheint. 18 Zus. zu § 259. — Dieser aus den Vorlesungen Hegels von Gans wiedergegebene Zusatz bildet m. E. keinen vollständigen Kommentar zu dem oben zitierten § 259, indem hier nicht klar genug zum Aus¬ druck kommt, daß nach Hegels Ansicht die Geschichte nicht als neu¬ trale Instanz über den Staaten steht, sondern in diesen die Dar¬ stellungen des sie beseelenden allgemeinen Geistes findet.

59 Staaten; nur in deren konkreter Wirklichkeitsgestaltung kommt er zu objektiver Existenz, nur im Staat treibt diese ewig gleiche Wurzel des Weltsinnes ihre mehr oder weniger vollkommene Blüte19. Zugleich aber ist der „Weltgeist“ die „absolute Macht“ gegen die individuellen Staaten, deren Loslösung von diesem höchsten Sinn ihre Vernichtung bedeutet — die Welt¬ geschichte ist zugleich Weltgericht staatlichen Wertes20. — Diese Zusammenhänge gilt es nun des näheren zu begreifen. a) Der Übergang der Staats - in die Geschichts¬ philosophie. Während die Staatsphilosophie wesentlich die „Individualität“ und die sie konstituierende Struktur des ein¬ zelnen Staates, in dem die Idee Wirklichkeit gewinnt, ent¬ wickelt, wird in der Qeschichtsphilosophie der Staat als „Besonderheit“ jenes höheren Zusammenhanges begriffen. „Das Verhältnis des einzelnen Staates zu anderen Staa¬ ten“21 findet als Zwischenstufe dieses Überganges seine syste¬ matisch^ Behandlung. Es bedarf deshalb zur Klärung des Fortganges der Darstellung einer prinzipiellen Entscheidung, wie sich dieses unser Problem zu der Staats- und andererseits zur Geschichtsphilosophie verhält22. Dabei haben wir im Auge 19 Dies hat auch Giese im Sinn, wenn er (a. a. O. S. 95,105) mit Recht vor einer transzendenten Interpretation des Hegelschen Welt¬ geistes warnt. Nach seiner Stellung im System muß er als die Idee in ihrer empirisch-zeitlichen Entwicklung begriffen werden, als die sie ganz in die Totalität der wesentlichen weltgeschichtlichen Erschei¬ nungen aufgeht. Daß diese für Hegel in der Wirklichkeit des Staates liegen, bildet, wie weiter ausgeführt wird, den vitalen Beziehungspimkt zwischen Staats- und Geschichtsphilosophie. Hat man dies einmal be¬ griffen, so wird die Schwierigkeit mit den andersartigen Kategorien der Geschichtsphilosophie weitgehend zu einer terminologischen. 20 § 340. 21 Vgl. Abteilung b der auf S.57 zitierten Einteilung: § 259. 22 Bei dieser grundsätzlichen Orientierung haben wir dem in der Rechtsphilosophie entwickelten dialektischen Fortgang also vor¬ zugreifen.

60 zu behalten, daß unser besonderes Interesse für die anschei¬ nend „zwischen“ beiden liegende Sphäre des internationalen Rechts uns nicht zu einer isolierenden Betrachtung dieser nur aus dem dialektischen Übergang des Begriffs richtig zu fassen¬ den Materie verleiten darf. Dennoch ergibt eine nähere Prüfung der hier ineinander greifenden Stufen des Begriffs, daß wir die Geschichtsphilo¬ sophie als wissenschaftliches Gebiet für die Klarstellung der speziellen Grundlagen des Völkerrechts in der dialektischen Entwicklung des Freiheitsbegriffs, auf die hin unsere ganze Untersuchung angelegt ist, auszuscheiden haben. Diese Notwendigkeit begründet sich aus folgendem: He¬ gel begreift einerseits, wie wir in der vorangegangenen Dar¬ stellung zu zeigen versuchten, den Staat als objektive Selbst¬ realisation der Idee, wie sie notwendig aus der dialektischen Entfaltung des Willensbegriffs zum System seiner konkreten Daseinsformen folgt. Andererseits ergibt sich aus seiner — den Geist als den Urgrund allen Seins und Geschehens fassenden—Weltansicht ebenso notwendig eine Grundanschauung der Weltgeschichte, die fordert, daß auch die empirisch-zeitliche Entwicklung aus dem Kernprinzip der Idee zu interpretieren ist: Die Kämpfe der Völker und die Taten Einzelner in der Weltgeschichte haben für ihn ebenfalls die Verwirklichung dieses metaphy¬ sischen Sinnes zu ihrer immanenten Bestimmung. „Das Bewußtsein des Geistes von seiner Freiheit“, das sich, wie wir sahen, zu objektiver Totalität im Staat verwirk¬ licht, ist zugleich das durchgängige Ziel aller historischen Entwicklung. „Dieser Endzweck ist das, worauf in der Weltgeschichte hingearbeitet worden, dem alle Opfer auf dem weiten Altar der Erde und in dem Verlauf der langen Zeit gebracht worden. Dieser ist es allein, der sich durchführt und vollbringt, das allein Ständige in dem Wechsel aller Be¬ gebenheiten und Zustände, sowie das wahrhaft Wirksame in ihnen23.“ Hieraus begreifen wir, warum die im Staat realiM G.Phil. S. 54.

61 sierte Idee Thema und Abschluß der Staats- sowohl als der Geschichtsphilosophie bildet. Und doch bereitet die Erfassung des systematischen Überganges der einen in die andere eine erhebliche Schwierigkeit. Sie beruht darauf, daß der als Daseinsgestalt des Geistes in seiner inneren begrifflichen Notwendigkeit deduzierte Staat nunmehr zum „Moment“ wird in der weltgeschichtlichen Be¬ wegung und Entwicklung, die in ihrer Totalität ebenfalls als Manifestation des Geistes gefaßt wird. Ein neuer Rhyth¬ mus scheint den Begriff in diesem wissenschaftlichen Fortgang zu bestimmen; während es bisher ein allgemeingültiger Inhalt war, der nach der Notwendigkeit seiner dialektischen Ent¬ faltung und in seinem Sichordnen zu prinzipiellen Zusammen¬ hängen verfolgt wurde, erscheint hier zugleich das empirisch¬ zeitliche Geschehen den Fortgang des Begriffs zu bestimmen. Die logische Notwendigkeit umfaßt hier zugleich diejenige der realen Ereignisse und ihrer Entwicklung24. In der Tat scheinen wir hiermit in einen „neuen“ systematischen Zu¬ sammenhang einzutreten, scheint die wissenschaftliche Pro¬ blemrichtung sich von Grund auf umgewendet zu haben. Die Orientierung über diesen Umschwung in der Thema¬ stellung können wir nur durch Rückerinnerung an die Grund¬ lagen des Systems und an die, wie gezeigt wurde25, allen wissenschaftlichen Fortgang dominierende Bewegung des „Be¬ griffs“ finden. Nur so gelingt es, aus diesem philosophischen Übergang die unser Problem enthaltende Sphäre der zwischen¬ staatlichen Beziehung nach den Grundlagen ihrer wissen¬ schaftlichen Behandlung durch Hegel klarzulegen. Nachdem wir eingesehen haben, wie auch die Weltgeschichte ihre not¬ wendige Stelle im System des absoluten Geistes hat, gilt es jetzt hier für uns, diese Stelle aus der Kontinuität des dialek24 Die inhaltliche Durchführung der Freiheitsidee in der Philo¬ sophie der Geschichte ist absichtlich nicht in ihren Einzelheiten er¬ wähnt, um die Darstellung nicht mit ihr, wie sich herausstellen wird, in der Thematik fremdem Material zu belasten. 25 Vgl. o. S. 23.

62 tischen Begriffs zu erfassen, um dann zu sehen, ob der für uns zur Frage gestellte wissenschaftliche Gegenstand noch diesseits oder aber jenseits des begrifflichen Überganges in die Philosophie der Geschichte liegt. Zunächst erweist es sich, daß die dialektische Entwick¬ lung hier keineswegs abbricht, sondern im notwendigen Ver¬ folg jenes eben herangezogenen, systematischen Grundthemas lediglich in eine „tiefere Dimension“ zurückgeht: Aus derGesamtheit der einzelnen erscheinenden Momente der Idee der Freiheit hat sich als deren notwendige, konkrete Totalität die Staatsidee ergeben. Weiter erweist sich diese Idee als in kon¬ kreten Staaten wirklich existierend, so daß sie an deren Or¬ ganisation und allgemeinem Zustand in ihrem Wirken auf¬ gewiesen werden kann. In der Gestalt des „Staates“ ist also die objektive Ver¬ wirklichungsmöglichkeit der Idee vollendet; hier ist sie als wahrer Sinn allen wirklichen Geschehens begriffen, und diese Vollendung ihres objektiven Daseins und damit sie selbst kann nun als das Endziel des vergangenen geschichtlichen Ab¬ laufes und dessen Phasen nunmehr als das immer offenere sich Herausbilden dieses Prinzips gefaßt werden26. Damit aber ist der „Begriff“, der ja das nachschaffende Subjekt der hier betrachteten objektiven Gestalten der Idee ist, nicht nur zu einer umfassenderen Totalität des Inhaltes, sondern zu etwas anderem in einem für uns höchst wich¬ tigen Sinne „übergegangen“. Zur „geistigen Wirklichkeit in ihrem ganzen Umfang von Innerlichkeit und Äußerlichkeit“27 ausgeweitet, erfaßt der Begriff dieses weite Feld der Welt¬ geschichte in seiner Zielbezogenheit auf die Freiheitsidee. Der 26 Nachdem der „Begriff“ in der Bewältigung auch dieses, nun¬ mehr geschichtsphilosophischen, Inhaltes sich als Sinn und Endzweck alles Geschehens hervorgebracht hat, kann er dann weiter in den Regionen des absoluten Geistes zu reinem Bei-sich-sein und damit zu der ursprünglichen Gestalt der absoluten Idee zurückkehren, nun auch den Staat und seine objektiven Funktionen unter sich lassend. Vgl. Kap. 1, Ende. 27

§

341.

63 ganze Umfang des objektiven Geistes und damit auch die in ihrer logisch-systematischen Bedeutung von uns entwickelten Momente, der Rechts- und Sozialinstitutionen mit samt ihrer Totalität, dem Staat, werden von der Seite ihres empirisch¬ zeitlichen Geschehens in die Weltgeschichte einbezogen, „auf¬ gehoben“. Hierin liegt nun der zentrale Unterschied der geschichts¬ philosophischen Aufgabe des Begriffs von der staatsphiloso¬ phischen: In jener wird die gegenwärtig erreichte Vollendung des objektiven Geistes im Staate nach ihrer zeitlich geschicht¬ lichen Entwicklung rückschauend ausgebreitet und erklärt, ln der Staatsphilosophie wird ebenfalls diese erreichte gegen¬ wärtige Gestalt der Idee aber nach der prinzipiellen aus dem Begriff des freien Willens logisch folgenden Notwendigkeit der Entfaltung ihrer Momente deduziert. Während dort die geschichtliche Entwicklung in ihrem notwendigen Hindrängen auf die völlige Verwirklichung des Freiheitsbewußtseins im Staat philosophisch begriffen wird, wird hier diese Verwirk¬ lichung nach der notwendigen Gliederung des Willensbegrif¬ fesinseine unterschiedenen Daseinsbestimmungen dargestellt. In diesem grundlegend verschieden ausgestalteten Sinne bil¬ det die Staatsidee das beiden Begriffssphären gemeinsame Thema. Schon hieraus ergibt sich nun, in welchem Sinne die Philosophie der Geschichte für die Lösung unseres Pro¬ blems auszuscheiden hat. Die philosophische Aufgabe nämlich, nachzuweisen, wie die Idee der Freiheit die gesamte weltgeschichtliche Entwick¬ lung bis zu dieser Zeit bestimmt, in der sich endlich das „Be¬ wußtsein der Freiheit“ zur objektiven Wirklichkeit heraus¬ gebildet hat, ist aus dem Rahmen einer Fragestellung auszu¬ schließen, die nun nachweisen soll, wie aus der Struktur dieses Staates heraus dessen Beziehungen zu ebensolchen Staaten folgen. Denn der aus dem Begriff des freien Willens entwickelte Staat hat als solcher schon jenes Prinzip zur Voraussetzung, das in der philoso-

64 phisch

betrachteten

weltgeschichtlichen

Ent¬

wicklung als Ergebnis erscheint. Und eben weil die¬ ser Staat selbst eine konsequente Darstellung dieses Ergeb¬ nisses ist, fällt die gesamte Problematik der Geschichtsphilo¬ sophie, soweit sie Interpretation und Erinnerung früherer ge¬ schichtlicher Gestaltungen ist, aus dem Rahmen der vorliegen¬ den Fragestellung heraus, die, was das empirisch-zeitliche an¬ betrifft, mit dem völligen Bewußtwerden der Freiheit im Staate einsetzt und seine aus dem Freiheitsbegriff folgende objektiv notwendige Gliederung und deren Konsequenz für das zwischenstaatliche Verhältnis darstellen soll. b) Der sittliche Staatswille als das Prinzip derweltgeschichtlichen Bewegung. Damit ist aber der in der Staatsphilosophie entwickelte Staat nicht aus der Bewegung des Weltgeschehens herausgelöst. Wenn wir den philosophischen Nachweis der bisher abgelaufenen Entwicklung und ihre Sinnbeziehung auf die Freiheitsidee von unserer Untersuchung der staatlichen Probleme ausschließen, so darf deshalb nicht ver¬ kannt werden, daß dieser gegenwärtige Staat der Freiheit gerade durch jene geschichtsphilosophisch erweiterte Be¬ griffshaltung zugleich in seiner welthistorischen Entwicklungs¬ bedingtheit und Bewegtheit erfaßt wird. Nach dieser Seite bleibt die Weltgeschichte auch für unseren Fragenzusammen¬ hang von erheblicher Wichtigkeit. Wenn auch der „Begriff“ in der Geschichtsphilosophie von der Höhe der im Staat realisierten Idee einerseits in sich zurückgehend die Gesamtheit des historischen Werdens als seine eigene mehr und weniger vollkommene Gestalt „er¬ innert“, so konstatiert er doch andererseits die Staatsidee als die substantielle Bestimmung der Weltgeschichte, nach deren ewig gültigem Prinzip sich die große Bewegtheit des geschicht¬ lichen Lebens auch weiterhin bestimmt. Als lebendiger Träger dieser Bewegung begreift Hegel den einzelnen Staat; von dem Grade der in ihm vollbrachten

65 Verwirklichung der ewig und universal geltenden Idee hängt sein Wert und Unwert, Erfolg oder Unglück ab. Den abso¬ luten Vernunftzweck im lebendigen Wirken in sich bergend lebt der Staat nach dem Rechte des Weltgeistes28. Ebenso¬ wenig wie die dauernde tätige Hervorbringung des geistigen Daseins im Staate je zur Ruhe kommen wird oder darf, führt die Erkenntnis der Idee als der in der Weltgeschichte wirk¬ samen „Gattung“ zu der Heraufkunft eines ewigen Friedens¬ reiches. Die Bewegung der Völker mag noch zu großen Um¬ gestaltungen führen, Staaten können vergehen, neue ent¬ stehen, aber die Zukunftsgestaltung ist nicht die Aufgabe der Philosophie, die „ihre Zeit in Gedanken faßt“29. Nachdem sie in der wirklichen Welt die Vernunft aufgewiesen hat, muß sie von ihr zurücktreten und ihre Veränderung wiederum der im Wollen lebendig wirksamen Vernunft überlassen, deren Gründe tiefer liegen als ein von der Theorie vorgezeichnetes „Sollen“30. Deswegen hören Hegels geschichtsphilosophische Be¬ trachtungen mit dem gegenwärtigen politischen Zustand auf, der, wie aus dem oben Gesagten hervorgeht, unter dem Zei¬ chen der vollends bewußt gewordenen Freiheitsidee steht, die nun in den Staaten der christlich-germanischen Welt mehr oder weniger realisiert ist31. Die Vorlesungen über die Philo¬ sophie der Geschichte schließen mit einer Beschreibung der Staatenbildungen nach der französischen Revolution und ent¬ halten auch sonst keinen Hinweis32 auf eine Gestaltung des 28 Vgl. Zus. zu § 33 a. E.\ 3° Hegels Abneigung gegen

29 R.Phil. S. 15/17. die Unwirklichkeit des

bloßen

Sollens zeigt sich vor allem an dieser mit der Gegenwart gezogenen Grenze philosophischer Wirklichkeitserklärung. — Vgl. auch Enz. § 6. 31 Aus dem ganzen, hier zugrunde gelegten, dritten Abschnitt der R.Phil. geht hervor, daß Hegel keineswegs an

das

ausschließliche

Lebendigsein der Idee in einem einzigen Staat gedacht hat. Vgl. vor allem Zus. zu §§ 258, 339. 32 Der für unser Problem auffallende Satz: „Die Völker wollen das Recht an und für sich; nicht bloß die Traktate gelten, sondern zu¬ gleich Grundsätze machen den Inhalt der Diplomatik aus“ (G.Phil. 6144

Abhandlgn. a. d Völkerrecht 6: v. Trott zu Solz.

5

66 internationalen Zustandes zwischen den Völkern dieser — im Sinne der Bewußtwerdung des geistigen Prinzips — letzten Weltepoche, als deren Träger auch der von ihm in seiner Rechtsphilosophie entwickelte „Staat“ aufzufassen ist. Die lebendige historische Bewegung aber geht weiter, wenn auch die Philosophie sich nach dem Begriff ihrer gegen¬ wärtigen Gestalten und deren Beziehung auf die alles regie¬ rende Idee von dem objektiv-daseienden Geist abwendet und im absoluten „in-sich“ geht. Steht also auch die Idee des Staates am Ende der welt¬ geschichtlichen Entwicklung und nunmehr als das lebens¬ spendende und richtende Prinzip des weiteren Geschehens fest, so ist doch der konkrete individuelle Staat der geschicht¬ lichen Bewegung, den daraus entstehenden Konflikten und der Verantwortung seiner Selbstbehauptung in ihnen nicht ent¬ zogen. Ihm, als der in der objektiven Existenz am Werk be¬ findlichen Daseinsform der Idee, dem im Staat leben¬ digen Freiheitswillen bleibt die reale Wirklichkeits¬ gestaltung überlassen. Die geschichtliche Bewegung, in die der Staat ein¬ gespannt ist, ist die seiner eigenen Gestaltung übertragene Gegenwart und Zukunft, die nicht nach theoretisch faßbaren Gesetzen abläuft, sondern aus der in seiner Sachwalterschaft wirkenden Idee und deren Initiativkraft geformt wird. Ent¬ weder ergreift er seine Schicksalsführung aus dem Bewußtsein der in ihm wirklichen Idee und sucht in sich die vernünftige Substanz immer vollendeter auszuprägen oder er verfällt dem Gericht der Weltgeschichte, wird in diesem absoluten Sinn „rechtlos“33: Nach dem unwandelbaren Recht des Weltgeistes, des zeitlos geltenden Freiheitsprinzips, bestimmt sich die weltgeschichtliche Position des einzelnen Staates; sie ist nicht dessen unmittelbares Werk, sondern die notwendige Folge des durch seine Selbstgestaltung in ihm wirksam werdenden S. 441) — geht auch auf den Zweck der Staatsbildung, nicht auf das zwischenstaatliche Verhältnis. 33 Vgl. § 347.

67 all-einigen Prinzips derWelt. Der sittliche Staatswille bleibt auch für die geschichtliche Bewegung das fundamentale und einzige Prinzip. Weil in dem sittlichen Willen der einzelnen Staaten zu¬ gleich der Sinn der weltgeschichtlichen Bewegung beschlossen liegt, kann auch ihr gegenseitiges Verhältnis von keiner an¬ deren Instanz als der in ihnen selbst zu substantieller Sub¬ jektivität entfalteten Freiheitsidee abhängen. Wenn wir nun im folgenden zu dem dialektischen Gang der Entfaltung der Staatsidee im konkret-individuellen Staate zurückkehren und weiterhin mit der Stufe des „äußeren Staatsrechts“ und der in ihm enthaltenen Bewahrheitung dieser Feststellung ab¬ schließen, so haben wir also eines vorweggenommen, nämlich das Wissen von der Einordnung des „besonderen“ Staates in die Gesamtrealität der Weltgeschichte. Es war aber not¬ wendig, festzustellen, inwiefern für die Lösung unseres Pro¬ blems der geschichts-philosophische Zusammenhang außer Betracht zu bleiben hat. Dabei ergab sich denn, daß in dem von der Staatsphilosophie nach seiner allgemeinen Substanz zu entwickelnden konkreten Staatswillen zugleich das be¬ wegende Prinzip alles überstaatlichen, d. h. weltgeschicht¬ lichen Geschehens selbst wirksam ist, so daß für Hegel mit der Erkenntnis seiner inneren Struktur zugleich die prinzipi¬ ellen Möglichkeiten aller objektiven Welt- und Wirklichkeits¬ gestaltungen und damit auch die noch als „Recht“ zu bezeich¬ nenden internationalen Bezüge erkannt sind, ohne daß hierzu auf die Geschichtsphilosophie zurückzugreifen wäre.

6. Kapitel. Das innere Staatsrecht. Im inneren Staatsrecht wird nun der im vorigen Kapitel verlassene dialektische Fortgang mit Vollendung der bürger¬ lichen Gesellschaft wieder aufgenommen und die konkrete Er¬ füllung der Idee des Staates als die in einem Gemeinwesen tatsächlich wirksame Totalität all der bisher für sich dargetanenen Freiheitsbestimmungen durchgeführt. Insbesondere ist hier zu begreifen, daß für Hegel der 5*

68 Staat allein praktischen Ursprung und Dasein der Freiheit und damit des Rechts und so im eigentlichsten und ausschlie߬ lichen Sinn des Wortes die „sittliche Totalität“ darstellt1. Der „organisch verschränkte“ Lebensprozeß der Staatsidee im existierenden individuellen Staate ist so am besten in die Form des Allgemeinen und Besonderen zu fassen: Jedoch wird hier nicht, wie in der bürgerlichen Gesellschaft, aus der Subjek¬ tivität des Besonderen in ein Allgemeines reflektiert, sondern nunmehr werden von dem Allgemeinen als dem die bezeichnete Totalität spekulativ zusammenhaltenden Prinzip aus die besonderen Sphären durchdrungen und ihr selbständig freies Wirken in seiner übergreifenden Identität „aufgehoben“. Die Vereinigung des Einzelnen mit dem Ganzen beruht auf einer unmittelbaren Identität von Pflicht und Recht: was von dem individuellen Bürger zu tun gefordert ist, leistet er schon aus eigenstem Lebensinteresse als Betätigung seiner Freiheit; dies „ist eine der wichtigsten Bestimmungen und ent¬ hält die innere Stärke der Staaten“2. Mit der ethischen Ver¬ wurzelung des individuellen Selbstbewußtseins im „Staat“3 koinzidiert die seiner praktischen Betätigung. Um diese han¬ delt es sich im inneren Staatsrecht vor allem. „Worauf es an¬ kommt, ist, daß sich das Gesetz der Vernunft und der beson¬ deren Freiheit durchdringe und sein besonderer Zweck iden¬ tisch mit dem Allgemeinen werde, sonst steht der Staat in der Luft4.“ In dieser tatsächlichen Versöhnung des allgemei¬ nen und besonderen Zwecks bewährt sich nun praktisch die alles Einzeldasein umfassende Idee, die ebenso den Sinn alles staatsbürgerlichen Lebens als aller geschriebenen Staats¬ gesetze ausmacht — ein frei in sich schwebender dauernd wirksamer Ausgleich von Freiheit und Notwendigkeit, in dem die objektive Vernunft praktisch realisiert wird. Subjektive und objektive Seite dieses in sich bewegten Wechselwirkens der unmittelbar wirklichen Staatsidee sind „Gesinnung“ und „politische Verfassung“. Jene beruht auf 1 Vgl. o. S. 17.

2 § 261, Anm.

3 Vgl. o. S. 77 f.

4 Zus. zu § 265.

69 der konkreten Verbundenheit des Staatsbürgers und seiner besonderen Lebenssphäre mit dem allgemeinen Zweck; diese auf der notwendigen „Organisation“ dieses allgemeinen Zwecks, dessen tatsächlich durchgeführter Versöhnung mit dem Besonderen. So ist das innere Staatsrecht konkretes „Da¬ sein der Freiheit“ in doppeltem Sinne, indem nämlich einer¬ seits der Staatsbürger seine Freiheit in den ihn schützenden und mit den Lebenskräften des Staatsganzen verbindenden Institutionen sucht und andererseits diese in ihrer Gesamtheit nicht nur jenem notwendigen Durchdringen des Besonderen mit dem Allgemeinen dienen, sondern mit dessen Einschluß eine in sich vollendete Gestalt der Idee in der Wirklichkeit darstellen. Diese komplexe Vermittlung des Besondersten mit einer allgemeinen Sinngebung durch Institutionen und Staatstätig¬ keit ist für Hegel die „Verfassung“. Sie ist ebensosehr Gesetz als der konkrete Entwicklungsstatus eines Volksorganismus5. Die zur Konzentration in der Idee des Staates drängenden Momente der Entwicklung des Freiheitsbegriffs haben das Thema gestellt, dessen praktische Durchführung die konkrete staatliche Organisation nunmehr unternimmt. Insbesondere forderten die weitläufigen Verzweigungen der bürgerlichen Gesellschaft ein Wissen und Wollen des allgemeinen Zweckes, und dieses findet im Staat die Verwirklichung seiner gleich¬ bleibenden Einheit. Diese Einheit wird zunächst in ihrer Ent¬ faltung und realen Beherrschung des ganzen Staatsorganis¬ mus (innere Verfassung für sich) und dann dieser als in sich abgeschlossenen Individualität, die sich von anderen abhebt (Souveränität gegen außen), im Begriff entwickelt. I. Innere Verfassung für sich. Die praktische Organisation der Versöhnung des All¬ gemeinen und Besonderen in der konkreten Totalität des Staates erfordert nach Hegel notwendig die Gliederung in drei 5 § 274, vgl. auch G.Phil. S. 466/67. Zum Wesen der Verfassung vgl. II. Teil, S. 123.

70 Gewalten. Die umfassende Allgemeinheit des Staatszwecks ist der allen drei Gewalten in ihren sich ergänzenden Betätigun¬ gen gleicher Weise immanente Bestimmungsgrund ihres Wirkens. Die gesetzgebende Gewalt hat „das Allgemeine zu bestimmen und festzusetzen“, der Regierungsgewalt liegt die „Subsumtion der besonderen Sphären und einzelnen Fälle unter das Allgemeine“ ob, in der fürstlichen Ge¬ walt endlich gipfelt die funktionelle Beziehung des Allge¬ meinen und Besonderen in dem Moment der „letzten Ent¬ scheidung und Selbstbestimmung“6. Der Monarch ist die lebendige Verkörperung der inneren Souveränität, unter der Hegel „die Idealität der Momente“7 des Staates versteht, was praktisch hier zunächst den Umstand bedeutet, daß dessen besondere Geschäfte und Gewalten „nicht in individueller Be¬ sonderheit, sondern in der Einheit des Staates ihre letzte Wur¬ zel haben“. Die einzelne Wiedergabe der drei Gewalten kann als lediglich praktische Ausführung des in seinem Grundwesen erkannten Durchdringen des Besonderen mit dem Allgemei¬ nen übergangen werden und sogleich mit der am Ende der gesetzgebenden Gewalt analysierten „öffentlichen Meinung“ der Übergang zu dem Begriff „der Souveränität nach außen“ gewonnen werden. Im ständischen Element tritt am lebhaftesten das orga¬ nische Ineinanderwirken des Besonderen und Allgemeinen im öffentlichen Leben hervor. Die Ständevertretung enthält für Hegel einen wichtigen Faktor der politischen Bildung des Volkes; indem sie eine „lebendige sich gegenseitig unterrich¬ tende und überzeugende gemeinsam beratende Versamm¬ lung“ ist, erzieht sie „die öffentliche Meinung erst zu wahr6 Vgl. § 273. 7 § 278. — Vgl. auch Zus. zu § 276. — Wir wissen

(vgl. Kap. 1),

daß nur von der spekulativen Einheit der Idee aus alle die in ihr ge¬ setzten inhaltlichen Momente ihre wahrhafte Bestimmung und rechtigung haben.

Be¬

71 haften Gedanken und zur Einsicht in den Zustand und Begriff des Staates und dessen Angelegenheiten und damit erst zu einer Fähigkeit, darüber vernünftiger zu urteilen“8. Die Sub¬ jektivität tritt nämlich in der öffentlichen Meinung in ihrer weitesten Dimension im Staate hervor; sie äußert sich gleich¬ sam als ein Ausschwärmen in die ganze Zufälligkeit und Will¬ kür des „Meinens und Räsonnierens“, die sich dem substan¬ tiellen Staatszweck ebensosehr entgegenzustellen als ihn zu bekennen geneigt sein kann. Durch diesen Gegensatz führt das Thema der öffentlichen Meinung in dem Fortgang des Begriffs zu einer letzten Selbstbesinnung auf die Gemeinbezogenheit allen Denkens und Wollens in der Staatsidee. Es ergibt sich die oberste und abschließende Bestimmung der Idee im konkreten Staate — nämlich seine Bestimmung als „Individualität“, die als „Souveränetät gegen außen“ in die Erscheinung tritt. Die Substanz des Staates, die bisher nur in der Persönlichkeit des Monarchen in unvermittelter Ein¬ heit als wirklicher subjektiver Wille hervortrat, muß auch in allen ihren Gliedern als Subjektivität zur Erscheinung kommen, um die Wirklichkeit der sittlichen Idee vollendet darzustellen: Und nur wenn die unbedingte Identität der Staatsmitglieder mit dem substantiellen Ganzen des Staates auch zur Existenz kommt, ist dieses Ziel erreicht. II. Die Souveränität gegen außen. In diesem Abschnitt tritt die Bedeutsamkeit von Hegels philosophischem Staatsgedanken für die internationale Sphäre klar hervor. Gerade hier erweist es sich als not¬ wendig, begriffen zu haben, in welchem letzten Sinne für Hegel der „Staat“ die Idee in tatsächlicher Existenz darstellt denn hier wird aus dieser Tatsache ihres konkreten Daseins die nunmehr abschließendste innere und äußere Konsequenz gezogen. Wir erinnern uns daran, daß die spekulative Grund¬ bestimmung des geistigen Wesens der Idee darin liegt, daß es 8 § 309 und § 315.

72 in durchdringender Einheit ebensowohl Substanz als sie wissende und wollende Subjektivität ist. Dies erfordert nun, auf alle im Staat zusammengefaßten Willensgestaltungen angewandt, die innere Ineinssetzung des staatsbürgerlichen Willens mit dem des Staates. Die hierauf begründete Subjektivität des Staatsgeistes ist in jener in der Verfassung enthaltenen Versöhnung aller besonderen Sphären mit dem allgemeinen Zweck des Ganzen noch nicht in unvermittelter Identität und Freiheit ent¬ halten. Und diese substantielle Ineinssetzung ist es, durch die der Staat nach Hegel zur Individualität, zu in sich konzentrier¬ ter Lebendigkeit wird. Noch fehlt für diese seine letzte Wesensbestimmung, daß der „Blitz der Individualität in die träge Masse schlägt, sie durchdringt und die unendliche, nicht mehr bloß symmetrische Form des Geistes selber die Leib¬ lichkeit konzentriert und gestaltet“9. Zu begreifen ist der Staat von hier aus nicht mehr als zur Mannigfaltigkeit einzelner Bezüge ausgebreitete, sondern in der konkreten Willenseinheit aller ihr zugehörigen Glieder zu¬ sammengefaßte Existenz der Idee. Die Erscheinungsebene dieser letzten inneren Bestim¬ mung des Staates aber ist wesentlich sein Verhältnis nach außen, indem eben hier sich seine Individualität und abge¬ schlossene Selbständigkeit zu bewähren hat. Es muß hier genau festgehalten werden, daß der (äußere) Souveränitätsgedanke die innere Geschlossenheit des sub¬ jektiv-substantiellen Staatsgeistes, nicht aber schon die inter¬ nationale Sphäre selbst zum Thema hat; in dieser tritt lediglich jenes innere Verhältnis in äußere Erscheinung. In der Gebahrung des Staates als Ganzem erweist sich eben die unbedingte Zugehörigkeit und der Zusammenhalt des subjektiven staatsbürgerlichen Willens mit dieser seiner allgemeinen Substanz. Darum sieht Hegel die Bewährung dieser durchgehenden subjektiven Zugehörigkeit10 in der 9 Hegel, Ästhetik, S. 92/93. 10 Es ist bezeichnend, daß Hegel trotz des so nahe liegenden

73 „Gestalt eines Geschehens und der Verwicklung mit zufälligen Begebenheiten, die von außen kommen“11. Diese in der Souveränität liegende letzte Einheit der staatlichen Kräfte nennt Hegel den „wahrhaft absoluten End¬ zweck“12, denn in ihm tritt der einfache und zugleich um¬ fassende Sinn der Idee klar hervor. Darum ist nach dieser Seite ihre Substanz „die absolute Macht gegen alles Einzelne und Besondere, gegen das Leben, Eigentum und dessen Rechte, wie gegen die weiteren Kreise“ (gemeint ist wohl vor allem die „besondere“ Freiheit der bürgerlichen Gesellschaft). In dieser innerlichsten Einheit der ganzen Existenz der Staatsbürger mit der staatlichen Substanz sieht Hegel das „sittliche Moment des Krieges“, tritt doch in dem hier gefor¬ derten Einsatz aller besonderen Interessen das absolute Inter¬ esse der wirklichen Idee in eindeutiger Weise hervor: die Vergänglichkeit der „irdischen“ Güter wird nicht mehr nur von dem blinden Wirken der Naturgewalt hingenommen, son¬ dern sie werden mit vollem Bewußtsein für den Endzweck der fortbestehenden Freiheit hingegeben. In diesem unmittel¬ baren Aufgehen in der Verteidigung des Allgemeinen liegt „das Moment, worin die Idealität des Besonderen ihr Recht erhält und Wirklichkeit wird“13. An einer anderen Stelle heißt es: „. . . im Zustande der Not aber, es sei innerer oder äußerer, ist es die Souveränität, in deren einfachen Begriff der dort in seinen Besonderheiten bestehende Organismus zusammengeht, und welcher die Ret¬ tung des Staats mit Aufopferung dieses sonst Berechtigten anvertraut ist, wo denn jener Idealismus zu seiner eigentüm¬ lichen Wirklichkeit kommt14.“ Und eben aus diesem idealistiZusammenhanges nicht von Nationalbewußtsein oder patriotischer Ge¬ sinnung spricht, sondern nur von „der Natur einer Gesamtheit und dem Selbstgefühl, das ein Volk in seiner Unabhängigkeit hat“. Kein natürlicher Instinkt etwa, sondern das Bewußtsein der unmittelbaren Einheit des Einzelnen mit dem in dem Staat lebendigen und die allge¬ meine Substanz darstellenden, sittlichen Geist ist das Bestimmende; von Vaterland und Nation ist hier nicht die Rede. 11

§

323.

12 12

§

328.

13

§§

324, 326.

14

§

278.

74 sehen Grundgedanken, der den Staat als die Wirklichkeit der Idee der Sittlichkeit und Freiheit auffaßt, haben wir diese Stellen zu begreifen. Die hier hervortretende Auffassung des Krieges als einer Gelegenheit, die innerlichste Willenseinheit der sittlichen Substanz in allen ihren Gliedern zu erhärten, verbietet es, platterdings von einer Verherrlichung des Krieges bei Hegel zu sprechen. Der Krieg ist hier gleichsam als das durchschlagendste Beispiel angeführt für die „innerliche oder äußerliche Not, . . . wo jener Idealismus zu seiner eigentüm¬ lichen Wirklichkeit kommt“. Dieser Idealismus aber der in allem menschlichen und sozialen Zustand substantiell wirk¬ samen Freiheitsidee fordert als notwendige Konsequenz neben jener sich ständig vollbringenden Selbstbelebung mit dem Sinn des Allgemeinen auch diese letzte opferbereite Ineins¬ setzung aller Willen mit der sie erst ermöglichenden geistigen Substanz des freien Staates. Nicht immer aber steht der Staat als solcher, seine Selb¬ ständigkeit in Gefahr; die „Zwiste der Staaten miteinander können irgendeine besondere Seite ihres Verhältnisses zum Gegenstand haben“ — hier tritt der „Stand der Tapferkeit“, das stehende Heer des Staates ein. So kommt der allgemeine Zweck der Souveränität in einer besonderen Standesfunktion zur Geltung; die Militärgewalt des Staates ist zugleich „eine bestimmte Seite in ihm selbst“16. Hegel hat sie wohl als die permanente „Garantie der Selbständigkeit des Staates“ auf¬ gefaßt16, als eine gleichsam teilweise Aktivierung jener über das Ganze ausgegossenen individuellen Subjektivität des Staa¬ tes, und es hat darum auch für deren Begriff, auf den es hier vor allem ankommt, die Militärgewalt eine zurücktretende Be¬ deutung. Galt es doch vor allem aus diesem Abschnitt über die „Souveränität gegen außen“ zu verstehen, was an seinem Erfde in diesem Satz nochmals zusammengefaßt wird: „Seine Richtung nach außen hat der Staat darin, daß er ein individuelles Subjekt ist17.“ 15 Zus. zu § 271. 17 § 923.

16 Vgl. Anm. zu § 324 a. E.

75 Die „Individualität“ war als die konkrete Identität des staatsbürgerlichen Willens mit dem des Staatsganzen zu be¬ greifen, als innerlich alles durchdringender subjektiver Ein¬ heitswille, der sich nach außen in der Selbständigkeit des Staates bewährt. Nicht schon in seiner mannigfaltigen Be¬ wegtheit, sondern in dieser durchgehenden Willenssubjektivi¬ tät sieht Hegel das Staatsganze zur individuellen Gestalt der Idee vollendet. Dieser somit gebildete Staatswille aber — und hierauf war unsere ganze Darstellung abgestellt — darf nun nicht mehr als die formale Möglichkeit jedweder staats¬ politischen Zwecksetzung gefaßt werden, sondern er enthält die ganze Fülle der mit den einzelnen Freiheits¬ bestimmungen gesetzten Bezüge in sich, die ganze mannig¬ faltige Substanz des innerstaatlichen Lebens ist in dieser ihre Totalität durchgreifenden Subjektivität unverloren. Nur als der wahre Ausdruck dieses aus allen seinen beson¬ deren Gestaltungen wieder zusammenströmenden Freiheits¬ zweckes ist der souveräne Staat individuell wirkliche Idee18. 7. Kapitel. Das äußere Staatsrecht. Aus der vorangegangenen Bestimmung des Staates als „Individualität“ folgte schon mit logischer Notwendigkeit die Mehrheit von Staaten: Das Dasein der in der Wirklichkeit erscheinenden Idee liegt noch in der Sphäre der Individuation und des Gegensatzes, so daß, wie wir sahen, die in dem Gan¬ zen des Einzelstaates wirkende innere Bezogensein der Idee auf sich selbst sich in deren Selbständigkeit unter anderen Staaten „äußert“. So ist es nicht erst eine geschichtsphiloso¬ phisch Vorgefundene Tatsache, daß es mehrere aus dieser zu individueller Wirklichkeit vollendeten Entwicklung des Freiheitsbegriffs bestehende Staaten gibt, sondern sie folgt 18 Schon hier erweist sich die in Kap. 5 erarbeitete, geschichts¬ philosophische Bedeutung des „Staatswillens“ als richtig, die wir je¬ doch erst am Ende des folgenden Kapitels vollends wieder aufnehmen dürfen.

76 notwendig aus dem Wesen der in der Wirklichkeit erscheinen¬ den Idee selbst. Von der hiermit gesetzten Richtung des einzelnen Staates „gegen außen“ kann der Begriff also nunmehr zur Behand¬ lung der Beziehungen dieser Mehrzahl von Staaten übergehen, ohne zunächst andere Inhalte als die des bisher entwickelten in sich selbständigen „sittlichen Ganzen“ zu berücksichtigen. Auf die absolute Allgemeinheit der Idee bezogen bleibt naturgemäß diese Ebene des Neben- und Auseinander ihrer Existenz in den besonderen Staaten eine unangemessene, so daß durch diese Stufe nunmehr erst der Übergang des philoso¬ phischen Begriffs in das allem Weltgeschehen zugrunde liegende allgemeine Prinzip vermittelt wird1. In der dialektischen Selbstbewegung des Begriffs zum System macht also das „äußere Staatsrecht“ den folgerichtigen Übergang von der Deduktion der „sittlichen Totalität“ (die wir im „inneren Staatsrecht“ abgeschlossen fanden) über das Verhältnis von mehreren ebensolchen zu der „universalen Totalität“, in der jeder einzelne Staat nur als die besondere Manifestation des all-einen in der Geschichte wirksamen Weltgeistes begriffen wird. Dies wäre im strengeren Sinne die in das Ganze des Systems eingeordnete Funktion des „äußeren Staatsrechts“. Für die hier gestellte Aufgabe aber gilt es, diese Sphäre zunächst zwar als diejenige eines dialektischen Begriffsüber¬ ganges, aber doch gleichzeitig in ihrer ganzen von Hegel ge¬ sehenen eigentümlichen Wirklichkeit festzuhalten und uns gegenwärtig zu machen. Hierbei haben wir vor allem das Enthaltensein der Ge¬ samtheit des bisher erarbeiteten Ergebnisses, insbesondere also Inhalt und Bedeutung des Staatsgedankens in Acht zu behalten; werden doch in jedem Fortgang des Begriffs alle bisherigen Inhalte desselben in ihrer relativen Eigengeltung bewahrt. In der philosophischen Interpretation der gesamten politischen Realität, um die es sich nunmehr handeln wird, bewährt sich recht eigentlich erst Hegels Konzeption von der 1 Vgl. o. S. 57.

77 ethischen und damit auch rechtlichen Allmacht des Staates. Und wenn hier der Staat als in sich geschlossenes Ganze in der Beziehung zu anderen eben als Macht erscheint, so ist diese nicht in der primitiven und brutalen Bedeutung des Wor¬ tes, sondern vor allem in dem Sinne der sich gegen jeden Widerstand zur Geltung bringenden „selbstbewußten sitt¬ lichen Substanz“ zu verstehen. Weiter: In Wahrheit erscheint schon hier die Idee in einzelne Völker verkörpert, deren jedes mehr oder weniger umfassend in sich die sittliche Substanz ausprägt und damit das absolute Kernprinzip des Weltgeschehens ver¬ wirklicht. Damit bringen wir das im Zusammenhang der Staatsidee erarbeitete Ergebnis (Kap. 5) zur klareren Inangriffnahme dieser Begriffssphäre in Erinnerung: Auch den hier in ihren gegenseitigen Beziehungen begriffenen Staaten liegt jene ge¬ schichtsphilosophische Konzeption zugrunde, daß in den Staaten und ihrer fortgehenden geschichtlichen Bewegung sich die Idee verwirklicht. In vollem Umfang können wir allerdings die damit gewonnenen Einsichten erst nach Ent¬ wicklung der einzelnen Bestimmungen des „äußeren Staats¬ rechts“, die durch ihren eigenen Gang zu jener schon fest¬ gestellten Grundthematik der geschichtlichen Wirklichkeit zurückführen, wieder aufnehmen, da hier zunächst das „äußere Staatsrecht“ aus dem dialektischen Fortgang des Be¬ griffs, in den seine Bestimmungen eingespannt sind, zu er¬ fassen ist: „Das äußere Staatsrecht geht von dem Verhältnisse selbständiger Staaten aus; was an und für sich in dem¬ selben ist, erhält daher die Form des Sollens, weil, daß es wirklich ist, auf unterschiedenen souveränen Willen beruht.“ In diesem Satz liegt Hegels begriffliche Grundkonzeption des internationalen Zustandes: Keine universale Ordnung hält das Ganze zusammen; die Vernunft erscheint nur in den „unterschiedenen souveränen Willen“. Nicht das ganze hier

78

zu begreifende Feld der Erscheinung ist vernünftige Wirk¬ lichkeit, sondern eben nur das von den besonderen Staaten Ausgehende ist als „Dasein der Idee der Freiheit“, als „Recht“ zu begreifen. Alles allgemeine in dieser Sphäre der Besonderung als geltend angenommene ist noch nicht an und für sich daseiende Wirklichkeit der Idee, sondern ein sich erst aus der Übereinstimmung der besonderen Willen her¬ stellendes Sollen. Aus der allgemeinen Grundbestimmung aller Wirklichkeit, der sich in ihr darstellenden Idee, folgt für Hegel, daß eine über den selbständigen Staaten stehende feste Ordnung undenkbar ist und darum dieses auch ihm wün¬ schenswert erscheinende2 moralische Ziel niemals mit der er¬ scheinenden Geschichtswirklichkeit wird in eins zusammen¬ fallen können und in der unvollkommenen Form des Sollens verharren muß3. Nur in dem autonomen sittlich substan¬ tiellen Staatswillen findet die Idee vollkommenes Dasein; „auf Erden“ bleibt der Staat die „absolute Macht“4. Wenden wir uns nunmehr den einzelnen Bestimmungen der zwischenstaatlichen Wirklichkeit zu, so ergeben sich aus 2 Denn woher dieses plötzlich an dieser Stelle auftauchende und von Hegel anerkannte „Sollen“? Zwar drückt diese Kategorie auch gerade die Unvollkommenheit allen Völkerrechts aus; aber hätte Hegei dessen Berechtigung schlechthin leugnen wollen, so hätte er diese hier unzweifelhaft als Tendenz der Wirklichkeitsgestaltung anerkannte Form als „Schein“ negiert oder ganz aus diesem System der vernünftigen Wirklichkeit herausgelassen. 3 In dem von Gans redigierten Zus. zu § 330 wird dieses Grund¬ verhältnis etwas anschaulicher erläutert: „Staaten sind keine Privat¬ personen, sondern vollkommen selbständige Totalitäten an sich, und so stellt sich ihr Verhältnis anders als ein bloß moralisches und privat¬ rechtliches. Man hat oft die Staaten privatrechtlich und moralisch haben wollen, aber bei Privatpersonen ist die Stellung so, das sie über sich ein Gericht haben, das das, was an sich Recht ist, realisiert, nun soll ein Staatsverhältnis auch an sich rechtlich sein, aber in der Welt¬ lichkeit soll das An-sich-seiende auch Gewalt haben. Da nun keine Gewalt vorhanden ist, welche gegen den Staat entscheidet, was an sich Recht ist, und die diese Entscheidung verwirklicht, so muß es in dieser Beziehung immer beim Sollen bleiben.“ 4 § 331.

79 der Grundbeziehung in sich selbständiger beson¬ derer Staatswillen einige von Hegel prinzipiell festge¬ legte Verhältnisse: Das erste ist das der gegenseitigen Anerkennung, dessen Bedeutung für die Staatenbeziehungen grundlegend ist5. Denn in ihm liegt das wichtige Moment, daß die Staaten nicht nur in sich selbständige Darstellungdersittlichen Idee sind, sondern als solche auch für den anderen gelten. An die Stelle eines rein äußerlichen Gegenüberstehens der Staaten führt diese Bestimmung zu einem ausdrücklichen inneren Bezug des einzelnen Staates zu dem anderen; „von ihm anerkannt zu sein, ist seine erste absolute Berechtigung“0. Die Anerkennung resultiert aber erst aus dem ganzen konkreten Inhalt des jeweiligen Staatenverhältnisses; denn eben nur der wirkliche Staat als ein solch im Vorangegan¬ genen entwickeltes sittliches Ganze verdient diese Anerken¬ nung; und „ob er ein so an und für sich Seiendes in der Tat sei, kommt auf seinen Inhalt, Verfassung, Zustand an, und die Anerkennung als eine Identität beider enthaltend7, beruht ebenso auf der Ansicht und dem Willen des anderen“8. Diese Grundbedingung zwischenstaatlicher Beziehung ist also keineswegs ein Formalakt, sondern beruht auf der kon¬ kreten Inhaltlichkeit der beiderseitigen Staatswillen. Ist diese eine solche Organisation des vernünftigen, sittlichen Zwecks, so wird dieser innere Tatbestand „wesentlich (erst) durch die Anerkennung der anderen Staaten vervollständigt“. Erst bei gegenseitigem Vorliegen dieses Verhältnisses, das grundsätzlich zwischen den besonderen Staatswillen das feste Band der wechselseitig garantierten Selbständigkeit knüpft, kommt Hegel zu einer eindeutigen Stellungnahme 5 In der Enzyklopädie bezeichnet es Hegel schlechthin als das „allgemeine Prinzip des sogenannten Völkerrechts“. — § 547. « § 331. 7 Das wirkliche Übereinstimmen der „an und für sich seienden Idee“ mit dem sie entwickelnden „konkret-individuellen, staatlichen Zustand“.

Vgl. o. „Inneres Staatsrecht“.

8 § 331.

80 zum Problem der Intervention: So sehr die Anerkennung auf die innere (sittlich-substantielle) Legitimität des Staates sich bezieht und ein Staat „sich nicht in die inneren An¬ gelegenheiten des anderen mischen“ soll, so fordert doch das Interesse der Gegenseitigkeit, des Wiederanerkanntwerdens also, eine Sicherheit über die diesbezügliche Richtung des an¬ deren Staatswillens, „und somit kann es ihnen (den auf ihre Selbständigkeit bedachten Staaten) nicht gleichgültig sein, was in seinem Inneren vorgeht“9. Eine prinzipielle Ablehnung der Intervention wäre also für Hegel erst dann gegeben, wenn die gegenseitige „Anerkennung“ sichergestellt ist, die eben auf der grundlegenden Voraussetzung beruht, daß es sich auf beiden Seiten wahrhaftig um „Staaten“, also „sittliche Ganze“, aus deren innerer Willenswirklichkeit dieses gegenseitige Ver¬ halten notwendig folgt, handelt. Das nächste auf der internationalen Begriffsebene er¬ scheinende Verhältnis ist das des völkerrechtlichen Ver¬ trags. Hier findet sich die Erwartung einer eingehenden In¬ haltsbestimmung enttäuscht, und deutlich tritt an dieser Stelle die historische Bedingtheit der Hegel gegenwärtigen inter¬ nationalen Realität hervor: Die Interessen der besonderen Staatswillen können sich zwar in einer Gemeinsamkeit finden, die damit die formelle Natur eines Vertrages annimmt10, aber der Stoff dieser Ver¬ träge (Traktate) ist gering; die Staaten befinden sich nach Hegel nicht in dem Verhältnis gegenseitigen Aufeinander¬ angewiesenseins wie die Mitglieder der bürgerlichen Gesell¬ schaft, sie sind „vornehmlich sich in sich befriedigende Ganze“ (hier offensichtlich in ökonomischem Sinne)u. Hierzu sagt Rosenzweig: Hegel ahnt nicht, daß diese „vornehmlich sich in sich befriedigenden Ganzen“, als die er die Staaten setzt, ein halbes und gar ein ganzes Jahrhundert später mindestens so sehr wie irgendwelche Privatleute „nach den vielfachsten Rücksichten in gegenseitiger Abhängigkeit“ stehen werden, und daß dann staatliche Handelsverträge es an Unübersehbar9 § 331.

10 Vgl. auch o. S. 36.

11 Hierzu vgl. Kap. 4 a. E.

81 keit und Verwickeltheit mit jedem Privatvertrag aufnehmen werden12. So konnte es kommen, daß Hegel dieses wichtige Phä¬ nomen der internationalen Welt als solches nur in einem zehn¬ zeiligen Paragraphen abhandelte. Systematisch wichtig ist vor allem die nun folgende Frage nach dem prinzipiellen Rechts grund dieser Verträge, dem Völkerrecht: „Der Grundsatz des Völkerrechts als des allgemeinen an und für sich zwischen den Staaten gelten sollenden Rechts zum Unterschied von dem besonderen Inhalte der positiven Traktate13 ist, daß die Traktate gehalten werden sollen14.“ Die Begründung ist uns in ihrer systematischen Notwendig¬ keit bekannt. Sie liegt darin, daß dieser allgemeine Grund¬ satz der Vertragstreue auf der hier vorliegenden Ebene der Besonderung der Idee15 nicht als eigenständige Erschei¬ nung derselben, darum nicht als Wirklichkeit begriffen werden kann: „Weil aber deren (der Staaten) Verhältnis ihre Sou¬ veränität zum Prinzip hat, so sind sie insofern im Naturzu¬ stände gegeneinander, und ihre Rechte haben nicht in einem allgemeinen zur Macht über sie konstituierten, sondern in ihrem besonderen Willen ihre Wirklichkeit. Jene allgemeine Bestimmung bleibt daher beim Sollen, und der Zustand wird eine Abwechselung von dem den Traktaten gemäßen Verhältnisse und von der Aufhebung desselben.“ Aus dem gleichen Grundgedanken16 folgt Hegels Ansicht vom Staa12 a.a.O. II, 174. 13 Den Hegel, wie wir sahen, als sehr begrenzt ansieht. Diese Unterscheidung von Völkerrecht und „positiven Traktaten“ ist wich¬ tig, weil nämlich die Unvollständigkeit des ersteren nicht zur be¬ dingungslosen Leugnung der Verbindlichkeit des Vertrages führt. Vgl. u. S. 88. 14 § 333. 15 In eine Mehrheit von Staaten. Vgl. o. S. 76/77. 16 Da dieser erst in der völligen Entwicklung der Bestimmungen des äußeren Staatsrechts erschöpft wird, soll erst dann auf den hier¬ mit prinzipiell gegebenen Geltungsgrund der Verträge und die darin zu sehende philosophische Grundlage für internationales „Recht“ zu¬ sammenfassend eingegangen werden. 6144

Abhandlgn. a d. Völkerrecht 6: v. Trott zu Solz.

6

82 tenbund. Sie tritt uns an drei verschiedenen Stellen17 der Rechtsphilosophie, und zwar allemal verknüpft mit einer Pole¬ mik gegen Kants Friedensprojekt, entgegen. Ihnen liegt zu¬ grunde, daß ein Staatenbund auf mehreren besonderen sou¬ veränen Willen beruhend nichts in sich Beständiges und gegen Zufälligkeit und Zwiespalt Gewappnetes darzustellen vermag. Zwar kann eine solche Übereinstimmung der besonderen Wil¬ len erzielt und dann auch Schiedsrichter und Vermittler gestellt werden, aber eine allgemeine auch gegen die besonderen Willen wirksame Macht läßt sich auf solche Weise nicht er¬ richten 18. So beruht denn der Ausgleich zwischen widersprechen¬ den Staatswillen letzthin auf der Entscheidung durch Krieg. Dessen Ursachen sind wiederum an und für sich unbestimm¬ bar und nur von den jeweils verletzten besonderen Staats¬ willen aus abzusehen19. Das für die zwischenstaatliche Welt grund¬ sätzlich geltende Prinzip des besonderen Staats¬ willens ist nicht nur die bereits festgestellte Geltungsgrund¬ lage der Traktate, sondern inhaltlich als das Wohl des be17 Zus. zu § 259, Zus. zu § 324 u. § 333, Anm., vgl. auch §347 a. E. 18 Darüber, daß Hegel hierbei vor allem auch unter dem Ein¬ druck des Zusammenbruchs der Heiligen Allianz stand, vgl. Zus. zu § 259 und Rosenzweig a. a. O. 19 Zu dieser, aus seinem uns bekannten Grundbegriff der inter¬ nationalen Sphäre notwendig folgenden Auffassung führt Hegel in der folgenden viel berufenen Stelle erläuternd aus, daß „ein Staat seine Unendlichkeit und Ehre in jede seiner Einzelheiten legen kann und um so mehr zu dieser Reizbarkeit geneigt ist, je mehr eine kräftige Individualität durch lange, innere Ruhe dazu getrieben wird, sich einen Stoff nach außen zu suchen und zu schaffen“. Sie ist nur in dem Zu¬ sammenhang der bei der „Individualität“ des Staates von Hegel ge¬ setzten unmittelbaren Verbindung des Krieges mit dem im Staats¬ inneren lebendigen Geist und dem daraus abgeleiteten Hinweis auf die sittliche Funktion des Krieges richtig zu interpretieren. — Andrer¬ seits liegt die offenbare Zeitbedingtheit der Hegelschen Kriegsphilo¬ sophie ebenso wie seine Behandlung des völkerrechtlichen Vertrags (s. o.) in der Verkennung der Rückwirkung der weltwirtschaftlichen Verflechtung auf die politische Staatenbeziehung.

83 treffenden Staates bestimmt, das überhaupt „höchste Gesetz in seinem Verhalten zu anderen“20; zumal doch in der sitt¬ lichen Totalität des Staates „der Gegensatz von dem Rechte als abstrakter Freiheit und vom erfüllenden besonderen In¬ halte, dem Wohl, aufgehoben“ ist und die dem Staatenverkehr zugrundeliegende „Anerkennung21 der Staaten auf sie als konkrete Ganze geht“. „Das substantielle Wohl des Staates ist sein Wohl als eines besonderen Staates in seinem bestimmten Interesse und Zustande und den ebenso eigentümlichen äußeren Um¬ ständen nebst dem besonderen Traktatenverhältnisse22; die Regierung ist somit eine besondere Weis¬ heit, nicht die allgemeine Vorsehung — so wie der Zweck im Verhältnisse zu anderen Staaten und das Prinzip für die Gerechtigkeit der Kriege und Traktaten nicht ein allgemeiner (philantropischer) Gedanke, sondern das wirkliche gekränkte oder bedrohte Wohl in seiner bestimmten Besonder¬ heit23.“ In diesem Satz tritt deutlich das praktische Ergebnis der philosophischen Betrachtung der internationalen Sphäre her¬ vor: Das Grundprinzip der äußeren Politik, des friedlichen „Vertragens“ sowohl als der kriegerischen Auseinander¬ setzung, ist für Hegel der besondere Staatswille. Die im Staat verwirklichte Sittlichkeit bleibt die substantielle Grundbestimmung für alle be¬ wußte Wirklichkeitsgestaltung; ihre Notwendig¬ keiten gehen für ihn allen aus moralischer Gesinnung und kosmopolitischen Wunschbildern gefolgerten vor24. Im übrigen kommt es aber doch zur ausdrücklichen An¬ wendung jenes mit der gegenseitigen „Anerkennung“ der Staaten gesetzten völkerrechtlichen Prinzips, und zwar im Krieg: „Es bleibt in diesem Zustande der Rechtlosigkeit25, 20 § 326. 21 Vgl. o. S. 79. 22 Von mir unterstrichen! Vgl. unten S. 89. 23 § 337. 24 Vgl. o. S. 14. 25 Den friedlichen internationalen Zustand sieht Hegel keineswegs als einen solchen der Rechtlosigkeit an.

6*

also

84 der Gewalt und Zufälligkeit ein Band, in welchem sie an und für sich seiend füreinander gelten, so daß im Kriege selbst der Krieg als ein Vorübergehensollendes bestimmt ist. Er enthält somit die völkerrechtliche Bestimmung (!)26, daß in ihm die Möglichkeit des Friedens erhalten, somit z. B. die Gesandten respektiert, und überhaupt, daß er nicht gegen die inneren Institutionen und das friedliche Familien- und Privatleben, nicht gegen die Privatperson geführt werde27.“ Wir sehen also, daß selbst bei der schärfsten Divergenz von besonderen Staatswillen, dem Kriege, keine Negation des einen durch den anderen, sondern in beiden das Fortbestehen des in sich ewigen sittlichen Prinzips zugrunde liegt. Endlich beruht — damit sind nunmehr die Einzelheiten gemeint — das gegenseitige Verhalten im Kriege (z. B. das Gefangenenrecht) auf den Sitten der Nationen, deren Maßgeblichkeit für die Handhabung des internationalen Privat¬ rechtsverkehrs wir oben bereits anzuführen hatten28. Die Be¬ deutung dieses Momentes für den internationalen Zustand im Ganzen — sie ist nicht grundsätzlich, sondern betrifft eher die Art und Weise der Handhabung der Geschäfte — geht aus dem den Vorlesungen Hegels entstammenden Zusatz zu diesem Paragraphen ganz deutlich hervor: „Die europäischen Nationen bilden eine Familie nachdem allgemeinen Prinzipe ihrer Gesetzgebung, ihrer Sitten, ihrer Bildung, und so modifiziert29 sich hiernach das völker¬ rechtliche Betragen in einem Zustande, wo sonst das gegen¬ seitige Zufügen von Übeln das herrschende ist. (Aber :) Das Verhältnis von Staaten zu Staaten ist schwankend; es ist kein Prätor vorhanden, der da schlichtet. Der höhere Prätor ist allein der allgemeine an und für sich seiende Geist, der Welt¬ geist30.“ Damit ist denn auch die letztgenannte Möglichkeit, das 26 Hieran sehen wir denn ausdrücklich, daß mit jener bedingten Geltung des Völkerrechts dieses nicht schlechthin „geleugnet“ wer¬ den sollte! 27 § 338. 28 Vgl. S. 46. 29 Von mir unterstrichen. 30 Zus. zu § 339.

85 zwischenstaatliche Verhältnis zu stabilisieren, auf ihre grund¬ sätzliche Bedingtheit durch die hier gegebene Erscheinungs¬ ebene der Idee zurückgeführt. Diese haben wir nunmehr einer abschließenden Kennzeichnung zu unterwerfen und dabei die Gesamtheit des bisher erarbeiteten Stoffs mit einzubeziehen: Der dialektische Fortgang der sich in der Wirklichkeit darstellenden Freiheitsidee gelangte im Staat zu seinem grundsätzlichen Abschluß, indem sie sich hier zur Totalität ihres wirklichen Daseins herausbildete. Weiter sahen wir, daß dies Dasein der Idee notwendig „Individualität“, d. h. eine unter mehreren anderen ist, und daß damit die Allgemeinheit der Idee in die Besonderung überging, d. h. ihre Erscheinung in der Mehrheit von Staaten notwendig den Widerspruch in sich tragen muß; die internationale Sphäre war somit als die¬ jenige des Besonderen zu fassen, in dem das wahrhaft All¬ gemeine (die Idee) nicht zu adäquatem Dasein kommt. Daraus folgt die Unmöglichkeit einer allgemein geltenden Rechts¬ ordnung, und das Völkerrecht mußte als ein „Sollen“ statu¬ iert werden. Zugleich aber zogen wir vorher die geschichtsphiloso¬ phische Grundhaltung des „Begriffs“ in Betracht; nach ihr wird auch das zeitlich-empirische Geschehen als Erscheinung der allgemeinen Idee begriffen. In den Staaten wirkt sich das absolut feststehende Prinzip und zwar wiederum in mannig¬ faltiger Besonderung und wechselvollen Schicksalen und Kämpfen aus. In dieser Bewegung und Begegnung der be¬ sonderen Staaten vollbringt sich die in jedem einzelnen von ihnen wirksame allgemeine Idee als die Wahrheit alles Welt¬ geschehens. Hier wird es klar, daß die weltgeschichtliche „Er¬ scheinungsebene“ der Idee mit der „internatio¬ nalen Sphäre“ für Hegel im Grunde zusammenfällt: Was aus der logisch-metaphysischen Struktur des Staates folgte — Individualität und damit Entgegensetzung — ist zu¬ gleich das Gesetz der weltgeschichtlichen Erscheinungen. In der Philosophie der Geschichte aber erst nimmt der die gei-

86 stige Wirklichkeit nachentwickelnde Willensbegriff die ganze konkrete Fülle des Weltgeschehens in sich auf, und aus ihr verstehen wir Hegels abschließende Charakteristik der inter¬ nationalen Sphäre: „In das Verhältnis der Staaten zueinander, weil sie darin als besondere sind, fällt das höchst bewegte Spiel der inneren Besonderheiten der Leidenschaften, Interessen, Zwecke, der Talente und Tugenden, der Gewalt, des Un¬ rechts und der Laster, wie der äußeren Zufälligkeit, in den größten Dimensionen der Erscheinung, — ein Spiel, worin das sittliche Ganze selbst, die Selbständigkeit des Staates, der Zufälligkeit ausgesetzt wird. Die Prinzipien der Volksgeister sind um ihrer Besonderheit willen, in der sie als existierende Individuen ihre objektive Wirklichkeit und ihr Selbstbewußtsein haben, überhaupt beschränkte, und ihre Schicksale und Taten in ihrem Verhältnisse zueinander sind die erscheinende Dialektik der Endlichkeit dieser Gei¬ ster, aus welcher der allgemeine Geist, der Geist der Welt, als unbeschränkt ebenso sich hervorbringt, als er es ist, der sein Recht — und sein Recht ist das allerhöchste — an ihnen in der Weltgeschichte als dem Welt¬ gerichte ausübt31.“ Haben wir nun, um das, was endgültig „Recht“ zwi¬ schen den Staaten ist, zu begreifen, mit dem Fortgang des „Begriffs“ hinabzusteigen in die Beweggründe der geschicht¬ lichen Wirklichkeit, in denen wir erfahren, mit welchen „Mitteln“ die Idee sich in dem Leben der Völker durchsetzt, in welchen „Volksgeistern“ insbesondere bis auf den heutigen Tag sie sich zu ihrem vollen Bewußtwerden herausgebildet hat? Hier haben wir die bereits (Kap. 5) erarbeitete Einsicht aufzunehmen, daß die in der Geschichtsphilosophie vollendete „Arbeit des Begriffs“ nichts anderes ist als die Bestätigung des im Staat zu konkretem Dasein herausgebildeten Freiheits¬ prinzips durch die philosophische „Er-innerung“ des Geistes in der empirisch-zeitlichen Abfolge seiner früheren Gestal31 § 340.

87 tungen. Sie gipfelt in der gegenwärtigen Wirklichkeit des Staates der Freiheit, dessen sittlich-substantieller Wille als die einzige wahre Gestalt der Idee sein Dasein und Wirken als das weltgeschichtliche und damit absolut letzte „Recht“ zu begreifen war. So haben wir schon mit der dialektischen Stufe des „äußeren Staatsrechts“, in der dieser Staatswille in der geschichtlichen Wirklichkeit erscheint, das Endergeb¬ nis aller sich auf die internationale Sphäre erstreckenden da¬ seienden Manifestationen der Freiheitsidee und damit alles hier von Hegel noch als „Recht“ anerkannte in Händen. Nur die im Staatswillen zu selbstbewußtem Dasein aus¬ geprägte sittliche Substanz und die aus ihr entspringenden Bezüge können die Grundlage für ein internationales Recht bilden. Daß damit nun nicht gesagt ist, daß Recht und Sittlich¬ keit an den Grenzen des Staates aufhören, mag aus der fol¬ genden Zusammenfassung des Ergebnisses unserer bisheri¬ gen Ausführungen vollends erhellen.

8. Kapitel. Der Staatswille und das Problem internationaler Ordnung. Der Staatswille war als höchster Träger der sich in der Welt darstellenden Idee zu begreifen: Einmal in der logisch¬ metaphysischen Struktur des von ihm durchgriffenen Gemein¬ wesens, weiter aber zugleich in der Gestaltung der ihm an¬ vertrauten empirisch-historischen Besonderheit. Als selbstbewußt-verantwortlicher Sachwalter dieser beiden in ihm sich durchdringenden Auslegungsformen der allgemeinen Idee tritt er in der „internationalen Sphäre“ auf, die, wie wir sahen, un¬ mittelbar in die geschichtliche Wirklichkeit aufgeht. Diese ließe sich nun nach dieser Doppelfunktion des souveränen sittlich-substantiellen Staatswillens in zwei wesentliche Be¬ reiche seiner Selbstbestimmung scheiden1. 1 Die „dialektische“ Stufe des „äußeren Staatsrechts“ im System

88 Zunächst bestimmt sich die Subjektivität der im Staats¬ willen wirksamen sittlichen Substanz auch außerhalb der Grenzen ihrer innerstaatlichen Wirksamkeit zu objektiven Willenshaltungen, und diese sind als „Dasein der Freiheit“ im Sinne Hegels Recht (positive Traktate). Sodann aber trägt sie die alles einzelne Dasein des Staats¬ willens in sich aufhebende unbedingte Verantwortung ihrer Selbsterhaltung. Diese in allen Veränderungen gleichbleibende „Existenz der sittlichen Substanz“ zu wahren, ist der Sinn der äußeren Politik* 2. Daß nun mit der letzteren Bestimmung die erstere nicht beseitigt, daß die äußere Politik in ihren Forderungen nicht jene substantiellen Rechte negiert, obgleich sie in ihrer kon¬ kreteren Bestimmung auch höhere Dignität3 hat als diese, ergibt sich aus folgendem: Indem jenes Recht nicht „von außen“ an den Staat .herantritt, sondern unmittelbar aus der in ihm wirksamen sittlichen Substanz hervorgeht, würde es eine Verletzung dieser Substanz selbst und damit ihres eigenen Wesensgesetzes bedeuten, wenn sich die äußere Politik über eine solche innere Bestimmtheit des Staatswillens hinwegsetzte. Bei einer wirklichen Kollision aber, wo eine Einzelbestim¬ mung des sittlichen Staatswillens dessen konkreter Selbst¬ erhaltung als Ganzem gegenübersteht, würde diese jener vorgehen. Dies Prinzip der unbedingten Erhaltung der Exider Rechtsphilosophie besteht in der Tat aus einem Wechselspiel und In-einander-übergehen, was

für den philosophischen Übergang

Begriffs in die Weltgeschichte auch notwendig ist.

des

Die Möglichkeit

hier zu unterscheiden erlangten wir auch erst dadurch, daß wir den Staatswillen zugleich als Träger der Weltgeschichte begriffen haben und ihn nunmehr gleichsam „rückwärts“ in seine Momente zerlegen. 2 § 337. 3 Dies folgt nicht nur aus dem einfachen Gesichtspunkt, daß alles Recht nur bei Erhaltung des Rechtssubjektes möglich ist, sondern kann auch aus dem, den ganzen Aufbau der Rechtsphilosophie durch¬ ziehenden, Gedanken abgeleitet werden, daß das umfassendere Dasein der Freiheitsidee dem minder konkreten vorgeht (vgl. § 30).

89

stenz und Souveränität der besonderen Staatswillen eben macht die Bedingtheit der „positiven Traktate“ aus4. Andererseits steht diesem außerordentlichen Falle die ein¬ fache Reflektion gegenüber, daß der materielle Inhalt des Staatswillens (das Wohl des Staates) im Sinne der beson¬ deren politischen Weisheit5 normalerweise besser verfochten wird durch Aufopferung seiner Besonderheit in einem Einzel¬ fall und Erhaltung einer formell-allgemeinen (d. h. ihn mit einer anderen Besonderheit vermittelnden, auf Interessen¬ gemeinsamkeit beruhenden) Vertragskonstellation als da¬ durch, daß voreilig jene endgültige Kollision als gegeben an¬ genommen wird. Hieran wären leicht weitere Folgerungen zu knüpfen, die unter grundsätzlicher Wahrung der in der internationalen Sphäre wirklichen „Besonderung“ doch über Hegels Einschätzung der zwischen¬ staatlichen Rechtsbezüge weit hinausführen würden. Ange¬ sichts der modernen weltwirtschaftlichen Verflechtung könnte man die Stelle aus der „bürgerlichen Gesellschaft“, die von den Wechselbezügen der besonderen Einzelexistenzen han¬ delt, analog zu denjenigen der besonderen Staaten heran¬ ziehen: „Der selbstsüchtige Zweck in seiner Verwirklichung, . . . durch die (formelle) Allgemeinheit bedingt, begründet ein System allseitiger Abhängigkeit, daß die Subsistenz und das Wohl des Einzelnen und sein rechtliches Dasein in die Sub¬ sistenz, das Wohl und Recht aller verflochten, darauf gegrün¬ det und nur in diesem Zusammenhang wirklich und gesichert ist.“ (§ 183.) Umsomehr könnte man eine derartige formell¬ allgemeine Stabilität des internationalen Ver¬ tragssystems annehmen, als Hegels liberale Beurteilung des internationalen Privatrechtsverkehrs schon aus sich eine schützende Stellungnahme des die Wirtschaft sittlich fundie4 Positivrechtlich kleidet sich dies Prinzip in die clausula rebus sic stantibus. Vgl. Kaufmann a.a. O. Als die neueste und vollständigste Untersuchung desselben als geltendem Völkerrechtssatz ist die zitierte Arbeit von Werth-Regendanz zu nennen. 5 Vgl. o. S. 82.

90 renden Staates mit sich bringt. Hegel hat diese bedingende Rückwirkung der weltwirtschaftlichen Interessengemeinsam¬ keit, den daraus erwachsenden Vertrags- und Konfliktsstoff nicht mit in seine Theorie einbeziehen können, was, wie wir sahen, seine Behandlung des internationalen Problems ein¬ schränkend beeinflußt, sie aber einer sinngemäßen Fortbil¬ dung in dieser Richtung nicht verschließt. Hier jedoch ist noch nicht zu den Weiterungen aus der Hegelschen Theorie zu schreiten, sondern zu begründen, daß trotz der grundsätzlichen Autonomie der souveränen Staaten im Internationalen doch in der substantiellen Rechtssubjek¬ tivität der jeweils einbezogenen Staatswillen selbst eine feste Grundbestimmung für ihr gegenseitiges Verhältnis und die Möglichkeit internationaler Rechtsbezüge liegt. In der uns nun in ihren wesentlichen Stufen bekannten subjek¬ tiv-substantiellen Rechtsauffassung Hegels6 eben findet sich die Möglichkeit einer Versöhnung der von ihren Voraussetzun¬ gen aus unbestreitbaren lex suprema salus populi mit einer durch die konkrete Existenz der Sittlichkeit im Staat begrenzten, aber auch zuverlässig fun¬ dierten Ordnung des zwischenstaatlichen Ver¬ hältnisses. Daß diese nicht monistisch, d. h. nach einem allgemei¬ nen über die Besonderheit der Staaten übergreifenden Prinzip zu konstruieren7, sondern nur dialektisch aus dem Ver¬ hältnis letzthin selbstverantwortlicher Staatswillen folgt, entspricht auch praktisch-historisch einer realeren Auffassung der internationalen Wirklichkeit. Die sittlich-autonomen und welthistorischen Grundlagen des Staatswillens stellen eine feste Basis für gegenseitig-sitt¬ liche zwischenstaatliche Beziehungen nicht in Frage, selbst wenn bei objektiver Gefahr für den Bestand des Ganzen ein Sonderdasein der Freiheit des Staates, ein solch einzelner Rechtsbezug aufzuopfern ist. 6 Vgl. Kap. 3 a. E. 7 Eine solche stellt für Hegel das „Völkerrecht“ dar. Daher seine Ablehnung.

91 Diese grundsätzliche, positiv also auf das Landesrecht zu fundierende Möglichkeit internationaler Ordnung wird also von Hegels Ablehnung einer allgemeinen „an und für sich“ geltenden Völkerrechtsordnung nicht betroffen. Die schon von ihm entwickelten Grundbezüge der sou¬ veränen sittlich-substantiellen Staaten ergeben kurz zusammen¬ gefaßt folgende beiderseitig in ihrem eigenen Wesen fundierte Verhältnisse: 1. Anerkennung (daraus später folgend Kriegs- und Ge¬ sandtenrecht, vgl. S. 79, 84f.). 2. Positive Traktate (die, soweit sie in der Substanz der kontrahierenden Staatswillen wurzeln und soweit die konkrete Existenz derselben gewahrt ist, unbedingte rechtliche Geltung haben, vgl. S. 81 f.). 3. Die zwischen den Staaten üblichen Sitten ^von ihnen aus Fundierung des internationalen Privatrechts, Art und Weise der Geschäftsführung und Einzelheiten, wie z. B. Gefangenenrecht). Hieran hätte eine auf Hegels Rechts- und Staatsbegriff systematisch fußende Theorie des internationalen Rechts an¬ zuknüpfen.

92

II. Teil. Sittliche Gewissensentscheidung und souveräner Staatswille. 1. Kapitel. Konkreter Einzelwille und Freiheitsidee. Jede politische Lehre bedeutet zugleich Sinngebung für die einzelne praktische Willensentscheidung. Dies gilt auch für Hegels Rechtsphilosophie, wenn auch ihre aus der allgemeinen Freiheitsidee entfaltete substan¬ tielle Bestimmung aller Willensbetätigung gegen die Einzel¬ heit des Willenssubjektes zunächst gleichgültig erscheint. Nun durchgreift aber, wie wir sahen, diese begriffliche Entwicklung ganz wesentlich weite Gebiete praktischer Tätigkeit, in denen für Hegel die objektive Wirksamkeit menschlichen Wollens den Sinh der allgemeinen Idee ver¬ wirklicht. Dieses konkret-praktische Verhältnis der allgemeinen Idee zu dem menschlichen Willensentscheid berechtigt zu einer Umkehr der Fragerichtung dahin, wie sich der Wille konkret verhalten muß, um Träger der Idee zu sein. Wenn wir nunmehr von dieser Fragerichtung an die in der Rechts¬ philosophie entwickelten Resultate der Freiheitsidee heran¬ treten, so finden wir, daß Hegels eigentliche Bestimmung des Verhältnisses der praktisch-individuellen Willensentscheidung zu ihnen in seiner Fassung des sittlichen Gewissensstand¬ punktes liegt. Und hier ergibt es sich, daß alle politische Wirk¬ lichkeit für Hegel konkret von dem sie wollenden Subjekt getragen wird und daß dies insbesondere auch für den souve¬ ränen Staatswillen gilt, der zuletzt im Mittelpunkt unserer

93 den internationalen lung stand.

Problemkreis

betreffenden

Fragestel¬

Unsere bisherige Darstellung mag den Eindruck erweckt haben, daß der souveräne Staatswille eher ein dogmatisches Richtmaß als eine praktische Willenshaltung darstellt, die von seinem jeweiligen Träger verantwortlich eingenommen wird, und es soll daher Zweck dieses Teils unserer Untersuchung sein, das innere Verhältnis des konkreten Einzelwillens zu diesem umfassenden inhaltlichen Resultat der Hegelschen Rechtsphilosophie und damit recht eigentlich erst seine auch für uns praktische Bedeutung herauszuarbeiten. Zu diesem Zweck aber müssen wir zunächst die Frage beantworten, in welchem Sinne Hegel überhaupt einen „kon¬ kreten Einzelwillen“ anerkennt und hierzu allerdings uns mit seinem Grundbegriff des freien Willens auseinandersetzen, der dem Willenssubjekt im Gegensatz zu der uns zunächst geläufigen Auffassung eine ganz andere Stellung zu seinem rechtlichen und politischen Entscheidungsgebiet zuweist. Wir werden sie als sittliches Gewissen und endlich als souveränen Staatswillen zu begreifen haben. Die Lösung dieser Frage nach der von Hegel angenom¬ menen praktischen Haltung des Einzelwillens zu den jeweils begrifflich entwickelten Entscheidungsgebieten fordert nun nicht mehr in gleicher Weise den strengen Anschluß an den logisch-metaphysischen Fortgang, mit dem jeder Schritt der Hegelschen Rechtsphilosophie aus dem vorangehenden folgt. Obwohl jedes einzelne der Glieder der Rechtsphilosophie, wie wir es taten, aus der immanenten Tendenz des Willens¬ begriffes aufzufassen ist, so können wir doch nunmehr aus ihrer kontinuierlichen Kette die für unsere gewandelte Frage¬ stellung wesentlichen Positionen auswählen. Und der Ge¬ sichtspunkt, nach dem wir es tun, wird sich eben deswegen vor der wissenschaftlichen Grundintention Hegels rechtferti¬ gen, weil die Endergebnisse seiner Rechtsphilosophie nicht nur eine logisch-dialektische, sondern eine praktisch-verpflich¬ tende Bedeutung beanspruchen. Sie bedeuten darum auch

94 über ihr immanent logisches Gefüge, aus dem allein sie aller¬ dings interpretiert werden dürfen, eine ethisch-politische Stel¬ lungnahme, und diese gilt es nun vor allem einzusehen. Stellen wir Hegels Konzeption des freien Willens — wie er es selbst wiederholt getan hat1 — vor allem ihres unter¬ schiedenen praktischen Charakters wegen den staatsphiloso¬ phischen Grundanschauungen des Plato und Rousseau gegen¬ über. In beiden glaubte Hegel einen bezeichnenden Deutungs¬ versuch in der Richtung dieses von ihm endgültig konstatier¬ ten Bewegungsprinzips der politischen Wirklichkeit zu sehen, denn beide nahmen zu dem Freiheitsproblem in ihrer Vision der wahren Natur des öffentlichen Wesens entscheidend Stellung. Zu Platos Zeit, so sagt Hegel, tauchte zum ersten Male die Freiheit als subjektives Prinzip auf und wurde von ihm richtig als ein den sittlichen Gesinnungen seines griechischen Gemeinwesens grundsätzlich Fremdes, ja Feindliches erkannt. Das Zusammenleben, in dem das Gute selbstverständliches Handeln der Staatsbürger nach den Maßen und Notwendig¬ keiten ihrer naturhaft schönen Gemeinschaft war, mußte durch dieses Prinzip zerstört werden. In diese Welt griechischer Sittlichkeit drängte sich subjektive Willkür, die als öffentliches Unwesen und Karikatur in den Sophisten, als ernstes Infrage¬ stellen aber im Gewissen des Sokrates erschien. Das Zerstörende dieser Kräfte glaubte Plato aufhalten zu können durch den Idealismus seines „Staates“, der die subjektive Freiheit einem aus Weisheit und Tugend gebildeten Gemeinwesens unter¬ ordnete, ihren Geltungsanspruch aber damit nicht anerkannte, sondern ihn durch die starre Haltung eines den Einzelnen ganz in sich einspannenden Kollektivums zu verdrängen suchte. Außerhalb des versinkenden Griechentums, dessen Ge¬ meinwesen sich gegen die Freiheit des Einzelnen verschließen mußte und in diesem Staatsbild seine klassische philosophische Darstellung fand, hatte also das Prinzip der freien Persönlich1 §§ 29, 185, 206, 258 R.Phil.

95 keit seinen Eingang in die staatliche Wirklichkeit zu suchen. Die Vernachlässigung aber dieses dann im Christentum göttlich offenbarten Menschenrechtes der Selbstbestimmung besiegelte den Untergang des griechischen Altertums und seiner Idee der dem Einzelwillen gebietend und unversöhnt gegenüberstehenden Gemeinschaft. Ein weiter Abstand geschichtlichen Ringens trennt diese Staatsphilosophie von derjenigen Rousseaus und der französischen Revolution. Aber hier erscheint wieder das Freiheitsprinzip in einem entscheidenden wenn auch ganz anderen Sinne und nunmehr als der Kernpunkt einer poli¬ tischen Lehre. In der Gestalt des einzelnen individuellen Wil¬ lens erklärt Rousseau die Freiheit zum Grundaxiom des Ge¬ sellschaftssystems; von ihm aus empfangen die öffentlichen Institutionen ihre innere Berechtigung, vor ihm haben sie sich demgemäß zu rechtfertigen. Wenn man will, die gerade Um¬ kehr des Platonischen Staatsbildes. Hier ist der Staat nicht sittliche Gemeinschaft, sondern folgerichtig Vertrag der ein¬ zelnen Willen, ein zur Wahrung des individuellen Freiheits¬ status gebildeter Verband. Schon hier scheint die weitgehendste Möglichkeit, menschliches Einzel- und Zusammenleben auf Freiheit zu be¬ gründen, vollendet und dasjenige, was wir gewöhnlich unter Freiheit verstehen, nämlich die Unabhängigkeit und Selbst¬ bestimmung des Einzelnen auf die höchstmögliche Wertstufe im öffentlichen Leben gesetzt zu sein. Hier gilt es, klar einzu¬ sehen, in welchem bestimmten Sinne Hegel über Rousseau in der Formulierung des Freiheitsbegriffes hinausgehen zu müssen glaubte, um dann von vornherein auch die praktische von Hegel angenommene Seite des Wesens der Freiheit zu verstehen. Die Unvollkommenheit der Erfassung dieses Prinzips durch Rousseau sieht Hegel darin, daß mit Freiheit diejenige des individuellen empirischen Einzelwillens gemeint sei, die er seinerseits in dieser unvermittelten Formulierung als eine täuschende Abstraktion und damit als prinzipiellen Ausgangs-

96

punkt für Gestaltung und wissenschaftliche Erfassung des ganzen politischen Organismus unzulänglich findet. Wenn auch über diese Abstraktion hin der Weg zum wahren Wil¬ lensbegriff gefunden werden kann, so führt das Stehenbleiben bei ihr zu Unwahrheit und verderblichen praktischen Konse¬ quenzen. — Die Schwierigkeit der richtigen Erfassung des Hegelschen Freiheitsbegriffes aber liegt eben darin, daß wir nicht wie bei Rousseau einfach an den uns aus der praktischen Erfahrung geläufigen „Willen“ anknüpfen können, den wir ja nur als die Tätigkeit eben des einzelnen Individuums empi¬ risch kennen. Vielmehr gilt es, von Hegels Deduktion eines „allgemeinen“ Willensbegriffes den praktisch nur als indivi¬ duell gegebenen einzelnen Willen, dessen wir uns selbst un¬ mittelbar bewußt sind, zu unterscheiden. In der Erörterung, die uns nun von Rousseaus zu Hegels Willensbegriff hinüber¬ führen soll, werden wir die Bedeutung des ersteren als den des individuellen Einzelwillens von Hegel selbst zunächst relativiert sehen, seine innere Beziehung zu den Ergebnissen der Hegelschen Theorie aber dann unsererseits möglichst konkret zu bestimmen versuchen. Ist es doch allein die Sub¬ jektivität des konkreten Einzelwillens, in der wir einen be¬ stimmten Anhalt für die praktischen Konsequenzen der Hegel¬ schen politischen Lehre, auf die es uns hier vor allem ankommt, in Händen halten. Wille überhaupt ist das Vermögen, einen subjektiven Gedanken- oder Vorstellungsinhalt zu verwirklichen, „in die Objektivität zu übersetzen“2. Als die empirische Fähigkeit des Individuums aufgefaßt, diese oder jene Zwecke und Neigun¬ gen zu realisieren, kann der Wille nach Hegel jedoch nicht als wirklich frei begriffen werden. In dieser Gestalt ist das von Rousseau formulierte Grundprinzip nicht Wille, sondern Willkür4 und als solche aus den folgenden Gründen not¬ wendigerweise nicht im eigentlichen Sinne frei. Obschon das individuelle Wollen zwischen den von ihm in der Außenwelt zu verwirklichenden Zwecken wohl frei wäh2 § 8.

3 § 15.



97

len kann, wird doch diese ursprüngliche Freiheit schon durch den Verwirklichungsprozeß vernichtet. Der Wille, der wäh¬ lend über einer Mannigfaltigkeit möglicher Neigungen und Zwecke zunächst noch freibleibend geschwebt hat, verhaftet sich in dem Augenblick seiner „Entschließung“ an den ge¬ wählten Trieb- oder Vorstellungsinhalt, wird damit von ihm abhängig und ist nicht mehr frei4, es sei denn, daß der reali¬ sierte Inhalt in sich selbst eine Garantie des Fortbestandes der Wahlfreiheit trägt. Diese aus der Selbstbeobachtung leicht zu bestätigende Sachlage wird zum Grund der Hegelschen Ablehnung eines auf dem empirischen Einzelwillen be¬ ruhenden Freiheitsprinzips, insonderheit der Rousseauschen Grundthese, die Hegel als eine zu willkürlicher Zerstörung führende unwahre Abstraktion geißelt5. Jene Subjekt-Objektivität des Willens ist also in ihrer Freiheit durch die Eigentümlichkeit des Inhaltes bedingt, zu dem sie sich jeweils entschließt. Denn der Wille — „an sich“ oder subjektiv frei — verfällt der Bindung an den gewählten Zweck, wenn dieser nicht in sich selbst die Behauptung der Freiheit gewährleistet. Hierzu muß die in sich ungeordnete Welt der subjektiven Triebe einen Prozeß der Vergeistigung durchmachen, der das Wollen eines auch objektiv freiheits¬ bestimmten Zweckes ermöglicht. Schon das Ideal eines durch Harmonisierung der verschiedenen Triebe erreichten Glücks¬ zustandes weist in die Richtung eines aus sich zur Freiheit be¬ stimmten natürlichen Willens — wenn auch wiederum das Glücksziel als einer unter vielen möglichen Werten nur trieb¬ haft und willkürlich gewählt ist6. In der Forderung der Reini¬ gung der Triebe weiterhin, sagt Hegel, liegt bereits so viel Er¬ kenntnis der wahren Natur des freien Willens, als mit ihr in den Trieben „ein vernünftiges System der Willensbestim¬ mung“ durchgesetzt werden soll. Und es ist die gleiche For4 Die

Frage nach

der Freiheit des moralischen Willens,

der

Anspruch, nur dem Gebot des eigenen Gewissensinhaltes zu folgen, gehört noch nicht hierher. S. u. S. 99 ff. r> § 29. 6 Vgl. §§ 17—20 R.Phil. (1144

Abhandlgn. a. d. Völkerrecht (l: v . Trutt zu Solz.

7

98



derung, nur bestimmter gefaßt, durch die wir bei Hegel selbst die Überleitung des natürlichen Willens in seinen Begriff des freien Willens bedingt finden werden. Keineswegs sollen die den Willen subjektiv beherrschenden Triebe abgetötet wer¬ den, sondern vielmehr sollen sie durch die vernünftige Be¬ stimmung ihrer objektiven Verwirklichungsmöglichkeit das ihrer freiesten Entfaltung zuträgliche Maß erlangen. Dies ist insofern ein besonders wichtiges Moment in Hegels Behand¬ lung des Freiheitsbegriffes, als dessen spekulative Fassung dazu verführt, die Möglichkeit außer acht zu lassen, daß in ihn zugleich alle Seiten eines voll entwickelten empirischen Willens aufgehen können7. Diese mögliche Übereinstimmung beruht darauf, daß sich in der willkürlichen Subjekt-ObjektTätigkeit des Trieblebens die Allgemeinheit der Bildung hervortreibe, womit näher gemeint ist, daß an die Stelle der in dem Konflikt der Triebe willkürlich forttreibenden Re¬ flexion die konkrete Subjektivität des Denkens mit seiner zugleich auch das Objektive umspannenden Tätigkeit trete. Freilich dürfen wir darüber nicht im Zweifel sein, daß das sich hier in dem Triebleben des Einzelwillens durch¬ setzende Denken eben dasjenige ist, was als das spekulative Grundelement die gesamte Weltansicht Hegels trägt8. In seiner Philosophie des absoluten Geistes verschafft dem Men¬ schen die im „philosophischen Bewußtsein“ hervortretende Fähigkeit des „reinen Denkens“ den Zugang zu der wesent¬ lichen Natur aller Dinge, so daß für Hegel das Wesen dieses Denkens identisch ist mit der erscheinenden Wirklichkeit und somit diese von dem Denken in seiner wahrhaft entwickelten Form innerlich besessen wird. Diese theoretische Erschlie¬ ßung der Objektivität wird durch das im Willen sich durch¬ setzende Denken zu einer praktischen. Das Hervortreiben der Allgemeinheit des Denkens in dem 7 Dies wird von Foster verkannt, wenn er ausführt, daß Hegel zur Verwirklichung der wahren Freiheit das Vernichten der natür¬ lichen fordere (a. a. O. S. 23 u. a.). 8 21 R.Phil. — Vgl. o. S. 21. Vgl. auch Larenz, Hegels Dialek¬ tik des Willens usw., Logos XX, 2, S. 202 ff.

99 zunächst durch die Besonderungen des unmittelbaren Trieb¬ lebens gebundenen Willen bedeutet nun, daß ein Wille ge¬ dacht wird, der die Verwirklichung der Triebe jenem inwen¬ digen Begriff der Objektivität angleicht und damit in seinem jeweiligen Entschluß zugleich die Garantie mitsetzt, daß der Verwirklichungsprozeß ihn an nichts anderes als an die aus dem Gedanken der allgemeinen Idee selbst hervorgebrachte und darum von aller äußeren Beschränkung unabhängige Bestimmungen bindet. Freier Wille wäre somit nicht mehr, wie im Grund bei Plato ebenso wie bei Rousseau mit dem Satze: „Er tut was er will“, sondern dem: „Er tut das, von dem er weiß, daß es als objektive Wirklichkeitsbestimmung der allgemeinen Idee frei gewollt werden kann“, erschöpfend charakterisiert. Damit aber haben wir die mit der Anknüpfung an Rousseaus Willens¬ begriff zugrunde gelegte Basis endgültig verlassen: Nicht mehr der empirische Einzelwille, sondern die allgemeine Idee, die die Substanz des freien Individuums bildet, ist das Subjekt, von dem im Verfolg der Natur des Willens nunmehr von Hegel etwas ausgesagt wird. Den Einzelwillen konnten wir zunächst nur so weit verfolgen, bis er aus der Notwendigkeit seines eigenen Wesens durch die Vermittlung des Gedankens in den absoluten Zusammenhang der Idee gesetzt wurde. ln dieser Idee des freien Willens liegt, wie wir sahen, für Hegel der Sinn der gesamten politischen und geschichtlichen Wirklichkeit beschlossen. Von ihr aus entfaltet er darum den wissenschaftlichen Aufbau seiner Rechtsphilosophie, den wir oben in seinen Hauptzügen und Ergebnissen Wieder¬ gaben. Hier gilt es nun, bestimmter zu erfassen, in welchem inneren Sinnbezug zu ihnen die in ihrer ewigen Lebendig¬ keit unzerstörbare praktische Subjektivität des einzelmensch¬ lichen Willensentscheides steht.

2. Kapitel. Sittliches Gewissen und historisch-politische Wirklichkeit. Die von Hegel aus der Idee zunächst entwickelten Da¬ seinsformen des freien Willens im „abstrakten Recht“ und der 7*

100 „Moralität“ sind für den Standpunkt der praktischen Willens¬ subjektivität von zurücktretender Bedeutung. Wenn in der zunächst behandelten Sphäre des abstrakten Rechts von der „Person“, später von dem moralischen „Subjekt“ die Rede war1, so handelte es sich noch nicht um diesen unsern Frage¬ standpunkt bezeichnenden konkreten Einzelwillen. Dieser ist weder in dem Willen der „Person“, noch in dem des „Subjekts“ enthalten, sondern bildet erst das Ziel dieser bei¬ den für sich genommen abstrakten und in der Wirklichkeit nicht isoliert vorfindbaren Willenshaltungen. Die konkret wollende Persönlichkeit tritt als das Ergebnis dieser beiden nur erst je eine Seite wirklicher Willenstätigkeit darlegenden Begriffe, und zwar erst in ihrer von Hegel geforderten gegen¬ seitigen Durchdringung, in die Erscheinung. Jeder dieser bei¬ den Standpunkte ist für sich betrachtet noch praktisch un¬ frei und notwendig an den anderen verhaftet: Sowohl äußere Bewegungsfreiheit des Einzelnen in dem ihm durch das Recht bestimmten Bereich objektiver Willensverfügungen, als die innere Entschließungs- und Gewissensfreiheit ist ohne das andere sie jeweils ergänzende Element zur Unwirksamkeit verurteilt. Aber im Prinzip sind es diese beiden Extreme, die für die Möglichkeit eines freien Zusammenlebens schon im einzelnen Individuum zu einer echten Versöhnung gekommen sein müssen, um ihn zum konkreten Träger eines freien Wil¬ lens zu machen: Rechtliche Gestaltung und moralische Ge¬ sinnung — als die objektive und die subjektive Grundbestim¬ mung des Wesens der Freiheit — formen erst durch ihre lebendige Einheit die „sittliche Substanz“2, aus der sich so¬ wohl das Leben des Einzelnen als die allgemeinen Institu¬ tionen und politischen Formen frei gestalten können. Der Standpunkt des wirklich freien Einzelwillens, an dessen Be¬ stimmung durch Hegel uns vor allem liegt, ergibt sich also erst aus der Art, wie diese zwischen Recht und Moral zunächst bestehende gegensätzliche Spannung in Hegels Begriff der Sittlichkeit gelöst wird. 1 Vgl. Teil I, S. 35/37.

2 Siehe u. S. 108.

101

Die objektive Seite3 des Daseins freier Willensbestim¬ mung entwickelt Hegel im „abstrakten Recht“, die subjektive in der „Moralität“. Und wir sahen, daß für Hegel das un¬ mittelbar-objektive Dasein der Freiheit im „abstrakten Recht“ mit dem nur aus sich selbst bestimmten „Wohl“ des morali¬ schen Subjekts in Konflikt geraten muß. An diesem Konflikt erwies sich schon die Unmöglichkeit der abstrakten Gegen¬ überstellung von Moral und Recht und zugleich die Notwen¬ digkeit, beide Gestaltungen aus dem ihnen identisch zugrunde liegenden Prinzip der Freiheit zu lösen4. Als bloßes Prinzip fand sich diese Lösung in dem Begriff des „Guten“, der so¬ wohl das abstrakte Recht zu den von ihm zunächst unberück¬ sichtigten Bestimmungen der Innerlichkeit, als die moralische Subjektivität hinsichtlich der ihr in ihrer Isolierung fehlen¬ den Wahrheit der allgemein bestimmten Freiheitsordnung er¬ gänzen soll. Damit trat das „Gute“ als eine Forderung an den nur rechtlichen sowie den bloß moralischen Standpunkt heran: An jenen mit der Notwendigkeit, seine Bestimmungen mit den Belangen der lebendigen Subjektivität zu erfüllen, an diesen mit einem „Sollen“, nämlich dem moralischen Ideal, aus seiner bloß subjektiven Haltung die Wirklichkeit einer objektiv guten Lebensordnung hervorzubilden. Ein abstrak¬ tes Zielbild aber, das einerseits von der Rechtsordnung Inner¬ lichkeit fordert, diese selbst aber durch ein von außen an sie herangetragenes und darum gegen ihre innere Entschließung gleichgültiges abstraktes Ideal verpflichten soll, konnte nicht als eine wirkliche Gestaltung der Freiheit begriffen werden3. Und dieses Dilemma spitzte Hegel zu der ganzen Schärfe des Gegensatzes zu, der zwischen dem subjektiven im Gewissen lebendig existierenden Willen, seinem Suchen nach wahrer 3 Die Zuspitzung des Gegensatzes von Recht und Moral auf den¬ jenigen der objektiven und der subjektiven Seite der Willensbetätigung beruht

auf

einer Verkürzung

der Perspektive,

die sich bei Hegel

solchergestalt nicht vorfindet, aber aus dem Sinn des Ganzen recht¬ fertigt. Vgl. auch § 26 am Ende. 4 Vgl. o. S. 38.

3 Vgl. o. S. 39.

102

Bestimmung seines Verhaltens und dem objektiv bestimmten aber impulstoten abstrakten „Guten“ besteht, das aus sich weder zu Tat noch Wirklichkeit kommen kann. Das Fest¬ halten dieser von keiner der beiden Seiten allein lösbaren Spannung des Guten und des Gewissens ist für die in der „Sittlichkeit“ entwickelte praktische Grundposition der Hegelschen Ethik von entscheidender Wichtigkeit6. Das „Gute“ bedeutet das Zurückgehen auf den sowohl dem Rechtszu¬ stande als dem Wesen des moralischen Subjekts logisch zu¬ grunde gelegten Begriffs des allgemeinen freien Willens7. Das Gewissen dagegen ist die für die eigentliche Entscheidung sich bereit haltende Form des existierenden subjektiven Wil¬ lens, der seinerseits aus sich den Weg zur Verwirklichung der Freiheit sucht. Die aller äußeren Einwirkung unbedingt entzogene8 Selbstbestimmung des Gewissens, das darum ebenso leicht aus der höchsten Intention des Guten zurückzufallen droht in die Eitelkeit und das Böse, das nur sich will9, ist nun nach Hegel aus sich allein unfähig, zu bestimmen, was objektiv das Gute sei, noch weniger also, dieses Gute aus sich zu ver¬ wirklichen. Jenes Zurückgehen andrerseits auf die abstrakte Identität des allgemeinen Subjektivität und Objektivität spe¬ kulativ versöhnenden Willen vermag es, wie wir sahen, nicht, eine wirkliche Gestaltung der Freiheit zu vermitteln. Dazu ist es — im Gegensatz zu Kant, dessen Moralphilosophie für Hegel bei dem Formalismus der Gewissenssubjektivität und darum einem bloß abstrakten Guten stehen bleibt11 — not¬ wendig, daß wir nicht zurück, sondern einen Schritt weiter gehen, indem wir einsehen, daß nur dann das Gute lebendig und die Freiheit praktisch realisiert wird, wenn sie nicht nur aus der theoretischen Einsicht in das spekulative Wesen des freien Willens, sondern durch ein konkretes Wollen, der aus dieser Einsicht als notwendig bestätig6 Vgl. R.Phil. §§ 129 ff. 7 Besonders deutlich §§ 507, 508 Enz. 9 § 139.

16 § 129.

11 § 33.

8 § 137.

103

ten, aber zugleich in wirklicher Geltung schon vorfind 1 ichen Lebensordnungen gestaltet wird. Nicht nur der Zwang objektiver Rechtsinstitute hebt sich auf, wenn sie in dem Willen des moralischen Subjekts selbst lebendig bezweckt werden, sondern dieses selbst wird aus der Dumpfheit des Eigensinns und der Eitelkeit befreit, in die es sich notwendig durch die Nichtbeteiligung an den objek¬ tiven Werken der Freiheit verliert. Am Schluß der Betrach¬ tung des Bereichs der freien Innerlichkeit steht so die Forde¬ rung, daß sich die hier allein — wenn auch zunächst erst als inhaltlose Form—verankerte Existenz der moralischen Sub¬ jektivität im Gewissen in eins zusammenschließe mit den aus dem Wesen der Freiheit notwendig hervorgehenden Auf¬ gaben objektiver Wirklichkeitsgestaltung. Denn jene, von allem objektiven Inhalt abstrahierte, in Hegels Begriffsführung dem „Guten“ zunächst unversöhnt gegenüberstehende Existenzform des Gewissens ist erst das „formelle“ im Gegensatz zu dem „wahrhaften Gewissen“na. Die abstrakte Forderung nämlich, daß es sich mit dem objek¬ tiven Inhalt des Rechts erfülle, steht dem Tatbestand gegen¬ über, daß in Wirklichkeit ein Gewissen ohne es bewegenden Inhalt undenkbar ist. Eben diese inhaltliche Bewegung, die der Entschließung voraufgeht, ist das Gewissen, und Hegels Be¬ handlung des Moralischen hat nun vor allem erweisen sollen, daß die es bewegenden Zweifel weder aus der Rückbesinnung auf die eigene Subjektivität noch auf ihre logische Bestimmt¬ heit aus dem freien Willensbegriff befriedigend gelöst werden können. Deswegen geht er von der Abstraktion eines inhalt¬ losen Gewissens fort zu der im konkreten Einzelwillen vorfindlichen Wirklichkeit des „wahrhaften Gewissens“, das nur in konkreter Einheit mit seinem Inhalt betrachtet werden kann. Wie für Hegel aus dem notwendigen Fortbestand der Spannung zwischen objektiver und subjektiver Seite in aller Willenstätigkeit das Grundmotiv des ganzen „objektiven Gei¬ stes“ liegt, so vernichtet auch diese konkrete Einheit nicht na Hierzu § 37 a. E.

104 den in ihr aufgehobenen Gegensatz. Allerdings ist es nicht mehr eine bloß innerliche Spannung zwischen Form und In¬ halt des Willens, sondern eine solche, die ihre Lö¬ sung in tätiger Wirklichkeit suchen muß. Dem sub¬ jektiven Gewissensinhalt entspricht notwendig ein objektiver Tätigkeitsbereich, der zugleich Aufgabe und Werk seiner Ent¬ schließungen ist. Und in diesem Gewissen, das sich durch die es bewegenden Inhalte solchergestalt mit einem objektiven Tätigkeitsbereich verantwortlich verbunden weiß, sieht Hegel das für die Idee der sich in der Welt verwirklichenden Freiheit entscheidende praktische Element. Dies istdie Grundgestalt, in derfür Hegel der konkrete Einzelwille zum schöpferischen Trä¬ ger des allgemeinen Weltsinns wird. In dieser Funk¬ tion des „wahrhaften Gewissens“ liegt für das Wesen seiner ganzen politischen Philosophie eine nicht nur spekulative, sondern weit entscheidendere praktische Konsequenz, wie sie etwa die Auffassung, daß hier das Subjektive vernachlässigt oder gar zur Marionette herabgewürdigt sei, einzusehen ver¬ mag. Die sich aus dem Innern des Gewissens entscheidende Bewegung bedeutet den schöpferischen Anstoß undUrsprung, aus dem allein das echte Dasein freier Wirklichkeit hervor¬ gebracht wird. „Alles, was in der Sittlichkeit entsteht, wird durch diese Tätigkeit des Geistes hervorgebracht12.“ Erst in und nach solchem schöpferischen Hervorbringen wird die Freiheit zur Wirklichkeit, und ihr Wesen hat, um zur Er¬ scheinung zu kommen, schlechterdings kein anderes Verwirk¬ lichungsorgan als eben dieses menschliche Wollen. Durch das in der reinen Tätigkeit des Gewissens mögliche Einssein mit dem allgemeinen Weltwesen der Idee wird das sittliche Sub¬ jekt in Hegels Lehre von der Wirklichkeit der Freiheit zum ausschließlichen Organ der Idee in ihrer Selbstverwirklichung1S. Die sich hier herausstellende hohe Bedeutung des subjektiven 12 Zus. zu § 137 R.Phil. 1!! Vgl. hierzu vor allem §§ 142, 147, 149, 152, 153 R.Phil.

105 Willensentscheides tritt in der rechtsphilosophischen Darstel¬ lung Hegels aus Gründen, die sich aus der zeitgebundenen Seite seiner philosophischen Konzeption der ihm gegenwärtigen Epoche erklären, in den Hintergrund. Wir finden zwar sein Zugeständnis, daß „in Zeiten, wo die Wirklichkeit eine hohle geist- und haltungslose Existenz ist, es dem Individuum ge¬ stattet sein mag, aus der wirklichen in die innerliche Leben¬ digkeit zurückzufliehen, um dort das Rechte und Gute zu suchen“14. Aber im ganzen tritt eine solch reformatorische Bestimmung der Subjektivität15 hinter Hegels grundsätzlicher Überzeugung zurück, daß ihr Recht auf moralische Selbst¬ bestimmung und ihr Anteil an der schöpferischen Gestaltung der Freiheit in den Ordnungen des öffentlichen Lebens seiner Zeit verwirklicht sei, und daß darum die objektive Betätigung und Bejahung dieser Bereiche die höchste Gewissenspflicht des Einzelnen bedeuten müßte16. Diese Zuversicht ver¬ bindet sich für ihn so sehr mit der wissenschaftlichen Grund¬ intention seiner Rechtsphilosophie, „ihre Zeit im Begriff zu fassen“ und sie „nicht verjüngen, sondern nur erkennen“17 zu wollen, daß man mit dem Vorwurf des politischen Oppor¬ tunismus nur ihre Oberfläche trifft. Die philosophische Be¬ ruhigung, die er in diesem seinem Zeitbegriff fand, stammt eben aus dieser Überzeugung, daß er in dem Leben seiner politischen Gegenwart das Sichäußern des substantiellen Wesens der Freiheit aufzeigen könne. Und dieser „wärmere Friede mit der Wirklichkeit, den die Erkenntnis verschafft“, mußte so auch die Sphäre der moralischen Subjektivität mit seinem versöhnenden Geiste durchdringen; darum gab es für Hegel „kein heiliges, kein religiöses Gewissen, das vom welt14 § 138. — Sokrates wird hier für diese Haltung angeführt. 15 Vgl. auch § 150 R.Phil. „Unter einem vorhandenen sittlichen Zustande,

dessen Verhältnisse vollständig entwickelt und

verwirk¬

licht sind, hat die eigentliche Tugend nur in außerordentlichen Umständen und Kollisionen jener Verhältnisse ihre Stelle und Wirk¬ lichkeit.“ 16 Vgl. auch § 153 R.Phil.

17 Vorrede zur R.Phil.

106 liehen Recht getrennt oder ihm gar entgegengesetzt wäre“1*. Der Vorwurf aber, daß hierdurch die Autonomie des Ge¬ wissens aufgehoben und seine Spontanität gelähmt werde, ver¬ kennt, daß ähnlich wie sich Hegel das Wesen des universalen Weltzusammenhangs in der spekulativen Identität des zugleich subjektiven „reinen Denkens“ erschlossen hat, so auch die Welt der Sittlichkeit nur in dem „reinen Wollen“ des wahr¬ haften Gewissens zusammengehalten wird, wie sie auch aus ihm als seinem praktischen Organ allein hervorgehen kann. Die Notwendigkeit einer Spannung und die Möglichkeit eines Gegensatzes zwischen diesem „reinen Wollen“ und den ihm mit dem Anspruch einer wirklichen Gestaltung der Freiheit entgegentretenden Zeitgehalten bleibt durchaus bestehen. Und diese Spannung muß in der Hegelschen Theorie nach der Stellung, die in ihr dem wahrhaften Gewissen als dem Selbstbewußtsein des Sittlichen19 gegeben wird, als die eigent¬ liche Ouelle wahrer, rechtlicher und politischer Weiterentwick¬ lung aufgefaßt werden. In ihr nämlich läßt sich die lebendige Energie aufweisen, die in entschlossener Tätigkeit äußere Daseinsformen der inneren Forderung der Freiheit angleicht, und sie bildet den eigentlichen Impuls zur Beseitigung sinnloser Sitten und Ge¬ setze. In dem Lebensbereich einer freien Innerlichkeit voll¬ zieht sich die immanente Selbstkritik der allgemeinen Gestal¬ tungen der Freiheit, denn hier wird jeder Zwiespalt zwischen ihrem eigentlichen Wesen und ihrer praktischen Übung schmerzvoll erfahren und durch die Arbeit des Willens auf seine vernünftige Form zurückgeführt. In dieser schöpferisch¬ kritischen Tätigkeit des im Einzelwillen lebendigen „wahr¬ haften Gewissens“, aus der die sittlichen Lebensbereiche zu immer neuem Dasein hervorgebracht werden, liegt das für die persönliche Willensentscheidung wesentliche Element der 18 G. Phil. (ed. Brunstäd) S. 562. 19 Vgl. hierzu vor allem die §§ 142ff. R.Phil., die für das richtige Verständnis des ethischen Grundproblems der Hegelschen Rechtsphilo¬ sophie bedeutsamer sind als irgendeiner ihrer andern Teile.

107 Hegelschen Ethik. Wir haben ihm nun in seiner prak¬ tischen Anwendung näherzukommen, um die von uns be¬ absichtigte Ergänzung der in ihrem systematischen Zusam¬ menhang bereits dargelegten Stellung der Hegelschen Staats¬ lehre zum internationalen Problem klar herauszustellen. Mit der soeben dargelegten Funktion des „wahrhaften Gewissens“ wurde die „sittliche Substanz“ erst von ihrer subjektiven und „formellen“ Seite erfaßt, deren objektive in¬ haltliche Seite für Hegel, wie er an einer Stelle sagt, „eine absolute unendlich festere Autorität und Macht als das Sein der Natur“20 enthält. Welchen Ursprungs sind jene Inhalte, die dem wahrhaften Gewissen zu subjektiver Verwirklichung innewohnen? Am Ende der Darstellung des zwischen dem abstrakten Guten und dem Gewissen ausgespannten Gegensatzes sahen wir21, daß das Gewissen nur in der Erfüllung der Forderung, die äußeren Ordnungen des Rechts zu seinem eigenen Wil¬ lensinhalt zu machen, Wirklichkeit erlangen könne. Aber diese Forderung erwies sich als abstrakt, indem nämlich das „wahr¬ hafte Gewissen“ in sich unmittelbar Inhalte vorfindet, die es innerlich bewegen, und die es dann, so oder so, zu verwirk¬ lichen hat. Hier liegt nun die für alles weitere entscheidende Gedankenwendung Hegels, die feststellt, daß diese problema¬ tischen Inhalte aus dem objektiven Sein sittlicher Lebensgestal¬ tung, aus sozialem Zusammenleben hervorgehen und letzthin nur im historischen Ganzen eines Volkslebens ihre Begründung und Befriedigung finden können22. Diese für uns grundlegend wichtige Wendung oder besser Erweiterung der aus der Idee des freien Willens notwendig folgenden Gestaltungen tritt an der hier angezogenen Stelle der Hegelschen Rechtsphilosophie nur gleichsam beiläufig hervor. Für unser auf die praktische Bedeutung der hier maßgeblichen Begriffe gerichtetes Dar20 § 146 R.Phil. Vgl. o. S. 41. 21 Vgl. o. S. 39 u. S. 103. 22 Es liegt dies in dem Begriff der „sittlichen Substanz“ selbst — vgl. §§ 144, 153, 349ff. R.Phil. —; ausdrücklich angedeutet wird es zudem in § 156 R.Phil.

108 stellungsziel aber gilt es, schon hier diese historisch-politische Bezogenheit des sittlichen Gewissens klar zu erfassen, die darin liegt, daß es nach Hegel seine wahre Verwirklichungs¬ möglichkeit und Bewährung nicht schon in unbestimmt ge¬ lassenen äußeren Lebenszusammenhängen, sondern letztlich erst in einem konkreten Volksganzen findet. Die wirkliche freie Subjektivität findet sich so unmittelbar durch die sie be¬ wegenden Inhalte als Träger einer bestimmten historisch Vor¬ gefundenen Welt und verwirklicht durch schöpferischen An¬ teil an ihr nicht nur die eigene, sondern die objektive sich in der Wirklichkeit des Volkslebens entfaltende Freiheit. Damit gewinnt für uns die Gestalt des „wahrhaften Ge¬ wissens“ und die es erfüllende „sittliche Substanz“ inhaltliche Lebendigkeit: aus dieser Peripetie seiner Ethik begreifen wir die innere Bedeutung, die für Hegel Zeit seines Lebens in den allgemeinen Bildungen von Volk und Staat lag. Von ihrer allgemeinen Gestaltung hängt es nach dem Vorangegangenen ab, ob und wie weit sich diese als das absolut Schöpferische zu bewertende Bewegung der Innerlichkeit frei und reich ent¬ falten kann. Auf die historisch gegebene Welt des Volkslebens und auf die Gestaltung seiner Lebensformen kommt es also an, ob diese Daseinsbedingung des sittlichen Gewissens, die in seiner praktischen Versöhnung mit einem historisch-politischen Wir¬ kungsbereich liegt, als gegeben begriffen werden kann. Alles sittliche Leben muß dazu der Innerlichkeit der Beteiligten freien und schöpferisch verantwortlichen Anteil gewähren und die praktische Erfüllung dieser Grundbedingung ist es, die Hegel in dem dritten Teil seiner Rechtsphilosophie in der Wirklich¬ keit des ihm gegenwärtigen europäischen Gemeinwesens aufzuweisen versucht. Wir vermögen nun dieser seiner wissenschaftlichen Dar¬ stellung klar den Bereich unseres auf die praktische Haltung des konkreten Einzelwillens gehenden Fragestandpunktes gegenüberzustellen. Wir wissen, daß jede einzelne von Hegel als prinzipiell angenommene Gestaltung in dieser

109 „sittlichen Welt“ die Grundeigentümlichkeit hat, praktisch durch ein sie wollendes „wahrhaftes Gewissen“ verwirk* licht werden zu müssen, und daß andererseits jeder dieser von ihr prinzipiell entwickelten Bereiche von Tätigkeit und Willensentscheidung eben deswegen den substantiell binden¬ den Inhalt einer jeden praktischen Willensentscheidung bildet. Ist doch in ihm, wie wir sahen, das wahrhafte Gewissen sei¬ nem eigenen freien Wesen verpflichtet, und es braucht nicht für jedes dieser Bereiche sonderlich hinzugefügt zu werden: „Also ist diese Bestimmung für den Menschen eine Pflicht23.“ Das wahrhafte Gewissen, zu dem so der Standpunkt des kon¬ kreten Einzelwillens wird, soll in dieser Pflichtenlehre die es bewegenden Lebensgehalte nach der Grundform eines wahr¬ haft sittlichen Verhaltens bestimmt finden, die das Prinzip der sittlichen Innerlichkeit in der ganzen Weite des historisch gegebenen Volkslebens zu bewähren sich vorsetzt. Von einer unmittelbar praktischen vom Einzelgewissen ausgehenden und darum, wenn man die historische Bedingt¬ heit des Gewissens zugibt, nur kasuistisch durchführbaren Be¬ wältigung dieser Aufgabe wendet sich also für Hegel das Schwergewicht der wissenschaftlichen Thematik hinüber zu dem im Leben eines Volkes aufzuweisenden Wesen der Sittlichkeit. Einzelgewissen und Volksleben erscheinen zu¬ nächst als streng unterschiedene Begriffsbereiche. Aber die Probleme des ersteren werden im zweiten nicht ausgeschaltet, sondern — wie dies in jedem der Hegelschen Begriffsüber¬ gänge so ist — erst hier recht eigentlich gelöst. Die Absonderung des zweiten wissenschaftlichen Zweckes nämlich bedeutet den Versuch, zugleich die prinzipielle Grund¬ lage der praktischen Problematik des sittlichen Gewissens zu erfassen. Denn das Endziel des Begriffes der Sittlichkeit ist, wie wir näher sehen werden, die Totalität der objektiven Lebensbestimmungen eines Volkes in die Form der für sie verantwortlichen Gewissenssubjektivität zu setzen. Das Wesen dieser nun in ihrer begrifflichen Lösung entwickelten Auf-3 § 148 R.Phil.

110 gäbe aber stimmt nach dem Gesagten mit der für seine Exi¬ stenz notwendigen Grundhaltung des sittlichen Gewissens überein, dessen innerliche Bewegtheit, wie wir zeigten, in gleichem Bereich der gleichen Bestimmung dient. Der Begriff des Sittlichen ist darum, wenn wir so wollen, in seiner logisch¬ dialektischen Entfaltung wesentlich nichts anderes als das „wahrhafte Gewissen“, das in sich vor seiner selbstverantwort¬ lichen Entscheidung die jeweils einbezogenen Inhalte auf die in ihm sich verwirklichende Idee ausrichtet. Diese Überein¬ stimmung bildet die wissenschaftliche Voraussetzung dafür, daß in diesem Begriffsfortgang auch tatsächlich diejenigen Lebensformen eines Volkes, die für die wahre Freiheit des Einzelnen notwendig und darum für ihn schlechthin verpflich¬ tend sind, festgestellt werden. Der allein verbleibende Unterschied zwischen der logi¬ schen Erfassung und der willentlichen Entscheidung dieser für beide Haltungen identischen Aufgabe liegt selbstverständlich darin, daß durch den Begriff die Gehalte der historisch-poli¬ tischen Lebensgestaltung nach der inneren Notwendigkeit des sich in ihnen verwirklichenden sittlichen Willens dialektisch in die der Wirklichkeit entsprechende Beziehung zueinander gesetzt werden, während sie für das Gewissen in der Be¬ deutung unmittelbar geschichtlich gegebenen Lebensinhaltes anerkannt und reflektiert werden, um sie dann nach dem Sinne der ihnen innewohnenden sittlichen, d. h. freien Bestimmtheit zu realisieren. Wenn also auch das Gewissen den Begriff des wahrhaft Sittlichen wissend in sich tragen muß, um die je¬ weilig auftauchenden Inhalte dieser ihnen immanenten Ord¬ nung unmittelbar anzugleichen, so enthält es doch gegenüber der bloß wissenschaftlichen Haltung des „Begriffs“ das un¬ zerstörbar selbständige Element der schöpferisch-praktischen Tätigkeit. In allen von Hegel aus dem Begriff des Sittlichen be¬ stimmten Lebensbereichen menschlichen Verhaltens liegt also diesem ihrem eigenen Maßstab nach zugleich die von uns bezeichnete schöpferische und immanent kritische Funktion

111 des wahrhaften Gewissens, das der Spannungsweite des Be¬ griffs nichts nachgibt, vielmehr über ihn hinaus die Stellung des eigentlich praktischen Verwirklichungsorgans der sitt¬ lichen Wirklichkeit behauptet. Im Gegensatz zu einer Kritik, die Hegel des Vernichtens der moralischen Subjektivität in seiner Theorie bezichtigt, wird also in allem folgenden gerade ihr tatsächliches Vorhandensein von dem hier freigelegten praktischen Kernpunkt seiner Ethik aus zu dem eigentlichen Kriterium für den sittlichen Wert einer jeden historisch-poli¬ tischen Wirklichkeitsgestaltung gemacht werden können.

3. Kapitel. Gesellschaftsmoral und Staatsverantwortung. Der Fragestandpunkt des konkreten Einzelwillens hat sich uns in der Gestalt des wahrhaften oder sittlichen Ge¬ wissens zu einem klaren Sinnprinzip verdichtet, zu dem wir nun die praktischen Ergebnisse der Hegelschen Rechtsphilo¬ sophie in eine bestimmte Beziehung setzen können. Die Auf¬ gabe ihrer Sittlichkeitslehre läßt sich nach dem Gesagten so formulieren, daß sie den objektiv konstatierbaren Zustand, als den sich uns das politisch und historisch Gegebene zu¬ nächst darbietet, hinüberführt in den Begriff eines Lebensbereiches, der im Einzelnen und Ganzen zugleich den Inhalt sittlicher Gewissensent¬ scheidung ausmacht. Erst dann nämlich wäre jene Wendung Hegels zur Objek¬ tivität endgültig gerechtfertigt, die wir als die Peripetie seiner Ethik bezeichneten, und die die Freiheit des Gewissens mit seiner politischen und geschichtlichen Inhaltlichkeit praktisch versöhnt. Die von diesen zunächst äußerlichen Mächten ge¬ botenen Kreise des Notwendigen und Gegebenen müssen sich also zugleich als solche freier Willensschöpfung fassen lassen, wenn die Gestalt des wahrhaften Gewissens nicht nur ein abstrakter und spekulativer Begriff bleiben, sondern wie es in diesem Begriff selbst liegt1, zugleich als praktisches Ge1 Siehe o. S. 106.

112 staltungsprinzip der politischen Wirklichkeit begriffen wer¬ den soll. Formal fordert das hier gestellte Thema, die Objektivität eines Betätigungsfeldes in die Form der Subjektivität zu fassen; gegenständlich umgreift es die gesamte soziale Er¬ scheinungswelt. Denn es gilt, wie wir sahen, den ganzen Zusammenhang eines gegebenen Volkslebens in seinen ein¬ zelnen Lebensbereichen sowohl als in seiner Ganzheit sub¬ jektiv-verantwortlicher Gewissensentscheidung zu erschließen, damit deren Existenzbedingung erfüllt werden und sie in diesen Lebensinhalten Recht und Pflicht ihrer Freiheit finden kann. Den eigentlichen Ausgangspunkt für dieses Unternehmen bildet die Lehre von der bürgerlichen Gesellschaft. Denn das notwendige Aufbrechen der Familiengemeinschaft, die nach Hegel, wie wir sahen, Grundeinheit sittlicher Lebensgestal¬ tung ist, und die darauf folgende Zersplitterung des gesell¬ schaftlichen Daseins in unzählige Einzelexistenzen schafft recht eigentlich erst die Problematik des „Zustandes“, den es zur wahren Verwirklichung des Sittlichen als möglichen Lebensbereich subjektiv-verantwortlicher Gewissensentschei¬ dung zu erfassen gilt. Und hier in der Tat erscheint uns zunächst ein Bild „der in ihre Extreme verlorenen Sittlichkeit“2, wenn nicht gar, wie Hegel sich selbst ausdrückt, „das Schauspiel ebenso der Aus¬ schweifung, des Elends und des beiden gemeinschaftlichen physischen und sittlichen Verderbens“. Wie löst Hegel diese Aufgabe? Begriff und Dasein sittlicher Gewissensentscheidung fordern kategorisch, daß prinzipiell nirgends im Volks¬ leben, das, wie wir sahen, den allgemeinen Tätig¬ keitsbereich des Gewissens bildet, eine seiner objektiv¬ schöpferischen Spontanität Vorgesetzte äußere Instanz zu¬ gegeben wird, sondern daß sein tätiger Wechselbezug mit dem von ihm gewählten Lebensbereich ein durchaus freier 2 § 148 R.Phil.

113 und eigenständiger sei. Das Prinzip der unbedingt bewegungs¬ freien „Privatperson“ und die zunächst anscheinend willkür¬ liche Betätigung ihrer Willensenergien ist nicht nur ein im praktischen „Zustand“ aufgewiesenes, sondern in der Tat ein notwendiges Durchgangsmoment für die völlige Verwirk¬ lichung des Sittlichen. Auch im Einzelfalle muß seine freie Betätigungsmöglichkeit gewährleistet sein und sich auch weiterhin nur durch die aus seinem eigenen Wesen folgende Selbstbindung beschränken, wenn die Subjektivität des sitt¬ lichen Gewissens über das Leben des Einzelnen hinaus als das leitende Wesensprinzip allen menschlichen Zusammenlebens überhaupt aufgestellt werden soll. In einem wahrhaft auf Freiheit gegründeten Gemeinwesen muß sich auch bis in die Winkelzüge alltäglicher Willkür und Eigensucht das ihnen innewohnende Prinzip freier Willensbetätigung empirisch aufweisen lassen, um dann von hier aus zu einem allgemeinen, die Ganzheit dieser besonderen Belange innerlich bestimmen¬ den und damit sittlichen Willen und seiner wahrhaften Organi¬ sation vorzudringen. Hierin liegt der Grund, warum Hegels wissenschaftliche Erfassung des Gemeinwesens in keiner einzigen Phase mit einer äußeren Bedingung an die Phänomene menschlicher Willens¬ betätigung herantritt'. Um den Erweis für die innere Bedingt¬ heit aller politisch wesentlichen Willensbetätigung durch das Sittliche auch für den allgemeinen Zusammenhang anzutreten, stellt sich die wissenschaftliche Betrachtung gleichsam auf eine empirische Probe, indem sie sich zunächst auf die Auswirkungen der aus Privatinitiative hervorgehenden gesellschaftlichen Wil¬ lensbetätigung beschränkt. Und eben die solchergestalt als Auswirkungen gefaßten gleichsam unabsichtlich und mecha¬ nisch sich bildenden Kollektivleistungen und Zusammenhänge faßt Hegel in dem Begriff der „bürgerlichen Gesellschaft“ zusammen. Hier handelt es sich also ausdrücklich noch nicht um die sozialen Gegebenheiten in dem Sinne ihres bewußten und gewollten Gestaltetwerdens, sondern um die sich aus dem Vgl. o. S. 31. 6144

Abhandlgn. a. d. Völkerrecht 6: v. Trott zu Solz.

H

114 Getriebe des Einzelinteresses ergebenden Zusammenhänge, deren Gesetzmäßigkeit empirisch aufgefaßt wird. So fordert Hegels Lehre des Sittlichen in dieser Phase, daß realistisch von der ganzen Breite des gesellschaftlichen Zusammenlebens ausgegangen wird, um aus seinen objektiven Existenzbedin¬ gungen und nicht aus einer vorgefaßten Willenshaltung die tatsächlichen Voraussetzungen seiner sittlichen Gestaltung zu erkennen. Und indem er eben nicht von einer idealen Voll¬ ständigkeit des sittlichen Volkslebens ausgeht, das ohnehin und unter allen Umständen bestände, vermag er die empi¬ rische Oberfläche dieses „Kampfplatzes des individuellen Pri¬ vatinteresses aller gegen alle“4 und seine lebensnächsten Zu¬ sammenhänge in eine wesentliche Beziehung zu der gleich¬ bleibenden Substanz der sittlichen Grundverhältnisse zu setzen, die Kraft und Freiheit zu dieser Lebendigkeit spenden. Es kommt uns hier nicht auf die verschiedenen Begriffsver¬ bindungen an5, durch die Hegel von der mechanischen Ge¬ setzmäßigkeit der Wirtschaftsverfassung zu der organisch¬ verantwortlichen Bewußtheit der politischen Verfassung vor¬ dringt, durch die dann jene erst die eigentliche Stütze ihres Bestandes erhält. Um ihren Zusammenhang als Ganzes noch¬ mals zu übersehen, könnten die in der Gesellschaftslehre ge¬ forderten, vom Staat aus aber erst praktisch verwirklichten Teilgestaltungen des Sittlichen auf die uns bekannten ab¬ strakten Fundamente des Sittlichkeitsbegriffs zurückgeführt werden: In der Wirtschaftsverfassung bestätigt sichnach Hegel das moralische Recht des Einzelnen, dem Verfolg des eigenen Wohls frei nachzugehen6, in der nächst entwickelten Rechts¬ pflege das abstrakte Recht der in ihren objektiven Willens¬ verfügungen zu sichernden Rechtsperson; und zwar zunächst nicht etwa durch eine in dem gesellschaftlichen Getriebe sich dauernd durchsetzende vernünftige Selbstbesinnung, sondern weil die selbstsuchende Privatfreiheit der Bürger diese Ord¬ nungen als Mittel zur Erreichung eigener Zwecke bedarf. Von 4 Anm. zu § 289. 6 Vgl. § 207.

5 Vgl. hierzu Teil 1, S. 44 ff.

115 der Wirtschaftsfreiheit wie vom Recht gilt, daß, „wenn es auch aus dem Begriff kommt, so tritt es doch nur in die Exi¬ stenz, weil es nützlich für die Bedürfnisse ist“7. Wenn sich auch schon aus diesen zur Wohlfahrt des Ein¬ zelnen unumgänglichen Allgemeinveranstaltungen eine für sie subjektiv-verantwortliche Sachwalterschaft und damit ein auf allgemein-sittliche Gestaltung gehendes Gesellschaftsinteresse folgern ließe, so enthält dies doch in bezug auf das wirkliche Bedingtsein des bürgerlichen und wirtschaftlichen Verhaltens des Einzelnen durch die das Ganze beherrschende Grund¬ bestimmung des sittlichen Gewissens nur erst den Wert einer indirekten Versicherung. In dem Vorgefundenen Treiben des Lebens der Gesellschaft wäre die praktische Bewährung der Gestalt des wahrhaften Gewissens erst dann vollständig auf¬ gewiesen, wenn die Moral der Privatperson, deren höchster Inhalt zunächst das eigene Wohl zu sein scheint, sich in sich zu dem substantiellen Grund einer sittlich-objektiven Verant¬ wortlichkeit vertiefte. Erst wenn sich diese uns hier vor allem interessierende Willenshaltung in der gesellschaftlichen Erfah¬ rungswelt auch im Einzelnen wirklich erfüllen läßt, wenn mit anderen Worten der konkrete Einzelwille wirklich in sich die sittliche Gestaltung der ihm gewissensmäßig gegebenen poli¬ tischen Wirklichkeit zu fassen vermag und der allgemeine Zu¬ sammenhang nicht nur als äußeres Mittel, sondern vom Ein¬ zelnen jeweils als der für ihn schlechthin grundlegende Ver¬ antwortungsbereich gewollt wird, ist er auch als Ganzes nicht mehr nur „Zustand“, sondern Lebensbereich sittlicher Ge¬ wissensentscheidung. Diese innerliche Vermittlung von privater Interessen¬ moral und allgemeinverantwortlicher Gesinnung, die in ihrer Vollständigkeit den eigentlich praktischen Sinn seiner Staats¬ lehre bildet, erscheint Hegel schon in dem rein zuständlich gefaßten gesellschaftlichen Treiben und zwar vor allem im Ständewesen aufweisbar. Auch die Stände erfaßt Hegel zunächst als Schöpfungen 7 Vgl. o. S. 46.

8

*

116 des wirtschaftlichen Bedürfnisses, das sich nach seinen Haupt¬ arten systematisch unterscheiden läßt. Zu seiner Erfüllung gliedern sich die verschiedenen Berufsfunktionen in acker¬ bauenden, gewerbetreibenden und allgemeinen Stand. Die hiernach unterscheidbaren Tätigkeitsbereiche lassen sich auf die ihnen als typisch zugrundeliegende Willenshaltung zurück¬ führen, mit der sie ihren jeweils eigenen Lebensbereich er¬ füllen und diesen in einer bestimmten Weise an den allgemei¬ nen Gesellschaftszustand anschließen. Hiernach unterscheidet Hegel die drei Stände und ihre grundsätzliche Funktion in der praktischen Verwirklichung einer im Ganzen ebenso wie für den Einzelnen sittlichen Lebensgestaltung. Die Selbst¬ sucht, mit der sich der einzelne Bürger zunächst an den Stand anschließt, wird dadurch, daß dieser in einem bestimmten Sinne an der verantwortlichen Gestaltung des Ganzen teil¬ nimmt, „organisch“ in den politischen Gemeinsinn überführt; zugleich wird im Stand der sittliche Gestaltungswille des Einzelnen seinem Inhalt nach bestimmt Umrissen. Der acker¬ bauende Stand ist schon durch seine Lebensweise, die ihn nach Hegel in dem Familienprinzip und einer auf dem Zu¬ trauen beruhenden natürlichen Sittlichkeit erhält, mit dem all¬ gemeinen Zweck des Gemeinwesens verbunden8. Ähnlich ruht die Bestimmung des allgemeinen Standes schon unmittel¬ bar darin, daß er „die allgemeinen Interessen des gesellschaft¬ lichen Zustandes zu seinem Geschäft hat“9. ln dem Stand des Gewerbes aber besteht vornehmlich die Möglichkeit eines Konflikts zwischen allgemeinem und be¬ sonderem Zweck und die Schwierigkeit, diese bewegliche Sphäre auf eine auch nur für sich verantwortliche sittliche Grundlage zurückzuführen, liegt eben darin, daß ihr Tätig¬ keitsbereich und die von ihm weiter ins Unabsehbare gehen¬ den Folgenwirkungen eben nicht zugleich in einer subjektiven Verantwortlichkeit zusammengehalten werden können. Aber selbst in dieser wesentlichen Richtung auf das „Be¬ sondere“10, die dem Privatstand eigentümlich ist, bildet sich 8 Vgl. §§ 203, 250, 305.

9 § 205.

10 § 250.

117 nach Hegel ein objektiver Ansatz zu sittlicher Lebensgestaltung, und zwar liegt er auch hier in dem Zusammenschluß von Berufsgenossen zur gemeinschaftlichen Vertretung der ihrer Betätigung jeweils eigentümlichen Interessen. Indem sich in solchem Zusammenschluß das Besondere zu einem, wenn auch zunächst beschränkten Allgemeininteresse selbst organisiert, sieht Hegel in der „Korporation“ die sittliche Verwurzelung des gewerbetreibenden Bürgers. Als Glied dieser Körperschaft findet er geradezu eine „zweite Familie“11, denn in ihrem auch von ihm gewollten Zweck ist der ganze Inhalt der sein Leben objektiv erfüllenden Berufstätigkeit mitgesetzt und diese da¬ mit zu einer substantiellen Bindung geworden, wie sie der in der Familiengemeinschaft verwirklichten Grundgestaltung des Sittlichen gleicht. Das Wollen des Einzelnen innerhalb dieser Kreise sittlicher Lebensgestaltung bleibt aber zunächst auf die einzelnen Gewerbezweige beschränkt, und es bedarf als sol¬ ches immer noch einer Vermittlung mit einem wirklich den ganzen Gesellschaftszustand umgreifenden allgemein verant¬ wortlichen sittlichen Willen. Solange diese Vermittlung fehlt, liegt zwar in ihrer sittlichen Gestaltung der ihr jeweils zu¬ gänglichen Bereiche das zu achtende Recht der Korporation, aber es ist ein relatives, das in sich keine praktische Garantie der Übereinstimmung mit der sittlichen Verantwortung für die Zwecke des Volksganzen trägt. Zwar besteht nunmehr eine erhöhte Wahrscheinlichkeit, daß die jeweiligen Belange der in den Korporationen zusammengeschlossenen Einzelbür¬ ger mit denen des Volksganzen übereinstimmen und daß sich daraus eine zwangsläufige Verbindung der Interessenmoral der Privatperson mit dem Gemeinsinn des Staatsbürgers er¬ gibt. Aber soweit nicht die erstere bewußt als ein organisches Glied der letzteren gesetzt wird und nicht das Allgemeine zu einem primären subjektiven Belang gemacht wird, ist dieser Übergang in dem Gewerbestand nur erst bedingt vollzogen. Diese noch notwendig bleibende Vermittlung ist die eigentliche Berufung des allgemeinen Standes; ihre nähere 11 § 252.

118 Auseinandersetzung aber führt uns schon hinüber zum Staat, dessen Sachwalter dieser Stand ist. An Hegels Ansicht vom Standeswesen ließe sich auf¬ weisen, wie in ihr alle Grade der Teilnahme des Einzelnen und seiner subjektiven Verantwortung für das Volksganze ge¬ geben sind. Vor allem ist es für die praktische Möglichkeit, daß der Einzelne frei den ihm angemessenen Teil an der sitt¬ lichen und politischen Gestaltung des Ganzen trägt, von Wichtigkeit, daß die Wahl seiner Berufs- und Standeszu¬ gehörigkeit ihm frei steht12 und insbesondere auch der Zutritt zu dem allgemeinen Stand nur von seiner objektiven durch Prüfung zu erweisenden Geeignetheit abhängig gemacht wird13. So bereitet sich in der Ständeorganisation, indem sie die praktische Vermittlung der Interessenmoral des Einzelnen mit einem durchgängigen allgemeinen Zweck möglich erscheinen läßt, etwas vor wie ein aus dem freien Wollen der einzelnen Privatperson lebender Organismus eines allgemeinen sitt¬ lichen Zusammenlebens. Weil nach Hegel im Staat diese allgemeine Vermittlung wahrhaft „organisch“, d. h. in einem für alle Beteiligten glei¬ chen subjektiven Lebenszentrum zusammengehalten und von ihm aus alle diese Gliedkreise und Existenzen zu selbstverant¬ wortlicher Gestaltung vertieft werden, so ist erst dort das rechtsphilosophische Ziel, den politischen Gesamtzustand als den Inhalt sittlicher Gewissensentscheidung zu fassen, voll¬ ständig erreicht. Erst hier steht subjektive Zwecksetzung in lebendigem Wechselbezug mit der ganzen Fülle der in einem Volksleben Vorgefundenen Tätigkeitsbereiche. Es ist die aus¬ drückliche Absicht von Hegels politischer Lehre, daß der Be¬ griff der empirischen Gesellschaftszusammenhänge nur bis zu der Konstatierung der Notwendigkeit eines solchen und zwar außerhalb dieser Zweckmäßigkeitsebene liegenden Standpunktes führt, an den sich anzuschließen nicht nur Pflicht, sondern in Wahrheit auch Voraussetzung aller praktischen 12 § 206.

13 § 291.

119 Willensbetätigung ist. Nicht jene Verstandesreflexion, die das Allgemeine zum Mittel des Besonderen macht und von hier auch bis zu mannigfaltig verknüpfenden Zusammenhängen kommt, sondern nur ein Wollen, das, wie es dem Wesen des sittlichen Gewissens entspricht, die substantiellen Grund¬ bedingungen seines Tätigkeitsbereiches selbst zum Ausgang nimmt, bedeutet für Einzelnen und Ganzes wahrhaft sittliche Lebensgestaltung. Diesen tieferen Ausgangspunkt findet nach Hegel das sittliche Gewissen im Staat.

4. Kapitel. Der souveräne Staatswille. Auch der Sinnweite von Hegels Staatsbegriff gegenüber, der als „in der Welt stehender Geist“, wie wir sahen, alle Wirklichkeitsgestaltung substantiell umfaßt1, haben wir an dem bestimmten Maßstab unserer Fragestellung, den wir als das seine historisch-politischen Inhalte schöpferisch gestal¬ tende sittliche Gewissen faßten, festzuhalten. Inwieweit be¬ deutet der Staat Hegels tatsächlich die Realisation der am Ende seiner Gesellschaftslehre konstatierten Notwendigkeit eines über die dort noch vorherrschende privatbürgerliche Willenshaltung hinaus das historisch-politische Dasein des Ganzen sowohl als des Einzelnen in sich fassenden sittlichen Gewissens? Gelingt es, im Staat die Gesamtheit der besonderen Sphä¬ ren eines Volkslebens wirklich in diese absolute ethische Lebensform zu fassen, so findet auch das sittliche Gewissen in der Hegelschen Staatslehre und diese in jenem eine konkrete Formulierung. Mit ihr nämlich würde der „Staat“ wirklich zur Totalität sittlicher Lebensbestimmung und zugleich die Innerlichkeit jedes Einzelnen mit dieser allgemeinen Gestalt des sittlichen Gewissens untrennbar verknüpft werden. Vom Standpunkt der sittlichen Subjektivität ist also die praktische Grundaufgabe der Hegelschen Staatslehre diese: Sie hat auf¬ zuweisen, daß im Staat tatsächlich die ganze Fülle gegebener historisch-politischer Gewissensinhalte in die Form einer sie 1 Vgl. o. S. 54.

120 gestaltend in sich fassenden Subjektivität gesetzt werden und sich diese Subjektivität der vollen Lebenswirklichkeit aller ein¬ zelnen praktischen Gewissensentscheidung als Grundlage und Ausgangspunkt mitteilt. Eine solche, die allgemeine Substanz des Volkszustandes durchdringende Willenssubjektivität des Staates, wir wollen sie hier „Staatswille“2 nennen, würde nach Durchführung dieser umfassenden sittlichen Aufgabe zugleich den höchsten Anspruch der einzelnen sittlichen Subjektivität miterfüllen. Der Einzelne findet seine sittliche Lebensgestaltung in Familie, Ackergewerbe, Korporation und Staatsamt — aber im Grunde nur deswegen, weil der übergreifende Staatswille all diese Sphären in eine sittliche Subjektivität „aufhebt“, sie verantwortlich schützt und sie zu organischem Einklang ge¬ staltet3. Zwar ist der Tätigkeitsbereich des Einzelgew'issens der Totalität des Staatswillens gegenüber notwendig ein be¬ schränkter, so daß sich in ihm jene unbedingte von uns oben dargelegte sittliche Verbindlichkeit und Teilhabe nur zu einem jeweils beschränkten Kreis entfaltet. Aber: „Die Vereinigung (des Einzelnen mit dem Ganzen) als solche ist selbst der wahre Inhalt und Zweck, und die Bestimmung der Individuen ist, ein allgemeines Leben zu führen; ihre weitere besondere Befriedigung, Tätigkeit, Weise des Verhaltens hat dies Sub¬ stantielle und Allgemeingültige zu seinem Ausgangspunkte und Resultate4.“ Selbst wenn die Gestaltung historisch-poli¬ tischen Daseins vom Einzelnen aus jeweils nicht das Ganze umspannt, ruht doch so für Hegel in der allgemeinen Subjek¬ tivität des Staatswillens der letzte substantielle Grund, in dem die Tätigkeit des einzelnen Gewissens die praktische Voraus¬ setzung zur Befriedigung seines sittlichen Wesens findet. 2 Der Ausdruck findet sich bei Hegel nicht und empfiehlt sich nur für die Durchführung unserer Fragestellung an seine Staatslehre, um so ihre Ergänzung unserer systematischen Darstellung (Teil I) möglichst klar zum Ausdruck kommen zu lassen. Vgl. o. S. 87 ff. 3 Vgl. Teil 1, S. 95 ff. 4 § 258.

121 Nun darf uns aber mit dem Staatswillen nicht der Ver¬ dacht einer mystischen Instanz auftauchen; schon in der Eigentümlichkeit seiner Berufung, das historisch-politische Volksdasein in die Form sittlicher Subjektivität zu setzen und damit die Idee zu wirklichem Dasein hervorzubringen, liegt, daß als praktisches V e r w i r k 1 i ch u ngs o r g a n wie¬ derum nur das konkrete sittliche Einzelgewissen in Frage kommt5 6. Immerhin aber dürfen wir hierin eine neue Formulierung des Verhältnisses des Einzelnen zum Staatswillen nicht verkennen: es handelt sich nicht mehr um den jeweilig auch vom Standpunkt des Besonderen aus ab¬ leitbaren Anteil am Allgemeinen, sondern um die leitende Gestaltung des Staatswillens, ohne daß allerdings die praktische Trägerschaft, die bei dem sittlichen Einzelgewissen liegt, sich, wie wir sehen werden, irgendwie ändert. a) Verfassungund Souveränität. Diese leitende Gestaltung ist „der Standpunkt der höch¬ sten konkreten Allgemeinheit“, mit dem Hegel an einer Stelle das Politische bezeichnetB. Seine Betätigung bedeutet mehr als jene gleichsam „genießende“ Anteilnahme an dem Staats5 Vgl. o. S. 104. 6 § 303. — Den kritischen Ausführungen Fosters, die an sich auf das grundsätzliche Verhältnis von Geist und Geschichte bei Hegel hin¬ zielen und darum als Ganzes einen weiteren Rahmen der Auseinander¬ setzung fordern, ist hier insofern zu widersprechen, als sie Hegel schlechthin eine Verkennung des Politischen vorwerfen (vgl. z. B. a.a. O. S. 16, 80 u. a.).

Beruht doch Hegels Stellungnahme nicht auf

einem Mißverstehen, sondern der ausdrücklichen Ablehnung des ihm hier entgegengestellten Wesens der Politik. So weit es sich um Partei¬ politik

(S. 16) handelt, ist doch kaum anzunehmen, daß Hegel den

Kampf widerstreitender Parteinteressen nicht kannte, nur sah er nicht in ihm das politisch wesentliche, sondern dieses lediglich in dem Grade, zu dem jeweilig in den besonderen Beteiligten die wissentliche Verantwortung für das Ganze lebendig ist.

Dies „höchste konkret

Allgemeine“ sah er nie, sich aus dem Aggregat besonderer Zweckrich¬ tungen und ihrer gegenseitigen Kämpfe ergeben (s. o. S. 118/119), und er wendet sich von dem demokratischen Prinzip, das dies voraussetzt, wiederholt und ausdrücklich ab; vor allem auch in der Grundtendenz

122 willen, die ihn lediglich als die Grundvoraussetzung einer in sich privatbürgerlichen Tätigkeit anerkennt. Sie ist dessen gewußte und gewollte, objektive Gestaltung und Organisation, die Hegel den „eigentlich politischen Staat“ nennt7. Die sub¬ jektive Initiative ist hier unmittelbar bedingt durch die Ob¬ jektivität ihrer auf den Allgemeinzweck schlechthin abge¬ sehenen Aufgabe und ihrem jeweiligen Einsatz liegt eine nach der absoluten Form dieser Aufgabe als notwendig ge¬ wußte Gliederung des Ganzen zugrunde. Diese objektive Or¬ ganisation seiner Wirksamkeit findet der Staatswille in der Verfassung, die also die Gesamtheit der besonderen Sphären des Volkslebens mit der allgemeinen Subjektivität des Sitt¬ lichen zu vermitteln bestimmt ist8. Erst in der Erfüllung dieser Endaufgabe kann, wie wir sahen, der Staatswille zur schlecht¬ hin grundlegenden sittlichen Substanz allen historisch-poli¬ tischen Wollens werden. An den Grundzügen ihrer praktischen Durchführung im Verfassungsleben müßte also aufgezeigt werden können, wie sich nach Hegel für die Existenz des Einzelgewissens im Staat der endgültige Kreis seiner sittlich-substantiellen Lebensge¬ staltung auch praktisch schließt. Versuchen wir also die Wirk¬ samkeit des Staatswillens als eines Ganzen aus dieser seiner Funktion zu erfassen, wobei an die oben ausgeführte schöpfe¬ risch-kritische Funktion des wahrhaften Gewissens zu den in ihm sich vorfindenden historisch-politischen Inhalten zurück¬ erinnert werden mag9. Denn in Hegels Begriff der „Verseines Artikels über die Reform-Bill von 1832!

(Vgl. §§ 301, 308.)

Durch die Organisation des Ständewesens glaubte Hegel nicht nur alle Besonderheit der Willensrichtungen, sondern auch alle spontane staatsbürgerliche Teilhabe an die politische Gestaltung des Ganzen er¬ schöpfend angeschlossen. Daß hiermit auch die Forderung der freien Subjektivität in Hegels Fassung des Politischen prinzipiell erfüllt wird, steht im Mittelpunkt der Gedankenführung dieses Teils unserer Dar¬ stellung, so daß er als Ganzes auf den Vorwurf der Vernachlässi¬ gung des Subjektiven worten sucht. 7 § 267.

und damit auch des „Politischen“ zu

8 Vgl. Teil I, S. 68.

9 Vgl. o. S. 106.

ant¬

123

fassung“ selbst läßt sich die gleiche spekulative Wechsel¬ beziehung des im Volksleben historisch Gegebenen (Ver¬ fassung--Zustand) und selbstbewußt Gestaltenden (Verfassung = geistige Zielsetzung) aufweisen10. Sie ist für ihn ein zugleich Seiendes und Werdendes und „obgleich in der Zeit hervorgegangen“ doch als das „Göttliche und Beharrende, und als über der Sphäre dessen, was gemacht wird, zu be¬ trachten“11. Das absolut Gleichbleibende in ihr, wir können es leicht erraten, ist das übergreifende Prinzip ihrer schöpfe¬ rischen Bewegtheit, durch die in ihr historisch gegebenen In¬ halte in die Form verantwortlicher Subjektivität gesetzt und von dieser aus realisiert werden. Je nach der in einem Volk verwirklichten Entwicklung sittlicher Lebensgestaltung wird dies mehr und weniger feingliedrig der Fall sein, d. h. mehr oder minder bewußt werden sich die einzelnsten Lebenskreise des Volkes in die sittliche Verantwortung für das Ganze hineinbeziehen. Das eigentliche Thema für die philosophische Interpre¬ tation der Verfassung liegt also darin, historisch Vorgefundene Lebens- und Organisationsform auf diese sie subjektiv bele¬ bende und als Ganzes in sich „aufhebende“ Grundbestimmung zurückzuführen. Eben dieses Durchgriffensein historischen Daseins mit sittlicher Verantwortung ermöglicht es Hegel, die Wirklichkeit der Idee im Staat vollendet zu sehen. In seiner begrifflichen Entwicklung dieses ideellen Zwecks der Verfassung finden sich so geschichtliche Elemente mit speku¬ lativ logischen Bestimmungen untrennbar verwoben. Es wird sich deswegen eine nähere Betrachtung immer wieder vor die Aufgabe gestellt sehen, das Prinzipielle von dem histo¬ risch heute nicht mehr Zutreffenden zu trennen. Der gegen Hegel erhobene Vorwurf, er versuche hier, sein philosophi¬ sches Prinzip einer gegebenen politischen Wirklichkeit anzu¬ gleichen 12, könnte damit erwidert werden, daß gerade dieses 10 Vgl. vor allem § 274.

11 Zus. zu § 298 und § 273.

12 Auf ihm vor allem beruht auch Marx’ Kritik der Hegelschen Staatsphilosophie. (Vgl. die Krönersche Ausgabe der Frühschriften I.) Es

124 seine; bewußte Absicht war, weil das Sittliche für ihn eben nicht ein feststehender regulativer Wertmaßstab, sondern eine den Willen des Einzelnen ebenso wie die allgemeine Lebens¬ gestaltung immanent bestimmende Idee bedeutet13. Darum bleibt jenseits des historischen Inhaltes seines Staats- und Verfassungsbegriffes dieses spekulative Prinzip, die historische Gegebenheit eines Volkslebens aus dem Sinn subjektiv-ver¬ antwortlicher Gestaltung zu begreifen, als ein wissenschaft¬ licher Standpunkt fortbestehen, der durch den Hinweis auf seine historische Bedingtheit nicht widerlegt ist14. Und wenn uns auch zum Beispiel Hegel die einzelnen Funktionen innerhalb dieser feststehenden Grundbestimmung der Verfassung jeweils Trägern zuzuweisen scheint, die nur für den Zustand von 1821 in Preußen sinnvoll bleiben15, so ist doch die Frage, ob diese gleiche Funktion sich bis heute handele sich für Hegel „nicht darum, die bestimmte Idee der poli¬ tischen Verfassung zu entwickeln, — sondern ihr ein Verhältnis zur abstrakten Idee zu geben, sie als ein Glied ihrer Lebensgeschichte zu rangieren, eine offenbare Mystifikation“ (S. 33). 13 Vgl. hierzu die Ausführungen von Emil Lask Wertungsart

im

Gegensatz

über

Hegels

zu der rationalistischen Wertungslogik

Kants. (Fichtes Idealismus usw. S. 10 ff.) 14 Ebensowenig wie wir oben feststellten, daß die Staatsidee nur für ein bestimmtes Volk zutrifft. Vgl. Teil I, S. 65. 15 Momente zum Beispiel wie die aktive politische Beteiligung des einzelnen Staatsbürgers an dem allgemeinen

Verfassungsleben,

die umfangreiche monarchische Prärogative insbesondere etwa hin¬ sichtlich Behördenorganisation

und Ständeberufung,

vielleicht

auch

seine Behandlung des Militärischen in dem Abschnitt über die „Souveränetät gegen außen“ mögen uns besonders an das ihn umgebende Preußen erinnern, anderes wieder, insbesondere die Paragraphen über die öffentliche Versammlung und Gliederung der Ständevertretung, an

das Hegel wohl bekannte,

zeitgenössische

England.

schwebte ihm überhaupt eine ähnliche, allmähliche

Vielleicht

Übernahme der

noch bei der Krone liegenden Staatsmacht auf die „organisch geglie¬ derten“ Kreise' des Volkes, wie sie sich dort vollzog, vor. Auf diese Einzelheiten, als der gradmäßigen Ausgestaltung des im Staatswillen grundsätzlich im Ganzen und Einzelnen zur Geltung kommenden sitt¬ lichen Gewissens, worauf es uns hier vor allem ankommt, brauchen wir nicht näher einzugehen.

125 kräftiger und verantwortlicher in das Volksleben hineingebil¬ det hat, eine fruchtbarere Schlußfolgerung als diejenige, aus ihrem Abhandenkommen auf die Brüchigkeit der Hegelschen Begriffsentwicklung schließen zu wollen. Wir brauchen für unsern Darstellungszweck die Sonderung von Funktion und Trägerschaft des Staatswillens nicht im einzelnen vorzuneh¬ men. Für den philosophischen Begriff des substantiell-sitt¬ lichen Staatswillens ist es erst von nachfolgender Bedeutung, ob eine bestimmte Funktion in diesen oder jenen Händen liegt; vielmehr handelt es sich darum, ob es Hegel gelingt, in ihm als einem Ganzen das Thema des sittlichen Gewissens zur Durchführung zu bringen, was praktisch bedeuten würde, daß alle Bereiche des Volksdaseins von seiner stetigen Wirk¬ samkeit durchgriffen werden und sich für ihn subjektiv ver¬ antwortlichwissen. Und der eigentliche Sinn des in der Verfas¬ sung organisierten Staatswillens liegt nun wesentlich in einem solch integrierenden Prozeß1“/17, den wir hier zusam¬ menfassend als die kritisch-schöpferische Bewegung der In¬ halte eines sittlichen Gewissens in dieser weitesten Gestalt wiedergeben. Die grundlegende, aus der spekulativen Fassung desSitt16/17 Mit dem Begriff der „Integration“ allein wäre darum diese von Hegel angenommene Staatswirksamkeit jedoch weder formell noch inhaltlich ganz erfaßt (zu dem Begriff der Integration vgl. Larenz, Logos XX, 2), denn als die Totalität sittlichen Daseins ist er zugleich in sich ruhender Endzweck (§ 258), die spekulative Einheit des sitt¬ lichen Gewissens, das sich zu seiner objektiven Tätigkeit zugleich als der Totalität des eigenen Wesens verhält.

„Entelechie“, als eine im

Sinne des Aristoteles gefaßte, in sich vollendete Wirksamkeit würde dieser

philosophischen

Staatskonzeption

näher kommen.

Inhaltlich

aber behalten beide Umschreibungen dem Hegelschen Staatsbegriff gegenüber deswegen einen nur gleichnishaften Charakter, weil „Staat“ eben die konkrete Fülle aller in einem Volke sich in dauernder Tätig¬ keit und mannigfachen Medien vollziehenden Verwirklichung des freien Willens umfaßt. Aus dem gleichen Grunde kann auch nicht direkt an den Integrationsbegriff von Smend angeknüpft werden, obwohl trotz der anderen, nämlich hier spekulativen Herkunft, die Verwandtschaft der Begriffe dem Kundigen nicht entgehen wird.

126 liehen begründete, organisatorische Voraussetzung dieser Inte¬ grationswirkung des Staatswillens sieht Hegel in der Drei¬ teilung der Staatsgewalten. Ebenso wie die absolute Form des sittlichen Gewissens ihre objektive Tätigkeit aus sich schöpferisch entfaltet und zugleich in einer beherrschenden Einheit zusammenzuhalten vermag, läßt Hegel in dieser Grundbestimmung des Verfassungslebens den Staatswillen alle Falten des Volksdaseins mit der Subjektivität verantwort¬ licher Wirklichkeitsgestaltung erfüllen und damit in seine gleichbleibende Einheit aufheben. Darum findet er auch ihre Wirksamkeit nicht wie Montesquieu darin, daß durch strenge Teilung und Gleichgewicht der Gewalten ein allgemeiner Freiheitszustand verwirklicht werde, sondern darin, daß in allen drei Gewalten, wenn auch in verschiedener und sich er¬ gänzender Weise, die Totalität des allgemeinen Zwecks be¬ wußt betätigt wird. Alle drei greifen sie daher in einer für die allgemeine Freiheitstendenz des Volkslebens objektiv verantwortlichen Wirksamkeit in sein Getriebe ein 18. Diese in sich gegliederte Staatstätigkeit beruht auf dem Wissen all der von ihr ergriffenen Momente gesellschaft¬ lichen Daseins19, und eben deswegen kommt hier auch prak¬ tisch das bisher als ständische Sittlichkeit Begriffene zu siche¬ rem Eigenbestand. Der Regierungsgewalt sind die Apparate der Rechts¬ pflege und Polizei angegliedert, die aus dem Grundsatz des in dem Besonderen geltend zu machenden Allgemeinen ver¬ fahren; objektive Verfügungsfreiheit (Recht) und subjektive Unverletzlichkeit (Moral), andrerseits die vermittelnde Ab¬ wägung gesellschaftlich wirtschaftlicher Bedürfnisse gegen das allgemeine Interesse werden von hier aus gewährleistet. Die praktische Lösung der Konflikte von Recht und Moral und von Wirtschaft und Staat liegt am Ende nirgend anders als in der leitenden Tätigkeit von Staatsbeamten, nämlich in einem aus objektivem Wissen des Staatszweckes 18 Vgl. Teil I, S. 70.

19 § 270.

127 betätigten Wollen Einzelner. Dieses Wollen ist der Eigenverantwortlichkeit staatsbürgerlicher Lebensgestaltung wesensgleich, bestätigt und fördert sie aus dem gewußten Endzweck einer allgemeinen sich im Besonderen verwirk¬ lichenden Sittlichkeit, so daß ein ungebrochenes Ineinander¬ übergehen der Leitung von oben und Gestaltung von unten sich ergeben sollte. Die dem gleichen Endzweck dienenden allgemeinen Gesetze und Institutionen werden von diesen Trägern der Staatsgewalt im konkreten Einzelfall angewen¬ det, so daß in ihrem fortdauernden Wirken sich der sittliche Wille des Ganzen und Einzelnen lebendig durchdringt und verbindet. Solchergestalt aktualisiert sich hier die leitende Ge¬ staltung des Staatswillens im sittlichen Einzelgewissen, von dem aus der allgemeine Zweck subjektiv verantwortlich be¬ dacht und gewollt wird20. Nicht nur in der hier angedeuteten hohen Bedeutung des Staatsbeamten in Hegels System der Verwirklichung des sitt¬ lichen Gemeinzweckes21, sondern in umfassendstem Sinne kommt dies in seinem Begriff der Souveränität des Staates zum Ausdruck, den er zunächst im Zusammenhang mit der fürstlichen Gewalt entwickelt. Wie „alle Handlung und Wirk¬ lichkeit ihren Anfang und ihre Vollführung in der entschie¬ denen Einheit eines Anführers hat“22, so bedarf auch die ver¬ fassungsmäßige Organisation des Staatswillens als eines Gan¬ zen der „letzten Entscheidung und Selbstbestimmung“23. Die absolute Form der Subjektivität, in die, wie wir sahen, das Ganze des Volksdaseins durch den in der Verfassung organi¬ sierten Staatswillens gesetzt werden muß, damit dieser auch für alle Staatsglieder die Lebensgestaltung aus dem sittlichen Gewissen ermögliche, muß sich zu diesem Zweck auch in der Totalität der von ihm umfaßten Willensregionen real aufweisen lassen. Souveränität ist nach Hegel nicht die un¬ bestimmte Forderung einer unabhängigen Zentralgewalt, son¬ dern eben dieses lebendige Bezogensein aller gliedhaften 20 Vgl. o. S. 122.

21 Vgl. §§ 291 if.

22

§ 279.

23 § 273.

128

Wirksamkeit des Staatswillens auf seine allgemeine sittliche Subjektivität. ln der Erfüllung zweier unbedingter Forderungen sieht Hegel die praktische Verwirklichung seines Souveränitäts¬ begriffes vollendet. Die erste ist, daß die gesamte leitende Wirksamkeit des Staates letztlich in die Spitze einer indivi¬ duellen Willensentscheidung zusammenläuft, die in sich die Garantie der Bindung an den substantiellen Staatswillen trägt; und die zweite, daß jeder einzelne Bürger im Falle der Ge¬ fahr zur Aufopferung seines Eigentums und Lebens für die Erhaltung der Selbständigkeit und Freiheit des Staatsganzen bereit ist21. Beide Forderungen enthalten im Grunde das gleiche Prinzip, nämlich dasjenige der unbedingten Bezogenheit des sittlichen Gewissens auf sein eigenes Wesen als Ver¬ antwortung, das von keiner äußerlichen Instanz von der Er¬ füllung des ihm hiermit gegebenen Lebens- und Pflichten¬ bereiches abgezogen werden kann. Hierin liegt für Hegel ebenso die sittliche Würde der „dem Kampf der Faktionen gegen Faktionen“ entzogenen Majestät des Monarchen wie der staatsbürgerlichen Tugend, die ihre besondere Existenz als das Glied eines allgemeinen sittlichen Lebensbereiches an¬ sieht und für dessen Erhaltung im Falle der Not alles eigene Interesse aufopfert. Die im Monarchen verkörperte Subjektivität des Staats¬ willens beruht wesentlich darauf, daß in ihm die auf die ganze Breite des Volkslebens ausgedehnte Wirksamkeit der Gesetz¬ gebenden und Regierungsgewalt in einer persönlichen Ent¬ scheidung gipfelt, die in dieser Basis zugleich ihre inhaltliche Fundierung findet25. Damit wäre in Hegels Fassung der fürst¬ lichen Gewalt der Staatswille gemäß der Funktion eines Ge¬ wissensentscheids organisiert, dessen Inhalt verantwortlich mit dem Ganzen des von ihm betroffenen Entscheidungsbereiches verknüpft bleibt26. Denn die Wirksamkeit der Staatsgewalten, insoweit sie wahrhaft die sittlich bestimmte Eigentendenz der 24 Vgl. §§ 278 ff. und §§ 321 ff. 26 Vgl. § 285.

» Vgl. § 286.

129 besonderen Sphären des Volkslebens in sich trägt, vermittelt dadurch eben auch jener letzten Willensentscheidung, in die sie hierarchisch zusammenläuft, den substantiellen Inhalt, durch den hier im Fürsten der- Staatswille zur Subjektivität des sittlichen Ganzen wird. Wäre diese wesentliche Verbin¬ dung von staatsbürgerlicher Eigengestaltung und leitender Staatsgewalt unrein, so würde auch jene umfassende Willens¬ subjektivität ihrem ihr dargebotenen Inhalt gegenüber äußer¬ lich und zufällig sein. Dadurch aber, daß nach Hegel durch die vermittelnde Wirksamkeit der Staatsgewalten bis in alle besonderen Sphären politischen Daseins hinein die letzte Ent¬ scheidung des Monarchen in dem Ganzen des Volkslebens wurzelt, wird in ihm die Subjektivität eines diesen Lebens¬ bereich wirklich in sich fassenden sittlichen Gewissens re¬ präsentiert. In dieser aus einer einzigen organischen Einheit be¬ stimmten Willensbildung im Staate liegt auch recht eigentlich das, was Hegel als „Macht“ bezeichnete. Nicht das „Organi¬ sieren von oben“, sondern daß auch „das Untere, das Massen¬ hafte“ in den organischen Zusammenhang der sittlichen To¬ talität wirklich aufgehoben ist, bedeutet ihm Macht: „Die be¬ rechtigte Gewalt ist nur im organischen Zustande der be¬ sonderen Sphären vorhanden27.“ Macht ist also im Grunde nichts anderes als ein notwendiges Attribut dieser Integration aller sittlichen Einzelgestaltung in die Einheit des Staatswillens. Diese inhaltserfüllte Fassung der Souveränität bedeutet aber nicht nur, daß alle einzelnen Sphären von ihnen aus frei ihr sittliches Leben entfalten können, sondern vor allem auch, daß der Staatswille in letzter Instanz nur seinem eigenen Wesen, dem Sittlichen, verpflichtet ist. Dies wird durch die zweite zur Verwirklichung der Sou¬ veränität gestellte Forderung bestätigt. Denn auch die „Sou¬ veränität gegen Außen“ ist nichts anderes als die sittliche Bezogenheit aller Glieder des Staates auf das in ihm für die Totalität des volklichen Lebensbereiches verantwortliche sitt27 Zus. zu § 290. 0144

Abhandlgn. a. d. Völkerrecht : v. Trott zu Solz.

9

130 liehe Gewissen. An keiner Stelle der Hegelschen Rechts¬ philosophie findet sich so deutlich die in seiner Fassung des sittlichen Gewissens liegende unmittelbare Gleichsetzung der ganzen Innerlichkeit des Willens mit seiner von ihm zu ver¬ antwortenden äußeren Gestaltung-8/29. Erst dadurch, daß der Staat als sein sittlicher Lebensbereich von der ganzen Inner¬ lichkeit jedes einzelnen Staatsbürgers gegebenenfalls unter Aufopferung alles Äußeren anerkannt und betätigt wird, voll¬ endet sich für Hegel die Individualität dieser Wirklichkeits¬ gestalt des Sittlichen, wird die Souveränität des Staatsganzen auch nach außen zu dem, was aus ihrem inneren Wesen folgt. Auf dieser Dialektik des Innerlichsten und Äußeren beruht Hegels Begriff der „äußeren Souveränität“30. Die sich auf¬ opfernde, d. h. nicht mehr vermittelte, sondern unmittelbar identische Übereinstimmung des Einzel- und des Staatswillens läßt erst den Staat in seiner Beziehung zu anderen Staaten zu einem selbständigen Ganzen werden. Die Erscheinungsebene dieser letzten inneren Bestimmung des Staates ist somit sein Verhältnis nach außen; diese „äußere“ Souveränität aber ist zugleich nichts anderes als die innere subjektiv-substantielle Sittlichkeit des Staatsganzen. Als solche ist sie der „wahrhaft absolute Endzweck“ und „die substantielle Pflicht aller Ein¬ zelnen 31. Dies bedeutet nun vor allem die endgültige Ineinssetzung des Staatswillens mit der Gestalt eines die Innerlichkeit aller seiner Glieder erfüllenden und wirklich in sich befriedenden sittlichen Gewissens, die durch die im Falle der Not gezogene letzte Konsequenz eine unbedingte praktische Bestätigung fin¬ det32. Hier ist es nicht mehr der „leitende“ Staatswille, den die Beamten und an ihrer Spitze der Monarch verfassungsmäßig vertreten, sondern die schlechthin unmittelbare, das ganze Volksleben in sich fassende Subjektivität des sittlichen Ge¬ wissen, das von allen als die eigentliche Grundlage ihrer Lebensgestaltung anerkannt und bewährt wird. 28/29 Vgl. o. S. 103 ff. 3i

§

324.

30 Vgl. §§ 322 ff. Vgl. o. S. 71 ff.

32 vgl. Teil 1, S. 73.

131

Hierin liegt Hegels endgültige Antwort, auf die von dem Standpunkt des sittlichen Gewissens an seine Staatslehre gerichtete Frage33. Der souveräne Staatswille erfüllt jene Grundbedingung, den politischen Gesamtzustand auch prak¬ tisch als den Inhaltsbereich einer sie beherrschenden sittlichen Subjektivität zu fassen und damit zugleich die Lebensgestal¬ tung des einzelnen sittlichen Gewissens mit dem — ebenso nach seiner Grundform verantwortlich gestalteten — sittlichen Ganzen zu verbinden. Wir sehen so, daß verantwortliche Trägerschaft ebenso wie staatsbürgerliche Teilhabe an dem Staatswillen sich für Hegel auch praktisch letzthin nur aus der Grundbestimmung des sittlichen Gewissens erklärt. Aus dieser höchstpersön¬ lichen und doch das Ganze in sich tragenden Grundspannung sahen wir Hegel den gesamten Lebensbereich des Volkslebens in seiner innerlichen und äußerlichen Wirksamkeit begreifen. Die sich so ergebende allgemeine sittliche Subjektivität ver¬ körpert sich für ihn in dem souveränen Staatswillen, der zu¬ gleich das historisch-politische Lebensprinzip aller einzelnen Staatsbürger und die Grundbestimmung für die leitende Ge¬ staltung des ganzen Staatswesens ausmacht. b) Staatswille und Nationalität. Im ersten Teil unserer Darstellung wurde bereits fest¬ gestellt, daß der sittliche Staatswille nach Hegel auch in dem allgemeinen Zusammenhang des geschichtsphilosophisch be¬ griffenen Weltgeschehens nicht von äußeren Mächten, son¬ dern nur durch die in ihm selbst wirksame sittliche Totalität bestimmt wird34. Der souveräne Staatswille bleibt für Hegel, so sahen wir, auch in der Weltgeschichte das höchste Prin¬ zip; nur wird hier nunmehr das weitere Feld des empirisch¬ zeitlichen Geschehens, das Wollen der Freiheit durch die ganze Vergangenheit hin und zwar in dem unbegrenzten Medium des Konflikts geistiger und natürlicher Kräfte aufgefaßt. Zu¬ gleich aber mußten wir die weltgeschichtliche Spannung und 33 Vgl. o. S. 119.

34 Vgl. Teil I, S. 67. 9*

132 Verantwortlichkeit des Staatswillens als diejenige eines Trä¬ gers besonderer volklicher Elemente im Völkerleben fest¬ stellen. Abschließend mag darum noch gefragt werden, ob nicht der Umstand, daß in ihm nicht nur das allgemeine Prin¬ zip des sittlichen Gewissens, sondern zugleich ein bestimmt besonderes historisch-politisches Dasein in Gestalt der natio¬ nalen Eigentümlichkeit eines Volkes zur Betätigung kommt, seine Grundhaltung auf internationalem Gebiet entscheidend mitbestimmt. Bekanntlich assoziierte Hegel die geschichtlich wesent¬ liche Entwicklung der geistigen Wirklichkeit mit bestimmten Weltreichen35, deren Träger wiederum bestimmte „Völker¬ geister“ sind. Der hier zugrunde gelegte geschichts¬ philosophische Begriff des „Volksgeistes“, in dem wir bereits entwickelte Bestimmungen wiedererkennen können, ermög¬ licht die richtige Lösung unserer Frage nach der nationalen Gebundenheit des Staatswillens. Schon in die Bestimmung der Grundgestalt des sittlichen Gewissens hatten wir die Seite des „Vorgefundenen Inhaltes“ und diesen als das historisch-politische Dasein eines Volkes einzubeziehen30, der sich dann allerdings erst im Staate zu seiner wahren Form gestaltete. „Ein Volk ist zunächst kein Staat . . . ohne diese Form ermangelt es als sittliche Substanz, die es an sich ist, der Objektivität37.“ In der von uns dar¬ gestellten vom Staatswillen ausgehenden geistig-sittlichen Durchdringung aller Lebenszusammenhänge liegt für Hegel das, was aus einer Menschenzusammenrottung ein wesent¬ liches Subjekt in der allgemeinen Weltgeschichte macht, das er dann als „Volksgeist“ faßt. Erst in der Subjektivität dieser aus einem bestimmten Bewußtsein heraus betriebenen Selbst¬ gestaltung sieht Hegel Volksleben und Staat zu einer in sich vollendeten historischen Gestalt zusammenschmelzen, als die sie „Volksgeist“ und selbstbewußte Trägerin des welt¬ geschichtlichen Prinzips wird. Nun sah Hegel nicht nur die Träger vergangener Welt35 Vgl. §§ 346 ff.

30 Vgl. o. S. 107.

37 § 349.

133

cpochen als solchergestalt bestimmte Volksgemeinschaften, sondern auch das Bild der weltgeschichtlichen Gegenwart ist für ihn in selbständige Nationalstaaten gegliedert38. Liegt nicht am Ende hierin doch ein Moment, das den Staatswillen im internationalen Völkerleben an eine Bestimmung bindet, die irgendwie außerhalb seiner sittlichen Selbstgestaltung liegt und ihn an die unwandelbare welthistorische Gegeben¬ heit der geographisch-anthropologischen38 Existenzvoraus¬ setzungen des besonderen Volkes bindet? Diese Frage muß aus dem Ganzen der Hegelschen Geschichtsansicht gelöst und ihr entsprechend verneint werden. Zunächst muß eines mit aller Schärfe festgestellt werden, daß zu dem Zeitpunkt, an dem ein Volk als ein Individuum in der bezeichneten Gestalt in die Weltgeschichte eintritt, eben jener Kampf gegen ein Primat der natürlichen Bedingtheit in einem bestimmten Sinne beendet sein muß40. Auch wenn wir auf jenen Prozeß der Staatsbildung selbst, der so für Hegel den Charakter des prähistorischen trägt, zurückschlie¬ ßen, kann uns seine Ansicht von der Rolle der mitspielenden natürlichen Bedingungen bei der Herausbildung eines Volkes zum Staat nicht zweifelhaft sein. Ebenso wie der einzelne Mensch sieht sich die primitive Gemeinschaft zunächst in und um sich von der Übermacht der Naturgewalten bedrängt, be¬ zwingt sie, um sich zu schützen, macht sie einer bestimmten Lebensgestaltung dienstbar, wird sich dieser Beherrschung des Natürlichen bewußt und durch den hiermit erreichten mehr und minder hohen Grad von Freiheit zum Staat. Hier sind nun jene natürlichen Triebkräfte und ihre selbstverzeh¬ rende Übermacht in eine bewußte und nach dem Grade der jeweils erreichten Willensgestaltung objektive, d. h. in Sitte und Institution sichtbare Freiheit umgewandelt. Schon an dieser ersten Vorbedingung, die fordert, daß der in einem Volk lebendige Wille seine Naturgebundenheit in sich aufhebt, um als Staat an der Geschichte teilzunehmen, zeigt sich also 38 Vgl. o. S. 75. 39 § 346. 40 Vgl. O.Phil. S. 86, 104, Enz. § 549.

134 eindeutig, daß nach Hegel das Element der Nationalität, so¬ weit es noch in der naturgegebenen Eigentümlichkeit eines Volkes liegt, ebennurinsoweitgeschichtsbewegend ist,alsesinundnichtaußerdemverant wörtlichen G es tal tungs b e wu ß t s e i n des Sta ats wil 1 e n s liegt. Aber auch über dieses in Hegels „Anfang der Geschichte“ enthaltene Argument hinaus wird dies Ergebnis durch die Gesamtkomposition seiner philosophischen Weltgeschichte, die auf das Thema der geistigen Beherrschung des natürlich gebundenen angelegt ist, bestätigt. Die Stufenreiche des „Weltgeistes“ gehen von dem „patriarchalischen Natur¬ ganzen“ aus bis zu dem von uns beschriebenen Staate hin, in dem die naturhaften Kräfte des Volkslebens erst als subjektiv gestaltete sittliche Substanz für die Erfassung des politisch Wirklichen wesentlich erscheinen und in diesen somit voll¬ ends zur beherrschten und sich verantwortlich wissenden Kraft geworden sind. Jenes „Aufheben“ in die Potenz des Geistigen, die wir schon an Hegels zum allgemeinen Willen sich herausbildenden natürlichen Triebwillen darstellten11, ist das Wechselverhältnis, nach der auch das Verhältnis von Na¬ tionalität und Staatswille begriffen werden muß, wenn wir in dem Begriff der Nationalität die Gesamtheit der natürlichen Bedingungen eines Volkes zusammenfassen. Ebenso wie dort in der geistigen Gestalt die natürliche nicht vernichtet, sondern zu wahrem Bestand gefestigt wurde, wird auch im Staats¬ willen das Element der natürlichen Veranlagung eines Volkes nicht vernichtet, sondern gestaltet. Darum aber ist sie dort nun nicht mehr Trieb, sondern selbstverantwortlicher Wille, nicht mehr das welthistorisch Vorgefundene Material der Nationalität, sondern die im Staat zu sittlicher Subjektivität herausgebildete Nation. Als solche bildet sie denn auch eine unablösbare Seite jener Totalitätskonzeption des „Volksgeistes“; aber es gilt hier festzuhalten, daß es politisch und historisch erst der 41 Vgl. o. S. 98.

135 Staatswille ist, in dem jene mannigfaltigen Elemente sich zu bewußter weltgeschichtlicher Gestaltung zusammenraffen12. Dies gilt denn auch für die Hegel gegenwärtige Welt der europäischen Nationalstaaten. Sie alle trugen für Hegel mehr oder weniger das in der Weltgeschichte herausgebildete Prin¬ zip der vollendeten Durchdringung naturhaften Beherrscht¬ werdens mit dem geistigen Staatswillen in sich«, so daß die von ihnen ausgehenden Entscheidungen auch auf dieser welt¬ geschichtlich betrachteten Ebene nicht an eine ihnen äußer¬ liche Naturgebundenheit verhaftet sind. Im internationalen Staatenleben sind es also nicht die Naturkräfte verschiedener Nationalitäten, die geistig unbe¬ herrscht aufeinanderprallen, sondern, soweit überhaupt von „Staaten“ die Rede sein kann, die Begegnung von in sich in jeglicher Hinsicht selbstbeherrschten und verantwortlichen Mächten, deren Träger die souveränen Staatswillen mit den aus ihrem eigenen sittlichen Wesen notwendig folgenden Entschließungen sind. 42 Dies stimmt mit dem Grundgedanken der Ergebnisse einer von Giese (a. a. O. S. 85 ff.) m. E. erschöpfend und zutreffend beendeten Streitfrage über den Volksgeistbegriff bei Hegel überein, wenn auch dort die Betonung auf anderen Momenten eines an sich gleichen Ge¬ samtzusammenhangs liegt.

Insofern es dort galt, aus Hegels Begriff

des Volksgeistes klarzustellen, daß für ihn der Staat wesentlich Na¬ tionalstaat ist (S. 98/99), wurde der Volksgeist als besondere Mani¬ festation der im „Weltgeist“ symbolisierten Geistkonzeption Hegels überhaupt und der Staat wiederum als eine „Tat des Volksgeistes“ erfaßt. So tritt es dann erst am Ende und weniger ausdrücklich her¬ vor, daß der Staat nicht nur eine Seite des Volksgeistes, sondern recht eigentlich das einende Element in der ganzen Mannigfaltigkeit der in dieser Konzeption zusammengehaltenen kulturellen wie politischen Elemente ist.

Für unseren Darstellungszusammenhang wäre

es

so

fast richtiger, den Volksgeist als eine „Tat des Staates“ zu bezeich¬ nen, weil eben durch die in ihm sich realisierende verantwortliche Gestaltung die nationalen Volkskräfte wirklich zum Geist werden. « „Einige sind schon

auf dieser Stufe, andere sind im Kampfe

darüber; aber es ist allgemein anerkannt, daß solche Prinzipe das Substantielle

der

Verwaltung

und

WW 14, 170/71. — Vgl. auch o. S. 65.

Regierung

ausmachen

sollen.“

136 c) Staatswille und internationales Entscheidungsgebiet. Das Wesen des souveränen Staatswillens liegt für Hegel, wie wir sahen, darin, daß er nicht nur für jedes einzelne der Staatsglieder, sondern auch in der leitenden Gestaltung des Volksganzen die Grundgestalt des sittlichen Gewissens praktisch verwirklicht. Dies gibt uns nun auch auf dem internationalen Entscheidungsgebiet, wo der souveräne Staatswille als selbständig handelndes Subjekt auftritt, den entscheidenden Wegweiser für unsere abschließende Frage nach dem hier gültigen ethischen Maßstab für das prak¬ tische Verhalten des Staatsvertreters. Die oben systematisch dargelegte Grundansicht Hegels, daß es sich hier nicht um allgemeine Grundsätze, sondern nur um die Erfordernisse der besonderen Weisheit der jeweiligen Staatspolitik han¬ deln könne, ergänzt sich uns hier aus der praktischen Per¬ spektive, daß der Träger des solchergestalt inhaltlich klar umrissenen sittlichen Gewissens nur aus der seiner Stellung als leitender Träger des Staatswillens notwendig immanenten Willenshaltung und nicht aus andern ihr gegenüber einseiti¬ gen Regulativgründen — seien es die des „abstrakten Rech¬ tes“ oder der „Moralität“ — vernünftigerweise handeln kann. Sein Verhalten bestimmt sich wiederum ausschließlich aus dem konkreten Bereich der von ihm verantwortlich um¬ faßten Inhalte und nicht aus irgendwelchen äußerlichen Be¬ stimmungen. Dies ist auch für Hegels Behandlung des Verhaltens des souveränen Staatswillens im zwischenstaatlichen Verkehr ent¬ scheidend: Es bestimmt sich grundsätzlich nach dem gleichen praktischen Bewegungsprinzip aller politischen Wirklichkeit aus der Entscheidung des sittlichen Gewissens, das sich für diesen umfassenden Inhalt verantwortlich weiß. Und wie nach Hegel prinzipiell weder die starren Ordnungen eines abstrakten Guten noch die reflektierende Rückbesinnung auf die eigene Subjektivität ein sittliches Verhalten herbeiführen, so bestimmt sich auch hier für den Träger des souveränen

137 Staatswillens sein Verhalten nur aus dem konkreten Inhalt, den sein Gewissen als einen bestimmten Lebens- und Tätig¬ keitsbereich wesentlich in sich findet und dessen eindeutige Erfüllung zugleich das Rechte und Gute verwirklicht. In dem hier für das Staatsganze schlechthin verantwortlichen sittlichen Gewissen tritt diese von Hegel zur Verwirklichung der Idee geforderte praktische Willenshaltung in der weitesten Dimen¬ sion in die Erscheinung. Die von Hegel als unzulänglich bezeichnete Rückorientierung der Gewissensentscheidung an einem „abstrakten Guten“ entspricht für den souveränen Staatswillen seiner Ablehnung des Kantischen Friedensprojek¬ tes44 und überhaupt einer auf formalen Grundprinzipien be¬ ruhenden Völkerrechtsordnung; jene reflektierende Rück¬ besinnung auf die eigene Subjektivität, in der er die fruchtlose Haltung des zum Eitlen und zum Bösen führenden „for¬ mellen“ Gewissens sieht, aber würde hier einem exklusiven Souveränitätsprinzip gleichkommen, das sich mit dem Bestehen auf der Forderung subjektiver Selbstbestimmung und Unab¬ hängigkeit genug täte. Eine solche axiomatische Fassung des Souveränitätsbegriffs als einer ausschließlichen Unabhängig¬ keit kann weder den historisch-politischen Gegebenheiten selbst, noch den dringendsten Notwendigkeiten ihrer prak¬ tischen Gestaltung gerecht werden und stellt der Mannigfal¬ tigkeit der internationalen Staatsaufgaben in der Tat nichts anderes als eine „fixe Idee“ im wahrsten Sinne des Wortes gegenüber. So wenigstens, wenn sie sich rechtsphilosophisch zum einzigen Prinzip des internationalen Problemgebiets macht und höchstens zu einer formal abgrenzenden Nor¬ mierung der wechselseitigen Kompetenzen kommt und schon beim völkerrechtlichen Vertrag in erhebliche Schwierigkeiten gerät. Diese und die meisten ihr verwandten Auffassungen bleiben der eigentlichen in der internationalen Wirklichkeit unabweislichen Entwicklung gegenüber äußerlich: die Staaten-, vor allem aber die Wirtschaftsbeziehungen häufen sich, ohne daß sie zunächst mit dem Ganzen des verantwortlichen Staats¬ willens innerlich in Einklang kommen können. So werden sie 44 S. o. S. 15.

138 notwendig dem souveränen Staatswillen gegenüber zu einer äußerlichen Macht, die jeweils auch Übermacht sein kann und ihn damit trotz seiner ursprünglich behaupteten Selbstän¬ digkeit zur Abhängigkeit, wenn nicht gar zum Mittel ihrer Zwecke, verurteilt45. So ist es auch in dieser weitesten Dimen¬ sion der politischen Wirklichkeitsgestaltung richtig, daß das Gewissen (hier in der Gestalt des souveränen Staatswillens) ohne die ihm als Inhalte schlechthin gegebenen Verantwor¬ tungsbereiche tätig zu gestalten, weder wirklich noch frei sein kann. In diesem Gestalten liegt, wie wir sahen, das Wesen der Souveränität, und alles Material, dessen pflichtmäßiger Gestaltung sie sich entzieht, könnte nach Hegel als welt¬ geschichtliche Schuld bezeichnet werden, nämlich als die Herbeiführung eines Schicksals, in dem sogar die Möglichkeit frei zu gestalten und damit alle Souveränität verloren ist. Auch der internationale Lebensbereich ist in bestimmtem Sinne Inhalt sittlicher Gewissensentscheidung, also verpflich¬ tender Inhalt der souveränen Staatswillen. Es ist, wie wir sahen, die unbedingte Aufgabe des leitenden Staatswillens, die Gesamtheit der staatsbürgerlichen Belange in den Zusam¬ menhang einer sittlich-verantwortlichen Gestaltung des Volks¬ lebens „aufzuheben“. Diese Aufgabe ist selbstverständlich nicht territorial begrenzt und bezieht sich auch nicht etwa nur auf den diplomatischen und militärischen Schutz der im Aus¬ land lebenden Staatsangehörigen, sondern darauf, daß die ge¬ samte staatsbürgerliche Existenz, auch soweit sie von aus¬ wärtigen Bedingungen abhängig ist, zugleich Gegenstand der staatlichen Verantwortung und in dem oben auseinander¬ gesetzten Sinne „politischen“ Gestaltung ist. Wir sahen, daß 45 Man kann im einzelnen darüber streiten, ob die Entwicklung zu international

wechselseitiger Bezieliungsfülle im

Zunehmen

be¬

griffen ist oder nicht. Eines mul? auch der stärkste Gegner von Welt¬ wirtschaft und zwischenstaatlicher Zusammenarbeit anerkennen: Dal? es sich hier nach dem gegenwärtigen Stand der Dinge um Realitäten und Mächte handelt, die für die gesellschaftliche Existenzgrundlage so

wesentlich

sind,

daß

keine Auffassung der nationalstaatlichen

Souveränität sie ignorieren kann, ohne den Bestand des Nationalstaats selbst auf das äußerste zu gefährden.

139 Hegel die Vorsorge für den von internationalen Handelskrisen betroffenen Staatsbürger vorsah« daß er aber andererseits die durchgreifenden Rückwirkungen der internationalen Wirt¬ schaftsverflechtung auf das einzelne Staatsleben und damit auch auf seine Beziehung zu anderen noch nicht realisierte. Soweit überhaupt Lebensbelange des Volkes in Frage stehen, kann aber nach den bisher dargestellten Voraussetzungen Hegels auch hier die aus dem Wesen des Sittlichen notwen¬ dige Haltung des souveränen Staatswillens nicht zweifelhaft sein. Dies gilt auch für die Entstehung eines neuen zwischen¬ staatlichen Zustandes, der wesentlich durch die wirtschaftliche Wechselbedingtheit der beteiligten Staatsvölker bestimmt ist; denn dies bedeutet nichts anderes als eine Erweiterung des historisch-politischen Verantwortungsbereiches, der nunmehr in sittlich subjektiver Gestaltung von den Staatswillen zusam¬ menzuhalten ist. Aktuell wird diese neue Sachlage mit dem zwischen den Staaten eintretenden typischen Stadium des Handelsvertrags, das Hegel geschichtlich nicht kannte. Das wirtschaftliche An¬ gewiesensein umfangreicher Teilbereiche in einem Volk auf entsprechende Handels- und Industriezweige in einem andern Staat fordert von den verantwortlichen Trägern der betreffen¬ den Staatswillen, die gemeinsame Lösung einer für beide Be¬ teiligten identischen sittlichen Aufgabe: Indem sie die Befol¬ gung bestimmter Abreden zum Vorteil des andern zusichern, schaffen sie den eigenen Staatsgliedern durch ein nur mit dieser Zusicherung erreichbares Äquivalent die notwendige Grundvoraussetzung ihrer Lebensgestaltung, die, wie gezeigt wurde, mit dem rechtlichen und sittlichen Verantwortungs¬ bereich des Staates schlechthin eins ist47. Mit dem Handels¬ vertrag ist hier nur das Hauptbeispiel einer mannigfaltig aufzeigbaren Deckungsgleichheit von Verantwortungsgebieten zweier Staaten bezeichnet. Von einer rechtlichen oder moralilischen Bindung der Staatswillen an eine solche Vereinbarung zu sprechen würde ihre innere Identität mit dem hier ge¬ gebenen als positive Willenshaltung im Vertrag niedergeleg46 Siehe Teil I, S. 49.

47 Vgl. o. S. 120.

140 ten Gestaltungsbereich nur einseitig ausdrücken. Es ist nicht die Bindung an ein „Anderes“, ihm Äußerliches, sondern die Erfüllung der mit seinem eigenen Wesen notwendig gesetzten Aufgabe. Deswegen bleibt auch der Staatswille nach Hegel nur diesen „besonderen“ Gestaltungen gemeinsamer Lebens¬ bereiche, den positiven Traktaten48, und nicht etwa einem allgemeinen Prinzip, das ihm als ein unbeweglicher Maßstab notwendig äußerlich bleiben müßte, verbunden. In dem glei¬ chen Maße, in dem die staatsbürgerliche Lebensgrundlage über den innerstaatlichen Kreis hinausgreift, wird sich das Schwergewicht der sittlichen Aufgabe des Staatswillens dahin neigen, in solchen konkreten Gemeinsamkeiten Gestaltung zu finden, deren rechtlich-sittlicher Bestand nicht mehr eine ab¬ strakte Forderung, sondern eine in dem inhaltlich begriffenen souveränen Staatswillen selbst liegende Selbstverständlichkeit ist. Das gleiche gilt für die notwendigen Schranken der Gel¬ tung dieser Traktate, die wir schon oben mit der konkreten Selbsterhaltung der Staatswillen setzten. Ebenso wie das ein¬ zelne sittliche Gewissen mit vollem Bewußtsein mindere Teil¬ gestaltungen der eigenen Substanz unter Umständen opfern muß, um diese als Ganzes zu erhalten, ebenso muß der sou¬ veräne Staatswille in allen von ihm eingegangenen politischen und vertraglichen Beziehungen zugleich auf die konkrete Er¬ haltung seiner freien Selbstbestimmung bedacht sein. Sie bil¬ det die Voraussetzung dafür, daß wirklich Rechtsbezüge be¬ gründet und darum auch dafür, daß sie gehalten werden können. Nur ein freier, d. h. aus eigener sittlicher Gewissens¬ entscheidung handelnder Staatswille ist an die von ihm ver¬ traglich gestalteten Lebensbereiche und zwar dann in ihnen an sein eigenes Wesen gebunden. Hegels Fassung des Souveränitätsprinzips ist demgemäß nicht ein Hindernis, sondern die eigentliche Voraussetzung für internationale Wirklichkeitsgestaltung im Sinne der Erfüllung auch gemeinsamer historisch-politischer Aufgaben. Dies kann nur begriffen werden, wenn, wie wir es versuchten, der sou¬ veräne Staatswille nicht als ein dogmatisches Axiom, sondern 48 Vgl. o. S. 82.

141

aus der in ihm von Hegel geforderten Wirksamkeit einer das Volksganze integrierenden sittlichen Gewissenstätigkeit be¬ griffen wird. Die Starrheit einer Antinomie zwischen sou¬ veräner Selbständigkeit der Staaten und der für ihre konkrete Selbsterhaltung immer dringender sich fordernden internatio¬ nalen Ordnung löst sich in der als sittlich-verantwortliches Gewissen gefaßten Tätigkeit des souveränen Staatswillens, die sich ebenso zu besonderen Rechtsinhalten bestimmt, wie sie über diese als Teilbereiche ihrer allgemeinen Verantwort¬ lichkeit übergreift19. Die in sich ewige Aufgabe geistiger Wirklichkeitsgestaltung und die Möglichkeit ihrer Erfüllung macht für Hegel auch vor den universalen Gegebenheiten der Weltgeschichte nicht Halt, in welcher Form der „Äußerlich¬ keit“ sie auch immer den sittlichen Gestaltungswillen des Staates herausfordern. Die weltgeschichtliche Stellung eines Volkes wird eben deswegen nur von dem durch die Gliede¬ rung des Ganzen zum souveränen Staatswillen herausgebil¬ deten sittlichen Gewissens verwaltet, weil hier für Hegel praktisch die fortwährende harte Arbeit des Geistes gegen sein „Anderssein“, nämlich die Naturbeherrschtheit in jed¬ weder Gestalt durchgesetzt wird. Nur dadurch, daß auch der souveräne Staatswille aus der Grundgestalt des sittlichen Gewissens lebt, durch die, wie wir sahen, der konkrete Einzelwille zum praktischen Träger der allgemeinen Idee und damit zum Gestalter der politischen „Wirklichkeit“ wird, gelingt es, die bezeichnete Antinomie aus Hegels wissenschaftlicher Grundintention heraus aufzu¬ lösen. Aber wir konnten diese Lösung nicht anders konsta¬ tieren als durch die mit dem souveränen Staatswillen und dem in ihm wirksamen sittlichen Gewissen gestellte, nach den aus den jeweiligen historisch-politischen Gegebenheiten sich be¬ stimmende objektive Aufgabe. So und nicht anders lautet die endgültige Antwort der politischen Philosophie Hegels an die vom Standpunkt des praktischen Willenseinsatzes gestellte Frage. Sie ändert sich mit den jeweiligen Anforderungen des historisch-politischen Daseins, das von ihm jeweils verantwort19 Vgl. o. S. 126.

142 lieh zu gestalten ist. Hierin liegt zugleich die Gegenwarts¬ bedingtheit und der zeitlose Gültigkeitsanspruch dieser Grund¬ position seiner politischen Ethik. Das sittliche Gewissen ist dem geschichtlichen Dasein, dessen verantwortlicher Träger es ist, als seinem eigenen Selbst verhaftet; zugleich aber ist es mehr als dieses, indem seine nie zum Schweigen zu brin¬ gende Unruhe eine immer neue, zugleich aber innerlich ver¬ antwortete Wirklichkeit hervorbringt. In der inneren Verbun¬ denheit mit seinem historisch-politischen Dasein steht das sitt¬ liche Gewissen schlechthin auf sich selbst, und wenn auch der philosophische Begriff an den Schranken der ihm gegen¬ wärtigen Erscheinungen der vernünftigen Wirklichkeit Halt machen muß, so bleibt doch diese aus ihm selbst als not¬ wendig eingesehene Grundhaltung des konkreten Einzel¬ willens, des sittlichen Gewissens und des souveränen Staats¬ willens auch für spätere historische Situationen als die gleich¬ bleibende Antwort bestehen. Hegels politische Philosophie ist nicht die Lösung der Frage des konkreten Einzelwillens nach der wahren Bestim¬ mung seines praktischen Verhaltens, sondern, wenn wir so wollen, die Erziehung dazu, diese Frage der Totalität des pro¬ blematischen Entscheidungsgebiets nach adäquat zu stellen. Dies gilt vor allem auch für Hegels Stellungnahme auf dem internationalen Entscheidungsgebiet: Der souveräne Staats¬ wille, dessen Wesen, wie wir sahen, mit der sittlich-substan¬ tiellen Verantwortung für die Grundlagen der staatsbürger¬ lichen Lebensgestaltung identisch ist, muß sein Verhalten der Veränderung dieser Grundlagen gemäß bestimmen. Dies führt, wie wir sahen, zu notwendiger Gemeinsamkeit mit der Wirklichkeitsgestaltung anderer Staatswillen und damit auf die fortschreitende Entwicklung internationaler Ordnung. Freilich einer solchen nicht auf Grund eines von außen an die Staatswillen herantretenden formalen Postulats, sondern auf Grund einer Wandlung der historisch-politischen Lebens¬ bereiche selbst, die zu jeder Zeit dem sittlichen Gewissen und den souveränen Staatswillen neubewegende Inhalte zu be¬ denken und gestalten geben werden.

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