Ereignisse und Bilder: Bildpublizistik und politische Kultur in Deutschland zur Zeit der Französischen Revolution 9783050070513, 9783050026503

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Ereignisse und Bilder: Bildpublizistik und politische Kultur in Deutschland zur Zeit der Französischen Revolution
 9783050070513, 9783050026503

Table of contents :
Vorwort
I. Einleitung
1. Gegenstand
2. Forschungslage
3. Methodik
a) Historische Anthropologie
b) Bilderkunde
4. Kunst zwischen Politik und Geschichte
II. Grundlagen
1. Erzählte Geschichte
a) Inhalte
b) Erzählweisen
c) Funktion der Geschichte
d) Zeitgeschichte
e) Geschichtspublizistik
2. Mnemosyne: Kunst als visuelles Gedächtnis
a) Kollektives Gedächtnis
b) Kulturelles Gedächtnis
3. Gruppenkonflikte
a) Image und Stereotype
b) Feindbilder
III. Öffentliche Kommunikation
1. Nation
a) Deutschland
b) Zweierlei Nation: Frankreich in deutscher Sicht
c) Zusammenfassung
2. Politische Kultur
a) Symbole
b) Feste
c) Kalender
d) Ehre und Ehrungen
3. Zusammenfassung
IV Ereignisbilder
1. Voraussetzungen
a) Klärung der Begriffe
b) Bürgerliche Ästhetik
2. Geschichte und Zeitgeschichte
3. Französische Revolution
a) Die Guillotine
b) Exkurs: frühneuzeitliche Hinrichtungsbilder
4. Feind- und Freundbilder
a) Gruppen
b) Heldenbilder
c) Kriegsbilder
5. Zusammenfassung
V Schluß
VI. Abkürzungen
VII. Literaturverzeichnis
1. Quellen
2.Sekundärliteratur
VIII. Bilderverzeichnis
IX. Register
X. Abbildungsnachweis
Abbildungen

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Christoph Danelzik-Brüggemann Ereignisse und Bilder

Acta humaniora Schriften zur Kunstwissenschaft und Philosophie

Christoph Danelzik-Brüggemann

Ereignisse und Bilder Bildpublizistik und politische Kultur in Deutschland zur Zeit der Französischen Revolution

Akademie Verlag

Gedruckt mit Unterstützung des Förderungs- und Beihilfefonds Wissenschaft der VG Wort Titelbild: Anonym: »Plaz, ihr Herrn für das hohe Volksgericht!« 1789. Radierung. In: Historischer Almanach 1790, Nr. 14. [D 38 (Abb. 21)]

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Danelzik-Brüggemann, Christoph: Ereignisse und Bilder : Bildpublizistik und politische Kultur in Deutschland zur Zeit der Französischen Revolution / Christoph Danelzik-Brüggemann. - Berlin : Akademie Verl., 1996 (Acta humaniora) Zugl.: Bochum, Univ., Diss., 1993 ISBN 3-05-002650-2

© Akademie Verlag GmbH, Berlin 1996 Der Akademie Verlag ist ein Unternehmen der VCH-Verlagsgruppe. Gedruckt auf chlorfrei gebleichtem Papier Das eingesetzte Papier entspricht der amerikanischen Norm ANSI Z.39.48 - 1984 bzw. der europäischen N o r m ISO T C 46. Alle Rechte, insbesondere die der Übersetzung in fremde Sprachen, vorbehalten. Kein Teil dieses Buches darf ohne schriftliche Genehmigung des Verlages in irgendeiner Form - durch Photokopie, Mikroverfilmung oder irgendein anderes Verfahren - reproduziert oder in eine von Maschinen, insbesondere von Datenverarbeitungsmaschinen, verwendbare Sprache übertragen oder übersetzt werden. Satz und Reproduktion: deutsch-türkischer fotosatz, Berlin Druck und Bindung: Druck- und Verlagshaus Erfurt seit 1848, G m b H Printed in the Federal Republic of Germany

Inhalt

Vorwort

7

I.

9

II.

III.

Einleitung 1. Gegenstand 2. Forschungslage 3. Methodik a) Historische Anthropologie b) Bilderkunde 4. Kunst zwischen Politik und Geschichte

10 11 13 13 15 19

Grundlagen

21

1. Erzählte Geschichte a) Inhalte b) Erzählweisen c) Funktion der Geschichte d) Zeitgeschichte e) Geschichtspublizistik 2. Mnemosyne: Kunst als visuelles Gedächtnis a) Kollektives Gedächtnis b) Kulturelles Gedächtnis 3. Gruppenkonflikte a) Image und Stereotype b) Feindbilder

21 21 23 25 27 30 34 34 40 42 42 45

Öffentliche Kommunikation

47

1. Nation a) Deutschland b) Zweierlei Nation: Frankreich in deutscher Sicht c) Zusammenfassung 2. Politische Kultur a) Symbole b) Feste c) Kalender d) Ehre und Ehrungen 3. Zusammenfassung

47 57 71 78 79 82 91 96 100 110

6 IV

Inhalt Ereignisbilder

112

1. Voraussetzungen a) Klärung der Begriffe b) Bürgerliche Ästhetik 2. Geschichte und Zeitgeschichte 3. Französische Revolution a) Die Guillotine b) Exkurs: frühneuzeitliche Hinrichtungsbilder 4. Feind- und Freundbilder a) Gruppen b) Heldenbilder c) Kriegsbilder 5. Zusammenfassung

112 112 116 125 132 134 146 149 149 165 171 192

V

Schluß

195

VI.

Abkürzungen

198

VII. Literaturverzeichnis 1. Quellen

199 199

2. Sekundärliteratur

208

VIII. Bilderverzeichnis

218

IX.

Register

242

X.

Abbildungsnachweis

255

Abbildungen

257

Vorwort

Daß im Jahr der Feier des zweihundertsten Jahrestages des Bastillesturms der Ostblock zerfiel, regte in den Medien viele Vergleiche zwischen der Französischen Revolution und den Umwälzungen in Osteuropa an. In Prag ereignete sich gar die »samtene Revolution«, während das Ende der DDR als schlichte »Wende« in die Geschichtsbücher einging. Die meisten Westdeutschen fieberten den Neuigkeiten aus dem zerfallenden Ostblock entgegen, die ihren Alltag indessen nicht berührte. Ohne die sich überschlagenden Nachrichten, Reportagen, Fotostrecken, Originalton-Berichte und öffentlichen Diskussionen mochte niemand mehr auskommen. Alles interessierte gleichermaßen, von individuellen Flüchtlingsschicksalen bis hin zu diplomatischen Verhandlungen. Es ist noch verfrüht, die im hitzigen politischen Wirbel des Jahres 1989 bei den Deutschen in Gang gesetzten mentalen Veränderungen zu beurteilen, zweifellos jedoch hat es sie gegeben. Die Leute auf den Straßen waren politisiert, und das heißt, daß sie ebenso räsonnierten wie mitfühlten. Ähnlich läßt sich beschreiben, was in der Bevölkerung des Deutschen Reichs vorging, als sie im Jahr 1789 von den Revolten und Revolutionen in Frankreich erfuhr. In Deutschland gab es zwar bis dahin nur Ansätze einer Öffentlichkeit, aber doch eine bislang kaum befriedigte Aufnahmebereitschaft für Politisches, so daß die - an heutigem Aufwand gemessen bescheidenen - Informationen über die Ereignisse in Frankreich die Menschen in Dörfern und Städten nicht weniger erregten als das Crescendo des Jahres 1989 die Angehörigen des Medienzeitalters. Als der Eiserne Vorhang sich hob und die Mauer fiel, existierte der Entwurf zu der in das vorliegende Buch eingegangenen Dissertation bereits. Er ist von den genannten Ereignissen also nicht inspiriert. Sie wirkten sich zunächst ganz praktisch aus. Wenn vor dem 9. November eine in der DDR verfaßte kunsthistorische Diplomarbeit nur halb klandestin einzusehen war, so öffneten sich nach diesem Datum die Giftschränke der Bibliotheken, und Arbeitsaufenthalte im Osten waren nur noch eine Budgetfrage. Zwei Wirkungen der Verbindung von Bicentenaire und samtenen Revolutionen beeinflußten die Arbeit allerdings viel stärker als solche Äußerlichkeiten: Zum einen zeigte diese Verbindung, daß die französische Revolution noch immer ein Maßstab der politischen Kultur ist und es voreilig war, sie für beendet zu erklären. Außerdem wurde die Wirkkraft des gesamten Inventars an politischer Symbolik am eigenen Leibe erfahrbar. Eine Dimension des Geschichtlichen, die durch Quellenstudium allein nicht erkennbar wird, ließ sich plötzlich rekonstruieren. Die Gegenwart machte die Vergangenheit lebendig. Aus vielen vereinzelten und zum Teil zufällig überlieferten historischen Dokumenten war ein Nachhall des gelebten Lebens vernehmbar: Freiheitsverse wurden nicht nur gedichtet, sondern auch deklamiert, und blau-weißrote Kokarden - Denkmäler in Kleinformat - provozierten Obrigkeiten nicht minder als ein »Schwerter zu Pflugscharen«-Anstecker. Ereignisbilder wurden nicht in Grafikmappen abgelegt, sondern betrachtet und ästhetisch wie politisch beurteilt. Bilder, Denkmäler, Worte - sie bewahren das kulturelle Gedächtnis einer Generation. Im vorliegenden Buch wird ein solches Gedächtnis rekonstruiert. Die ihm zugrunde liegenden Wahrnehmungsweisen, so macht die Rückschau auf 1989 deutlich, haben zumindest teilweise Bestand bis in die Gegenwart.

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Vorwort

Diese Arbeit konnte nur entstehen durch vielfältige Unterstützung. Rolf Reichardt, der mir entscheidende methodische Anregungen gab, danke ich ebenso gerne wie Werner Busch, Brigitte Schoch-Joswig, Rainer Schoch und Johannes Hartau. Nicht vergessen werden darf die Hilfe der Fotografin Margret Stein, sowie der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Bibliotheken und Graphischen Sammlungen, vor allem in Coburg (Kunstsammlungen der Veste, Landesbibliothek), Bochum (Universitätsbibliothek) und Berlin (Staatsbibliothek). Die Verwandlung des Manuskripts in die Buchform förderten die Ruhr-Universität Bochum, mit deren »Preis an Studenten« die vorliegende Arbeit 1994 ausgezeichnet wurde, und die VG Wort mit einem Druckkostenzuschuß. Der Akademie Verlag, insbesondere Dr. Gerd Giesler und Ursula Diecke, produzierte das Buch mit großem Engagement. Meinen Eltern danke ich für ihre Hilfe und Solidarität. Geschwister, Freundinnen und Freunde leisteten unschätzbare praktische Hilfe und Aufmunterung. Vor allem Helgas energische Begleitung meines Tuns hat mich motiviert, ihr widme ich dieses Buch.

I. Einleitung

Im Jahre 1794 tauchte in Zittau in der Oberlausitz eine Flugschrift auf: »Vor den HochEdeln Rath zu Zittau bestimmt.« [Dl (Abb. 1)]} Das Blatt zeigt eine Köpfmaschine. 2 Wer auch immer diese Flugschrift geschaffen hatte, er erhoffte sich von dem militärischen Sieg der französischen Revolutionsarmee die nötige Hilfe, um die Revolution auch in Deutschland durchzusetzen. Warum wurde diese Botschaft illustriert? Welche Bedeutung verbindet sich mit der Abbildung? Ist es möglich zu rekonstruieren, wie ein politisches Bild seinerzeit aufgenommen wurde, und kann der Unterschied zwischen jener Wahrnehmung und unserer gegenwärtigen beschrieben werden? Von diesen Fragen geht die vorliegende Arbeit aus. Im Mittelpunkt stehen die Funktionen von Wahrnehmung und Gedächtnis, wobei nicht dessen individualpsychologische oder physiologische Dimension gemeint ist, sondern seine Funktion als kulturelles Organ des Menschen. Daß Bilder der Hauptgegenstand dieser Untersuchung sind liegt nahe, obgleich andere Medien ebenfalls geeignet wären. Es sind aber Bilder, die im Gedächtnis haften bleiben, und nicht von ungefähr lebt die Sprache in ihrer Bildlichkeit. Weshalb lohnt es sich, der Rezeption der Französischen Revolution in Deutschland nachzugehen? Seinen größten Reiz gewinnt dieses Thema aus dem Umstand, daß die Revolution einen Schock bewirkte, der Wahrnehmungen und Erinnerungen in unerhörte Bewegung versetzte. Unablässig wurden die Gesellschaften verglichen, Hoffnungen und Ängste artikuliert und gegeneinander abgewogen. Durch die Revolution wurden historische und politische Kenntnisse zu existentiellen Notwendigkeiten. Zunächst jedoch mußten die Menschen ihre kulturellen Organe sensibilisieren. Aus Frankreich wurde die moderne politische Kultur importiert, deren Ausgestaltungen neben selbständigen Ausformungen im folgenden vorgestellt werden. Der zeitliche Schwerpunkt liegt im revolutionären Jahrzehnt. Vorrevolutionäre Entwicklungen und Zustände werden jedoch ebenso herangezogen wie punktuelle Ausblicke auf das 19. Jahrhundert gegeben. Ab 1806 verringerte sich die Produktion der Bildpublizistik erheblich (bis 1813); spätestens dieses Datum begrenzt also das abgesteckte Feld. In den Jahren nach dem 9. Brumaire wurden hauptsächlich die militärischen Ereignisse behandelt. Für die Analyse der umrissenen Fragestellungen ist diese Zeitspanne deshalb weniger ergiebig. In den 1790er Jahren jedoch sind die Anfänge der politischen Mentalitäten in Deutschland deutlich erkennbar - auch wenn sie teilweise früher ansetzen. In der vorliegenden Arbeit wird ein Bereich untersucht, in dem Kunst und Geschichte eng zusammenhängen. Ein Abschnitt widmet sich deshalb der Veränderung des Geschichtsbildes während der Revolutionsepoche. Mit Lynn Hunts Buch »Symbole der Macht - Macht der Symbole« rückte der Diskurs 3 der »politischen Kultur« ins Zentrum des In-

1 Die Angabe »D[+ Ziffer]« bezieht sich auf die Bilderliste im Anhang. 2 Zeitgenössische Wortprägung, die künftig eine Maschine bezeichnet, deren Konstruktion von der Guillotine abweicht. 3 Zusammenfassung verbaler und nonverbaler sprachlicher Formen und Äußerungen zu einem ab-

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I. Einleitung

teresses. Politische Kunst gehört zu dieser Kultur, die also ebenfalls beschrieben werden muß.

1. Gegenstand Bildpublizistik in Deutschland zur Zeit der Revolution ist ein unübersichtliches Gebiet. Zunächst läßt sich die Almanach- und Buchillustration trennen von Einblattdrucken, die in der Mehrzahl zur »populären Druckgrafik« gehörten. Schon in ihrer Entstehungszeit galten sowohl die Almanachillustrationen als auch die populären Einblattdrucke (Flugblätter) als ephemere Arbeiten. Deshalb sind die erhaltenen Werke in der Regel schlechter erschlossen als Druckgrafik im Kunstrang. Darüberhinaus ist sicher, daß eine unbekannte, aber enorme Zahl von Werken verlorenging. Für die vorliegende Arbeit wurden hauptsächlich die folgenden Sammlungen ausgewertet. Die Bibliothèque Nationale in Paris hat ihre gesamten Bestände an Illustrationen zur Revolution auf Bildplatte aufgenommen und sie mit einer Datenbank gekoppelt. Darunter befinden sich über 400 deutsche Arbeiten, vor allem Einblattdrucke, Illustrationen und Medaillen. In Deutschland gibt es in der Graphischen Sammlung des Germanischen Nationalmuseums in Nürnberg einen bildpublizistischen Schwerpunkt. Ebensogroß sind die Coburger Bestände. Die Kunstsammlung der Veste besitzt neben Einblattdrucken auch eine Anzahl der in der Landesbibliothek vorhandenen Almanachillustrationen. Neben diesen Sammlungen sind die Berliner Staatsbibliothek und das Frankfurter Historische Museum zu nennen, deren Einblattdrucke leicht zugänglich sind. In den meisten Grafiksammlungen bleibt es dem Zufall überlassen, ob Blätter gefunden werden, die sich nicht mit traditionellem kunstgeschichtlichem Besteck sezieren lassen. Mit anderen Worten: sobald Arbeiten keinem Künstler bzw. keiner Künstlerin zugeordnet werden können, wird ihre Klassifizierung schwierig. Notfalls kommen sie in die Truhe für Sekundäres, zwischen Lichtdrucke und anderes Papier, ohne Schutz und Inventarnummer. Der Forschung bleiben sie dadurch entzogen. Selbst dort, wo sie inventarisiert und konservatorisch behandelt sind, fallen diese Blätter durch das Raster der Künstlerkartei. Dringend notwendig ist also die Anlage verschiedener Kataloge, die Stoffe, Titel und Verlagsangaben erfassen. In der Völkskunde gibt es analoge Vorbilder für solche Erschließungen, z. B. beim Deutschen Volksliedarchiv in Freiburg. Illustrierte Bücher und Almanache finden sich neben der Coburger Landesbibliothek vor allem in der Stadtbibliothek Trier, den Berliner Staatsbibliotheken, der Hamburger Staats- und Universitätsbibliothek, der Frankfurter Stadt- und Universitätsbibliothek, der Universitätsbibliothek und Staatsbibliothek in München und in der Württembergischen Landesbibliothek Stuttgart. 4 Wegen der beeindruckenden geografischen Kohärenz der Coburger Einrichtungen werden ihre Bestände, wo immer es möglich ist, bevorzugt behandelt, um das Studium der Objekte vor Ort zu erleichtern.

grenzbaren Bereich der Wirklichkeit. Drei Faktoren bestimmen einen Diskurs: ein gemeinsamer Gegenstand, »Regularien der Rede« über ihn sowie Beziehungen zu anderen Diskursen. Diskursanalyse muß also den Gegenstand beschreiben und die »Grammatik« der Rede. Die Rede ist nicht auf sprachliche Äußerungen beschränkt, sondern umfaßt z. B. auch bildliche Medien. - Andreas Hartmann: Über die Kulturanalyse des Diskurses - eine Erkundung. In: Zs. f. Volkskunde, Jg. 87, Göttingen 1991, S. 19-28, vor allem S. 20 und 27. 4 Andere Standorte (Göttingen, Wolfenbüttel, ehemalige D D R ohne Berlin) können das Corpus nicht erheblich bereichern, vgl. Dorgerloh 1989, Mechthild Dubbi: Zur Rezeption der Französischen Revolution in graphischen Darstellungen deutscher zeitgenössischer Almanache, Kalender und Taschenbücher. Magistraarbeit Bochum (Fakultät für Geschichte) 1990 und Marwinski 1967.

Forschungslage

11

2. Forschungslage Bislang sind mehrere Einzelstudien erschienen. Die umfangreichste, Brigitte Schoch-Joswigs Dissertation (1989), beschreibt über 200 Ereignisbilder, Satiren und Allegorien mit direktem Bezug zur Französischen Revolution. Mit wenigen Ausnahmen beschränkt sie sich auf Einblattdrucke. 5 In ihrer Einleitung betont die Autorin überdies, die Bildsprache analysieren zu wollen. Schoch-Joswig ordnet die Werke nach ihren politischen Haupttendenzen, mit den Stichworten Aufklärung, Jakobinismus, Traditionalismus und Konservatismus. Durch die Einbeziehung von Buch- und Almanachillustrationen ergibt sich in der vorliegenden Arbeit eine Verschiebung der von der Autorin festgestellten Gewichte; ihr Resümee, daß revolutionsfreundliche, »jakobinische« Bilder kaum existierten, stimmt weiterhin. Eine differenzierte Analyse der Bilder ergibt jedoch, daß jenseits politischer Lager und Etiketten gemeinsame Betrachtungs- und Beurteilungsweisen feststellbar sind. Sollten sich die Erzreaktionäre Reichard und Girtanner über Jahre hinweg mit Hilfe der Publikation ausgewogener Beiträge und Bilder versucht haben, ihre konterrevolutionäre Botschaft im Bürgertum zu verbreiten? Und ist die jakobinische Pöbelfurcht eine nebensächliche Zeiterscheinung? Ohne die Unterschiede zwischen den Parteiungen zu vernachlässigen, ist es möglich zu beschreiben, wie überhaupt politische Ereignisse wahrgenommen wurden und wie sich aus diesen Wahrnehmungen Einstellungen bildeten. Von Brigitte Schoch-Joswigs Werk unterscheidet sich die vorliegende Arbeit durch Erweiterung des Korpus', in der Zusammenstellung und Klassifizierung des Materials, durch die sich daraus ergebende mediengeschichtliche Fragestellung und durch einen mentalitätengeschichtlichen Ansatz. Ein Aufsatz von Annette Dorgerloh (1989), Ergebnisse ihrer Diplomarbeit zusammenfassend, stellt erstmals die Almanachillustration als 'Spiegel' der Revolution in den Blickpunkt. Bis zum Bicentenaire hatte Harald Siebenmorgens Aufsatz über die Revolutionsrezeption und -Verarbeitung bei Mannheimer Künstlern den beklagenswerten Ruhm isolierter Felderschließung (1983). Neben den oben genannten Arbeiten erschienen 1989 die umfangreichen Kataloge zu den Ausstellungen in Frankfurt und Nürnberg, die der deutschen Revolutionskunst breiten Raum gaben. Der Nürnberger Ausstellungskatalog kann als Handbuch der deutschen politischen Kunst und Revolutionsgeschichte von der Aufklärungszeit bis in die Gegenwart bezeichnet werden. In ihm sind Aufsätze enthalten, die das Thema Revolution unter verschiedensten geschichtlichen Aspekten abhandeln. In bezug auf die vorliegende Arbeit ist der Katalogteil am wichtigsten, der fast zweihundert Nummern zum Thema verzeichnet, darunter zahlreiche nicht von Schoch-Joswig katalogisierte. Vorbildlich erschlossen Ausstellung und Katalog »Sklavin oder Bürgerin« im Historischen Museum Frankfurt die verschüttete Geschichte der Frauen im Revolutionszeitalter. Unter dieser thematischen Klammer sind Aufsätze zusammengefaßt, deren Spektrum von der Sozialgeschichte bis zur Anthropologie reicht und die Künste und politische Kultur analysieren. Dieser pflastersteinstarke Band aus der Reihe der »Kleinen Schriften des Historischen Museums« beantwortet die meisten Fragen zum Verhältnis der Geschlechter in der Zeit um 1800. Vier Kataloge der Hamburger Kunsthalle behandeln die Revolutionskunst und auch die deutsche Bildpublizistik: sie erschienen zur Goya-Ausstellung 1980, zu »Luther und die Folgen für die Kunst« 1983, zu der von Sigrun Paas und Friedrich Gross erarbeiteten Ausstellung »Eva und die Zukunft« 1986, die das Frankfurter Thema bereits angeschnitten hatte, und schließlich zu der wegen ihrer Inszenierung gefeierten Revolutionsschau »Europa

5 Die Geschichte des Flugblatts im 16. und 17. Jahrhundert wurde zuletzt und umfassend behandelt von Schilling 1990.

12

I. Einleitung

1789« zum Bicentenaire. Von den oben erwähnten Katalogen und Schriften abgesehen, handelt es sich bei diesen Publikationen um die ausführlichsten Zusammenstellungen, trotz ihrer beschränkten Auswahl zu den spezifischen Fragestellungen.6 Hingewiesen sei noch auf mehrere Ausstellungskataloge, deren Schwergewicht zwar auf Frankreich liegt, die jedoch die Grundlage bilden für die weitere Untersuchung der Revolutionskunst in Deutschland. Es handelt sich um Werke zur Revolutionssatire, zur von Claudette Hould in Québec veranstalteten Ausstellung und zur zentralen Pariser Ausstellung des Europarats. Im Katalog der letzteren sind auch viele deutsche Arbeiten verzeichnet.7 Die zum Revolutionsjubiläum erschienene Bibliothek zur Revolutionskunst bzw. politischen Kultur kann hier nicht im einzelnen gewürdigt werden. Die meisten Schriften tangieren die in der vorliegenden Arbeit behandelten Probleme nur am Rande. 8 Seit 1989 kam ein von Gisold Lammel zusammengestellter Band hinzu, der über vierhundert Bildsatiren aus der Zeit zwischen 1750 und 1830 enthält. Der einleitende Text sowie der knappe Apparat zielen mehr auf bibliophile als auf wissenschaftliche Interessen. Trotzdem ist ihm eine wichtige Materialsammlung zu verdanken. 9 Die wichtigsten Beiträge zur Bildpublizistik der Französischen Revolution stammen von Klaus Herding. In mehreren Aufsätzen und einem Gemeinschaftswerk mit Rolf Reichardt beschrieb er die Revolutionskunst als »visuelle Zeichensysteme« und Teil der revolutionären Kultur.10 Die Geschichte der Almanache ist bislang noch nicht geschrieben. Die Forschungslage hat sich gegenüber 1988 nicht sehr verändert. York-Gothart Mix' Dissertation11 widmet sich den Musenalmanachen, der von ihm verantwortete Ausstellungskatalog »Kalender, ey wieviel Kalender!« bietet die bislang beste Übersicht über das gesamte Feld der Almanache. Unverzichtbar ist noch immer die populärwissenschaftliche Geschichte der Almanache von Lanckoronska und Rümann.12 Die bibliografische Erschließung des Themas ist auf die Arbeiten von Köhring, Kirchner, Marwinski und Baumgärtel angewiesen.13 Seit dem Erschei-

6 Zu diesen und zur älteren Literatur vgl. Schoch-Joswig 1989, S. 2-4; zu ihrer Arbeit vgl. Reichardt 1989. Die Ausstellungen des Bicentenaire rezensierte Klaus Herding: Jubiläumsausstellungen der Französischen Revolution. In: »kritische berichte«, Marburg 1989, H. 4, S. 81-95. 7 Ausstkat. Los Angeles 1988; das Doppelwerk Antoine DeBaecque: La Caricature révolutionnaire/ Claude Langlois: La Caricature contrerévolutionnaire. 2 Bde. Paris 1989; L'Image de la Révolution française. Hg. von Claudette Hould. Ausstkat. Quebec: Musée du Quebec u'. a.0.1989; Ausstkat. Paris 1989. 8 Reinalter 1991; Eitel Timm (Hg.): Geist und Gesellschaft. Zur deutschen Rezeption der Französischen Literatur. München 1990. 9 Lammel 1992. Zu beachten sind außerdem Busch 1993 und zwei Ausstellungskataloge: Zeichen der Freiheit. Das Bild der Republik in der Kunst des 16. bis 20. Jahrhunderts. 21. Kunstausstellung des Europarates. Bern: Historisches Museum und Kunstmuseum 1991; Goethe: »Die Belagerung von Mainz 1793«. Ursachen und Auswirkungen. Ausstkat. Mainz: Mittelrheinisches LM 1993. Nach 1992 erschienene Literatur konnte nicht mehr berücksichtigt werden, z. B. Peter Johannes Schneemann: Die Geschichte als Vorbild. Die Modelle der französischen Historienmalerei 1747-1789. Berlin 1994; Norbert Borrmann: Kunst und Physiognomik. Köln 1994. Einen Ausblick in das 19. Jahrhundert bieten Scheffler 1995 und David Klemm: Von Napoleon zu Bismarck. Geschichte in der deutschen Druckgraphik. Ausstkat. Hamburg: Museum für Kunst und Gewerbe 1995. 10 Herdings Aufsätze sind mittlerweile in einem Sammelband zusammengefaßt (Herding 1989); hinzu kommt als wichtigste Publikation zur Bildpublizistik der Revolution Herding/ Reichardt 1989. 11 Die deutschen Musenalmanache des 18. Jahrhunderts. München 1987. 12 Maria Lanckoronska, Arthur Rümann: Geschichte der deutschen Taschenbücher und Almanache aus der klassisch-romantischen Zeit. München 1954. 13 York-Gothart Mix: Literarische Almanache und Taschenbücher zwischen Rokoko und Biedermeier. Probleme und Forschungsperspektiven. In: Arnold/ Dittrich/ Zeller 1987, S. 299-306.

Methodik

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nen von Baumgärtels Katalog wurden die Coburger Bestände verdoppelt, jedoch hauptsächlich um Titel aus dem 19. Jahrhundert. Die Flugblattforschung macht an der Schwelle zum 18. Jahrhundert halt. Auch die neueste Arbeit von Michael Schilling (1990) läßt die frühe Neuzeit im Jahr 1700 enden. Ein Aufsatz von Hans-Joachim Köhler über die Bildpublizistik der frühen Neuzeit14 legt das Schwergewicht auf das Reformationszeitalter und widmet sich nur nebenbei dem 17. Jahrhundert. Die letztgenannten Autoren verwenden im Grunde einen umfassenden Epochenbegriff für ihre Spezialstudien. Köhler engagierte sich im Tübinger Flugschriftenprojekt, und Schilling gehörte zum Wolfenbütteler Arbeitskreis, der die vorbildliche Edition der Einblattdrucke des 17. Jahrhunderts erarbeitete. Ältere Arbeiten sind wegen ihres methodischen Ansatzes häufig von zweifelhaftem Wert.15

3. Methodik Theoretische Anregungen für die vorliegende Arbeit boten weniger kunstgeschichtliche Texte als Forschungen aus den Bereichen der Geschichte und Linguistik. An erster Stelle ist das Projekt des Handbuchs politisch-sozialer Grundbegriffe in Frankreich 1680-1820 zu nennen.16 Dieses Handbuch wird begleitet von Forschungen und Publikationen, die sich zum Ziel setzen, die »historische Semantik« zu beschreiben, die der politisch-sozialen Entwicklung im 18. und 19. Jahrhundert in Frankreich zugrunde liegt. Sowohl die Forschungen wie auch das organisatorische Engagement von Rolf Reichardt (Mainz) geben dem genannten und verwandten Projekten wesentliche Impulse.17

a) Historische Anthropologie18 »Eine sozialhistorische Semantik, wie wir sie verstehen, bezieht ihre gesellschaftsgeschichtliche Aussagefähigkeit nicht aus den materiellen Verhältnissen und Dingen, auf die sie mehr oder weniger mittelbar verweist, sondern unmittelbar aus dem sozialen Charakter der Sprache selbst. Voraussetzung ist freilich, daß sie über Höhenkammzitate und punktuelle Sprachereignisse hinaus zu den sprachlichen Konventionen, zur >Norm< vordringt, die >auf den Einzelnen wirklich einen Zwang ausübt und seine Freiheit des Aus-

14 Die Flugschriften der frühen Neuzeit. Ein Überblick. In: Arnold/ Dittrich/ Zeller 1987, S. 307-345. 15 Z. B. Eberhard Sauer: Die französische Revolution von 1789 in zeitgenössischen deutschen Flugschriften und Dichtungen. Nd. Hildesheim 1978 (zuerst Weimar 1913). Sauer nutzte zwar als Erster diese Literaturgattungen; er zitierte sie jedoch willkürlich in einer chauvinistischen Abrechnung mit der Revolution. Zur Erforschung der Revolutionszeit trägt seine Arbeit nicht bei. Sauer und der Nationalsozialist Ernst Herbert Lehmann sind Beispiele für die Korrumpierbarkeit der Wissenschaften. Sie zeigt sich nicht nur in devoten Vorworten, sondern auch in den Texten selbst. Lehmann, den ich notgedrungen zitieren muß, sparte 1936 wie selbstverständlich aus Primär- und Sekundärliteratur alle Themen und Namen mit angeblichen oder tatsächlichen jüdischen oder linken Bezügen (abgesehen vom umfunktionalisierbaren kommunistischen Agit-Prop) aus. 16 HPSG, 1985. 17 Ihm verdanke ich entscheidende Anregungen und Hilfe. Ein Blick ins Literaturverzeichnis zeigt, weshalb nicht nur persönliche Dankbarkeit die Hervorhebung seines Namens rechtfertigt. An den für diese Dissertation wichtigsten neueren Werken, in denen sich Kunstgeschichte, Geschichte, Linguistik und Publizistik überlappen, ist er als Mitverfasser und Verfasser beteiligt (z. B. Herding/ Reichardt 1989, Lüsebrink/ Reichardt 1990, Koselleck/ Reichardt 1988 und HPSG, 1985). 18 Der Abschnitt folgt Reichardt 1985, S. 26ff.

14

I. Einleitung drucks sowie die vom System gebotenen Möglichkeiten auf den Rahmen der traditionellen Realisierungen einengte«19

Die historische Semantik beschäftigt sich also mit dem kollektiven Typisierungsvorgang, der im kollektiven Gedächtnis mündet. Die Menge der Einzelerfahrungen der Angehörigen einer Gesellschaft wird verdichtet, denn die menschliche Kommunikation erfordert Gemeinsamkeiten. Sie basiert auf der Gewißheit, daß diejenigen, die sich über eine Sache unterhalten auch das Gleiche meinen - unabhängig davon, ob diese Annahme zutrifft oder nicht. Zugleich sorgt die Schematisierung der Einzelerfahrungen für Sicherheit, weil im Alltag Orientierung nötig ist, die nicht zuletzt von anderen Menschen gegeben wird. Ergebnisse solcher Vorgänge bilden quasi »Sedimente« im Gedächtnis. Kollektive Erfahrungen beeinflussen Seh- und Verhaltensweisen und somit das Entstehen weiterer Sedimentschichten. Weil sie sich nicht nur im Verhalten bemerkbar machen, sondern auch in der Kommunikation, sind sie fixierbar. Die historische Semantik interessiert sich weniger für das »einfachere, verhältnismäßig konstante Gewohnheitswissen« als für bedeutungstragende »Typen«, die deshalb eine Geschichte haben, weil sie sich in der Geschichte wandeln.20 Sie sind also für Interpretationen und schließlich für die Sinnbildung notwendig. Sie speichern folglich nicht einfach Erfahrungen, sondern können geschichtliche Prozesse beeinflussen.21 Obwohl sprachwissenschaftlich und begriffsgeschichtlich orientiert, versucht das Projekt der historischen Semantik, andere Kulturtechniken, wie Musik und Kunst, einzubinden.22 Die Nähe zur historischen Anthropologie ist unübersehbar. Marshall Sahlins, der die Kritik an materialistischen Ansätzen der Geschichte an der »Überbau«-Theorie festmacht - er bezeichnet sie als eine »Art historischer Physik« - , hat gezeigt, daß Kultur23 Geschichte nicht nur spiegelt, sondern auch verändert. »So wäre es der Anthropologie z. B. möglich, [...] die Vorstellung beizusteuern, daß sich [...] die historische Wirksamkeit von Personen, Gegenständen oder Ereignissen gerade aus den kulturellen Wertigkeiten und Bewertungen ergibt. [...] Doch die große Herausforderung an eine historische Anthropologie besteht nicht nur darin, zu erkennen, wie Ereignisse durch eine Kultur jeweils geregelt und geordnet werden, sie besteht vielmehr auch in der Frage: wie verändert sich die Kultur selbst im Verlaufe eines solchen Prozesses, wie reorganisiert sie sich? Wie entsteht aus der Reproduktion einer Struktur deren Veränderung und Transformation?«24 Geschichte ist nicht das Gegenteil vom Mythos, vielmehr sind in ihr 'mythische Erkenntnismuster' anwesend.25 Bei der Untersuchung der Revolutionsrezeption in Deutschland befaßt sich Zuckermann 19 Ebd., S. 64f., zit. Eugenio Coseriu: System, Norm, Rede (1952). 20 A. Schütz/ T Luckmann, zit. n. Reichardt 1985, S. 28. 21 Hans-Jürgen Lüsebrink und Rolf Reichardt stellten diesen Vorgang anhand der Geschichte des Bauwerks und Begriffs der Bastille dar (Lüsebrink/ Reichardt 1990). 22 Bislang sind mehrere Arbeiten erschienen, die den Graben zwischen Sprach- und Kunstwissenschaft verengten, neben dem »Bastille«-Buch Herding/ Reichardt 1989 und Herding 1989. 23 Über die Unmöglichkeit, »Kultur« zu definieren, schreibt Helge Gerndt: »Wir alle setzen voraus, daß es Kultur gibt; Kulturbesitz und Kulturverhalten unterscheiden den Menschen vom Tier. Was Kultur aber genau bedeutet, läßt sich nicht von vornherein und ein für alle Male bestimmen, sondern gewinnt aus jeder Betrachtungsperspektive andere Akzente. Kultur erscheint darum eher als ein offenes Erkenntnisfeld denn als abgrenzbarer Gegenstand. Kein Forschungsobjekt, ein Forschungsfeld fordert unser Interesse.« In: Zur Perspektive volkskundlicher Arbeit. In: Ders. (Hg.): Fach und Begriff »Volkskunde« in der Diskussion. Darmstadt 1988, S. 352-371, hier: S. 361. 24 Sahlins 1986, S. 18f. 25 Zuckermann 1989, S. 76.

Methodik

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mit dem Phänomen, daß bis 1789 die Intelligenz in Deutschland den politischen Verhältnissen im eigenen Land ebenso kritisch gegenüberstand wie dies in Frankreich der Fall war. In beiden Ländern galt Amerika als Vorbild. Auch nach 1789 gibt es zahlreiche Sympathiebekundungen mit den französischen, belgischen und polnischen Freiheitsbestrebungen - immer mit dem Zusatz, daß sie gegenwärtig kein Modell für das eigene Handeln sein könnten. Nach 1789 befand sich Deutschland jedoch in einer besonderen Situation, weil vor allem Frankreich vorführte, daß Freiheitswille nicht nur eine Frage der Gesinnung ist, sondern auch praktiziert werden kann. Zuckermann kommt zu dem Schluß, »daß, was bis zur Französischen Revolution als Ergebnis rein objektiver struktureller Umstände erklärbar ist, nach ihr in hohem Maß als ein mentales Pattern begriffen werden muß, das in vielfältiger Form verschiedene Sphären im Leben der deutschen Nation prägt, besonders ihr politisches Leben.«26 Das Unternehmen »historische Semantik« behandelte die deutschen Verhältnisse bislang nur am Rande. Bei der Lektüre der Texte wird aber deutlich, daß sich die Ergebnisse nicht auf Deutschland übertragen lassen. Frankreich und Deutschland waren zwei - nicht weit entfernte aber doch getrennte - »Inseln der Geschichte« (Marshall Sahlins). Ein neues Forschungsprojekt von Rolf Reichardt und Hans-Jürgen Lüsebrink untersucht nun den französisch-deutschen Kulturtransfer in der Zeitspanne von 1770 bis 1815.27 Die vorliegende Arbeit soll einen Beitrag dazu liefern. Es liegt auf der Hand, daß der gesamte Text einen Kulturtransfer im allgemeineren Sinn beschreibt.

b) Bilderkunde Analog zu den von Roger Chartier erforschten frühneuzeitlichen »Lektürepraktiken« geht es in dieser Arbeit darum, Praktiken der Bildbetrachtung ansatzweise zu beschreiben.28 Dabei soll nicht auf soziologischem Weg Leserforschung betrieben werden. Vielmehr erschließt sich aus der Beschreibung und Analyse von Bildern, Bildträgern und Texten ein Netz von Ein- und Vorstellungen, das Rückschlüsse erlaubt auf die Möglichkeiten, die das Publikum gegen Ende des 18. Jahrhunderts in Deutschland hatte, seine Gegenwart und Vergangenheit zu begreifen. Die Wahl von Bildern als zentralem Gegenstand ist in ihrer anschaulichen Qualität begründet. »Die 'Künste' stehen hier weniger für eine ästhetische Idealität als vielmehr für Praktiken, die dem Leben Formen und Bedeutungen geben, und diese Praktiken können, wenn das Wort denn sein muß, ganz alltäglich sein.«29 In Bildern wurden sowohl Ereignisse fixiert als auch Stimmungen und Gefühle, kurz: Affekte. 30 Gleichzeitig wurden Bilder verstanden und erfühlt. Zwei Annahmen liegen der Beschreibung dieses Wechselverhältnisses zugrunde: Erstens das Verstehen der Botschaft

26 Ebd., S. 126. 27 Ein Aufsatzband mit den Referaten der Tagung »Kulturtransfer im Epochenumbruch (FrankreichDeutschland 1770-1815)« (Saarbrücken 1995) ist in Vorbereitung und wird voraussichtlich Ende 1995 veröffentlicht (in der Reihe »Deutsch-Französische Kulturbibliothek«, hg. von Matthias Middell, Leipzig). 28 Roger Chartier: Lesewelten. Buch und Lektüre in der frühen Neuzeit. Frankfurt, New York, Paris 1990, Einleitung, S. 7-24. 29 Ulrich Raulff: Vorwort - Vom Umschreiben der Geschichte. In: Raulff 1986, S. 7-15, hier: S. 10. 30 Einen interdisziplinären Ansatz einer Wirkungsästhetik und -geschichte erarbeitete August Nitschke. Er beschreibt zunächst Bewegungen und Räume, in denen sich Menschen bewegen, sowie ihre

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I. Einleitung

hängt ab vom eigenen Wissens- und Lebenshorizont, zweitens »Klischees bekommen [...] Gewalt über uns«.31 Sie gelten selbstverständlich nicht nur in der geschichtlichen Projektion, sondern auch in der Gegenwart. Gefragt wird nicht nur nach der Erinnerung der Ereignisse, sondern auch nach der Umsetzung von Vorstellungen, genauer nach »Anschauungen von Menschen, im Unterschied zu ihren Meinungen, [...] also nach jenen [gesellschaftlich bedingten] Gefühlen und Dispositionen, die mit ihrem Handeln verknüpft sind und dieses Handeln konkret beeinflussen.«32 Welche Vorstellungen von der Revolution entstanden in Deutschland; mit welchen (bildlichen) Mitteln versuchten die der Revolution freundlich oder ablehnend gegenüberstehenden Menschen, ihre Meinungen zu verbreiten; wie wurden die aus Frankreich kommenden Nachrichten und Bilder verstanden? Als weitere Annahme muß untersucht werden, daß in der Bildpublizistik nicht die Revolution geschildert wird, sondern Interpretationen von ihr. Folglich geht es nicht um die Französische Revolution, sondern um Französische Revolutionen in deutscher Sicht. Es gehört zu den Geheimnissen der Kunst, daß dieser feine Unterschied selten wahrgenommen und das Bild-Ereignis für bare Münze genommen wird. »L'image, souvent, est proposition ou protocole de lecture, suggérant au lecteur la correcte compréhension du texte, sa juste signification. En ce rôle, qu'elle joue même si elle est de réemploi et aucunement gravée pour le texte où elle prend place (ce qui est le cas ordinairement dans les occasionnels, canards et livres bleus), elle peut être constituée en un lieu de mémoire cristallisant dans une répresentation unique une histoire, une propagande, un enseignement, ou bien être construite comme la figure morale, symbolique, analogique, qui livre le sens global du texte qu'une lecture discontinue et vagabonde pourrait manquer.«33 Bildpublizistik ist kein »gesunkenes Kulturgut«, sie besteht nicht aus ästhetischen Brosamen. Die Auseinandersetzung um die Beurteilung ästhetischer Niveaus, die von Alois Riegls in seiner »Spätrömischen Kunstindustrie« entwickeltem Ansatz ausging, muß nach den in den vergangenen Jahrzehnten vor allem in der Volkskunde geführten Diskussionen nicht mehr erneuert werden.34 Es geht also um eine Geschichte des Sehens, um die Rekonstruktion historischer Sehweisen und nicht, wie in der Kunstgeschichte Max Imdahls, um die Entzeitlichung der eigenen Wahrnehmung: »Die Ikonik sucht zu zeigen, daß das Bild die ihm historisch vorgegebenen und in es eingegangenen Wissensgüter exponiert in der Überzeugungskraft einer unmittelbar anschaulichen, das heißt ästhetischen Evidenz, die weder durch die bloße Wissensvermitt-

31 32 33 34

Wahrnehmungen dieser Kategorien, ehe er auf die Handlungen zu sprechen kommt. Seine Theorie führt zu einer Art Ikonologie der Bewegungen, die nur an Einzelbeispielen vorgestellt wird, wo sie in der »Feldforschung« erprobt werden müßte. Vgl. Nitschke 1989 und Ders.: Historische Verhaltensforschung. Analysen gesellschaftlicher Verhaltensweisen - Ein Arbeitsbuch. Stuttgart 1981; Ders.: Kunst und Verhalten. Analoge Konfigurationen. Stuttgart-Bad Cannstatt 1975. Victor Klemperer: LTI. Notizbuch eines Philologen. Frankfurt 1985, S. 33. Richard Sennett: Verfall und Ende des öffentlichen Lebens. Frankfurt 1986, S. 54. Roger Chartier: La culture de l'imprimé. In: Ders. (Hg.): Les usages de l'imprimé (XVe-XIXe siècle). Paris 1987, S. 7-20, hier: S. 13. Vgl. Ingeborg Weber-Kellermann, Andreas C. Bimmer: Einführung in die Volkskunde/ europäische Ethnologie. Eine Wissenschaftsgeschichte. 2., erw. u. erg. von »Deutsche Volkskunde zwischen Germanistik und Sozialwissenschaften«. Stuttgart 1985, S. 77-85.

Methodik

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lung historischer Umstände noch durch irgendwelche (fiktiven) Rückversetzungen in diese historischen Umstände einzuholen ist.«35 Mit der Kritik wird das Kunstwerk verabsolutiert und soll in unendlicher »ästhetischer Gegenwart« »den religiösen und geschichtlichen Zusammenhang, aus dem es hervorgegangen ist«, wachhalten.36 Als Methode der Bildanalyse läßt sich Imdahls Ansatz auch einer Kunstgeschichte nutzbar machen, deren Prämisse die geschichtliche Bedingtheit sowohl der Kunst als auch ihrer Wahrnehmung ist. Die Einsicht in die geschichtliche Veränderbarkeit der Wahrnehmung hat sich noch nicht etabliert, so daß die von Konrad Hoffmann als »Ikonologie des Sehens« etikettierte Wahrnehmungsgeschichte - nicht zu verwechseln mit der Rezeptionsästhetik - eine Forschungsaufgabe bleibt. »Eine solche Kunstgeschichte kann aus der Form, das heißt aus den visuellen Spuren vergangenen Lebens, den Sinn, das heißt den geschichtlichen Prozeß und in ihm sich selbst begreifen.«37 Als eine Aufgabe der Kunstgeschichte ergibt sich die Beschreibung der Vergangenheit als Netz jeweils kultureller Verortungen. »Für unsere Zwecke dürfte es zunächst genügen, das Augenmerk auf drei Ebenen von Beziehungen zu richten: 1. Die Beziehungen der Menschen untereinander, d. h. die sozialen Verkehrsweisen. 2. Daraus resultierend der Charakter der Gemeinschaft, der das Verhältnis der Individuen zum Kollektiv betrifft. 3. Der Bezugspunkt der Gemeinschaft, d. h. ihre Weltsicht, ihre Orientierung in der Realität. Gehen wir von diesen drei Verhältnisebenen als konstitutiven Elementen einer sozialen Struktur aus, die im Sinne eines >mentalen Habitus< [Pierre Bourdieu nach Erwin Panofsky] alle kulturellen Äußerungen prägen müßten, so meinen wir, folgende Fragen an Bilder in den Vordergrund rücken zu sollen: - welche Art von Beziehungen gehen die Figuren untereinander ein; wie verhalten sie sich im und zum Raum; welcher Platz wird ihnen im Verhältnis zum Raum und zu ihren Partnern angewiesen; - Charakter der Gemeinschaft auf dem Bild: egalitär - hierarchisch; individualisiert - kollektiv; gebunden - spontan; geordnet - undurchschaubar;Verhältnis der Bildfiguren zum Betrachter: direkte Blickbeziehungen, geöffneter oder abgeriegelter Vordergrund sind dabei auffälligere Faktoren; ebenso sorgfältig zu beobachten sind die Bewegungslinien der Figurengruppierungen, die Blickführung durch Komposition, Licht und Farbe.Aufschlüsse über Bewegungen in einer Gesellschaft und die wirklichen Verhältnisse der Menschen sind auf diese Weise gewiß nicht durch einfache Analogieschlüsse oder wörtliche Übersetzung zu haben - gemeint ist nicht die Rückkehr zur Vulgärsoziologie in der Kunstgeschichte. Wohl aber könnten solche Fragen beitragen, Bedürfnisse der Menschen zu erkennen, Annäherung gegenüber Traditionen, anderen Gruppen, Autoritäten und Ansprüchen. Damit ist schon gesagt, daß das Werk allein niemals alle Auskünfte geben kann, seien die Fragen auch noch so richtig gestellt; ein unbefangenes Herangehen an Bilder ist nicht denkbar. Stets wird die Analyse einer künstlerischen Struktur schon geprägt sein durch die Kenntnis des gesamten historischen Umfeldes. Es sei hier ausdrücklich festgehalten, daß wir nicht beabsichtigen, das Kunstwerk als Dokument zur Erkenntnis der historischen Realität zu fassen, sondern die wir-

35 Imdahl 1980, S. 97. 36 Ebd., S. 98. 37 Konrad Hoffmann: »Geschichte des Sehens« heute. In: Attempto 59/ 60, Tübingen 1976, S. 76-80, hier: S. 78. 38 Möbius/ Olbrich 1982, S. 3.

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I. Einleitung kenden Zusammenhänge zwischen beiden meinen [...], was bedeutet, nicht nur zu sehen, was das Kunstwerk sagt, sondern auch, was es verschweigt.«38

Möbius und Olbrich weisen im Anschluß an Aby Warburg darauf hin, daß Kunstwerke nicht nur Spiegel, sondern auch Werkzeug sind, »verdichtete Abbilder [...] realen Lebens, die Interessen, Einstellungen, Bedingungen so transformieren, daß sie, visuell-geistig artikuliert, selbst wieder Interessen und Einstellungen organisieren und regulieren.«39 Warburg hatte mit dem Begriff »Pathosformel« den körpersprachlichen Ausdruck im Kunstwerk belegt. Er hielt, aufgrund seines zentralen Interesses an der Renaissance, an der normativen Funktion der antiken Kunst fest, die ein begrenztes Repertoire an Gebärden und Mienen zur Verfügung stellte. Warburg ging davon aus, daß die Körpersprache elementar und deshalb universell ist und deshalb geschichtlich nicht wesentlich verändert werden kann. 40 In dem von Möbius und Olbrich formulierten Katalog wird die Verzahnung von Bildern mit menschlichem Verhalten und gesellschaftlichen Vorgängen klar. Ergänzt werden muß, daß Bilder häufig keine Einzelwerke sind, sondern Gruppen oder Serien bilden. Deshalb ist auch zu beachten, wie sich Bilder zueinander verhalten. Ihre Funktionen, Behandlung und Unterdrückung müssen untersucht werden. Mit diesen umfassenden Arbeitszielen ist ein interdisziplinärer Brückenschlag möglich, weil auch im Bereich der europäischen Ethnologie diese Ziele interessieren. Am ausführlichsten beschrieb Nils-Arvid Bringéus, welche Fragen im Rahmen einer »Bildlore« - Bilderkunde - untersucht werden können. In seinem Buch mit dem unglücklichen Titel »Volkstümliche Bilderkunde« skizziert er überwiegend Bildtypen. Sein Blick auf die Kunstgeschichte erfaßt hauptsächlich die Ikonologie. Interessanter ist sein Ansatz zu einer Bildpragmatik. »Sie >erklärt< die Botschaft sowohl formal wie real mit Hilfe einer diachronischen Traditionsperspektive. Aber der Ethnologe versucht gleichzeitig, eine synchronische Perspektive anzulegen, da er die Bilder als symbolischen oder formalisierten Ausdruck für das Verhalten der Menschen interpretiert [,..].«41 In einer Bilderkunde führt die Unterscheidung von 'Meisterwerk' und 'Massenbildern' nicht zu einer Ausgrenzung von Forschungsobjekten. Jenes bleibt nicht einer hermeneutischen Kunstgeschichte überlassen, und dieses nicht der Kunstsoziologie. Die Kunst, die ich untersuche, ist einem großen kulturellen Gedächtnis vergleichbar. Es speichert visuell eine Vielzahl von Meinungen, Einstellungen, Sehweisen, Ängsten und Wünschen. Gezeigt werden soll, wie vielschichtig die Einbindung des Politischen in die Künste sein kann. Während der Französischen Revolution wurden Zeichensysteme entwickelt, welche die in diesem Umfang neue Aufgabe übernahmen, politische und soziale Ideen und Handlungen innerhalb einer großen Öffentlichkeit zu verbreiten und durchzusetzen. 42

39 Ebd., S. 15. 40 Norbert Elias betrieb dagegen im »Prozeß der Zivilisation« deren Historisierung. Vgl. Jutta Held, Norbert Schneider: Was leistet die Kulturtheorie von Norbert Elias für die Kunstgeschichte? In: Kunstwissenschaftliche Beiträge 14. Beilage zur Zeitschrift »Bildende Kunst«, H. 9, Berlin ( D D R ) 1982, S. 10-15. Zum Begriff »Pathosformel« vgl. Martin Warnke: Pathosformel. In: Werner Hofmann, Georg Syamken, Martin Warnke: Die Menschenrechte des Auges. Über Aby Warburg. Frankfurt 1980, S. 61-68. 41 Nils-Arvid Bringeus: Volkstümliche Bilderkunde. München 1982 (zuerst als »Bildlore - studiet av folkliga bildbudskap«, Stockholm 1981), S. 148. 42 Vgl. Herding 1989a.

Kunst zwischen

Politik und

Geschichte

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4. Kunst zwischen Politik und Geschichte Jüngere Deutungen der Französischen Revolution erkennen in der kulturellen Dimension das eigentlich Epochale des Ereignisses, während früher die soziale und politische Umwälzung ihre Hauptbedeutung auszumachen schien. Dieser Streit ist selbst geschichtlich und in seinen Ausläufern in den vergangenen Jahrzehnten Teil der Spaltung Europas in zwei Blöcke. Wirtschaftsgeschichtlich bedeutet 1789 keine Zäsur, sozialgeschichtlich - von der Abschaffung der adeligen Privilegien abgesehen - ebensowenig. Auf einen historischen Abriß kann hier verzichtet werden. Er würde nur Bekanntes wiederholen. Auch die geschichtlichen Streitfragen bleiben ausgespart.43 Bei dem gewählten Blickwinkel steht, wie schon erwähnt, auch die politische Polarisierung in Deutschland am Rande. In den letzten Jahren differenzierte sich das Bild von der damaligen politischen Landschaft in Deutschland. Im Einklang mit dieser Tendenz wird gegenüber Schoch-Joswigs Befund das gemäßigte Spektrum stärker gewichtet, das vom Reformwillen über eine konstitutionelle Monarchie bis hin zu vorsichtiger Frankophilie oppositionelle, aber nicht unterdrückte Meinungen vertrat.44 Ehe eine Sozialgeschichte der deutschen Kunst der Revolutionsepoche geschrieben werden kann, sind Vorarbeiten nötig, die in der Literaturwissenschaft schon vor Jahrzehnten geleistet wurden. Für sie kann die vorliegende Arbeit nur ein Baustein sein. Obwohl sich diese Arbeit der Bildpublizistik annimmt, wird auch von der deutschen Geschichte und von Einstellungen zur Geschichte die Rede sein. In den Anfangsbemerkungen wurde der Grund dafür genannt. Es erstaunt, wie rasch geschichtliche Vorstellungen in den verschiedensten kulturellen Bereichen Platz fanden: »Seit dem späten 18. Jahrhundert fertigten Künstler in zunehmendem Maße Bildreportagen an, beteiligten sie sich an Forschungsreisen, und wurden sie immer häufiger als Illustratoren wissenschaftlicher Werke wirksam. Sie versuchten, Ergebnisse vor allem aus den Wissenschaftsgebieten Geschichte, Kunstgeschichte, Archäologie, Ethnographie und Geologie für ihre Arbeit zu nutzen, und sie verhalfen mit Landschaftsgärten, Schaubildern, Panoramen und Dioramen, mit Tafelbildern, Bilderzyklen und Stichen breiten Bevölkerungsschichten zu Bildungserlebnissen und trugen in mannigfaltiger Weise zur Erhaltung und Pflege älterer Werke der bildenden, bauenden und angewandten Kunst bei. Sie registrierten Zeugnisse der Kultur vergangener Jahrhunderte, interpretierten sie mitunter ohne Verfallsspuren, stellten ursprüngliche Zusammenhänge von Menschen und Menschenwerk her und machten weit zurückliegende Zeiten anschaulich. Dabei bemühten sie sich zunehmend um historische Treue.«45 Der Hinweis auf diesen kleinen Kosmos muß genügen. Wie andere Arbeiten, etwa zur Geschichte des Nationaldenkmals (Wilfried Lipp), beschreibt diese Arbeit ebenfalls nur einen Ausschnitt.

43 Z. B. die Diskussion des »deutschen Jakobinismus«; vgl. Helmut Reinalter: Die Französische Revolution und Mitteleuropa. Erscheinungsformen und Wirkungen des Jakobinismus. Seine Gesellschaftstheorien und politischen Vorstellungen. Frankfurt 1988, bes. S. 39-57; die Aufsätze Reinalters, Manfred Kossoks und Eberhard Weis' in: H. Reinalter 1991 (mit Auswahlbibliografie); Sossenheimer 1988, S. 19-78. 44 Vgl. Holger Böning: »Freyer als mancher Freyherr«. Die deutsche Volksaufklärung im Bann der Französischen Revolution. In: Zimmermann 1989, S. 24-46. 45 Gisold Lammel: Zu archäologisierenden Tendenzen in der deutschen Kunst um 1800. In: Kunstwissenschaftliche Beiträge 16. Beilage zur Zeitschrift »Bildende Kunst«, H. 12, Berlin (DDR) 1982, S. 1-5, hier: S. 1.

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I. Einleitung

Bemerkenswert an der Geschichte der Revolutionszeit ist der Einfluß spontaner Aktionen und auch der Konflikt zwischen Eliten- und Volkskultur.46 In der jüngeren volkskundlichen Forschung verstärkt sich die Tendenz, die Vorstellung aufzugeben, es handle sich bei beiden um starre Blöcke.47 Peter Burkes jüngere Überlegungen über »populär culture« führen dazu, daß Begriffe wie »Tradition« und »kulturelle Hegemonie« nicht mehr als Konstanten, sprich Wesensmerkmale verstanden48, sondern als geschichtliche Funktionen begriffen werden, und Köstlin warnt vor Verklärungen, die die Volkskultur als autonomes System darstellen (wahlweise ländlich oder proletarisch) und sie als subversive kulturelle Alternative zur herrschenden Kultur anbieten. Eine originelle Umsetzung dieses Ansatzes findet sich in der Einleitung, die Gerhard Schneider zu einem Quellenband über die Auswirkungen der Revolution in Hannover verfaßte.49 Schneider untersucht die Protestformen der Unterschichten und arbeitet heraus, in welchem Spannungsverhältnis zwischen Tradition und Neuem sie und die Kommunikationsformen sich entwickelten.

46 Die Problematik des Begriffs »Volkskultur« behandelt Konrad Köstlin: Die Wiederkehr der Volkskultur. Der neue Umgang mit einem alten Begriff. In: Ethnologia Europaea, Jg. 14, Kopenhagen 1984, S. 25-31. 47 Peter Burke: Populär Culture between History and Ethnology. In: Ethnologia Europaea, a.a.O. (wie Anm. 46), S. 5-13. 48 Diese Position vertritt ebenfalls Wolfgang Brückner in seiner Erwiderung auf Burke, in: Populär Culture. Konstrukt, Interpretament, Realität. Anfragen zur historischen Methodologie und Theorienbildung aus der Sicht der mitteleuropäischen Forschung. In: Ethnologia Europaea, a.a.O. (wie Anm. 46),S. 14-24. 49 Schneider 1989.

II. Grundlagen

Im folgenden Kapitel werden drei Problemfelder vorgestellt, auf die in den übrigen Kapiteln häufig eingegangen wird, weil sie die Ausgangspunkte der vorliegenden Arbeit markieren. Der erste Abschnitt beschreibt den Einfluß, den die Veränderung des Geschichtsbildes im 18. Jahrhundert auf die Publizistik nahm. Von ihm ausgehend sind verschiedene Phänomene erklärbar, die in den Teilen über politische Kultur und Ereignisbilder untersucht werden: Veränderungen im Kalenderwesen, die Ausbildung einer nationalen deutschen Geschichte und vor allem die Geschichte des Ereignisbildes. Im Abschnitt über das Gedächtnis wird theoretisch erörtert, wie (zeit-)geschichtliche Ereignisse bzw. Bedeutungsmomente im Prozeß von Erinnern und Vergessen zum Stoff von Geschichtsbildern werden. Wenn in den folgenden Kapiteln danach gefragt wird, welchen Ereignissen, Personen usw. Aufmerksamkeit geschenkt und was in Bildern fixiert wurde, dann geht es um das Material des kulturellen Gedächtnisses. Schließlich werden theoretische Grundlagen von Gruppenkonflikten vorgestellt. Sie sind unerläßlich, wenn die Selbstbilder von Deutschen und deren Vorstellungen von ihren Nachbarn im Revolutionszeitalter beschrieben werden (insbesondere in den Abschnitten »Zweierlei Nation« und »Feindbilder«),

1. Erzählte Geschichte a) Inhalte Wovon erzählt Geschichte? Gottfried Benn spottete über die traditionelle Ereignisabfolge von Kriegen und Herrschenden, wie sie im Ploetz repetiert wird: »Da findet sich: 1 x Seesieg, 2 x Waffenstillstand, 3 x Bündnis, 2 x Koalition, einer marschiert, einer verbündet sich, einer vereinigt seine Truppen, einer verstärkt etwas, einer rückt heran, einer nimmt ein, einer zieht sich zurück, einer erobert ein Lager, einer tritt ab, einer erhält etwas, einer eröffnet etwas glänzend, einer wird kriegsgefangen, einer entschädigt einen, einer bedroht einen, einer marschiert auf den Rhein zu, einer durch ansbachisches Gebiet, einer auf Wien, einer wird zurückgedrängt, einer wird hingerichtet, einer tötet sich - alles dies auf einer einzigen Seite, das Ganze ist zweifellos die Krankengeschichte von Irren. [...] Auf jeder Seite ereignen sich dieselben Verba und Substantiva - von Menes bis Wilhelm, von Memphis bis Versailles.«1

1 Gottfried Benn: Zum Thema: Geschichte (verf. 1942). In: Gesammelte Werke in der Fassung der Erstdrucke, Bd. 3. Hg. von Bruno Hillebrand. Frankfurt 1989, S. 353-367, hier: S. 369. siehe: Der kleine Ploetz. Berlin 1891, S. 337, mit Daten aus dem Jahr 1805. Vgl. Werner Conze, Karl-Georg Faber, August Nitschke (Hgg.): Funkkolleg Geschichte. Frankfurt 1981, Bd. 1, S. 301.

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II. Grundlagen

Auf die in Chroniken festgehaltene Historie trifft Benns Spott zu. Ihre Aussagekraft ist begrenzt. Vor allem fehlt ihr jede identitätsbildende Bedeutung. Ein brasilianischer Autor, Euclides da Cunha, hatte diese Funktion der Geschichte im Sinn, als er 1903 schrieb, Brasilien habe »noch keine Geschichte«, sondern »höchstens Annalen«. 2 In der frühen Neuzeit besaß diese Form der Geschichtsschreibung großes Gewicht. Sie ging einher mit einer weiteren Geschichtsauffassung: Die Möglichkeiten, Mensch zu sein, schienen sich lange Zeit auf jene aus Bibel und antiker Geschichte und Mythologie bekannten Muster zu beschränken. Der Topos von der Lehrmeisterin Geschichte (»Historia magistra vitae«) war rund zweitausend Jahre geläufig. Seine Verwendung »verweist auf ein durchgängiges Vorverständnis menschlicher Möglichkeiten in einem durchgängigen Geschichtskontinuum« und ist »ein untrügliches Indiz für die hingenommene Stetigkeit der menschlichen Natur, deren Geschichten sich zu wiederholbaren Beweismitteln moralischer, theologischer oder politischer Lehren eignen«.3 Koselleck geht davon aus, daß dieses Kontinuum weitgehend bestand und daß jeder Wandel innerhalb dieses Rahmens blieb. Für geschichtsinteressierte Menschen im 18. Jahrhundert war, solange das alte Geschichtsparadigma bestand, deshalb eine Art Verwandtschaftsgefühl mit den vergangenen Generationen bis in die Antike zurück gegeben. Im 18. Jahrhundert differenzierte sich in Europa die Geschichtsschreibung und bereitete ihre Inanspruchnahme durch Moral, Politik und Ästhetik vor. Von der Fachwissenschaft bis hin zu den für die Allgemeinheit bestimmten Werken erweiterte sich das Blickfeld. Es wurde zur Aufgabe der Geschichtsschreibung, den Ereignis- und Sinnzusammenhang der Geschichte erfaßbar zu machen. 4 Ihr Sinn wurde nicht mehr aus der Heilsgeschichte abgeleitet, sondern in ihr selber gesehen. Schon in Zedlers Universallexikon war die Historie zugleich umfassend definiert und auf das Berichtenswerte beschränkt worden.5 Des Aufhebens wert seien Berichte über nützliche oder sehr seltene »Dinge«. August Ludwig Schlözer betont in der Vorrede der »Vorstellung seiner Universal-Historie« (1772) den Zusammenhang von Vergangenheit und Gegenwart: »Alle Menschen sind Geschöpfe von einer Art.« 6 Dennoch unterschieden sich Völker in synchroner und diachroner Hinsicht; andernfalls wäre die Geschichtsschreibung überflüssig. August Ludwig Schlözer unterschied zwischen »Realzusammenhang« und »Zeitzusammenhang«. In der Geschichtsschreibung können alle Begebenheiten diachron oder »synchronistisch« gelesen werden. Wird ein Thema in seiner geschichtlichen Abfolge dargestellt (z. B. die Geschichte Ägyptens), so handelt es sich um den Realzusammenhang. Er wird mittels Verkürzungen und durch »Ruhepuncte« und »geschickte Vertheilung der Perioden« gegliedert. Modern wirkt Schlözers Definition des Zeitzusammenhangs. Er stellt sich die Frage, wie Konfuzius und Anakreon 'zusammenpassen': nur »ein höherer Geist, der die Verkettung aller Dinge unsers Erdboden durchschaut, würde auch unter ihnen eine entweder spätere oder frühere Realverbindung finden.«

2 Roberto Ventura: »Unsere Vendée«. Der Mythos von der Französischen Revolution und die Konstitution nationalkultureller Identität in Brasilien (1897-1902). In: Gumbrecht/ Link-Heer 1985, S. 441466, hier: S. 441. 3 Koselleck 1967, S. 197. 4 Vgl. Koselleck 1979, S. 144-157. Zur Begriffsgeschichte siehe Heinz Rupp, Oskar Köhler: Historia Geschichte. In: Saeculum, Jg. 2, H. 2, Freiburg, München 1952, S. 627-638. 5 Zedier, Bd.13, »Historie«. 6 Schlözer 1772, S. 4.

Erzählte Geschichte

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Der Zwang zu universalen geschichtlichen und kulturellen Kenntnissen erschwert demnach die Beschreibung des Zeitzusammenhangs. 7 Festzuhalten bleibt, daß auch Schlözer zufolge Geschichte nur das wiederzugeben habe, was einen Einfluß auf die Welt habe bzw. hatte. Sie solle deshalb auch auf Chronologien und Genealogien verzichten.8 Aus den letztgenannten Positionen ergibt sich, daß die Historiker des späteren 18. Jahrhunderts neue Maßstäbe fanden für die Auswahl des Berichtenswerten. Johann Mathias Schrökh erläutert ausführlich, wie er die Stoffe für seine »Allgemeine Weltgeschichte für Kinder« auswählte. Am wichtigsten waren ihm vorbildliche Handlungen von Kindern, die nach seiner Schätzung ein Drittel der Motive ausmachten. 9 An zweiter Stelle stehen »Geschichten, und Stellungen von großen Männern« und zuletzt kulturgeschichtliche Stoffe aus Rechts-, Kunst- und Wissenschaftsgeschichte. Mit diesem, dem pädagogischen Anliegen geschuldeten Programm beschreibt er aber nur die »Ruhepunkte«, denn er will keine Anekdotensammlung liefern, sondern den geschichtlichen Zusammenhang veranschaulichen. Die dem Ereignis in der Geschichtsschreibung somit zukommende Funktion umreißt Winfried Schulze folgendermaßen: »Jedes historische Ereignis erscheint uns als Schnittpunkt eines ganzen Bündels einzelner Entwicklungslinien. [...] [Große Ereignisse] werden selbst wieder zum Anfangspunkt einer eigenen Entwicklungslinie«.1" Die Bedeutung des Ereignisses ist unabhängig von seiner meßbaren Größe (also dem Aufwand an Zeit, Personen, Material usw.): Der Kniefall vor einem Mahnmal, ein Fenstersturz können große Ereignisse sein; eine für sich genommen unbedeutende Episode kann enorme Auswirkungen haben.11 Nur scheinbar paradox ist es, daß Ereignisse besonders beachtet werden in einer Zeit, in der die Geschichtsschreibung die hinter ihnen liegenden Ideen und Strukturen ans Licht zieht. Je differenzierter und komplexer Geschichte wird, »desto mehr empfinden wir vielleicht das Bedürfnis nach der Symbolkraft eines großen historischen Ereignisses, das alles erklärt und keinen Zweifel mehr erlaubt«.12

b) Erzählweisen Mit der Auswahl der Stoffe veränderte sich auch die Erzählweise. Anders als beim Problem der Stoffauswahl, herrschte in dieser Frage keine Einigkeit. Voltaire war ein Vorreiter für die Trennung von narrativer Geschichtserzählung und Geschichtsschreibung. Erstere schien ihm Erkenntnis eher zu verhindern denn zu befördern. So befand er: »Bei allen Nationen ist die Geschichte durch die Fabel entstellt, bis endlich die Philosophie kommt, die Menschen aufzuklären.« 13 Für Schlözer dagegen bedeutete die Universalgeschichte den Verzicht auf Kritik und Raisonnements. »Sie sammlet, ordnet, und erzählet nur.«14 Er vergleicht die Geschichtsschreibung mit der Bildenden Kunst:

7 8 9 10 11 12 13

Ebd., S. 46-49. Ebd., S. 25-27; vgl. Salzbrunn 1968, S. 83-87. Schrökh 1786, Vorrede. Schulze 1989, S. 11. Vgl. Nora 1990, S. 30. Schulze 1989, S. 13. Historiker sprechen von der »Rückkehr des Ereignisses«. Zit. n. Marc Eli Blanchard: Geschichte, Theater und das Problem der >Sitten< im 18. Jahrhundert. In: Gumbrecht/ Link-Heer 1985, S. 110-25, hier: S. 110. Vgl. Klaus Dirscherl: Diderot auf der Suche nach einem Diskurs über den Menschen. In: Ebd., S. 126-140, hier: S. 139, Anm. 1. 14 Schlözer 1772, S. 25-27; vgl. Salzbrunn 1968, S. 83-87.

24

II.

Grundlagen

»Einzelne Facta oder Begebenheiten sind in der Geschichtswissenschaft, was die kleinen farbichten Steinchen in der mosaischen Malerei. Der Künstler durch geschickte Austheilung vermischt und ordnet sie, schließt sie genau an einander, und bringt dadurch dem Auge ein fertiges Gemähide auf einer schnurgleichen und ununterbrochenen Fläche entgegen. Die Kritik gräbt diese Facta aus Annalen und Denkmälern einzeln aus, (die Voltaires machen sie selbst, oder färben sie wenigstens): die Zusammenstellung ist das Werk des Geschichtsschreibers.«15 Die Unterschiede zwischen Roman und Bericht zu verwischen, warf Adelung 1782 der französischen Geschichtsforschung vor. Er schätzte die in Deutschland bevorzugte Methode der Quellensammlung16, befürchtete aber, daß der Einfluß der französischen Kultur auch in Deutschland Geschichtsschreibung zum »Roman« verkommen ließ. Schiller äußert sich 1788 grundsätzlich dazu: »Daß es nicht in meiner Macht gestanden hat, diese reichhaltige Geschichte ganz, wie ich es wünschte, aus ihren ersten Quellen und gleichzeitigen Dokumenten zu studieren, sie unabhängig von der Form, in welcher sie mir von dem denkenden Theile meiner Vorgänger überliefert wird, neu zu erschaffen, und mich dadurch von der Gewalt frei zu machen, welche jeder geistvolle Schriftsteller mehr oder weniger gegen seine Leser ausübt, beklage ich immer mehr, je mehr ich mich von ihrem Gehalt überzeuge. So aber hätte aus einem Werke von etlichen Jahren das Werk eines Menschenalters werden müssen. Meine Absicht bei diesem Versuche ist mehr als erreicht, wenn er Einen Theil des lesenden Publikums von der Möglichkeit überführt, daß eine Geschichte historisch treu geschrieben sein kann, ohne darum eine Geduldprobe für den Leser zu sein, und wenn er einem andern das Geständniß abgewinnt, daß die Geschichte von einer verwandten Kunst Etwas borgen kann, ohne deßwegen nothwendig zum Roman zu werden.«17 Schillers Rezeptionsästhetik spricht zwei Punkte an: Das Verlangen nach historischer Treue, erreichbar durch größtmögliche Quellennähe, muß in Einklang gebracht werden mit dem Vorstellungsvermögen des Publikums. Er steht vor dem Dilemma, daß die Arbeit des Historikers eine gefilterte Darstellung der Geschichte liefert, der er skeptisch folgt und die er ebenso fortschreibt. Als Problem hat Schiller erkannt, daß jede erzählte Geschichte die Vorstellung formt. Er bemüht sich deshalb einerseits um scharfe Abgrenzung vom Geschichtenerzählen des Romans, andererseits betont er das subjektive Moment der Geschichtsschreibung, indem er behauptet, daß es die Aufgabe der Forschung sei, »die empirische Zufälligkeit und Unendlichkeit der Erfahrung in die Ordnung der Erkenntnis zu verwandeln«.18 Schiller und Goethe stimmten darin überein, daß Wissenschaft und Kunst sich in der Dramatisierung historischer Stoffe ergänzen könnten. Die Dichtung erhielte dabei die Aufgabe, das vom Zufälligen belastete Besondere ins Allgemein-Menschliche zu übersetzen.19

15 Schlözer 1772, S. 44f. Gatterer schätzte zumindest die Schreibweise Voltaires. Zu Gatterer vgl. Notker Hammerstein: Jus und Historie. Ein Beitrag zur Geschichte des historischen Denkens an deutschen Universitäten im späten 17. und 18. Jahrhundert. Göttingen 1972, S. 357-374 16 Vgl. Adelung 1979 (1782), S. 459. 17 Schiller, Vorrede, S. 9; vgl. Ueding 1987, S. 789f. 18 Ueding 1987, S. 793. Vgl. Michael Gottlob: Geschichtsschreibung zwischen Aufklärung und Historismus. Johannes von Müller und Friedrich Christoph Schlosser. Frankfurt u. a. 1989, S. 30-33. Nach Gottlobs Darstellung war vielen Historikern (Gatterer, Müller usw.) gemeinsam, Geschichtsschreibung mit einer der Dichtung ähnlichen philosophischen Gültigkeit betreiben zu wollen. 19 Ueding 1987, S. 196f.

Erzählte

Geschichte

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Johann Christoph Gatterer schließlich verlangte eine Erzählweise, die das Ereignis vergegenwärtigt: »Cäsar ist mit dreiundzwanzig Wunden im Senate ermordet worden. Wie abscheulich! Aber ich will dies nicht lesen, ich will es sehen. Man bringe mich selbst auf das entweihete Rathaus: man zeige mir Casars Mörder, seine Wunden, sein durchlöchertes und blutiges Gewand.«20 Solche 'merkwürdigen Begebenheiten' sollten jedoch nicht unverbunden aneinandergereiht werden. Aufgabe der Geschichtsschreibung war es nach Gatterers Ansicht, Zusammenhänge zwischen ihnen herzustellen und diese in einer einheitlichen Erzählweise zu veranschaulichen.21 Ernst Ludwig Posselt wollte mit seiner Geschichtsschreibung nicht nur belehren, sondern nach der Art der »feinsten Kunst des grosen Schauspieldichters« ästhetisch wirken; Rührung, »Bewunderung« und »Abscheu« sollten bei der Lektüre provoziert werden.22 Für Geschichtsschreibung »mit dem Gefühl eines Zeitgenossen« sprach sich auch Barthold Georg Niebuhr aus.23 Die im Buch eingenommene Perspektive dürfe aber nicht mit derjenigen verwechselt werden, mit der er die Gegenwart betrachte. Mit der Konstituierung der Geschichtswissenschaft in der zweiten Jahrhunderthälfte verschwand also die erzählende Geschichtsschreibung nicht, sondern erlebte eine Umformung. An die Stelle der annalistischen Aneinanderreihung traten allmählich Erzählweisen, welche die Folge der Ereignisse im Licht von Geschichtsideen ordneten und spiegelten - nicht Datenwissen, sondern Zusammenhänge waren gewollt.24 In der begrifflichen Unterscheidung von »Beschreibung« und »Erzählung« stecken Synchronie und Diachronie. Eine historische Erzählung liefert also nicht das Bild eines vergangenen Zustands, sondern zeichnet Abläufe nach und erklärt sie.25

c) Funktion der Geschichte Eine Antwort auf die Frage nach dem Grund für den Drang nach geschichtlichen Kenntnissen kann hier nur knapp ausfallen. In Deutschland war er Teil des bürgerlichen Emanzipationsprozesses. Geschichte wurde zu einem Mittel, mit dem sich die bürgerliche Gesellschaft ein starkes Selbstbewußtsein schaffte. 26 Überdeutlich wird dieser Sachverhalt im Diskurs über den Nachruhm. Mit der Abkehr von der annalistischen Geschichte verband sich die Absage an feudalistische Traditionen.

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Johann Christoph Gatterer in: Historische Bibliothek I (1767), S. 15. Vgl. Salzbrunn 1968, S. 21-65. Salzbrunn 1968, S. 22. E.L. Posselts kleine Schriften. Bückeburg 1795, S. 9, zit. n. Salzbrunn 1968, S. 161. Barthold Georg Niebuhr: Brief an Goethe. Königsberg, 23.12.1806, zit. n. Ders., Briefe und Schriften, S. 90. Sein Thema aus der römischen Geschichte provozierte in Deutschland in der Endphase der napoleonischen Herrschaft Mißtrauen: »Es wird nicht fehlen, daß viele an diesem neuen Bande als einem demokratisch republikanischen Buche Ärgernis nehmen werden.« Und er fährt fort: »Niemand könnte die Idee lächerlicher finden, in unseren morschen Staaten repräsentative Formen einzuführen.« 24 Koselleck 1975; Hans-Jürgen Pandel: Pragmatisches Erzählen bei Kant. Zur Rehabilitierung einer historistisch mißverstandenen Kategorie. In: Blanke/ Rüsen 1984, S. 133-51, hier: S. 139. 25 Ebd., S. 145. 26 Vgl. Renate Dopheide: Republikanismus in Deutschland: Studie zur Theorie der Republik in der deutschen Publizistik des späten 18. Jahrhunderts. Diss. Bochum 1980, S. 619f. - Der politische Schriftsteller Friedrich Carl von Moser zitiert einen »Regentenspiegel des Schuppius« aus dem Jahre 1659, um den Geschichtsschreiber zu kennzeichnen: »Ein großer Herr sollte entweder Historíeos

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Der Feudalismus beruhte auf dem Alter der adligen Geschlechter. Es galt also das Prinzip einer stark abstrahierten Geschichte. Verdienste, mit denen die Privilegien begründet wurden, lagen in grauer Vorzeit und wurden in der Symbolsprache von Stammbäumen, Wappen und anderen Zeichen tradiert. Diesem Abstraktionsvorgang fiel selbstverständlich der Teil der Geschichte zum Opfer, der die Verdienste der Untertanen betraf. In Frankreich versuchte der »Schwertadel« immer, sich vom »Amtsadel« abzugrenzen, dessen Zahl sich unter Ludwig XV katapultartig vergrößerte. Die Anciennität spiegelt sich zwar auch in den Genealogien der Almanache (besonders des »Gotha«), doch verlor sie in dem Maß an Gewicht, wie ihr das aufgeklärte Bürgertum den Respekt vor der Tugend entgegensetzte.27 In der bürgerlichen Aneignung der Geschichte setzt sich diese moralische Sehweise durch. Schon Bernhard Rodes Motivwahl seiner Illustrationen der brandenburgischen Geschichte legten den Ballast des herkömmlichen Fürstenlobs ab. Statt die Gegenwart also von der Vergangenheit aus zu bewerten, strebte die bürgerliche Geschichte an, ihre gewonnenen Maßstäbe von der Gegenwart aus auf die Vergangenheit zu projizieren.28 Die Geschichtsschreibung ersetzte dem Bürgertum die fehlenden politischen Instrumente zur Korrektur der Regierungen. Sie - und mit ihr die kollektive Erinnerung - bestimmte, ob ein Herrscher oder eine Herrscherin ein Nachleben erhielten und ob es mit positiven oder negativen Vorzeichen versehen war. Friedrich Schiller bezeichnete die Geschichte in dieser Hinsicht als Nemesis.29 Ganz in diesem Sinn schreibt Friedrich Schulz 1789: »Die Königin [Marie-Antoinette] kann nur von der Nachwelt gerichtet werden. Foulon, der Grausame, ward es vom Volke, zwar nicht in rechtlicher Form, aber darum nicht minder gerecht [...]«.3° Und auch Klopstock ermahnte Kaiser Joseph II. dazu, patriotische Lorbeeren zu erwerben, »Denn betritt er nicht noch | Die Bahn des vaterländischen Mannes; so schweigt | Von ihm die ernste Wahrheitsbezeugerin, | Die Vertraute der Unsterblichkeit, Deutschlands Telyn. | [...] Hinsiechendes Leben einst, [...] | und steh's | Im gemähldebehangenen Säulensaal' f...].«31 In der Aufklärungszeit leistete die Geschichte der Gesellschaftskritik wichtige Argumentationshilfe. Im »Patriotischen Archiv« schrieb deshalb von Moser:

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lesen, oder Narren halten; denn was unterweilen ein Canzler nicht will sagen, und was ein Hofprediger nicht darf sagen, das sagt ein Narr und ein Historicus. Dieser sagt, es sey geschehen, jener, es geschehe noch.« (Patriotisches Archiv X, 1789, S. 506f.) Moser zitiert zwar einen älteren Autor, aber er hat eine moderne Intention. Seine ganze Arbeit zielt darauf ab, mittels der Geschichte zu Einsichten zu kommen über politische und soziale Vorgänge. Mit dem »Magistra«-Topos hat seine Auffassung nur noch wenig zu tun, denn für ihn bedeuten die Anekdoten und lehrhaften Geschichten nur Mosaiksteine, die von Archivalien ergänzt werden müssen. Nicht die Geschichte lehrt, sondern der Historiker. Über Moser siehe Ursula A J . Becher: Moralische, juristische und politische Argumentationsstrategien bei Friedrich Carl von Moser. In: Hans Erich Bödeker, Ulrich Hermann (Hgg.): Aufklärung als Politisierung - Politisierung der Aufklärung. Hamburg 1987, S. 178-195. Vgl. Halbwachs 1966 (1925), S. 317; Serge Bianchi: La révolution culturelle de l'an II. Élites et peuple 1789-1799. Paris 1982, S. 20f. Zu den Auswirkungen auf die Historienmalerei siehe Busch 1989, S. 341f.: »Auch die christlich-biblischen Szenen und Bilder hören auf, gültige Exempla zu sein, sie unterliegen historischer Kritik und Reflexion und müssen sich Korrekturen gefallen lassen.« Ueding 1987, S. 198. Historischer Almanach 1790, S. 237f. Zit. n. Zimmermann 1987, S. 269; der Dichter warb vorrangig um ein eigenes Projekt, das der Kaiser protegieren sollte.

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»Wer Königen und Fürsten dienen will [...], enthalte sich die Alten und viele pragmatische Geschichtsschreiber zu lesen.«32 Beeindruckt von der Französischen Revolution, faßte Friedrich Schiller den Plan zu einer Geschichte der englischen Revolution von 1649. Zwar sollte sie das deutsche Publikum über das Verwerfliche einer Revolution belehren, er hoffte jedoch ebensosehr, die Regierenden in akzeptabler Weise für politische Reformen zu gewinnen. 33 Unter dem Eindruck des Revolutionskrieges änderte sich diese Einstellung. Vollends anerkannt und gefördert wurde die politische Geschichtsschreibung seitens der Obrigkeiten erst in der Zeit der Befreiungskriege. Ihnen war der Patriotismus suspekt, weil er Forderungen nach Volkssouveränität nach sich ziehen konnte. Aber ob Parteilichkeit erwünscht oder verboten war - verhindern ließ sie sich in keinem Fall.34 Rotteck bedauerte als Liberaler vielleicht seine Erkenntnis etwas, denn seit 1806 hatte die nationalistische Geschichtsschreibung erheblichen Auftrieb erhalten. Heinrich Luden 35 schickte seiner ersten öffentlichen Vorlesung zur deutschen Geschichte im Jahr 1808 den Appell voran, daß seine Ausführungen nicht als bloße Bausteine zur Wissensvermehrung, »unbekümmert um den Geist und Sinn deutscher Art und deutschen Lebens«, benutzt werden möchten. »Sondern ich wünsche, daß wir als Deutsche die Geschichte der Deutschen hier hörten, überhaupt studirten [...] bis in das innerste Leben durchdrungen von dem heiligen Gedanken des Vaterlands.«36 Seine Veranstaltungen an der Jenaer Universität waren äußerst beliebt und - zum Unwillen der französischen Besatzer - nationalistische Manifestationen.

d) Zeitgeschichte Der Terminus »Zeitgeschichte« im Sinne von »Geschichte der eigenen Zeit« ist seit etwa 1800 gebräuchlich. 37 Im Zedier erscheint die »Zeit, (Gegenwärtige) oder die Heutige Zeit, lat. Tempus praesens oder hodiernum« als bloßer Rechtsbegriff. 38 Bis in die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts beschäftigte die Geschichtswissenschaft die Aufarbeitung der Vergangenheit so stark, daß sie sich der Gegenwart nicht widmen mochte. August Ludwig Schlözer urteilte 1772, die neueste Geschichte (seinerzeit war 1618 die Grenze) passe nicht mehr in die Geschichtsschreibung, weil sie noch zu reichhaltig, unübersichtlich und zudem unabgeschlossen sei.39 Die Aufgabe der Zeitgeschichte wurde in der Bereitstellung von Quellenmaterial gesehen, nicht in dessen beurteilender Auswertung. 40 Seit den 1760er Jahren erschienen allerdings zunehmend Zeitschriften, welche Geschichte und Zeitgeschichte im Be-

32 Patriotisches Archiv XI, 1789, S. 547, zit. n. Ferdinand Lorenz: Zur Geschichte der Zensur und des Schriftwesens in Bayern. Berlin 1904 (zugl. Diss. München), S. 25. 33 Reiner Wild: Naivität und Terror. Die Französische Revolution im Urteil des klassischen Weimar. In: Zimmermann 1989, S. 47-80, hier: S. 54. 34 Vgl. Rotteck 1813, S. Vllf. Schon Schiller hatte Parteilichkeit und Erziehungsauftrag als wesentlich für die Geschichtsschreibung gehalten. Vgl. Ueding 1987, S. 198. 35 Über Luden und die Rezeption seiner Arbeiten siehe Weymar 1961, S. 173-79. 36 Luden 1810, S. 4f. 37 Vgl. Fritz Ernst: Zeitgeschehen und Geschichtsschreibung. In: Welt als Geschichte Jg. 17, H. 3, Stuttgart 1957, S. 137-189, hier: S. 138. 38 Zedier, Bd.61, Artikel »Zeit«. 39 Schlözer 1772, S. 79f. 40 So Wilhelm von Humboldt. Vgl. Fritz Ernst: Zeitgeschehen und Geschichtsschreibung. In: Welt als Geschichte, Jg. 17, H.3, Stuttgart 1957, S. 137-189, hier: S. 154.

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griffspaar »historisch-politisch« kombinierten.41 Parallel dazu entwickelte sich das quasi historische Interesse an der Gegenwart. Friedrich Schulz stellte fest: »Wir dünken uns mithandelnde Personen dabei zu sein, auch wenn wir bloße Zuschauer in weiter Entfernung sind.«42 Und Schlözer schrieb 1791, das Ancien Régime sei anachronistisch geworden: »Eben diese französ. Revolution war, resp. für Frankreich, wo die Regierung keine Oren für MenschenRechte hatte, und sich steif gegen ihr ZeitAlter sperrte, nothwendig.«43 Schlözer verwendet sogar das Präteritum, um die zeitliche Distanz zu markieren. Zeitgeschichte beschreibt die Gegenwart, als wäre sie Vergangenheit. In der Kalendergeschichte »Unverhofftes Wiedersehen« rafft Johann Peter Hebel Jahrzehnte in einem Absatz zusammen: »Unterdessen wurde die Stadt Lissabon in Portugal durch ein Erdbeben zerstört, und der Siebenjährige Krieg ging vorüber, und Kaiser Franz der Erste starb, und der Jesuitenorden wurde aufgehoben und Polen geteilt, und die Kaiserin Maria Theresia starb, und der Struensee wurde hingerichtet, Amerika wurde frei, und die vereinigte französische und spanische Macht konnte Gibraltar nicht erobern. Die Türken schlössen den General Stein in der Veteraner Höhle in Ungarn ein, und der Kaiser Joseph starb auch. Der König Gustav von Schweden eroberte russisch Finnland, und die Französische Revolution und der lange Krieg fing an, und der Kaiser Leopold der Zweite ging auch ins Grab. Napoleon eroberte Preußen, und die Engländer bombardierten Kopenhagen, und die Ackerleute säeten und schnitten. Der Müller mahlte, und die Schmiede hämmerten, und die Bergleute gruben nach den Metalladern in ihrer unterirdischen Werkstatt.«44 Der Bergmann, der in der Jahrhundertmitte im Bergwerk von Falun starb, wird nach Jahrzehnten, durch Kupfervitriol konserviert, in seiner Jugendfrische geborgen. Hebel beschreibt drei Zeitebenen, die zwar parallel liegen, aber doch sehr unterschiedlichen Charakters sind.45 Zuerst nennt er die Ereignisgeschichte. Seine Chronik gliedert sich in traditioneller Weise nach den Regentschaften des Kaiserreichs, so wie noch heute in Japan die Zeitrechnung nach der Regierungszeit des Tenno bestimmt wird. Wichtige Ereignisse, die noch heutzutage als epochal gelten, stehen neben ephemeren. Unter dieser sich rasch verändernden Oberfläche befindet sich die alltägliche Zeit. Deren Beschreibung ist pauschaler, Veränderungen in der Arbeitsweise werden nicht berücksichtigt, sie scheinen nicht wesentlich zu sein bzw. episch irrelevant. Noch elementarer ist das Zeitliche an den einzelnen Menschen abzulesen. Im 17. Jahrhundert hätte die Konfrontation der Greisin mit ihrem einstigen Verlobten ein gelungenes Vanitas-Motiv abgegeben, woran Hebel nicht im Entferntesten denkt. Das schockierende Bewußtwerden des Alterns wird nämlich aufgewogen durch die Erfahrung der Dauerhaftigkeit der Liebe. Es war bereits die Rede von der Aufhebung des Gegensatzes zwischen Gegenwart und Geschichte. In Hebels Erzählung tritt dieser Fall ein. Den Menschen war bewußt, daß ihre Gegenwart zur Geschichte werden würde. Im Jahr 1795 schrieb Friedrich Gentz: »>Mir ekelt vor der Geschichtewenn ich bedenke, daß das, was jetzt geschieht, dereinst die Geschichte seyn wird.< Wer mit auf41 42 43 44 45

Salzbrunn 1968, S. 19f. Historischer Almanach 1790, S. 4. Schlözer's Stats-Anzeigen XVI (1791), S. 456f„ zit. n. Forst 1989, S. 116. Hebel 1987 (1811), S. 214f. Vgl. Knopf 1981, vor allem S. 126-129.

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geklärtem Auge, unbefangnem Sinn, und gefühlvollem Herzen, das tragische Schauspiel des Jahrs 1794 beobachtet hat, wird sich nicht enthalten können, der Wahrheit in dieser Bemerkung zu huldigen.«46 Beseelt wurde die Zeitgeschichte vom Zeitgeist. Herder nennt den »Genius der Zeit« kurz einen Diener der Humanität. Häufig unsichtbar und still, könne ein einziger Gedanke eines weisen Menschen, den der Geist der Zeit aufgreife, ein Chaos ordnen.47 »Die Zeit ist ein Gedankenbild nachfolgender, in einander verketteter Zustände; sie ist ein Maas der Dinge nach der Folge unsrer Gedanken; die Dinge selbst sind ihr gemessener Inhalt. Geist der Zeiten hieße also die Summe der Gedanken, Gesinnungen, Anstrebungen, Triebe und lebendigen Kräfte, die in einem bestimmten Fortlauf der Dinge mit gegebnen Ursachen und Wirkungen sich äußern. Die Elemente der Begebenheiten sehen wir nie; wir bemerken blos ihre Erscheinungen, und ordnen uns ihre Gestalten in einer wahrgenommenen Verbindung.« Auf der Erde existieren gleichzeitig alle Zeiten, »vielleicht auch alle Zustände des menschlichen Geschlechts«, zumindest haben sie existiert oder werden existieren; etwas später heißt es: »keine zwei Dinge der Welt haben dasselbe Maß der Zeit [...] Es gibt also [...] im Universum zu einer Zeit unzählbar viele Zeiten.«48 Nach der Französischen Revolution wurde der Vorstellung widersprochen, daß zwar die Geschichtsschreibung sich verändere, nicht aber die Geschichte.49 Joseph Görres beschrieb in der Impression einer mittelalterlichen Kirche den Vorgang dieser Veränderung der Geschichte: »[...] bronzene Inschriften, halb zerstört von dem feuchten Hauch der Zeit, deuten verworren die Großtaten an, die, nachdem sie lange glänzende Wahrheit gewesen sind, nun wieder zur Fabel werden.«50 Görres' Satz verrät eine Irritation gegenüber der Sicherheit, mit der Geschichte als gleichsam natürlicher Ablauf verstanden und hingenommen werden kann. Wenn Geschichte gemacht wird, bedeutet dies, daß Menschen sie handelnd machen, aber auch, daß sie keine natürliche Zeitabfolge, sondern ein literarisches Produkt ist. Für die menschliche Geschichte ist es nötig, von Zeiten zu sprechen, welche sich ablösen oder überlappen. »Geschichte besteht [...] nicht aus einer Reihe sich ausschließender Stadien, die sich in einer fortlaufenden Abfolge ersetzen, sondern vielmehr aus diskontinuierlichen Zeit-Räumen, die unter anderem durch ihre je eigene Zeitlichkeit bestimmt sind. Jeder solche ZeitRaum impliziert auch eine je verschiedene Geschichtlichkeit, das heißt ein Deutungsschema, das es erlaubt, die jeweilige historische Erfahrung mit der jeweils aktuellen Episteme [= »Kultur einer Zeit«] in Beziehung zu setzen.«51

46 In: Neue deutsche Monatsschrift, Januar 1795, S. 3, zit. n. Haacke 1968, S. II/ 62 (bei Haacke falsch: 1794). 47 Herder, Beförderung II, S. 79. 48 Johann Gottfried Herder, Metakritik zur Kritik der reinen Vernunft (zuerst 1799), zit. n. Koselleck 1979, S. 10. 49 Vgl. Koselleck 1975, S. 698f. 50 Joseph Görres: Aphorismen über die Kunst. Koblenz 1802, zit. n. de Stael 1985 (1814), S. 485. 51 Kirsten Hastrup: Ethnologie und Kultur. Ein Überblick über neuere Forschungen. In: Raulff 1986, S. 54-67, hier: S. 58. Nebenbei: das Zeit-Räumliche wurde wörtlich verstanden. Aus Rom schreibt Carl Ludwig Fernow: »Ich habe mein lieber Pohrt, Deinen Brief aus Leipzig vom 21. Jun. erhalten.

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Hastrup bezieht sich auf die Erfahrungen des ethnologischen Kulturvergleichs. Vielleicht befremdet es, eine ethnologische Feststellung auf mitteleuropäische Verhältnisse um 1800 zu übertragen. Doch die Annahme, daß neben den Kalendern auch die Uhren in Frankreich anders als in Deutschland gingen, ist nicht überspitzt. Schon das berühmte »Sie und nicht wir!« Klopstocks impliziert diesen kulturellen Zeitunterschied. Koselleck unterscheidet drei Weisen, geschichtliche Zeit zu erfahren: erstens als »irreversible«, einmalige Ereignisse; dann als wiederholbare » - sei es in unterstellter Identität der Ereignisse; sei es, daß die Wiederkehr von Konstellationen gemeint ist; sei es eine typologische oder figurale Zuordnung von Ereignissen«; und als letzte die »Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen. In dieser zeitlichen Brechung sind einmal verschiedene Zeitschichten enthalten, die je nach den erfragten Handlungsträgern oder Zuständen von verschiedener Dauer sind und die aneinander zu messen wären. Ebenso sind in dem Begriff der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen verschiedene Zeiterstreckungen enthalten. Sie verweisen auf die prognostische Struktur geschichtlicher Zeit, denn jede Prognose nimmt Ereignisse vorweg, die zwar in der Gegenwart angelegt, insofern schon da, aber noch nicht eingetroffen sind.«52 Damit ist eine Verbindung möglich zum genannten ethnologischen Zeitverständnis. Koselleck bezieht seine Definition jedoch nicht auf den interkulturellen Uhrenvergleich, sondern auf Zeiterfahrungen innerhalb einer Kultur. Die geschichtliche Zeit ist stets eine Interpretation der natürlichen, vergleichbar mit dem subjektiven Zeitempfinden. Plastisch ausgedrückt: Es war möglich, über den 14. Juli 1789 ein Buch zu schreiben, während die auf diesen Tag folgende, in Jahren zählende Zeit ebenso leicht gerafft beschrieben werden konnte. 53 Ein Ereignis ist keine Erfindung, sondern wird im (kollektiven) Erinnerungsvorgang gestaltet.

e ) Geschichtspublizistik Vom geschichtlichen Paradigmenwechsel ausgelöst bzw. ihn fördernd, wurde die Lektüre historischer Texte in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zunehmend beliebter.54 Diese Tendenz ist nicht zuletzt ablesbar an dem - auch im Verhältnis zu allen anderen Wissenschaften - rapiden und enormen Anstieg der Zahl geschichtlicher Bücher und Fachzeit-

Jetzt also trennt uns schon ein ganzer Monath Raum (Du weißt daß man den Raum nur durch die Zeit messen kann) von einander.« (Brief vom 22. Juli 1797; in: Fernow Briefe, S. 255). - Es bedeutet ein schweres Hindernis interkultureller Forschung, daß die Kulturwissenschaften seit ihrer Etablierung im 19. Jahrhundert diese Vielfalt übersahen. (Vgl. Narahari Rao: Verstehen einer fremden Kultur. In: Petra Matusche (Hg.): Wie verstehen wir Fremdes? Aspekte zur Klärung von Verstehensprozessen. München, 1989, S. 110-121.) 52 Reinhart Koselleck: Geschichte, Geschichten und formale Zeitstrukturen. In: Koselleck/ Stempel 1973, S. 211-22, hier: S. 213; vgl. die Wortprägung »Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen« von Wilhelm Pinder in: Das Problem der Generation in der Kunstgeschichte Europas. 4. Aufl. Köln 1949, S. 27. 53 Schulze 1989. Vgl. Arno Borst: Das historische 'Ereignis'. In: Koselleck/ Stempel 1973, S. 536-540. 54 Zum seinerzeitigen anthropologischen Verständnis der Geschichte siehe Hilmar Kallweit: Zur Topographie der Historie in enzyklopädischen Ordnungen des Wissens; sowie die anschließenden Diskussionsbeiträge von Jörn Rüsen und Kallweit. In: Blanke/ Rüsen 1984, S. 105-123,127-130 und 130f.

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Schriften ab etwa 1770.55 Weit über die gelehrte Welt hinaus reichte der Wirkungsbereich der jungen Wissenschaft, und dieser Popularisierung soll das weitere Augenmerk gelten. Als günstiges Medium für sie erwies sich die neuentwickelte Gattung der Almanache. Die Zahl der seit den 1780er Jahren verlegten »Historischen Calender« mit ihren vielfach zum Verwechseln ähnlichen Titeln ist kaum zu überblicken. Sie setzen mediengeschichtlich eine alte Tradition fort.56 Modernisiert wurde die Gattung der Almanache seit den 1760er Jahren (Gothaischer Hofkalender, Musenalmanache). 1779 erschien das erste historische Jugendbuch, die »Allgemeine Weltgeschichte für Kinder«, von Johann Matthias Schrökh.57 Aus zwei Gründen ist es bedeutsam für die Weiterentwicklung der Populärgeschichte: erstens formulierte Schrökh ein pädagogisches Anliegen, das für die Erwachsenenliteratur anregend war; zweitens ließ er seine Bände von Christian Bernhard Rode üppig illustrieren. Schon in der Widmung des ersten Bandes an den Freiherrn Karl Abraham von Zedlitz verweist Schrökh auf den Zweck seiner Anstrengung: Sie gelte dem »vortreffliche[n] Verfasser der Abhandlung vom Patriotismus, inwiefern er ein Gegenstand der Erziehung in monarchischen Staaten ist [...]«, weil auch sein eigenes Werk der patriotischen Erziehung dienen solle. In der Vorrede58 des ersten Bandes erläutert Schrökh ausführlich seinen Plan, der ihm fünf Jahre früher - also 1774 - angetragen worden war: »Dieses Werk soll also weder ein Lehrbuch der allgemeinen Weltgeschichte, noch eine bloße Sammlung von Erzählungen aus derselben, auch kein moralisches Exempelbuch; sondern eine gewissermaßen zusammenhängende Weltgeschichte seyn, in der aber manche Personen weit genauer beschrieben, viele Begebenheiten ungleich weitläuftiger entwickelt werden, als es in einem kurzen Lehrbuche nöthig ist. [...]Kindern sollte hier vorzüglich das Fruchtbare der Geschichte an einzelnen Beyspielen gezeigt werden [...]«, ohne das Ganze aus den Augen zu verlieren; sie sollten »überhaupt also eine Anleitung bekommen, wo und warum man in der Geschichte besonders stille stehen müsse«. Einer Denkschrift aus dem Jahr 1787 ist abzulesen, daß Schrökhs Konzept beispielhaft war. Wenige Jahre nach dem Erscheinen der »Weltgeschichte« plädierte der Trierer Domherr Friedrich von Dalberg in seinem Entwurf eines gymnasialen Lehrplans für die umfassende Berücksichtigung der Geschichte im Unterricht. Um die Jugendlichen für die Wahrheit zu begeistern, daß »die Tugend glücklich, das Laster unglücklich mache, ist es am besten, daß der Lehrer ihnen diesen Grundsatz niemalen ausdrücklich vortrage, sondern daß er ihnen solche Geschichten, Erzählungen, Bilder und Darstellungen vortrage, aus welchen sie disen [!] wichtigen Schluß selbst folgern. [...] diese Art, die Moral auf die Geschichte zu bauen, wird die Wirkung haben, daß zu gleicher Zeit der Verstand aufgeklärt und das Herz veredelt wird, und es ist nicht zu viel verlangt, daß der Lehrer eine seiner Schulstunden täglich das Studium der Menschenund Völkerkunde aus diesem Gesichtspunkte mit seinen Schülern bearbeitet.«59

55 Salzbrunn 1968, S. 5; Margot Lindemann: Deutsche Presse bis 1815. (Geschichte der deutschen Presse, Teil 1). Berlin (West) 1969, S. 182f. und 206-208; Koselleck 1975, S. 687-692. 56 Vgl. Der Durchlauchtigen Welt 1734. 57 Durch Überarbeitungen erweiterte sich das zuerst zweibändige Opus. Zitiert wird nach der späteren Ausgabe (Schrökh 1786). Vgl. Doderer/ Müller 1977, S. 243. 58 Unpaginiert. 59 Zit. n. Hansen 1,1931, S. 119f.

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Als Schulbuch empfiehlt Dalberg Schrökhs Werk, dessen pädagogische Zielsetzung er weitgehend übernimmt. Er betont, daß der Unterrichtsstoff »kein bloßes Regenten-, Kriegs- oder Schlachten-Register« sein dürfe, sondern die Universalgeschichte im kulturgeschichtlichen Sinn.60 Dalberg faßte die Geschichte noch als Lehrmeisterin des Lebens auf, und er forderte schon die Ausweitung des Geschichtsbegriffs in der Allgemeinbildung. Dalberg verzichtet jedoch auf ein weiteres Ziel Schrökhs, der über die moralische Wirkung hinaus den Nutzen historischer Kenntnisse darin sieht, daß sie leichter begreifen lassen, was in der Gegenwart geschieht.61 Taschenbücher griffen die Ergebnisse der Wissenschaft auf. Einige erzählten sogar die Menschheitsgeschichte in Fortsetzungen, so der »Almanach für die Geschichte der Menschheit« von F C. Schlenkert.62 Sein Einbandtitel lautet: »Geschichte der Welt«. Der letzte Jahrgang 1798 enthält »Darstellungen aus der Geschichte der Menschheit. Vierte Periode der Menschengeschichte. Jahr der Welt 3640 bis 3865 oder bis 336 vor Christus Geburt«. Schlenkert hatte offensichtlich damit gerechnet, den Almanach noch länger publizieren zu können. Über die Rezeption wissenschaftlicher bzw. populärwissenschaftlicher historischer Periodika im 18. Jahrhundert ist zu wenig bekannt, als daß hierüber etwas ausgesagt werden könnte. Einzig die Kontinuität von Werken wie Lorenz Westenrieders »Historischem Calender«, Posselts »Taschenbuch für die neuste Geschichte« und dem »Historisch-genealogischen Kalender« der Braunschweiger Schulbuchhandlung ist ein Indiz für den Publikumserfolg.63 Von diesen Publikationen, die der modernen Geschichtsforschung folgten, unterscheidet sich die literarische Gattung des »Gemäldes«. Das Wort »Gemälde« bedeutete nicht nur eine Malerei, sondern auch einen ausführlichen Bericht, der viele Facetten des Themas beleuchtet (»Tableaux de Paris«64, »Gemähide der merkwürdigsten Hauptstädte von Europa«65), in geschichtlicher und kultureller Hinsicht: »In einer Gemählde-Ausstellung ist man allerdings berechtigt, neben den Modellen und Zeichnungen der Lehrlinge auch einige Tableaus von Meisterhänden zu erwarten. - Das sind die meinigen nicht; nur Kleinigkeiten, Bruchstücke, schlichte Naturgemälde. Wer mehr erwartet, der schlage das Büchlein zu, und ziehe des Weges. [...] Das Kolorit einiger Gemälde ist zwar hin und wieder muthwillig, fast möcht' ich sagen etwas ausgelassen; allein ich schrieb ja für Männer und nicht für Kinder. Ueberdem wer sieht in einer Gemälde-Ausstellung neben einer Madonna von Correggio nicht auch gerne die Karrikaturen eines Hogarths?«66

60 Ebd., S. 125. Etwas kryptisch und visionär zugleich endet der Abschnitt über den Geschichtsunterricht mit dem Hinweis, es sei »vorzüglich aber, da die deutsche Geschichte abgehandelt wird, auf die Revolutionen seines Vaterlandes Bedacht zu nehmen« (S. 126). 61 Schrökh 1786, S. 4. 62 Almanach Geschichte der Menschheit; vgl. ein ähnliches Projekt mit anderer Einteilung des Stoffes: Jason, 1808-1810. 63 Vgl. Salzbrunn 1968, S. 120-124. Nach ihrer Darstellung erhielten zumindest Schlözers Blätter guten Zuspruch. Über Westenrieder siehe Ferdinand Lorenz: Zur Geschichte der Zensur und des Schriftwesens in Bayern. Berlin 1904 (zugl. Diss. München), S. 23f. und 27-30. Westenrieder war seit 1780 Bücherzensurrat in Bayern. 64 Louis Sébastien Merciers »Tableaux de Paris« (zuerst Neuchâtel 1781) bildeten das Vorbild dieser Gattung. In Deutschland erschienen zwischen 1782 und 1790 mindestens sechs Übersetzungen und zwei französischsprachige Editionen. Auch Merciers Fortsetzung (»Das neue Paris«, wurde 1799 und 1800 zweimal übersetzt und einmal französischsprachig nachgedruckt. Eine Variante bildet »Neuestes Gemälde von Berlin, adj 1798, nach Mercier« Kölln, bey Peter Hammer (d. i. Berlin: Oehmigke in Kommission). Siehe GV-alt, Bd. 95, S. 8ff. 65 Gemähide 1803 bzw. 1804. 66 Kaffka 1799, Vorrede.

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Dem Autor Kaffka ging es nicht um die Verherrlichung großer Helden oder um die Meilensteine der Menschheitsgeschichte. Seine Geschichten aus der Geschichte sollten unterhaltend belehren und umgekehrt. Mit dem alten Satz »Historia magistra vitae« aber hat er nicht mehr viel im Sinn. Längst ist die Kenntnis der Geschichte zum Selbstzweck geworden.67 Mit Anbruch der Französischen Revolution bildete sich eine umfangreiche Literatur, die sich teilweise bemühte, die geforderten erregenden »Gemälde« zu liefern: »Der Kampf, den Freiheit und willkührliche Gewalt mit einander führen, ist ein sehr unterhaltendes Kopf und Herz gleich stark in Bewegung setzendes Schauspiel.« - »hier freies Volk seinen Nacken unter das eiserne Joch eines Despoten beugen muß, und dort ein unterjochtes seine Fesseln kühn zerbricht!« - »Wie wenig dieser [Tyrann] seinen Thron und jene [Volk] ihren Tempel fest zu gründen, gegen die alles zerstörende Hand der Zeit zu sichern weiß!«68 Mit solchen expressiven Passagen wurde der unterhaltende Anspruch der Almanache eingelöst. Über diesen äußert sich der Verfasser einer anderen Zeitschrift grundsätzlich. Um ein »ganz neues Werk« handele es sich bei den durch den Wechsel des Redakteurs veränderten »Annalen menschlicher Größe und Verworfenheit«, »als die Verfasser der in dieselben aufzunehmenden Aufsätze immer einige Rücksicht auf die fortschreitende Cultur ihres Zeitalters nehmen werden, welche Vieles interessant finden dürfte, was vor Kurzem noch kaum beobachtet wurde.Es ist ein Charakterzug jener Cultur, daß man selbst in den todtesten Wissenschaften nicht mehr mit der Materie, oder der bloßen Ausbeute sich begnügt, vielmehr, und wie uns scheint mit vollem Rechte, den größten Werth auf die Form legt, unter welcher das Erfundene oder Gefundene zur Mittheilung gebracht wird. Man fühlt wieder, wie man es einst in Griechenland und Rom empfand, daß die höchste Vollkommenheit des Menschen nicht in der Trennung, sondern harmonischen Wirkung des Verstandes und Gefühls bestehe, und daß die Arbeit eines Schriftstellers um so verdienstlicher, nützlicher und vollendeter sey, je mehr sie ahnden läßt, daß der Urheber nicht blos ein zünftiger Gelehrter, sondern auch ein Mensch war. [...] Durch Unterhaltung wollen sie nützen, daher dürfen sie nicht schon ein Interesse an ihren Arbeiten in der Seele des Lesers voraussetzen, sondern sie müssen solches durch die Arbeiten selbst zu erregen wissen.«69 Zwar profitierte die Almanachliteratur von der modernen Geschichtsforschung, doch verstand sie sich nicht bloß als ihr populärer Arm. Vielmehr behauptete sie ihre eigene Bedeutung als Unterhaltungsliteratur. Deshalb ist es nötig, die letztgenannte Erzählform des »Gemäldes« zu beachten, denn sie unterscheidet sich scharf von der wissenschaftlichen Geschichtsschreibung. In den Texten kam es nicht zwangsläufig zu stilistischen Mischformen. Schillers Geschichte des Dreißigjährigen Krieges, Posselts Geschichte der Revolution und des Revolutionskrieges usw. sind Beispiele von Gelehrtengeschichte in einem populären Medium.70 Lorenz Westenrieder schrieb in seinem »Historischen Calender« dagegen auch über kulturgeschichtliche Phänomene. Am deutlichsten wird die Kombination von Belehrung und Unterhaltung in der häufigen Trennung von Abhandlung und Kupfererklärungen. Sie ergänzten sich wie verschiedene Gänge eines Menüs. In der Auswahl und Kom-

67 68 69 70

Koselleck 1975, S. 642f. Historischer Almanach 1790, S. 3. K.L.M. Müller, Vorrede. In: Annalen 1811 (1804), S. VIf. Historischer Calender für Damen 1791-1793; TnG.

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mentierung der Kupfer dominierte die Form des »Gemäldes«, wogegen der Aufsatz im Textteil des Almanachs den wissenschaftlichen Ton durchhielt. Abschließend sollen einige Zahlen belegen, daß es sich bei der Almanachliteratur um kein Randphänomen handelte. In der Coburger Landesbibliothek enthielten 51 Titel aus der Zeit zwischen 1778 und 1806, mit über 160 Bänden, historische bzw. zeitgeschichtliche Texte. Folgende 15 Titel (99 Bände) widmeten sich der (Zeit-)Geschichte vorrangig: Almanach der Revolutions-Charactere/ -Opfer (3 Jahrgänge) Almanach Geschichte der Menschheit (2 Jahrgänge) Geschichts-Kalender aufs Jahr 1795 (1 Jahrgang) Geschichtskalender für die Kaiserl. Königl. Erblande (1 Jahrgang) Grosbrittannischer historisch-genealogischer Kalender (1 Jahrgang) Historischer/ Historisch Genealogisher Almanach (4 Jahrgänge) Historischer Almanach für den deutschen Adel, und für Freunde desselben (4 Jahrgänge) Historischer Calender (14 Jahrgänge) Historischer Calender für Damen (5 Jahrgänge) Historisch Genealogischer Calender (17 Jahrgänge bis 1806) Historisch-genealogischer Calender oder Jahrbuch der merkwürdigsten neuen Welt-Begebenheiten (17 Jahrgänge) Historisch-genealogischer Kalender (4 Jahrgänge) Revolutions-Almanach (12 Jahrgänge) Taschenbuch für Geschichte und Unterhaltung (5 Jahrgänge) Taschenbuch für die neuste Geschichte (9 Jahrgänge)

2. Mnemosyne: Kunst als visuelles Gedächtnis a) Kollektives G e d ä c h t n i s Ohne Gedächtnis wäre menschliches Leben nicht möglich. Vor allem die Kultur beruht auf seinen Leistungen. Ob als Traditionalismus, Renaissance, Rezeptionsgeschichte - selbst in seinen Negationen ist es wirksam. Daß Bilder als Gedächtnisspeicher fungieren, behauptete bereits Aby Warburg, der aufgrund dieser Annahme seine Studien auf den MnemosyneAtlas ausrichtete. Wenn der Zusammenhang zwischen Gedächtnis und Bild real ist und nicht metaphorisch, so ist es wichtig zu beschreiben, wie das Gedächtnis funktioniert und welche Rolle Bilder dabei spielen. Jede, auch die subjektive Erinnerung wird sozial bestimmt, so zeigte Maurice Halbwachs. Ob etwas erinnert wird, hängt unter anderem davon ab, ob die Erinnerung in das Umfeld hineinpaßt; sie wird angeregt.71 Sich zu erinnern ist möglich aufgrund der Vernetzung der Erinnerungen, d. h. Erinnerungen rufen weitere Erinnerungen hervor.72 Wer seinen Aufenthaltsort zwischen zwei sehr unterschiedlichen Gruppen wechselt, wird in beiden Fällen einen unterschiedlichen Erfahrungsschatz aktivieren können. Denn mit beiden Gruppen verbindet die einzelne Person eine unterschiedliche Menge an Erinnerungen, Wissen und Erfahrungen. Halbwachs benutzt das Bild einer Reisegesellschaft: Herr A schaut sich den Hradschin an und empfängt unmittelbare Eindrücke. Diese werden aber beeinflußt durch das von ihm Gelernte (er lernte auch eine bestimmte Art zu sehen) und von den Mitteilungen seiner Begleitung: Frau B erzählt von der politischen Bedeutung des Baues, Herr C teilt Kunsthistorisches mit usw. Zusammen mit Erinnerungen an frühere Reisen und Lektüre

71 Halbwachs 1966 (1925), S. 19f.

72 Ebd., S. 200.

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formt sich ein Bild, das Herr A später reproduzieren wird, wenn er daheim von seiner Reise berichtet oder wenn er im Radio von Prag sprechen hört. Diese Vergegenwärtigung des Reiseerlebnisses wird bereits wieder umgeformt sein durch neue Mitteilungen. Obwohl diese sich mit den auf der Reise erworbenen Eindrücken verknüpfen, werden die nunmehr veränderten Vorstellungen Herrn A weiterhin als unmittelbar dünken. Wenn Herr A im Familienkreis vom Hradschin erzählt, werden ihm nur teilweise jene Einzelheiten einfallen, die er seinen Kollegen berichtet, und genauso wird er sich anders erinnern, wenn er sich mit einem Freund darüber unterhält. Sein Erinnern hängt ebenso wie die Wahrnehmung von der Umgebung ab, vom Verhältnis der Personen zueinander, von den gemeinsamen Interessen, Kenntnissen, vom sozialen Status u. a.m. Es gibt also nur ein soziales Gedächtnis, das jeweils individuelle ist ein Teil davon. Ebenso ist auch das Bilderverständnis abhängig von der Sozialisation, wobei die Schwierigkeit, Bildelemente herauszufinden, gewöhnlich geringer ist, als die, eine Rede in fremder Sprache zu segmentieren; doch hängt dieser Umstand vom größeren Maß an Gemeinsamkeiten ab.73 Bilder, Sprache und unmittelbare Anschauung sind drei grundlegende Medien der Wahrnehmung. Wenn diese sozial bedingt ist, so ist sie es auch kulturell. »Der wahrgenommene Gegenstand wird erst dann zu einer Tatsache des menschlichen Bewußtseins - oder wenigstens zu einem Bestandteil sozialer Kommunikation - , wenn er in eine Vorstellung eingebettet ist, deren Urheber ein anderer ist als der wahrnehmende Mensch selbst. Eine solche Vorstellung aber wird gerade im Rahmen derjenigen Kultur hervorgerufen und konstituiert, deren Teil der wahrnehmende Mensch selber ist. [...] Ein historisches Ereignis findet also seinen Eingang in eine Kultur erst als Anwendungsbeispiel einer überlieferten Kategorie, gleichsam als ein Gestalt gewordenes Zeichen für ein Symbol, das die Voraussetzung für eben dieses Zeichen bildet.«71 Wahrnehmung und Erinnern bedingen einander.75 Erinnerung bezieht sich auf vergangene Wahrnehmungen, außerdem läßt sie sich nicht von aktuellen Assoziationen lösen.76 »Wahrnehmung bedeutet immer sowohl Selektion wie gesellschaftliche, historische und individuelle Prädisposition.«77 Das kollektive Gedächtnis baut sich aus Ideen und Bildern auf.78 Idee und Bild sind aneinander gekoppelt, sie bezeichnen nur unterschiedliche Strukturierungsmomente des Gedächtnisses. Es besitzt gewissermaßen ein begriffliches Register und ein Register des Konkreten, Historischen.79 Es ist eine »kollektive Funktion«.80 73 Ebd., S. lOOf. 74 Sahlins 1986, S. 17f. 75 Zur Wahrnehmung gehört ihre Kategorisierung mit Hilfe der Sprache. Über den Hintergedanken eines Kritikers, der sich darüber aufregte, daß Joachim Heinrich Campe das Wort 'Revolution' eindeutschte, meinte der Autor: »Allein, daß man eine Sache nennen kann, führt ja nur zu dem Begriffe von der Sache, nicht notwendig zu der Sache selbst. Denn wäre dies, so müßten wir ja in Deutschland auch lange schon Gemeingeist (public spirit) gehabt haben, weil wir schon lange ein Wort dafür hatten.« Joachim Heinrich Campe: Grundsätze, Regeln und Grenzen der Verdeutschung. In: Ders.: Wörterbuch zur Erklärung und Verdeutschung der unserer Sprache aufgedrungenen fremden Ausdrücke. Bd. 1,2. verb. u. verm. Aufl. Greiz 1806, S. 9, zit. n. Weymar 1961, S. 129. In der 1. Auflage 1801, Bd. 1, Sp. 532 wird »Pluralismus« als Gegensatz zum »Egoismus« mit »Gemeingeist« übersetzt. 76 Halbwachs 1966 (1925), S. 363. 77 Daxelmüller 1992, S. 91. 78 Vgl. Renate Lachmann: Text und Gedächtnis. Bemerkungen zur Kulturosophie des Akmeismus. In: Gumbrecht/ Link-Heer 1985, S. 283-301, hier: S. 294. 79 Halbwachs 1966 (1925), S. 371f. 80 Ebd., S. 382

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Neben der Wahrnehmung und Erinnerung beeinflußt das Vergessen die Gedächtnisbildung: »Erinnern und Vergessen [...] sind zwei Grundkategorien des historischen Bewußtseins, die der psychischen Grundausstattung des Menschen selbst angehören.« 81 Lucian Hölscher macht mit seiner These auf die Einseitigkeit aufmerksam, mit der Geschichte als Erinnerung gedacht wird. Zwischen den zwei Polen »Erinnern und Vergessen« bildet sich jedoch ein geschichtlicher Prozeß aus. Erst in Zeugnissen aus dem 19. Jahrhundert fand Hölscher Hinweise auf die Ansicht, daß das Vergessen selbst »ein aktiver, geistiger Prozeß sein kann«.82 Es ist nicht nur ein Verlust, der in der menschlichen Zeitvorstellung das Gefühl einer Leere hervorbringt: »Es läßt sich, analog zur Erinnerung, [...] als ein Vermögen denken, das von konkreten Gegenständen, die vergessen werden, ganz absieht, als ein Vergessen schlechthin, durch das gegenwärtige Ereignisse vom Bewußtwerden abgehalten werden.«83 Wenngleich das Wort »Vermögen« eine aktiv einsetzbare Fähigkeit suggeriert, die es nicht gibt, so bestimmt es doch zutreffend die Funktion des Vergessens. Auf der Ebene des kollektiven Gedächtnisses bedeutet das Vergessen einer Sache, daß sie unrelevant geworden ist.84 Der Erinnerungs-Vergessens-Prozeß bewirkt eine Umformung der Objekte: »im Erinnern [stellt sich] eine Verschiebung des erinnerten Sachverhalts [ein] [...], eine Verdrängung des ursprünglichen zugunsten eines im nachhinein modifizierten Erlebnisses. Diese Verschiebung, die ein Vergessen einschließt, geschieht unwillkürlich und unvermeidlich. Sie hinterläßt jedoch gleichwohl eine Spur im Gedächtnis, die der historische, auch der psychologisch geschulte Blick zurückverfolgen kann, bis er das Vergessene aus der Tiefe des Gedächtnisses hervorgeholt hat.«85 Hölscher unterscheidet zwei Erinnerungsmodi: eine archivalische und eine existentielle Erinnerung. Jene erlaubt es, einen Kriegszug des 13. Jahrhunderts und einen der Gegenwart nebeneinanderzustellen, versehen mit örtlicher und zeitlicher Indizierung; diese beruht auf eigenem Erleben, durch dessen Rückprojektion »vergangene Ereignisse in einer gegenwärtigen Erlebnissen analogen Weise glaubhaft werden« 86 Das Erinnerte wird wirksam, indem es den gegenwärtigen Einstellungen angepaßt wird und diese wiederum mitprägt. Diese Tatsache beschrieb bereits Lichtenberg. 87 Wolfgang Schivelbusch führt diesen Vorgang anhand der Geschichte der Pariser Straßenbeleuchtung im 18. Jahrhundert aus: Als die alten Ampeln vor der Revolution durch leistungsfähigere Reverberen ersetzt wurden, erhöhte sich die Helligkeit in den Straßen nicht insgesamt, weil in dem selben Maß, wie sich die Lichtausbeute steigerte, die Zahl der Laternen reduziert wurde. Somit schufen die Reverberen hellere Lichthöfe, die von dunkleren Zonen umgeben waren. Wenn also in zeitgenössischen Texten davon die Rede ist, daß die Straßen taghell erleuchtet würden, so irren sich die Verfasser nicht, sondern legen ihrer Beobachtung das Paradigma des Selbstleuchtens der Laterne zugrunde, nicht das der Beleuchtung der Straße. Die Laterne war kein Instrument, sondern ein Signal.88

81 Hölscher 1989, S. 3. 82 Ebd., S. 4. 83 Ebd., S. 7. 84 Renate Lachmann: Text und Gedächtnis. Bemerkungen zur Kulturosophie des Akmeismus. In: Gumbrecht/ Link-Heer 1985, S. 283-301, hier: S. 294. 85 Hölscher 1989, S. 8. 86 Ebd., S. 11. 87 Über Physiognomik, 1778. In: LSB, S. 284. 88 Schivelbusch 1986, S. 96.

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Umgekehrt versucht das historistische Verfahren, von den Kenntnissen der Gegenwart abzusehen, um das Erfahrungsniveau einer vergangenen Epoche zu rekonstruieren. 89 Erinnerung ist nicht zuletzt ein Problem der Stoffmenge. Erst im vorigen Jahrhundert begann sich der Grundsatz zu verbreiten, daß zukünftig alles bedeutsam werden kann.90 Im 18. Jahrhundert war das Denken auch in diesem Punkt dem Fortschritt verpflichtet. Neue Erkenntnisse erlaubten das Vergessen älterer.91 Hölschers zweipoliges Modell läßt sich noch erweitern. Erinnern und Vergessen sind Vorgänge. Daneben gibt es das Gedächtnis und den Objektbereich, der Gegenstände, Ereignisse usw. enthält, die entweder materiell - und sei es schriftlich - überliefert sind oder immateriell tradiert werden, mündlich, in Verhaltensweisen oder Einstellungen. Aleida Assmann unterscheidet zwei Arten von Objekten: Dokument Spuren stummes Zeichen: beobachterbezogen

Monument Botschaften sprechendes Zeichen: betrachterbezogen 92

Für die Unterscheidung in Dokument und Monument spielt es zunächst keine Rolle, welche Form ein Objekt besitzt. Es muß nicht zwangsläufig materiell sein (der Namenszusatz »Friedrich der Einzige« anstatt Friedrich II. von Preußen hat die Eigenschaft eines Monuments - vielleicht ist schon die Schreibweise »II.« anstatt »2.« ein minimales Monument). Ein Dokument ist ein beliebiges Objekt historischer Forschung (z. B. ein Brief oder Testament), das nicht als Symbol oder Erinnerungsgegenstand entstand. Seine geschichtliche Bedeutung ergibt sich erst im Nachhinein. Dagegen entsteht ein Monument mit der Aufgabe, in der Gegenwart und Zukunft etwas zu repräsentieren (z. B. ein Denkmal) und somit den Prozeß zu beeinflussen, der aus der verfließenden Gegenwart die Geschichte gerinnen läßt. Zum Objektbereich zählt also ein Dekret des Nationalkonvents ebenso wie das kollektive Bild des »Franzosen« in Gestalt des marodierenden Soldaten und sogar die diffuse Angst vor dem »schwarzen Mann«. Das Gedächtnis ist ein ständig sich verändernder Speicher, der stets nur partiell verfügbar ist und verschiedene Bewußtseinszustände kennt. Da die Rekonstruktion eines historischen Gedächtnisses im Mittelpunkt der vorliegenden Arbeit steht, soll im folgenden skizziert werden, wie im 18. Jahrhundert über das Gedächtnis geschrieben wurde. Es fand nur in Nebenbemerkungen Beachtung, vorwiegend im Zusammenhang mit Pädagogik, Geschichtsschreibung und dem »Nachruhm«-Komplex, der später ausführlicher beschrieben wird. Nachruhm war nicht nur aus Eitelkeit begehrt, »sondern oft auch eine elementare Lebensnotwendigkeit. Denn Erinnerung ist ein Akt der Solidarität, der den Vorfahren und Nachkommen wie den Mitmenschen in gleicher Weise gilt. Das Versprechen, jemanden nicht zu vergessen, schließt Hilfe und Beistand in Gegenwart und Zukunft zugleich ein.«93 Nachdem diese Art der Erinnerung jahrhundertelang Teil der christlichen Religion gewesen war (z. B. im Heiligenkult und in der Sitte der Gedächtnismessen), bedeutete die Ausformung der Idee vom Nachruhm ihre Säkularisierung.

89 Halbwachs 1966 (1925), S. 129. 90 Hölscher 1989, S. 14. 91 Ebd., S. 14, zit. G.E. Lessing. 92 Aleida Assmann: Kultur als Lebenswelt und Monument. In: Dies., Dietrich Harth (Hgg.): Kultur als Lebenswelt und Monument. Frankfurt 1991, S. 11-25, hier: S. 13. 93 Hölscher 1989, S. 13.

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Am Diskurs über das Gedächtnis beteiligte sich auch die Pädagogik. Von Kindheit an wird der Mensch von unzähligen »Eindrücken« von »sich präsentierenden Vorstellungen« angesprochen. Weisheit und Tugenden, Betrug und Laster, »jedes zeigt uns sein Wahrzeichen, jedes sucht seinen Stempel auf uns zu prägen [...]«;" die Zahl der Eindrücke steigt, »daß biß zu dem männlichen Alter schon Millionen Gedanken, flüchtiger und bleibender Phantasien, Bilder und Eindrücke sich in uns gehäufet haben.« Das Gedächtnis soll geordnet sein wie ein Haus oder wie eine Kleiderkammer. Einige Typen lassen sich unterscheiden: der Alleswisser, der pedantische Spezialist, der Lokalchronist, der vom Fernweh Ergriffene (der sich nur in der Fremde auskennt) usw. Das Gedächtnis darf nicht mit Unnützem und Unsittlichem verstopft werden. Ein anderer Autor setzt ebenfalls bei der Kindheit an, in der das Gedächtnis eine entscheidende Vorprägung erfährt: »Wie frühe Eindrücke wirken, weiß ein Jeder, der sie empfing und aufbewahrte. Eine Erneuerung, selbst höchst geringfügiger Gegenstände, ruft die alten Erinnerungen zurück, die sich fest an jene hingen.«95 Als Zweck seiner synthetisierenden Geschichtsschreibung gibt Schlözer an zu ermöglichen, »mit dem mindesten Aufwände an Gedächtnißkraft« einen Überblick zu erhalten.96 »Die Einbildungskraft soll sie chronologisch in allen ihren Verkettungen [...] anschauen. Der Verstand endlich soll sie universell betrachten [...]«97 Ernst Brandes ging einen Schritt weiter. Er erörterte die Idee, Geschichtsvermittlung zum Mittel politischer Pädagogik zu machen: »Es ist nicht die Universalgeschichte [...]; nicht die für den reifen Geist noch so trefflich bearbeitete Teritorialgeschichte, welche die ersten und daurendsten Gefühle des Patriotismus erweckt. Es sind einzelne merkwürdige Charaktere, Catastrophen, Sagen, selbst Mährchen, die sich auf das Regentenhaus beziehen, das Vaterland, die Stadt betrafen, von Generation zu Generation aufbewahrt, fortgepflanzt, die sich tief in das Gedächtnis einprägen, den ersten Keim des Patriotismus legen und entwickeln.«98 Das Zitat macht deutlich, wie sehr sich die Funktion der Geschichte hatte verändern können. Als sie erstmals für die schulische Erziehung entdeckt wurde, waren nationale oder patriotische Ziele nicht eingeplant. Im Gegenteil - die Geschichtskenntnis sollte zur Bildung des Individuums beitragen. Von der nationalistischen Geschichtsschreibung wurde das Umgekehrte verlangt: nicht Schärfung des Verstandes, sondern Formung des Gedächtnisses, solange es knetbar ist. Um dieses Ziel zu erreichen, begrüßte Brandes sogar die Vermischung der Erzählweisen: Geschichte und Märchen stehen nebeneinander, wobei jene wieder in Geschichten zerlegt ist. Ein sehr früher Beleg dafür, daß die Bildpublizistik als Gedächtnisspeicher angesehen wurde, diente einer illustrierten Zeitschrift zur Rechtfertigung ihrer Bildbeigaben:

94 Friedrich Carl von Moser: Das Gedächtnis (zuerst 1755). In: Moser 1763, S. 153-78, hier bes. S. 154156 und 178. 95 Brandes 1977a (1810), S. 165. 96 Schlözer 1772, S. 45. 97 Ebd., S. 59f. 98 Brandes 1977a (1810), S. 163

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»damit nun aber die merkwürdigsten Begebenheiten desto eher im Gedächtnis bleiben, so werden dieselben in kleinen Bildern vorgestellet werden«.99 Und in einem für Graphiksammler gedachten Handbuch wird betont: »Kupferstiche sind für die Jugend lehrreich und nüzlich, weil sich dadurch die Gestände [!] lebhafter und länger in das Gedächtniß prägen als durch wörtliche Darstellung. Ein Kind, das historische Gegenstände soll kennen lernen, wird weiter durch Kupferstiche, welche ihm erklärt werden, darzu gelangen [...].«10° Alte Menschen könnten ihr Gedächtnis auffrischen. Neben der Erweiterung der Kenntnisse von Naturkunde, Kultur, Sitten und Geschichte wird als Nutzen der Druckgrafik auch genannt, sie rufe »in unser Zeitalter die größten Männer zurük, welche sich in der Geschichte, in den Künsten und Wissenschaften rühmlichst hervorgethan [...]«,101 und könne mithin alles Vergängliche dokumentieren. Darauf, daß Bilder sowohl real als auch imaginär existieren können, verwies Herder: Jeder Mensch verfüge über einen unerschöpflichen Fundus an Bildern, die er im Traum belebe. Kranke sähen sie bisweilen im Wachen, und die schöpferische Phantasie nähre sich von ihnen.102 In einer Erörterung des Zusammenwirkens der Sinnesorgane schreibt Herder über das Auge: »Das Auge ist, wenn man will, der kälteste, der äußerlichste und oberflächlichste Sinn unter allen; er ist aber auch der schnellste, der umfaßendste, der helleste Sinn; er umschreibt, theilt, bezirkt und übt die Meßkunst für alle seine Brüder.«103 Das Gehör dagegen sei empfänglich für Einwirkungen auf Gefühl und Seele, ein »mächtigerschütternder, aber auch ein sehr abergläubiger Sinn«. Auch das Gedächtnis ist von nationalen Eigenschaften geprägt: »Wie ganzen Nationen Eine Sprache eigen ist, so sind ihnen auch gewisse Lieblingsgänge der Phantasie, Wendungen und Objecte der Gedanken, kurz ein Genius eigen, der sich, unbeschadet jeder einzelnen Verschiedenheit, in den beliebtesten Werken ihres Geistes und Herzens ausdruckt.«104 Am deutlichsten zeige sich dieser »Nationalcharakter« in der Dichtung. Ernst Brandes empfahl 1810, die Jugend mit Erzählungen und Liedern aus der Heimatgeschichte zur Vaterlandsliebe (»Territorialpatriotismus«) zu erziehen.105 Die im späten 18. Jahrhundert formulierten Vorstellungen vom Gedächtnis reduzieren sich durchaus nicht auf das Modell eines Archivs, in welchem die empfangenen Eindrücke abgelegt und gelegentlich wieder gelesen werden. Auch die Möglichkeit, durch die Lenkung der Gedächtnisbildung erzieherischen Einfluß zu üben, wurde erörtert.

99 Abbildung der Begebenheiten und Personen, wordurch Der Zustand jetziger Zeiten Monatlich vorgestellet und In dazu dienlichen Kupffern gezeiget wird. Augsburg 1725, zit. n. Lehmann 1936, S. 34. 100 Huber/ Rost 1796, S. 47. 101 Ebd., S. 48. 102 Vgl. Herder, Adrastea II, S. 312f 103 Herder, Beförderung VII, S. 27 104 Ebd., S. 58. 105 Brandes 1977 (1810), S. 165.

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b) Kulturelles Gedächtnis Mnemosyne, die griechische Muse des Gedächtnisses, gab Aby Warburgs unveröffentlichtem Bilderatlas seinen Namen. Nach Fritz Saxls Beschreibung besteht er aus einander zugeordneten Bildertafeln zu drei Themen. Im Mittelpunkt steht der Komplex der Renaissancekunst. Er wird mit Tafeln konfrontiert, die Beispiele transalpiner Kunst zeigen. Damit demonstrierte Warburg, daß und wie diese mitteleuropäische Kunst in Italien rezipiert wurde. Ein dritter Teil enthält Abbildungen antiker Kunstwerke und zwar »jene antiken Vorbilder, die nachweislich in der Renaissance benutzt wurden. Diese Tafeln geben also dem Beschauer jenen Ausschnitt aus der Antike, der den Frührenaissancemenschen in seinem Kampf gegen das Nordische als Ideal und sein Helfer vor Augen sieht.«IM Die Wiederbelebung der mythologischen Figuren in der Renaissance beruhte nicht auf einem Neuheidentum. Warburg ging es, Saxl zufolge, um die Aufdeckung von Denkformen, die sich in antikischen Formeln ausdrückten, um sich von der Sprache der mittelalterlichen Frömmigkeit abzuheben. »Warburg war davon überzeugt, daß er in seiner eigenen Arbeit, das heißt im reflektierten Akt der Bildanalyse, eine Funktion ausübte, die das Bildgedächtnis der Menschen im spontanen Akte der Bildsynthese unter dem Zwange des Ausdruckstriebes vollzieht: das Sichwiedererinnern an vorgeprägte Formen. Das Wort [Mnemosyne] [...] ist in diesem doppelten Sinne zu verstehen: als Aufforderung an den Forscher, sich darauf zu besinnen, daß er, indem er Werke der Vergangenheit deutet, Erbgutverwalter der in ihnen niedergelegten Erfahrungen ist - zugleich aber als Hinweis auf diese Erfahrung selbst als einen Gegenstand der Forschung, d. h. als Aufforderung, die Funktionsweise des sozialen Gedächtnisses an Hand des historischen Materials zu untersuchen.«107 In seinem Vortrag über ein indianisches »Schlangenritual« beschreibt Warburg beispielhaft die Gedächtnisfunktion von Ritualen und Symbolen - in diesem Fall nicht als historisches, sondern als kosmologisches Gedächtnis. Ihn fasziniert zunächst die Ungleichzeitigkeit: uralte »Mythologik«, bedrängt von moderner Zivilisation. Er schließt: »Telegramm und Telephon zerstören den Kosmos. Das mythische und das symbolische Denken schaffen im Kampf um die vergeistigte Anknüpfung zwischen Mensch und Umwelt den Raum als Andachtsraum oder Denkraum, den die elektrische Augenblicksverknüpfung mordet.«108 Hinter dieser Zivilisationskritik verbergen sich zwei Einsichten: erstens, daß Menschen mit Bildern und Symbolen ihre kosmologische (zu ergänzen ist: auch ihre historische) Identität manifestieren; zweitens, daß dieses Gedächtnis veränderbar ist bis zu seiner Zerstörung. Warburg besaß in der antiken Kunst einen archimedischen Punkt, auf den hier verzichtet werden muß. Über seinen eng an die Ikonografie geknüpften Ansatz hinaus begreife ich das Bildergedächtnis als angefüllt mit Gesten, Mienen, Räumen, Zeitmomenten, Handlungen und Konstellationen. Sie drücken Gefühle, Denkweisen und Mentalitäten aus; sie appellieren, berichten, werten und räsonnieren. Sie bedienen sich ikonografischer Motive, Emble-

106 Fritz Saxl: Warburgs Mnemosyne-Atlas (zuerst 1930). In: Warburg 1979, S. 313-315, hier: S. 314. 107 Wind 1979, S. 407; vgl. Martin Warnke: >Der Leidschatz der Menschheit wird humaner Besitze In: Werner Hofmann, Georg Syamken, Martin Warnke: Die Menschenrechte des Auges. Über Aby Warburg. Frankfurt 1980, S. 115-186. 108 Aby M. Warburg: Schlangenritual. Ein Reisebericht. Berlin (West) 1988, S. 59.

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me, Symbole, Typisierungen (z. B. physiognomischer Art) und alltäglicher Beobachtungen. Ein Bild setzt sich aus diesen Elementen zusammen. Selten sind sie vollzählig versammelt, aber nie fehlen alle. Edgar Wind beschreibt die Gebärde als eine Gedächtnisfunktion. Bestimmte physische Reize verursachen bestimmte Muskelbewegungen. »Die häufige Wiederholung desselben Aktes hinterläßt ihre Spuren.«109 Diese Gedächtnisbildung erlaubt den Übergang zu symbolischem Ausdruck: Muskelbewegungen, welche durch physischen Ekel hervorgerufen werden, dienen auch ohne unmittelbaren Reiz zum Ausdruck des Widerwillens. Ein Bild »enthält keine Situation, sondern eine Inszenierung; wir nehmen eine >mentale Entitätäußeren physischen Gegenstände< wahr Es wäre einseitig, Bildelemente durchweg als Verfestigungen »der in ihnen niedergelegten Erfahrungen« zu verstehen, weil in der Bildgestaltung stets ein medialer Eigensinn mitwirkt. Sowohl die technischen Möglichkeiten als auch der mediale Gebrauch eines Bildes beeinflussen seine Gestaltung. Wenn die Illustration eines Kalenders von der Art der »Hinkenden Boten« ein grober Holzschnitt ist, dann nicht deshalb, um die angestrebte Bildaussage durch Vereinfachung zu präzisieren. Über künstlerische Aspekte dominiert der ökonomische. Obwohl mit Illustrationen versehen, mußte der Verkaufspreis eines solchen Landkalenders sehr niedrig sein. Zugunsten der Kalkulation wurde der Anspruch an die Bildaussage reduziert.111 Was in Warburgs Sprache »soziales Gedächtnis« heißt, wird von Jan Assmann in »kulturelles Gedächtnis« umbenannt. 112 Assmann, der sich in seiner Arbeit auf Halbwachs, nicht aber auf Warburg stützt, entwickelt aus der Theorie des kollektiven Gedächtnisses die des kulturellen Gedächtnisses. Er beschreibt vier Stufen des Gedächtnisses: ein mimetisches, ein »Gedächtnis der Dinge«, ein kommunikatives, dem Halbwachs' Augenmerk galt, und als letztes »Die Überlieferung des Sinns [...]. Das kulturelle Gedächtnis bildet einen Raum, in den alle drei vorgenannten Bereiche mehr oder weniger bruchlos übergehen. Wenn mimetische Routinen den Status von >Riten< annehmen, d. h. zusätzlich zu ihrer Zweckbedeutung noch eine Sinnbedeutung besitzen, wird der Bereich des mimetischen Handlungsgedächtnisses überschritten. Riten gehören in den Bereich des kulturellen Gedächtnisses, weil sie eine Überlieferungs- und Vergegenwärtigungsform des kulturellen Sinnes darstellen. Dasselbe gilt für Dinge, wenn sie nicht nur auf einen Zweck, sondern auf einen Sinn verweisen: Symbole, Ikone, Repräsentationen wie etwa Denksteine, Grabmale, Tempel, Idole usw. überschreiten den Horizont des Dinggedächtnisses, weil sie den impliziten Zeit- und Identitätsindex explizit machen. [...].«n3 Assmann hebt auf die weitgehende Übereinstimmung des kulturellen Gedächtnisses ab mit all dem, was in einer Gruppe »an Sinn zirkuliert«.114 Halbwachs unterschied zwischen dem 'gelebten' kollektiven Gedächtnis, der Tradition als dessen Ausformung und der Geschichte, die mit dem Erlöschen des kollektiven Gedächtnisses einsetzt. Zur Tradition zählen u. a. dingliche Formen (Male). Aus der Erkennt-

109 Wind 1979, S. 412. 110 Daxelmüller 1992, S. 92. Daxelmüllers Folgerung, aus der bedingten Wahrnehmung der äußeren Dinge sei ihre Nichtexistenz ableitbar, ist allerdings indiskutabel. 111 Vgl. Toinet 1982. 112 Assmann 1992, S. 21, 113 Ebd. 114 Ebd., S. 22f.

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nis, daß Tradition und kollektives Gedächtnis sehr eng verbunden sind, teilt Assmann die Kategorien neu ein: Bei ihm wird das Wort »kollektives Gedächtnis« zum Oberbegriff, der das kommunikative (von Halbwachs als »kollektiv« bezeichnet) und das kulturelle Gedächtnis umfaßt." 5 Beide Gedächtnisformen unterscheiden sich von der retrospektiven Geschichte mit ihrer objektivierenden Tendenz. Genau wie die Geschichte ist das kulturelle Gedächtnis aber nicht auf lebendige Erinnerung angewiesen. Die für das kulturelle Gedächtnis genannten Formen entstehen nicht durch alltägliche Kommunikation, sondern werden mit unterschiedlichem Aufwand produziert. Sie gehören eher zur Gruppe der Monumente als zu derjenigen der Dokumente. Daher unterliegen sie mehr oder minder zahlreichen Kontrollen. Einfachstes Beispiel sind die Umbenennungen von Straßennamen in den neuen Bundesländern. Nicht nur, daß die Erinnerung an personae non gratae getilgt wird (unter die z. B. auch Heinrich Heine fiel); die Entscheidungen über Umwidmungen wurden nicht von der jeweiligen Nachbarschaft getroffen, sondern fielen in Instanzen und wurden beeinflußt von nicht betroffenen Gruppen (westdeutschen Medien und politischen Kräften). Ein historisches Beispiel ist die Debatte um Denkmäler im späten 18. Jahrhundert. Nur mit Mühe gelang die Errichtung eines Lessingdenkmals als Ausnahme von der Regel, derzufolge Denkmäler im herrschaftlichen Auftrag entstanden. Gewöhnlich wird eine Wahrnehmung im Gedächtnis mittels vertrauter Muster interpretiert und festgehalten. In manchen Situationen ist es jedoch möglich, daß die Kategorien des kollektiven Gedächtnisses nicht imstande sind, ein Ereignis zu integrieren. »Je nach dem Stellenwert, den eine anerkannte Kategorie im bestehenden kulturellen System hat, und je nach den Interessen, die jeweils davon berührt sind, ändert sich unter solchen Umständen auch das System selbst in größerem oder kleinerem Umfange. Im Extremfall läuft dies darauf hinaus, daß das, was als Reproduktion begann, als Transformation endet.«116 Es ist die Frage, wie stark die Erschütterung des vertrauten Systems sein muß, um eine solche Wirkung hervorzubringen. Bewirkte die Erfahrung der Revolution eine Veränderung im Wahrnehmungsvermögen? In den folgenden Kapiteln wird die Frage mehrfach anklingen: in der Untersuchung der Entwicklung des Frankreich-Images, in der Kalender-Geschichte und in der Darstellung der Entwicklung der Ereigniskunst.

3. Gruppenkonflikte a) Image und Stereotype In der modernen Politikwissenschaft gewinnt die Einsicht an Bedeutung, daß Politik in großem Maß weniger von Fakten bestimmt wird als von subjektiven Momenten: »Wahrnehmung und Interpretation« der Realität.117 Daraus entstehen Bilder der Realität, welche unerläßlich für den Menschen sind, um das System, in dem er lebt, zu ordnen. Ein Begriff, der durch seinen Gebrauch in der Marktforschung bekannt wurde, dient seit einiger Zeit auch der Untersuchung politischer Phänomene. »Image«118 wird als ein Bild von Personen, Gruppen und Gesellschaften beschrieben, das in der Öffentlichkeit existiert. Darin einbezogen sind »kognitive, affektive und wertgeladene Momente«.119

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Ebd., S. 44f. 116 Sahlins 1986, S. 109. Nicklas/ Ostermann 1989, S. 31. Der Abschnitt folgt im wesentlichen der Darstellung von Wilke 1989. Kenneth E. Boulding: National Images and International Systems. In: James N. Rosenau (Hg.):

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Das Bild hängt demnach von subjektiven Faktoren ab: vom Wissen und von mentalen Einstellungen. Menschen machen sich zahlreiche, kollektiv gebildete Images. Grundlegend sind das räumliche120 und zeitliche Image, d. h., Menschen stellen sich vor, in welcher (natürlichen und sozialen) Umwelt sie leben, und sie machen sich einen Begriff von ihrer Position in der Zeit (und Geschichte). Daneben wird ein »personal image« definiert; es bezeichnet individuelle Bilder von anderen Personen und Gruppen. 121 Darüber hinaus gibt es Werteskalen für »gut« und »böse« sowie für Vorlieben und Abneigungen. Öffentliche und private Images werden darin unterschieden, ob sie einer Vielzahl von Menschen gemeinsam sind oder individuell gelten. Hier interessieren nur die ersteren, speziell die sogenannten »Nationenbilder« (Wolf Michael Iwand). Boulding hält drei Dimensionen für konstitutiv: die geografische (Territorium, Grenzen), die mentale (Feindschaft/ Freundschaft) und schließlich die politische, wirtschaftliche und militärische Konkurrenz. Images werden im Kindesalter erlernt bzw. durch Familie, Schule und andere Bezugsgruppen anerzogen. Ferner beeinflussen die Medien Imagebildung. Es ist bekannt, daß im 18. Jahrhundert die Massenkommunikation erst einsetzte, so daß die retrospektive Untersuchung von Imagebildungen im 18. Jahrhundert sich methodisch nicht mit soziologischen Arbeiten zu Gegenwartsthemen vergleichen läßt. Ein Problem ist den Kommunikationsmitteln beider Zeitalter gemeinsam: das Verhältnis der Neuformung und der Weitergabe überlieferter Images. Als der Übermittlung wert gelten Nachrichten, die im wesentlichen folgende Kriterien erfüllen: »Nähe (politisch, ideologisch, wirtschaftlich, kulturell), Bezug zu Elite-Nationen und Elite-Personen, Konfliktgehalt und Negativismus.«122 Besonders attraktiv sind schlechte Nachrichten. Das Image einer Person läßt sich leichter verändern als das einer Nation; allgemeiner gesagt, wird die Veränderbarkeit des Images vom Bezugsobjekt mitbestimmt. Historische Wurzeln seiner Elemente beeinflussen ebenfalls das Veränderungsvermögen eines Images. Schließlich hängt ein solcher Wandel von neuen Erfahrungen ab, die gewonnen bzw. als Nachrichten übermittelt werden. Die Frage nach dem Wandel des Frankreich-»Bildes« in Deutschland ist nichts anderes als die Untersuchung eines nationalen Images. Im Gegensatz zum Image ist ein Stereotyp unveränderbar. »Ein Stereotyp ist der verbale Ausdruck einer auf soziale Gruppen oder einzelne Personen als deren Mitglieder gerichteten Überzeugung«, das, »mit emotional wertender Tendenz, einer Klasse von Personen bestimmte Eigenschaften oder Verhaltensweisen zuoder abspricht.«123 Das Stereotyp unterscheidet sich von der »Einstellung« (auch: Attitüde) bzw. vom Vorurteil. Eine Einstellung ist aus Erfahrung gewonnen und bewirkt eine Bereitschaft, auf eine Situation zu antworten. Die umfassendste Definition der »Einstellung« lautet:

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International Politics and Foreign Policy. New York, London 1969, S. 422^431, hier S. 423; Übers, zit. n. Wilke 1989, S. 13. Der Imagebegriff in Psychologie, Sozialwissenschaft und Politologie unterscheidet sich nicht nennenswert. Vgl. Nicklas/ Ostermann 1989, S. 23-27. Z.B. Deutschland: Wenn es heißt, daß die B R D im Ausland statt als »scharfes Flächenbild als ein lockeres Netzwerk wichtiger Großstädte« gesehen wird (Siegfried Quandt: Zur Wahrnehmung der Deutschen im Ausland. In: Völker und Nationen im Spiegel der Medien. Red. Dieter SchmidtSinns (Bundeszentrale für politische Bildung, Schriftenreihe, 269) Bonn 1989, S. 36-42, hier S. 38), so setzt sich eine Vorstellung fort, die bereits Enea Silvio im 15. Jahrhundert vertrat (Enea Silvio Piccolomini: Germania. Hg. von Adolf Schmidt. Köln, Graz 1962, S. 49-56, T II 7-16). Wilke 1989, S. 15. Wilke 1989, S. 17. Quasthoff 1989, S. 39.

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II. Grundlagen »Eine Einstellung ist ein mentaler und neuraler Bereitschaftszustand, der durch die Erfahrung strukturiert ist, und einen steuernden oder dynamischen Einfluß auf die Reaktionen eines Individuums gegenüber allen Objekten und Situationen hat, mit denen dieses Individuum eine Beziehung eingeht.«124

Die in der Forschung verschiedentlich vorgenommene Unterscheidung zwischen 'affektiver Einstellung' und 'kognitiver Überzeugung' ist hier unrelevant.125 Triandis leitet daher aus der Definition drei Komponenten ab, eine kognitive (Alltagswissen), eine affektive (wohlfühlen) und eine Verhaltenskomponente.126 Um klarzustellen, daß die Einstellung das Verhalten nicht direkt und allein beeinflußt, ergänzt Stroebe die Definition: Die Bereitschaft richtet sich nicht unmittelbar auf das Verhalten, sondern auf »die Bewertung des Einstellungsobjekts, die auf Gefühlen und Meinungen über diesen Einstellungsgegenstand« beruhten.127 Wegen der zeitlichen Distanz wird in der vorliegenden Arbeit aufgrund ihrer individualpsychologischen Eigenart die »Einstellung« weniger interessieren als das konventionellere »Stereotyp«. Trotzdem scheint es nicht unmöglich zu sein, auch historische Einstellungen zu beschreiben. Immerhin blieben zahlreiche Erfahrungsberichte, Briefe usw. erhalten, die einen Zugang zu individuelleren Positionen erlauben. Das »Vorurteil« ist dem Image verwandt, aber stark von Stereotypen geprägt. Vorurteile werden von den einzelnen Menschen gebildet und geäußert, dagegen gehört das Image in den Bereich der öffentlichen Meinung.128 Wie schwer es ist, die einzelnen Begriffe klar zu definieren, geht aus ihrer widersprüchlichen Verwendung hervor. Ein Stereotyp ist eine Formel, die gebildet und verwendet oder als unbrauchbar abgelegt wird. Stereotype speichern vorurteilsbildende Informationen. Vorurteile und Stereotype sind auf Außengruppen bezogen. Vorurteilsbildungen haben nach Quasthoff drei Funktionen.129 Zum einen bewirkt die kognitive Funktion bewirkt (Über-)Generalisierungen bei der Informationsverarbeitung. Es handelt sich um einen interkulturellen Lernmechanismus. Nicht individuelle Erfahrungen, sondern kollektiv vorstrukturierte prägen dieses Wissen. Ohne solches Vorwissen ist kein Verstehen möglich, also ist unvoreingenommenes Verstehen unmöglich. Zweitens dient die affektive Funktion der Versicherung einer Gruppenidentität. Dahinter steht ein unverzichtbares psychisches Schutzbedürfnis eines jeden Menschen. Schließlich unterstüzt die soziale Funktion die Organisation einer Gesellschaft. Ein (fast) selbstverständlich positives Selbstbild wird mit gezwungenermaßen schlechteren Fremdbildern konfrontiert und gestützt; die soziale Funktion des Vorurteils berührt diejenige des Images. Gleichzeitig erschwert das Denken in Stereotypen die interkulturelle Kommunikation, weil es nicht vermag, abweichendes Verhalten unvoreingenommen zu beurteilen. In Texten und Bildern kommen also Vorurteile ans Licht, die sich in das Gesamtbild des Images einfügen. Von der Frage, wie Images entstehen, führt der Weg zu den dahinter stehenden Interessen oder ideologischen Funktionen. Zu ihrer Klärung ist es nötig, die Images zu beschreiben und ihren sozialen und geschichtlichen Kontext zu berücksichtigen.130 124 Gordon Allport: Attitudes. In: C. Murchinson (Hg.): Handbook of Social Psychology. Worcester 1935, S. 798-844, zit. n. Harry C. Triandis: Einstellungen und Einstellungsänderungen (zuerst 1971). Weinheim, Basel 1975, S. 4. 125 M. Fishbein. In: Ulrich Ammon (Hg.): Sociolinguistics: an international handbook of the science of language and society. Bd.l, Berlin u. a. 1988, S. 139. 126 Triandis, a.a.O. (wie Anm. 124), S. 4. 127 Stroebe 1980. 128 Quasthoff 1973, S. 71. Quasthoffs Unterscheidung von Vorurteil und Stereotyp folgt Trouillet nicht. Für ihn ist ein Stereotyp ein komplexes Vorurteil, (Trouillet 1981, S. 8). 129 Quasthoff 1989, S. 40-45. 130 Vgl. Quasthoff 1973, S. 287.

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Damit wird der Ausgangspunkt erreicht: die Feststellung, daß Fakten in Bilder übersetzt werden, so daß sie politisch oder sozial wirken.131 Analog zur Konnotationsforschung in der Semantik, die Wörtern einen »Gefühlswert« (Helga Brüggemann) zuschreibt, läßt sich diese Zuordnung auf die Bildsprache übertragen. Das Anliegen zur interdisziplinären Erforschung des Komplexes der Images und Stereotype begründet Uta Quasthoff damit, »daß eine Beschreibung des Stereotyps nur als eine spezifische Form sprachlicher Aussagen ohne die Berücksichtigung der sozialpsychologischen Dimension nicht nur den Gegenstand höchst unvollständig beleuchtet, sondern ihn in seinen Ausmaßen geradezu verzerren würde132«. Für das Anliegen der vorliegenden Arbeit ergibt sich aus der Begriffsdiskussion folgendes Ergebnis: Es werden Stereotype beschrieben als »Bausteine« der Vorurteilsbildung sowie die Faktoren verschiedener Images, vor allem Selbstbilder der Deutschen und ihre Frankreichbilder in der Revolutionszeit. Auf Einstellungen weisen die zitierten Passagen aus Briefen und Erinnerungstexten hin. Images und Stereotype sind Teil des »kommunikativen Gedächtnisses«, da sie formelhaft allgemein verfügbare Wertungen und Vorstellungen speichern.

b) Feindbilder Zu klären ist weiterhin die Frage, warum zwei Gruppen (z. B. Frankreich und Deutschland) eher geneigt sind zu konkurrieren als zu kooperieren. Lewins Theorie des realen Gruppenkonflikts erklärt eine rationale Möglichkeit: Beide haben unvereinbare Ziele und stehen hinsichtlich der zu verteilenden Mittel im Wettbewerb. Daraus resultieren reale Bedrohungen, welche innerhalb jeder Gruppe Schulterschluß herbeiführen, der sich in größerer Leistungs- und Opferbereitschaft ausdrückt.133 Zwei Aspekte charakterisieren das Freund-Feind-Schema: die »Schwarz-Weiß-Zeichnung« (»Übergeneralisierung«) und die »Spiegelbildlichkeit der Bilder«, die besagt, »daß sich Freund- und Feindbilder gleichen, allerdings mit unterschiedlichen Vorzeichen«134 Das negative Prädikat »Feind« erzeugt einen Halo-Effekt, d. h. es überstrahlt positive Vorzeichen anderer Charakterisierungen.135 Indessen können Stereotype durchaus positiv angesehen werden. Dieses Positiv-Negativ-Schema ist allerdings nicht unveränderlich. Uta Quasthoff stellte fest, daß selbst positiv besetzte Stereotype je nach Betrachtungsweise negativ wirken.136 Trotz dieser Einschränkung verschärfen Feindbilder die Problematik des Denkens in Stereotypen erheblich. Das Feindbild ist eine Extremform eines Images, denn es geht weiter als dieses. Seine affektive Funktion, das Zusammengehörigkeitsgefühl zu stärken, tritt besonders hervor. Innerhalb der Gruppe bestehende Probleme werden auf die feindliche projiziert, Aggressionen auf sie umgelenkt.137 Nach einem Aphorismus Theodor Adornos »Der Balken im eigenen Auge ist das beste Vergrößerungsglas für den Splitter im

131 Vgl. Pierre Bourdieu: Zur Soziologie der symbolischen Formen. Frankfurt 1983. 132 Quasthoff 1973, S. 294. 133 Kurt Lewin: Field Theory in Social Science. Selected Theoretical Papers. Hg. von Dorwin Cartwright. London 1952. 134 Nicklas/ Ostermann 1989, S. 30. 135 Ostermann/ Nicklas 1984. 136 Quasthoff 1989, S. 46-^8. 137 Die grausamen Hetzjagden auf Flüchtlinge im Herbst 1991, die in Hoyerswerda anfingen, geben ein erschreckendes Beispiel der Wirkungsweise von Feindbildern.

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II. Grundlagen

Auge des anderen« heißt diese Projektionsfunktion »Splitter-Balken-Phänomen«. Die Projektion entlastet, und der Feind kann für eigene Fehler gehaßt und bestraft werden. Im Vergleich zu der Flexibilität anderer Images ist ein Feindbild starr. Zu ihm gehört eine selektive Wahrnehmung nach der Devise des »ich will nichts mehr von dir wissen«. Die ohnehin eingeschränkt aufgenommenen Nachrichten werden uminterpretiert. Das Denken hat eine totalisierende Tendenz, d. h., die Zahl der Gegnerinnen und Gegner wird zu einem feindlichen Lager vereinheitlicht und über die Vielfalt möglicher Beziehungen braucht nicht weiter nachgedacht zu werden. »Feindbilder werden immer mehr zu innergesellschaftlich erzeugten Vorstellungskomplexen, die nur noch wenig Beziehung zu der Realität des als Feind wahrgenommenen [...] haben.«138 August Nitschke faßt das Verhältnis von »fremd und eigen« in drei Sätzen zusammen: 1. »Das, was als fremd und eigen elementar erfahren wird, kann Variante einer Erfahrung sein, die in unterschiedlicher Weise auftritt.« 2. »Das, was als fremd oder eigen elementar erfahren wird, kann sich von der Erfahrung lösen und Grundlage einer theologischen, philosophischen oder psychologischen Theorie werden. Diese Theorie kann dann als politische Lehre politische Urteilsbildung und politisches Handeln beeinflussen.«139 3. »Das, was als fremd oder eigen elementar erfahren wird, wandelt sich von Gesellschaft zu Gesellschaft und von Epoche zu Epoche.« 140 Alle drei Sätze unterscheiden zwischen der Erfahrung einer Differenz und einer wirklichen Differenz. Wie fremd das Fremde wirklich ist, ist unwichtig. Es ist deshalb möglich, daß die Elemente beider Mengen mit der Zeit die Seiten tauschen. Entscheidend bleibt die von einer Klassifikation erfüllte Funktion. In der Zeit der Französischen Revolution kam es erstmals zu ideologischen Konfrontationen, die darauf abzielten, große gesellschaftliche Gruppen zur Parteinahme zu bewegen. Für die Erforschung nationalistischer Bewegungen seit dem frühen 19. Jahrhundert ist die Einbeziehung der hier erörterten sozialpsychologischen Theorien fast selbstverständlich. Die in den folgenden Kapiteln untersuchten Auseinandersetzungen fanden früher statt. Es wird deutlich werden, daß die Funktion von Stereotypen und Images schon vor 1800 in Deutschland im Rahmen der politischen Kultur von erheblicher Bedeutung war.

138 Ostermann/ Nicklas 1984, S. 50 (nach Dieter Senghaas). 139 Die Abgrenzung vom Fremden ist kulturbildend. Vgl. Kirsten Hastrup: Ethnologie und Kultur. Ein Überblick über neuere Forschungen. In: Raulff 1986, S. 54-67, besonders S. 55f. 140 Nitschke 1981, S. 257.

III. Öffentliche Kommunikation

1. Nation Mit der Französischen Revolution erfolgte nicht nur ein enormer Nachrichtentransfer nach Deutschland. Von Anfang an überschritten auch Menschen die Grenzen, und mit ihnen kamen ihre Gewohnheiten, Meinungen, Interessen und Machtmittel. Es ist nicht zynisch gemeint, wenn der Revolutionskrieg in diesen Transfer einbezogen wird. Abseits der Schlachtfelder wurden seine Begleiterscheinungen tatsächlich als Transferleistungen angesehen. Ebenso unverständlich dürfte heutzutage die unten zitierte Ansicht eines zeitgenössischen Söldners sein, der seine Teilnahme an Feldzügen durchaus im touristischen Licht sah. Nach dem Zusammenbruch des deutschen Reiches und speziell Preußens im Jahr 1806 entstand rasch eine nationalistische Bewegung. Hier soll es um ihre Vorgeschichte gehen, um die Beschreibung der Images von Frankreich und Deutschland und um deren Wandlungen. Bislang ist die Revolutionsrezeption vor allem vor dem Hintergrund der Aufklärung (in Literatur, Philosophie, Religion usw.) untersucht worden. Nun sollen die Wahrnehmungsmuster befragt werden. Erläutert werden zunächst die Begriffe »Nation« und »Volk«, danach Selbstimages der Deutschen und schließlich deutsche Frankreichbilder. Eine Nation ist eine große Gruppe von Menschen, die gleichzeitig kleineren Gruppen angehören. Im soziologischen Sinn ist eine Gruppe gegeben, wenn erstens Mitglieder sich einander verbunden fühlen aufgrund von Erfahrungen, Interessen oder eines Zusammengehörigkeitsgefühls; zweitens sich unter den Mitgliedern Rollen ausbilden; und drittens besondere Normen, d. h. Handlungserwartungen das Verhalten regeln.1 Über diese allgemeine Definition hinaus ist der spezifisch politische Gehalt der Nationbildung zu beachten: »Zur Nation wird ein Kulturvolk, das an sich politisch amorph ist, dadurch, daß es ein Zusammengehörigkeitsbewußtsein zu einem politischen Willenszusammenhang entwickelt.«2 In der hier interessierenden Zeitspanne steckt die Nationbildung in Deutschland noch in ihren Anfängen. Daher findet sich diese Ausprägung in der politischen Literatur nur in Ansätzen. Als wesentliches Moment muß stets berücksichtigt werden, daß bis 1813 und nach 1815 Nationalbewußtsein Sache der Opposition ist. Nationalistische Ideologie erachtet die Nation gewissermaßen als natürliche Organisationsform: Nationalismus

1 Vgl. Schuhes 1973, S. 83ff. 2 Hermann Heller, Staatslehre. Hg. von Gerhart Niemeyer. Leiden 1934, S. 161 - 'mit Bezug auf Max Weber' - zit. n. Kloft 1990, S. 113, Anm. 51. Dieses Zusammengehörigkeitsgefühl äußert sich frappierend in Randbemerkungen: »Hätte Hr. Klotz bloß aus fremden, seltnen Büchern zusammen getragen: so könnten wir ihm noch Dank wissen. Was ein Deutscher einem Ausländer abnimmt, sei immer gute Prise. Aber sollte er seine eigene Landsleute plündern?« - Gotthold Ephraim Lessing: 14.

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III. Öffentliche

Kommunikation

»holds that humanity is naturally divided into nations, that nations are known by certain characteristics which can be ascertained, and that the only legitimate type of government is national self-Government« 3 . Paradox scheint zu sein, daß gleichzeitig die Idee des Nationalen ihren Sinn verschlüsselt: »Die Nation aber, in deren Zeichen die Integration [der Individuen] erfolgt, ist mehr noch als die Klasse ein Symbol, das sich gegen seine Entschlüsselung wehrt.«4 Winkler schließt daraus, daß die Analyse nationalistischer Symbolik als Phänomen erst mit Hilfe sozialgeschichtlicher Forschung fruchtbar wird. Entsprechend der Erkenntnis, daß die Nation wesentlich auf Kommunikationsvorgängen 5 fußt, gewinnt die Untersuchung der Symbolik als Symbolsprache stärkeres Gewicht. Bei einer Großgruppe wie der Nation bedarf es besonders großer Anstrengungen, um ihre Mitglieder rational und emotional zu integrieren. Die nationalistische Ideologie befriedigt die Suche nach dem Sinn des Daseins. Das Hingabeobjekt »Nation« wird absolut gesetzt und schaltet alle übergeordneten Normen aus. Im Dienst der Sache wird sogar Gewalt in Gestalt von Verbrechen und Krieg gerechtfertigt. Die Wirkungsweise des Nationalismus läßt sich aufschlüsseln in Egalisierung, Solidarisierung und Aktivierung. »Egalisierung« bedeutet keine rechtliche oder politische Gleichstellung, sondern eine Unterordnung aller Angehörigen unter das Symbol »Nation«.6 Nationale Selbstbilder, die in Stereotypen ihren Ausdruck finden, dienen als Medium der Verständigung und Solidarisierung der Angehörigen. Zugleich werden Fremde und fremde Gruppen von diesem Vorgang ausgeschlossen. Vergleiche des eigenen nationalen Images mit denen anderer Nationen dienen der eigenen Aufwertung und der Abwertung des Fremden. »Outside hostility breeds inside solidarity« (David Riesman). 7 »Das, was man mit einem vagen Begriff Nationalbewußtsein nennt, speist sich bekanntlich zu einem großen Teil aus Reaktionen, aus dem Kontrast, der Absetzung gegenüber anderen Völkern. Dies war in der Antike, als sich im 5. vorchristlichen Jahrhundert die Griechen gegenüber den Persern ihrer Eigenart bewußt wurden, nicht anders als zu Beginn des 19. Jahrhunderts, wo die nationale Begeisterung sich an Napoleon und der französischen Fremdherrschaft recht eigentlich entzündete.« 8 Es nimmt daher nicht wunder, daß die vom Nationalismus stimulierten Kräfte dem Militär zugute kamen. 9 Nationalcharaktere müssen nicht notwendig negativ bewertet werden, wie ein Beispiel aus der Musik zeigt: »Allemande, Polonaise, Angloise, Hongroise sind Nationalcharaktere, die so wie die Provinzialsprachen, eher und leichter durch Nachahmung als durch Kunst, hervorgebracht

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Brief antiquarischen Inhalts. (1768) In: Ders.: Werke und Briefe in zwölf Bänden. Hg. von Wilfried Barner u. a., Bd. 5/ 2: Werke 1766-1769. Frankfurt 1990, S. 400. Elie Kedourie, Nationalism. London 1960, S. 9., zit. n. James J. Sheehan: The Problem of the Nation in German History. In: Büsch/ Sheehan 1985, S. 17, Anm. 6. Heinrich August Winkler: Der Nationalismus und seine Funktionen. In: Winkler 1985, S. 5-46, hier: S. 33f. Die Aufsätze einer ethnologischen Zeitschrift stehen unter dem Rahmenthema »National Culture as Process«: Ethnologia Europaea, Jg. 18, Kopenhagen 1988. Vgl. Karl W Deutsch: Nation und Welt. In: Winkler 1985, S. 49-66. Vgl. Schuhes 1973, S. 83ff. Kloft 1990, S. 98. Hermes I, 1819, S. 149, Rez. von: Betrachtungen über die verschiedenen Formen der bewaffneten Macht, von einem ehemaligen Landwehroffizier. Leipzig, Altenburg 1817.

Nation

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werden. [...] Indessen sind sie gegeneinander ganz abstechend; die Polonaise ist ein pompeuser Marsch, und ein republikanischer Stolz. Die Anglaise ist der spielende Scherz einer republikanischen Freyheit. Die Allemande ist der Ausdruck der Fröhlichkeit und ein Jubel der Freude.«10 Eine Bilderfolge Johann Heinrich Meils dagegen spiegelt die unterschiedlichen nationalen Stereotype. Sie äußern sich nicht nur in der Körpersprache, sondern auch in der jeweiligen sozialen Klasse. Der Engländer ist ein zeitunglesender Kaufmann - er steht an einem Hafenkai - ; den Franzosen repräsentiert ein wenig geistreich blickender Adeliger; in Italien scheinen, inmitten antiker Ruinen, nur verschlagene Nichtsnutze zu leben; als Holländer sehen wir einen Bootsknecht; Wilhelm Teil steht für die Schweiz, und die Deutschen vertritt ein fellbehängter Germane, auf eine Keule gestützt, mit der er einen Eber erschlug.11 Eine zeitgenössische Äußerung führt unabsichtlich den Versuch, Charakterisierungen auf Nationen zu übertragen, ad absurdum: Es heißt darin, einige französische Autoren schrieben bestimmten Regionen ihres Landes Eigenschaften zu, die fremden Nationen zugehörten, z. B. »die Teutsche freyheit und aufrichtigkeit in der Picardie; die Schwedische großmüthigkeit in Champagne; die Polnische munterkeit in Languedoc f...].«12 Willkürlich werden in den zitierten Texten Eigenschaften und regionale Gruppen zusammengewürfelt: Pompöse Munterkeit als polnisches Charakteristikum? Otto Dann faßt die Bedingungen für das Entstehen nationalistischer Bewegungen folgendermaßen zusammen: »Nationalismus ist stets eine Folge von Wandlungsvorgängen im Zusammenhang der Modernisierung traditionaler Gesellschaften.«13 Dazu zählen Modernisierung des Staatswesens und Veränderung der sozialen Schichten. Neue oder vermehrte Kommunikationsmittel unterstützen die »Bewußtseinsbildung«. Sie wird erzwungen durch Legitimitätskrisen und die Differenz von Machtverteilung im Staat und Machtpotential einzelner Bevölkerungsgruppen. Die Bildung des Nationalismus in Deutschland und anderen Ländern ging der Industrialisierung voraus, ist aber kein Phänomen der vorindustriellen Zeit, sondern der Epoche des Umbruchs.14 Nationale Bewegungen reagieren also nicht nur auf grundlegenden sozialen Wandel, sondern beeinflussen ihn mit. Die Aktivierung ihrer Anhängerschaft eröffnet dieser neue Perspektiven in politischer und sozialer Hinsicht und mittelbar auch in ökonomischer. Elemente der nationalistischen Integration sind Heimat, Religion, nationales Brauchtum und - insbesondere - Sprache. Anders gesagt, dringt die Politik in immer mehr Lebensbereiche ein. Sie setzt bei der Erziehung an - ob in der Schule oder durch Volksbildung. Diese Strategie verstärkt die Integration. Der Nationalismus bietet an, das Bedürfnis nach geschichtlicher Verortung (räumliche und zeitliche Images) zu erfüllen. Das Bedürfnis entsteht, wenn andere Primärgruppen, z. B. Familie, religiöse Gemeinschaft, zerfallen oder in ihrer Bedeutung zurücktreten und ein Vakuum entsteht, die 10 Pauli: Musik und Tanz. In: Gothaisches Magazin, S. 174-186, hier: S. 185. 11 Johann Heinrich Meil, Illustrationen für einen Almanach. Berlin: KK: 260-1885/ 62-77, K. 21B. Nach ähnlichem Muster ist ein erheblich älteres, anonymes Kupfer angelegt, auf dem ein Spanier, Portugiese, Franzose und Italiener, allesamt in eleganter Kleidung, die Leistungen ihres Landes in der Luxusgüterproduktion aufzählen. Die französische Mode gibt den Ton an, und deshalb heißt es in der entsprechenden Legende: »Die angenehme Waar ist überall bekandt,l Von welcher unser Volck bey Frembden heist galant [...]« (Coburg: KV: KRB.262A, 215). 12 Iselin II, 1726, S. 353. 13 Otto Dann: Nachwort. In: Dann 1978, S. 210. Die folgenden Thesen schließen an Dann, ebd., S. 210219 an. 14 Vgl. Schultes 1973, S. 83ff.

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III. Öffentliche

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Sehnsucht nach einer verpflichtenden Gemeinschaft. 13 Auf die Verhältnisse in Deutschland im 18. Jahrhundert treffen diese Merkmale zu. Exemplarisch wird die Entdeckung der nationalen Geschichte beschrieben, die ebenso zur Identitätsbildung beitrug wie die Nationalisierung der Sprache. Das Gesagte, darauf sei noch einmal hingewiesen, gilt für den Nationalismus als oppositionelle Kraft. Die Herrschaft einer nationalen Bewegung unterliegt anderen Bedingungen, die in diesem Zusammenhang nicht interessieren. Nach der Modernisierungstheorie ist der Nationalismus Teil des Modernisierungsprozesses, den die europäischen Gesellschaften in den vergangenen Jahrhunderten durchliefen. Genannt wurden bereits die anderen Faktoren: Staatenbildung (bzw. Ausbau der Verwaltungsorgane sowie Polizei und Militär), Demokratisierung und sozialer Ausgleich. Bestimmt wurde die Entwicklung durch die Kommunikationsmöglichkeiten. Die Elemente der Modernisierung konkurrierten miteinander. Deshalb ist es erklärlich, daß in Deutschland die Entwicklung der Staatsapparate in den einzelnen Staaten unterschiedlich verlief und nicht einheitlich auf Reichsebene. Auch Demokratisierung und soziale Entwicklung verliefen unterschiedlich schnell. Die Verbesserung der Kommunikation im 18. Jahrhundert begünstigte schließlich die Bildung eines Nationalbewußtseins, indessen die Zersplitterung des Reiches Demokratisierung und sozialen Fortschritt hemmte. »Nationsbildung« und Nationalismus sind zu unterscheiden: »Die Nationsbildung wird hier demzufolge als ein notwendiger Schritt in der Entwicklung einer Gesellschaft verstanden, der zur Identitätsbildung beiträgt und damit die Legitimität politischer Systeme durch deren Anerkennung bei ihren Bürgern bewirkt. Von dem Prozeß der Nationsbildung ist der Nationalismus als eine politische Bewegung und Ideologie zu unterscheiden. Dessen wichtigste Funktion liegt im Bereich der politischen Demokratisierung; denn das Ziel nationaler Bewegungen ist die Partizipation der Nation an der politischen Herrschaft, ihre Selbstbestimmung.«16 Von einer nationalistischen Bewegung kann vor 1809 keine Rede sein. In jenem Jahr begann die Schillsche Freischar mit ihrer Guerilla. Vorher entstanden aber Fragmente eines Nationalbewußtseins, das diesem Nationalismus zugrunde lag. Schill und andere preußische Staatsdiener wählten damals einen ungewöhnlichen Weg, ihrem Land zu dienen. Sie wurden nämlich ihrem König zeitweise ungehorsam. Die meisten von ihnen quittierten ihren Dienst, um der Zusammenarbeit mit den verhaßten französischen Verbündeten auszuweichen. In der russischen Armee sammelten sich einige loyale Opponenten, so daß im Rußlandfeldzug 1812 preußische Offiziere auf beiden Seiten kämpften.17 Zum Nationalbewußtsein gehört die Bestimmung der Gemeinschaftsmitglieder. In der Nation scheinen alle Distinktionen gesellschaftlicher Gruppen ihre Bedeutung zu verlieren. Im Diskurs über das »Volk« in der Spätaufklärung und Revolutionszeit wird deutlich, daß der Widerspruch zwischen realen Unterschieden und erfühlter Gemeinschaft nicht artikuliert wurde. Die Frage: »Wer ist das Volk?« wurde daher widersprüchlich beantwortet. Herder definierte das Volk als Teil der Natur, der sich auch in die Linnésche Systematik eingliedern ließ:

15 Vgl. Daniel Katz: Nationalismus als sozialpsychologisches Problem. In: Winkler 1985, S. 67-84, hier: S. 77-84. 16 Dann 1978a, S. 78. 17 Clausewitz 1953 (1835).

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»Denn jedes Volk ist Volk: es hat eine National-Bildung, wie seine Sprache; zwar hat der Himmelsstrich über alle bald ein Gepräge, bald nur einen linden Schleier gebreitet, der aber das ursprüngliche Stammgebilde der Nation nicht zerstöret.«18 Bei genauerem Hinsehen auf diesen Stamm fiel eine Gruppe heraus, Pöbel genannt. »Der Poebel, das ist, der große Haufe Derer, die da leben ohne zu denken, handien ohne zu überlegen, eine Seele haben, ohne sich's bewust zu seyn [...].«" Eine soziale Definition, wie sie im Wort »Unterschichten«20 enthalten ist, gab es für den Pöbel nicht. Am nächsten kommt ihr noch Friedrich Schulz, der »Volk« und »peuple« unterscheidet. Mit letzterem meint er »in sehr ausgedehntem Sinn« den dritten Stand, von den Habenichtsen bis zu den Kaufleuten. 21 Jürgen Kocka definiert den »Bürger« der Zeit um 1800 dreifach: »erstens besaßen sie gemeinsamen Status im System der überlokalen (ständischen) Repräsentation; zweitens waren sie vorwiegend Städter; und drittens hatten sie eine negative Gemeinsamkeit, sie waren weder adelig, noch gehörten sie dem (katholischen) Klerus, den Unterschichten oder den Bauern an.«22 Weiterhin zieht er eine Grenze zwischen dem akademisch gebildeten Bildungsbürgertum und dem gewerbetreibenden Bürgertum. In dem Wort »Staatsbürger« faßt er schließlich die deutsche Bedeutung von »citoyen«, die auch in »Bürger« mitklingt. Ein zeitgenössischer Begriff dafür ist »Patriot«.23 Vorgeworfen wurden dem Pöbel Roheit, Mangel an Bildung und Geschmack und fehlendes Bewußtsein - gleichbedeutend mit instinkthaft nach Art der Tiere: »Man unterscheide ja Volk und Pöbel, und bedenke, daß dem Pöbel, er sey in Wolle oder in Seide gekleidet, die Musen abhold und ungewärtig sind.«24 Kant unterschied 1796 das »bürgerliche Ganze«, die »Nation« vom »Pöbel«. Dieser war für ihn eine »gesetzwidrige Vereinigung«, »für die das >Rottiren [...]< typisch war. Dies schließe den >Pöbel< von der Qualität eines Staatsbürgers aus.«25 Kant reproduzierte ein allgemeines Vorurteil von der aufsässigen Unterschicht. Sogar Lichtenberg verachtete den Pöbel.

18 Herder, Ideen, S. 257f., zit. n. Büsch/ Sheehan 1985, S. 6. 19 Wilhelm Ludwig Wekhrlin: Versuch über die Intoleranz. In: Ders. (Hg.): Das graue Ungeheuer, Jg. 1785. [Nürnberg: Felßecker], S. 135-147 [Nd. Nendeln 1976], zit. n.: Haacke 1968, S. II/ 57. 20 Josef Mooser: Gewalt und Verführung, Not und Getreidehandel. In: Berding 1988, S. 218-236, hier: S. 221. Die Unterschichten setzten sich zusammen aus Gesellen, Gesinde, Arbeitern und Arbeiterinnen sowie Arbeitslosen bzw. Arbeitsunfähigen. Herzig 1988, S. 205. 21 Schulz 1791, S. 221; im 18. Jahrhundert war der Begriff »Bürger« noch untrennbar mit städtischem Leben verbunden, war also ständisch belegt. Ihm entsprach in Frankreich das Wort »bourgeois«, in der englischen Sprache gab es keine direkte Entsprechung. »Citoyen« und »Citizen« wiederum fanden als Ehrbegriffe kein deutsches Gegenüber. Reinhart Koselleck, Ulrike Spee, Willibald Steinmetz: Drei bürgerliche Welten? Zur vergleichenden Semantik der bürgerlichen Gesellschaft in Deutschland, England und Frankreich. In: Hans-Jürgen Puhle (Hg.): Bürger in der Gesellschaft der Neuzeit. Wirtschaft - Politik - Kultur. Göttingen 1991, S. 14-58, hier: S. 23-34. 22 Jürgen Kocka: Bürgertum und Bürgerlichkeit als Probleme der deutschen Geschichte vom späten 18. bis zum frühen 20. Jahrhundert. In: Ders. (Hg.): Bürger und Bürgerlichkeit im 19. Jahrhundert. Göttingen 1987, S. 21-63, hier: S. 27. 23 Ebd., S. 27f. 24 N.N.: Rez. von: C.ED. Schubarts Gedichte. 1. T. Frankfurt 1802. In: ALZ 4,4.1.1804, S. 31. 25 Anthropologie. In: Immanuel Kants Werke, Hg. von Ernst Cassirer, Bd. 8. Berlin 1922, S. 204f., zit. n. Herzig 1988, S. 203.

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Für ihn setzte dieser sich aber, ein Aperçu aus dem Braunschweigischen Journal aufnehmend, aus »Sansculottes« und den »großen der Erde« zusammen, »die von Wahrheit und Tugend am weitesten entfernt sind, und von denen auch die größten Schandthaten begangen werden«.26 Tatsächlich aber war bei vielen Aufständen die soziale Zusammensetzung differenzierter. Die Abgrenzung des Kleinbürgertums von den Unterschichten fiel bei »Subsistenzprotesten« weg.27 Auch der deutsche Jakobinismus hielt mit wenigen Ausnahmen Abstand zu den Unterschichten. Umgekehrt wurde 1794 auch einmal das Haus eines Metzgers in Altona von Hungernden gestürmt, der nicht nur verhaßt war wegen seiner überhöhten Preise, sondern überdies am Giebel seines Hauses eine Freiheitsmütze angebracht hatte.28 Es genügte nicht einmal, den »Pöbel« abzuwerten. In der Diskussion um den Begriff »Volk« und seine Wortzusammensetzungen wurde mit dem Blick auf die Französische Revolution als destabilisierend angesehen, daß vom Bürgertum aus die niedere Klasse zum Subjekt erhoben wurde.29 Im Gegensatz zum »Pöbel« stand das patriotisch gesinnte Bürgertum. Patriotismus besaß in der Revolutionszeit eine soziale, eine politische und eine ästhetische Bedeutung. Zum sozialen Patriotismus zählt z. B. die »Patriotische Gesellschaft« in Hamburg. Patriotismus wurde ungeachtet der sich mehrenden Verwendung der Vokabel 'Deutschland' im 18. Jahrhundert fast ausschließlich als ein soziales Anliegen verstanden. Herder wünschte sich einen 'geläuterten Patriotismus', der alle Anstrengungen auf die Wohlfahrt der eigenen Gesellschaft lenkt. Er würde die Toleranz steigern und das friedliche Zusammenleben der Völker fördern. 30 Diese weit verbreiteten Vorstellungen waren zutiefst bürgerlich und kritisierten mittelbar den Adel, dessen Standesbewußtsein Nützlichkeitsdenken ausschloß.31 Friedrich Carl von Moser und Johann Gottfried Herder entwickelten ebenfalls Ideen für einen politischen Patriotismus.32 Zunächst, in derZeit um 1770, verstand Herder sich als deutscher Patriot im Sinn der Klopstockischen und Hainbund-Lyrik. Sein Bardentum äußerte sich sowohl in Gedichten 33 als auch in seinen später ausgeführten Plänen zur Sammlung von 'Volksdichtung'. Zehn Jahre später ist sein »Gedicht >An den Kaiser< [...] ein Dokument des neu erwachten Reichspatriotismus«.34 Er erwartete die erhoffte Einigung des Reiches nicht von den durch Partikularinteressen zerstrittenen Adels- und Reichsständen. Das imaginierte Bündnis von Kaiser und Volk erinnert sehr an die in Frankreich zeitweilig bestehende Koalition zwischen König und Drittem Stand. Weit darüber hinaus reichte Herders »Idee zum ersten patriotischen Institut für den Allgemeingeist Deutschlands. Es verfolgte das Ziel, durch Deutschlands Einigung die

26 Zit. n. Anacleto Verrecchia: Georg Christoph Lichtenberg. Der Ketzer des deutschen Geistes. Wien, Köln, Graz 1988, S. 164. 27 Herzig 1988, S. 202f. 28 Ebd., S. 211. 29 Haase 1967, S. 233f. 30 Herder, Beförderung X, S. 270-272. 31 Vgl. Elias 1987, S. 307. 32 Ausführlich wird die Debatte um den Reichspatriotismus untersucht in Ursula Becher: Politische Gesellschaft. Studien zur Genese bürgerlicher Öffentlichkeit. Göttingen 1978. Eine Darstellung von Herders politischem Denken bietet Horst Dreitzel: Herders politische Konzepte. In: Gerhard Sauder (Hg.): Johann Gottfried Herder 1744-1803. Hamburg 1987, S. 267-298. Otto Dann stellt fest, daß in der deutschen Gelehrtenwelt in den Jahren um 1770 eine besonders weit verbreitete »deutsche Bewegung« bemerkbar ist. Otto Dann: Herder und die deutsche Bewegung. In: ebd., S. 308340, hier: S. 331. 33 Vgl. Dann 1989, S. 213-215. 34 Ebd., S. 217.

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dem Land innewohnenden Kräfte zu bündeln; Herder begreift die Nation als »belebte Maschine«, »dem menschlichen Körper« nacheifernd und als aus vielen Flämmchen gespeiste, Licht verbreitende »gemeinschaftliche Flamme«.35 Friedrich Carl von Moser machte in einem satirischen Beitrag »Vorschläge neuer Bücher und Abhandlungen vor Schriftsteller, die gerne schreiben wollten und nicht wissen: wovon?« und bietet u. a. an: »Von dem deutschen Nationalinteresse, Beweis, daß es zu allen Zeiten eins gegeben, und noch gebe; von dessen Natur und Eigenschaften, Veränderung, Erschlaffung und Wieder-Belebung; und angefügtem Beweis: daß hiebey die Unterthanen weder ein Votum decisivum, noch consultativum, sondern nur noch eine höchstaufgeklärte und einfache gloriam obsequii haben.«36 Einige Seiten später wird Moser deutlicher in seinem Unmut über die Adelsherrschaft. »Versuch über den Patriotismus in einem militärisch-despotischen Staat; auch muthmaßliche Ausrechnung: Ob in 50. Jahren in Deutschland noch ein Vaterland zu finden oder alles Staat seyn werde?«37 Und er fragt weiter, ob »Flicken« oder »Niederreissen« einer »verdorbenen Staats-Verfassung« besser sei. Es wird deutlich, was er mit seiner Publizistik verfolgte: ein geeintes Reich unter der Herrschaft eines starken Kaisertums, mit politischer Verantwortung des Bürgertums und Schwächung des aristokratischen Föderalismus - vergleichbar mit dem englischen System. Moser äußerte sich im »Patriotischen Archiv« allerdings niemals direkt über seine Vorstellungen.38 Otmar von Aretin wirft die Frage auf, warum aus den Kreisen des deutschen Jakobinismus zwar Entwürfe für Verfassungen regionaler Republiken bekannt sind, jedoch keiner für eine neue Reichsverfassung. Ob nicht an einen deutschen Nationalstaat gedacht worden sei? Auch andere bürgerliche Kreise hätten in den Krisen des ersten Koalitionskrieges und nach dem Reichsdeputationshauptschluß nicht die Initiative ergriffen, um einen bürgerlichen Staat zu bilden. Er schließt daraus, daß ein politisch engagiertes Bürgertum noch nicht vorhanden war.39 So diffus das politische Selbstverständnis des Bürgertums sich auch artikulierte - einige Abgrenzungen waren markant. Eine war die Distinktion von den Unterschichten, eine zweite die vom Adel als Stand und von dessen Lebensweise. Gewöhnlich wird und wurde die Zugehörigkeit zu einer Nation vom Geburtsort und von der Abstammung abhängig gemacht. Herder spricht für viele Tätige in Wissenschaft, Kunst, Handel, Diplomatie und Militär, die im Ausland arbeiteten, als er 1765 in einer Festrede im russischen Riga das Vaterland als den Ort definiert, an dem ein Mensch als Patriot arbeitet, d. h. der Gesellschaft dient.40 Bezeichnend für die Widersprüche bezüglich des Nationalgefühls ist die

35 Herder 1804, S. 601. 36 Patriotisches Archiv VI, 1787, S. 408. 37 Ebd., S. 413. Bereits 1766 hatte Moser eine Abhandlung »Von dem deutschen Nationalgeist« veröffentlicht; vgl. Moser 1976 (1766). 38 Vgl. Harro Segeberg: Germany. In: Otto Dann, John Dinwiddy (Hgg.): Nationalism in the Age of the French Revolution. London, Ronceverte 1988, S. 137-156. - Segeberg stellt fest, daß zwischen der politischen Emanzipationstendenz in Deutschland und den Entwicklungen in Frankreich und England bis in die Revolutionszeit hinein kein fundamentaler Unterschied bestand (S. 156). 39 Karl Otmar Freiherr von Aretin: Das Heilige Römische Reich Deutscher Nation. In: Büsch/ Sheehan 1985, S. 73-83, hier: S. 79f. Vgl. Horst Dippel (Hg.): Die Anfänge des Konstitutionalismus in Deutschland: Texte deutscher Verfassungsentwürfe am Ende des 18. Jahrhunderts. Frankfurt 1991. 40 Herder 1765, S. 26.

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Äußerung eines 'christlichen Patrioten' in Mosers national gesinntem »patriotischen Archiv«, die in dem Satz gipfelt: »Die Welt ist mein Vaterland [,..].«41 An dem Konflikt zwischen Weltbürgertum und Nationalismus ging im gleichen Jahr Anacharsis Cloots zugrunde. Eines der ersten Periodika, die den patriotischen Gedanken in der Kultur aufgriffen, war Gräters »Bragur«.42 Erst 1810 wird eine Zeitschrift mit ausgesprochen kulturpolitischem Anspruch gegründet, mit dem Namen »Vaterländisches Museum«, allerdings inspiriert vom »deutschen Museum«. In der Ankündigung heißt es: »Das vaterländische Museum ist einzig durch die drängenden Umstände einer Zeit veranlaßt worden, dergleichen von so ausgebreiteter Gewalt [...] seit der Völkerwanderung her keine gefunden werden kann. [...]« Sie verfolge keine unmittelbar politische Absicht, sondern ziele auf politische Wirkung durch geschichtliche und kulturelle Bildung, durch Förderung »deutscher Bildung«, »für Bewahrung deutsch:eigenthümlicher Art und Wissenschaft und Kunst«. Sie fürchte sich nicht vor dem »neu aufgekommenen Vorwurf der Germanomanie«. 43 Das Magazin, für das Jean Paul schrieb, wurde im Januar 1811 eingestellt. Perthes begründet seinen Schritt in der »Schluß-Anmerkung« damit, daß es als vaterländisches Projekt nicht länger bei ihm erscheinen könne, weil er als Hamburger Bürger seit den neuesten Eroberungen französischer Bürger sei. In der Revolutionszeit veränderte sich der Sinn des Wortes »Patriotismus«. Im Linksrheinischen hießen republikanisch und demokratisch Denkende »patriotisch«, im Gegensatz zu den »Aristokratischen«, welche die Fürsten zurückwünschten. »Deutsche« wurden des Kaisers Truppen genannt.44 Nach dem Ende des Reiches wurde der aufklärerische Patriotismus zum politischen Nationalismus umgeschmiedet. Vaterlandsliebe gilt dem Historiker Luden als Kennzeichen höher entwickelter Gesellschaften. Vieles haben diese Gruppen gemeinsam - weshalb sie im Singular »Menschheit« zusammengefaßt sind ihre besonderen Lebensbedingungen individualisieren (!) die Völker gegeneinander. Folgende Faktoren zählt er auf: zunächst die Sprache, danach Staatsverfassung und Recht, Sitten und Religion, zuletzt Wissenschaft und Künste. Fremde Einflüsse wirken nur, wenn sie der eigenen Kultur angepaßt werden können. Diese pauschale Definition läuft auf die Abwehr jeder Fremdherrschaft hinaus, im heutigen Deutsch: Sie richtet sich gegen kulturelle Hegemonie.45 Aus der gegenseitigen Abgrenzung erwächst eine Konkurrenz in dem Bestreben, die eigene Nation ruhmreicher dastehen zu sehen als die benachbarten. Luden umgeht das Problem territorialer Grenzziehung des Vaterlandes mit einem klassischen Zitat: »>Wo ich frei leben kann, da ist RomEntdeckung< der Werke >Ossians< machten.«54 In der damit einsetzenden Phase wurde die nationale Vergangenheit aufgearbeitet. Kulturzeugnisse von der Volkskunst bis zu Liedern und Märchen wurden gesammelt, die Landessprache wurde erforscht und aufgewertet - Pionierarbeiten. Diese Arbeiten stießen bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts auf geringe Resonanz; so beklagt Christian Jacob Wagenseil, daß seine Wiederentdeckung der Schriften (von ihm 1783 veröffentlicht) und der Person des Ulrich von Hutten nicht honoriert würden: »So kalt, so nachläßig hat man den fadesten Roman nicht empfangen, als den edeln, deutschen Hutten.« Statt seine Werke zu einer »National-Angelegenheit« zu machen, sei er gänzlich übersehen worden.55 1761 wurde die »Helvetische Gesellschaft« zur Verbreitung der Schweizer Geschichte und Kultur im Lande gegründet. Sie bestand bis 1797. Ihr gehörte auch Johann Heinrich Füssli an, der Herausgeber des »Helvetischen Almanachs«.56 So wenig konkret der Volksbegriff war, so sehr wurde er symbolisch aufgeladen. Es gab »Die volksmäßigsten Bücher« (u. a. Eulenspiegel und Fortunatus) und »Volksmäßige Schriftsteller«, die den »Völkston zu ergreifen wißen« (zu denen Schubart und Bürger zählten).57 Ein frühes Beispiel für eine politische Inanspruchnahme stellt Archenholz' »Geschichte des siebenjährigen Kriegs in Deutschland« dar, für die mit Pathos geworben wurde: »Wenn daher je eine Geschichte als Völksbuch unter allen Ständen der deutschen Nation verbreitet zu seyn verdient, so ist es wol diese vaterländische, die Deutschland in so vieler Rücksicht Ehre macht, und den Geist des Volks zu erhöhen vermögend ist.«58

53 Deutsch 1972, S. 41. 54 Ebd., S. 43. 55 Zit. in: Johann Gottfried Herder, Zerstreute Blätter. 5. Sammlung, 1793. In: SWS 16, S. 295; Moser schreibt dazu: »das Unglück wollte, daß alles lateinisch war und wir nicht mehr Römer, sondern Deutsche und Deutsch-Franzosen sind.« (Patriotisches Archiv VII, 1787, S. 20.) 56 E Israel: Nachwort. In: Helvetischer Almanach 1800. 57 Genius der Zeit 1,1794, S. 322-343, hier: S. 324,326. 58 Vorbericht in: Archenholz 1788.

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Interessant an diesem Lob ist der Anspruch; es geht nicht nur um eine hohe Auflage, sondern um Verewigung nicht des Autors, sondern seines Produkts. Mit der zwei Jahre später erschienenen lateinischen Übersetzung sprach Archenholz ein internationales Publikum an.59 Frankreich war nach der Revolution gar eine »Nationalfamilie«.60 Im 19. Jahrhundert schließlich vermehrten sich entsprechende Neologismen. In der Zeitschrift »Jason« werden u. a. folgende Wörter erklärt: Volksbildung, Volksbücher, Volkslehrer, Volksgährung, Volksvernunft, Volksjustiz, Völkerbund, Völkerkrieg, -Völkerrecht, Nationalzüge, Volkszüge (Prozessionen), National-Institut.61 In der Rezeption der Volkslieder, -bücher und -märchen sowie der mittelhochdeutschen Literatur artikuliert sich ein Verlangen nach einer Art »Volksgemeinschaft«. Denn als ein Hauptkriterium der Wertschätzung dieser Gattungen galt ihre allgemeine Verbreitung im Volk - von der nationalistischen Völkskunde »Volkläufigkeit« genannt. Gewiß leitete kaum jemand daraus demokratische oder gar republikanische Vorstellungen ab.62 Andererseits leistete diese Literaturrezeption langfristig erfolgreich politische Dienste für die Integration der Bevölkerungen der deutschen Staaten. In einer späteren Phase wurden aus dem so erarbeiteten nationalen Kulturvermögen Symbole entwickelt, während gleichzeitig neue, nationalistische Organisationen entstanden (Turnvereine, Burschenschaften in Deutschland). Es wurde deutlich, daß schon vor 1800 die Grundlagen für den deutschen Nationalismus gelegt wurden. Allerdings waren die unterschiedlichen und verstreuten Ansätze noch nicht koordiniert, weshalb sie politisch ohnmächtig blieben. Im Diskurs über das »Volk« wurde die Kluft sichtbar zwischen Gemeinschaftsbedürfnis und sozialer Realität. Intellektuelle Größen wie Herder und Kant beteiligten sich an der Debatte ebenso wie weniger bekannte Publizisten. Während es vom bürgerlichen Standpunkt aus leicht war, das »Volk« zu definieren, ist die Bestimmung des »Deutschen« heterogen. Zur Vereinheitlichung der deutschen Selbstbilder kam es erst nach 1806. Bausteine dieses Images bildeten nationale Stereotype, die teilweise schon im 16. Jahrhundert formuliert worden waren und nicht zuletzt die Herausbildung einer nationalen Geschichte.

a) Deutschland Nationalgefühl in Deutschland Bezeichnendes Merkmal der deutschen Geschichte ist die Differenz zwischen staatlichen und kulturellen Grenzen.63 Abgesehen davon, daß kaum eine Staatsgrenze in Europa länger als einige Jahrzehnte unverändert überstand, ist die kulturelle Zuordnung noch schwieriger, weil von »weichen«, d. h. nicht fest definierbaren Parametern abhängig: Sprache, Religion, Lebensformen, Zugehörigkeitsgefühl und Fremdenhaß. Einige Staaten besaßen Territorien außerhalb des deutschen Reiches; Länder mit eigener Kultur und Sprache wie die Tschechei gehörten zum Reich; die deutschsprachige Schweiz war politisch nicht mehr an

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Archenholz 1790. Historischer Almanach 1790, S. 92. Jason 1810,3. St., März, S. 287ff. Wilhelm Grimm und Achim von Arnim werden als Gegenbeispiele zitiert von Gerard Kozielek: Ideologische Aspekte der Mittelalter-Rezeption zu Beginn des 19. Jahrhunderts. In: Peter Wapnewski (Hg.): Mittelalter-Rezeption. Ein Symposion. Stuttgart 1986, S. 119-132, hier: S. 126. 63 Vgl. Roswitha Mattausch: Einheit und Freiheit - Die Entdeckung der Geschichte als Nationalgeschichte (1800-1830). In: Ausstkat. Frankfurt 1978a, S. 49-64.

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das Reich gebunden. 64 Herder befand infolgedessen, daß weder Sprache noch Grenzverlauf geeignet seien zur Bestimmung der deutschen Nation. Erst die Besinnung auf die Geschichte könne dem Manko abhelfen. 65 Tatsächlich fällt die Grenzziehung schwer. So werden »Deutsche, Preussen, Siebenbürger, Holländer, und Helvetier« einem gemeinsamen ursprünglichen Volk zugerechnet. 66 Die Heimat bedeutete wegen der Kleinstaaterei mehr als die Zugehörigkeit zur Nation. Ein als nationale Identität zu bezeichnendes Gefühl der Verbundenheit mit einem politischen Körper gab es nicht.67 Erste Versuche zum Aufbau einer solchen Identität datieren aus den 1770er Jahren. Eins der frühesten Unternehmen zur Ausbildung eines deutschen Nationalbewußtseins war die Zeitschrift »Deutsches Museum«. 68 Die meisten anderen Versuche, die Bevölkerung emotional an den Staat zu binden, galten und nützten ausschließlich den Souverains. 69 Im Rahmen von Theateraufführungen scheinen häufig Lobesgedichte auf Fürstinnen und Fürsten rezitiert worden zu sein. In den Theateralmanachen sind etliche abgedruckt. 70 Inmitten der Regionalismen fallen einige Appelle an ein einheitliches deutsches Nationalbewußtsein während des Revolutionskrieges auf. Im Rheinland, wo die territoriale Zersplitterung besonders ausgeprägt war, fand der sogenannte Reichspatriotismus größere Resonanz als in den Flächenstaaten Preußen, Österreich oder Hannover. 71 Noch vor Beginn des Revolutionskriegs forderte H.A.O. Reichard von seinen Landsleuten, den französischen Patriotismus nachzuahmen: »Ich bin ein deutscher Mann, und stolz daß ich es bin. [...] Warum sollten wir nicht deutschvaterländisch, deutschpatriotisch handeln?« 72 Als Kurtrier von der französischen Armee bedroht war, erschienen im Januar 1794 Aufru64 65 66 67 68 69 70

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Vgl. Dann 1978a, S. 82. Herder über Christoph Forstner und Friedrich Carl Moser. In: Herder, Beförderung i y S. 257f. Schlözer 1772, S. 48. Vgl. Moser 1976 (1766), S. 20; Otto Dann: Begriffe und Typen des Nationalen in der frühen Neuzeit. In: Giesen 1991, S. 56-73, hier: S. 70. Deutsches Museum. Beispiel Preußen - vgl. König 1960, S. 292-296. Im Taschenbuch für's Theater, S. 94-97, findet sich ein erstaunliches Exemplar: panegyrische Oden auf u. a. Friedrich Wilhelm III. von Preußen und seine Ehefrau sowie auf die Herzogin von SachsenWeimar. Sie werden übertroffen von einem »Epilog, nach der Vorstellung des Axur, am Abend vor dem Geburtsfeste der Durchl. Erbprinzessin von Anhalt-Dessau, welchen halten zu dürfen eine seltene Bescheidenheit nicht verstattete. | | Ach! wie bedauernswerth ist doch der Unterthan, | wenn in despotischen Axurklauenl sein Leben er verjammert, | nicht ungestraft frei denken, handeln kann, | und nie mit Zuversicht dem Throne sich darf nah'n, | mit Hoffnung nicht, | dort Recht und Schutz zu finden! | Wenn er - ein Sklav für sich, für Weib und Kinder | das Feld nicht baut, nur für Tirannen schwitzet, | und auf der schönen Gotteswelt im Elendsthale sitzet! | Ihm lächeln Flur und Hain, | Pomonens, Ceres, Florens Kinder, | ihm lacht Natur! dein ganzer reicher Segen, | ach! nur umsonst entgegen. Zum Gram geht ihm die Sonne auf, zum Gram für ihn vollendet sie des Tages Lauf. | Doch weg mit diesem schwarzen Bilde! | O kommt mit mir in wonnig're Gefilde! | Hebt Euren Blick zum besseren Tarar, -1 Hebt ihn zu einem guten Fürsten auf! der mild wie Gott - gerecht, wie Er, | nur Glück und Lust verbreitet um sich her; ein Vater [...] wie Kinder seine Unterthanen liebet, | der wie Vespasianl den Tag verloren schätzet, | an welchem er nicht eine gute That gethan, | der die Natur selbst zwingt, noch reizender zu seyn, [...].« Nach weiteren elf Zeilen bricht der Herausgeber den Abdruck ab mit der Bemerkung, hier werde es ein »zu gewöhnliches Schmeichel- und Geburtstags-Gedicht«. Franz Dumont: The Rhineland. In: Otto Dann, John Dinwiddy (Hgg.): Nationalism in the Age of the French Revolution. London, Ronceverte 1988, S. 157-170, hier: S. 157. Reichard 1792, S. 5.

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fe zur Verteidigung des Bestehenden. Die Rhetorik ist nun eindeutig nationalistisch. Im Lob patriotischer Opfer 73 verbindet ein am 9. Januar gedruckter Text noch Elemente des aufgeklärten Patriotismus mit der neuen Sichtweise: Diese Opfer seien »Züge, welche die Menschheit adeln und den deutschen Charakter insbesondere [...]« glänzend darstellen. »Deutsche Bürger, ihr vergeßt eurer Deutschheit nicht, in euch fließt deutsches Blut, das ihr unverdorben von euren Vätern empfinget, eure Herzen stählt deutscher Mut, mit diesem Mute werdet ihr die Schwärme entnervter Franzosen, die nur für Augenblicke durch ihre großen Haufen schreckbar werden können, zu Boden treten [...]«* Am 24. Januar heißt es: »Wir sind Teutsche, wir streiten für die gerechte Sache; der alte Gott lebt noch, er wird uns seinen Segen geben [,..].«75 In den 1790er Jahren noch galt ein Norddeutscher wie Asmus Jacob Carstens in Preußen als Ausländer.76 Minister von Heinitz führte diesen Umstand im Streit um Carstens Akademiezugehörigkeit an. Johann Wilhelm Meil schuf eine Allegorie der Geschichte für den Kupfertitel des »Historisch Genealogischen Calenders« 1790.77 Klio ist umgeben von Fahnen, Helm und Waffen. Die dazugehörige Erklärung lautet: »Das Titelkupfer stellet die Muse der Geschichte vor, welche beschäftigt ist, die Geschichte unsers Vaterlandes zu schreiben und sich mit ihren Gedanken, gleich dem vor ihr aufsteigenden Adler, dem Sinnbilde des Preußisch-Brandenburgischen Hauses in die Sonne erhebt.«78 In Elberfeld schließlich erschien ein »Westphälischer Nationalkalender«.79Auf die Bedeutung des Datums 1806 für den Nationalismus wurde schon hingewiesen. Die nationalistische Bewegung wurde von denjenigen getragen, die auch für staatliche und gesellschaftliche Modernisierung eintraten.80 Nun wurde es als Mangel empfunden, zu sehr auf den eigenen Staat fixiert gewesen zu sein. Konsequent folgte die Forderung, die regionalen Identitäten durch deutsches Nationalgefühl zu ersetzen. Carl Ludwig Fernow etwa schreibt am 30. November 1806: »Fuimus Borussi! Aber nicht Fuimus Germani! - Das werden wir Gott zu Ehren und jedem Erbfeinde unserer Germanität zum Trotz doch bleiben, und diese Wahrheit wird alle unsere Feinde überleben. Unsere Deutschheit sitzt tiefer als in den baufälligen Formen unserer gotischen und chaotischen Verfassung, die nur eben noch notdürftig bestand, weil sie einmal da war, und zu deren Zertrümmerung es nur eines Heldenarmes bedurfte. Wäre ich dessen nicht so innig wie meines eigenen Daseins gewiß, so würde ich trauern um des Deutschen Reiches Untergang, aber Deutschland und, was mehr ist, deutscher Geist, deutsche Bildung, deutsche Sprache, wird nicht untergehen, was für Kalamitäten uns auch noch betreffen mögen.«81 Die Lage sah bis 1813 anders aus. Es kämpften nicht nur Bauern gegen Bauern, Arbeiter gegen Arbeiter und Brüder gegen Brüder, sondern auch Deutsche gegen Deutsche, wegen

73 Die Stifte St. Florian und St. Kastor hatten ihr Kirchensilber gespendet; Zünfte und Landgemeinden hatten sich freiwillig zu den Waffen gemeldet. 74 Hansen III, 1931, S. 13. 75 Ebd., S. 12. 76 Vgl. Fernow 1806, S. 196. 77 Dorn 1928, Nr. 535. 78 Zit. n. Dorn, 1928, S. 276. 79 Westphälischer Nationalkalender. 80 Vgl. Dann 1978a, S. 95-98. 81 Lydia Gerhard: Carl Ludwig Fernow. Leipzig 1908, S. 187, zit. n. Fernow Briefe, S. 23f.

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der verwickelten Bündnispolitik. Daher denn auch Ernst Moritz Arndts Appell im Februar 1813: »Deutsche für Deutsche! Nicht Bayern, nicht Braunschweiger [...] Alles, was sich Deutsche nennen darf - nicht gegeneinander [,..].«82 Auch der Dichter Johann Peter Hebel, Sohn eines Pfälzers, aufgewachsen in Basel und jahrzehntelang tätig in Württemberg und Baden, bezweifelte noch 1817, als »Nationalschriftsteller« für das württembergische Volk geeignet zu sein.83 Für eine kurze Zeit - bis zum Wiener Kongreß - existierte für einige Deutsche dieses Deutschland: »Deutschland. 11 Als noch das deutsche Volk wie ein Kindlein lag in der Wiege, | Da zerriß es mit Kraft Windeln und Wiegenband oft. 11 «84 Auch die Frage der nationalen Grenzen war ästhetisch geprägt. In den Jahren 1813 bis 1815 entspann sich eine Debatte, wie sie faßbar wären und wie die Grenzfrage pädagogisch umgemünzt werden könne. Dem Pädagogen Johann Christoph Friedrich Guts Muths war Deutschland die Gesamtheit der deutschen Staaten. »Das Ganze [ist] der uralte von den Vorvätern angestammte Palast, in dessen Zimmern die Urenkel in vielen blutsverwandten Familien und in biedrer Freundschaft wohnen«.85 Das Reden von »natürlichen« Grenzen kritisierte er als kosmopolitisch. Identifizieren sollten sich die Menschen mit dem Staat, nicht mit der heimatlichen Gegend: »>Weg dahermit dem Wolchonski-, mit dem Harzlande. Es lebe Preußen, es lebe Deutschland1^«86 Weder Zugehörigkeit zur Nation noch daraus erwachsende Pflichten brauchten mehr begründet zu werden: »Fr.: Du liebst dein Vaterland, nicht wahr, mein Sohn? Antw.: Ja, mein Vater; das tu ich. Fr.: Warum liebst du es? Antw.: Weil es mein Vaterland ist. Fr.: Du meinst, weil Gott es gesegnet hat mit vielen Früchten, weil viele schöne Werke der Kunst es schmücken, weil Helden, Staatsmänner und Weise, deren Namen anzuführen kein Ende ist, es verherrlicht haben? Antw.: Nein, mein Vater, du verführst mich.« Der verwunderten Nachfrage des Vaters entgegnet der Sohn schließlich, daß er, in reichere und schönere Länder versetzt, sich immer nach Deutschland sehnen würde - »Weil es mein Vaterland ist.«87 In den Jahren nach den Befreiungskriegen waren Regionalidentitäten ebenfalls noch ausgeprägt. Ein separatistischer Zeitgenosse fragt: »Was wollen denn die neuen Freunde des teutschen Volksthums? Betrachtungen eines Baiern.«88 Zwei Jahre später schließlich bringt ein Satz das Schwanken zwischen nationaler und regionaler Identität auf den Punkt: »Das sächsische Volk voll deutschen Sinnes harrte auf den Wink seines Königs.«89

82 Aufruf an die Deutschen zum gemeinschaftlichen Kampfe gegen die Franzosen. Berlin, Halle 1813, S. 3ff„ zit. n. König 1,1972, S. 97; vgl. ebd., S. 184f. 83 Brief vom 20. Juli an Justinus Kerner, zit. in: Knopf 1981, S. 123. 84 Franz Rud. Hermann, in: Musen-Almanach 1814. 85 Johann Christoph Friedrich Guts Muths: Was müssen Aeltern [...] thun [...]. In: Neue Bibliothek für Pädagogik, Schulwesen und die gesammte neueste pädagogische Literatur Deutschlands (1814/15), Bd. 1, zit. n. Hans-Dietrich Schultz: Deutschlands »natürliche« Grenzen. »Mittellage« und »Mitteleuropa« in der Diskussion der Geographen seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts. In: Geschichte und Gesellschaft 15, Göttingen 1989, S. 248-281, hier: S. 248. 86 Zit. n. ebd., S. 249. 87 Kleist 1940 (1810), S. 5. 88 Allemannia II, 1815, S. 125-144. 89 Historisch Genealogischer Calender, 1817, S. 18.

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Es verwundert angesichts der Zersplitterung der geografisch-politischen Identitäten, daß es vor dem 19. Jahrhundert überhaupt ein deutsches Selbstbild gebeben hat. In einer Fülle von Zeugnissen ist es belegt. Einige Stereotypen haben politischen Sinn. Sie wurden mit einem Ewigkeitsanspruch vorgetragen, der sich in manchen Fällen dadurch entlarvt, daß sich widersprüchliche Bilder ergeben. So stellt August Nitschke fest, »daß die Eigenschaften, die einige Deutsche seit der Zeit der Befreiungskriege bei den Franzosen vermißten, andere Deutsche nur wenige Jahre zuvor bei ihrem eigenen Volke nicht finden konnten.« 90 Nitschke führt dieses Phänomen auf einen Mentalitätswandel in Teilen des deutschen Bürgertums zurück, der Hinwendung zur Empfindsamkeit. Damit verband sich ein gestärktes bürgerliches Selbstbewußtsein. Wer nicht ebenso zu empfinden schien, wurde ausgegrenzt. Das Selbstbild dieser Gruppe wurde verallgemeinert zu dem Image der romantischen Deutschen. Nitschkes Begründung greift in ihrer Monokausalität zu kurz. Denn nicht alle Menschen waren plötzlich empfindsam, nicht alle wurden romantisch, und einige Stereotypen blieben über lange Zeit stabil. In einer Untersuchung über nationale Stereotypen entwarfen die befragten Deutschen folgendes Bild ihres eigenen Nationalcharakters: anspruchsvoll, rekordsüchtig, ruhmsüchtig, eitel. Folgende Eigenschaften galten als undeutsch: unberechenbar, schmutzig, tolerant, diplomatisch, heißblütig. Keine Eigenschaft wurde als indifferent bezeichnet. In einer weniger genauen Auswertung wurden als weitere Eigenschaften genannt: freiheitsliebend, pflichtbewußt, fortschrittlich, kultiviert, tapfer, gründlich, ausdauernd, zuverlässig; als undeutsch: lässig, schwermütig, jähzornig, ungebildet und grausam. 91 Bei der Lektüre derartiger Befunde ist es leicht, sich viele Gegenbeispiele zu vergegenwärtigen, die sich im Bekanntenkreis finden. Obwohl also die alltägliche Erfahrung solche Stereotypen widerlegt, bleiben sie erhalten. Es würde leichtfallen, ihre Geschichte bis auf Tacitus zurückzuverfolgen, soweit sie Deutschland betreffen, aber es genügt, im 18. Jahrhundert anzusetzen. Ein Lexikonartikel aus dem Jahr 1726 bezeichnet die Deutschen als »arbeitsam, aufrichtig, gute Soldaten, standhafft in der religion, welcher sie beypflichten, Liebhaber der music und guter wissenschafften, tapffer und sinnreich. Daneben aber sind sie langsam in ihren rathschlägen, am allermeisten aber werden sie wegen ihrer schwelgerey in übermäßigen essen und zumahl trincken getadelt, als welchem Laster sie mehr als alle anderen nationen ergeben seyn sollen [mit abnehmender Tendenz seit fünfzig Jahren].«92 Immer wieder werden Treue, Tapferkeit und Freiheitsliebe genannt. Herder schreibt, Forstners Tacituskommentar sei »mit so Deutscher Treue und Biederkeit« geschrieben, daß es »ein lehrreiches Buch werden« könne, lehrreich hinsichtlich der Bekanntmachung, daß es überhaupt eine deutsche Geschichte gebe.93 An anderer Stelle beurteilt er sie als kriegerisch seit Tacitus' Zeiten. 94 Im oben zitierten Huldigungsgedicht fügen sich Verachtung des Sklavengeistes, der selbstverleugnend »Tyrannen« dient und das Bild vom Untertanen als »Kind« des väterlichen Herrschers zusammen. Für nationalistisches Denken gehörte diese Triade zum Standardrepertoire.

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Nitschke 1981, S. 243. Nach Günther 1975, S. 79. Iselin IV, 1726, S. 588, »Teutschland«. Herder, Beförderung IY S. 256f. Vgl. Zimmermann 1987, S. 90-148. Herder, Ideen IV 1787-1791, S. 270-277,390f.

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Wo Kritik an den innenpolitischen Zuständen verpönt oder verboten war, war der Blick über die Grenze um so willkommener. Ein Text, der sich mit der Geschichte der elsässisch-pfälzischen Grenze befaßt, bedauert die Bevölkerung der französischen Provinzen, zuerst unter der königlichen Despotie und nun unter der republikanischen gelitten zu haben und zu leiden. Unter deutscher Herrschaft dagegen sei das Elsaß frei gewesen.95 Auch Heinrich Luden96 sieht im Jahr 1808 als grundlegende Eigenschaft der Deutschen ihren Freiheitssinn. Dieser unterscheide sie von den übrigen Völkern.97 Ferner bezeichnet Luden sie: »mit offenem Sinne, reinem Gemüthe, treu, fromm« und patriotisch98; in ihrem Charakter zeigten sich »Geradheit, Ehrlichkeit, Einfalt, Kraft und ein gewisser fester und männlicher Sinn«; auch seien sie tapfer; selbst im Laster seien sie nicht »niedrig«, sondern eher »trotzig« und »plump«99; ihnen fehlten aber »ein fester Volkssinn und die Stärke der Einheit«.100 Infolge ihres mangelnden Nationalbewußtseins hätten sie die französische Fremdherrschaft geduldig hingenommen. Damit führte der Autor einen alten Topos an, der erklären sollte, warum die deutsche Kultur so empfänglich sei für Einflüsse aus anderen Kulturen.101 Ernst Brandes nannte als die drei vorzüglichsten deutschen Charaktereigenschaften: »Bieder, treu, rechtlich, wahr«.102 Außerdem sei Deutschland das kenntnisreichste Land. Wenige Jahre später charakterisierte Friedrich Kohlrausch unter dem Einfluß der Romantik die Deutschen in seiner deutschen Geschichte. Kohlrausch führte die Eigenschaften »Milde«, »Ernst«, »Innigkeit«, »Tiefe« und das »Ahndungsvolle im Gemüte« an.103 Eine Nationalleidenschaft wurde von den genannten Propagandisten ausgelassen: »die Eß- und Trinklust«, welche mit kaiserlichen Erlässen bekämpft worden sei.104 Noch in der Negation war der Gedanke von deutscher Freiheit lebendig. Über die in der Feste Magdeburg vom französischen Militär gefangengehaltenen 'deutschen Krieger' heißt es im Rückblick: »In den Kerkern derselben fanden diejenigen ihre Verwahrungsörter, welche es gewagt hatten, über den Jammer der teutschen Nation zu klagen. So war denn die Freyheit des alten, tapfern, edeln Volks der Germanen untergegangen ...«105 Neben diesen positiven Bewertungen wurde auch Kritik laut. Beispielsweise spricht ein Herr F in einem Schreiben an Herder von der deutschen Sklavenseele.106 Und Resewitz polemisiert über die Versuche nationaler Charakteristiken:

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Magazin 1793. Luden, 1808 nach Jena berufen, hatte seinen gesamten Besitz durch plündernde französische Soldaten verloren. - Dann 1988, S. 184. Luden 1810, S. 55f. Interessanterweise spricht, im 20. Jahrhundert, Charles Péguy den Deutschen diesen gerade ab: »Was sie Freiheit nennen, ist das, was wir eine gute Knechtschaft nennen.« Charles Péguy: Note conjointe sur M. Descartes et la Philosophie Cartésienne. In: Oeuvre en Prose. Paris 1957, S. 1368. Übers, zit. in: Nitschke 1981, S. 247. Luden 1810, S. 5. Ebd., S. 55; passend zu dieser Feststellung bezeichnet ein Autor das »Butterbrodt« als deutsches Nationalgericht. - Demokritisches Taschenbuch 1800,S. 122. Luden 1810, S. 24. Vgl. Schmidt, Geschichte der Deutschen, 9. T, S. 129, zit. in: Herder, Beförderung IX, S. 151. Brandes 1977 (1808), S. 233. Zit. n. Weymar 1961, S. 35. Schlözer's Stats-Anzeigen XVIII, H. 70,1793, S. 409; vgl. eine Anekdote »Patriotismus des Pöbels« in: Patriotisches Archiv y 1786, S. 530f. Klio 1817, S. 86. Herder, Beförderung IX, S. 147f.

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»Nur in einigen Provinzen unterscheidet sich der Deutsche durch Fleiß und Arbeitskraft, in anderen ist er erst durch die französischen Flüchtlinge107 dazu angeregt worden, und in anderen trifft man keine Spur davon. Die gerühmte deutsche Tapferkeit ist nicht allen Deutschen gemein [...]. Die alte deutsche Redlichkeit und Treue pranget vielleicht mehr in Büchern als in Taten [.,.].«108 Tacitus war im 18. Jahrhundert ein gern herangezogener Zeuge. Seine Zivilisationskritik blieb bevorzugter Gegenstand geschichtlicher Betrachtungen, schon im 15. Jahrhundert und unabhängig von der Lektüre Rousseaus. Das Urteil konnte nicht anders als unentschieden bleiben. Schlözer etwa stellt »uns weichliche verfeinerte Deutsche des 18ten Jahrhunderts gegen die rohen Scharen Ariovists und Hermanns. Kaum sollte man glauben, daß diese - ausgeartete oder veredelte? Völker [neben den Deutschen und Germanen vergleicht er auch Italiener und Römer] zunächst aus Einem Stamme sprossen, und Enkel Eines Ahnherrn sind.«109 In einer Ausgabe seiner »Humanitätsbriefe« wollte Herder ein Gedicht veröffentlichen, das widersprüchliche Charakterisierungen des »Deutschen« artikuliert. Bezeichnenderweise wurde es noch nach dem Druck aus dem Band entfernt. Mit bald zwanzig Jahren Verspätung erschien es im Hartknoch-Verlag 1812 unter dem Titel »Der deutsche Nationalruhm«.110 Insbesondere kritisiert Herder die Unwirtlichkeit des Landes für Wissenschaften und Künste. Außerdem besäßen die Deutschen keine Zivilcourage. »Hündisch-treu«, ließen sich die männlichen Untertanen als Söldner verkaufen. Ruhm könne sich eine Nation erwerben durch Unschuld (Verzicht auf Angriffskriege), Mäßigung (Toleranz, beispielsweise religiöse) und Weisheit (Aufrichtigkeit, Gerechtigkeit). Persönliche Verdienste (z. B. eines Shakespeare) gehörten der Menschheit, nicht einer Nation. Als Viertes nennt Herder die Tugend der Tat, genauer gesagt der humanitären (also jeden Beitrag zur Verbesserung der Gesellschaft und der Lebensverhältnisse der Bevölkerung). Als höchste Tugend schließlich, »nützende Verborgenheit« genannt, gelte die unbedingte Vaterlandsliebe. Selbst wer im fremden Land höher geschätzt werde als daheim und wer ins Exil oder zum Auswandern gezwungen werde solle Deutschland lieben, seine Stärken und Schwächen. Herder wechselt im Text die Ebene. Anfangs spricht er von allgemeinen Tugenden, welchen eine Nation als ganze nacheifern könne. Seine Erörterung der Vaterlandsliebe spricht dagegen das Verhältnis des Einzelnen zur Nation an.111 Zweifellos fiel Herders Urteil über die deutsche Nation so pessimistisch aus, weil ihm das französische Vorbild gezeigt hatte, daß kollektiv geübte Civilcourage nationale Einigung und Durchsetzung bürgerlicher Tugenden bewirken kann. Gleichzeitig drückte er sein Mißtrauen gegen Ehrgeiz und Ruhmsucht aus. Patriotismus sollte auf Rhetorik und öffentliche Ehrungen verzichten. Wohlfahrt war wichtiger als Ruhmerwerb.112 Mit einer kaum merklichen Verschiebung erhält Herders Auffassung vom Wert des Patriotismus in dem Gedicht eines anderen Verfassers ideologischen Gehalt: »Heiß für sein Vaterland, für seine Nation | voll edlen Stolzes brennen, glühen, | dem heimischen Talent nicht den gerechten Lohn | nicht Schutz, Aufmunt'rung nicht entziehen | 107 108 109 110 111

Gemeint sind die Réfugiés, nicht die Emigrés. Resewitz 1954 (1786), S. 50. Schlözer 1772, S. 5f. Herder, Beförderung IX, S. 208-216. Patriotismus wird gleichgesetzt mit Einsatz für die Volkswohlfahrt: auch bei Villaume 1954 (1793), S. 112; durchgehend im Patriotischen Archiv, vgl. die Dokumentation zweier 'Volkskatechismen' im Neuen Patriotischen Archiv 1,1792, S. 309-402. 112 Dann 1989, S. 217-223.

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war immer ehrenvoll; und seines Landes Ruhm | mehr als den Ruhm des Auslands lieben, | Stets edler Völker Eigenthum. | Die Ihr der heimischen Thalia treu geblieben, | der Ruhm ist Eur'! ihr liebt das Vaterland, | Ihr schütztet teutsche Kunst, daß sie nicht ganz verlassen | von ihren alten Freunden stand. Dank für die dargebotne Hand!] Laßt, Teutschgesinnte! sie mich fassen! Liebt ferner euer Vaterland! [...]«113 Bemerkenswert ist die Situation: eine Schaubühne, dessen Direktor am Ende der Spielzeit dem Publikum schmeichelt, damit es in der nächsten Saison wiederkomme. Er wirbt nicht mit der Qualität seiner Produktionen und ebensowenig mit dem Appell an den Kunstverstand des Publikums. Er spricht etwas an, das mit dem Theater ebensowenig zusammenhängt wie mit irgendeiner anderen Sache und deshalb zu allem paßt: das Nationalgefühl.114 Ein weiteres Beispiel für das Eindringen nationaler Stimmung ins Theater ist ein Gedicht auf die Theaterleiter und Schauspieler Ettard gen. Koch und Iffland: »Vertilgt sie, die Despoten der Gefühle! | so lange noch der Männer mächtge Hand | Compas und Ruder lenkt, im Schiff der Lebensziele, | giebt es noch deutsche Kunst - und noch ein Vaterland! [...j«11^ Daß der künstlerische Ruhm im eigenen Land soviel mehr gilt als der auswärtige, bleibt ein stetes Moment: »Gessner wurde berühmt, weil er bey zwey Völkern zuerst mit Diderot auftrat; Klopstock, weil man das Lob der ersten Gesänge des Messias zuerst in ausländischen Journalen las. Beyde verschollen fast wieder. Was ein Volk nicht frey, aus sich, bewundert, das gehört ihm nicht ganz an.«116 Bereits 1762 kritisierte Christian Ludwig Hagedorn eine »neue Denkungsart« der »Kunstrichter«, den Nationalstolz.« »Die Natur rühret ihn vielleicht in einem Gemähide, aber nicht zum äusserlichen Beyfall, so lange er nicht weis, aus welchem Lande der Künstler gebürtig war, und ob das Land die Ehre und die Kunst die Erlaubnis habe, ihm zu gefallen.« - »Der Nationalstolz ist nicht so gar einig mit sich selbst. Der Begriff des Vaterlandes erweitert sich, je entfernter der Feind ist, den er bekriegt. Hat er nur mit Ausländern zu thun, so kämpft er für eine ganze Nation: er zieht aber blos für seine Provinz zu Felde, wenn ein Krieg in seinen Staaten entsteht, und endlich streitet er gar nur für seine Person, wenn die Eigenliebe ins Spiel kömmt.«117 Zweifellos hängt diese Äußerung mit der Gegenwart des Siebenjährigen Krieges zusammen. Im Kern der Aussage aber steckt Wurm die ebenso gültige wie hinderliche Vorliebe für Nationalstile. Schon 1744 hatte Harms in einem Brief an Hagedorn geklagt: »und warum sollte ein Deutscher nicht sowohl, als andere Nationen, etwas Gutes zu machen fähig seyn, wenn ihnen nur nicht guten Theils die Subsidia fehlten [...]«.118

113 Epilog auf der Schröderschen Bühne zu Hamburg am Schlüsse des Theaterjahrs Ostern 1795, nach der Vorstellung von der unglücklichen Ehe gesprochen von Schröder. In: Taschenbuch für's Theater, S. 25f. 114 Über die Ansätze zu einem »Nationaltheater« seit den 1770er Jahren vgl. Monika Steinhauser: »Sprechende Architektur«. Das französische und deutsche Theater als Institution und monument public (1760-1840). In: Jürgen Kocka (Hg.), Ute Frevert (Mitarb.): Bürgertum im 19. Jahrhundert. Deutschland im europäischen Vergleich. München 1988, S. 287-333, hier: S. 299-301. 115 Taschenbuch für's Theater, S. 31. 116 Jason 1810, S. 16. 117 Hagedorn 1762, S. 56f. 118 Brief vom 28.8.1744, in: Hagedorn 1797, S. 176.

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Dreißig Jahre später hatte sich wenig gerändert. Ein Hamburger Bürger beklagte sich über die Erfolglosigkeit einer Initiative zur Förderung der »Vaterländischen Künstler«. Noch immer würden ausländische Künstler vorgezogen.119 Und die Rezension einer »Sammlung der Ruinen und Ritterburgen des Frankenlandes« in sechs Kupfern (Nürnberg: Küfner 1803) läßt den Rezensenten Z. seufzen: »Es ist zu wünschen, daß wir, die wir oft die unbedeutendsten Bildchen aus England und Italien ubermäßig bezahlen, endlich einmal guten Willen zeigen, unsre eigenen Reich thümer für einen wohlfeilen Preis kennen zu lernen.«120 Es ist dieselbe Klage, die später in einem Gedicht geführt wurde: »Fremder Völker Sprache, Tand und Sitten | Schätzt' und liebte stets der Deutsche sehr. | Heimisch Gut war nie bei uns gelitten; | Darum lebt bis heut - sogar in Hütten - 1 Noch das Hohnwort: Das ist nicht weit her! | Wir verschmähen unser Eigenthum, | Und von auswärts kam kein Heil, kein Ruhm. 11 « m Kristallisationskern der nationalen Identität war die deutsche Sprache.122 Eine 1748 gegründete »Deutsche Gesellschaft« machte sich ihre Pflege zur Aufgabe. Die Mitglieder sollten fremdsprachige und mundartliche Einflüsse bekämpfen und unter anderem die vaterländische Geschichte pflegen.123 Damit einher ging die »avantgardistische« Unterstützung der modernen Philosophie, wie sie einst von Leibniz, nunmehr von englischen und Göttinger Philosophen betrieben wurde, gegen Scholastik und Aristotelismus. Die Gesellschaft kam mit der städtischen Oberschicht in Konflikt. Der Verein bestand hauptsächlich aus Theologen und Theologiestudenten sowie Juristen, in geringerer Zahl auch aus Kaufleuten und Kapitänen.124 Die deutsche Sprache steht auch für Herder im Mittelpunkt; sie sei »von den ältesten Zeiten an, die wir kennen, [...] unvermischt mit andern erhalten [...]«, so wie die Nation »auch selbst unüberwunden von andern Völkern geblieben und mit ihren Wanderungen vielmehr auch ihre Sprache weit umher in Europa angepflanzt hat.«125 Sprache ist für ihn mehr als ein Kommunikationsmittel. Ihr Entwicklungsstand zeigt den Kultivierungsgrad des betreffenden Volkes an. Zwischen 1806 und 1815 schließlich wurde die Behandlung der »Muttersprache« in enormem Umfang nationalpolitisch diskutiert.126 Ernst Brandes schreibt 1808 gar: »Das gemeinsamste Eigenthum und Heiligthum der Nation ist die Sprache.«127 So verwundert es nicht, daß bei einer Feier anläßlich des Einmarsches der alliierten Truppen 1814 ein »Hanseat« deklamiert: »[...] Ja, ja, befreiet ist die Stadt, erobert wieder Freiheit, Vaterland! Und Deutsche Sprache, Deutsche Sitte und alles Würdige aus Unserer Väter Zeit - es wohnet wiederum in unsrer Mitte.«128 119 120 121 122 123 125 126 127 128

N.N., Zustand 1799, S. 100. ALZ, Nr. 9,11.1.1804, S. 70-72. Langbein: Kein Epigramm, aber Wahrheit. In: Almanach und Taschenbuch 1812, S. 50. Hagen Schulze: Die deutsche Nationalbewegung bis zur Reichsgründung. In: Büsch/ Sheehan 1985, S. 84-117, hier: S. 88. Vgl. Engelsing 1974, S. 119. 124 Ebd., S. 110-112. Herder, Institut, S. 604. Vgl. Otto Dann: Herder und die deutsche Bewegung. In: Gerhard Sauder (Hg.): Johann Gottfried Herder 1744-1803. Hamburg 1987, S. 308-340, hier: S. 318f. Vgl. König 1,1972, S. 112-122,126-138. Brandes 1977 (1808), S. 1. Schmidt 1814, S. 37.

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Sprachpolitik umfaßt alle Versuche, die eigene Nationalsprache aufzuwerten, zu purifizieren oder ihren Wirkungsbereich auszudehnen. Als negatives Mittel kann sie eine fremde Sprache bzw. durch Verballhornung ihre Sprecherinnen bzw. Sprecher verächtlich machen. Ein anonymes Kriegslied aus dem Jahr 1756 greift das aus Bildsatiren bekannte Schema auf, das die Herrscher und Herrscherinnen auftreten läßt. Zur Kennzeichnung des Lieblingsfeindes des borussophilen Autors bedient es sich sprachlicher Eigenheiten (»Ich fürcht mir nik sähr«, »He foudre, diable, vite, vite! | Ik förcht, er halt mir still nit, | Lauft wie ein Has hinweck [...]«). Die angenommene preußische Überlegenheit beruft sich auf das angeblich untüchtige Wesen der Franzosen: »Friederikus, der schaut den Hahnen an, | Weil er so stolz prangiren kann | Drauf klopft er man blos auf die Hos, [ Da schweiget der freche Hahne, | / : Reißt aus Mosje Franzos. :«129 Wenig später bedient sich Chodowiecki dieses Mittels in der Legende eines satirischen Blattes auf die »Ankumft die Frantzosen in Teütsch Land«. Das falsche Deutsch persifliert in diesem Fall nicht nur französisches Unvermögen, sondern soll darüber hinaus die fingierte englische Abkunft des Bildes bekräftigen.130 Der Künstler scheint sich eines damals beliebten Scherzes bedient zu haben, denn eine gleichzeitige Flugschrift trug den Titel: »Relation vom Kriek in kute Deutscheland die swar schon albe Welt iß fort bien bekannt, doch ats da Teuf iß kahr mit helle Lüge los nach Wahreit proponir ein arme Deutschfranzos.«131 Obwohl die französische Sprache, die sich mit Herders Worten durch »Glanz und Biegsamkeit«132 auszeichnet, in Deutschland zum Bildungskanon zählte, diente sie auch karikierenden Zwecken und war auch Gegenstand puristischer Sprachkritik. In einem Gedicht werden einige Neologismen vorgestellt, die neu in die deutsche Umgangssprache eingegangen waren. Punsch heiße »Eau de vie brülee«, Tee »gloria«; es gebe »Poularden« und »TricolorKokarden«. Den Abschluß bildet der Küchenzettel mit einer Pastete »ä la [General] Kellermann«.133 Das Französische bezeichnete schließlich Heinrich Luden als die »schlechteste« aller Sprachen.134 Der von ihm angeschlagene Ton ist nur ein Beispiel für das von Winkler prägnant formulierte Ergebnis nationalistischer Sprachenpolitik: »[...] daß aus der besonderen Intensität der Kommunikationskanäle, die für die Nation geradezu konstitutiv ist, ein Unvermögen wird, andere Völker zu verstehen.«135 Wie gesehen, brachte die Beschäftigung mit dem nationalcharakteristischen Wert der deutschen Sprache eine neue Grenzziehung mit sich. Sprachen wurden verglichen, um im Extremfall die Überlegenheit der eigenen herausstreichen zu können. Und wenn ein solches Urteil nicht möglich war, bot der Befund immerhin die Erklärungsmöglichkeit, daß die eigene Sprache überfremdet sei. Wieder war es Herder, der in Vorwegnähme der These von

129 Anonym, »Zwei Kaiser, drei König beisammen war'n«. In: Epochen 1976, S. 278f. 130 »The Coming of the French in Germany«. Um 1757 (Bauer 1982, Nr.l). Vgl. aber eine in diesem Sinn gehaltene Arbeit Chodowieckis aus dem gleichen Zeitraum (Bauer 1982, Nr.2). 131 Dresden 1757. Berlin: SB: Y14960. 132 Herder, Institut, S. 605. 133 Dr. W...: Was doch der Krieg nicht ändern kann! Eine Schnurre. In: Bergisches Taschenbuch 1798, S. 40-47, hier: S. 45f. 134 Luden 1810, S. 93. 135 Heinrich August Winkler: Der Nationalismus und seine Funktionen. In: Winkler 1985, S. 5-46, hier: S. 27.

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der »kulturellen Hegemonie« (Antonio Gramsci) das Problem allgemeingeschichtlich erkannte: »Die Geschichte zeigt, daß alle herrschende Völker der Weltperioden nicht durch Waffen allein, sondern vielmehr durch Verstand, Kunst und durch eine ausgebildetere Sprache, über andre Völker oft Jahrtausende hin geherrschet haben, ja daß selbst wenn ihre politische Macht verfallen war, das ausgebildete Werkzeug ihrer Gedanken und Einrichtungen andern Nationen als ein Vorbild und Heiligthum werth geblieben.«136 In der Neuzeit hätten zuerst die spanische, dann die französische Sprache ihre Eignung als politischer Faktor bewiesen. Weil die deutsche Nation noch keinen sicheren Geschmack entwickelt habe, schlägt Herder die Gründung einer von Parteiinteressen unabhängigen, reichsweiten »Teutschen Akademie« vor. Sie solle sich der Sprachpflege, Geschichte und »thätigen Philosophie« widmen. Herders Absicht, die deutsche Sprache und Kultur überhaupt zu fördern, beruhte noch auf der Vorstellung, daß die Menschheit durch das Mit- und Nebeneinander verschiedener nationaler Kulturen bereichert werden würde. Zur gleichen Zeit mündete die traditionelle Kritik an der höfischen Lebensweise in kulturell begründete Ablehnung des Französischen. Ausführlich wird der Kampf gegen die »Gallomanie« im Abschnitt über das Frankreichbild beschrieben. Um so schmerzlicher wirkte die Dominanz Frankreichs zwischen 1806 und 1813. Sogar die Furcht wurde laut, daß Deutschland sich in der französischen Kultur verlieren könnte: »Die Posidonier, ein Volk griechischen Ursprungs, welches unter die Bothmäßigkeit der Römer gerathen war, versammelten sich an gewissen Festtagen, erinnerten sich ihres ehemaligen Namens und ihrer alten Gebräuche, klagten über den Verlust derselben, und schieden unter Thränen von einander.«137 Im gleichen Sinn wurde der Dreißigjährige Krieg als Tiefpunkt der nationalen Geschichte bezeichnet, weil Deutschland »Fremdlingen« seine Grenzen geöffnet hatte.138 Im 19. Jahrhundert zeigte sich, daß kulturelles Nationalgefühl trotz aller erzieherischen Versuche im deutschen Bürgertum nicht stark ausgeprägt war, wie Heinrich Rump 1817 feststellte. Gelesen würden nur Neuerscheinungen der letzten Messe, ohne sich um die Nationalliteratur bewußt zu kümmern, während sich die Franzosen an Corneille und die Engländer an Shakespeare hielten.139 Seine Klage kommt ihm so bitter, weil Literatur damals »sich in Haus und Kontor unmittelbar« auswirkte.140 Obwohl nationale Gemeinsamkeiten am ehesten in der Kultur gesehen wurden, führt der Begriff »Kulturnation« (Friedrich Meinecke) in die Irre. Erstens konnten die nationalen Gemeinsamkeiten nicht die regionalen Bezüge dominieren. Zwei weitere Einwände erhebt Otto Dann: Der Begriff suggerierte, die deutsche Nation sei kulturell geprägt, obwohl die Kultur nie die einzige Grundlage dazu gebildet habe; außerdem enthalte er einen unzulässigen Übergriff auf die Nachbarn (z. B. Schweiz) und somit eine »großdeutsche Tendenz«.141

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Herder, Institut, S. 604. N.N.: Patriotismus. In: Iris 1808, S. 227. Luden 1810, S. 88. Engelsing 1974, S. 253f. Ebd., S. 254f. Otto Dann: Begriffe und Typen des Nationalen in der frühen Neuzeit. In: Giesen 1991, S. 56-73, hier: S. 72f.

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D e u t s c h e Geschichte Nachdem die wachsende Bedeutung der Geschichte und des Nationalgefühls aufgezeigt wurde, soll nun ihre Kombination betrachtet werden. Bereits im 16. und 17. Jahrhundert war der Deutsche Michel eine geläufige Figur.142 Er symbolisierte ein Deutschland, dessen Konturen kaum existierten, er war ein Name ohne Gestalt und Geschichte. Erste Ansätze nationaler Geschichtsschreibung während des Humanismus fanden keine Fortsetzung. Johann Christoph Gatterer publizierte daher 1767 »... zufällige Gedanken über die teutsche Geschichte«, in denen er das Fehlen einer »vaterländischen Geschichte« beklagte.143 Im Zeitraum zwischen 1750 und 1790 erlebte sie ihre Geburt und erste Blüte. Klopstock befaßte sich jahrelang (etwa von 1750 bis 1787/ 88) mit Plänen zu einer vaterländischen Geschichtsschreibung, um sie letztlich nicht zu realisieren. Aber andere (Schrökh, Westenrieder usw.) gingen ans Werk.144 Und in derselben Zeit, als Winckelmann das antiquarische Interesse neu belebte, stellten Literatur145 und Kunst in Deutschland allmählich ihren Themenkanon um. Aber noch 1793 beklagte Knigge den Mangel an nationalen Stoffen, den er mit der Zersplitterung Deutschlands in »hundert Natiönchen« erklärte.146 Nach Klopstocks Vorstellungen sollte gemeinsames Geschichtsbewußtsein die Tradition der »Gelehrtenrepublik« (Gleichheit und Gemeinschaft) nunmehr national zu organisieren helfen.147 Seine Absicht war ein Gesellschaftsmodell, das, an jene anknüpfend, das absolutistische System widerlegen konnte. Kern des Geschichtsbewußtsein ist die »Idee der altgermanischen Freiheit«, die er als einer der Wenigen konkret interpretierte.148 Auch wenn die genannten Autoren die gesamte deutsche Geschichte in ihren Werken berücksichtigten, galt die Aufmerksamkeit vor allem einer Figur, die im folgenden deshalb besonders betrachtet wird. Am Anfang der Auferstehung Hermanns des Cheruskers stehen das Drama »Hermann« von Johann Elias Schlegel (1743) und Christoph Otto Freiherr von Schönaichs »Hermann oder das befreyte Deutschland«. In einer zehnseitigen Widmung Gottscheds an den Landgrafen Wilhelm zu Hessen-Kassel wird deutlich, daß der Germane weniger als nationaler Held, sondern in erster Linie als ein Fürst gesehen wird. Aufgrund dieser Deutung bereitete es keine Schwierigkeit, im An VII (1797/ 98) in Paris eine französische Übersetzung der Epopöe zu verlegen.149 Klopstocks Ode »Hermann und Thusnelda« wurde 1753 anonym veröffentlicht.150 Thusnelda beschreibt mit erotischer Sinnlichkeit den von der Schlacht im Teutoburger Wald heimkehrenden Hermann: »Ha! da kömmt er mit Schweiß, mit Römerblute, | Mit dem Staube der Schlacht bedeckt! So schön war | Hermann niemals! So hats ihm | Noch nicht vom Auge geflammt! 11 Komm! Ich bebe vor Lust! [...]«

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Patriotisches Archiv XII, 1790, S. 337-390; Ausstkat. Coburg 1983, Nr. 134. Historische Bibliothek II, 1767, S. 23, zit. n. Salzbrunn 1968, S. 36. Zimmermann 1987, S. 156-165 Ueding 1987, S. 190-199 und 268-273. Zit. n. ebd., S. 190. Zimmermann 1987, S. 282f. Ebd., S. 292; gewöhnlich wurden politische und soziale Vorstellungen im Zusammenhang mit der 'deutschen Freiheit' vermieden. 149 Vgl. Ueding 1987, S. 190. Schönaichs Erstausgabe: Leipzig: Breitkopf 1751, mit Frontispiz von Johann Christoph Sysang nach Anna Maria Wernerin; die 2. Auflage (Schönaich 1753) wurde um 12 Kupfer von Sysang nach Gottlieb Lebrecht Crusius und 6 Vignetten von Johann Martin Bernigeroth erweitert. - Lanckoronska/ Oehler 1,1932, S. 64f., Abb. 50f. 150 Epochen 1976, S. 264; schon früher war über Hermann geschrieben worden, vgl. Iselin 1,1726, S. 257.

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Das Gedicht ist eine Historie, dessen einziger Zusammenhang mit nationalen Ideen in der Stoffauswahl besteht. Kein Wort weist auf Patriotismus oder Deutschland hin. Es beschreibt hauptsächlich die erotische Faszination, welche der siegreiche Held verströmt. Diese sinnliche Beziehung zum Krieg ist unerhört genug und unterscheidet sich deshalb auch erheblich von Klopstocks »Kriegslied, zur Nachahmung des alten Liedes von der ChevyChase-Jagd«151 (1749). Seine drei Hermannsdramen tendieren stärker zum Nationalgedanken.'52 Klopstock, der vom Gedanken des Nationalcharakters sehr eingenommen war, übertrug diesen auf die Ästhetik: »Ein Nationalgedicht interessiert die Nation, die es angeht.«153 Er gestaltete Stoffe, in denen ursprüngliche Eigenschaften der Deutschen zur Sprache kamen, und geschrieben wurden sie für Deutsche. Seine Hermannsdramen erweisen sich bei größtmöglicher historischer Treue »zugleich als Verkörperungen neuzeitlicher Denkinhalte. Die Germanen handeln und denken in moralisch-politischen Überzeugungen, die für das Bürgertum des 18. Jahrhunderts gleichermaßen verbindlich sind.«154 Deshalb galt die Bardendichtung als »entschiedenes antihöfisches Bekenntnis«.155 Auch in Grevenitz' Dichtung »Brennus« wird ein moralischer und zeitkritischer Anspruch deutlich.156 Hermann der Cherusker wurde so populär, daß Schubart ihn zum Ahnen und Patron seiner Familie ernannte. Nach der Geburt seines zweiten Kindes schrieb er seinen Eltern: »[...] An Kindern fehlt es mir also nicht, aber - an Brod. Doch >Beschert Gott den Haasen,l Beschert er auch den Waasen< sagt ein ächter Sohn unsers Stammvaters Herrmann's. [-]«157

Was bei Schubart Hermannophilie war, wurde in der demokratischen Publizistik zum politischen Argument. Die Deutschen sollten wie die Ahnen sich erheben - statt gegen die römische Armee gegen der »Willkür Thronen«.158 Schon 1790 begründete Ernst Ludwig Posselt die Herausgabe eines »Archivs für [...] Teutsche Geschichte« damit, daß umfassende Kenntnis des Zustandes und der Geschichte des Landes die Vaterlandsliebe festigen werde.159 Daß er darunter politische Partizipation des Volkes verstand, hatte er auf den vorhergehenden Seiten klar gesagt. Andreas Georg Friedrich Rebmann folgte diesem aufklärerischen Impetus, den er sogar in eine Symbolik einband, die er der gegnerischen Propaganda streitig machte: »Mitten unter diesen Gräueln zeigt man uns Hermanns Bild, der einst in seinen Wäldern für Freiheit kämpfte, und fordert uns auf, unsre deutsche Freiheit, d. h. Jagdhunde, Sklavenhandel etc., zu verteidigen [.,.].«160 151 Epochen 1976, S. 238f. 152 Klopstock wählte als Gattungsbegriff »Bardiet«: »Hermanns Schlacht« (1769), »Hermann und die Fürsten« (1784) und »Hermanns Tod« (1787). 153 Zit. n.Ueding 1987, S. 191. 154 Harro Zimmermann: Geschichte und Despotie. Zum politischen Gehalt der Hermannsdramen F G. Klopstocks. In: Heinz Ludwig Arnold (Hg.): Friedrich Gottlieb Klopstock (Text + Kritik, Sonderband), München 1981, S. 97-121, hier: S. 118. 155 Zimmermann 1987, S. 3, in Anlehnung an Schubart, Herder und Moser. 156 Grevenitz 1781. Die Kupfer sind von Rasp (Frontispiz), Christian Friedrich Stoelzel und Ephraim Gottlieb Krüger. 157 Anfang 1864, zit. in: David Friedrich Strauß: Nachlese zu Schubart. In: Strauß 1862, S. 431. 158 Schildwache 1797, S. 46-52, hier: S. 47, zit. n. Voegt 1955, S. 97. 159 Archiv 1,1790, S. XIV 160 Schildwache 1797, zit. n. Voegt 1955, S. 97.

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III. Öffentliche

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Ein Aufruf zur Wiedererrichtung der Mainzer Republik aus dem Jahr 1795 endet mit den Worten: »Unsere Väter, meine Brüder, sind an ihr Hauswesen gebunden und können zu ihrem Besten nichts wagen - aber wir Jünglinge, wir sind frei - wir können ausziehen, um mit den Waffen in der Hand, in Verbrüderung mit republikanischen Heeren wiederzukommen und Freiheit mitzubringen für die schönen Gefilde unseres guten Vaterlandes - [...] eilt zum Sammelplatze, deutsche Jünglinge - Hermanns Söhne soll unser Losungswort sein.«161 Voller Stolz verwahrten die Urheber der Schrift Fragmente einer Fahne aus dem Bauernkrieg.162 Gegenüber der Germanenmode standen weitere literarische Themen im Schatten, etwa die Aufzeichnung der alten »Völksdichtung« nach Art des Ossian. Die erste Gesamtausgabe des Nibelungenlieds erschien zwischen 1782 und 1784. Nur Johann Heinrich Füssli, angeregt vom Entdecker des ersten Manuskripts, Johann Jacob Bodmer, wählte es als Gegenstand.163 Friedrich Gräter beabsichtigte mit der Gründung der Zeitschrift »Bragur« die Verbindung der nordischen Vorzeit mit der deutschen Geschichte und Gegenwart, »auf deren Grund schon die Titelvignette hindeutet«. 164 Diese, von Dornheim gezeichnet und gestochen, zeigt »Werdomars Traum«, den Gräter im selben Band abhandelt. Werdomar wird ins Totenreich auf den Gothenberg versetzt, wo die nordischen Sänger sitzen; dort trifft er den Minnesänger Hesso von Rinach, mit dem er auf Wanderschaft geht (ein Anklang an Dantes »Göttliche Komödie«?). In der wachsenden nationalen Depression wuchs das Ansehen Hermanns. Während der Friedensverhandlungen in Rastatt wurde ein Artikel »Hermann der Uiberwinder des Varus« veröffentlicht. 165 Er behandelt »Das Leben Hermanns, eines keruskischen Fürsten, dem Teutschland es zu danken hat, daß es ein von den Römern unabhängiger Staat blieb.«166 Andere Stimmen nahmen den Cherusker als Gegenbild der schwachen Deutschen. 167 Ein Gedicht »An Hermann den Cherusker« im Jahrgang 1812 des Taschenbuchs »Alruna« preist die freien Vorfahren, die mit den »Sklavenseelen« der jetzt lebenden Deutschen nicht verglichen werden könnte. 168 In einem Festspiel zum Lobe der Hanseatischen Legion schwärmt eine junge Frau von Hermann, weil dieser sein Vaterland mehr geliebt habe als seine Geliebte.169 Schließlich sei daran erinnert, daß nicht die Romantik das Mittelalter als Bezugszeit entdeckte. Schon als Erzherzog liebte Kaiser Franz II. das Ritterzeitalter. »Die Sehnsucht nach dem Mittelalter als verklärter Zeit religiöser und politischer Einheit prägte die Ge161 Zit. n. Scheel 1971, S. 156f. 162 Ebd., S. 157. 163 Vgl. Klaus Lankheit: Nibelungen-Illustrationen der Romantik. Zur Säkularisierung christlicher Bildformen im 19. Jahrhundert. In: Zeitschrift für Kunstgeschichte, Bd. % 1953, S. 95-112, hier: S. 96-100; Ulrich Schulte-Wülwer: Das Nibelungenlied in der deutschen Kunst des 19. und 20. Jahrhunderts. (Kunstwissenschaftliche Untersuchungen des Ulmer Vereins, 9), Gießen 1980; Das Nibelungenlied. In den Augen der Künstler vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Von Jörg Kastner. Ausstkat. Staatliche Bibliothek, Passau 1986. 164 Bragur 1791, Vorbericht. 165 Rastatter Congreß Taschenbuch, S. 1-36. 166 Ebd., Vorrede, S. II. 167 Vgl. J.W Archenholz in: Minerva 1,1799, S. 570. 168 Alruna, 1812, S. 113-118. 169 Schmidt 1814, S. 36.

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dankenwelt des Erzherzogs.«170 Auf Schloß Laxenburg bei Wien veranstaltete er Ritterfeste und -turniere. Er ließ nicht nur ein »Carroussel« für Reiterkämpfe errichten, sondern gestaltete allmählich einen Teil des Schloßparks zu einer Erlebniszone. Sein »Rittergau« war vielleicht der Prototyp von Disneyland. Im Verlag Löschenkohl erschienen Drucke zum ritterlichen Treiben in Laxenburg.171 b) Zweierlei Nation: Frankreich in deutscher Sicht Eine Untersuchung unter Deutschen Anfang der 1970er Jahre erbrachte einen Katalog der Stereotypen über Frankreich (und acht weitere Nationen). Zum Französischsein gehören danach folgende Eigenschaften: Nationalstolz, modisch, stolz, eitel, leichtlebig, ruhmsüchtig. Folgende Eigenschaften seien unfranzösisch: unberechenbar, schwermütig, derb, zuverlässig, treu, ausdauernd, gründlich. Als indifferent eingestuft wurden: kinderliebend, rekordsüchtig, verweichlicht, körperliche Arbeit scheuend, mißtrauisch. In einer weniger genauen Auswertung wurden als weitere Eigenschaften genannt: charmant, freiheitsliebend, höflich, lebhaft, schönheitsliebend, traditionsgebunden; als unfranzösisch: jähzornig, stur, grausam und spießig.172 Einige dieser Stereotypen sind schon mehrere Jahrhunderte alt, ein Indiz für ihre geringe Veränderbarkeit. Seit dem 16. Jahrhundert, als die Feindschaft zwischen Kaiser Karl V und dem französischen König Franz I. Kriegszüge veranlaßte, war das Verhältnis beider Reiche unfriedlich.173 Zuerst belegt ist das Wort »Erbfeindschaft« als Äußerung von Kaiser Maximilian I. auf dem Reichstag von Lindau 1507.™ Frankreich taucht bereits in der Publizistik des 17. Jahrhunderts als der »Erbfeind« im Westen auf.175 Derartige Äußerungen repräsentieren selbstverständlich keinen allgemeinen Konsens. Sie waren abhängig von aktuellen und individuellen Gegebenheiten. Daß sie geäußert wurden, bedeutet andererseits das Vorhandensein von Tendenzen. In deutschen Texten des 18. Jahrhunderts wird die französische Nation allerdings kaum so günstig beschrieben wie in dem schweizer Lexikon Iselins (1726): »Die Frantzosen sind arbeitsam, erzeigen sich gegen die fremden sehr höflich, sind dabey hitzig und zum Kriege geneigt, können aber nicht viel verdrüßlichkeiten ausstehen. Ihr geist ist mehrentheils lustig [...]« ferner philosophieren sie gerne, sind wollüstig, unbeständig (besonders in der Kleidung) und spottlustig. Schließlich rechnet der Artikel das französische Volk »ursprünglich« zur 'deutschen Nation'.176 Die Verbindungen zwischen Deutschen und dem französischen Volk waren sehr vielfältig. Mitten im Siebenjährigen Krieg redete in Berlin ein Franzose, Premontval, über den französischen Kulturtransfer (Gallicomanie, Franzosen-Sucht) nach Deutschland. Und während preußische und französische Truppen einander niedermetzeln, äußert er:

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Witzmann 1978, S. 100. Abb. ebd., S. 101 und 103. Nach Günther 1975, S. 79; vgl. Trouillet 1981, S. 9ff. Erhard Schön, »Eyn wunderliche Historij, von einem Ritter auß Franckreich«. Holzschnitt. 1536?. Flugblatt. Text von Hans Sachs. - Abb. (ohne Text) Ausstkat. Nürnberg 1976, Nr. 167. 174 Trouillet 1981, S. 39; vgl. Jeismann 1992, S. 87f. 175 Aus einer Meßrelation von 1693. Zit. n. Ernst Quentin: Die Leipziger Meßrelationen. Ein Beitrag zur Geschichte des ältesten deutschen Zeitungswesens. Diss. Leipzig 1941, S. 97 und 95f. 176 Iselin II, 1726, S. 353.

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»Auch giebt es drittens keine Rivalität und Eifersucht zwischen beiden Völkern. Nie haben sie so lange, grausame, und große Angelegenheiten betreffende Kriege gegen einander geführt, als z. B. Frankreich mit England und Spanien. Dazu kommt viertens, daß unsre Armeen, entweder als Freunde oder als Feinde zu verschiednen Zeiten in alle Theile von Deutschland gedrungen sind und die Völker mit unsern Gebräuchen und mit unsrer Sprache bekannt gemacht haben.«177 Premontval hatte mit der ersten Bemerkung vermutlich politische Strategien im Sinn, zu denen die Eroberung des Elsaß und die Verwüstung der Pfalz nicht zählten. Eine kulturvermittelnde Funktion des Militärs zu behaupten, ist, wie schon gesehen und im weiteren noch mehrfach zu sehen, eine gängige Vorstellung im 18. Jahrhundert. Mit seinem Hinweis auf die Sprache nennt Premontval ein Herzstück des Kulturtransfers.178 Von der ersten Erwähnung des »Erbfeindes« bis zur Verfestigung des Hasses auf das Nachbarland im 19. Jahrhundert verging eine lange Zeit, in der nur vereinzelt das französische Volk bzw. die Nation thematisiert wurden. Überwiegend sind die Zeugnisse positiv oder differenziert. Erst nach der Revolution werden antifranzösische Stimmen lauter. Zu unterscheiden ist zwischen der Ablehnung einzelner Gruppen und der Bewertung des gesamten Volkes. Zweifellos beanspruchte die Kritik der höfischen Kultur à la française den meisten Raum im deutschen Frankreichbild. Während des Siebenjährigen Krieges radierte Daniel Chodowiecki ein satirisches Blatt auf die »Ankumft die Frantzosen in Teütsch Land«.179 Vorgeführt werden komische Attitüden. Der französische Edelmann, dessen halbgeöffnete Weste seine nackte Brust freigibt, alldieweil er sich von seinem kriecherischen Diener Schnupftabak reichen läßt. Ein zweiter Diener ißt unübersehbar »heimlich«. Dagegen stehen ein Bauernpaar, das die Verquickung aus Etikette und Nachlässigkeit bestaunt, und ein junger Deutscher, der dem Adligen ein schlichtes Hemd und eine Kappe darbietet. In der englischen Bildsatire wird der typische Franzose ebenfalls als höfischer Geck personifiziert.180 Chodowieckis Satire läßt sich als pars pro toto nehmen. Außerhalb des Kriegszusammenhangs repräsentierte diese Witzfigur die absolutistische Hofkultur, die seit ihrer Entwicklung von kritischen Fürstenspiegeln begleitet wurde. Für Adelung ist Frankreich im 18. Jahrhundert das Musterbeispiel einer verweichlichten und überfeinerten Kultur, und er beklagt ihren Vorbildcharakter für das übrige Europa.181 Verständlich wird die heftige Ablehnung der mit dem 'Französischen an sich' gleichgesetzten Hofkultur, welche Unsummen verschlang, durch ihre zeitgenössische Bezeichnung als »ein schleichender Krieg gegen alle«.182 Sie wurde sogar als »Französische Influenza« bezeichnet.183 Der frankophile König Friedrich II. von Preußen wurde paradoxerweise als Erneuerer deutscher Größe gefeiert.184 177 Zit. in: Herder, Beförderung IX, S. 153. 178 Zum Einfluß der Revolution auf die deutsche Sprache siehe Ahcene Abdelfettah: Die Rezeption der Französischen Revolution durch den deutschen öffentlichen Sprachgebrauch. Untersucht an ausgewählten historisch-politischen Zeitschriften (1789-1802). Heidelberg 1989. 179 »The Coming of the French in Germany«. Um 1757 (Bauer 1982, Nr, 1). 180 Vgl. Forster-Hahn 1963, S. 60. 181 Vgl. Adelung 1979 (1782), S. 421-423; Friedrich Gabriel Resewitz schreibt 1786, daß »der junge Deutsche nach Paris reist, eine feinere Politur und flachere Denkungsart zurückzubringen.« [Resewitz 1954 (1786), S. 43.] - Eine Reihe weiterer Beispiele bei König 1960, S. 85-89. 182 Friedrich Gabriel Resewitz, zit. n. König 1960, S. 85. 183 Patriotisches Archiv VI, 1787, S. 407f. (ein Vergleich mit der damals »russische Influenza« genannten Grippe). 184 Luden 1810, S. 95; vgl. Theodor Schieder: Friedrich der Große - eine Integrationsfigur des deutschen Nationalbewußtseins im 18. Jahrhundert? In: Otto Dann (Hg.): Nationalismus in vorindustrieller Zeit. München 1986, S. 113-127; Prignitz 1981, S. 17.

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Im Widerspruch zur in der moralisch-politischen Publizistik artikulierten Kritik fand die französische Lebenskunst bekanntlich in Deutschland nicht nur an den Residenzen, sondern auch zunehmend im Bürgertum Aufnahme. Aus Johann Georg Jacobis Aufsatz »Über die Franzosen« (1778) spricht eine Haßliebe; so heißt es, sie hätten »>das Geheimnis gefunden, die beyden äussersten einander entgegengesetzten Enden sich berühren zu lassen.< Sie seien weibisch, aber tapfer; kriegerisch, aber höflich; in ihrem Herzen verdorben, aber sittlich in ihrem äusseren Betragen.« 185 Herder versuchte, den Erfolg des französischen »Savoir Vivre« geschichtlich zu begründen. Nationales Repräsentationsbedürfnis erkennt er bereits in der karolingischen Renaissance (er erklärt Karl den Großen stets zum Franzosen). Herder tadelt diesen Hang zur Selbstdarstellung nicht, den er bei anderen Nationen vermißt und den er insofern schätzt, als im »Scheinen« das »Sein« nicht verloren gehen muß. Die deutsche »Gallicomanie« habe aber zu einer Spaltung der Gesellschaft geführt. 186 Zeitgenössische bürgerliche Bewertungen der Hofkultur zeigen die völlige Ablehnung der aristokratischen Lebensform, deren systembedingte Zwänge nicht durchschaut wurden.187 Als noch vor Beginn der Revolution der einst ausschließlich französische und höfische Luxus das deutsche Bürgertum erreichte, beklagte sich die Landbevölkerung darüber.188 Ungeachtet dem literarischen moralisierenden Diskurses blieb »à la française« beliebt, nunmehr nach dem Vorbild der »Incroyables«, deren bizarre Mode in den Nach-Thermidor-Jahren für Aufsehen sorgte. Ein Dr. W... mokiert sich reimend: »[...] Es trägt, gleich den Franzosen, | Der Pfarrer lange Hosen. 11 Der Stutzer setzt verkehrt den Huth; Man heißt's a la Vendee; | Doch kleidet ihn kein Ding so gut, | Er reite oder gehe, | Als ein verbrämtes Pantalon, | Das Kinn im Halstuch von Koton, | Ein Frack und eine Spitze | Brodirte Police-Mütze. 11 « [Er raucht, säuft,] »Im Fluchen ist er Schwelger | und trillert den Marseiller. 11 «189 Nach der Hinrichtung Ludwigs XVI. kritisierte auch Schlözer die »Gallomanie« der deutschen Höfe, deren Beginn er um 1700 ansetzt, mit dem steigenden Einfluß der Réfugiés, der hugenottischen Flüchtlinge aus Frankreich. Seine Klage mahnt die deutsche Aristokratie zu Besonnenheit und Mäßigung; zugleich grenzt sie sich gegen das Nachbarland ab: »nie ist doch etwas recht Vernünftiges aus Frankreich zu uns herüber gekommen. «190 Zwanzig Jahre später bestätigt ein Autor das Urteil französischer Unmoral: Deutsche und Engländer, nicht aber Franzosen und Polen seien fähig, »die Frauen aus einem würdigen Gesichtspuncte zu betrachten«. Und er lobt Henry Fielding und besonders bei Shakespeares Frauengestalten die »schönste Weiblichkeit, Sanftmuth, Unschuld, Liebe, Zärtlichkeit und Heldengröße«, zum Ausgleich seiner »Bilder moralischer und ästhetischer Häßlichkeit«.191

185 Teutscher Merkur, Bd. 4, S. 3-27, hier: S. 16, zit. n. Forst 1989, S. 69f. 186 Herder, Beförderung IX, S. 18, S. 148f. bzw. S. 161-164. 187 Norbert Elias' Arbeit über die »höfische Gesellschaft« besitzt genau hier eine Lücke, weil sie ihr Beobachtungsfeld immanent (aus der höfischen Innenperspektive) abhandelt, und nicht die zeitgenössische Außenperspektive des Bürgertums berücksichtigt. - Vgl. Elias 1987, S. 422. 188 Vgl. Unterthänige Vorstellung der Bauernschaften des Fürstenthums N.N. an ihre Landesherrschaft wegen der Land-Betteley. In: Deutsche Zeitung 1788,38. St., 19.9.1788. 189 Dr. W...: Was doch der Krieg nicht ändern kann! Eine Schnurre. In: Bergisches Taschenbuch 1798, S. 40-47, hier: S. 45f. 190 Schlözer's Stats : Anzeigen XVIII, H. 70,1793, S. 402-409, hier: S. 407. 191 Messerschmid: Über das gegenseitige Verhältniß der Geschlechter in der alten und neuen Welt. In: Urania 1815, S. 1-57, hier: S. 51.

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Mit der Revolution verschwand die französische Hofkultur wie ein Spuk aus der bürgerlichen Sittenwelt und machte dem Interesse für den neuen, revolutionären Menschen Platz. In einem Bericht über »Neue Unruhen in Paris« (13.6.1795) macht der Verfasser »Ehrgeiz und Unbeständigkeit« als »Hauptzüge im Charakter der französischen Nation« dafür verantwortlich, daß dem Land kein dauernder innerer Friede möglich sei.192 Ein deutscher Revolutionsreisender erwartete moralisch gefestigte Menschen im revolutionären Frankreich anzutreffen, welche das Gemeinwohl ihren Interessen und Leidenschaften überordneten. Das Gegenteil fand er jedoch vor: »[...] überall faselnde Gecken, auf der Rednerbühne der Jacobiner und auf der Kanzel der Volksrepräsentanten [mit einigen Ausnahmen]; nirgends die Würde eines freyen Volks. Ich sähe die Harlekinade des Tollhäuslers Cloots in dem Volkssenat. Ich sähe, wie ein Bonmot, ein leeres Wortspiel den Schluß dieses Senats bestimmte und alle gegenseitige Gründe auf ein Mahl niederschlug.«193 Überdies verachteten sie die andersdenkenden Nationen mit lächerlich anzuschauendem Dünkel.194 Die Vorwürfe des Leichtsinns und des Wankelmuts als nationaler Charaktereigenschaften sind sehr beständig.195 Sie konkurrieren mit unparteiischen bis enthusiastischen Berichten Reisender und politischer Publizisten.196 Auch die Veränderungen in der französischen Kultur selbst fanden Beachtung. Ein Korrespondent stellt 1795 eine Änderung der Umgangssprache und der Sprechweise im Konvent fest. Insbesondere Beleidigungen feindlicher Mächte seien nicht mehr zu hören.197 Für Ernst Brandes war vieles von dem, was an politischem, sozialem und kulturellem Gedankengut aus Frankreich nach Deutschland eingeführt wurde, selbst Importgut, und zwar aus Amerika und England (»Anglomanie und Americamanie«). 198 Neben dem kulturellen war auch der militärische 'Transfer' verhaßt. Moser mokierte sich 1755 bereits über französische »Angebote« zur Friedenssicherung in Deutschland (mit 50000 Soldaten). Beim Wiederabdruck des Aufsatzes fügte er 1763 hinzu - auf den Vertrag von Versailles 1756 anspielend - : »[...] ich protestire vor dem gesamten Teutschen Publico, daß ich damals als eine Verläumdung gehalten haben würde, daß wir Teutsche mit den Franzosen noch so vertraute Freunde werden [,..].«199 192 193 194 195 196

Historisch-politisches Magazin XVIII, 1795, S. 401. N.N. Schreiben 1794, S. 19. Ebd., S. 22; vgl. R A 1794, S. 55. Vgl. auch Schneider 1980, S. 333ff. Ebd., S. 336f. Neben dem in vorliegender Arbeit mehrfach angeführten Schulz sind vor allem Georg Forster (Ansichten vom Niederrhein. Berlin 1791) und Joachim Heinrich Campe (Briefe aus Paris, zur Zeit der Revolution geschrieben. Braunschweig 1790). Vgl. Horst Günther (Hg.), Die Französische Revolution. Berichte und Deutungen deutscher Schriftsteller und Historiker. 4 Bde. Frankfurt 1985; Claus Träger (Hg.), Frauke Schaefer (Mitarb.): Die Französische Revolution im Spiegel der deutschen Literatur (zuerst Leipzig 1975). 2. Aufl. Frankfurt 1979. Über die Bedeutung der Übersetzungen französischer Texte für das französische Image in Deutschland siehe Rolf Reichardt: »Freymüthigkeit, doch kein Sansculottismus...« Transfer und Transformation der Französischen Revolution in Verdeutschungen französischer Revolutionsschriften 1789-1799. In: Michel Espagne und Michael Werner: Transferts. Les relations interculturelles dans l'espace francoallemand (XVIIe et XIXe siècle). Paris 1988, S. 273-326. 197 Uebersicht der Verhandlungen des Convents in den ersten vier Monaten dieses Jahres. In: Frankreich III, 1795, S. 3-18, hier: S. 6-10. 198 Brandes 1977a (1810). 199 Friedrich Carl Moser: Das Publicum (zuerst 1755). In: Moser 1763, S. 202-234, hier: S. 215f.

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Nicht anders lautet das Bekenntnis, das nach den ersten Erfahrungen im Revolutionskrieg, in einer militärischen Geschichte Hessens, über den Siebenjährigen Krieg urteilt. Über den Umstand, daß Frankreich in der Konvention von Kloster Seven über den Waffenstillstand kolossal hohe Kontributionen erzwungen habe, heißt es: »Eben diese unmenschliche Verfahrensweise legte den Grund zu dem Hasse, der heut und ewig in dem Herzen der Hessen gegen die Franzosen glüht.«200 Die Notwendigkeit, die militärischen Erfolge der zusammengeschusterten französischen Armee über die regulären Truppen der Koalition erklären zu müssen, führte unter anderem zum Rückgriff auf nationale Stereotypen. Die Deutschen seien tapfer, klug und bewährt; die Franzosen dagegen in der Überzahl (d. h. vergleichsweise schwächer), fanatisch und hätten viel Glück (d. h. handelten unvernünftig).201 Dagegen charakterisiert der Konservative Christoph Girtanner in seinen »Politischen Annalen« (1793) die französischen Soldaten als Repräsentanten ihres Volks - günstig. Wider Erwarten seien sie »artig«, und ihre Erziehung durch ihre Heerführer sei zu loben.202 Es wurde auch bemerkt, daß die Kunst der Rede in der französischen Armee hoch geschätzt war. Deutsche Autoren bemerken, daß die französischen Soldaten sich von einer guten Ansprache mitreißen ließen und ihre Begeisterung in eigenen Reden zu ihren Kameraden fortpflanzten. Die Deutschen seien einer solchen Begeisterung unfähig.203 Auch aus der Lebensgeschichte eines deutschen Soldaten ergibt sich, daß durchaus freundschaftliche Beziehungen zu Frankreich bestanden.204 In Nürnberg war von Teilen der Bevölkerung zwar die Befreiung durch die französische Armee ersehnt worden. Allgemeiner Konsens war indes die antifranzösische Stimmung nach der Besetzung der Stadt. Der Heimatdichter Johann Konrad Grübel reimte den Vers: »[...] öiz siech i's selber ei, | Dös wär' a graußer Narr, der no französch wollt' sei.«205 Noch ehe der Krieg begann, äußerte H.A.O. Reichard in einer Flugschrift eine Meinung, die seinerzeit offenbar keinen großen Anklang fand: In seinen Augen war Frankreich immer eine Bedrohung, »ob weiße oder bunte Kokarden, seine Feldzeichen sind, das verändert die Sache nicht. Schon unsre Väter fürchteten minder die Tapferkeit seiner Heere, als die Seuche seiner Sitten.«206 Erst anderthalb Jahrzehnte später findet sich ein zweites Beispiel für Reichards Vorwurf, in einem Brief Barthold Georg Niebuhrs, als er im Winter 1806 den preußischen Rückzug vor den französischen Truppen miterlebte: »[...] es scheint, daß die Franzosen nicht im Sinne haben, uns zu beunruhigen. Dysenterie wütet in ihrer Armee und, wie man sich erzählt, noch eine andere abscheuliche Krankheit, die vor dreihundert Jahren ihre Armee in Italien aufrieb. Es ist die gerechte Strafe für ihre Exzesse [...].«207 Niebuhr versteht also die Syphilis als typische französische Krankheit und insbesondere als Kainszeichen der verderbten französischen Soldateska. Darüber hinaus ist es interessant festzustellen, daß der Historiker Niebuhr historische Parallelen zieht, um die Macht des Schicksals ins Spiel zu bringen. Wohl aus Furcht vor Ansteckung plädierte Reichard in sei-

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Calender für Deutsche 1795, S. 53f. Ebd., S. 76 Zit. in: Schneider 1980, S. 333. Ebd., S. 326 Alfred Hartlieb von Wallthor: Lebensumstände eines deutschen Soldaten um 1800. In: Festschrift Wiegelmann 1988, Bd. 1, S. 281-290, hier: S. 287. 205 Zit. n. Ernstberger 1958, S. 471. 206 Reichard 1792, S. 6. 207 Barthold Georg Niebuhr: Brief an John Gibsone. Königsberg, 23.12.1806. Zit. n. Niebuhr, Briefe und Schriften, S. 61.

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ner Schrift für den Verzicht auf eine Intervention, solange die Revolution Deutschland nicht bedrohte. Heinrich Luden schrieb nach dem Ende des Reiches und der Unterwerfung Preußens: »Es kam hinzu, daß die Franzosen biegsamer waren, als die Deutschen, und seit alter Zeit mehr ans Gehorchen gewöhnt; daß sie mehr das Aeußere liebten, als das Innere, mehr den Schein als das Wesen, welches umgekehrt bei den Deutschen war; daß sie lieber persönliche Auszeichnung wollten, als persönliche Freiheit.«208 Differenzierter als Niebuhr, aber voller Vorurteile, urteilt Luden über den überlegenen Gegner. Anders als die oben zitierte Meinung, daß dessen Überlegenheit nicht aus dem Charakter begründbar sei, ist nun der umgekehrte Schluß gewählt: die französischen Soldaten seien besser zum Kriegsdienst geeignet. Hier taucht wieder das alte Stereotyp von der spezifischen deutschen Freiheit auf. Unparteiischer schrieb im Jahr 1815 Karl von Rotteck einen Essay über die Vorzüge des Volksheeres im Vergleich zu dem stehenden Söldnerheer. Sein Vorbild sieht er in der französischen Armee seit der Revolution. Die französische »Nationalkraft«, die im »Revolutionskrampf so heillos gewaltet« habe, sei dem alten Kriegssystem überlegen gewesen. Napoleon habe das neue System pervertiert, indem er das Volk quasi zu einem stehenden Heer machte. 1813 habe sich »die Nationalmacht der Teutschen« erhoben , »auf den Ruf der Fürsten zwar, aber stark nur durch eigenes Gefühl und durch eigenen Willen Die Berichte über den Krieg in der Champagne 1792 enthielten auch Beschreibungen der dortigen Bevölkerung, die durchweg günstig gezeichnet wird. Hervorgehoben wird, daß sie zwar arm sei, aber nicht hungere und daß selbst einfache Frauen und Männer vom Lande genügend gebildet seien, um räsonnieren zu können. Die gleichartigen Beobachtungen stammen von sehr unterschiedlichen Leuten, vom gelegentlich als »einzigen wirklichen Sansculotten in Deutschland«210 titulierten Laukhard bis zum preußischen Kronprinz Friedrich Wilhelm III.211 Möglicherweise wird das beschriebene Bild von dem Umstand beeinflußt, daß die verfügbaren deutschen Quellen stärker preußenfreundlich als österreichgeneigt sind und Preußen in Frankreich höher geschätzt wurde als Österreich.212 Beschreibungen des Landes im Jahr 1794 ergeben folgendes Bild: durch Revolutionswirren und Krieg verarmt, von egalitären Prinzipien vom Luxus 'befreit' und von revolutionärer Symbolik durchsetzt, die die alten royalistischen und religiösen Symbole ablösten; kurzum »Sparta« statt des früheren »üppigen Corinth«213; nach dem Thermidor sei die Renaissance des Sonntags eingetreten.214 Differenzierter stellt es sich dar, was aus »Arthur Youngs Bemerkungen auf seinen Reisen durch Frankreich« entnommen wird. Das Land beeindruckte ihn mit prächtigen Kunst- und Bauwerken, gut ausgebauten Straßen und Brücken und herrlichen Städten. Unübersehbar aber sei das grassierende Elend gewesen auf dem Land;

208 209 210 211 212 213

Luden 1810, S. 70. Rotteck 1829, S. 187-189 Hans Werner Engels, ohne Beleg zit. von Schneider 1980, S. 286. Ebd., S. 294-299. Friedrich Wilhelm III. veröffentlichte seine Erinnerungen allerdings erst 1846. Ebd., S. 298. Heinrich Zschokke, in: Berlinisches Archiv der Zeit und ihres Geschmacks, November 1796, S. 478, zit. n. Schneider 1980, S. 372. 214 N.N.: Bemerkungen über Frankreich während der Feldzüge 1793-1795. O.O. 1797, S. 92, zit. n. Schneider 1980, S. 373.

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»Ich kam bey der Bastille vorbey. Wieder ein herrlicher Gegenstand, um angenehme Gefühle in der Brust eines rechtlichen Mannes rege zu machen. Ich suche gute Landwirthe und laufe alle Augenblicke mit dem Kopfe gegen Mönche und Staats-Gefängniße«.215 In der vom Krieg bestimmten Phase der Revolutionsrezeption kam es zu einem kulturellen Roll-Back: Wer die Revolution ablehnte, verwarf mit ihr bald die Aufklärung. Günther Lottes sieht deshalb in der Revolution einen Einschnitt auch im Prozeß der kulturellen Distanzierung Deutschlands von Frankreich.216 Mit einigem zeitlichen Abstand kritisierte der Zeitgenosse August Wilhelm Rehberg diesen Meinungswandel: »Ein Volk von dreißig Millionen, gab er zu bedenken, lasse sich nicht >mit einem Zauberschlage in fanatische Wuth für abstracte Ideen versetzenc >Wenn es einmal aufgeregt ist, so ergreift es begierig jede angebotene Vorstellung, Symbole, Worte: und streitet dafür nicht selten mit desto größerer Hartnäckigkeit, je weniger es den Sinn begreiftGod save the King< von Thurm geblasen wurde, einzelne Stimmen >Vivat Custine und Dumouriez< ruften, weil man gewohnt ist, daß die Studenten und unter deren Firma alle Strassen-Jungens bey solchen Gelegenheiten gar mancherley Personen und Dinge hoch leben und pereiren laßen, welches auch dergleichen ausgestreuete Zettel, die jeder Vernünftige für Späße aus der Neujahrs Nacht halten wird, die hiesige Bürgerschaft zu Unruh und Tumult verleiten.«234 Der Ton, den der Verfasser - Gerichtsschulze Zachariae - anschlägt, erinnert an das Pfeifen des Kindes im dunklen Keller, weil dergleichen Späße, so ergeben die von Gerhard Schneider dokumentierten zahlreichen amtlichen Vorgänge, völlig ernst genommen wurden. 231 Hunt 1989, S. 22. Vgl. Rüdiger Voigt (Hg.): Symbole der Politik - Politik der Symbole. Opladen 1989. 232 Roy C. Strong: The Popular Celebration of the Accession Day of Queen Elizabeth I. In. Journal of the Warburg an Courtauld Institutes, Jg. 21,1958, S. 87, zit. n. Warnke 1986, S. 285. 233 Die politische Publizistik wuchs bereits in den 1780er Jahren rasch an. Schon vor der Revolution war über die »Republik« nachgedacht worden. Untersuchte Modelle waren die Niederlande, Schweiz, Polen, Großbritannien und Italien. - Renate Dopheide: Republikanismus in Deutschland: Studie zur Theorie der Republik in der deutschen Publizistik des späten 18. Jahrhunderts. Diss. Bochum 1980. Vgl. Wolfgang Kaschuba: Revolution als Spiegel. Reflexe der Französischen Revolution in der deutschen Öffentlichkeit und Alltagskultur um 1800. In: Böning 1992, S. 381-398. 234 Schneider 1989, S. 155.

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Einen Reflex auf die schleichende Politisierung im Rheinland wirft der Maler Johann Christian von Mannlich in seinen Memoiren. Kurz nach der Bildung der Nationalversammlung »erschienen heimlich« einige »Apostel der Revolution, die sich nach und nach vorbereitete«, um zu predigen. Sie stachelten zwar nicht zum offenen Aufruhr auf, aber vermittelten Vorstellungen einer glänzenden Zukunft im befreiten Frankreich. »Bald kühner geworden, brachten sie so ganz zufällig, wie unterwegs verloren, schändliche Stiche mit barbarischen Versen unter das Volk. Mein Diener las einen von der Straße auf. dieser stellte einen auf einem Joche kauernden Löwen vor, auf dessen Haupte ein Hahn stand, der mit den Flügeln schlägt und das Wort >Freiheit< kräht.«235 Mannlich präsentierte es seinem Brotherrn, dem Herzog von Pfalz-Zweibrücken, der bereits einige weitere Flugblätter erhalten hatte. Mit der Beurteilung, es sei eine »plumpe Allegorie«, und mit der Erklärung, solche Vorfälle und Dinge hätten den Herzog nicht beunruhigt, ist das Thema für Mannlich abgeschlossen. Aus heutiger Sicht dokumentiert diese Passage den Umlauf revolutionärer Bilder, über den in Quellen wenig zu finden ist. Auch die meisten Objekte gingen verloren, aber sie waren als ephemere Produkte gedacht gewesen und scheinen ihren Zweck erfüllt zu haben, nämlich in den Unterschichten politisches Interesse und Sympathie für die Revolution zu wecken. Rezipiert wurden nicht nur revolutionäre Schriften und Bilder; die revolutionäre Kultur selbst wurde ebenfalls beschrieben. Eine konterrevolutionäre Schrift bemerkt angewidert, daß auf den Tribünen im Jakobinerklub und im Konvent »Weibspersonen« den Politikern zunächst saßen und daß im Klub die Kanzel zur Rednerbühne mißbraucht wurde. »Die Brustbilder Mirabeaus, Rousseaus und der Königsmörder Ankarströms, Damiens und des Brutus waren nebst vielen anderen auf die Révolutions Beziehung habenden Gemälden und Kupferstichen im Saal aufgestellt, f...].«236 Weiterhin werden aufgezählt Inschriften, Fahnen, Piken, Freiheitsmützen und Ketten von Galeerensklaven. Auch unscheinbare Bräuche erlangten politische Bedeutung; so wurde der Spaziergang zum Ausdruck der Égalité.237 Als nach Ausbruch der Revolution die staatliche Zensur fiel - vorübergehend nur - , erfuhren Presse, Literatur und Bildpublizistik in Frankreich einen enormen Aufschwung. Als erstes großes Ereignis wurde die Einnahme der Bastille, am 14. Juli 1789, in illustrierten Flugblättern gefeiert. Es gab im In- und Ausland einträchtige Beurteilungen. In Paris gedruckte Blätter lieferten die Vorbilder für die Nachdrucke in Europa. Das Jahr 1789 war mehr eine Zeit der Einigung als des öffentlichen Streits. Von Ausnahmen abgesehen, versuchten Angehörige aller drei Stände, Frankreich als politische Nation zu errichten und den Despotismus des Ancien Régime zu überwinden. In den ersten Wochen der Revolution zeigen die ersten Ständebilder noch Vertreter und Vertreterinnen der beiden ersten Stände den dritten unterjochend - »ich hoffe, daß dieses Spiel bald endet«, lautet der Text dazu. Optimistische Gegenbilder, die den Rollentausch propagierten, ließen nicht lange auf sich warten.238 Zu

235 Johann Christian von Mannlich: Rokoko und Revolution. Stuttgart 1966, S. 242. Siehe Johann Christian von Mannlich: Histoire de ma vie: mémoires de Johann Christian von Mannlich (1741-1822). Hg. von Karl-Heinz Bender. 2 Bde. Trier o.J. 1989 und 1993. 236 Die Rothe Freyheits-Kappe 1793, S. 104f. 237 Wolfgang Kaschuba: Revolution als Spiegel. Reflexe der Französischen Revolution in der deutschen Öffentlichkeit und Alltagskultur um 1800. In: Böning 1992, S. 381-398, hier: S. 387. In den 1980er Jahren spazierte die halbe polnische Bevölkerung abends zur Zeit der regimekonformen Fernsehnachrichten durch die Straßen - provozierend harmlos. 238 Vgl. Herding/ Reichardt 1989, S. 8-13; Ausstkat. Los Angeles 1988, Kat. Nr. 36-39.

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der Zeit, als der Adel auf seine Privilegien verzichtete, am 4. August 1789, erschienen Bilder, auf denen sich die Stände die Hände reichten oder auf denen sie gemeinsam einen drückenden Feldstein der Steuerlasten trugen. Ein Fest der Eintracht war auch der Jahrestag des Bastillesturms, 1790, auf das die in- und ausländische Publizistik euphorisch reagierte. Nach diesem Datum endete der Frieden. Nicht einmal ein Jahr später floh die königliche Familie aus Paris. Nach dem Sturz der Monarchie veränderte sich die politische Kultur in Frankreich. In dem Jahr vor der Terreur, als die Unterschichten starken Einfluß auf die Geschehnisse - und die Politik - in Paris besaßen, bildeten sich symbolische Formen aus, die ihren kulturellen Horizont miteinbezogen. Eine konservative Stimme bemerkte dazu: »Der Pöbel in der Halle tyrannisiert jetzt eben so despotisch, wie vorher der Pöbel in den Pallästen und man erträgt es mit ebender Indolenz.«239 In den Monaten vor dem Thermidor wurden die Sansculotten von den Jakobinern und dem Konvent wieder zurückgedrängt. Alle diese Vorgänge wurden in Deutschland aufmerksam beobachtet; es gab nichts vergleichbares. Formen politischer Kultur jenseits höfischer und diplomatischer Rituale existierten in Deutschland in derselben Zeit fast nicht. Politische Manifestationen, die Symbole benutzten, kamen kaum vor. Bei den Aufständen jener Zeit ist deshalb die Rede von politischer Kultur meist unangebracht. Ausnahmen sind Beispiele wie die Gesmolder Bastille und das private Föderationsfest in Hamburg-Harvestehude 1790. Dort, wohin die Revolution ihre Fühler ausstreckte, links des Rheins ab 1792, belebte sich die öffentliche Kommunikation rasch. Mit dem Thermidor änderten sich nur Formen und Intensität, die Symbolik war aus dem öffentlichen politischen Prozeß nicht mehr wegzudenken. Wie stark die Symbolik den Alltag betraf, zeigt das Beispiel der Helvetischen Republik. In der Schweiz setzte nach der Finnlandisierung des Staates 1798 ein vielfältiger symbolischer Umbau ein: 28.4. Ersatz der Anrede »Herr« durch »Bürger« in der Amtssprache; 7.5. Errichtung des Freiheitsbaumes in St. Gallen; 12.5. Staatssiegel zeigt Wilhelm Teil, welchem sein Sohn den Apfel reicht; 30.5. Amtstracht des helvetischen Gesandten in Paris: dreifarbige Schärpe, er führt das helvetische Siegel; 25.6. neue helvetische Münzen nach Berner Münzfuß; die eine Seite zeigt den Wert im Eichenkranz, die andere einen alten Schweizer, eine Freiheitsfahne haltend; 12.7. Bürgereid.240 In den folgenden Abschnitten werden sehr unterschiedliche Kommunikationsformen beschrieben, die teilweise literarisch, teilweise bildpublizistisch überliefert sind. Es mußte eine Auswahl charakteristischer Formen getroffen werden. Die Abschnitte über den Gebrauch von Symbolen und über Feste behandeln Bereiche, in denen der Einfluß der Französischen Revolution auf Deutschland erheblich war. Im Abschnitt über Ehrungen wird dagegen aufgezeigt, welches symbolische Potential, das vor der Revolution zum Teil bereits bestand, ohne französische »Unterstützung« entwickelt wurde. Das Fallbeispiel der Kaiendarien belegt, daß selbst ein alltägliches Feld wie die Zeitrechnung Gegenstand der ideologischen Auseinandersetzung wurde.

a) Symbole Die in der Französischen Revolution verwandten Symbole waren mit Ausnahme der Trikolore altbekannt und in Europa verbreitet.241 239 N.N., Schreiben 1794, S. 20. 240 Nach: Helvetische Chronick 1804. 241 Trümpy 1961, S. 114, Anm. 6 und S. 115, Anm. 22. Über die Freiheitssymbole Bonnet phrygien und Freiheitsbaum siehe van den Heuvel 1988, S. 192-204.

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Ein Deutscher bemerkt zur Lage in Paris: »Leere Declamationen und schön gesagte Sentiments, wovon ihre heroischen Schauspiele von jeher strotzten, sind auch jetzt und mehr als jemahls im Umlauf; aber von großen Thaten, von edlen Bürgertugenden habe ich nur wenige Beyspiele vernommen. Gassenhauer, Bäumchen, bunte Bänder, rothe Kappen und dergleichen elende Spielereyen haben mehr Werth, als die gute Sache der Freyheit, von welchen nur wenige einen nur einiger Maßen erträglichen Begriff haben.«242 Symbole dienen einerseits der Repräsentation und dem leichten Erkennen, andererseits ermöglichen sie die Identifizierung mit Ideen ohne argumentative Fundierung.243 Die Frage nach der Entstehung der Symbole birgt die Antwort auf eine weitere, nämlich nach deren Gültigkeit. Die in der Revolutionszeit entstandenen Symbole waren wie die meisten nationalen Symbole nicht »durch eine von oben gesteuerte Propaganda manipuliert«, sondern variierten vorhandene Kulturformen, wie bereits Elisabeth Fehrenbach feststellte; Tradition war hinreichende Legitimation für ihre Verwendung.244 Zwar existieren zahlreiche Belege für die Bekanntheit und die Verwendung von Symbolen der Französischen Revolution in Deutschland. Außerhalb der linksrheinischen Gebiete waren sie jedoch nur punktuell und zeitweise populär.245 Ohne Vorbild war die Auslage eines »Roten Buches« in Mainz, Worms und anderen Orten im November und Dezember 1792, in das sich diejenigen eintragen konnten, die der neuen Konstitution zustimmten - »für die Anhänger der Sklaverei unter ihnen lag ein Schwarzes Buch zur Einzeichnung aus«.246 Auch in ihrer Ausstattung unterschieden beide sich kraß: Das rote besaß einen Saffianeinband, den phrygische Mütze und Trikolore zierten, sein Pendant war in schwarzes Papier eingeschlagen, mit Ketten versehen und trug den Titel »Sklaverei«.247 Gerade wegen dieses Rot-Schwarz-Kontrastes war die Auslage umstritten, denn wer die Einschreibung verweigerte, denunzierte sich selbst als Konterrevolutionär. Offenbar beruht diese Verschärfung, die sich jedoch nur vorübergehend behauptete, auf den Vorstellungen des Initiators, Georg Wilhelm Böhmer. Beschwichtigend erklärte der Wörmser Klub, es handele sich um eine Art Völksbegehren für die Errichtung eines Parlaments.248 Um diese Einrichtung zu retten, wurde schließlich das »Schwarze Buch« eingezogen.

Kokarde Am 12.7.1789 organisierte die Pariser Bevölkerung eine Bürgerwehr, um die Nationalversammlung gegen den König zu verteidigen. Camille Desmoulins agitierte auf dem 'forum' des Palais Royal: »Ein einziges Rettungsmittel bleibt uns übrig, nämlich die Waffen zu ergreifen, und Cocarden aufzustecken, um uns zu erkennen. [...] Was wollt ihr für Farben - Jemand rief mir zu: wählen sie selbst - Wollt ihr Grün, die Farbe der Hoffnung, oder wollt ihr Cincinnatus242 N.N., Schreiben 1794, S. 19. 243 Fehrenbach 1971, S. 298 244 Ebd., 301f. Die Schweiz widersetzte sich Napoleons Vorschlag einer Trikolore für die helvetische Republik, und die Tagsatzung wählte 1814 statt dessen das »Feldzeichen der alten Schweizer« (Ebd., S. 324). 245 Herzig 1988, S. 207. 246 Scheel 1989, S. 400. Vgl. Monika Neugebauer-Wölk: Das Rote und das Schwarze Buch - zur politischen Symbolik der Mainzer Jakobiner. In: Ausstkat. Mainz 1993, S. 52-68. 247 Ebd., S. 92f. 248 Ebd., S. 401.

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blau, die Farbe der Freyheit America's und der Democratie? - Einige Stimmen schrien Grün! die Farbe der Hoffnung! - Nun rief ich aus: Freunde, das Signal ist gegeben. [...] Unterdessen hatte man mir ein grünes Band gebracht. Ich knüpfte die erste Schleife an meinen Huth, und theilte auch den Umstehenden aus.«249 Im »Historischen Almanach fürs Jahr 1790« wird beschrieben, wie Ludwig XVI. gezwungen wird, die »Freiheitscocarde« zu tragen, und »Wiederhersteller der französischen Freiheit« genannt wird.250 »Nach geendigter Sitzung zeigte sich der König mit dem Zeichen des Bundes der Kokarde am Hute auf einem Altan dem Volke, und aus dem Munde von Myriaden erscholl plötzlich ein: Es lebe der König! das sich durch die ganze Stadt hin fortpflanzte und von dem Donner der Kanonen, dem Geklirre der Waffen, dem Geflatter der Fahnen, dem Schmettern der Trompeten, dem Wirbeln der Pauken und Trommeln begleitet ward.«251 Bailly, neuer Bürgermeister von Paris, überreichte dem König die Kokarde, als dieser mit seinem Besuch der Hauptstadt am 17.7. den Aufstand rechtfertigte, als Zeichen für die »erhabene und ewige Allianz zwischen dem Monarchen und dem Volk«.252 Zu Ehren des Königs wurde die Kokarde um die weiße Farbe ergänzt. Am Abend des 9. Thermidor II (27.7.1794) sollte sie zum Sturz der Jakobinerherrschaft beitragen: »In der Kanzlei [des jakobinisch beherrschten Rathauses] wurde ein mit weißen Lilien [Wappen des Hauses Bourbon] versehener Prägestempel gefunden; er wurde sofort im Nationalkonvent hinterlegt als ein einwandfreies Beweisstück der freiheitsmörderischen Absichten dieser als Völksmänner getarnten Royalisten.«253 Was heute als Trikolore von der Mirage bis zur Briefmarke den französischen Staat repräsentiert, durchlief also mehrere Stufen: zuerst Erkennungsmal der Aufständischen wie militärische Uniformfarben; als Bi-Kolore erweitert um die Identifikation mit der oppositionellen Macht, d. i. Paris; als Trikolore Symbol der Einheit von Volk und König, das als Symbol der Einheit und Unteilbarkeit der Nation den Sturz des Monarchen unverändert überstand und die Herkunft der Farben vergessen ließ. Blau-Weiß-Rot war seit dem 21.9.1792 die Farbe Frankreichs und blieb es mit Ausnahme der Restaurationszeit 1815 bis 1830.254 Schon kurz nach dem Bastillesturm wurden in Deutschland bei lokalen Unruhen verschiedenfarbige Kokarden getragen; im Kurfürstentum Hannover ist ihre Verwendung im Jahr 1790 bekannt.255 Die Symbolkraft der Kokarde war so groß, daß viele Aktenvermerke existieren, die davon sprechen, daß ihr Tragen beabsichtigt sei.256 Göttinger Studenten zeigten sich im Oktober 1792 mit von »hiesigen Kaufleuten« verkauften dreifarbigen Kokarden.257 Ein Erlaß verbot schließlich am 8. November 1792 das Tragen weißer und bun-

249 RA 1795, S. 114f. Das Grün wurde als Farbe des Herzogs von Artois am nächsten Tag gegen rotblau ausgetauscht (Hinweis von Rolf Reichardt). 250 Historischer Almanach 1790, S. 5. 251 Ebd.,S. 236. 252 Soboul 1988, S. 115. 253 Zit. n. Markov 1986, Bd. 2, S. 645. 254 Zwischen 1795 und 1799 wurde sie 'versteckt', ohne jedoch völlig aus der Mode zu verschwinden. Ihr nationaler und militärischer Gehalt nahm zu, konnte den revolutionären aber nicht völlig verdrängen. - Jean-Marc Devocelle: La Cocarde directoriale. Dérives d'un symbole révolutionnaire. In: Annales historique de la révolution française Nr. 289, H. 3,1992, S. 355-365, hier: S. 359 und 365; vgl. Hansen IV 1931, S. 518. 255 Haase 1967, S. 208. 256 Reichardt 1988, S. 16-20 und 25; Fehrenbach 1988, S. 32; Dann 1988, S. 181; Hansen II, 1931, S. 515. 257 Haase 1967, S. 223; die entsprechenden Quellen sind enthalten in Schneider 1989, S. 78-80.

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ter Kokarden im Kurfürstentum Hannover-Braunschweig-Lüneburg, ausgenommen in den Fällen, in denen dergleichen Abzeichen Teil einer Uniform darstellten. Das Verbot wird mit der Unruhe begründet, welche Reisende im Land durch ihr »Farbebekennen« verursachten. Auf den Verstoß gegen den plakatierten Erlaß stand eine Strafe von zehn Reichstalern.258 Offenbar waren die Kokarden nicht nur in Göttingen beliebt. Das Verbot politischer Kokarden wurde aus gegebenem Anlaß am 1. September 1794 erneuert.259 Aus dem Jahr 1792 existieren Texte, die auf die große Beliebtheit revolutionärer Symbole, insbesondere der Kokarde, im Rheinland hinweisen. Johann Friedrich Reichardt berichtet, aus dem Elsaß seien Wagenladungen voller Kokarden in der Pfalz und in der Mainzer und Trierer Gegend abgesetzt worden.260 Die Revolutionsfreundin Caroline Böhmer bemerkt: »Welch ein Wechsel seit 8 Tagen - General Custine wohnt im Schloß des Kurfürsten von Mainz - in seinem Prachtsaal versammelt sich der Deutsche Jakobiner-Club - die National-Kokarden wimmeln auf allen Gassen - die fremden Töne, die der Freiheit fluchten, stimmen vivre libre ou mourir an.«261 Noch lange nach der Revolution wirkte sich die Symbolik der Kokarde und Trikolore aus: »Die alles verwirrende Revoluzion [in Rom] bewirkte auch in dieser Sphäre eine plötzliche Veränderung. Die violetten Strümpfe, die rauschenden Abatenmäntelchen verstoben, wie Streu am Winde, vor der dreyfarbigen Kokarde.«262 Zu einer Fahne als einigendem Nationalsymbol reichte es in Deutschland nicht. Einen ersten Ansatz bildet das Panier der »Hanseatischen Legion«: In einem Singspiel zu Ehren dieser Miliz kommt eine Episode vor, in der ein Bürger aus dem Exil zurückkehrt, um in der Miliz gegen die französische Armee zu kämpfen. Die Nichte seines Nachbarn hatte sein Gewehr versteckt, das er bei seiner Flucht zurückgelassen hatte, und es mit der Fahne der Hanseatischen Legion - sie zeigt »Das rothe-heilige Kreuz« - als »Talisman« umwickelt. Sie gibt es ihm zurück, damit er weiterkämpfen kann.263 Und retrospektiv wurde schließlich auch die preußische Flagge aufgewertet: »Der Sinn, der die Deutschen allgemein belebte, und der viele hundert Jünglinge aus allen Gegenden Deutschlands unter die preussischen Fahnen als die Paniere deutscher Freiheit trieb, ließ vermuthen, daß die Fürsten des französischen Einflusses eben so überdrüssig wären, als ihre Unterthanen des französischen Drucks [,..].«264

Phrygische M ü t z e Wie die Kokarde, so wurde auch das Symbol des bonnet phrygien, auch Freiheitskappe, -mütze oder -hut genannt, populär. Ein auf eine Stange gesteckter Hut als Freiheitssymbol ist seit der Antike bekannt.265 Als Emblem wurde er während der ganzen frühen Neuzeit verwendet, u. a. von Raymond de Hooghe in seinen Bildern vom Niederländischen Freiheitskampf. Eine Vignette von Johann Wilhelm Meil aus dem Jahre 1788 zeigt eine auf einem Erdball stehende Männerfigur mit Flügeln am Kopf, die mit der rechten Hand einen 258 259 260 261 262 263 264 265

Hamburg: SAr: Senat CL. VII Lb no. 15, fasc. 2, Bl. 25; Haase 1967, S. 225f.; Schneider 1989, S. 88. Haase 1967, S. 261; der Wortlaut in: Schneider 1989, S. 257f. Schneider 1980, S. 319. Zit. n. Scheel 1989, S. 75. Gemähide 1803, S. 50. Schmidt 1814, S. 38. N.N.:Uebersicht der Kriegsjahre 1813.1814.1815.In: Historisch Genealogischer Calender, 1817, S.l. Ausstkat. Mainz 1981, Nr. 51.

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Freiheitsstab und in der linken Hand eine Fackel hält. Das Motiv wurde für weitere Bände variiert.266 Aufgrund ihrer kunstgeschichtlichen Herkunft und ihrer Dinglichkeit eignete sich die phrygische Mütze besser für bildliche Darstellungen, wogegen die Kokarde zum Abzeichen der Republik wurde. Meist ist sie in revolutionären oder revolutionsfreundlichen Zusammenhängen zu finden: die Titelvignette des ersten Teils von Reichardts »vertrauten Briefen über Frankreich« zeigt Freiheitsmütze und Kokarde in einem kranzartigen Geflecht.267 Die bekannte Bildsatire, in der einem älteren Bildnis Ludwigs XVI. eine rote Mütze aufgesetzt wurde 268, erfuhr in Deutschland einige Varianten. In Aachen wurde ein Wegkreuz mit ihr verziert, und auch einer Statue Karls des Großen wurde sie verliehen.269 Auch außerhalb des französischen Einflußgebietes kam die Mütze zum Einsatz. So wurde dem hannoverschen »Land Syndicus Jacobi [!] eine rothe Mütze mit der Innschrifft Freiheit und Gleichheit vor die Hausthür gesetzet«, weil er als Urheber einer verschärften Steuerverordnung galt.270 In Nürnberg stellten jakobinisch Gesinnte »Ende Juli/ Anfang August 1794 auf dem Marktplatz eine >rothe Freyheits-Müzze auf einer Stangeächte Bürgerfreiheit< im Unterschied zu der französischen >Freiheit oder TodEs schmerzt nicht, Pätus!< werde uns, dargestellt, ein erfreulicher Gedanke.« 72 In den Lehren Lavaters73 und Johann Jacob Engels, ergänzt um die Gallsche Phrenologie, schlug sich das Bedürfnis nieder, dem sich entwickelnden bürgerlichen Lebensstil einen neuen Code von Verhaltensweisen zu integrieren. 74 Ein verwandtes, aber abgegrenztes Gebiet stellt die Gebärdensprache des Schauspiels dar.75 Von ihr handelt der 1792 in Hamburg erschienene »Grundriß der körperlichen Beredsamkeit« von Hermann Heimann Cludius.76 Gestik und Mimik in der Bildenden Kunst und Schauspielerei hängen eng zusammen. Letztere »ist bildende Kunst, der Schauspieler ist Künstler, und lebendes handelndes Kunstwerk zugleich; die Scene ist seine Leinwand, seine Galerie, wo er das Gemälde, die Gruppen vor den Augen des Volkes aufstellt.«77 Wie ein Künstler Stoff und Technik beherrschen muß, so auch der Schauspieler. Sein Körper ist der Stoff, sein Werkzeug der Verstand. Als Grundsatz gilt: »Ahme mit Wahrheit die Menschen in ihren Handlungen anständig und schicklich nach; sein Endzweck ist, Besserung, Belehrung und anständige Unterhaltung.« Der gleiche Maßstab liegt einem Text zugrunde, der Chodowiecki gegenüber Hogarth lobt: »Der wahrste Ausdruck belebt seine Figuren. Alles ist Natur daran. Man glaubt sie gekannt zu haben f...].«78 Hogarth habe nur die menschlichen Schattenseiten karikiert -

70 M. Friedrich Voigt: So ändert sichs! In: Jahrbuch zur belehrenden Unterhaltung 1796, S. 203-261, hier: S. 242. 71 Kaffka 1799, S. 136. 72 Herder, Adrastea II, S. 320. 73 Er stützte sich auf frühere Arbeiten. Weit verbreitet war das Werk von Giovanni Battista della Porta: D e humana physiognomia. Neapel 1586. 74 Kemp 1975, S. 118f. 75 Vgl. die Beiträge von Volker Kapp und Dene Barnett in: Kapp 1990. 76 Kapp 1990a, S. 43. 77 S. H. E-d.: Ueber Empfindungen, Leidenschaften, Charaktere und Sitten ein philosophischer Versuch für Schauspieler. In: Gothaisches Magazin 1777, 3. Stück, S. 195-230, hier: S. 199f. 78 Vgl. Busch 1977, S. 163.

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IV. Ereignisbilder

»Wie wahr und gefällig weiß hingegen Chodowiecky, Unschuld, Sanftmuth, Edelmuth und jeden Vorzug, jede Tugend einer schönen Seele in Mienen und Gestalt auszudrücken.«79 Einerseits sollte also die Körpersprache ungezwungen sein, andererseits wurde sie genau beobachtet und analysiert. Herder nahm an, daß Kunst, die den Menschen zum Maßstab hat, allgemeinverständlich sei, über die Kulturen hinweg. Insbesondere gelte dies für Bildhauerei und Schauspiel80, letztendlich auch für Malerei und Grafik - mit den durch ihre teilweise komplizierten Kompositionen verursachten Einschränkungen. 81 Er führt diese Verständlichkeit auf die Eigenart des Sehsinnes zurück: »Da aber endlich doch Licht und Farben sowohl das menschliche Auge und der Verstand allen Sehenden gemein sind, oder als ihnen gemeinsam vorausgesetzt werden: so müßen sich, bei vesten Regeln der Kunst, d. i. des organischen Verstandes, die verschiedensten Urtheile zuletzt verständigen und vereinen.«82 Seine Position ähnelt Lichtenbergs Annahme der universellen Gültigkeit der Körpersprache. Nicht erst die moderne Ethnologie ist in der Lage, ihnen zu widersprechen. Schon Christian Ludwig von Hagedorn glaubte an eine universale Kunstsprache ebensowenig wie an eine Universalsprache. Er führt eine Äußerung Fontenelles über Leibniz an: »Diese Völker kommen nur darin überein, daß sie sich niemals über ihre gemeinschaftlichen Vortheile mit einander verstehen.«83 Merck und Goethe kritisierten Sulzers Versuch, das Kunstprinzip »Nachahmung der Natur« durch das der »Verschönerung der Dinge« zu ersetzen.84 Beide beurteilten den Versuch einer systematischen Kunsttheorie skeptisch. Merck bevorzugte die »anschauende Erkenntnis«. Fundiert ist sie in Moses Mendelssohns Zeichenlehre, die natürliche und willkürliche Zeichen unterscheidet. Bilder- und Gebärdensprache zählen zu den natürlichen Zeichensystemen, denen die allgemeine Begrifflichkeit der Sprache fehlt. Solchermaßen unbegrifflich, führt sie zu »anschauender Erkenntnis«. Das natürliche Bildzeichen muß mühelos verstehbar sein. Dies wird im Vergleich erreicht: »Wir erlangen diese [anschauende Erkenntnis], wenn wir die abgesonderten Begriffe auf einzelne, bestimmte und wirkliche Begebenheiten zurückführen [...] In der Anwendung der allgemeinen Schlüsse auf besondere Fälle übersehen wir alle Verbindungen und Folgen der allgemeinen Begriffe gleichsam mit einem Blicke, die wir in der Absonderung nur nach und nach überdenken konnten.«85 Kunstbetrachtung erfolgt also im Unbewußten, in Mendelssohns Worten: »Der Künstler muß also betrachten, daß er zwar mit unserer Seele, aber nur mit ihren untern und sinnlichen Kräften reden soll.«86

79 Horstig: Revision der neuen Bücherkupfer. In: Archiv für Künstler und Kunstliebhaber. Hg. von Johann Georg Meusel. 2. Bd., 4. St. Dresden 1808, S. 47, zit. n. Kruse 1989, S. 57; die gleiche Kritik übte schon Lavater, siehe Busch 1977, S. 198. 80 Herder, Adrastea I, S. 74. 81 Zum Zusammenhang von Ausdruck in der Bildenden Kunst und im Schauspiel siehe Barnett 1990, S. 71-74. 82 Herder, Adrastea I, S. 74. 83 Hagedorn 1762, S. 484. 84 Pieper, Merck, S. 56. 85 Mendelssohn, 1843-1854, Bd. 1, S. 275, zit. n. Pieper, Merck, S. 59. 86 Ebd., S. 59.

Geschichte und

Zeitgeschichte

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Analog zum Aperçu vom »Ende der Ikonografie« (Werner Busch) läßt sich in der Bildpublizistik und Illustrationskunst die Verabschiedung der Ikonografie beobachten. Die Unterschiede müssen erklärt werden. Jene Formel bedeutet, daß im 18. Jahrhundert der Prozeß einsetzte, der zur autonomen Kunst führte. Bemerkbar machte er sich an der Auflösung der Bedeutungsbindungen ikonografischer Motive. Die christliche Ikonografie wurde profaniert. Benjamin West malte beispielsweise den General Wolfe 'als' toten Christus bei der Grablegung. Das ikonografische Inventar blieb also bestehen, doch veränderte sich seine Bedeutung. »Abschied von der Ikonografie« heißt, daß in Ereignisbildern auf sie verzichtet wurde. Er fand nicht in malerischen Hauptwerken wie denen einer Kauffmann, eines David oder West statt, sondern in der Bildpublizistik. Damit stellt sich das Problem der Verständlichkeit. Das Hauptargument für den ikonografischen Kanon im 17. und 18. Jahrhundert war seine Funktion als Baukasten. Alle Menschen mit literarischer Bildung waren fähig, rasch ein Bildthema zu identifizieren. Neue Themen hatten es so schwer wie Neuschöpfungen in der Sprache. Gelöst wurde das Problem, indem es umgangen wurde. Umgangen wurde es, indem sich das Interesse am Bild veränderte. Statt zu fragen, ob eine originelle und stimmige Neuinterpretation eines konventionellen Themas vorliege, reizte in den nichtikonografischen historischen und zeitgeschichtlichen Ereignisbildern der eingefangene Moment selbst, die psychologische Sicht der beteiligten Figuren.87 So schlug sich der im 18. Jahrhundert vollziehende anthropologische Umbruch in künstlerischen Formen nieder. Drei wirkungsästhetische bzw. thematische Gesichtspunkte sind dafür entscheidend: erstens förderte die affektbetonte Darstellung der Figuren eine einfühlende Wahrnehmung des Bildes; zweitens verhinderte »illusionsfördernde Detailgenauigkeit [...] Generalisierung als Voraussetzung von Exemplarität und Identität«; drittens rückten Bilderwelt und bürgerliche Lebenswelt durch die Wahl gegenwartsbezogener Themen aus gesellschaftlichem Leben und Zeitgeschichte näher zusammen.88

2. Geschichte und Zeitgeschichte Themen der nachantiken Geschichte spielten in der Kunst bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts keine große Rolle. In Piglers einschlägigem Handbuch sind ihnen fünf Seiten gewidmet.89 Selbst unter der Berücksichtigung, daß Pigler Vollständigkeit weder erstrebte noch erreichte und namentlich die Kunst des späten 18. Jahrhunderts etwas dürftig vertreten erscheint, ist die Tendenz eindeutig. In Frankreich wurde die nationale Geschichte schon im 17. Jahrhundert Bildgegenstand.90 Seit den 1770er Jahren mehren sich nationale Themen in den Salonausstellungen.91 In Deutschland dagegen beginnt die Rezeption nationaler Geschichte, von Ausnahmen abgesehen, erst in der Mitte des 18. Jahrhunderts. Zwei Beispiele seien genannt:

87 Vgl. Börsch-Supan 1986, S. 101 und 106f.; hinsichtlich der Bildsatire: Gombrich 1990, S. 43. 88 Busch 1989, S. 337; zur nichtidealischen Basis der Illustrationskunst vgl. Andreas Poltermann: Bilder und immer wieder Bilder. Mit dem einsamen Wort gegen den öffentlichen Bilderdienst: die unbebilderte Erzählprosa des poetischen Realismus. In: D i e Kunst der Illustration. Ausstkat. Wolfenbüttel 1986, S. 29-43, vor allem S. 29-31. 89 Z u m Vergleich: Der »Selbstmord der Lukretia« nimmt vier Seiten ein (Pigler 1956). 90 H. Fegers: D a s politische Bewußtsein in der französischen Kunstlehre des 17. Jahrhunderts. Mainz 1943 (zugl. Diss. Heidelberg), S. 71. 91 Vgl. Hager 1989, S. 58f.

126

IV.

Ereignisbilder

Christian Bernhard Rode ist einer der ersten Historienillustratoren im 18. Jahrhundert in Deutschland. 92 Seine früheste Erfahrung (ab 1757) machte er bei seiner Mitarbeit an Schleuens Illustrationen von »Les actions glorieuses de Frédéric le Grand, roi de Prusse [...]«.M Für Schrökhs »Allgemeine Weltgeschichte für Kinder« zeichnete er die Illustrationen (1779ff.). Der von Lorenz Westenrieder herausgegebene, von 1790 bis 1810 erscheinende »Historische Almanach« stellte die gesamte bekannte Geschichte der Deutschen vor, angefangen bei den Germanen. 94 Die Bändchen waren durchgehend von Mettenleiter illustriert und bieten die umfangreichste illustrierte deutsche Geschichte ihrer Zeit und vielleicht die bis heute - vom illustratorischen Standpunkt aus gesehen - einheitlichste. Beide Beispiele erfolgreicher Unternehmungen müssen zusammen gesehen werden mit den Widerständen, die den nationalistischen Tendenzen in der Kunst entgegengebracht wurden. Rodes Gemäldeserie zur brandenburgischen Geschichte wurde von Friedrich II. nicht gewürdigt.95 Denkbar ist, daß die der Serie zugrundeliegende Konzeption des Verhältnisses von Geschichte und Ästhetik abgelehnt wurde. Der preußische König folgte nicht der aufklärerischen Idee der pädagogischen Funktion der Kunst und lehnte ebenso den Rückgriff auf die Vergangenheit ab. Diese war zu sehr mit der Geschichte des Deutschen Reiches verbunden. Friedrich förderte Patriotismus nur, wenn er sich auf das Preußen der Gegenwart bezog.96 Rode setzte seine Gemälde in Radierungen um und sprach somit ein breites bürgerliches Publikum an, das sein Werk aber nicht im gewünschten Umfang an- und abnahm. Als Grafiken waren seine Historien halbwegs akzeptabel, denn Themen der deutschen Geschichte blieben der Druckgrafik vorbehalten.97 Wilhelm Tischbein klagte gegenüber Johann Heinrich Merck: »Über die deutsche Geschichte hatte ich einen großen Zank mit den Künstlern, die wollten mir nicht gestehen, daß sie ebenso gut zu mahlen sei, als die römische, und ich glaube, in der deutschen sind ebenso große und edle Vorfälle als in jener, nur unbekannter, und die alte deutsche Kleidung wird ebensoviel Effekt machen als die römische und vielleicht noch mehr.«98 War Tischbeins Stimme noch vereinzelt, so erhob sich in den 1790er Jahren bereits ein Chor, der für die Wahl nationaler Trachten eintrat. Ein Anonymus kritisiert beispielsweise an dem Standbild eines sächsischen Kurfürsten, daß es ohne Inschrift nicht als Statue eines deutschen Fürsten erkennbar sei. Durch den Anblick desselben in altrömischer Tracht »ward meine Teutschheit beleidigt«. Der Aufsatz erschien in einem keineswegs chauvinistischen Organ.99 Seit 1780 wird die Zahl der germanischen Motive unübersehbar. Im selben Jahr wird einer Ausgabe von Justus Mosers »Osnabrückischer Geschichte« ein Kupfer hinzugefügt, das einen pflügenden Germanen zeigt, dessen Frau und Kind unter einer mächtigen Eiche sit-

92 Über Rode siehe: Kunst im Dienste der Aufklärung. Radierungen von Bernhard Rode. Ausstkat. Kiel 1986-1987 und Renate Jacobi: Das Graphische Werk Bernhard Rodes (1725-1797). Münster 1990 (zugl. Diss. Kiel 1989). 93 Berlin: Schleuen o. J.; vgl. Kataloge 1971, Registerband, S. 19. 94 Historischer Calender 1790 [und weitere], 95 Vgl. Hager 1989, S. 64. 96 Vgl. Büttner 1990, S. 85. 97 Vgl. Czymmek 1987, S. 77. 98 Zit. n. ebd., S. 77. 99 N.N.: Ueber die Bildsäule des regierenden Churfürsten von Sachsen auf der Esplanade vor dem Petersthore zu Leipzig. Etwas zum Nachdenken für teutsche Künstler und Kunstkenner. In: Archiv II, 1792, S. 35-39.

Geschichte und Zeitgeschichte

127

zen.100 Johann Eleazar Schenau zeichnete 1781 die Illustrationen zu von Grevenitz' Heldengesang »Brennus«.101 Eine Orpheus-Illustration Johann Wilhelm Meils von 1784 erinnert stark an Germanen-Bilder. Der zarte Sänger greift, unter einem mächtigen Baum stehend, in die Saiten seiner Leier. Hinter diesem treten »nur mit Fellen bekleidete, mit Keulen bewaffnete wilde Männer und nackte Nymphenwesen« hinzu.102 Auch Angelica Kauffmann 103 , Christian Bernhard Rode [D23 (Abb. 13)\, Daniel Chodowiecki104 und Asmus Jacob Carstens105 schufen Bilder über den Germanenfürsten Hermann. Neben den germanischen Motiven existieren nur wenige jüngere, und sie sind vor 1790 fast sämtlich von Rode und Chodowiecki entworfen. So entstanden einige Bilder aus dem Leben von Karl dem Großen, dessen Nationalität (französisch oder deutsch?) umstritten war [D32].106 Wilhelm Tischbein lernte bei dem Zürcher Gelehrten Johann Jacob Bodmer die Ideen kennen, die in Deutschland das Geschichtsverständnis zu verändern begannen. Bodmer erachtete sein Studium der älteren deutschsprachigen Literatur als patriotische Pflicht. Tischbeins Bemühung, auch die Malerei dem Patriotismus zu öffnen, mißlang. Sein Anliegen war es, den deutschen Nationalcharakter in Kostüm und Körpersprache wiederzugeben.107 Seine historischen Werke wurden zwar gelobt, aber nicht nachgeahmt, weil erstens die Antike als Norm im Historienfach noch unangefochten, zweitens Patriotismus noch kein ästhetisches Argument war. Geschichte war für ihn von der Literatur nicht getrennt, deshalb malte er als Beispiel einer patriotischen Historie »Götz und Weislingen« (1782).108 Ein Jahr später folgte auf Anregung Bodmers »Konradin von Schwaben und Friedrich von Österreich empfangen ihr Todesurteil« (1783/ 84).109 In diesem Gemälde wird die traditionelle Vorstellung der Geschichte als Lehrmeisterin verbunden mit dem jungen Patriotismus. Frank Büttner, der die Geschichte dieses Bildes umfassend erforscht hat, betont den Nationalgedanken allerdings zu stark.110 Es ist nicht erkennbar, daß Tischbein sich mit politischen Tendenzen (wie dem Reichspatriotismus) beschäftigte. Zwar wuchs mit dem allgemeinen Geschichtsinteresse auch die Hinwendung zur deutschen Vergangenheit, doch war diese eine Voraussetzung - und keine Folge - des Nationalgedankens. Bernhard Rodes Radierung »Der junge Conradin küßt den Kopf seines enthaupteten Freundes« (1781) [D33] ging Tischbeins Gemälde wie auch der literarischen Konradin-Mode um kurze Zeit voran."1 In einem Rückblick auf diese nationalgeschichtlichen Bestrebungen resümierte schließlich Fiorillo:

100 Von Johann Wilhelm Meil (siehe Dorn 1928, Nr. 382). - Moser 1780. 101 Grevenitz 1781. Die Kupfer sind von Rasp (Frontispiz), Christian Friedrich Stoelzel und Ephraim Gottlieb Krüger. 102 Ausstkat. Dortmund 1985, Nr. 23, mit Abb. S. 54. Illustration zu Jean Charles Thibault de Laveaux: Les Nuits Champêtres. Berlin: Himburg 1784; vgl. Dorn 1928, Nr. 431-433. 103 »Hermann von Thusnelda gekrönt«, nach Klopstocks »Hermannschlacht«. 104 Als Chodowiecki eine geschichtliche Abhandlung über Hermann illustrieren sollte, lehnte er sich lieber an Klopstocks Gedicht an. Bauer 1982, Nr. 906 (und Nr. 910), vgl. Wormsbächer S. 90-92. 105 Das Bild zeigte den aus der Schlacht zurückkehrenden Hermann, dem Thusnelda den Kranz reicht. - Fernow 1806, S. 67. 106 Zur Nationalitätenfrage: Johann Gottfried Herder, Warum wir noch keine Geschichte der Deutschen haben? (Neue Deutsche Monatsschrift, 1795) In: SWS 18, S. 381f. 107 Büttner 1984, S. 104f. 108 Ebd., S. 105 109 Gotha: Schloßmuseum. Abb. in Czymmek 1987, S. 77. - Vgl. Hager 1989, S. 61. 110 Vgl. Büttner 1984, S. 107. 111 Wörlitz: Staatliche Schlösser und Gärten. Vgl. Ausstkat. Berlin ( D D R ) 1987, Nr. 94; Abb. der Vorzeichnung: in Hager 1989, Abb. 7. Vgl. ebd., S. 61f.

128

IV. Ereignisbilder

»Göthe glaubt, daß auch Wilhelm Tischbein durch seinen [...] Conradin von Schwaben, der im Gefängniß zu Neapel sein Todes-Urtheil mit der größten Standhaftigkeit anhört, einigen Einfluß [...] gehabt habe, allein es hatten auch andere schon früher als er, Gegenstände aus der deutschen Geschichte gewählt, namentlich sein Onkel in Cassel, die Herrmanns-Schlacht. Obwohl damals in einigen Zeitschriften viel davon gerühmt wurde; so fanden sich doch keine Nachahmer [...]«; schließlich sei auch Tischbein von der deutschen Geschichte abgegangen.112 Er verzichtete also darauf, seinen Ansatz weiter auszuführen. Chodowiecki indessen zeichnete in den 1780er und 90er Jahren etliche Serien zur deutschen und - bevorzugt - brandenburgischen Geschichte. Damit war nicht er allein beschäftigt. Für den »Historisch Genealogischen Calender auf das Jahr 1792« radierte Johann Wilhelm Meil sechs Kupfer zur brandenburgischen Geschichte, über den Zeitraum von 1640-1680.113 Neben Themen der germanischen Geschichte radierten Chodowiecki114 und andere für Anton Kleins deutsche Geschichtsbilder auch Themen der neueren Geschichte. Friedrich II. von Preußen, dem viele Bilderzyklen schon zu Lebzeiten gewidmet waren, förderte diese Historienkunst nicht. In einem Verzeichnis der zwischen 1789 und 1791 in Preußen geschaffenen öffentlichen Kunstwerke findet sich kein Hinweis auf eine besondere Aufgabe der Geschichte.115 Noch war der Weg weit bis zur Entstehung einer nationalistischen Kunst. Georg Forster, der Weltbürger, fand den Weg zu ihr, mit diametral entgegengesetzten Absichten. Er behauptete, daß die Kunst von den charakteristischen Eigenschaften des Landes abhänge, in dem sie entsteht. Daher sei die moderne deutsche Kunst schlecht, weil sie im Despotismus entstehe.116 Trotzdem sei es notwendig, dem Nationalcharakter zu entsprechen. Weil sich in seiner Vorstellung Nationalbewußtsein und Kosmopolitismus nicht widersprachen, sondern ergänzten, versprach er sich von einer Nationalkunst einen Beitrag zum gesellschaftlichen Fortschritt. Ein aufgeklärter Mensch sollte erkennen, welchen Platz er innerhalb seiner Gesellschaft einnahm; gleichzeitig sollte er sich als Teil der Natur betrachten. 117 Von Chauvinismus, der an den Landesgrenzen haltmacht, ist bei ihm keine Rede, doch fällt es leicht, den von ihm geäußerten Gedanken in diese Richtung fortzuführen. Von einem Bildthema unter anderen avancierte die Historie zur patriotischen Kunst: »Ihren erhabensten Zweck erreicht die Kunst, indem sie die Geschichten der Vorwelt vor unser Auge stellt, und edle Vaterlandsliebe in unsrer Brust entflammt, die den heißen Wunsch für das Leben unsers geliebten Monarchen beseelt, unter dessen Zepter die friedlichen Künste blühen, während das sein Arm unsre Grenzen schützt.«118 Erst Friedrichs politischer Enkel Friedrich Wilhelm III. vergab seit 1799 patriotische Kunstaufgaben.119 Die seit Beginn des 19. Jahrhunderts um sich greifende nationalistische Gotikrezeption baute an dieser Kunstpädagogik mit.120 Aus der gleichen Zeit datiert ein Kupfer, das den Bogen vom germanischen Helden Hermann zum neuzeitlichen Heroen Friedrich II. 112 113 114 115 116

117 118 119 120

Fiorillo i y 1820, S. 81. Berlin 1791, Dorn 1928, Nr. 551. Bauer 1982, Nr 908, 909. Nachtrag zum Akademiekatalog 1791, in: Kataloge 1971, Bd. 1. Marita Gilli: Georg Forster. L'oeuvre d'un penseur allemand réaliste et révolutionnaire (1754-1794). Paris, Lille 1975 (Diss. Paris 1974), S. 365f. (eine deutsche Übersetzung und Neubearbeitung wird demnächst erscheinen). Ebd., S. 668. Vorwort zum Akademiekatalog 1793, in: Kataloge 11971. Kataloge 1971, Registerband, S. 18. Vgl. Dolff-Bonekämper 1990, S. 6-8.

Geschichte und Zeitgeschichte

129

schlägt und mit Blick auf diese Ahnenreihe an den deutschen Ahnenstolz appelliert [D34 (Abb. 17)]. In der Gruppe der Nazarener dienten Themen der deutschen Vergangenheit der nationalen Selbstbesinnung. Wenige Jahre nach dem Ende des Kaiserreiches setzte daher Franz Pforr nicht nur der Persönlichkeit Rudolfs von Habsburg ein Denkmal (in seinem Gemälde »Der Einzug König Rudolfs von Habsburg in Basel«, 1808-10), sondern auch dem erloschenen Kaisertum. Das Ambiente entnahm Pforr dem 16. Jahrhundert, vielleicht aus Unkenntnis der früheren Kulturgeschichte oder weil er nicht differenzieren mochte zwischen Lebensweisen des 13. und 16. Jahrhunderts. Vielleicht klingt aber hierbei die Vorstellung vom 16. Jahrhundert als dem beispielhaften bürgerlichen Jahrhundert mit.121 In der Wahrnehmung des deutschen Bürgertums äußerten sich heilsgeschichtliche Elemente. Die als erniedrigend empfundene gegenwärtige politische Abhängigkeit wurde mit den vergangenen »schöneren Zeiten« verglichen, in der Hoffnung auf deren Wiederkehr, im »Glauben an die Zukunft«.122 Publizistik und Bildpublizistik entwickelten sich vergleichbar: während die Form des Almanachaufsatzes entstand, war ein Jugendbuch ein Vorbild für die Illustrationskunst, nämlich die bereits erwähnte »Allgemeine Weltgeschichte für Kinder« (1779-84) mit ihren Illustrationen nach Rodes Entwürfen. Frank Büttner hat die Bedeutung dieses Werkes für die Geschichte der Historienkunst in Deutschland hervorgehoben.123 Viele Almanache wurden nach dem Muster von Schrökhs »Weltgeschichte« illustriert. Parallel zu diesen Buchillustrationen entstanden zunehmend Einblattdrucke zu geschichtlichen Themen, die den herkömmlichen Themenkanon der Historienmalerei sprengten. An einer exemplarischen Übersicht ist ablesbar, wie sich aus dem Interesse an der Geschichte die Aufmerksamkeit für die Zeitgeschichte ableitete: Daniel Chodowiecki begann zwar später als Bernhard Rode mit der Arbeit an geschichtlichen Illustrationen.124 Seine Monatskupfer für Almanache wurden, da sie in einem günstigeren Medium als Rodes Arbeiten erschienen, jedoch erheblich populärer als diese. Obwohl Chodowieckis Sympathien überwiegend anderen Aufgaben galten (z. B. Literaturillustrationen), beeindrucken zeitliche Kontinuität und Umfang seines hier tabellarisch aufgeführten geschichtlichen und zeitgeschichtlichen Oeuvres: Kreuzzüge, 12 Bilder, 1781.125 Deutsche Geschichte, 6 Blätter, 1782-1787.126 Réfugiés, 9 Blätter, 1782-1799.127 Nordamerikanische Revolution, 12 Bilder, 1783.128 Kulturgeschichte, 12 Bilder, 1784.129 Brandenburgische Geschichte, 12 Bilder, 1786.130 Geschichte Friedrichs II. von Preußen, 12 Bilder, 1788.131 121 122 123 124

125 126 127 128 129 130 131

Vgl. Czymmek 1987, S. 78. Vgl. Luden 1810, S. 6f. Büttner 1986, S. 416, zu Meils Beitrag vgl. Dorn 1928, Nr. 356-379. Schon 1768 erschien von Rode eine »Historische Sammlung, gemahlt und geätzt von Bernhard Rode«. Berlin, in klein-quer-2° (siehe Huber/ Rost 1796, S. 173). Nicht minder reizvoll wäre der Vergleich mit Johann David Schuberts Werk, das leider noch kaum erschlossen ist. Bauer 1982, Nr. 850-861 (»12 Bilder« bedeutet, daß die Illustrationen auf einer Platte radiert wurden und folglich auf ein Blatt gedruckt wurden). Zu Klein's Leben grosser Deutschen. Ebd., Nr. 906-911. Ebd., Nr. 965-973. Ebd., Nr. 1054-1065. Ebd., Nr. 1115-1026. Ebd., Nr. 1227-1238. Ebd., Nr. 1356-1367.

130

IV.

Ereignisbilder

Holländischer Krieg, 4 Bilder, 1788.132 Zar Peter I., 12 Bilder, 1789.133 Zeitgeschichte (1770-1789), 12 Bilder, 1789.134 Brandenburgische Geschichte, 10 Blätter, 1789-1790.135 Bartholomäusnacht, 12 Bilder, 1790.136 Geschichte und Zeitgeschichte, 12 Bilder, 1790.137 Zeitgeschichte, 12 Bilder, 1791.138 Geschichte (Spätmittelalter und Reformationszeitalter), 12 Bilder, 1791.139 Zeitgeschichte, 6 Bilder, 1792.140 Brandenburgische Geschichte, 12 Bilder, 1792.141 Zeitgeschichte und Aeneide, je 6 Bilder, 1792.142 Geschichte und Zeitgeschichte, 12 Bilder, 1792.143 Zeitgeschichte, 3 Bilder, 1792.144 Geschichte, 12 Blätter, 1793.145 Brandenburgische Geschichte, 12 Bilder, 1793.146 Geschichte Friedrichs II. von Preußen, 6 Bilder, 1793.147 Geschichte (Mittelalter), 12 Blätter, 1793.148 Zeitgeschichte, 6 Bilder, 1794.149 Geschichte (Polen), 6 Bilder, 1795.150 Geschichte (Mittelalter), 6 Blätter, 1795.151 Deutsche Geschichte, 18 Blätter, 1795-1800.152 Geschichte (Polen), 6 Bilder, 1796.153 Katharina II., 8 Blätter, 1797.154 Bartholomäusnacht, 12 Bilder, 1798-1799.155 Wallenstein, 6 Bilder, 1799.156 Stationen bürgerlicher Geschichte, 5 Blätter, 1800.157 Geschichte Friedrichs II. von Preußen, 8 Bilder, 1800.158 1. Kreuzzug, 12 Bilder, 1800.159 Zwischen 1769 und 1800 entstanden 131 Serien, insgesamt 1330 Bilder. Ein Viertel der Serien (35) behandelt historische Themen, mit insgesamt 339 Bildern. Der zeitgeschichtliche Anteil ist zwar insgesamt gering, erhält sein Gewicht jedoch durch die Verteilung. Wird der Zeitraum von 1781 bis 1800 in drei Abschnitte unterteilt, so ergibt sich, daß die Französische Revolution die Produktion erheblich beeinflußte: Im vorrevolutionären Jahrzehnt entstanden weniger zeitgeschichtliche Bilder als zwischen 1790 und 1794 (40:46). Nicht anders fällt 132 134 136 138 140 142 144 146 148 150 152 153 155 157 159

Ebd., Ebd., Ebd., Ebd., Ebd., Ebd., Ebd., Ebd., Ebd., Ebd., Ebd., Ebd., Ebd., Ebd., Ebd.,

Nr. Nr. Nr. Nr. Nr. Nr. Nr. Nr. Nr. Nr. Nr. Nr. Nr. Nr. Nr.

133 Ebd., Nr. 1411-1422. 1369-1372. 1423-1434. 135 Ebd., Nr-1435-1444. 1457-1468. 137 Ebd., Nr. 1481-1492. 1521-1526. 139 Ebd., Nr. 1539-1550. 1581-1556. 141 Ebd., Nr. 1587-1598. 1611-1622. 143 Ebd., Nr. 1599-1610. 1623-1625. 145 Ebd., Nr. 1646-1657. 1677-1688. 147 Ebd., Nr. 1695-1700. 11701-1712. 149 Ebd., Nr. 1741-1746. 1804-1809. 151 Ebd., Nr. 1810-1815. 1834-1851, zur »Deutschen Monatsschrift«. 154 Ebd., Nr. 1903-1910. 1816-1821. 156 Ebd., Nr. 1997-2002. 1942-1957. 2011-2015. 158 Ebd., Nr. 2019-2026. 2027-2038.

131

Geschichte und Zeitgeschichte

Serien Ereignis. histor. zeitgesch. gemischt Bilder Ereignisb. histor. zeitgesch.

bis 1781

1781-1789

1790-1794

ab 1795

total

44 0

37 10 6 4 0 386 103 63 40

29 15 7 6 2 268 144 98 46

21 10

131 35 23 10 2 1330 339 248 86160

495 0

10

0 0 181

87 87 0

das Ergebnis bei den historischen Blättern aus (63:98). Von 1795 bis 1800 entstanden keine zeitgeschichtlichen Serien mehr, hingegen 87 historische Bilder in zehn Folgen (die Titelkupfer zur »Deutschen Monatsschrift« einbezogen). Chodowieckis Produktionskurve ist nicht deckungsgleich mit der Bilanz der populären historischen und zeitgeschichtlichen Schriften, die nach 1794 dem Krieg große Aufmerksamkeit widmeten, aber sie bietet trotzdem einigen Aufschluß. Ihr Beginn fällt in die Zeit, in der die Lust an der Geschichte im Bürgertum allgemein wird. Ähnliche Aktualität wie die Revolutionsillustrationen kann in den 1780er Jahren neben der Arbeit über den amerikanischen Unabhängigkeitskrieg nur die kleine Folge zum Holländischen Krieg 1787 beanspruchen. Höhepunkt der zeitgeschichtlichen Produktion war das Jahr 1792. Von den sechs in jenem Jahr entstandenen Folgen sind ihr vier zuzurechnen (mit 17 Bildern); berücksichtigt man eine weitere historische Arbeit, übertraf vorübergehend das Ereignisbild in Chodowieckis Werk seine favorisierten Genres Literaturillustration und Moralsatire. Auffällig ist auch der abrupte Verzicht auf weitere zeitgeschichtliche Illustrationsfolgen seit 1795, der vielleicht mit einem Überdruß an den Zeitläuften erklärt werden kann. Warum am Ende des 18. Jahrhunderts eine so hohe Nachfrage für Zeitgeschichtsbilder bestand, ist mehrfach begründbar. Im Vordergrund steht das neue Interesse an der Geschichte überhaupt. Es begünstigte nicht nur die Modernisierung der Wissenschaft, sondern auch die Ausbildung bzw. Vermehrung zahlreicher Vermittlungsformen: Schriften mit unterschiedlichen Ansätzen (von der Universalgeschichte bis zur archivalischen Miszelle), populäre Texte für unterschiedliche Gruppen (Kinder, Frauen usw.) und Bildungsniveaus (Bauernkalender, Almanache für den Mittelstand), Dramen, Erzählungen und Gedichte. An diesen Verarbeitungen lockten zwei Reize gleichermaßen: Einerseits gewann geschichtliche Kenntnis allmählich einen Eigenwert, andererseits wurde sie zunehmend auf die Gegenwart bezogen.161 Bestes Beispiel dafür ist die patriotische Geschichtsschreibung. Geschichte und Zeitgeschichte gehörten zusammen, das zeigt schon die Zusammensetzung von Mosers »Patriotischem Archiv« und ähnlichen Werken. Die Dichtung reflektierte diese Entwicklung in den unzähligen Zeitgedichten, die seit den 1790er Jahren entstanden. Sie sind keine Fortsetzung der traditionellen »Zeitungslieder«, sondern kommentieren das Zeitgeschehen und versuchen, Sinn zu stiften. Klopstock schrieb eine ganze Serie solcher Gedichte über die Revolution, die er, offenbar angeekelt von den Exzessen der Enthauptungen und Noyaden (Massenertränkungen), vernichtete.162 160 Die Tabelle berücksichtigt nur Bilder, die zu Folgen aus mehr als drei Illustrationen zusammengestellt wurden. Hinzu kamen wegen ihrer thematischen Bedeutung Bauer 1982, Nr. 1623-1625 und 1834-1851. 161 Kein Widerspruch, sondern eine Ergänzung dieser Tendenz ist die gleichzeitige Historisierung der Gegenwart (z. B. in der Mode). 162 Zimmermann 1987, S. 162f.

132

IV.

Ereignisbilder

Der zweite Grund besteht in der veränderten Bildauffassung im Bürgertum, wie sie im Kapitel über die bürgerliche Ästhetik beschrieben wurde: »Man male eine fast gleichgültige Scene aus der Geschichte, und man zeige eine fast auserlesene Versammlung von den abstracten Ideen, die wir allegorische Personen zu nennen pflegen; die erste wird dennoch mehr gefallen. Ich bin sehr damit zufrieden, daß man endlich aufhöre, die Mythologie zu malen, man hätte schon lange aufhören können; aber die wahre heilige und weltliche Geschichte sey Dasjenige, womit sich die größten Meister am liebsten beschäftigen. Welch ein weites Feld! und wie interessant kann man alsdann seyn, wenn die rechten Momente gewählt werden«.163 Auch wenn Klopstock in seiner Äußerung den Grund für den Geschmackswandel nicht formuliert, bezeugt er doch, daß im Bürgertum insbesondere lebensweltliche Szenen großen Anklang fanden.

3. Französische Revolution164 Wenn Zeitungen und zeitgeschichtliche Bilder hinsichtlich der Revolutionsrezeption miteinander verglichen werden, wird deutlich, wie sehr sich die Geschwindigkeit der medialen Aufbereitung von Ereignissen auf die Druck-Erzeugnisse auswirkte. In der deutschen Presse - einschließlich der Periodika, die mehrmals im Jahr erschienen - wurde ausführlich über die neuesten Geschehnisse und Debatten berichtet. Weniges davon fand seinen Niederschlag in Bildern.165 Ein bebildertes Periodikum, das den »Révolutions de Paris« vergleichbar wäre, existierte in Deutschland nicht. Die dort veröffentlichten Illustrationen wurden auch nicht kopiert. Einige Zeitschriften fügten zwar regelmäßig Illustrationen bei; die »Deutsche Monatsschrift« brachte in fünf Jahren 18 Blätter zur deutschen Geschichte; jedem Halbjahresband der »Politischen Gespräche« war ein satirisches Kupfer beigelegt. Serien mit zeitgeschichtlichen Ereignisbildern erschienen in der Presse nicht.166 Bildpublizistisch tritt die Staatsumwälzung in Deutschland erst mit dem Bastillesturm auf die Bühne. Die folgende Übersicht ist gewonnen aus Almanachillustrationen, zu geringerer Zahl aus Einblattdrucken und in Einzelfällen aus weiteren Buchillustrationen. Mit etwas Verzögerung erscheint die erste deutsche Illustrationenfolge im »Historischen Almanach« 1790. Sie bringt nicht nur die Revolution als Folge von visuell nacherlebbaren Ereignissen nahe, sondern rückt den neuen heimlichen Souverän ins Bild, die Bevölkerung von Paris. Auf dem ersten Bild ist mit der »Heldentat des Prinzen Lambesc« [D36 (Abb. 19)] das Wüten einer Soldateska zu sehen, die im Tuileriengarten flanierende Bürger niederreitet. Die Empörung über diese Untat verstärkte den Aufruhr, der zwei Tage später zum Bastillesturm führte. Als mächtige Völksmasse schildert ein weiteres Kupfer die Pariser Bevölkerung beim Einzug des Königs in seine Hauptstadt am dritten Tage nach dem Bastillesturm

163 E G. Klopstock: Eine Beurtheilung der Winkelmannischen Gedanken über die Nachahmung der Griechischen Werke in den schönen Künsten, zit. n. Zimmermann 1987, S. 155. 164 Zur Begriffsgeschichte siehe Koselleck 1979, S. 67-86. 165 Doch fällt die Bilanz deutlich günstiger aus als im Fall der Berichterstattung über den amerikanischen Unabhängigkeitskrieg, von dem nur wenige Bilder existieren: z. B. Chodowieckis Serie, Carl Guttenbergs »Tea-Tax-Tempest« [D35 (Abb. 18); nach englischem Vorbild], von Johann Gotthard Müller nach Trumbull der »Angriff auf Bunkers hill« (siehe Huber/ Rost 1796, S. 289) und einige Guckkastenbilder. - Vgl. Freiheit für Amerika! Der Kampf um die amerikanische Unabhängigkeit 1775-83. Gedenkausstellung der British Library im Museum für Hamburgische Geschichte. Hamburg 1976, S. 86,104f„ 160. 166 Stein 1992.

Französische Revolution

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[D37 (Abb. 20)]. Mitten in die Revolution hinein führt schließlich die Darstellung der Lynchjustiz an einem Kornwucherer vor der Halle aux Blés [D38 (Abb. 21 )]. Diese und die übrigen Episoden fügen sich zu einem zusammenhängenden Gesamtbild mit einer neuartigen Perspektive auf Menschen, Stadt und Politik. 1789 wurden sieben verschiedene Ereignisse behandelt, 1790 waren es vier, 1791 sechs (drei im Zusammenhang mit Varennes), 1792 zwölf,1793 fünfzig, 1794 bis zum 9. Thermidor fünfzehn. Ab 1790 spielten in der außenpolitischen Bildpublizistik andere als französische Themen keine nennenswerte Rolle mehr, während 1789 noch der russisch-türkische Krieg behandelt worden war. Der sprunghafte Anstieg 1792 ergibt sich hauptsächlich aus der Radikalisierung der Revolution. Die markanten Daten sind der 20. Juni, der 10. August und die Septembrisaden. Ab Oktober dominiert der auf deutschem Territorium geführte Krieg. 1793 ist das Jahr der Kriegsberichterstattung. Daneben interessieren das Schicksal der königlichen Familie und der Brissotins, der Tod Marats und Cordays, die Verwüstungen in Lyon und die Entchristianisierungskampagne. 1794 spielen die Vorgänge im Innern Frankreichs kaum noch eine Rolle. Zu den meisten Daten finden sich nur eine oder wenige Darstellungen. Ausnahmen sind der Bastille-Komplex und das Ende der königlichen Familie. Im Vergleich der Medien erweist sich, daß die Almanache die Revolution insgesamt gründlicher dokumentieren als die Einblattdrucke. Diese sind jedoch größtenteils aktueller. Dies wirkt sich auf Themenwahl und Gestaltung aus, insbesondere auf den emotionalen Gehalt. Der grobe Überblick zeigt also, daß die aktuelle Bildberichterstattung sich auf die wenigen Hauptereignisse konzentrierte, die aus deutscher Sicht - nach dem 14. Juli 1790 - politisch gefährlich und moralisch abstoßend waren. In Flugblättern fand, den Komplex der königlichen Passion ausgenommen, umfangreich allein der Bastillesturm Berücksichtigung.167 Er wurde offenbar allgemein sofort als epochales Ereignis begriffen. Im selben Jahr interessierten noch der Marsch der Marktfrauen nach Versailles und die dadurch erzwungene Rückkehr der königlichen Familie nach Paris [D45, D46, vgl. D47]. Die nächsten Daten scheinen willkürlich zu sein. Ein großes Fragezeichen steht sicherlich hinter allen Annahmen, die auf ein Bildercorpus abzielen, weil erhebliche Bestände als verloren gelten müssen. Tendenzielle Aussagen sind dagegen möglich. Die festgestellten Lücken in der Bildberichterstattung sind nicht zufällig entstanden. Im Bereich der Kriegsbilder war zu sehen, daß Flugblätter keinen objektiven Nachrichtenanspruch vertraten, sondern dem einfachen Rezept folgten, daß gute Botschaften gerne abgenommen werden. Es scheint in den Verlagen keine Strategie gewesen zu sein, Themen »zu setzen«, also den Publikumsgeschmack zu lenken. Andere als erschütternde Nachrichten waren nicht flugblattreif, wenn sie lediglich auswärtige Belange betrafen. Nach dem Marsch auf Versailles besteht eine Lücke von mehr als einem Jahr, als die Säkularisation zum Thema eines Flugblatts wird, das die Aufhebung des Franziskanerklosters in Straßburg am 7. Dezember 1790 darstellt [D48]. Als nächstes finden sich Flugblätter aus dem Verlag Will. Das erste beschäftigt sich in zwei Szenen mit der Flucht nach Varennes [D49], das nächste erschien zum Umsturz in Avignon am 16. Oktober 1791 [D50 (Abb. 25), vgl. D51]. Im selben Verlag kamen auch zwei Blätter zum Tuileriensturm heraus [D52 (Abb. 26), D53 (Abb. 27)]. In diesem Zusammenhang sind auch die Blätter zu sehen, die als Dar167 D39 (Abb. 23), D40, D41, D42 (Abb. 22), D43, D44 (Abb. 24) u. a.

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IV. Ereignisbilder

Stellungen der königlichen Familie im Temple deren Passionsgeschichte eröffnen. Auch mit den Septembrisaden wurde sie verknüpft, speziell durch die Szene, in der der Kopf der Prinzessin Lamballe am Temple vorbeigetragen wird [D54 (Abb. 28), D55, D56], Nach der Hinrichtung Ludwigs erschien ein Flugblatt, das die heroische Tat der Charlotte Corday enthält [D57]; eine große Ausnahme bedeutet das Aufgreifen des Themas zwei Jahre später in einem Blatt aus dem Augsburger Verlag Riedel [D58]. Vor dem Prozeß gegen Marie-Antoinette galt noch die Aufmerksamkeit der Guillotinierung des Generals Custine [D59]. Des weiteren erschien ein Flugblatt über die Bombardierung von Lyon am 7. Oktober 1793 [D60], Die letzten Flugblätter zu Themen der Revolution standen fast alle unter dem Zeichen der Guillotine: die Girondisten [D61 (Abb. 33)], Philippe Égalité [D62], Madame Elisabeth, des Königs Schwester [D63] und Friedrich von Trenck [D64]. Mit einem Buchstabenbild, das Robespier res Tod preist [D65], verebbt die Flugblattproduktion zum revolutionären Geschehen. Nach dem Thermidor erschienen nur noch einige Blätter über Kriegsereignisse.

a) Die Guillotine Etwa achtzig Arbeiten aus der Revolutionszeit (bis 1803) befassen sich mit der Guillotine. Folgende Gruppen lassen sich überblicken. Einfache Abbildungen der Maschine. Sie geben nicht die originale Konstruktion wieder [D67 (Abb. 29), D68]. Die Guillotine als Symbol in satirischen, allegorischen und anderen Bildern.168 Hinrichtungsszenen, die sich nicht auf konkrete Ereignisse beziehen. Sie bilden ebenfalls Phantasiemaschinen ab.169 Hinrichtungsszenen, die sich auf konkrete Ereignisse beziehen. Sie bilden teilweise Phantasiemaschinen ab. Diese Gruppe ist am größten und bedarf weiterer Differenzierung170: -Transport und Vorbereitung der Hinrichtung [D128 (Abb. 45)]. - der Moment vor der Enthauptung. - der Moment nach der Enthauptung. - simultane Darstellungen Szenen, die am Hinrichtungsort geschehen [D121, D129]. Abbildungen von enthaupteten Köpfen [D130, D131]. Andere Szenen, in denen die Guillotine abgebildet ist [D132, D133 (Abb. 48)]. Es ist nicht in allen Fällen leicht, die Objekte einzuordnen, z. B. bei einem Bild mit dem Portrait Robespierres neben einer Köpfmaschine. Doch der Überblick verdeutlicht, daß das Interesse überwiegend den konkreten, prominenten Hinrichtungen galt. Von einer nennenswerten Anzahl sind nur noch die Bilder, die die Guillotine als Symbol zitieren, hauptsächlich handelt es sich dabei um Satiren und Rätselbilder. In der vierten Gruppe konzentriert sich die Thematik auf Ludwig XVI. und Marie-Antoinette. Anderen Personen und Gruppen sind höchstens je drei Arbeiten gewidmet, in der historischen Reihenfolge: Custine, Brissot und den Brissotins, Philippe Égalité, Bailly, Eulogius Schneider171, den

168 D l , D65, D68, D69, D70 (Abb. 30), D71 (Abb. 34), D72 (Abb. 35), D73 (Abb. 31). 169 D75, D76 (Abb. 38), D77 (Abb. 40), D78 (Abb. 37), D79 (Abb. 36). 170 D80-82, 83 (Abb. 53), D84, D85 (Abb. 46), D86-89, D90 (Abb. 50), D91-97, D98 (Abb. 47), D99 (Abb. 51), D100 (Abb. 55), D101, D68, D63, D64, D102-106, D107 (Abb. 52), D108, DUO (Abb. 39), Dlll-114, D115 (Abb. 41), D61 (Abb. 33), D116-124, D125 (Abb. 49), D126 (Abb. 43), 127 (Abb. 44). 171 Vgl. Hansen III, 1931, S. 105.

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Dantonisten, Madame Elisabeth (des Königs Schwester)172, Friedrich Freiherr von der Trenck und Robespierre. Zufällig stellt ein Flugblatt, das die Septembrisaden behandelt, in Unkenntnis der Ereignisfolge auch die erste politische Guillotinierung dar. Nachdem im April die Maschine an einem Raubmörder erprobt worden war, folgte diesem am 21. August Louis David Collenot d'Angremont, der im Zusammenhang mit dem 10. August hingerichtet wurde. [D132].173 Vor der Köpfmaschine liegt der enthauptete Körper der Prinzessin Lamballe, die am 3. September geköpft (nicht guillotiniert) wurde. Die Konstruktionen der Phantasieguillotinen unterscheiden sich hauptsächlich im Aufbau der Gerüste. Nahezu alle Köpfmaschinen mit einem Fallbeil formen das Eisen wie ein Wiegemesser [D78 (Abb. 37)]. Beim zweiten Typus ist nicht einmal das Prinzip des Fallbeils bekannt. An seine Stelle tritt ein langes schwertähnliches Instrument, das in einer gebogenen Schiene geführt wird und den Kopf der aufrecht sitzenden Person abschneidet. Die ersteren scheinen - wahrscheinlich unabhängig voneinander, weil sich die Konstruktionen wenig ähneln - aufgrund des Alltagswissens 'erfunden' worden zu sein.174 Letztere variieren die Hinrichtung mit dem Schwert. Noch Karl Ludwig Sand wurde 1820 auf einem Stuhl sitzend geköpft [D134]. Diese Köpfmaschinen zeichnen sich nicht nur durch ihre seltsame Mechanik aus, sie sind sogar teilweise zu komplizierten Aggregaten ausgebaut. In verschiedenen Varianten wird ihr Funktionieren geschildert, am ausführlichsten vielleicht in der »Vorstellung der Köpfmaschine [...]« [D79 (Abb. 36)]. Der Blick ins Innere des Schafotts zeigt, daß das Opfer auf einen Stuhl geschnallt wird, der wie ein Lastenaufzug hochgefahren wird. Sobald der Kopf sich in der richtigen Höhe befindet, schwenkt der Henker das Schwert. An seinem äußeren Ende ist es mit einer 50 Pfund schweren Eisenkugel beschwert, damit seine Geschwindigkeit in der Mitte des Radius ausreicht. Es handelt sich also um eine bis in Details ausgeklügelte Mechanik. In dem Willschen Flugblatt wirkt deshalb die Kritik an der mechanisierten Hinrichtung bigott175; in der Legende heißt es: »O, weh dem Völck! das Freiheit sich, auf solche Weise will erringen, Das da Maschinen dencket aus, aufweichen Menschenblut nur raucht [...].« Gerade das reizte Bilderverlage und Publikum. Trotzdem schien die Köpfmaschine das Publikum nicht völlig zu befriedigen. Vielleicht machten sich die Bilder mit unterschiedlichen Modellen Konkurrenz. Um das Problem zu umgehen, ist unter ein Blatt der Hinweis gesetzt: »Es giebt auch noch eine andere Art Köp Maschine in Paris« [D76 (Abb. JS)]. Nicht nur die Gemeinsamkeit mit Schwert-Hinrichtungen weist auf die Zugehörigkeit dieser Flugblätter zur populären Bilderproduktion hin. Als weiteres wichtiges Detail ist die Gruppe der Verurteilten zu nennen, die in der Art der Armesünder-Prozession beim Autodafé mit gefalteten Händen ans Schafott treten. Das Augenmerk dieser Arbeiten richtet sich auf die Menschenmengen genauso wie auf die Technik. Sie quellen über von Menschen, die zum größten Teil zu Kringeln verkürzt sind und bis zum Horizont reichen (z. B. im Fillschen Blatt). Die Opfer treten ebenfalls als Gruppe auf, denn die famose Köpfmaschine ist flink; Kapazitätsangaben schwanken zwischen 25 Köpfen in einer Viertelstunde und 15 Köpfen pro Minute. Auch die Portraitähnlichkeit wird vernachlässigt [D110 (Abb. 39)]. Etwa zwanzig der Arbeiten sind Buchillustrationen, über fünfzig sind Einblattdrucke bzw. Flugblätter. Fast alle erschienen in den Jahren 1793 bis 1795. Die Buchillustrationen zeigen überwiegend Bilder, welche nicht die Hinrichtung Ludwigs bzw. Marie-Antoinettes 172 Vgl. ebd., S. 115. 173 Arasse 1988, S. 39. 174 Auch die vermutlich früheste 'Klopfmaschine' vgl. [D132] greift auf bekannte technische Einzelheiten zurück. Am auffälligsten ist die Baumscheibe von der Stärke einer Säulentrommel. Das Beil hat eine gerade Klinge. 175 Vgl. Schoch-Joswig 1989, S. 57f.

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darstellen; seine erscheint lediglich dreimal, ihre gar nicht. Dieser Befund überrascht, weil beide Ereignisse die am häufigsten wiedergegebenen Einzelthemen sind. Daraus läßt sich auf einen Zusammenhang von Medium und Motivwahl schließen. Die Flugblätter widmen sich außer dem Königspaar dem Schicksal vor allem der in Deutschland besonders bekannten Personen: Custine, Philippe Égalité, Schneider und Trenck sowie Robespierre, während die Illustrationen auch die hierzulande weniger prominenten Politiker zeigen, die nur dem lesenden Publikum bekannt waren. Allein sechs der Illustrationen erschienen in den konterrevolutionären Kalendern »Revolutionsalmanach« und » Almanach der Revolutions-Opfer« bzw. »-Charaktere«.176 Das gemäßigte »Taschenbuch für die neuste Geschichte« enthält als einzige Guillotinierungsszenen die Hinrichtungen Brissots und der Dantonisten.177 Der Vollständigkeit halber angeführt sei der »Königlich Großbritannische Kalender« 1795, der die Hinrichtungen von Philippe Égalité [D127] und Bailly [D141] wiedergibt. Die Almanache sind mit derartigen Darstellungen also sehr sparsam. Der »Almanach der Revolutions-Opfer« widmet den Septembrisaden ungleich größere Aufmerksamkeit als der Guillotine. Der Moment vor der Hinrichtung wurde bei den Illustrationen nur einmal gewählt, je dreimal dagegen der Transport auf dem Karren zum Schafott und der Moment nach dem Vollzug. Auch in den Darstellungsweisen unterscheiden sich Flugblätter und Illustrationen. Daniel Chodowieckis einzige Guillotinenszene stellt »Die Hinrichtung des ExMaire Bailly in Paris« dar [D137]. Bailly verschwindet beinahe hinter dem Qualm, den die verbrennende rote Fahne erzeugt, mit der er einst die Nationalgarde auf dem Marsfeld gegen demonstrierende Republikaner angeführt hatte. Die Guillotine ist nicht größer als eine Standuhr.178 Zusammen mit der Kupfererklärung, die die Geschichte der Fahne aufgreift, umgeht also die Aussage den Vollzug des Urteils und rückt das grausame Fest des Publikums ins Blickfeld. In der Erklärung fehlt denn auch nicht der Hinweis, daß sich Baillys letztes Stündlein vom Morgen bis zum Nachmittag ausdehnte, daß sein Hinrichtungsort mehrfach verlegt wurde schließlich wurde er in einem Graben am Marsfeld, weit genug entfernt vom dortigen Altar des Vaterlandes, guillotiniert - und daß zuletzt »Das Volk tanzte die Carmagnole um den Verurtheilten«.179 Das Kupfer »Hinrichtung Dantons und seiner Freunde (5 April.)« [D127 (Abb. 44)] schafft Nähe zu den Verurteilten und zum Publikum - und rückt die Guillotine in den Hintergrund. Vorne ist Raum gelassen, um den Einstieg ins Bild zu ermöglichen.180 Trotz der bewaffneten Eskorte ist den beiden Delinquenten - vermutlich Danton und Desmoulins - keine Emotion anzusehen. Ein Männerpaar, das sich in die Prozession eingereiht hat und dem betrachtenden Auge am nächsten ist, scheint bewegter zu sein. Während der besser Gekleidete - mit Zweispitz, Rock und Culottes - die Arme verschränkt und nach vorne gebeugt ins Leere stiert, wendet sich sein Gesprächspartner ihm zu, mit einer geballten Faust und geöffnetem linkem Arm. Dieser Mann trägt gestreifte Pantalons. Mit seinem Blick fixiert er seinen Partner und scheint auf ihn einzureden. Im wörtlichen Sinn sehen wir zwei Haltungen zum Ereignis: Der Bürger schweigt, und der Sansculotte streitet. Rechts von ihnen gehen

176 Im RA 1794, bei S. 386 [D77 (Abb. 40)] und das 5. Monatskupfer [D115 (Abb. 41)]; in Girtanners Almanachen: im Jg. 1794 das 12. Monatskupfer \D\35(Abb. 42)] und das Frontispiz des Jg. 1796 [D73 (Abb. 31); vgl. D74 (Abb. 32)]. Der RA 1795 bildet außerdem zehn Portraits von guillotinierten Personen ab [D136], 177 Jgg. 1795 und 1796 [D126 (Abb. 43), D127 (Abb. 44)]. 178 Vgl. Ausstkat. Vizille 1987, Nr. 29 und 30. 179 Königlich Großbritannischer Kalender 1795, S. 13f. Mit einem Tanz um die Guillotine sollen Bürger und Bürgerinnen den Tod des Königs gefeiert haben - vgl. Arasse 1988, S. 95. 180 Bis hierhin ähnelt die Anlage der Darstellung von Philippe Égalités Ende im Königlich Großbritannischen Kalender 1795, vgl. D128 (Abb. 45).

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Frauen dem Karren voran, von denen sich eine umwendet, um die Verurteilten anzusehen. Aus ihrer Haltung spricht keine politische Einstellung und auch keine Emotion, sondern Neugierde. Vom selben Künstler Küfner stammt die Radierung »Brissots Hinrichtung« [D126 (Abb. 43)\ Das Bild zeigt die Guillotinierung aus der Nähe. Wieder ist ein 'Einstiegsplatz' frei gelassen: »Der Betrachter ist in ihr [der Menge], Er ist Bestandteil der Menge, nicht mehr ihr registrierender Widerpart [,..].«181 Im Unterschied zum vorigen Beispiel sind hier keine unwillkürlichen Gebärden gestaltet. Das Publikum und die Nationalgardisten stehen locker herum und zeigen, weil sie sich dem Schafott zuwenden, ihre Rückenpartien. Auffälliger verhalten sich die Brissotins. Zwei hocken in sich gekehrt auf dem Karren, zwei umarmen sich, und zwei besteigen ungezwungen das Podest. Während die Knechte einen Verurteilten zur Hinrichtung vorbereiten, steht der Henker neben der Guillotine, frontal zur Bildebene (etwas schematisch, wie auf populären Drucken). Ein weiterer Gehilfe hat sich am Rande des Podests an der »Schauseite« aufgebaut und zeigt dem Publikum einen abgeschnittenen Kopf. Sein rechtes Bein ist leicht vorgeschoben, der linke Arm in die Hüfte gestemmt. Diese Haltung ist die stark abgeschwächte Adaption des Henkersknechts, der dem Publikum den abgetrennten Kopf des Königs zeigt, ein beinahe unverzichtbarer Bestandteil vieler Hinrichtungsbilder. Möglicherweise steht am Anfang dieser Typologie eine Darstellung der Hinrichtung Ludwigs XVI., die teilweise mit den Pseudonymen »Sarcifu« bzw. »Sacrifu« und »Fious« bezeichnet ist. Ihre erstmalige Verwendung läßt sich nicht feststellen, nach De Vinck ist sie deutscher Herkunft [D108; vgl. D85 (Abb. 46)].m Sie ist in Abzügen, Varianten und Zitaten der meistverbreitete Typ. Die meisten Blätter sind zweisprachig französisch-deutsch, u. a. existiert auch ein französisch-italienisches Flugblatt.183 Ein Drittel aller Guillotinierungsszenen stellt den Augenblick nach der Hinrichtung dar, in dem das Haupt der Menge entgegengehalten wird; von diesen gehört die Hälfte zum »Fious«-Typ. Die meisten schildern die Hinrichtung Ludwigs, aber auch Custines Kopf wird vom Henkersknecht im Ausfallschritt gezeigt [D59], Das Motiv wurde nicht auf Marie-Antoinette übertragen, und nur ein Flugblatt verwendet es vergröbert [D97]. Doch nicht nur im »Fious«-Typ ist die beschriebene Haltung zu sehen. Andere Arbeiten kopieren und variieren einen Druck aus dem Verlag Basset in Paris [D138], Der Vergleich der Bildtypen zeigt, daß sie sich, abgesehen von spezifischen Erkennungsmerkmalen und der Gesamtanlage des Bildes, vor allem in der Intensität der zentralen Figur unterscheiden. Beim »Fious«-Typ fällt der Blick aus mittlerer Entfernung, etwa aus dem Hochparterre, also mit leichter Aufsicht und über die Köpfe der Zuschauenden hinweg, auf das Schafott. Dessen Schauseite wird schräg über eine Ecke erfaßt, so daß sich eine günstige Position ergibt, um die Szene vor und hinter dem Guillotinenfenster deutlich zeichnen zu können. Hinter diesem liegt noch auf dem Brett festgeschnallt der leblose Körper, der Henker hält mit ausgebreiteten Armen das Seil, und ein Gehilfe bereitet den Korbsarg vor. Der zweite Gehilfe wird zur Hauptperson. Er, drahtig und lang, macht einen Ausfallschritt und verbindet den Fuß der Guillotine mit der 'Bühnenrampe'. Seine energische Vorwärtsbewegung verstärkt sich in der Haltung der Arme, von denen der rechte gespannt abwärts nach unten reicht und in der geballten Faust abschließt, während der linke beinahe in gerader Linie die Richtung aufwärts nach vorne fortsetzt, im Handgelenk leicht abknickt und das Haupt Ludwigs am Schopf gefaßt vorstreckt. Die Richtung beider Arme wird sogar in der Halsmuskulatur des Gehilfen aufgegriffen. Sein Kopf mit dem scharfgeschnittenen Gesicht 181 Kemp 1973, S. 265. 182 Vgl. DV 5190, DV nennt zehn Versionen, Hennin drei. Die sprachlichen Fehler in Bildunterschriften und Verlagsangaben auch in einsprachig französischen Blättern erhärten die Annahme zur Herkunft. 183 DV 5196.

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überragt den vorgezeigten. Mit offenem Mund peilt der Gehilfe über ihn weg und an ihm vorbei. Ob in dieser Miene Verachtung, Stolz oder eine andere Regung gesehen wird, bleibe der individuellen Ansicht überlassen. Insgesamt aber liegt in dieser energischen Figur, die den entscheidenden Moment des Ereignisses dehnt, eine klare Aussage: Der Sansculotte triumphiert über den Monarchen, dessen (Staats-)Körper jegliche Kraft verloren hat. Daniel Arasse spricht von der »horrible énergie« des Henkersknechts, seiner »expression presque hallucinée« und seinem Medusenblick.184 Er stellt fest, daß Ludwigs Kopf über den Horizont in den Himmel gehoben ist, aber »l'horizon adopté pour la représentation est celui du bourreau en personne«. Dessen Stellung ist eine Pathosformel der Revolutionskunst. Einige Arbeiten kopieren nur den Ausschnitt mit der Kernszene.185 Andere fügen die Szene als Bild im Bild ein. Auf einem Gedenkblatt zu Ludwigs Tod wird die Szene auf einen Epitaphsockel montiert, auf dem ein Medaillonportrait des Königs steht [D133 (Abb. 48)].m Vermutlich ist auf die Popularität des »Fious«-Typs auch die mit aller Wahrscheinlichkeit fingierte Angabe »Fious del:« und »Cachot sc:« auf einem Flugblatt mit der Hinrichtung Marie-Antoinettes zurückzuführen, dessen Darstellung ihm nicht verwandt ist [D96], Als letztes Indiz für seine Attraktivität sei die Aquarellkopie der jugendlichen Gebrüder Jacob und Wilhelm Grimm aus dem Jahr 1797 angeführt [D103].187 Ein Blick auf die übrigen Bilder bestätigt die oben angestellten Überlegungen. Das »Basset«-Blatt, von dem zwei Eindeutschungen existieren, verändert den Henkersknecht [D138, vgl. D93, D125 (Abb. 49)]. Seine Statur ist fülliger und seine Kleidung bürgerlich, mit Rock und Culottes. Der Blick fällt aus der Nähe und Höhe von schräg hinten auf das Schafott. Dadurch wird die Aggressivität gemildert. Dynamik liegt nunmehr - außer in der Schrittstellung - in der nach vorn gebeugten Längsachse des Körpers. Die linke Hand ist in die Hüfte gestützt. Die Wirkung wird dadurch abgeschwächt, daß im Vordergrund die Kutsche, in der Ludwig herbeigefahren wurde, große Aufmerksamkeit erhält. Als zusätzliches Symbol rückt das Piedestal ins Bild, das bis zum August 1792 das Reiterstandbild Ludwigs XV trug. Zu einer eigenständigen Lösung gelangte Johann Christoph Kimpfel, dessen »Enthauptung Ludwig des XVI.« von Karl Ludwig Bernhard Buchhorn gestochen wurde [D90 (Abb. 50)]. Die Perspektive ist die des Publikums. Daher fällt der Blick aus Untersicht auf das Schafott. Die Köpfmaschine hat nicht einmal den Schein der Richtigkeit, um so größere Genauigkeit ist auf die Menschen verwendet. Das abgeschlagene Haupt wird von einem gut gekleideten Henker mit beiden Armen vorgezeigt, auch er steht in Schrittstellung. Sein Blick geht nicht ins Leere, sondern fixiert das betrachtende Auge. Das Bild lebt von genrehaften Zügen.188 Links kümmert sich ein Gardist um eine ohnmächtige Frau, in der Bildmitte leuchtet das große Hinterteil eines Pferdes des kommandierenden Offiziers, und an der Seite des Podests nimmt ein Gehilfe Tücher in Empfang, um sie in das Blut des 'Märtyrerkönigs' zu tauchen. So sind um das Schafott herum Menschengruppen locker verteilt, mit Gassen zwischen ihnen - in dieser Disposition unterscheidet sich das Bild von den übrigen Darstellungen fundamental, in denen das Podest mit dicht an dicht stehenden Menschenmassen oder gar mit geschlossenen Kordons der Nationalgarde umgeben wird. Ein feiner Unterschied zu den beschriebenen Haltungen beim Vorzeigen des Kopfes ist in einem Flugblatt zu erkennen, das eine »Vorstelung der Hinrichtung, Maria Antoniette Kö184 Ausstkat. Vizille 1987, S. 67. 185 D118, D115 (Abb. 41), D98 (Abb. 51; auf Marie-Antoinette). 186 Zum Bildtyp vgl. Ausstkat. Vizille 1987, Nr. 78-81. Das Medaillon-Epitaph steht vor einer Gewitterlandschaft; von einem Berg fährt ein Blitz in die Urne am vorderen Bildrand. Landschaft und Blitz sind einer anderen Grafik entnommen, die am 27.7.1794 bei Bance in Paris erschien und »Le Triomphe de la République« feiert (Bindman 1989, Nr. 123). Vgl. Herding 1989, S. 122f. 187 Die ovale Bildform findet sich bei keiner der druckgrafischen Fassungen. 188 Vgl. Schoch-Joswig 1989, S. 225.

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nigin v. Frankreich [...]« gibt [D99 (Abb. 51)]. Auch hier schiebt der Gehilfe ein Bein vor, aber er breitet seine Arme aus - wobei er mit dem überlangen Zeigefinger wie ein Johannes Baptist auf die Lünette der Guillotine zeigt - und steht da wie ein Schauspieler, der den Applaus genießt. Angesprochen wurde bereits, daß manche Guillotinierungsszenen traditionellen Hinrichtungsbildern verwandt sind, und zwar den Köpfmaschinen mit dem schwenkbaren Schwert. Ein weiteres Moment ist die Darstellung, bei der der Henker die Schnur nicht schlicht löst, sondern mit einem Säbel durchtrennt. In diesem Motiv verbirgt sich ein Rest der alten individuellen Enthauptung; es wird in der Grafik, die Guillotins Reformvorschlag kundmachte, demonstriert.189 In royalistischen Schriften wird die Hinrichtung Ludwigs in dieser Weise beschrieben.190 Eine der wenigen Arbeiten, die den Moment vor dem Niedergehen des Beils zeigen, zitiert das Zentralmotiv jener Radierung. In der Legende heißt es ausdrücklich: »Dieses Schnur haut der Scharfrichter auf den Ihm gegebenen Winck a. und b. durch« [D107 (Abb. 52)]. Interessant ist das auf die Haltung der Verurteilten gerichtete Augenmerk. Von Danton wird berichtet, daß er auf dem Schafott »flucht und wie ein Verzweifelter tobt«, und auch die Stimmung des Publikums wird analysiert: es »schien ein düsteres Stillschweigen diese ganze Szene zu benebeln. Dies ist vielleicht der Beweggrund, warum Robespierre mehr als jemals alle nur wenig verdächtigen Leute arretiren läßt.«191 Und ein deutscher Reisender berichtet vom Ende des ehemaligen Deputierten Pierre Bourbotte, der zweiunddreißigjährig wegen seiner Beteiligung am Prairialaufstand am 13.6.1795 guillotiniert wurde: »und endlich folgte Bourbotte, [...] der mit Unerschrockenheit um sich schaute, seine Unschuld anrühmte und dann auch den Kopf hergab. Er mußte hören, daß ihm ein Zuschauer, der das Zeug von Unschuld nicht anhören konnte, zurief: A présent c'est votre tour. Er antwortete: Eh bien! und das Messer fiel.«192 Das Bild, das den ehemaligen Herzog von Orléans auf dem Weg zum Schafott zeigt, deutet dessen Gefühle nur an. Bewegend - aber ohne Mitgefühl - schildert dagegen die Kupfererklärung seine Leiden: »Er war wie rasend, da er das Palais Royal sähe, wo man mit Fleiß den Karren fünf Minuten halten ließ, glaubte bis zum Schaffot hin, daß er gerettet werden würde, fiel auf dem Schaffote endlich in Ohnmacht, und mußte von dem Scharfrichter zu dem Beile der Guillotine hingeschleppt werden.«193 Die psychologischen Folgen der Terreur werden ebenfalls erörtert. Die große Zahl der Enthauptungen führe zur Verwilderung der Bevölkerung, schreibt der »Aachener Wahrheitsfreund«.194 Ob sich die Mentalität der Menschen tatsächlich so stark veränderte, sei dahingestellt. Portraits von Hingerichteten waren jedenfalls in Frankreich so beliebt, daß Arasse die Guillotine als »Porträtmaschine« bezeichnet.195 189 190 191 192 193 194 195

Ausstkat. Vizille 1987, Nr. 29f. Arasse 1988, S. 94f. Politische Reden Nr. 15,14.4.1794, S. 123ff., zit. n. Hansen III, 1931, S. 102, Anm. 2. Zit. n. Hansen III, 1931, S. 541f. Königlich Großbritannischer Kalender 1795, S. 25f; siehe D128 (Abb. 45). 4.7.1794, zit. n. Hansen III, 1931, S. 163. Arasse 1988, S. 166-176, hier: S. 166. Eine englische Quelle vergleicht sie mit der Staffelei in der Malerei. Nirgendwo scheint bislang die Ähnlichkeit der Guillotine mit einer traditionellen Drucker-

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In deutschen Zeitungen sind die Berichte und Kommentare über die massenhaften Hinrichtungen zahlreich.196 Es wird auch davon berichtet, daß mit der Androhung von Guillotinierungen Soldaten in die besetzten Gebiete gepreßt würden.197 Mit der Errichtung der Rheingrenze gelangte die Guillotine auch nach Deutschland. Im Oktober 1798 in Trier installiert, wurde am 3. November »an einem Hammel die Wirkung gesucht«; das erste Todesurteil an einem Dieb wurde am 30. Mai 1799 vollzogen.198 »Den König töten: Das ist für die meisten Franzosen dieser Zeit weit schlimmer als der Mord an einem Menschen. Es bedeutet, das Bild zu zerstören, das sich auf den kleinen Geldstücken befindet, die man täglich in der Tasche mit sich herumträgt; es bedeutet, eine Institution zu vernichten, die dem nationalen Leben so integriert ist wie das Gold dem Taler.«199 Sowohl den Niedergang der Monarchie als auch den Prozeß gegen den König hatte die deutsche Bildpublizistik zurückhaltend begleitet, schließlich griff er die gottverliehene Souveränität auch der deutschen Fürstinnen an. Nach dem Todesurteil gegen Louis Capet wurde sein menschliches Schicksal Gegenstand einer vielfältigen Bildproduktion. Beispiele gibt es in fast allen Medien, von der Medaille bis zum Tafelbild, von aufwendiger Grafik bis zum Flugblatt.200 Sie stehen in Verbindung mit einer Vielzahl literarischer Publikationen. Unter anderen wurden in den Monaten nach der Hinrichtung annonciert »Eine Blume auf das Grab Ludwigs XVI., mit einem allegorischen Kupferstich« und »Abschied Ludwigs XVI. von seiner Familie; mit einem Kupferstich von J. G. Huck in Düsseldorf« [D139].201 Bei der Grafik handelt es sich um ein großformatiges Blatt, das den Auftakt zu einer Serie über Ludwigs Leben bildete. Die Annonce erweckt den Eindruck, daß das mit einer ausführlichen Legende versehene Bild zusammen mit einer Schrift verkauft wurde.202 Die Schnelligkeit, mit der Huck ans Werk ging, verblüfft. Schließlich benötigte die Nachricht von der Hinrichtung und den dazugehörigen Ereignissen eine Woche von Paris nach Köln.203 Den Plan, zu diesem Blatt eine Serie zu stechen, scheint er erst später gefaßt zu haben, denn die nächsten Blätter erschienen erst im folgenden Jahr. Die Beschreibung von Bernhard Rodes Bild von der Ermordung Cäsars zeigt deutliche Anlehnung an Texte, die die Hinrichtung Ludwigs beklagen. Auffällig ist die über die üblichen Beschreibungen hinausgehende Deutung: »Der Lorbeerkranz, den ihm der Senat als eine beständige Ehrenkrone zuerkannt hatte, ist ihm vom Kopfe, und das Verzeichniß der Verschwornen, welches er zu seinem Unglücke noch nicht gelesen hatte, aus der Hand gefallen [...]. Brutus, der in der einen Hand den Dolch hält, womit er ihn, als er noch stand, im Unterleibe verwundet hatte, scheint zu sagen: Der Held dauert mich, aber den Unterdrücker meines Vaterlandes mußte ich tödten. An der Bildsäule des Pompejus sieht man noch das angespritzte Blut des Ermordeten, und auf der Erde liegen die Fasces, die Ehrenzeichen des Consulates.«204

196 198 199 200 201 202 203 204

presse bemerkt worden zu sein. Beiden liegt ökonomisches Denken zugrunde; die Verurteilten werden auf das Brett geschnallt und unter den Aufbau geschoben, schließlich ist der segensreiche vertikale Druck in der Presse in die tödliche Kraft des Fallbeils transformiert. Vgl. Hansen III, 1931, S. 115. 197 Ebd., S. 140. Hansen IV 1931, S. 630, Anm. 1.1794 gab es sie in Deutschland noch nicht, siehe ebd. III, S. 323f. Pierre Gascar (1982), zit. n. Zuckermann 1989, S. 79. Vgl. Ausstkat. Stuttgart 1987, Nr. 69; Ausstkat. Vizille 1987, Nr. 57-74. Hansen II, 1931, S. 707f., Anm. 7. Hucks Arbeit, bei Schoch-Joswig 1989 irrtümlich mit Mai 1795 datiert, wurde in der Kölner Reichsoberpostamtszeitung Nr. 26 vom 14.2.1793 angezeigt. Die in verschiedenen Sammlungen vorhandenen Exemplare geben darauf keinen Hinweis. Hansen II, 1931, S. 704f. Kataloge 1,1971, Jg. 1794, Nr. 4.

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Johann Gerhard Huck gestaltet den »Königsmord« in der erwähnten Serie als repräsentatives Kunstwerk [D83 (Abb. 53)]: Der Bildhintergrund zeigt die klassizistische Kulisse der Pariser Architektur im Lichte Claude Lorrains. Der sterbende König, dramatisch und übernatürlich angeleuchtet, steht auf der Bühne des Schafotts wie der verspottete Christus vor dem Volk in Jerusalem, welchem Pilatus zuruft: »Ecce homo!« [Joh 19,5]. Die Szene teilt das Publikum in eine Menge und am vorderen Rand des Blutgerüsts - an einen Orchestergraben erinnernd - stehende einzelne Leute, die in ihrer Bosheit und Dummheit, den Bösewichtern spätgotischer Passionstafeln zu entstammen scheinen. Ihre Schaugier gipfelt in einem emporgehobenen Mädchen. An den linken Rand gedrückt steht die Guillotine. Dadurch verschwindet das Todessymbol fast. So konzentriert sich die Bildaussage auf das Verhältnis von Vorgezeigt-Werden - Sich-Zeigen - Gesehen-Werden. Freilich fixiert Huck das Abbild des lebenden Königs, um die Fiktion der göttlichen Legitimation und seiner daraus folgenden Unverletzbarkeit aufrechtzuerhalten. Ein royalistischer, fiktionaler Text der Zeit verfährt entsprechend: »Ohne mich von der Stelle zu rühren, hatte ich unverwandt mit angesehen, wie einer der Henker dem erlauchten Opfer die Haare abschnitt; doch das Haupt meines Königs sah ich nicht mehr unter dem Beile zu Boden fallen. Ein Lichtstrahl blendete mich und verwandelte den Augenblick des Opfers in eine himmlische Erscheinung. Ich hörte weder, was der Henker sagte, während er dem Volk den Kopf zeigte, noch den unseligen Schrei des Triumphes, der, wie man mir versicherte, unwillkürlich das andächtige und bedrückte Schweigen zerriß.«205 Huck führt vor, was sich beim Betrachten des Blatts ereignet: durch Zusehen aus sicherer Warte, den gewalttätigen Akt aus der Nähe zu verfolgen. Was zunächst nur ikonografisches Zitat zu sein schien - ein Vergleich des Königs mit dem verurteilten Christus - stellt vielmehr ein sozialpsychologisches Problem dar.206 Mit der scheinbaren Bewältigung des gesellschaftlichen Schadens durch die öffentliche Strafe erneuern die Mitglieder der Gesellschaft den Burgfrieden, der zwar Ungleichheit und Ungerechtigkeit fixiert, aber der Mehrheit ein Mindestmaß an Sicherheit gewährleistet. In der Arbeit Hucks lädt die Menge Ludwig die Schuld des Ancien Régime auf, dessen Grundlagen (an erster Stelle das Eigentum!) nur wenige Revolutionsführer antasten wollten. Eine Anklage der Gesellschaft führt der abgesetzte König nicht, denn auch als Bürger Louis Capet behält er in monarchistischer Interpretation etwas von seiner ihn über die Menschheit erhebenden Aura.207 Darstellungen Ludwigs XVI. auf dem Schafott verknüpfen sein menschliches Schicksal mit seiner öffentlichen Rolle, so daß auch Ludwigs letzter Auftritt noch antirevolutionär bzw. revolutionär funktionalisiert wird. 205 Ballanche, zit. n. Arasse 1988, S. 77. Aufgrund sehr unterschiedlicher überlieferter Berichte ist es schwierig, die Hinrichtung zu rekonstruieren. Vgl. Markov 1986, Bd. 2, S. 347-350. Daniel Arasse, a.a.O., untersucht diesen Diskurs. 206 Jeanne Mammen stellt in einer Arbeit »Die Kindsmörderin« an den Pranger. Die Betrachterin bzw. der Betrachter überblickt die Szene: die Verurteilte und ihr Publikum, d. i. die Menge, die Richter, der Henker und im Hintergrund ein Bourgeois, der vermutliche Kindsvater, also der Verantwortliche. Im Moment ihrer Bestrafung ist die Frau nicht nur Täterin, sondern auch verantwortlich für die allgemeine Kinder- (und Frauen-)Feindlichkeit. Indem Mammen und Huck das Gaffen der Menge vorführen, artikulieren sie die ungerechte Beschuldigung der Bestraften. S. die Beschreibung von Annelie Lütgens in: Dies.: Jeanne Mammen (1890-1976). In: Tendenzen Jg. 152, 1985, S. 34-39 (mit Abb. ). (Vgl. Dies.: »Nur ein paar Augen sein ...«. Jeanne Mammen - Eine Künstlerin in ihrer Zeit. Berlin 1991, S. 23f.) 207 Georg Friedrich Rebmann über Ludwig XVI.: »Wer über dem Gesetze sein will, ist auch außer dem Gesetz.« In: Ders.: Papiere eines Terroristen, erster Brief. 1796, zit. n. Claus Träger (Hg.), Frauke Schaefer (Mitarbeit): Die Französische Revolution im Spiegel der deutschen Literatur. Frankfurt 1979, S. 808.

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IV.

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Weitere beachtenswerte Momente sind die dramatischen Mienen der Personen auf dem Schafott. Huck schildert einen Teil des Publikums. Dies kommt selten vor, weil die meisten Hinrichtungsszenen einen weiten Überblick liefern und die anonyme Menschenmenge zu einem Hauptgegenstand machen. Huck dagegen hebt die Distanz auf und erhebt den Betrachter bzw. die Betrachterin der Grafik gleichzeitig über das mordlüsterne Publikum unter der Guillotine. Das Bild versucht, nicht allein Rührung zu erwecken, sondern die königliche Würde zum Ausdruck zu bringen, welche der Bürger Louis Capet in Frankreich und - wie wir sahen - auch anderswo eingebüßt hatte. In England ging man mit dem Fall Ludwigs respektloser um als in Deutschland. Verglichen mit den dort verbreiteten Arbeiten, verfahren deutsche Flugblätter weniger subtil. Nicht nur im Bild, deutlicher noch in den Überschriften und Legenden werden Aussagen getroffen: »Unschuldige Hinrichtung...«, »Tragisches Ende ...« usw., die häufig durch die Bildgestalt selbst unterlaufen werden, wenn sie nämlich Elemente der Hinrichtung wiedergeben, die deren Legitimation im öffentlichen Bewußtsein belegen sollten (z. B. das Zeigen des Kopfes). Die Perspektive der Blätter distanziert das Auge vom Geschehen. Auf den Tod Ludwigs XVI. reagierte die deutsche Bildpublizistik rührselig: bei diesem politischen Ereignis verzichtete sie auf politische Sprache. Bezeichnend dafür ist die deutsche Version des Portraits Ludwigs XVI. als Hingerichteten: ihr ist eine dem Originaltext »Matière â reflection pour les jongleurs couronnées« (»Denkzettel für gekrönte Gaukler«)208 entgegengesetzte Legende beigefügt, [D130]: »Wahre Abbildung des Unschuldigen Königs Ludwig XVI. der den 21. Jänner 1793. durch die Guillotine öffentlich unter Anschauung vieler tausendere enthauptet worden ist.ll Mensch wen [=wenn] bey diesem Bild, dein Aug nicht Tränen stand,l Dan bist du härter noch, als selbst die Henckers hand.« Solcherart geweinte Tränen erstickten jede Erinnerung an Ludwigs Politik und das von ihm repräsentierte System.209 Zugleich wird der König von klassischer Höhe auf bürgerliches Maß degradiert. Für sich genommen kann die Grausamkeit der Massenhinrichtungen kaum ein Grund für die Abkehr deutscher Revolutionsfreunde und Revolutionsfreundinnen vom französischen Weg gewesen sein. Nicht die Angst vor dem Blut, sondern die Angst vor der »Anarchie« bewegte das Bürgertum. Die sansculottische Bewegung »leitet eine Phase ein, während der alles erlaubt ist. Sie schafft Raum für Hoffnungen, Freiheit, Zwanglosigkeit und Feste. Sie erzeugt also nicht allein Angst, sondern setzt auch positive Gefühle frei. [...] Sie birgt das ungewisse Morgen in sich, das vielleicht besser, vielleicht aber auch schlechter als das Gestern sein wird. Sie erzeugt Angst und Nervosität, die nur zu leicht zu gewaltsamen Ausbrüchen führen können.«210 Für das deutsche Bürgertum bedeutete dies, die Monarchie zu erhalten, weil es »vom Volk noch mehr befürchtete als vom Despoten«.211 208 Arasse 1988, Abb. 15. 209 1933 notierte Victor Klemperer: »Der Jargon des Dritten Reichs sentimentalisiert; das ist immer verdächtig.« In: Ders.: LTI. Notizbuch eines Philologen. Frankfurt 1985, S. 41. Hermann Bausinger stellt fest, daß der Einfluß der »Empfindseligkeit« (Friedrich Theodor Vischer) auf die Volkskultur im 19. und 20. Jahrhundert »kaum überschätzt werden« kann. Der vorliegende Fall ist besonders interessant wegen des Einflusses der Sentimentalität auf die politische Kultur in Deutschland. - Vgl. Hermann Bausinger: Volkskultur in der technischen Welt. Stuttgart 1961, S. 147f. 210 Delumeau 1985, Bd. 1, S. 220f. 211 Balet/ Gerhard 1973, S. 161.

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Der verkehrte Taufakt (»sein Blut komme über uns und unsere Kinder« [Mt 27, 25]) bei Ludwigs Hinrichtung wurde im September 1792 vorweggenommen: »Hier hat man jetzt ein Spiel, die Kleine Guillotine genannt, welches beim Dessert auf den Tisch gestellt wird. Man legt einige Puppen darunter, deren Köpfe vornehmen Personen gleichen. Wenn die Guillotine oder Köpfmaschine fällt, geht aus dem Körper durch eine Röhre ein roter Liqueur wie Blut heraus. Alle Umstehenden, besonders das Frauenzimmer, tunken die Sacktücher ins Blut, welches ein sehr wohlriechendes Ambrawasser sein soll.«212 Die Berichte vom Geschehen nach Ludwigs Enthauptung heben diese Bluttaufe hervor. Tumultuarisch muß es um das Schafott zugegangen sein. In den widersprüchlichen Berichten fehlen auch religiöse Bezüge nicht, auch der entsprechende Vers aus dem Evangelium wird zitiert.213 Die Berichte aus Paris über den Tagesverlauf nach der Hinrichtung dokumentieren ein großes »Gemeinschaftsbedürfnis«, das sich schon vor dem 21. Januar artikuliert hatte und sich nun kurzfristig verstärkte.214 Blut fließt in den Bildern wenig. Meist läuft es in Fäden aus dem emporgehaltenen Kopf, so daß es wirklich »über uns kommt«. Erst auf dem Umweg über England erreichte das vergossene Blut das deutsche Publikum. James Gillray konzentriert sich in »The Blood of the Murdered crying for Vengeance« auf den Leichnam Ludwigs unter der Köpfmaschine.215 Das dampfende Blut staut sich sogar hinter der Lünette, und der Kopf liegt in einer Lache auf den Brettern. Im Revolutionsalmanach 1794 erschien eine verkleinerte, seitenverkehrte Kopie unter dem neutralen Titel »Guillotine« [D77 (Abb. 40)]. Der Kopf ist Ludwig weniger ähnlich, und der Wortschwall, der in Gillrays Arbeit als Ludwigs Vermächtnis im Blutrauch aufsteigt, fehlt gänzlich. Es scheint so, als sei die Vorstellung eines derartigen Blutbades visuell unerträglich gewesen. Selbst in der entschärften Kopie für den Almanach war es nötig, durch Entindividualisierung der Gesichtszüge den Schock zu mildern, der durch das Wiedererkennen der realen Person ausgelöst wurde. In einem Flugblatt, das die Hinrichtung der Girondisten zeigt, läuft ein kopfloser Leichnam geradezu aus [D61 (Abb. 33)]. Es ist die Kopie einer englischen Arbeit.216 Ein anderes Blatt, von Johann Martin Will, über die Hinrichtung des Königs, fällt durch ein über das Schafott gelegtes weißes Tuch auf [D91], Seine Funktion scheint zu sein, den heiligen königlichen Körper wie auf einem Altartisch zu präsentieren (obgleich die Bildlegende das Gerüst »Bühne« nennt). Deutlich - und ungewöhnlich - sind Rinnsale des königlichen Blutes auf dem Tuch zu sehen. Zweimal erwähnt der Text »Blut« und betont den »Taufakt«: »Der Pöbel jauchzte nur ob dem besprizten Blut.« Prägnanter und heftiger zeichnet ein niederländischer Druck den aus der Wunde spritzenden Blutstrom.217 Im Vergleich mit einem früheren Flugblatt über die Hinrichtung der Mörder Gustavs III. (24. Mai 1792) zeigt sich, daß das Interesse am Blut so groß ist wie seine Präsenz im Bild gering [D140 (Abb. 54)]. Mit einer perfiden Drohung enden die erläuternden Verse: »Die so frech vergiesen das edelste Blut. Die Lust soll so Leuthe vergiften« (die Syphilis soll sie heimsuchen). Schon vor der Revolution hatte es Fälle gegeben, in denen unantastbare königliche Körper per Attentat oder 'rechtlich' zerstört wurden. 1589 wurde Maria Stuart enthauptet. Im 17. Jahrhundert waren es Henri IV, den ein Fanatiker erdolchte und Charles I. von England; nicht zu vergessen das mißlungene Attentat auf Ludwig XV durch Damien. We212 213 214 215 216 217

Friedens- und Kriegs-Courier, Nürnberg, 25. September 1792; zit. n. Ernstberger 1958, S. 425. Arasse 1988, S. 86. Zuckermann 1989, S. 104. Bindman 1989, Nr. 111 (mit Abb.). Ebd., Nr. 125. Ausstkat. Vizille 1987, Nr. 73.

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nige Monate vor dem Pariser »Königsmord« schließlich erlag der schwedische König Gustav III. einem Attentat. Den größten Skandal bewirkte die Usurpation gegen Karl. Noch im 18. Jahrhundert war sein Fall interessant genug, um in Bildern verbreitet zu werden. Dennoch rührten alle diese Schicksale zusammengenommen die Herzen der Deutschen nicht annähernd so wie das Ende des französischen Königs und seiner Frau. Mit Recht behauptet Zuckermann, »daß der Wandel in der Einstellung zur Revolution eher ein Symptom der mentalen Rezeption des schicksalsträchtigen Ereignisses darstellt, als den Ausdruck rein politischideologischer Positionen. Mit einer gewissen Überspitzung kann man sagen: Der französische >Königsmord< wird zum Trauma der Deutschen.« 218 Zahlreich, wenngleich von geringerer politischer Bedeutung als der Tod ihres Mannes, waren die Bilder von der Hinrichtung Marie-Antoinettes. Ein Beispiel ist die Radierung »Maria Antoniette - Königin von Franckreich, geb: Erzherzogin von Oestereich, Gemahlin Ludewig XVI. hingericht d. 16 Octbr: 1793« [D94; vgl. D98 (Abb. 47), D99 (Abb. 51), D100 (Abb. 55)]. In der ersten Strophe der Legende klingt Paul Gerhards 'ecce homo'-Lied »O Haupt voll Blut und Wunden« an219: »Ha! welche Raserey! auch Sie einst Franckreichs Freude,! Schleppt ihr zum Tode her! was that Sie euch zu Leide?l Verfluchte Mörder ihr! Schon floß des Königs Blut.ll und seyd ihr nicht satt! ihr müst mit Tygerswuthl Auch eure Königin zur Guillotine schleiffen?l Franzosen bald solt ihr zur Rache Gottes reiffen.« Trenck von Tonder schließlich appelliert an das Mitgefühl der Leserinnen für die hingerichtete Königin. Deutschlands Mütter sollen 'gerechte' Tränen weinen für »das schönste, das zärtlichste, das wohlthätigste, und sonst, fast das mächtigste Weib von Europa«. 220 Ähnlich wie Ludwig XVI. bei Huck, nur in der für Flugblätter üblichen distanzierten Weise, wird Marie-Antoinette zur Schau gestellt. Ihr Gewand und die Karosse (ihr Mann war der Letzte gewesen, der in einer Kutsche zum Schafott gefahren wurde) signalisieren ihre Hoheit. Die Darstellungen Ludwigs XVI. und Marie-Antoinettes auf dem Schafott verknüpfen ihr menschliches Schicksal mit ihrer öffentlichen Rolle, so daß auch ihr letzter Auftritt' noch antirevolutionär funktionalisiert wird. Was sie selbst dazu beitragen, läßt sich nur aus schriftlichen Zeugnissen schließen, welche, je nach politischem Selbstverständnis, ihren letzten Gang als heroisch oder als feige bezeichnen. Die Lust, abgeschnittene Köpfe zu betrachten, ist älter als die Revolution. Der Bossierer (Wachsbildner) Johann Wilhelm Kolm (1716-1793) kündigte 1773 in Frankfurt an, »daß etliche >Meisterstücke der Kunst< eingetroffen seien, >nehmlich die beyde Häupter und die beyde abgehauene Hände der hingerichteten Dänischen Grafen Brandt und Struensee, gantz genau nach dem Leben in Wachs abgegossen, von bewunderungswürdiger FeinheitIch bin ein Mensch, wie Ihr, und hier kömmt es auf Menschenrettung an.< Den durch die Überschwemmung Verunglückten gewidmet von D. Chodowiecki.«245 bezeichnet er nicht allein die Szene, sondern verstärkt ihr religiöses Moment. Leopolds Worte schließen die Möglichkeit seines Todes ein. An die Ölbergszene erinnert die Art, wie er dem Habitus seiner sozialen Stellung entsagt. Wie Christus seine Festnahme nicht verhindert haben will, widersetzt sich Leopold den Bemühungen seiner am Ufer stehenden Begleiter und einer knienden Frau, ihn von seinem Tun abzuhalten. In einer Zeit, da selbst in Kriegshandlungen die Herrscher aus den vorderen Linien in Richtung Feldherrnhügel abzutreten beginnen, ist es einzigartig, daß Leopold sich für seine Untertanen opfern will. Im Fall des jungen Offiziers Desilles wird der Versuch gewürdigt, im Herbst 1790 zwischen rebellierenden und königstreuen Truppen in Nancy Frieden zu stiften. Ernst Ludwig Riepenhausens Illustration aus dem ersten Band des »Revolutions-Almanachs« zeigt diesen Helden, wie er sich über die Kanonen legt, die auf die loyalen Truppen zielen, und wie die Rebellen auf ihn schießen [D155],246 Aus der Körpersprache der Rebellen läßt sich keine Charakterisierung entnehmen, ausgenommen bei zwei lässig stehenden Soldaten, die dem Mord ungerührt zusehen. Deutlicher schildert Küfner die Menschen, die während der Septembrisaden Zeugen einer »Menschenrettung« werden [D156 (Abb. 66)].247 Ein Vertreter der Sektion »Contrat social« erreicht die Freilassung zweier Genossen, die aus nichtigem Grund inhaftiert waren. Jener allein, ein Uhrmacher, besaß den Mut, die zum Schlachthof verwandelte Kerker-Abtei St. Germain zu betreten. Zur atmosphärischen Einstimmung schreibt Posselt dazu: »Unter strömendem Blut und dampfenden Leichen gieng der Retter nun allein vorwärts. Als er vor die Thüre der Abtei kam, faßten ihn zween Bluttriefende Henker bei der Kehle, und riefen: >Unglüklicher, was willst du hier? bist du des Lebens überdrüssig?«opernreife< Anekdoten »die Rede jenes Soldaten [an], dem eine Kanonenkugel bey Perpignan, gegen die Spanier, den Arm wegnahm, und der seinen Cameraden zurief: Paete! non dolet!« (Paetus, es schmerzt nicht) und fügt hinzu »Wer fühlt nun nicht das ganze Lächerliche dieser Parodie!« - Vgl. Georg Büchner: Dantons Tod, 1. Akt, 5. Szene. Das Thema erscheint auch als 6. Monatskupfer im GTC 1801. 252 Vgl. eine ähnliche Regung bei Erzherzog Carl [D171 (Abb. 75)].

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zu welchem Dumourier seine Soldaten getrieben habe.253 Neutrale Stellungnahmen bestätigen immerhin den Enthusiasmus, mit dem die Truppen angriffen. In einem politisch ausgewogenen Almanach, dem »Taschenbuch für Geschichte und Unterhaltung« von 1802, wird »Gen.[eral] Richepanse in der Schlacht bey Hohenlinden« als charismatischer Anführer präsentiert [D172 (Abb. 76)]. Zu den ihn umstehenden Soldaten gewandt, mit dem Rücken zum Feind, weist er auf die im Hintergrund im Sturmschritt angreifenden Gegner. Die ihm untergebenen Soldaten wirken voller Selbstvertrauen, während sie dem General zuhören, zwei von ihnen haben sogar freundschaftlich den Arm um die Schulter des anderen gelegt. Zuversicht und Ruhe sprechen aus diesen Gestalten, und in »diesem entscheidenden Augenblicke (siehe das 2te Kupfer) wendet sich General Richepanse um, und blickt den Soldaten ins Auge, es blitzt - dieser Braven gewiß, fragt er: Grenadiere der 48sten, was meint ihr von diesen Leuten? - General! erwiederten sie, es sind todte Leute: und mit diesen Worten stürzten sie sich auf die Grenadiere, und warfen sie zurück.«254 Mit diesem Gefecht wurde der Sieg in der Schlacht von Hohenlinden eingeleitet. Ähnlich wie in der Revolutionsrhetorik ist im zitierten Dialog Witz gefragt. Mit Blicken verständigen sich die Kameraden, wobei in diesem Moment der General nur erster unter Gleichen ist. Bild und Text drücken gleichermaßen den Unterschied zur preußischen Kriegsführung aus: Die selbstbewußten Franzosen besitzen einen gewissen Grad an Individualität, welche der feindlichen Kampflinie abgeht. Im »Schwur der 1500 von Montenesimo« äußert sich dieselbe Einstellung [D20 (Abb. 11), D18 (Abb. 10)]. Ein anderes Beispiel für die Verbindung von Tapferkeit und Selbständigkeit zeigt sich bei den zwei französischen Pionieren, die bei der Überquerung des Inns in einer kleinen Barke übersetzen und mit Säbel und Ruderriemen einen feindlichen Posten anfallen [D173 (Abb. 77)]. Obwohl besser bewaffnet, verschwinden die kaiserlichen Soldaten nach rechts aus dem Bild, geschlagen von den finsteren Mienen der beiden Franzosen. Auch in der Niederlage bestätigt sich dieser Eigensinn. Der »Revolutions-Almanach« bewundert »Das Qa ira des französischen Grenadiers. 1796« [D174 (Abb. 78), vgl. D175, D 176,177 (Abb. 79)]. Er singt sein Lied mit ausgebreiteten Armen, obwohl die Spitzen von drei Bajonetten auf seinen Leib gerichtet sind. Feigheit wurde beinahe niemandem vorgeworfen, ausgenommen Dumourier bei seiner Desertion [D178 (Abb. 80), D179, D180, D181 (Abb. 80)]. Neben Fanatismus war ein weiterer Verstoß gegen die Ritterlichkeit das Bemühen der französischen Seite, mit Bestechung Erfolge zu erlangen. Die Verräter einer entscheidenen Paßhöhe in Tirol sollen mit 120000 Livres belohnt worden sein. Illustriert wird diese Nachricht mit zwei Landleuten, die sich ihren Judaslohn inmitten felsiger Wildnis auszahlen lassen [D182], Das passende Gegenbild liefert der nationalistische »Calender für Deutsche« 1797: »Wir Preussen lassen uns die Ehre nicht abkaufen. Behalten Sie ihr Geld und ich behalte meinen Gefangenen« [D183 (Abb. 82)]. Unmißverständlich sagt der ausführliche Titel, daß ein Preuße unbestechlich ist. Diese Episode spielt im polnischen Krieg und ist deshalb nicht direkt gegen die französischen Feinde gerichtet. Arroganz fällt auf im Verhalten des Konteradmirals Turquet, unter dessen Kommando zunächst Nizza, von da aus Neapel besetzt wurde: »Hier suchte sich Turquet die Miene des ehemaligen römischen Burgermeisters Popilius, und des englischen Admirals Mathews zu geben.«255

253 Königlich Großbritannischer Kalender 1794, Kupfererklärung 5, S. XVf.; vgl. auch Jg. 1795, Kupfererklärung 2, S. 27. 254 S. 88. 255 Königlich Großbritannischer Kalender 1794, Erklärung zum 4. Kupfer [D184 (Abb. 83)].

Feind- und Freundbilder

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In den wenigen Bildzeugnissen über die Emigrierten schlägt sich ihr zwiespältiger Ruf nieder. Das früheste Bild zeigt »Die Flucht der Volksfeinde« (1789) [D185 (Abb. 84)]. Es befaßt sich mit der ersten Auswanderungswelle nach dem 14. Juli, die vom Grafen d'Artois angeführt wurde. Einzig der Bildtitel verrät die angestrebte politische Aussage, denn abgebildet ist eine Abreiseszene mit einer Kutsche. Die große Allegorie von Egidius Verhelst auf die Exilierten [D29 (Abb. 15)] transzendiert dagegen die Emigration zur patriotischen Tat. Auch ein Gruppenportrait der Prinzen von Geblüt, das 1795 in Wien erschien, lobt die Emigrés [D186], Die Arbeit »Französisches Emigranten Volck« (1792) [D187 (Abb. 55)] und eine Szene, die den »Alarm wegen der Condeer in Memmingen« (1796) [D188] beschreibt, belegen wiederum die unfreundliche Aufnahme der aus Frankreich Geflohenen und die Ängste vor ihnen. Im »Révolutions-Almanach« 1794 erschien ein Blatt, das dieser Tendenz entgegensteuerte [D166 (Abb. 71)]. Auch zwei Literaturillustrationen Chodowieckis zu August Lafontaines »Klara du Plessis« (um 1795) unterstützen diese Richtung [D189, D190]. Eine seltsame Position nimmt eine geschichtliche Darstellung ein. Ihr Titel »Deutschland nimmt die von ihrem Könige verfolgten Franzosen auf, 1685« (1797) [D191 (Abb. 86)] scheint an die Gastfreundschaft der Deutschen zu appellieren. Sie thematisiert mit der Aufhebung des Edikts von Nantes jedoch einen Skandal, den in den Augen der deutschen Öffentlichkeit eben jene Klasse zu verantworten hatte, die nunmehr um Aufnahme bat. Deutsche Helden sind neben den Feldherren - Prinz Josias von Sachsen-Coburg und General Clerfait mit wirklicher, Erzherzog Carl mit gezwungener Hochachtung - selten Gegenstand von Bildern. So wird die Verwundung des Generals Kalkreuth als Beispiel für Durchhaltevermögen geschildert [D192 (Abb. 87)]. Adam Bartsch radierte nach Vincenz Georg Kininger sechs Blätter mit »Darstellungen der Tapferkeit der Kayserl. Soldaten wider die Franzosen« aus dem ersten Koalitionskrieg mit ähnlichem Beispielwert.256 Vater und Sohn treten in einem anderen Fall gemeinsam an [D196; vgl. D197]. Auch »Die Wiener Freywilligen vor Mantua« werden gewürdigt [D198]. Neben diesen Beispielen stehen Blicke in die jüngere Geschichte: Tiroler Bauern im spanischen Erbfolgekrieg [D199] und der preußische Feldzug 1787 gegen die Niederlande [D200]. Ein Bild schließlich vergleicht »Die alten und neuen Deutschen« [D201]. Neben diesen illustrativen Schilderungen von soldatischen Handlungen stehen die zumeist satirischen Darstellungen von Einzelfiguren oder kleiner Gruppen. Bereits zwei Jahrhunderte früher wurden ganzfigurige Bildnisse von Landsknechten in Serien verbreitet, teils mit Rangbezeichnung, teils mit Namensnennung - insbesondere wenn die betreffenden Soldaten durch Handlungen aufgefallen waren. Namensnennung konnte jedoch ebensogut Authentizität vorspiegeln [D202], Größere Serien erschienen u. a. von Peter Flettner257, Erhard Schön258 und Niklas Stör.259 Eine der frühesten Grafiken von Daniel Chodowiecki, der im Siebenjährigen Krieg auf verschiedene Weise die Franzosen karikierte, ist bereits erwähnt worden. Johann Heinrich Ramberg griff gleichfalls zu nationalen Stereotypen, die er in seiner vierteiligen Folge über den Krieg in Holland 1787 umsetzte. In »Politics inside out, a Farce«, mit dem deutschen Untertitel »so machens die Franzosen: Eine Farce« [D203], konkurrieren ein holländischer Bürger, ein preußischer Soldat, ein englischer Seemann und ein französischer Edelmann miteinander. 256 D193-D195. Siehe Huber/Rost 1796, S. 353, nach dortiger Angabe stammen die Entwürfe von Bartsch selbst. 257 Röttinger 1916, S. 11-18. 258 Röttinger 1925, S. 155-168, Nr. 206-236. 259 Ebd., S. 240-248, Nr. 24-^3

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IV. Ereignisbilder

Im Revolutionskrieg begann der Löschenkohlverlag damit, derbe Karikaturen zu vertreiben. »Meister Pech als Obrister von der National-Garde« ist so eitel, daß ihm wenig Gewalttätigkeit zuzutrauen ist [D204 (Abb. 88)}. Sein Geselle oder Lehrling lacht über beide Ohren und scheint an das wörtlich zu nehmende Sprichwort zu denken: »Schuster (= Meister Pech), bleib bei deinem Leisten!« Zwei weitere Satiren variieren das Thema, in dem einen Fall werden »Stutzer und Tanzmeister«, im zweiten Fall ein Schneidermeister samt Gesellen als Nationalgardisten verspottet [D205, D206], Brigitte Schoch-Joswig weist darauf hin, daß Löschenkohl beide Male zur Ständesatire greift, die sich erst auf den zweiten Blick als politisch motiviert erweise.260 Als wichtigstes Aussagemittel erkennt sie »die Betonung scheinbar nebensächlicher Details, die einen langen Kommentar überflüssig machen«. Von französischen Arbeiten, wie sie annahm, sind Löschenkohls Blätter indessen nicht abhängig. Statt dessen benutzen sie das Stereotyp des eitlen Franzosen, das, wie gesehen, schon vierzig Jahre früher verwendet worden ist. Gerade in dieser Traditionsverbundenheit bestätigt sich Schoch-Joswigs Feststellung, daß diese Satiren die Revolution nicht an ihren ideologischen Reizpunkten angreifen, sondern das Befremdliche des französischen Habitus herausstreichen. Gegenüber den traditionellen Nationalsatiren bedeuten Löschenkohls Blätter insofern eine Neuerung, als sie Bürgern Attitüden zuschreiben, die früher als aristokratisch galten. Sie unterscheiden sich darin vom zweiten populären Stereotyp der zerlumpten Sansculottinnen und Sansculotten. So heißt es in der »rothen Freyheits-Kappe«: »In der Kleidung unterscheiden sich die Jacobiner ebenfalls von andern Franzosen. Sie gehen fast durchgängig äußerst schmuzig, mit ungepuzten Schuhen und Stiefeln, ungekämmten verschnittenen Haaren, rundem Huthe, oder einer rothen Freiheitsmüze und einfarbigem Roke.«261 Ihre militärischen Entsprechungen 262 wurden von Sulpiz Boisseree plastisch beschrieben: »Am 6. Oktober 1794, wenige Tage nach dem Rückzüge der Armee, waren schon die Franzosen da; es herrschte großer Schrecken und Bestürzung. Beim Einzug hatten die Soldaten ein sansculottisches Aussehen, sie trugen Brod, Fleisch, Kohl auf den Bayonetten, hatten Tapeten und Teppiche statt der Mäntel und marschirten in hölzernen Schuhen.«263 Das seinerzeit entworfene Stereotyp des Revolutionärs, bzw. der Revolutionärin ist noch im 20. Jahrhundert konservatives und faschistisches Vorstellungsgut. Chodowiecki, dessen für das deutsche Bürgertum typischer Einstellungswandel zur Französischen Revolution bekannt ist, schrieb zu seiner Radierung »Freiheit, Gleichheit, ohne Hosen« [D207 (Abb. 89)]: »Ein Schornsteinfegerjunge erlaubt sich ein Mädchen zu caressieren. Es kann es nicht behindern, und sind die Folgen der ohnbehoseten Freiheit und Gleichheit.« Der Junge vergewaltigt die Frau in zweifacher Weise, indem er sie betastet und indem er zugleich die Standesschranken übertritt. Plakativ bringt dies die Kleidung zum Ausdruck, weil das helle vornehme Gewand der Frau mit dem dunklen schmutzigen Schornsteinfegerzeug kontrastiert. 264 Ruß und der die Frau verdreckende und sexuell befleckende Kaminkehrer versinnbildlichen den »Pöbel«, dem die anarchischen Verhältnisse des sansculotti260 261 262 263 264

Schoch-Joswig 1989, S. 78f. Die Rothe Freyheits-Kappe 1793, S. 105. Vgl. Schoch-Joswig 1989, S. 81. Sulpiz Boisseree 1970, S. 10 Vgl. Richard Sennett, Verfall und Ende des öffentlichen Lebens. Die Tyrannei der Intimität. Frankfurt 1986, S. 93: »Der Körper als Kleiderpuppe«.

Feind- und Freundbilder

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sehen Regiments alle Übergriffe erlauben. 1791 hatte Chodowiecki eine Allegorie auf »Die neue Französische Constitution« radiert265, weil er sie als eine politische Verfassung begrüßte, die tyrannischer Herrschaft feindlich war und den Bürgerinnen und Bürgern Freiheit in einer konstitutionellen Monarchie versprach. Zwei Jahre später beklagt er in seiner Radierung »Freiheit, Gleichheit, ohne Hosen« die gesellschaftlichen Aufbrüche im Zeichen der Gleichheit. Johann Heinrich Ramberg griff den Typ des »Schmuddelrevoluzzers« in den 1820er Jahren wieder auf. »Ein Zeitgemäßer Rattenkahler RevolutionsRath« [D208 (Abb. 90)]266, stumpfnasig, dunkelhäutig und gar nicht kahl, sondern struppig, steht vor einer ihm ebenbürtigen Gesellschaft. Rechts von ihm sitzt ein verschmitzt blickender Pfeifenraucher, der einen Rockzipfel des Redners lüpft und dessen zerrissenen Hosenboden sehen läßt. Indem Ramberg auf die bekannten Abzeichen (z. B. Kokarde) und weitere aktuelle Anspielungen verzichtet, arbeitet er ein Muster der Revolutionären Zelle heraus. Der Rauchende fungiert als »positiver Judas« (der wie in vielen Abendmahlsdarstellungen von der Gruppe abgekehrt sitzt) und als Informand, der dem Publikum verborgene Wahrheiten enthüllt. Vielfältig waren die in Bildern verbreiteten Erscheinungsformen der französischen Soldaten. Eine vermutlich nach französischem Vorbild geschaffene Arbeit [D209 (Abb. 91)]261 liefert die realistisch wirkende Beschreibung einiger Soldaten. Es ist denkbar, daß ein solches Bild auch ohne verzeichnende Zutat komisch - oder erschreckend? - aufgefaßt wurde. Zunächst von der in Stuttgart tätigen Caroline Katz geschaffen oder reproduziert, fand es im Nachstich von Küfner Verbreitung durch das »Taschenbuch für die neuste Geschichte« [D210 (Abb. 92)]. In diesem Kontext ist verstehbar, daß sachliche Darstellung hierbei am wichtigsten war. Im Vordergrund des nicht szenischen Bildes - obwohl im Hintergrund weitere Soldaten in beiläufigem Arrangement Lagerleben andeuten - befinden sich drei sehr unterschiedliche Figuren. Ein wahrscheinlich im Zusammenhang mit dem Zug der Marktfrauen nach Versailles im Oktober 1789 entstandenes Blatt ist ähnlich aufgebaut; es zeigt anstatt der Soldaten im Vordergrund drei »Poissarden« (Pariser Fischverkäuferinnen) [D211 (Abb. 93)]. In dem Bild von Katz sind die Soldaten auffällig disponiert. Links sitzt ein Sansculotte, barfuß, ohne Uniform und eine Pike in der Hand haltend. Sein Kopf ist mit einer phrygischen Mütze (mit Kokarde) bedeckt. Rechts steht ein Liniensoldat, uniformiert, ebenfalls eine Kokarde am Federhelm tragend. Er hält ein mit Bajonett bestücktes Gewehr, das zusammen mit der Pike eine V-Form bildet, in welcher die mittlere Figur steht. Ihre Kleidung besteht aus einer hohen Fellmütze, einer hellen Uniformjacke mit Epauletten und unmilitärischen gestreiften Pantalons. Ihre Waffe ist ebenfalls ein Gewehr. Von links nach rechts verkörpern die Figuren zugleich verschiedene mentale Zustände: Ruhe, Bereitschaft und Aktion, denn der Liniensoldat ist in Schrittstellung und scheint, mit emporgerecktem Arm, seinen Genossen zuzurufen, was unter dem Bild gedruckt steht, nämlich die Parole »Aux armes citoyens!!!«. Derartige Soldatenstudien interessierten in der Zeit vor dem Revolutionskrieg nur als Uniformmodelle, die in militärischen Almanachen erschienen. Ein Beispiel dafür ist das kolorierte Bild »Corps der Königl. Preuss. Armee« aus dem »Militärischen Almanach« 1779 [D212 (Abb. 94)]. Auf ihm sind vier Modelle zu sehen, arrangiert wie Dressmen im Modekatalog, beschäftigt mit nichtssagenden Handlungen. Es ist bezeichnend, daß die Figur Nr. 2 in der Legende die Pluralform »Cadetten« wählt. Ein anderes, »Churfürstlich Saechsischer Generalstab« [D213 (Abb. 95)], zeigt zwei ins Gespräch

265 Vgl. Ausstkat. Hamburg 1980, Nr. 323. 266 Offenbar ist »rattenkahl die Verballhornung von >radikalso muß er liegenimmer Fronte machend gegen den Feind.£ LUDJTIGSXVI. /¿¿ViU* de/A>uii-'XJr. Kcxigj fvjvFx^tTfiOLE/ctr, fizts