Normativität und sozialer Geltungsgrund des Rechts: Zur Revision und Reformulierung der Normentheorie von Theodor Geiger [1 ed.] 9783428472284, 9783428072286

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Normativität und sozialer Geltungsgrund des Rechts: Zur Revision und Reformulierung der Normentheorie von Theodor Geiger [1 ed.]
 9783428472284, 9783428072286

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ATHANASIOS GROMITSARIS

Normativiät und sozialer Geltungsgrund des Rechts

Schriften zur Rechtstheorie Heft 148

Normativität und sozialer Geltungsgrund des Rechts Zur Revision und Reformulierung der Normentheorie von Theodor Geiger

Von

Athanasios Gromitsaris

Duncker & Humblot * Berlin

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Gromitsaris, Athanasios: Normativität und sozialer Geltungsgrund des Rechts : zur Revision und Reformulierung der Normentheorie von Theodor Geiger / von Athanasios Gromitsaris. - Berlin: Duncker und Humblot, 1992 (Schriften zur Rechtstheorie ; H. 148) ISBN 3-428-07228-6 NE: GT

Alle Rechte vorbehalten © 1992 Duncker & Humblot GmbH, Berlin 41 Fremddatenübernahme und Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin 61 Printed in Germany ISSN 0582-0472 ISBN 3-428-07228-6

Dem Gedenken an Theodor Geiger (1891-1952)

zu seinem 100. Geburtstag gewidmet.

Vorwort Am 9. 11. 1991 jährte sich der 100. Geburtstag von Theodor Geiger. Jedoch ist seine Theorie und Soziologie des Rechts bis auf den heutigen Tag für viele Soziologen und Juristen, ganz zu schweigen von den Rechtstheoretikern bzw. Rechtsphilosophen, eine terra incognita geblieben. Wer es unternimmt, die Normen- und Gesellschaftstheorie Geigers zu rekonstruieren, sieht sich alsbald mit der Tatsache konfrontiert, daß es an einschlägigen monographischen Vorarbeiten mangelt. Die hier angestellten Untersuchungen dienen dem Versuch, dieses Defizit zu beheben. Den heutigen Erkenntnisinteressen an dem Werk Theodor Geigers folgend, orientiert sich die Arbeit ihrem Schwerpunkt nach an der Normativität des Rechts sowie an den gesellschaftlichen Geltungsgrundlagen des Rechtssystems. Dem Verf. ist es jedoch nicht nur um eine Reformulierung der Normentheorie Geigers zu tun, die zu den Desideraten der rechtswissenschaftlichen und rechtssoziologischen Grundlagenforschung gehört. Es geht ihm vor allem um eine kritische Revision seiner Theorie und Soziologie des Rechts, die hier vom Standpunkt eines gegenüber allem geltenden Recht kritischen Rechtsrealismus unternommen wird. Es handelt sich somit nicht um eine bloße Exegese des Werks von Theodor Geiger. Die hier angestellten Untersuchungen wollen die hermeneutische Deutung seiner Normen- und Gesellschaftstheorie nicht ersetzen, sondern müssen sie voraussetzen. Der Verf. erhofft sich insoweit einen kritischen Leser, der diesen Informationsstand schon besitzt, aber darüber hinausfragt. Anders als die bloß sprachanalytischen Richtungen der modernen Normentheorie einerseits sowie die systemtheoretischen Deutungen des Rechtssystems der modernen Gesellschaft andererseits entfaltet sich Theodor Geigers Theorie und Soziologie des Rechts auf einem Theorie- und Abstraktionsniveau mittlerer Reichweite, ganz im Sinne von Robert K. Merton und Helmut Schelsky. Dieser Anschluß an die modernen Institutionstheorien des Rechts macht es möglich, den normativen Sinn von Rechtsvorschriften nicht nur durch Rekurs auf deren textuelle Basis zu bestimmen, sondern durch Rekurs auf ihren jeweiligen gesellschaftlichen Kontext, der von Geiger als Verhältnis von Wortnorm und subsistenter Norm entfaltet wird. Infolgedessen steht im Zentrum der Normentheorie Geigers das Verhältnis von Regelbildung und Regelbefolgung, dem nach der hier vertretenen Auffassung ein prominenter normativer Stellenwert zukommt. Es gehört zu den verbreiteten Mißverständnissen der Normentheorie Geigers, daß diese vor allem auf den staatlichen Rechtsstab und sein Wirken zentriert sei.

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Vorwort

Wie die vom Verf. angestellten Analysen und Rekonstruktionen zeigen, basiert Geigers Theorie der Normen und des Rechts auf einem durchgängig gesellschaftlichen Rechtsverständnis, das allenthalben von dem Primär- oder Aktionsnormen ausgeht. Den Sekundär- oder Reaktionsnormen kommt daher — anders als in bis auf den heutigen Tag vertretenen Sanktionstheorien des Rechts — nur eine nachgeordnete Bedeutung zu. Angesichts der zahlreichen Ungereimtheiten, die heute vor allem in der Theorie der Rechtsquellen zutage treten, kommt der Rekonstruktion der Geigerschen Theorie der Rechtsgeltung eine gesteigerte Relevanz zu. Wie hier vor allem deutlich wird, gehört Geiger zu denjenigen Normentheoretikern, die — in Kritik aller metaphysisch-spekulativen Rechtstheorien — die Geltungsgrundlagen des Rechts auf ihre gesellschaftliche Basis zurückführen. Jedoch wird die Geltung und Verbindlichkeit des Rechts wie des Rechtssystems nicht auf eine Grundoder Supernorm bzw. auf eine transzendentale Autorität gestützt, sondern auf eine multireferenziell gedeutete Autopoiese des Rechts. Dies macht es auch für einen Regel- und Faktenskeptizismus, wie Geiger ihn vertritt, möglich, zu einer fortlaufenden Reproduktion und Geltungserstreckung des jeweils vorhandenen rechtlichen Normenvorrats zu gelangen. Die juridische Rationalität des Rechts gewinnt damit, wie Geigers Normentheorie lehrt, eine gegenüber aller bloßen Moral und Vernünftigkeit höchst eigenständige Position, die auch seiner Rechtstheorie bleibenden Erkenntniswert sichert. Wichtige Anregungen und Einsichten verdanke ich den Gesprächen, die ich im Verlaufe der Untersuchung mit Herrn Professor Dr. Raffaele De Giorgi, Direktor de Centro di Studi sul Rischio, Universität Lecce sowie Direktor des Istituto per lo Studio e l'Analisi delle Società Complesse; Herrn Professor Dr. Nikolaos Intzessiloglou, Juristische Fakultät der Universität Thessaloniki, Departement für Rechtsgeschichte, Rechtsphilosophie und Rechtssoziologie, sowie Herrn Professor Dr. Dr. Werner Krawietz, Lehrstuhl für Rechtssoziologie, Rechtsund Sozialphilosophie, Universität Münster, führen durfte. Ihnen allen bin ich zu herzlichem Dank verpflichtet. Mein besonderer Dank gilt schließlich dem Verleger, Herrn Professor Simon, der auch diese Untersuchung in seine Reihe aufgenommen und großzügig gefördert hat. Im Oktober 1991 Athanasios Gromitsaris

Inhaltsverzeichnis Erster Abschnitt Normativer Sinn im Rechtsrealismus: Vom einzelnen Entscheidungsträger zur arbeitsteilig institutionalisierten Entscheidungsträgerschaft § 1 Strukturen der Entscheidungsherstellung in den sozialen Institutionen des Rechts I. Stufenbau und nachträgliche Asymmetrierung

9 9

1. Stufenbau und Rechtserzeugung

10

2. Selbsthierarchisierung des Rechtssystems

17

3. Formalisierte Kommunikation im Rechtssystem

18

4. Aktenmäßigkeit

22

5. Entscheidungsorganisation in konkreten Kommunikationssystemen...

26

II. Aktionsnorm und Reaktionsnorm

33

1. Systeme beobachten Systeme

33

2. Kontroverse Normunterstellungen

40

3. Normierung von Enttäuschungsabwicklungen

46

§ 2 Juridische Rationalität I. Normatives Erwartungskalkül und juridische Rationalität

50 50

1. Temporalisierte Erwartungserwartungen

50

2. Norm- und Sachirrtum

56

3. Rationalität

58

II. Programmierung und normative Konditionierung juristischen Entscheidens in den sozialen Institutionen des Rechts

62

1. Entscheidungsprogrammierung in strafrechtlichen Kommunikationssystemen

62

2. Entscheidungsprogrammierung in Gerichtsverfahren

72

3. Ritualisierung von Kommunikation in Gerichtsverfahren

81

6

Inhaltsverzeichnis

Zweiter Abschnitt Entstehung, Anwendung und Befolgung des Rechts § 3 Verhältnis von Wortnorm und subsistenter Rechtsnorm I. Normativität

86 86

II. Normsatz und Rechtsnorm III. Rückwirkende Kraft der Norm § 4 Regelbildung und Regelbefolgung in den sozialen Entscheidungssystemen des Rechts I. Aporien staatlicher Rechtsbildung 1. Informalität und Pluralität von Entscheidungsmöglichkeiten

89 94

98 98 98

2. Zwischenstaatliche und überstaatliche Rechtsbildung

103

3. Rechtliche Organisation und gesellschaftliche Polykontexturalität

105

II. Verwaltungsrechtswissenschaft und VerwaltungsWissenschaften III. Formale Organisation und soziale Entscheidungssysteme des Rechts 1. Machtprozesse an den Grenzen der formalen Verwaltungsorganisation

110 116 116

2. Interorganisationsbeziehungen

122

3. Emergenz konkreter Kommunikationssysteme

125

4. Verwaltungshandeln und funktionale Differenzierung

130

§ 5 Juristische Entscheidung und ihre rechtliche Relevanz für das menschliche Sozialverhalten I. Interdependenz von Entscheidungen Π. Herstellung und Darstellung von Entscheidungen III. Systemtheoretische und entscheidungstheoretische Problemkonzeptionen

137 137 144 150

Dritter Abschnitt Geltung und soziale Verbindlichkeit der Rechtsregeln im Rechtssystem § 6 Stabilisierung, Erneuerung und Reform normativer Erwartungsstrukturen I. Individuum und soziale Erwartungsbildung

160 160

1. Die soziale Situation

160

2. Vom Subjekt zur Selbstreferenz

167

Inhaltsverzeichnis

Π. Normativer Wandel in Regelsystemen

174

1. Macht

174

2. Machtgesteuerte Regelbildung

177

3. Lernfähigkeit in Regelsystemen

186

§ 7 Funktion der Geltung von Rechtsnormen im Rechtssystem I. Rechtsgeltung und Erwartungsbildung in Interaktionssystemen 1. Strukturbildung a) Herstellung von Gleichzeitigkeit und Dauer

192 192 192 192

b) Orientierungs- und Verhaltenskontinuitäten

198

2. Konformität und Abweichung in Interaktionen

209

a) Regelskeptizismus

209

b) Orientierungsgewißheit und Realisierungssicherheit

216

II. Rechtliche Entscheidung und Rechtsgeltung

222

1. Rechtsquellen

222

2. Aktuelle Geltungsfrage

225

3. Norm und Geltung

226

III. Rechtsgeltung und funktionale Gesellschaftsdifferenzierung

231

1. Rechtscode und Selektionskriterien

231

2. Riskante Erwartungen und Risiko der Entscheidung

236

3. Parzellierung der Macht und Schisma der Moral

241

4. Rechtsbewußtsein und sozialer Wandel durch Recht

248

Literaturverzeichnis

255

Sachregister

270

Erster Abschnitt

Normativer Sinn im Rechtsrealismus: Vom einzelnen Entscheidungsträger zur arbeitsteilig institutionalisierten Entscheidungsträgerschaft § 1 Strukturen der Entscheidungsherstellung in den sozialen Institutionen des Rechts I. Stufenbau und nachträgliche Asymmetrisierung Geigers „Unorthodoxe Bemerkungen zur Frage der Rechtsquellen" nehmen Abschied von der Auffassung, daß die Rechtsquellenhierarchie die Entstehungsprozesse des geltenden Rechts wiedergibt. Rechtsproduktion ist „Genesis" von sozialer Ordnung und braucht nicht hierarchisch strukturiert zu sein.1 Um den Zusammenhang von formaler Rechtsgeltung, Rechtsquellenhierarchie und Rechtsgenese zu untersuchen, müssen wir auf die Funktion eingehen, die der Einbau von Hierarchien in Entscheidungsinterdependenzen hat. Der Gedanke, daß das Recht je nach der Quelle, der es entstammt unterschiedliche Geltungskraft besitzt, läßt sich bis in die Antike und das Mittelalter zurückverfolgen. Das Problem einer Rechtsquellenhierarchie bzw. einer Hierarchiebildung im Rechtsdenken überhaupt stellt sich in zweifacher Hinsicht. Einmal nämlich als Frage nach der Möglichkeit einer Hierarchiebildung im Recht selbst und zum anderen als Frage nach der Eigenart der rechtstheoretischen Reflexion auf die hierarchische Struktur des Rechts.2 Die enge Verknüpfung beider Fragenkomplexe miteinander kann dazu verleiten, die Hierarchiebildung als notwendige Struktur allen Rechts anzusehen. Das Aufstellen einer Stufenbaulehre wird dann zu der einzig möglichen Strukturanalyse des Rechts. Die Vorstellung einer allem Recht immanenten Legeshierarchie geht jedoch vor allem auf „religiös bzw. theologisch begründete Naturrechtsvorstellungen" zurück. Zu nennen ist hier die Hierarchie von lex devina, lex aeterna, lex naturalis und lex positiva. Theologische 1 Theodor Geiger, Vorstudien zu einer Soziologie des Rechts, 2. Aufl., Neuwied am Rhein /Berlin 1964, S. 92 ff., 169 ff. 2 Werner Krawietz, Die Lehre vom Stufenbau des Rechts — eine säkularisierte politische Theologie, in: Werner Krawietz / Helmut Schelsky (Hrsg.), Rechtssystem und gesellschaftliche Basis bei Hans Kelsen, in: RECHTSTHEORIE Beiheft 5 (1984), S. 255271, 255.

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§ 1 Strukturen der Entscheidungsherstellung

Begriffskategorien haben mit fortschreitender Differenzierung von geistlicher und weltlicher Gewalt ihren religiösen Gehalt abgestreift und eine verweltlichte Gestalt angenommen. Naturrechtliche Vorstellungen religiöser Herkunft wurden auf die staatliche Herrschaftsordnung übertragen. Die menschliche Rechtsordnung, die suprema potestas des weltlichen Territorialherrschers, der princeps legibus solutus, die Geltungsgrundlagen des Rechts, die Rechtsposition des einzelnen und die vom Staat eingeräumten Menschenrechte, dies alles entsteht analog zu naturrechtlichen Normenhierarchien und kirchlichen Verbandsbildungen. 3 Dieser Gedanke, daß Recht nicht gleich Recht ist, sondern daß die einzelnen Rechtsquellen und Rechtsgestalten eine stufenförmige Rangordnung, eine ,»Primärhierarchie des Rechts" 4 bilden, hat von Adolf Merkl eine interessante Formulierung erfahren. Es handelt sich um die Lehre vom Stufenbau des Rechts, die von Kelsen in die Rechtstheorie der Wiener Schule integriert wurde. 1. Stufenbau und Rechtserzeugung Im heutigen Rechtsdenken ist die auf die Wiener rechtstheoretische Schule zurückgehende Lehre vom Stufenbau der Rechtsordnung noch von grundlegender Bedeutung. Sie versteht das Recht als Rechtsnorm, die Rechtsordnung als System von Rechtsnormen und die Rechtswissenschaft als System von Aussagen über Rechtsnormen. Sie führt das Recht auf eine Hierarchie von Rechtsbestimmungen zurück und antwortet somit mit der Annahme einer allem Recht wesentlichen hierarchischen Struktur auf das Problem der Asymmetrisierung von Beziehungen.5 Das Recht beruht in allen seinen Erscheinungsformen auf Ermächtigungen zu Rechtserzeugung oder der Rechtsanwendung. Neues Recht kann nur geschaffen werden, wenn das jeweils zuständige Organ von dieser Ermächtigung Gebrauch macht. Für den Gesetzgeber und den Inhaber der Verordnungsgewalt heißt das, daß ihre Tätigkeit nur dann rechtswirksam ist, wenn sie das verfassungsgemäße Blankett mit Rechtsstoff von der dem Recht „eigenen Beharrungstendenz" ausfüllt, ohne es zu überschreiten. 6 Für den Rechtsanwender bedeutet dies, daß rechtskräftiges Entscheiden immer und nur gesetzmäßiges Entscheiden sein kann. Die Rechtsgestalten des Gesetzes, der Verordnung, der verwaltungsbehördlichen Verfügung und der richterlichen Fallentscheidung stehen in einem Hierarchieverhältnis, in einem Bedingungszusammenhang. Die Aneinanderreihung mehrerer Konkretisierungsstufen der Entscheidungen und die arbeitsteilige Zuteilung der Konkretisierungsakte an verschiedene Rechtserzeugungs- und Rechtsan3 Krawietz, ebd., S. 257 ff. Begriff von Werner Krawietz, Identität oder Einheit des Rechtssystems? Grundlagen der Rechtsordnung in rechts- und gesellschaftstheoretischer Perspektive, in: RECHTSTHEORIE 16 (1985), S. 233-277, 270. 5 Hierzu: Krawietz (Fn. 2). 6 Hier und zum folgenden: Adolf Merkl, Zum Problem der Rechtskraft in Justiz und Verwaltung, in: Hans Klecatsky / René Marciò / Herbert Schambeck (Hrsg.), Die Wiener rechtstheoretische Schule, Frankfurt-Zürich 1968, S. 1203-1214, 1212 f. 4

I. Stufenbau und nachträgliche Asymmetrisierung

11

wendungsorgane bringt freilich die Erscheinung von prima facie rechtswidrigen behördlichen Rechtsgeschäften mit sich. Dieser logischen Diskrepanz von bedingendem und bedingtem Staatsakt wird jedoch dadurch abgeholfen, daß eine „polyzentrische Infallibilität" im Recht angenommen wird: Wo die rechtsanwendende Tätigkeit mit den Forderungen des Gesetzes nicht in Einklang zu bringen ist, sieht man sich genötigt mit ebensovielen „Unfehlbarkeitszentren" zu rechnen als Richter und Verwaltungsorgane „inappellable Rechtsakte setzen". Merkl versucht in der Stufenbaulehre die Einheit und Vielfalt des Rechts gleichermaßen zu erklären. Es geht ihm nicht bloß um eine äußerliche Einteilung der Rechtsformen, sondern um ihren inneren Zusammenhang, der ihre Erzeugung regelt. Der eigentliche Geltungsgrund des positiven Rechts wird nicht in ein überpositives, höherrangiges Natur- oder Vernunftrecht verlegt. Er wird als ein rechtsimmanenter Vorgang dargestellt. Das Recht regelt seine eigene Erzeugung selbst. Nur positives Recht kann positives Recht erzeugen, und zwar in einem fortlaufenden, stufenförmigen Prozeß, wo die Erzeugung von Recht selbst ein rechtliches Phänomen ist. 7 Dies bedeutet, daß den Kriterien, die eine Hierarchie im Recht konstituieren, ebenfalls eine ausschließlich rechtliche Relevanz zukommt. Die Formen, in denen Recht zur Entstehung gelangt, sind zwar mannigfaltig, aber doch beschränkt. Zu diesen Formen gehören nach Merkl auch noch die individuell konkreten Rechtsakte wie Gerichtsurteile, Verwaltungsakte, private Rechtsgeschäfte und innerdienstliche Befehle sowie die Exekutionsakte, in denen der stufenförmig geschichtete Prozeß der Rechtsschöpfung und Rechtsanwendung seine Erfüllung findet. Angesichts dieser, wenn auch beschränkten Mannigfaltigkeit der Rechtsformen, stellt sich für Merkl die neukantisch anmutende Frage nach dem Prinzip, das die verschiedenartigen Formen zum einheitlichen System werden läßt. Dieses Prinzip wird dadurch gewonnen, daß die Rechtsordnung auf eine Urform oder Idealstruktur reduziert wird. 8 Merkl kommt zu dem Ergebnis, daß die logische Urgestalt des Rechts zumindest zwei unterschiedliche Rechtsformen enthält. In Gesellschaften, wo ein Häuptling als absoluter Herrscher und alleiniger Richter nach freiem Ermessen seine Befehle erteilt, muß logisch zumindest ein Satz vorausgesetzt werden, der den Häuptling als solchen qualifiziert und normiert, und seine Handlungen als Häuptlingsakte, d. h. als Rechtsakte gelten läßt. Dieser Satz soll eine Art Verfassung dieser einfachsten Rechtsordnung sein. Die Rechtsqualität der Häuptlingsakte wird gleichsam von dieser Verfassung abgeleitet. Damit, so deutet Merkl diesen Zusammenhang, ist der Nachweis darüber geführt, daß die hierarchische Struktur dem Recht wesentlich sei. Jedes Rechtsgestaltensystem sei zweigliedrig und zweistufig. Die Stufenordnung sei ein denknotwendiges Prinzip des Rechts. Das eigentliche Prinzip der hierarchischen Rechtsstruktur liege demnach nicht in einem Abhängigkeitsverhältnis der individuell konkreten Rechtsakte vom generell abstrakten Gehalt der Verfassung. 7 Theo Öhlinger, Der Stufenbau der Rechtsordnung. Rechtstheoretische und ideologische Aspekte, Wien 1975, S. 10. » Hier und zum folgenden: Ebd., S. 12 ff.

12

§ 1 Strukturen der Entscheidungsherstellung

Merkl sieht vom abstrakten Gehalt der Verfassung und vom konkreten Gehalt der auf verfassungsrechtlicher Grundlage ergehenden Akte ab. Das grundlegende Prinzip der Hierarchiebildung im Recht wird als ein Bedingungszusammenhang beschrieben: als ein Verhältnis von bedingenden und bedingten Rechtsformen. Dieses Bedingungsverhältnis geht über einen Dualismus von generell abstrakter und individuell konkreter Norm hinaus. Die Zerlegung einer Rechtsordnung in zumindest eine generell abstrakte Norm und die diese Norm konkretisierenden und individualisierenden Rechtsakte ist nicht geeignet, die Rechtsordnung durchgehend und einheitlich zu gliedern. Der Gegensatz von individuell und generell, der für Kelsen so wichtig war, erschöpft nicht die Abhängigkeitsmöglichkeiten zwischen den verschiedenen Rechtsformen. Die Eigenschaften „individuell", „konkret", „generell" und / oder „abstrakt" können keinen erschöpfenden stufenförmigen Aufbau einer Rechtsordnung ergeben. Sie stellen eine Rechtsordnung als eine positiv-rechtliche Bestimmung und Gestaltung des Rechtserzeugungsprozesses dar. Die Erzeugung von Recht läßt sich nach diesen Kategorien als dynamischer Prozeß ständiger Konkretisierung und Individualisierung von Rechtsgehalten verstehen, doch ist „ein bestimmter Grad oder Mangel an Generalität und Abstraktheit nicht notwendig an eine bestimmte Rechtsform" gebunden.9 Dies wird deutlich an der Möglichkeit von Individualgesetzen oder sogar Individualverfassungsgesetzen. Das Verhältnis der Bedingung und Bedingtheit und mithin der Über- und Unterordnung besteht, wenn die Form eines Rechtsaktes und der in dieser Form ausdrückbare Inhalt durch Rechtsakte einer anderen Rechtsform geregelt werden. Betrachtet man allerdings die in einer konkreten Rechtsordnung entstehenden Bedingungszusammenhänge zwischen Rechtsformen näher, so zeigt sich, daß das Zustandekommen von Rechtsakten einer Rechtsform keineswegs nur durch Rechtsakte einer bestimmten anderen Rechtsform geregelt wird, sondern auch durch Rechtsakte verschiedenartiger Rechtsformen bestimmt wird, die nicht unbedingt rangmäßig höher sein müssen. Das Verabschieden von Gesetzen wird nicht nur durch Verfassungsgesetze, sondern auch durch einfache Gesetze, wie etwa durch die Gesetze über die Geschäftsordnung des Parlaments oder über das Bundesgesetzblatt, geregelt. Wenn man die rechtlichen Bedingungen für das Zustandekommen eines Rechtsaktes als die Erzeugungsregel desselben definiert, könnte man wie folgt formulieren: Die Erzeugungsregel von einfachen Gesetzen besteht nicht nur aus Rechtsakten, die die Form von Verfassungsgesetzen haben und die Erzeugungsregel von Verfassungsgesetzen selbst, sie setzt sich auch aus Rechtsakten zusammen, die die Form einfacher Gesetze haben, also aus Akten, die gemäß der Gliederung Merkls gerade nicht bedingend, sondern selbst verfassungsgesetzlich bedingt sind. 10 Das Kriterium der rechtlichen Bedingtheit der Rechtsakte voneinander läßt daher keinen Stufenbau der Rechtsformen entstehen. Die einen Rechtsakt bedingenden anderen Rechtsakte sind nicht „rangmäßig differenzierbar", sie lassen sich nicht in eine feste Rangfolge typischer Rechtsfor9 Ebd., S. 14. 10 Zum ganzen Zusammenhang s. ebd., S. 16.

I. Stufenbau und nachträgliche Asymmetrisierung

13

men hineinbugsieren: Verfassungsgesetz — Verordnung — Urteil, Verwaltungsakt und privates Rechtsgeschäft—Exekutionsakt. Die Bedingungen eines Rechtsaktes bilden Teile einer einheitlichen Rechtserzeugungsregel, sie lassen sich jedoch nicht in einen hierarchischen Stufenbau von Rechtsakten eingliedern. Das Kriterium der rechtlichen Bedingtheit ergibt keinen Stufenbau, keine Hierarchiebildung. Es zeigt vielmehr nur jeweils „eine einzige Stufung", nämlich zwischen bedingendem und bedingtem Rechtsakt. Letzterer bildet aber in aller Regel nicht seinerseits wieder die abschließend bedingende Erzeugungsregel eines weiteren Rechtsaktes auf einer niedrigeren Stufe des Rechtserzeugungsprozesses. Die Rechtsordnung kann nach dem Kriterium der rechtlichen Bedingtheit eines Rechtsaktes nicht als „geschlossene Stufenpyramide" konzipiert werden. Ähnliches gilt hinsichtlich der Derogation von Rechtsvorschriften. Man könnte geneigt sein, die derogatorische Kraft von Rechtsvorschriften als Ordnungskriterium für den Stufenbau der Rechtsordnung zu benutzen. Die Derogation ist ein spezifisch-juristischer, positiv-rechtlicher Aspekt, der ebenfalls Rangunterschiede im Recht bewirkt. Unter Derogation kann die Aufhebung der Geltung einer Rechtsvorschrift verstanden werden. Die Frage, ob und wie bestehende Rechtsvorschriften außer Geltung gesetzt werden können, sie also derogiert werden können, findet ihre Antwort ausschließlich aufgrund der Bedingungen des positiven Rechts. Ebenso wie das positive Recht die Erzeugung von positivem Recht regelt, normiert es auch, unter welchen Umständen die Geltung von Rechtsvorschriften endet. Mit dem Derogationskriterium, das seine traditionsgebundene Formalisierung in der Kollisionsregel findet: lex superior derogat legi inferiori, gelangt man zu Rangverhältnissen der Rechtsformen, die mit jenen nach dem Kriterium der rechtlichen Bedingtheit nicht identisch sein müssen. Die Derogationsverhältnisse innerhalb einer positiven Rechtsordnung, die die Bedingungen der Außerkraftsetzung von Rechtsvorschriften selbst vorsieht, lassen sich sehr unterschiedlich gestalten. Rechtliche Regelungen können durch andere rechtliche Regelungen expressis verbis oder materiell, d. h. nach dem Grundsatz der lex posterior durch inhaltliches Widersprechen außer Kraft gesetzt werden. Die Derogationsbeziehungen zwischen Verfassung und einfachem Gesetz einerseits und Gesetz und Verordnung andererseits können innerhalb einer Rechtsordnung institutionell ganz unterschiedlich gestaltet sein. Ihre Gleichsetzung wäre vorschnell, weil sie auf einer simplen Reihung: Verfassung — Gesetz — Verordnung nach einem einheitlichen Schema beruhen würde, die der Wirklichkeit des positiven Rechts nicht gerecht wird. Die Gestaltung der Relationen zwischen derogierenden und derogierbaren Rechtsvorschriften ist Sache der Rechtsordnung selbst und nicht der Normlogik. Auf diese Weise ist es möglich, daß verschiedene Rechtsformen nach dem Kriterium der derogatorischen Wirkung einander teils überlegen, teils unterlegen sind. So bestehen zwischen der Rechtsform Urteil und allen übrigen Rechtsformen keine starren Derogationsrelationen, die zu einer pyramidenartigen Konstruktion aller Rechtsformen führen könnten. Ein einmal in Rechtskraft erwachsenes Urteil hat nicht die rechtliche Kraft, Verordnungen,

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§ 1 Strukturen der Entscheidungsherstellung

Gesetze und Verfassungsgesetze zu derogieren. Umgekehrt hat aber auch die derogatorische Wirkung von Gesetzen und Verfassungsgesetzen gegenüber rechtskräftigen Urteilen Grenzen, wenn beispielsweise aus dem Urteil grundrechtlich geschützte individuelle Rechtspositionen erwachsen. 11 Zusammenfassend kann man sagen, daß sich die einzelnen, bildlich als stufenförmige Kaskaden begreifbaren Elemente der Rechtsordnung nicht zu einem geschlossenen, einheitlichen Stufenbau fügen können. Eine Erzeugungsregel kann aus verschiedenförmigen Teilen der Rechtsordnung bestehen, die hinsichtlich ihrer Derogationskraft als gleichrangig oder von niedrigerem Rang als die erzeugte Rechtsform anzusehen sind. Recht niedrigerer Form kann durchaus Recht höherer Form bedingen (Gesetz bedingt Verfassungsgesetz). Es besteht eine Gegenläufigkeit von Delegations- (Bedingungs-) und Derogationsverhältnissen, die es innerhalb ein und derselben Staatsrechtsordnung zuläßt, daß sich mehrere Stufenfolgen mit verschiedener Reihung der Stufen herausstellen. 12 Die Stufen einer bestimmten Rechtsordnung sind als solche weder rechtswesentlich noch rechtslogisch notwendig. Nimmt man die Stufenbaulehre ernst, so gibt es von ihren eigenen Denkvoraussetzungen her keinen Stufenbau. Vielmehr zeigen sich nur jeweils zwei verschiedene Stufen oder gelangt ein „Kriterium der Stufung" zur Geltung, das notwendigerweise zwei Stufen bedingt. 13 Es handelt sich um die Begriffe der Gesetzgebung und der Vollziehung, die die Funktion von idealtypischen Ordnungsbegriffen wahrnehmen. Sie dienen dazu, die Komplexität der Rechtsproduktion und Rechtsanwendung innerhalb einer Staatsrechtsordnung übersichtlich zu ordnen. Ihre Erkenntnisfunktion beschränkt sich nicht darauf, die Rechtsordnung als Zusammenhang von Bedingungs- und Derogationsbeziehungen zu beschreiben. Es geht auch nicht darum, daß die Rechtsordnung als sich selbst steuernder Prozeß ständiger Konkretisierung und Individualisierung verstanden wird. Das idealtypische Begriffspaar Gesetzgebung / Vollziehung legt vor allem den Blick auf die rechtsschöpferische Komponente sämtlicher Rechtsakte frei. Rechtserzeugung und Rechtsanwendung werden derart einander gegenübergestellt, daß jeder Rechtsakt sowohl Rechtserzeugungs- als auch Rechtsanwendungsakt ist. Eine bedeutsame Einsicht der Stufenbaukonzeption ist es, daß auch eine das Gesetz anwendende richterliche oder verwaltungsbehördliche Fallentscheidung grundsätzlich nie reiner Vollzugsakt sein kann. Die Gerichts- und Verwaltungsakte können kein Produkt logischen Schließens und bloßer Deduktion aus dem Gesetz sein. Sie enthalten notwendigerweise ein rechtsschöpferisches subjektives und dezisionistisches Element. Sie sind immer Rechtsanwendung und Rechtsschöpfung in einem. Von der gesetzen Verfassung abwärts bis hin zum individuellen Rechtsgeschäft haben alle Rechtsakte einer positiven π Ebd., S. 19 f., 23 f. 12 Jürgen Β ehr end, Untersuchungen zur Stufenbaulehre Adolf Merkls und Hans Kelsens, Berlin 1977, S. 38 ff. 13 Öhlinger (Fn. 7), S. 30; Robert Walter, Der Aufbau der Rechtsordnung, 2. Aufl., Wien 1964, S. 63.

I. Stufenbau und nachträgliche Asymmetrisierung

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Rechtsordnung hinsichtlich der Gegenüberstellung von Rechtserzeugung und Rechtsanwendung eine janusköpfige Doppelnatur. Das „doppelte Antlitz" des Rechts zeigt sich in der durchgängigen Parallelität von Erzeugung und Anwendung „im ganzen stufenförmigen Ablauf der Rechtserscheinungen". 14 Ausgehend von diesem schrittweisen Prozeß der gleichzeitigen Rechtserzeugung und Rechtsanwendung kann man auch die Gesetzgebung als Rechtsanwendung ansehen, nämlich als Anwendung der Verfassung. Die rechtserzeugende Komponente, die sich auf jeder Stufe des Rechtserzeugungsprozesses findet, wird von Merkl und Kelsen als Ermessen festgelegt. Der Rechtskonkretisierungsablauf läßt notwendig auf jeder Rechtsanwendungsstufe Determination und Indétermination aneinander grenzen. Aus der Sicht der Stufenbaukonzeption der Rechtsordnung stellt das präformierte objektive Recht, das auf jeder Stufe in den Rechtserzeugungs- und Rechtsanwendungsprozeß eingeht, die heteronome Determinante des Rechtserzeugungs- und Rechtsanwendungsorgans dar. Die subjektive Komponente des freien Ermessens, die Entschließungsfreiheit stellt die komplementäre autonome Determinante dar. Der Ermessensbegriff bleibt demnach nicht der Entscheidungsfreiheit des Richters oder des Verwaltungsorgans vorbehalten. Er zeigt vielmehr die normativ-rechtlichen Regelungsmöglichkeiten in ihrer unausweichlichen Begrenztheit auf. Konsequenz dieser im Problem der autonomen Determinanten zum Ausdruck kommenden Beschränktheit einer jeden normativ-rechtlichen Entscheidungsdeterminierung ist es, daß die im Bereich der Ermessungsspielräume angelegten Beurteilungsmaßstäbe und Entscheidungskriterien nicht mehr aus dem die Rechtserzeugungsregel bedingenden Rechtsmaterial geschöpft werden können. 15 Dieses Entscheidungsproblem ist im Modell des Stufenbaus, in der ursprünglichen Gestalt desselben als stufenförmige, pyramidenartige Konkretisierung und Individualisierung bzw. als Stufenbau nach der rechtlichen Bedingtheit sowie im Modell der idealtypischen Stufung und Gegenüberstellung von Rechtserzeugung und Rechtsanwendung präsent. Es läßt sich auf allen Stufen des Rechtserzeugungs- und Rechtsanwendungsprozesses, von der Gesetzgebung bis hin zum richterlichen Urteil und Verwaltungsakt ebenso wie auf der jeweiligen pyramidenartig nicht zu verkettenden Stufung ansiedeln. Die Erkenntnis eines unausweichlichen Bereichs von Ermessensspielraum im Rechtserzeugungsprozeß führte die Stufenbaulehre zur Neuformulierung von zwei Problemen. Es geht um die Interpretation von Gesetzestexten und um das Kriterium der Zugehörigkeit von Kommunikationseinheiten zu der Rechtsordnung oder, anders gesagt, um die Rechtsqualität der Rechtsakte. Das Vorhandensein einer begriffsnotwendigen, stets vorhandenen partiellen Indeterminiertheit der Rechtsakte ergab für die Stufenbautheorie die Einsicht in die Begrenztheit der juristischen Interpretationsmög14 Merkl (Fn. 5), S. 217 f.; der s., Prolegomena einer Theorie des rechtlichen Stufenbaues, in: Hans Klezatzki / René Marciò / Herbert Schambeck (Hrsg.), Die Wiener rechtstheoretische Schule, Wien 1968, S. 1311 -1361, 1347; ders., Das doppelte Rechtsantlitz, in: ebd., S. 1091-1113, 1097; Öhlinger (Fn. 7), S. 38; Walter (Fn. 13), S. 30 f., 45. is Behrend (Fn. 12), S. 36.

§ 1 Strukturen der Entscheidungsherstellung

16

lichkeiten. 16 Wo Ermessen im Spiel ist, ist interpretativ kein eindeutiges allein richtiges Ergebnis möglich. Da die Rechtsakte materiell unvollständig determiniert sind und für jeden Rechtsanwendungsakt von der ihn bedingenden Erzeugungsregel mehrere Möglichkeiten der Vollziehung bereitgehalten werden, kann die Interpretation zwangsläufig nur eine Mehrzahl funktional äquivalenter, logisch gleichwertiger Lösungsmöglichkeiten aufzeigen. Die dogmatische Exegese muß demnach mit der Pluralität und Gleichwertigkeit von Interpretationsvorschlägen arbeiten können. Für Merkl und Kelsen kann die dogmatische Rechtswissenschaft nur auf funktional äquivalente Interpretationsmöglichkeiten der Gesetzestexte, keineswegs aber auf eine einzig richtige Entscheidung hinweisen. Die Frage danach, woher die Rechtsakte ihre Rechtsqualität beziehen, ist für die Stufenbaulehre mit Schwierigkeiten verbunden. Der Begriff der autonomen Determinante enthält nämlich zugleich eine wesentliche Aussage über das Verhältnis von Sein und Sollen und gefährdet die Disparität von normativer Rechtsordnung und faktischer Rechtswirklichkeit. Innerhalb einer konkreten Rechtsordnung muß es möglich sein, immer wieder die Interdependenz zwischen der Objektivität des vorhandenen, bereits normierten Rechts und dem Element der Ermessenssubjektivität des jeweils auf jeder Stufe zur Rechtsschöpfung berufenen Organs herzustellen. Die Stufenbautheorie erblickt die dynamische Eigentümlichkeit des Rechts in seiner Fähigkeit, seine Erzeugung selbst zu regeln. Verbindet man die Möglichkeit der Selbsterzeugung mit dem Axiom der Disparität, so heißt dies für die Rechtsgeltung, daß Rechtsnormen — als dem Bereich des Sollens zugehörend — ihre Geltung immer nur aus einem anderen Sollen, d. h. aus einer anderen Rechtsnorm ableiten können. Sowohl die Entstehungsbedingungen als auch die Geltungsgrundlagen einer Rechtsnorm können ausschließlich in anderen Rechtsnormen enthalten sein. Auf diese Weise scheiden die Moral, die Natur der Sache und die normative Kraft des Faktischen als Rechtsquellen der Rechtsordnung aus, denn diese gehören dem Bereich des Seins an. Der Geltungsgrund eines Rechtsaktes kann nur die Geltung eines anderen Rechtsaktes sein. Die Entwicklungsfähigkeit und kreative Funktion des Rechts gehören ausschließlich dem normativen Sollensbereich an. Wenn aber sämtliche Maßstäbe, die der Faktizität zuzuordnen sind, für die Geltungsbegründung der zum Sollensbereich gehörenden Rechtsnormen ausscheiden, so wird das Verhältnis von rechtlicher und außerrechtlicher Determinierung der Rechtsakte problematisch. Die Unausweichlichkeit des freien Ermessens macht die unreflektierte dogmatisch exegetische Rechtsanwendung im Schöße einer positiven Rechtsordnung unmöglich. Die Stufenbautheorie versucht das Problem zu lösen, indem sie diejenigen außerrechtlichen Ordnungsmöglichkeiten als positiv-rechtlich gültig anerkennt, die die Grenzen des durch die bedingenden Rechtsnormen gezogenen normativen Entscheidungsrahmens nicht überschreiten. Die rechtliche Determination durch vorrangige Rechtserzeugungsstufen bestimmt somit den Rahmen der außerrechtlichen Determination des Prozesses der Selbsterzeugung von Recht. Ebd., S.

8 .

I. Stufenbau und nachträgliche Asymmetrisierung

2. Selbsthierarchisierung

17

des Rechtssystems

Aus der Sicht der systemtheoretischen Forschung kann man das Problem der hierarchischen Schichtung von Stufen im Recht wie folgt rekonstruieren: Eine Rechtsordnung muß sich nicht denknotwendig im Stufenbau darstellen. 17 Auch wenn die Beziehung zwischen bedingenden und bedingten Rechtsnormen als ein Erzeugungszusammenhang gedeutet wird, der die juristische Form und zum Teil auch den Inhalt der bedingten Rechtsnormen bestimmt, zwingt nichts zu der Schlußfolgerung, daß die bedingenden Rechtsnormen zugleich Vorrang gegenüber den bedingten besitzen müssen. Die bedingenden Rechtsnormen können auch unter der Voraussetzung einer Gleichordnung den bedingten Rechtsnormen als Geltungsgrund dienen. Die strukturelle Gleichartigkeit hebt den Bedingungsbzw. Erzeugungszusammenhang nicht auf. Selbst wenn Rechtsnormen im zeitlichen Nacheinander verkettet werden, ergibt sich kein denknotwendiger wesenhafter Vorrang der bedingenden vor den bedingten Rechtsnormen. Man könnte höchstens von einer zeitlichen Priorität reden. Wenn man die Rechtsordnung als ein selbstreferentielles System versteht, das die Elemente, aus denen es besteht, nur im Selbstkontakt herstellen kann, so ist jeder Rechtsakt in einen Zusammenhang von anderen Rechtsakten eingebettet. Ferner ist die Rechtsordnung als selbstsubstitutive Ordnung zu verstehen, weil fortlaufend altes Recht nur und ausschließlich durch neues Recht ersetzt werden kann. Diese zwei systemtheoretischen Voraussetzungen führen dazu, daß auch die Hierarchiebildung im Recht durch das Recht selbst geregelt wird, und zwar auf eine Weise, die den Stufenbau die Form einer Selbsthierarchisierung des Rechtssystems annehmen läßt. 18 Hierarchisierung ist nichts als eine Strategie der Reduktion und Beschränkung von Entscheidungsinterdependenzen durch die Bildung asymmetrischer Beziehungen. Das Problem der doppelten Kontingenz ist auch im Rahmen von Entscheidungszusammenhängen in symmetrischer Form gegeben. Zwischen zwei oder mehreren Entscheidungen besteht prinzipiell gleiche Unsicherheit und wechselseitige Festlegungsabhängigkeit. Die Asymmetrisierung ist ein Kunstgriff, dessen sich das Rechtssystem bedient, um operationsfähig zu werden. Er stellt einen Grundbegriff dar, dessen Funktion im Rechtssystem verständlicher wird, wenn man seine grundlegende Bedeutung für die philosophische Geistesentwicklung berücksichtigt. Asymmetrisierung ist somit nicht nur ein Problem logischer Strukturen, sondern eher (so Gotthart Günther) ein reines Strukturproblem, mit dem sowohl psychische als auch soziale und daher rechtliche Systeme zu tun haben.19 17 Vgl. Torstein Eckhoff I Nils Kristian Sundby, The Notion of Basic Norm(s) in Jurisprudence, in: Scandinavian Studies in Law 19 (1975), S. 121-151. is Hier und zum folgenden Krawietz (Fn. 2), S. 266 ff., 268. 19 Gotthart Günther, Kritische Bemerkungen zur gegenwärtigen Wissenschaftstheorie. Aus Anlaß von Jürgen Habermas: „Zur Logik der Sozialwissenschaften", in: ders., Beiträge zur Grundlegung einer operationsfähigen Dialektik, Bd. 2, Hamburg 1979, S. 157-170, 158 ff.; Niklas Luhmann, Ausdifferenzierung des Rechts, Beiträge zur Rechtssoziologie und Rechtstheorie, Frankfurt am Main 1981, S. 254, Fn. 31 Vgl. 2 Gromitsaris

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§ 1 Strukturen der Entscheidungsherstellung

Die rechtliche Kommunikation läßt sich nie ganz auf individuelles Bewußtsein reduzieren. Was rechtlich relevant ist, ergibt sich nicht aus der Addition der Bewußtseinsinhalte verschiedener Entscheider und Rechtshandelnder. Die Erfahrung des Rechtlichen und die praktische Betätigung in rechtlichen Sinnzusammenhängen transzendieren das Einzelbewußtsein. Auch im Bereich des Rechts stößt man immer auf soziale Selbstreferenz, die gelegentlich bestimmte Asymmetrisierungsformen annimmt. Es ist daher ratsam, bei der rechtlichen Asymmetrisierung auf Entscheidungsprozesse, Rechtsakte und Entscheidungshierarchien abzustellen, ohne die Selbstreferenz des Einzelbewußtseins im Recht in den Vordergrund zu stellen. Das Problem der Steuerbarkeit des Rechtssystems durch sich selbst läßt sich besser darstellen, wenn die Rangverhältnisse zwischen den Rechtsformen und ihrer politisch-theologischen und religiös-mythologischen Verkleidung (Krawietz / Günter) befreit werden und in ihrer Kontingenz verstanden werden. Durch die Entstehung einer Entscheidungshierarchie wird es möglich, daß mit wenigen Selektionen auf der höheren Entscheidungsebene (Verfassung) viele Selektionen mitbestimmt und gesteuert werden. 20 Bei der Hierarchie der Rechtsformen handelt es sich um „sekundäre Entscheidungsvereinfachungen", die die Bedingungs- und Wirkungszusammenhänge zwischen den Rechtsakten in ihrer Interdependenz legitimieren. Die Etablierung einer Mehr-EbenenStruktur dient dazu, daß die verschiedenen Geltungs- und Normierungsebenen des Rechts in ein asymmetrisches Verhältnis gesetzt werden. Die niederrangigen Entscheidungen werden an die höherrangigen gebunden, aber nicht umgekehrt. Die Wechselseitigkeit der Beziehungen zwischen den Kompetenzen der rechtlichen Entscheidungsorgane bleibt an sich möglich. Die Selbsthierarchisierung sorgt aber dafür, daß die wechselseitigen Interdependenzen rechtlich sehr weitgehend irrelevant bleiben. Auf diese Weise entsteht eine sekundäre Weisungshierarchie der unterschiedlichen Entscheidungsverfahren in der Rechtsordnung, die dem Recht nicht immanent ist, sondern zur Selbstsimplifikation dient. Diese Entscheidungsvereinfachung gehört zwar mit in die Rechtswirklichkeit, sie macht jedoch letztere nicht aus. Die Hierarchie der Rechtsquellen weist zwar auf eine kaskadenförmige Rechtsproduktion hin, die über die Ausgestaltung mannigfach abgestufter Verwaltungsvorschriften und rechtlicher Einzelakte den Gesetzesvollzug selbst noch verrechtlicht; diese Art der Asymmetrisierung der rechtlichen Kommunikation kann jedoch das Gesamtphänomen der Rechtserzeugung nicht erklären. Im folgenden werden wir versuchen, eine vollständigere Darstellung zu liefern. 3. Formalisierte

Kommunikation im Rechtssystem

Würde man sich die Aufgabe geben zu beschreiben, was in den westlichen Industriestaaten unserer Zeit unter Recht verstanden wird, so würde man auf ferner Michael Haas, Types of Asymmetry in Social and Political Systems, in: General Systems 12 (1967), S. 69-79. 20 Krawietz (Fn. 2), S. 267 ff.

I. Stufenbau und nachträgliche Asymmetrisierung

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zwei allgemeine Merkmale stoßen: Pluralität der Träger rechtlich relevanten Handelns und hochgradige rechtliche Formalisierung der Beziehungen zwischen den Trägern. Am Gesetzgebungsverfahren ebenso wie am Gesetzesvollzug sind eine Vielzahl von Akteuren beteiligt. Zu den Akteuren zählen parlamentarische Stellen, politische Parteien, Verwaltungsinstanzen, Gerichte, Beschwerdeführer, Bürgerinitiativen, Verbände und Vereine. Alle diese Institutionen nehmen selbstverständlich nicht gleichzeitig an jedem Entscheidungsprozeß teil. Diese Aufzählung genügt, um zu zeigen, daß Entscheidungen im Gesetzgebungsverfahren, im politischen System und im sogenannten Gesetzesvollzug nicht Willensbekundungen isoliert tätig werdender Instanzen, sondern das gemeinsame Erzeugnis einer Vielzahl interagierender Stellen sind, die durch mehr oder minder festgelegte Kommunikationswege miteinander verbunden sind. Wir haben es mit sozialen Beziehungen zu tun, die weitgehend innerhalb komplexer Organisationen stattfinden. Wenn man mindestens teilweise als Recht das bezeichnet, was am sozialen Verhalten ablesbar ist, und verhältnismäßig in Entscheidung tritt, so wird es „in Organisationen formuliert, es wird weitgehend von Organisationen überwacht und durchgeführt, und es richtet sich überwiegend an Organisationen als Adressaten seiner Normen". 21 Diese Organisationsgebundenheit des Rechts darf nicht unterbelichtet bleiben, denn die Formulierung der rechtswissenschaftlichen Begriffe an einem Modell von Recht, das die Verhaltenssteuerung von Individuen und die Konfliktregelung zwischen Einzelpersonen in den Vordergrund rückt, führt zu Realitätsverschätzungen. Die Rechtswissenschaft beschränkt sich vor allem auf die Darstellung der Berücksichtigung und Vorbereitung der formalisierten normativen Kommunikation im Recht. Selbst die Rechtstheorie hat sich oft auf eine Darstellung der Formalität im Recht beschränkt. Es gibt verschiedene Darstellungsangebote. Die Stufenbaulehre ist das berühmteste. Sie ist aber weder notwendig noch die einzige Darstellungsmöglichkeit. Eine andere Darstellungsweise ist die schon erwähnte Darlegung des formalisierten Kommunikationsnetzes als einer sekundären Entscheidungsvereinfachung durch formalisierte Selbsthierarchisierung. Unter dem Begriff des rechtlich formalisierten Kommunikationsnetzes wollen wir Verknüpfungsmöglichkeiten von Verhaltenserwartungen verstehen, die sich direkt oder indirekt auf positiv-rechtlich festgelegte Regelungen zurückführen lassen. Wenn man demnach die Rechtsordnung als Rechtsverhältnisordnung definiert 22 , stellt man die Abhängigkeit der Erwartungszusammenhänge von den Rechtsakten des Rechtsstaates sehr in den Vordergrund. Damit werden rechtsnormgestaltete Beziehungen zwischen zwei oder mehreren Subjekten zum For21

Erhard Blankenburg / Klaus Lenk, Organisation und Recht — Einführung in das Thema, in: Erhard Blankenburg / Klaus Lenk / Ralf Rogowski (Hrsg.), Organisation und Recht. Organisatorische Bedingungen des Gesetzesvollzuges, Opladen 1980, S. 7-17, 7. 22 Zum ganzen Zusammenhang s. Norbert Achterberg, Die Rechtsordnung als Rechtsverhältnisordnung. Grundlegung der Rechtsverhältnistheorie, Berlin 1982, S. 31, 56, 59, 94 f. 2*

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§ 1 Strukturen der Entscheidungsherstellung

schungsgegenstand. Man beschränkt sich also auf die Untersuchung der formalisierten Erwartungen im System. Gleichzeitig wird ein relativ hohes Abstraktionsniveau erreicht, welches das ganze formalisierte Kommunikationsnetz der Rechtsordnung erfaßt. Rechtsverhältnisse werden durch Rechtsnormen determiniert. Beide sind gleichermaßen Bausteine der Rechtsordnung. Rechtsnormen können Rechtsverhältnisse begründen oder zur Gestaltung von Rechtsverhältnissen ermächtigen. Sie schaffen also aktuelle oder potentielle Rechtsverhältnisse. Die Rechtsordnung läßt sich als Rechtsverhältnisordnung in Rechtsnormen und in durch sie determinierte Rechtsverhältnisse zerlegen. Die weitere Ausgestaltung einer Rechtsverhältnistheorie kann sich dann mit Analyse der Rechtsverhältnisse und der Rechtsnormen befassen. Sie kann Rechtsverhältnisse nach Zahl und Art der an ihnen beteiligten Subjekte, nach der in ihnen gegenüberstehenden Rechte und Pflichten, nach ihrer Voll- oder Teildetermination durch Rechtsnormen, nach ihrer Dauer und ihrer Beziehung zueinander untergliedern und unterscheiden. Sie kann auch die Rechtsnormen mit Blick auf die Rechtsverhältnisse analysieren. Die Normstufe, der Umfang der Normgeltung, die Art der Determination von Rechtsverhältnissen charakterisieren die Rechtsnormen und begrenzen ihre Auslegungsmöglichkeiten. Zwischen welchen Subjekten Rechtsverhältnisse abstrakt entstehen können, wird normativ bestimmt. Die Subjekte selbst besitzen keine Möglichkeit, dies zu entscheiden. Zwischen welchen Subjekten Rechtsverhältnisse konkret zustande kommen, hängt dagegen möglicherweise von ihrer Mitwirkung ab. So bestehen Rechtsverhältnisse stets zwischen Zurechnungsendpunkten. Die Rechtsnormgestaltung einer Beziehung macht aus deren Endpunkten bereits hierdurch Rechtssubjekte. Mit der durch die Rechtsverhältnisbezogenheit eingeführten Veränderung eines jeden Trägers zur Rechtssubjektivität sind alle nur möglichen Endpunkte von Rechtsverhältnissen gewonnen. Das Abstraktionsniveau des Rechtsverhältnisbegriffs erfordert keine Abstellung auf rechtliche Einheiten, auf die die Rechtsnormgestaltung erst Bezug nimmt. Die Abstellung auf Rechtsstellung, Rechtssatz, Rechtsbeziehung oder Rechtssubjekt bedeutet eine überflüssige Duplizierung der Rechtsnormgestaltung. Jede soziale Beziehung, die rechtsnormativ gestaltet wird, bekommt hierdurch rechtliche Relevanz. Hieraus folgt, daß nach dieser Auffassung Einflüsse des rechtlichen Sollens auf das Sein wie auch des Seins auf das Sollen nicht automatisch erfolgen können. Aufgrund der Rechtsnormgestaltung operiert die Theorie mit den zwei einander gegenüberstehenden Kategorien von Sein und Sollen. Die Untersuchung der in der Rechtsordnung aufgestellten Permeabilitätsbedingungen zwischen Sein und Sollen thematisiert somit zugleich die System/Umwelt-Beziehungen im Rechtssystem. Die Einführung von Seinsgegebenheiten in die Sollensordnung wird als Induktion bezeichnet. Die Übertragung von Sollensnormen der einen in eine andere Ordnung — also von Sozialnormen in die Rechtsordnung oder Moralordnung, von Rechtsnormen in die Moralordnung oder von Moralnormen in die Rechtsordnung — wird als Transformation bezeichnet. Dementsprechend wird rechtliche Relevanz ausschließlich durch Induktion oder Transformation möglich.

I. Stufenbau und nachträgliche Asymmetrisierung

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Die transformierende Rechtsnorm verwandelt zwangsläufig alle nur möglichen Endpunkte von Rechtsverhältnissen in das Midasgold der rechtlichen Objektivität. Die formale Kommunikation im Recht entscheidet darüber, was den „Sprung ins Recht" schaffen kann. Die Volldetermination oder Teildetermination von Rechtsverhältnissen durch die Rechtsnormen sowie der Rückbezug jeder Rechtsnormgestaltung auf höherrangige Rechtsnormen nach dem Muster einer Normenpyramide ergeben eine geschlossene Rechtsordnung, die im staatlichen Bereich zwangsläufig ihren Schwerpunkt hat. Die Öffnung des Normstufenbaus erfolgt im Sinne einer Reagibilität auf gesellschaftliche Vorgänge, die sich als transformierfähig erweisen können. Die Renaissance des Richterrechts versucht diese Reagibilität dadurch zu erhöhen, daß sie die Rechtserzeugung nicht als linear, sondern als einen kybernetischen Regelkreis begreift, durch dessen rückkoppelnden Strang die Rechtsprechung auf die vorgeordneten Normen und Normerzeuger einzuwirken vermag. Dies bleibt jedoch ein formalisierter Kommunikationsweg innerhalb des Rechtsstabes. Der Versuch, das formalisierte Netz in metarechtlicher Hinsicht insofern zu öffnen, als man auf jeder Rechtserzeugungsstufe eine Ambivalenz von Normanwendung und Normsetzung anerkennt, läuft auf die Annahme einer umgekehrten Pyramide außerrechtlicher Determinanten hinaus. Man muß annehmen, daß die durch die Erzeugungsstufen hindurch ständig anwachsende Zahl der determinierenden Rechtsnormen den Raum für die metarechtliche Determination (freies Ermessen) ständig schmaler werden läßt. So ist die Verfassung geringfügig rechtlich und erheblich mehr sozial determiniert. Eine Theorie, die auf diese Weise die System-Umweltbeziehungen thematisiert, beschreibt die von der anerkannten Rechtsdogmatik und Rechtstheorie gelieferten Beschreibungen der normativen Kommunikationsmöglichkeiten im staatlichen Bereich. In dieser Darstellung rechtsdogmatischer Darstellungen werden die Rechtsnormen als Konstanten behandelt. Der Modus ihrer fallbezogenen Konkretisierung und Anwendung steht in einem staatlich formalisierten Kommunikationsnetz fest. Von den staatlich formalisierten Erwartungen stehen diejenigen im Vordergrund, die rechtswissenschaftlicher Betrachtung zugänglich sind. Rechtserzeugung und Rechtsanwendung beruhen auf Folgerungen, die nichtdeduktive Übergänge darstellen. Die im Rahmen der juristischen Rechtfertigung verwendeten nichtdeduktiven Folgerungen werden bildlich mit der Metapher eines Sprunges wiedergegeben. 23 Die juristischen Folgerungen können einen Sprung innerhalb des Rechts oder aber einen Sprung von der Welt des sozialen Geschehens in die des Rechts markieren. Peczenik unterscheidet deshalb zwischen der Transformation in das Recht und der Transformation innerhalb des Rechts. Im ersten Falle findet ein Übergang von sozialen Fakten bzw. einem nichtjuristischen Sollen zu einem rechtlichen Sollen statt. Weder die rechtliche Qualität noch die rechtliche Verbindlichkeit können durch soziale Geschehensabläufe konstituiert werden. Da aus sozialen 23 Zu dieser Metapher s. Aleksander Peczenik, Grundlagen der juristischen Argumentation, Wien 1983.

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§ 1 Strukturen der Entscheidungsherstellung

Fakten kein Recht deduktiv begründet werden kann, handelt es sich um eine Transformation von nichtrechtlicher Sozialität in rechtliches Sollen. Auf diese Weise läßt sich eine Theorie aufstellen, die der Frage nachgeht, nach welchen Regeln die Transformation in das Recht zu vollziehen ist. Man kann es sich zur Aufgabe machen, das schwierige Leben eines Juristen, der nicht weiß, was geltendes Recht ist, dadurch zu erleichtern, daß man auf Kriterien und Bedingungen der Transformation aufmerksam macht. 24 Was die Transformationen innerhalb des Rechts angeht, handelt es sich darum, untergeordneten Rechtsquellen und konkreten richterlichen Einzelfallentscheidungen Geltung zu verleihen. Man unterscheidet zwischen der rechtlichen Verbindlichkeit des Normsystems insgesamt, der Verfassung und möglicherweise einigen anderen sekundären Quellen. Die Unterscheidung zwischen primären und sekundären Rechtsquellen bestimmt sich danach, ob zur Identifikation der Rechtsquelle auf andere Rechtsquellen Bezug genommen werden muß. Wenn ein solcher Bezug nötig ist, geht es um eine sekundäre, sonst um eine primäre Rechtsquelle. Gegenüber der Verfassung sind die meisten Gesetze und Präjudizien sekundäre Rechtsquellen. Peczenik sieht in der Verbindlichkeit von sekundären Rechtsquellen insofern eine Transformation, als eine Aussage über deren rechtliche Geltung nicht logisch aus den primären Rechtsquellen folgt. Diesen Sachverhalt bezeichnet er mit dem Begriff der Quellentransformation. Eine Transformation erblickt er auch im Vorgang der Auslegung eines Gesetzes und im Fall des konkreten rechtlichen Sollensurteils. Da die Auslegung eines Gesetzes sich nicht in einer Deduktion aus diesem Gesetz erschöpfe, spricht Peczenik von einer, Allgemein-Norm-Transformation", die den Gehalt der Rechtsquellen konkretisiert. Wenn es schließlich nicht möglich ist, eine konkrete richterliche Fallentscheidung aus einer allgemeinen Rechtsnorm und aus der Sachverhaltsbeurteilung zu deduzieren, soll von einer „Einzel-NormTransformation" die Rede sein. 4. Aktenmäßigkeit Die Asymmetrisierung der Kommunikationsprozesse im Rechtssystem geht nicht nur auf nachträgliche Hierarchisierungen zurück. Sie beruht auch auf Aktenmäßigkeit. Die bürokratischen Organisationstypen, mit denen es die Rechtssoziologie zu tun hat, könnten in hierarchisch und in kollegial geordnete Behörden zerlegt werden. Im Bereich des hierarchisch organisierten staatlichen Verwaltungshandelns werden Amtshandlungen vom Behördenleiter angeordnet, abgeändert und kontrolliert. Im Bereich justizmäßiger Organisationen kann hingegen der Präsident eines Gerichts in die Entscheidungen eines Richters nicht eingreifen. Die hierarchischen Möglichkeiten in der Justizorganisation beschränken sich auf die Dienstaufsicht und die Gewährleistung der Arbeitsfähigkeit der Organisation. Da die Justiz zu den professionalisierten Organisationen gehört, wird das Verhal24 Hierzu die Darstellung von Ulfried Darmstadt 1986, S. 100 f.

Neumann, Juristische Argumentationslehre,

I. Stufenbau und nachträgliche Asymmetrisierung

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ten ihrer Mitglieder zum größten Teile durch fachliche und einstellungsmäßige Standards einer gemeinsamen Ausbildung und nicht durch hierarchische Weisungen kontrolliert. Hinzu kommt, daß sowohl Verwaltung als auch Gericht an allgemeine Entscheidungsregeln gebunden sind. Das einheitliche Bild, was vor allem die Justiz dem Außenstehenden darbietet, setzt sich aus der gesetzlichen Bindung und den allgemeinen Normen und Standards der juristischen Profession zusammen. Das prägende Merkmal, das die Justiz mit den hierarchischen Bürokratien teilt, ist, daß alle bindenden Entscheidungsvorgänge aktenmäßig festgelegt werden müssen. Rechtliche Bindungen und Aktenmäßigkeit scheinen sich gegenseitig zu bedingen. Die aktenmäßige Festlegung von Vorgängen und Entscheidungen scheint vor allem der Kontrolle von Verwaltungs- und Justizhandeln zu dienen. Sie macht es erst möglich, die Behandlung eines Falles nachzuvollziehen und die Entscheidung der ersten Instanz zu überprüfen. Erst die Aktenmäßigkeit ermöglicht die formalisierte Kommunikation zwischen den Instanzen und den Verfahrensbeteiligten. Akten bilden das Verbindungsglied bei der arbeitsteiligen und hierarchisch abhängigen Bearbeitung von Fällen. Aktenmäßigkeit ist also die organisatorische Bedingung der Möglichkeit für das Rechtsmittelverfahren der zweiten Instanz und für hierarchische Kontrolle in der Verwaltung. Akten spiegeln jedoch nicht den tatsächlichen Entscheidungsablauf wieder. Bewährte Strategien der Umgehung von schriftlicher Festlegung wie Telefongespräche, beiläufiges Fallenlassen von Informationen und der Aufbau eines informellen Beziehungsgefüges sorgen dafür, daß lange nicht alles in die Akten kommt, was für den Entscheidungsablauf wichtig ist. Akten geben nicht die Wirklichkeit wieder, sondern sie enthalten eine Realität eigener Art; es handelt sich um die Konstruktion einer Version des Entscheidungsablaufs, die der Rechtfertigung der Entscheidungen und ihrer rechtlichen Absicherung dienen kann. Dies bedeutet nicht, daß in Akten falsche Informationen wiedergegeben sind. Die aktenmäßige Niederlegung von Vorgängen ist vielmehr zwangsläufig selektiv und hängt vom Interesse an einer bestimmten Wirkung ab. Der Selektionszwang scheint ebenso wie das Darstellungsinteresse vor allem durch die institutionelle Notwendigkeit der Absicherung von Entscheidungen bedingt zu sein. Die Akten müssen nämlich als Dokumente interpretierbar sein, die diesem rechtlichen Absicherungs- und Legitimationszweck dienen. Dieser Anforderung wird zum Teil durch Standardisierung von Informationen Genüge getan. Formulare, routinemäßige Vermerke und standardisierte Ausdrucksformen dürfen jedoch nicht zur einheitlichen Beurteilung des Akteninhalts verleiten. Prozeßakten enthalten unter einem Aktendeckel kontroverse Darstellungen. Sie sind allen Prozeßparteien zugänglich und dienen diesen, um ihre kontroversen Strategien zu entwerfen. Verfahrensgeschehen und Rechtsverhältnisse können aus einer jeweils verschiedenen Sicht dargestellt werden. Sie lassen jedoch keinen Blick hinter die Kulissen zu, und sie lassen vor allem sehr schwer auf Intentionen, Strategien und Motive der Beteiligten rückschließen. Bei der Inhaltsanalyse von Gerichtsakten ist es jedenfalls möglich, Merkmale des Textes als Indikatoren zu definieren, die die

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§ 1 Strukturen der Entscheidungsherstellung

Zuverlässigkeit der Daten gewährleisten. Es geht um standardisierte Angaben zum Prozeßgeschehen, wie ζ. B. Termine, Dauer von Phasen des Prozesses, Hinzuziehen von Sachverständigen oder Zeugen. Andererseits gibt es Themen, die sich nur zum Teil standardisieren und kategorisieren lassen. Die Schriftsätze der Parteien, die Arbeitsweise von Richtern, die Verhandlungsstrategien von Parteien und die Auswirkungen von Vorschriften des Zivilprozeßrechts sind in den Akten standardisiert und niedergelegt. Eine rechtssoziologische Aktenanalyse eröffnet jedenfalls die Möglichkeit, strukturelle Merkmale der Interaktions- und Kommunikationsmöglichkeiten zwischen den verschiedenen Instanzen und Berufsrollen sowie Bedingungen und Folgen von Entscheidungen unabhängig von dem Selbstverständnis der Akteure zu erkennen. Die Aktenanalysen fragen deswegen nicht primär nach den Ergebnissen institutionellen Handelns, sondern nach dem Prozeß der Institutionalisierung selbst. Es handelt sich darum, die Voraussetzungen institutionalisierter Kommunikation zu erschließen und zu sehen, wie die Institution Wirklichkeit verarbeitet, Plausibilität erzeugt, ihre Sichtweisen vom Handeln der Betroffenen ausbildet und für Dritte lückenfüllend darstellt. 25 Die Aktenanalyse erweist sich als eine handlungsbezogene Sprachanalyse oder als eine juristische Sprachpragmatik. Die aktenmäßige Niederlegung von fremderfahrenen Erlebnisgegenständen beruht auf der Verwendung von Zeichen und dem Verhältnis zwischen Zeichen und Bezeichnetem, das wiederum auf seine sozial bedingte Wandelbarkeit verweist. 26 Die Wichtigkeit der Situation der Zeichenproduktion stellt die Pragmatik neben bzw. nach Syntax und Semantik in den Vordergrund. Nach Seibert thematisiert Pragmatik den Prozeß der Zeichenproduktion und ist nicht allein als Beziehung zwischen Zeichen und Zeichenbenutzern zu verstehen. Es fallen nämlich mindestens vier Faktoren auf, die bei der Zeichenverwendung zur Anregung von Verstehensleistungen beitragen: die Gestaltung des Zeichenträgers, seine lexikalische Bedeutung bzw. seinen allgemeinen Erwartungen entsprechender Gebrauch, die Veränderung der Bedeutung durch Kommunikationsgeschichte und metakommunikative Signale. Die Zeichentheorie verbindet sich hier mit einer Kommunikationstheorie. Die Kommunikation findet zwischen mindestens zwei Personen statt, die eine Beziehung zueinander herstellen, indem sie sich dazu eingeführter Zeichen bedienen. Hinzu kommen die Zeichenpräsentationen, denen zunächst und vorrangig Mißverständnisse in der Kommunikation angelastet werden. Spätestens die Frage danach, welche Elemente der Zeichenmaterie oder welche Selektionsleistungen im jeweils konkreten Fall als Zeichen dienen sollen, macht es klar, daß die zeichentheoretischen Überlegungen mit einer Kommunikationstheorie und mit einer Theorie über die Entstehung und Verarbeitung von sozialem Sinn verbunden werden müssen, um die Sachverhalte der Sprachpragmatik in der Aktenanalyse adäquat 25 Erhard Blankenburg (Hrsg.), Empirische Rechtssoziologie, München 1975, S. 194 ff., 198, 200. 26 Hier und zum folgenden Thomas-Michael Seibert, Aktenanalysen, Zur Schriftform juristischer Deutungen, Tübingen 1981, S. 12-17.

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zu erläutern. Man müßte „Verweisungsstruktur und Zeichenstruktur" unterscheiden. 27 Das Zeichen verweist auf anderes, die Verweisungsmöglichkeit und die Verweisungsstruktur sind sozialer Sinn, und sozialer Sinn verweist nicht auf anderes, sondern auf sich selbst. Pragmatik bedeutet nicht bloß Abhängigkeit der Bedeutung von der sozialen Situation ihrer Äußerung. Soziale Situationen sind schon durch Erwartungszusammenhänge und entsprechende Äußerungsregeln vororganisiert. Auf diese Weise verweist Pragmatik immer auf institutionell befestigte und verdinglichte Erwartungen in der sozialen Dimension. Die Pragmatik führt zwangsläufig zu Institutionalisierungsprozessen, die zwischen mehreren Einheiten in der Sozialdimension, ζ. B. Rollen oder Personen, Sinn erzeugen und reproduzieren. Die Gleichartigkeit der institutionalisierten Sinnerzeugung schlägt sich als Gleichsetzungsprozeß von Handlungszusammenhängen nieder. Er wird insofern der pragmatischen Analyse von Akten als repetitives, schematisiertes oder gleichzusetzendes Handeln zugänglich. Die Institutionalisierung von Sinn bezieht als Gleichsetzungsprozeß Situationen aufeinander, so daß die Verweisungsmöglichkeiten nicht aus der jeweiligen gegenwärtigen Gegenwart heraus zu begreifen ist. Es ist vielmehr durch Aktualisierungen von gegenwärtigen Vergangenheiten und gegenwärtigen Zukünften, also aus vorweggenommenen und vorauserinnerten Situationen, die in der institutionalisierten Zeichenverwendung und Zeichenbedeutung schon verdinglicht worden sind, zu ergänzen. Vergangene Stufen der institutionellen Wirklichkeitsverarbeitung werden demnach in den institutionalisierten Zeichenverwendungen gespeichert und bereitgehalten. Bedeutungen stellen einen Bezug zu Vorsituationen her. Für die juristische Pragmatik bei der Analyse von aktenmäßig verzeichneten Sachverhalten und Handlungsgegenständlichkeiten ist daraus die Konsequenz zu ziehen, daß die Bedeutungskonstitution die Kommunikationsgeschichte berücksichtigen muß. Im Rechtsbetrieb ist vieles, aber nicht alles, von der Situation oder vom Fall abhängig. Es gehört zu den Aufgaben juristischer Pragmatik, den Bezug auf Vorsituationen und vorweggenommene Handlungssituationen als Moment der juristischen Analyse auszuweisen. In der Analyse der Sprachpragmatik juristischer Institutionen hat der pragmatische Ansatz bisher nur randständige Aufgaben erfüllt. Der Handlungsbezug der juristischen Sprache wurde oft auf die Verhaltensorganisation des Rechtsbetriebes reduziert und, wo möglich, auf die Normtexte projiziert. Institution und Organisation wurden häufig gleichgesetzt. Dies führte zu einer Rechtsstabstheorie, die den Prozeß der Institutionalisierung im Recht vorrangig damit verknüpfte, wie Gesetzestexte seitens des Rechtsstabs richtigerweise zu verstehen seien. An die Stelle handlungsbezogener Sinnanalyse, die Institutionalisierungsprozesse sowohl im Rechtsbetrieb als auch in den verschiedenen Bereichen des Verhaltens der Bürger berücksichtigt, tritt gesetzestextgebundene Rechtfertigung. An die Stelle juristischer Pragmatik tritt juristische Semantik. Die Interpretionsgesichtspunkte der juristischen Methodenlehre normieren demnach Semantik. Die Außerachtlassung der Faktoren der Zeichenpro27 Niklas Luhmann, Soziale Systeme, Frankfurt 1984, S. 107.

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duktion und Sinnkonstitution reduziert die interpretatorische Tätigkeit auf den Versuch, die Bedeutung des Gesetzestextes aus dem jeweils vorfindlichen Zeichenrepertoire zu ermitteln. Unter sprachpragmatischer Perspektive läßt sich jedoch Bedeutung nicht ohne weiteres aus Sprachzeichen ermitteln. Deshalb hat eine realistische Methodenlehre — wie die Zweckjurisprudenz Iherings und die Interessenjurisprudenz Hecks — schon immer versucht, pragmatische Sprachfunktionen zur Kenntnis zu nehmen. Der Wille des historischen Gesetzgebers und gesetzliche Zweckgesichtspunkte sind Formeln, die die Beziehung des Autors zum Text und zum Leser sowie den Bezug auf Vorsituationen (Kommunikationsgeschichte) thematisieren. Beim näheren Zusehen ist aber der Beziehungsaspekt Gesetzgeber/Gesetzestext/Richter im Grunde nicht situativ. Wenn man die Gerichtsakten in Betracht zieht, stellt sich heraus, daß sich die abstrakte Gesetzesbindung tatsächlich in vielfachen und mehrfach gestuften Verwendungsprozessen konkretisiert. Es handelt sich um Konkretisierungen, die dem Richterspruch vorausgehen und in der Gerichtsakte ein textliches Substrat finden. Es müssen verschiedene Beziehungsaspekte berücksichtigt werden, die einer Gerichtsakte zugrunde liegen und durch sie nivelliert werden: also etwa im Falle des Ladendiebstahls zwischen Ladeninhaber und Polizeibeamten (Anzeige), zwischen Polizeibeamten und Beschuldigtem oder Kaufhauspersonal (Vernehmung) und zwischen Staatsanwalt und Beschuldigtem (Entscheidung). A l l diese Situationen beruhen auf Institutionalisierungsprozessen, die die instanzenabhängigen Situationsbeschreibungen beeinflussen, ihren Eingang in die Geschichte finden und auf den einen Beziehungsaspekt zwischen dem Gesetzgeber und Richter projiziert werden. Diese Sinnzusammenhänge lassen sich aber unmöglich als Bedeutung aus gesetzestextlichen Sprachzeichen ermitteln. 5. Entscheidungsorganisation

in konkreten Kommunikationssystemen

Wir werden im vorliegenden Zusammenhang mit dem Begriff des Kommunikationssystems arbeiten. Dieser Begriff soll es möglich machen, quer zu den institutionellen Grenzen verlaufende Entscheidungsprozesse darzustellen und daher Behörden, Sachverständigengremien, Unternehmen, Gerichte oder private Träger nicht mehr jeweils getrennt als Bestandteile der Exekutive, der Judikative oder des gesellschaftlichen Bereiches zu betrachten. Wir gehen also nicht von einem „Gesetzesvollzugssystem" im Sinne von Bohne aus.28 Zu einem Gesetzesvollzugssystem sollen jeweils diejenigen Akteure gehören, deren Handlungen auf die Verwirklichung eines Gesetzes gerichtet sind. Das Gesetz bildet somit den Bezugspunkt der Interaktionsbeziehungen zwischen staatlichen und nichtstaatlichen Stellen und ist für seine Umsetzung in die soziale Wirklichkeit auf das Zusammenwirken von Behörden, Gerichten, privaten Unternehmen, Bürgern an28 Eberhard Bohne, Informales Verwaltungshandeln im Gesetzesvollzug, in: Erhard Blankenburg / Klaus Lenk/Ralf Rogowski (Hrsg.), Organisation und Recht (Fn. 21), S. 20-80, 56, 59 ff., 63.

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gewiesen. Wir wollen die Kommunikationsprozesse der Entscheidungsorganisation nicht als ein analytisches System, sondern als Möglichkeiten des Erlebens und Handelns ansehen, die realiter und unabhängig von Gesetzestexten existieren. Bohne schreibt dem Gesetz die Funktion zu, die Erwartungsgrenzen von Kommunikationssystemen zu regulieren. Genau dies ist aber die Leistung die ein Gesetz nicht erbringen kann. Ebenso unrealistisch ist es zu behaupten, daß der Gesetzesvollzug als Wille oder als Zweck die Teilnahmebedingungen an der Kommunikation definiert. Das Positive am Ansatz Böhnes ist seine Nähe zur Systemtheorie. Diese wird aber dadurch relativiert, daß an den Grundbegriffen der Handlungsauslegung „ Z w e c k " und „Mittel" dennoch festgehalten wird und daß zusätzlich sogar auf den Begriff der Akzeptanz zurückgegriffen wird. Bohne konkretisiert den Bezugspunkt der Interaktionen im Gesetzesvollzugssystem, indem er den Begriff des Ziels einführt. Die in Gesetzesform ergangene Entscheidung, meist diffuse und sehr allgemein formulierte Ziele zu verwirklichen, soll für ein Gesetzesvollzugssystem kostitutiv sein. In diesem Sinne soll jedes mit eigener, wenn auch diffuser sozialer Zweckgerichtetheit versehene Gesetz ein selbständiges Handlungssystem begründen. Es gebe nicht nur ein einziges Gesetzesvollzugssystem. Es ist jedenfalls festzuhalten, daß mehrere Gesetzesvollzugssysteme entstehen. Jedes in Anwendung gebrachte Gesetz begründe ein selbständiges Handlungssystem zwischen Akteuren, deren Handlungen nach dem gemeinten oder implizierten Sinn auf die gesetzliche Programmentscheidung bezogen sind, und die die Gesetzesentscheidung grundsätzlich akzeptieren. 29 Die Akzeptierung sei deswegen von praktischer Bedeutung, weil die Vollzugssysteme Mechanismen aufwiesen, mit deren Hilfe die aus der Systemzugehörigkeit zugunsten eines Akteurs resultierenden Vorteile entzogen und der Ausschluß aus dem System bewirkt werden könnte. Wenn beide Voraussetzungen erfüllt seien, sei auch die Systemmitgliedschaft begründet, unabhängig davon, ob es sich um private Akteure, Gerichte und sonstige Stellen handele. Der Gesetzesvollzug stelle sich als Leistung mehrerer zusammenwirkender und interagierender Träger dar, die in keinem einheitlichen Über- und Unterordnungsverhältnis stünden. Es gebe keine Gruppe von Akteuren, die allen übrigen Akteuren übergeordnet und zur Leitung des Systems berufen sei. Zum eingeführten Zielbegriff möchten wir bemerken, daß Gesetzesziele in außerordentlich geringem Ausmaß über die normativen Programmvorgaben zu erschließen sein dürften. Es ist in der Diskussion umstritten, ob sich die Arbeitsabläufe mit der Erzielung konkreter Wirkungen befassen und ob die von verschiedenen Trägern verfolgten Ziele einheitlich verstanden werden können. Die Frage danach, wie Zielformulierungen in die materiellen Vorschriften eines Gesetzes einbezogen werden und wie man im Nachhinein im Gesetzesvollzug die gesetzliche Zweckgebundenheit interpretativ rekonstruiert, mag hier dahingestellt bleiben. Problematisch im Begriff des Gesetzesvollzugssystem ist also das Kriterium der Systemzugehörigkeit. Man profitiert vom Forschungsstand der Theorie selbstreferentieller sozialer Systeme nicht genug, wenn 29 Ebd., S. 64 f.

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man mit Bohne als Mitglieder eines gegebenen Gesetzesvollzugssystems alle Akteure ansieht, deren Handlungen nach dem gemeinten oder implizierten Sinn auf die Gesetzesentscheidung bezogen sind, und die die Gesetzesentscheidung grundsätzlich akzeptieren. Systemtheoretisch muß man sagen, daß in einem sozialen Kommunikationssystem Selektionsleistungen durch systemimmanente Zurechnungsregeln als systemzugehörig oder systemextern behandelt werden. Die Akzeptierung der Gesetzesentscheidung als Voraussetzung der Zugehörigkeit zum Vollzugssystem schmuggelt ein systemfremdes Element in das System ein. Handlungsbeiträge können durch einen in der Kommunikation konstituierten bestimmten Sinnbezug miteinander verknüpft werden ohne jeglichen Rückgriff auf Handlungsträger, Konsensbereitschaft oder grundsätzliche Akzeptanz voraussetzen zu müssen. Fruchtbringend ist der Hinweis auf die Pluralität der Entscheidungsträger und auf die Operationalisierung der Differenz formal / informal im Laufe von Entscheidungsprozessen. Eine Stelle innerhalb einer Verwaltungsbehörde sieht sich aus Gründen realistischer Entscheidungsermöglichung dazu genötigt, Kontakte zu Ansprechpartnern in anderen Behörden, zu privaten Stellen und zu den für den jeweiligen Gesetzesbereich zuständigen Kammern bzw. Senaten der Verwaltungsgerichte zu unterhalten. Demgegenüber treten die Beziehungen zu Stellen innerhalb derselben Behörde, die mit dem Vollzug eines bestimmten Gesetzes nichts zu tun haben, in den Hintergrund. So unterhält das Sozialamt einer Stadtoder Kreisverwaltung intensivere Beziehungen zu den Sozialämtern anderer Kommunen, zu den zuständigen Dezernaten oder Referaten im Regierungspräsidium oder im Ministerium, zu Kirchen, Wohlfahrtsverbänden und Sozialhilfeempfängern sowie zu den zuständigen Kammern und Senaten beim Verwaltungsbzw. Oberverwaltungsgericht als zu anderen Ämtern innerhalb derselben Kommunalverwaltung, die einen anderen Zuständigkeitsbereich haben. Instanzen von verschiedenen Organisationen, die ähnliche Aufgaben betreuen, stehen in Entscheidungsinterdependenzen. Nach dieser Konzeption des Gesetzesvollzugs hat das institutionelle Grenzen übergreifende Handlungssystem eine formale Struktur, die auf Zuständigkeits- und Verfahrensregeln zurückgeht. Die formale Struktur ist jedoch mit den tatsächlichen Strukturen des Systems nicht deckungsgleich, weil sich institutionalisierte Kommunikationsbeziehungen zwischen den Systemakteuren ausgestalten, die zwar von den Zuständigkeits- und Verfahrensregeln und von den Gesetzen nicht vorgesehen, aber auch nicht verboten sind. Auf diese Weise werden positions- und aufgabenspezifische Verhaltensanforderungen gebildet, die mit der Identität des formal festgelegten Adressatenkreises der formalen Zuständigkeits- und Verfahrensregeln nicht gleichzusetzen sind. Im Interaktionszusammenhang des Gesetzesvollzugs kann man aus dieser Sicht formale und informale Verhaltensweisen auseinanderhalten und zugleich auf gemeinsame Problemerfahrungen zurückführen. In der Organisationssoziologie pflegt man formale von informalen Verhaltensbereichen zu unterscheiden. Man hat in Organisationen weite Bereiche des Ver-

I. Stufenbau und nachträgliche Asymmetrisierung

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haltens entdeckt, die in offiziellen Stellenbeschreibungen, Aufgabenzuweisungen und in Verfahrensregeln nicht enthalten sind. Unter Formalität versteht man das Ergebnis der Formalisierung von Verhaltenserwartungen. Die Formalität ist eine Qualität bestimmter Verhaltenserwartungen, nicht jedoch der Totalität der Erwartungen eines sozialen Systems. Eine Erwartung ist formalisiert, wenn ihre Anerkennung Bedingung für die Fortsetzung der Mitgliedschaft an einem sozialen System ist. Das charakteristische der Formalisierung besteht in der Aussonderung bestimmter Erwartungen als Mitgliedschaftsbedingung. Neben den formalen Erwartungen, die als Bestandteil der Mitgliedsrolle definiert werden, gibt es also andere Erwartungen und Verhaltenserwartungen, so daß man von einer Rollenkombination und Rollentrennung im inneren Gepräge der formalen Organisation sprechen kann. Die Mitgliedsrolle nimmt insofern eine Sonderstellung ein, als sie allein den Zugang zu allen anderen formalen und informalen Rollen im System erschließt. Die informalen Rollen, die in formalisierten Systemen vorhanden sind, sind in der Mitgliedsrolle nicht vorgesehen. Ihre Erfüllung oder Nichterfüllung hat keine Konsequenzen für die Mitgliedschaft. Die informalen Erwartungszusammenhänge erfüllen jedoch wichtige Systemfunktionen und wirken neben der formalen Organisation, teils für sie und teils gegen sie. Die situationsgemäße Trennung von formalem und informalem Verhalten führt dazu, daß das Verhalten informell verläuft und sich gleichzeitig laufend an der Möglichkeit formaler Situationsauffassung orientiert. Die Erkenntnisse der Organisationstheorie bezüglich der Bedeutung der Informalität können durchaus für die Erklärung der Kommunikationsmöglichkeiten zwischen den verschiedenen juristischen Berufsrollen und Rechtsinstanzen herangezogen werden. 30 Gesetzesanwendung und Gesetzesvollzug können nur in Kommunikationssystemen stattfinden. Es handelt sich um soziale Systeme, die sich bilden, wenn die teilnehmenden Akteure miteinander durch Kommunikation verbunden werden. d. h., wenn die Interaktionsbeziehungen zwischen den Akteuren nicht zusammenbrechen. Die Kommunikationschancen in einem Kommunikationssystem sind nicht gleich verteilt. Die Entscheidungsprozesse der sich in der Rechtsordnung herausbildenden sozialen Systeme bestehen aus Kommunikationen, die auf eine bestimmte Weise organisiert sind. In einem Kommunikationssystem haben nicht alle Akteure die gleichen Chancen, Kommunikation zu geben oder zu empfangen. Es bilden sich bevorzugte Kommunikationswege heraus, die Gefälle und Unterschiede bei der Informationsbeschaffung und Informationsbearbeitung entstehen lassen. Sobald diese Unterschiede durch die Stabilisierung von Erwartungen für die Mitglieder des Systems berechenbar werden, hat man es mit institutionalisierten Kommunikations wegen zu tun. 31 Mit den verschiedenen Rollen im System sind unterschiedliche Kommunikationserwartungen verbunden. In einem Kommunikationssystem gibt es nicht bloß Vorzugsbahnen der Kommu30

Niklas Luhmann, Funktion und Folgen formaler Organisation, Berlin 3. Aufl. 1976, S. 33, 38, 46. 31 Ebd., S. 191.

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nikation. Es gibt vielmehr Kommunikationsnetze, die die Beziehungen zwischen den staatlichen und nichtstaatlichen Akteuren strukturieren. Von einem Netz wird nur dann gesprochen, wenn Kommunikationserwartungen so verknüpft sind, daß eine gewisse Vorzeichnng der Weiterleitung von Kommunikationen den Systembeteiligten bewußt ist und bei ihrem Handlungsvollzug mit bedacht wird. Das Weiterleiten von Kommunikation bedeutet keinen Transport von Nachrichten, sondern weitere vorgezeichnete Verarbeitung von Sinn oder anders gesagt weitere Informationsverarbeitung. Innerhalb einer Organisation kann man von einem Kommunikationsnetz behaupten, daß es formalisiert sei, wenn Kommunikationen im Netz Anlaß geben können, die Mitgliedschaftsfrage zu stellen. 32 In einem sozialen Kommunikationssystem, wo Gesetze interpretiert und angewandt werden, geht die hochgradige, rechtliche Formalisierung des Kommunikationsnetzes zwischen den Akteuren auf meistens niedergelegte Verfahrensregeln zurück. Zu den Formalisierungen kann man die Zuständigkeitsregelungen zählen, die in einer Vielfalt von Gesetzen, Satzungen und Rechtsverordnungen enthalten sind. Hinzu kommen die Vorschriften, die den formalisierten Ablauf von Entscheidungsprozessen regeln. Diese Bestimmungen finden sich in Spezialgesetzen, Satzungen und Rechtsverordnungen, in den Verwaltungsverfahrens-, Verwaltungszustellungs- und Verwaltungsvollstreckungsgesetzen des Bundes und der Länder, im Sozialgesetzbuch und in der Abgabenordnung. 33 Höchstrichterliche Verfahrensgrundsätze ergänzen das schriftlich fixierte Kommunikationsnetz der arbeitsteiligen Entscheidungsprozesse im Kommunikationssystem des Gesetzesvollzugs. Auf dem Gebiet des Vollzugs des Bundesimmissionsschutzgesetzes haben empirische Forschungen gezeigt, daß hochgradig rechtlich formalisierte Entscheidungsabläufe in der Verwaltung mit Verfahrenshandlungen in Verbindung stehen, die von Formalisierungen nicht erfaßt sind. Die rechtlich vorgeschriebene formale Verhaltensordnung, die auf das positiv gesetzte Recht und die allgemein anerkannten Grundsätze von Lehre und Rechtsprechung zurückzuführen ist, kann eine Vielfalt von rechtlich relevanten Handlungsbeziehungen im Kommunikationssystem des Gesetzesvollzugs nicht erfassen. Diese Handlungsmuster, die unter keine rechtlich formal festgelegte Verhaltensanforderungen subsumierbar sind, sind imstande, die rechtlich formalisierten Entscheidungsprozesse zu ergänzen, abzuändern, teilweise zu ersetzen oder sonstwie zu modifizieren. Sie sind informal und nehmen im Vollzug des Bundesimmissionsschutzgesetzes verschiedene Gestalten an. Zu den informalen Verhaltensmustern der Verwaltung zählen die Vorverhandlungen, die Besprechungen von verwaltungsbehördlichen Entscheidungsentwürfen in einem informalen Abstimmungsverfahren mit dem Betreiber einer zu genehmigenden Anlage, die informale Bekanntgabe eines Bescheidentwurfs, verschiedene Typen informaler Absprache, die Berücksichtigung 32 Ebd., S. 192. 33 Bohne (Fn. 28), S. 56.

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von politischen, wirtschaftlichen oder sozialen Interessen entgegen den gesetzlichen Bestimmungen sowie die Zurückführung von informalem Verwaltungshandeln auf verwaltungsinterne Machtstrukturen, die die mit dem Immissionsschutz konfligierenden wirtschaftlichen Interessen favorisieren. Die praktische Bedeutung der Vorverhandlungen für das Genehmigungsverfahren liegt beispielsweise in dem materiellen Konsensus zwischen den Hauptbeteiligten, der nach der Antragstellung die einzelnen Verfahrensschritte steuert, das formale Verfahren von Konflikten entlastet und der den Inhalt des Genehmigungsbescheides in den wichtigsten Punkten bestimmt. Dies belegt die in den Fallstudien anzutreffende hohe Übereinstimmung zwischen dem Ergebnis der Vorverhandlungen und den immissionsschutzrechtlichen Bestimmungen, die in den Genehmigungsbescheid aufgenommen werden. Die faktischen Bindungen, die die Behörden durch Vorverhandlungen eingehen, beschränken ihre Handlungsmöglichkeiten im formalisierten Kommunikationsnetz. Abweichungen von der Geschäftsgrundlage der Vorverhandlungen zehren an den knappen personellen und zeitlichen Ressourcen der Behörde und stoßen auf den heftigen Widerstand des Betreibers. Die faktische Bindungswirkung der Vorverhandlungen führt eine Verlagerung von Entscheidungen aus dem Genehmigungsverfahren in die Vorverhandlungen herbei und macht den formalen Genehmigungsbescheid zu einem „notariellen Beurkundungsakt". 34 Unabhängig davon, ob die Verknüpfung von Formalität und Informalität verallgemeinerungsfähig ist, ob sie nämlich auch in anderen Verwaltungsbereichen und in der Rechtsordnung überhaupt anzutreffen ist, kann man folgende Punkte festhalten. Aus der Sicht der Organisationstheorie erscheint die These, daß informale Verhaltensweisen im Recht zu erwarten sind und daß sie rechtlich relevant sind, fast wie eine Trivialität. Der Begriff der Entscheidungsorganisation — verstanden als Kommunikationssystem — hat insofern heuristischen Wert, als er entscheidungsprogrammierende und entscheidungsprogrammierte Selektionsleistungen nicht jeweils getrennt als Bestandteile der Exekutive, der Judikative und des gesellschaftlichen Bereichs betrachtet. Die Entscheidungsorganisation wird als selbständiges Kommunikationssystem verstanden, das logische Widersprüche und miteinander konfligierende Ziele beliebiger Akteure und Beobachter in sich aufnehmen kann. Konflikte zwischen formalen Zielen, die in den Gesetzesvorschriften als positiviert gelten, stehen neben informalen Zielen, die in keine Gesetze interpretativ hineinprojiziert werden können und die das tatsächliche Verhalten der Akteure bestimmen. Ein Beispiel bildet der Immissionsschutz, wo wirtschaftliche Ziele im Rahmen von Genehmigungsentscheidungen Berücksichtigung finden, obwohl sie im Bundesimmissionsschutzgesetz nicht enthalten sind. Aus systemtheoretischer Sicht muß man sagen, daß es im Recht mehr gibt als das, was die Rechtsdogmatik gewohnt ist zu sehen. Die Tatsache, daß die informell erfolgende rechtliche Kommunikation rechtswissenschaftlicher Betrachtung Ebd., S. 4.

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§ 1 Strukturen der Entscheidungsherstellung

bislang nicht zugänglich ist, bedeutet nicht, daß sie auch nicht existiert. Auf diese Weise wird einem grundlegenden systemtheoretischen Prinzip Rechnung getragen. Sinnverarbeitende soziale Systeme sind als soziale Ordnungen zu verstehen, die von ihren Mitgliedern im täglichen Leben als System erlebt und behandelt werden, unabhängig davon, ob die Wissenschaft über adäquate Beobachtungsschemata verfügt, um sie sich zugänglich zu machen.35 Es geht also weder um Probleme der Rechtswissenschaft noch um Probleme der Soziologie. 36 Solche Feststellungen bezüglich der Rolle der Informalität im Recht dürften nicht in allgemeiner Fassung so klingen, als ob sie funktionell Notwendigkeit seien. Sie erweisen sich durch Vergleich verschiedener Rechtsordnungen in unterschiedlichem Maß als richtig. Während ζ. B. die amerikanischen agencies an sehr vage formulierte Programmziele gebunden sind und ihre Ausführungsentscheidungen politisch legitimieren müssen, ist die deutsche Verwaltung an verhältnismäßig präzise Vorwegnormierungen gebunden. Die Gesetzesbindung sowie die Möglichkeit der gerichtlichen Nachprüfung von Verwaltungsentscheidungen scheinen von politischen Legitimationsleistungen zu entlasten. Trotzdem steht es fest, daß staatliche Verwaltungen nach ähnlichen Gesetzmäßigkeiten handeln wie andere Organisationen auch: So besteht neben dem Antragsverfahren und der Aktenmäßigkeit ein informales Kommunikationsnetz. Dadurch erhält die Verwaltung Informationen, die für das formalisierte Verfahren wichtig sind. Es ist nicht nötig, die Brauchbarkeit solcher Illegalität zu verabsolutieren. Man kann sie aber durchaus als heuristisches Schema benutzen, um über das formalisierte Entscheidungssystem innerhalb einer gegebenen Rechtsordnung hinauszukommen. Aktenmäßigkeit und Verfahrengebundenheit sind nicht die einzigen Faktoren, die die rechtliche Kommunikation tragen. Der tatsächliche Entscheidungsprozeß beschränkt sich nicht auf die gesetzlich vorgeschriebenen Dienstwege, die oft zu einem Rituell werden, das zwar taktisch benutzt und kalkuliert werden muß, das aber darüber hinaus nicht den tatsächlichen Entscheidungsprozeß prägt. 37 Unter diesem Gesichtspunkt läßt sich die Problemstellung der Alternativen zum Recht neu auffassen. Die Alternativen zum Recht sind nämlich eigentlich Alternativen im Recht. Die informellen Entscheidungsprozesse, die brauchbare Illegalität, befinden sich nicht außerhalb, sondern innerhalb des Rechtssystems. Die informellen Erwartungszusammenhänge stellen eine Alternative zu den formalisierten verfahrensgebundenen Erwartungen dar. Sie müssen aber ebenfalls als rechtliche Erwartungen angesehen werden, weil das Recht 35 Wir distanzieren uns also von einer Systemtheorie, die „abstract systems as models" verwendet: A.D. Hall / R. E. Fagen, Definition of System, in: General Systems 1 (1956), S. 18-28, 19. 36 Vgl. Marvin Β. Sussman, The Social Problems of the Sociologist, in: Social Problems 11 (1964), S. 215-224. 37 Erhard Blankenburg, Recht als gradualisiertes Konzept — Begriffsdimensionen der Diskussion um Verrechtlichung und Entrechtlichung, in: Erhard Blankenburg / Ekkehard Klauser / Hubert Rottleuthner / Ralf Rogowski (Hrsg.), Alternative Rechtsformen und Alternativen zum Recht, Opladen 1980, S. 83-98, 94.

II. Aktionsnorm und Reaktionsnorm

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nicht mit den formalisierten Erwartungen zusammenfällt. Die juristischen Berufsrollen bestehen nicht nur aus formalisierten Erwartungszusammenhängen; sie beteiligen sich an dem institutionalisierten Instanzen- und Rollenspiel nicht nur im Rahmen eines formalisierten Kommunikationsnetzes. Vielmehr erschließt die jeweilige juristische Berufsrolle den Zugang zu formalen und informalen Möglichkeitsbereichen, die beide die soziale Kommunikation im jeweils entstehenden rechtlich relevanten Kommunikationssystem ausmachen. I I . Aktionsnorm und Reaktionsnorm So wenig wie aus dem Gesetz, so wenig ist auch aus einer Gerichtsakte die Entscheidung einfach abzulesen. Das Spektrum der Interpretations- und Entscheidungsmöglichkeiten hängt durchaus von der Person des Bearbeiters und von den informellen Kommunikationen ab, die er mit dem Aktentext verbindet. Verschriftlichtes sprachliches Verhalten in juristischen formalen Organisationen kann nicht angemessen verstanden werden, wenn man die Innen / Außen-Differenz außer acht läßt. Mitglieder und Nichtmitglieder muß man auseinanderhalten. Nichtmitglieder erleben die Gerichtspraxis nicht aus der Perspektive ihrer Zwecksetzungen und ihrer Kommunikationsstrukturen, sondern als aktuelle oder potentielle Benutzer. Die Sozialbeziehungen zwischen innen und außen dürfen nicht einfach in eins gesetzt werden. Die Kommunikation zwischen Mitgliedern in juristischen formalen Organisationen leisten zweierlei: Einerseits erbringen sie eine Überzeugungsleistung für Nichtmitglieder und andererseits übermitteln sie anderen Mitgliedern Informationen als Handlungsauslöser. Wenn man demnach Zweckverfolgung und Zweckdarstellung einmal getrennt hat, kann man unbelastet von Informationsanforderungen gegenüber den Mitgliedern die Nichtmitglieder überzeugen. Man kann auch die Mitglieder informieren, ohne sie zugleich motivieren zu müssen. Diese Trennung von Information und Darstellung ist dennoch eher die Ausnahme. Dies zeigt sich in der Art wie die Akte die doppelte Aufgabe erfüllt, zu informieren und darzustellen. 1. Systeme beobachten Systeme In den Ablaufsvorgängen formaler Organisation liegt der hervorgehobene Platz der Akte darin, Mitglieder zu informieren und Nichtmitglieder in der Darstellung zu überzeugen. Als Darstellungsmittel spiegelt die Akte den formalen Gang der Organisation wider. Als Informationsmittel bietet sie Raum für die Ausbreitung kontroverser Rechtsansichten und Tatsachenbehauptungen. Die Darstellungs- und Informierungsfunktion baut auf dem Möglichkeitsspektrum der Interpretationsund Entscheidungsalternativen auf. Die Offenheit der Handlungs- und Entscheidungsalternativen ist immer leserabhängig. Da die Leser verschieden sind und wechseln, lassen sich aus der Gerichtsakte eines Zivilprozesses verschiedene Entscheidungsmöglichkeiten herauslesen. Bei der Niederlegung einer Abfolge 3 Gromitsaris

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§ 1 Strukturen der Entscheidungsherstellung

wechselseitig bestrittener und strategisch zugespitzter Positionen fließt bewußte Darstellung mit ein. Wer eine Behauptung aktenkundig macht, der kann nicht umhin mit zu überlegen, wer was in welcher Form abnimmt. Aus Darstellungsleistungen werden insofern Informationen gezogen. Der ordnungsgemäße Gang des Gerichtsverfahrens wird durch Aktenmäßigkeit dokumentiert. Gleichzeitig ist die Akte ein Forum, das Raum zur Ausbreitung plausibler Sachverhaltsdeutungen gibt. Diese Sachverhaltsbeurteilungen können in der Form von Textstrategien und Textargumentationen als bewußte Darstellungen ins Spiel gebracht werden, um späteres erwartbares Leserverhalten zu steuern. Wenn man sich dies vergegenwärtigt, kommt man zwangsläufig zu der Auffassung, daß die Akte zwar eine eigene Wirklichkeit gewinnt; die in ihr festgelegten Sinnzusammenhänge sind dennoch unmöglich als Kontext Varianten- und situationsunabhängiger Selektionsleistungen aufzufassen. Es gibt verschiedenartig generalisierte Zugänge zum aktenmäßig niedergelegten fremden Sinn. Grob gesehen könnte man sagen, daß das erwartbare Leserverhalten zwischen zwei Voreinstellungen des Lesers schwankt. Einmal zeichnet sich die Textwahrnehmung dadurch aus, daß der Leser ein Bild von der Situation schon hat. An die Stelle eines vorsichtigen, differenzierten und Änderungen miterwartenden Nachvollzugs tritt das Vertrauen auf bewährte Deutungsschemata, die durch ihren pauschalen Zugriff Sicherheit herstellen. Man hat hier von einer verdinglichenden Lektüre gesprochen. Zum anderen kann der Leser kein Bild von der Situation haben. Er muß es sich erst bilden, denn es handelt sich um Situationen, die schwer einzuschätzen sind und die dadurch neu erscheinen. Diesen Sachverhalt hat man offenes Lesen genannt.38 In beiden Fällen geht es um die Interaktion zwischen Akte und Leser und dementsprechend zwischen Autor und Text sowie um die sprachpragmatische Perspektive des Bezugs auf kontextabhängige Zeichenproduktion und Kommunikationsgeschichte. Das Bild, das sich der Leser von der berichteten Situation macht, erscheint als „Organisationsform für Vorstellungen". 39 Die Definition sozialer Situationen und fremdpsychischer Erlebnisse unterliegt in den juristischen Institutionen schematisierenden Verarbeitungsprozessen. Wie man sich von der Institution aus auf Wirklichkeit bezieht, ist ein Problem, das sich innerhalb der Institution stellt. Wirklichkeitsverarbeitung im Sinne einer normativen Stellungnahme zu einer institutionell aufgefaßten Situation und Wirklichkeitsherstellung im Sinne einer mehr oder minder standardisierten Rekonstruktion von sozialen Situationen finden in der Institution statt. Die Sachverhalte, die juristisch beurteilt werden, sind wirklich, nicht weil Handeln so abläuft, sondern weil Juristen den Ablauf so aufnehmen und darstellen. Dies will nicht heißen, daß die Umwelt der Institution zu einem institutionellen Schema zusammenschrumpft. Die Deutung fremdreferentiellen Erlebens und Handelns unterliegt zwar der Selbstreferenz des deutenden sozialen Systems, 38 Seibert, Aktenanalysen (Fn. 26), S. 30, 34, 36, 38. 39 Ebd., S. 36.

II. Aktionsnorm und Reaktionsnorm

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muß aber zugleich die Institutionalisierungsprozesse im beobachteten System mit berücksichtigen. Die Deutung des in einem bestimmten sozialen System konstituierten Sinnes ist durch Etikettierungen charakterisiert, die im beobachtenden System vollzogen werden. Dabei ist zu berücksichtigen, daß Normvorgaben und Rollendefinitionen schon bestehen. Sie bestehen einerseits als Deutungsgeschichte im beobachtenden System, andererseits sind sie schon als institutionalisierter Sinn im beobachteten System vorhanden. Geiger spricht hier von der Entstehung von situationstypischen Gebarenserwartungen, d. h. von sozialer Erwartungsbildung in „oft wiederkehrenden Situationen". Er spricht von der „GebarensKoordination" und von der „sozialen Interpendenz" in den „sozialen Integraten" in verschiedenen sozialen Situationen. Die soziale Sinnkonstitution darf nicht nur aus der Sicht eines „unbeteiligten Betrachters" untersucht werden. 40 Normvorgaben und Rollendefinitionen sind demnach rechtlich und gesellschaftlich vororganisiert. Juristische formal organisierte Aktentexte sind sehr oft Musterbeispiele für verdinglichendes Lesen. Um das Verhältnis von aktenmäßiger Verschriftlichung und beschriebener Handlung darzustellen, ist die Form des „Praxiograms" benutzt und empirisch erprobt worden. 41 Dieses Praxiogram zeichnet Einzelakte und ihre Verknüpfungsart nach. Systemtheoretisch gesehen geht es um ein Beobachtungsschema. Es ist eine Darstellungsform der im beobachteten sozialen System erfolgenden gesellschaftlichen Vororganisation. Diese Nachzeichnung von Institutionalisierungsvorgängen und Regelmäßigkeiten des Handlungsablaufs kann dann darüber orientieren, welche Übereinstimmungen und Abweichungen gegenüber den institutionalisierten Erwartungen eine Aussage behaupten. Sie kann außerdem darüber orientieren, wie sich der rechtlich fixierte normative Sinn zu den normativen und kognitiven Erwartungszusammenhängen eines sozialen Systems verhält. In diesem Sinne kann man wohl sagen, daß sich Akten sowohl auf Rechtssätze als auch auf „Praxiograme" (Beobachtungsschemata) und auf die Sinnkonstitution im Verhaltenskontext beziehen müssen. Die Auslegung und Einbeziehung von Rechtssätzen erfolgt immer vor dem Hintergrund von nachgezeichneten Institutionalisierungsvorgängen, die in sozialen Systemen stattfinden und nicht rechtlich fixiert zu sein brauchen. Das Beobachtungsschema „rekonstruiert" die Normalformen der Zuschreibung von normativem Sinn und Handlungseinheiten in einem sozialen System. Natürlich schildert die Wiedergabe in der Akte schon ihrer Entstehung nach eine Perspektive des Verfassers. Der Sachverhalt kann aber ohne Rückgriff auf die Zuschreibungsregeln der sozialen Systeme, die er betrifft, gar nicht konstituiert und dargestellt werden. In der Sachdimension werden Handlungen des Betroffenen vermerkt, soweit sie als solche im gegebenen Situationskontext konstituierbar sind. Diese Selektionsleistungen, die im sozialen Systemkontext als Handlungen gelten, können bei der Sachverhaltsdarstellung juristisch bewertet und mit juristischen Handlungs40

Geiger, Vorstudien, S. 93 f.; der s., Die Masse und ihre Aktionen. Ein Beitrag zur Soziologie der Revolution, Stuttgart 1967, S. 23. 41 Seibert (Fn. 26), S. 25 f., 38. 3*

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konstrukten konfrontiert werden. In der sozialen Dimension werden Informationen darüber berücksichtigt, ob etwa Einstellungen des Betroffenen erfahrungsgemäß im Einklang mit den situationsadäquaten Erwartungen stehen oder sich distanziert dazu verhalten. Schließlich finden sich in einer Akte Bemerkungen zur Zeitdimension, d. h. zu Dauer, Intensität und Änderungen einerseits der Erwartungsansprüche und andererseits der subjektiven Einstellungen des Handelnden. Die Informationen, die in den drei Sinndimensionen gewonnen werden, können sich zu Plausibilitätsangeboten verdichten, die den Darstellungsstil der Akte prägen. Diese Plausibilitätsangebote, die für die Sachverhaltsbeurteilungen so wichtig sind, erreichen ihr Ziel, wenn sie sich zu Abstufungen verdinglichenden Lesens machen. Schriftsatzbeispiele und Aktenanalysen im Situationsfeld (Ladendiebstahl) können die Wichtigkeit der gesellschaftlichen Vororganisation, also des schon etablierten sozialen Sinns für die juristische Beurteilung der aktenmäßig berichteten Handlungen bestätigen. Das juristisch institutionelle Lesen von Akten beruht auf Institutionalisierungen im sozialen Systemkontext des Handlungsverlaufs. Im Falle des Ladendiebstahls entwickelt sich eine Handlungssequenz im Systemkontext, die zum Verständnis des Aktentextes entscheidend beiträgt, denn sie zeichnet die soziale Situation nach, auf die sich die Akte bezieht. Der Gesamthandlungszusammenhang wird im sozialen Systemkontext des Situationsfeldes Ladendiebstahl in Interpretationskonstrukte zerlegt, die als Teilhandlungen der gesamten Handlungsabfolge gelten. Die komplexen Handlungsverkettungen zwischen Kunden und Angestellten, die strukturellen Einschränkungen der Handlungsmöglichkeiten und die institutionellen Voraussetzungen des Vorwurfs einer Normverletzung können als einzelne Teilhandlungen oder als Handlungserwartungen erwartbar werden. Sie werden somit mit einem Musterwissen verknüpft und lassen verschiedene Handlungstypen an Orientierungswert gewinnen. Die Verhaltenszusammenhänge in einem Kaufhaus lassen sich im Situationsfeld Ladendiebstahl als Abfolge von Teilhandlungen darstellen, die von den Handlungen selbst als Anhalts- und Orientierungspunkte behandelt und erlebt werden. Diese Handlungsalternativen und Handlungsmöglichkeiten wären wie folgt: Warenhaus betreten; zur Auslage gehen und sie ansehen; überlegen; Ware an sich nehmen; zur Rede gestellt werden; schweigen oder rechtfertigen und kommentieren; nachgefragt und durchsucht werden; dulden, flüchten oder tätlich werden; schließlich können die Personalien aufgenommen, kann die Erklärung unterschrieben und die Polizei benachrichtigt werden. 42 Die Differenz kaufen/stehlen wird demnach nicht erst durch den Eingriff des Rechtsstabs konstituiert. Sie wird im Systemkontext selbständig gehandhabt, indem sie die möglichen Reaktionsweisen strukturiert. Es können drei Stadien des Eingreifens des Rechtsstabes unterschieden werden: anzeigen, vernehmen und entscheiden. Diese drei Stadien werden aktenmäßig dokumentiert. Das Anzeigen besorgt der Geschädigte selbst. Das Vernehmungsprotokoll Ebd., S.

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schreibt nicht der Vernommene selbst, sondern dessen Erzählung reformuliert der verhörende Polizeibeamte. Dieser Handlungsablauf prägt sich in typischen Beschreibungsmustern, die institutionalisierten Wahrnehmungsmechanismen entsprechen. Hierbei spielt die Einschätzung vergleichbarer Situationen durch die Institution eine wichtige Rolle. Die Institution hält ein gespeichertes Vorwissen bereit und verfügt über eine Anzahl von Beschreibungselementen, die einen Komplex von Umständen zu einem Fall von „Ladendiebstahl" machen. Die aktenmäßige Verfassung von Vernehmungsprotokollen beruht auf der Anwendung von Selektionsschemata, die Erwähnungen und Auslassungen regeln. Allem, was erwähnt wird, liegt bereits eine binäre Schematisierung zugrunde: Der erwähnte Umstand kann für oder gegen den Anzeigevorwurf sprechen. Diese binäre Schematisierung ist zwar eine institutionsinterne Leistung. Die Schlüsselworte der Akte sind jedoch nicht erkennbar, wenn man sich auf den Wissensvorrat des Rechtsstabes beschränkt. Die Akte macht nämlich auch Gebrauch von der im Systemkontext normierten Erfahrung. Dies macht auch verständlich, warum sich die Rechtsbegründung in Akten der Umgangssprache bedienen muß. Die Einschätzung vergleichbarer Situationen durch den Rechtsstab muß mit den institutionalisierten Erwartungszusammenhängen im Systemkontext und mit den institutionellen Wahrnehmungsprozessen und Definitionsvorgängen von Polizei und Staatsanwaltschaft kombiniert werden, damit eine Akte adäquat interpretiert wird. Die Handhabung der Differenz Kaufen / Stehlen führt im Systemkontext zu schematisierten Deutungen und Zurechnung von inneren Einstellungen. Der Rechtsstab muß diese Deutungen in Betracht ziehen und sie mit seiner Handhabung der Differenz konfrontieren. Die rechtliche Beurteilung muß die Sachverhaltskonstitution im sozialen System berücksichtigen. Die Handlungsnormierung in Selbstbedienungsgeschäften ist der unentbehrliche Orientierungszusammenhang, der es möglich macht, daß die Zueignungsabsicht aus dem äußeren Tathergang herausgelesen wird. Schon im Alltagskonzept von Stehlen sind nämlich schematisierte Deutungen enthalten, die Abstützpunkte für die Zuschreibung von inneren Einstellungen abgeben. Normierungen, die im Systemkontext dem Handlungsbewußtsein aufgedrängt werden, setzen als relevante Beurteilungsinstanz keine Rechtssätze, sondern Alltagskonzepte und Alltagsbewußtsein voraus. Aus juristischer Sicht wird diesem Umstand insofern Rechnung getragen, als man im Strafrecht von einer Parallelwertung in der Laiensphäre spricht. Die in den Akten enthaltenen Aussagen können nur vor dem Hintergrund der der Fremdbeobachtung zugänglichen Sinnkonstitution im integratsbezogenen Verhaltenskontext, also vor dem Hintergrund der jeweiligen institutionellen Verhaltensregel in ihrem Informationsgehalt deutlich werden. Nur vor dem Hintergrund dieser Verhaltensregeln können verschiedene Handlungsanlässe in der Situation für plausibel gehalten, Widersprüche in der aktenmäßig dokumentierten Aussage aufgedeckt und verschiedene Definitionsrichtungen für die Situation aufgezeigt werden. Die Schlüsselsignale für die Integration einer Teilhandlung in dem Handlungszusammenhang (stehlen) gehen zunächst einmal nicht aus dem Vorwissen des Rechts-

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stabs, sondern aus der Beurteilungserfahrung des jeweiligen sozialen Systems hervor. Im Selbstbedienungsgeschäft muß man einen Einkaufswagen nehmen. Wenn man die Schokolade in die eigene Tasche steckt, liegt demnach in der externen Handlungsseite ein Schlüsselsignal für Stehlen vor, selbst wenn man nachträglich behauptet, man wolle die Ware doch noch bezahlen. Bei der Verfassung eines Vernehmungsprotokolls geht es nicht primär darum, den in Rechtssätzen festgelegten Diebstahlstatbestand zu rekonstruieren. Die Erwähnungen und Auslassungen, die die Dokumentierung und Würdigung einer Aussage mit sich bringt, gehen eher auf die Technik zurück, musterspezifische Handlungszüge, so wie sie im Situationsfeld interpretativ konstruiert werden, zu reformulieren. Die Aussage ist dementsprechend das Ergebnis der Wechselbeziehung zwischen den erfahrungsabhängigen Selektionsmustern der Polizei und der Selbstbeschreibung des Situationsfeldes. Unter diesem Aspekt werden Interaktionsbeziehungen anschaulich, die weder aus dem Rechtssatz noch aus dem Text der Akte allein zu erkennen sind. Dies ist auch für die Phase der Entscheidung wichtig. Die Entscheidung der Staatsanwaltschaft oder des Richters bezieht sich nämlich auf die Deutungsmöglichkeiten, die aus den Vernehmungen hervorgehen. Es sind mehrere Abstufungen institutioneller Zuschreibung zu unterscheiden 43: Die Polizei kann im Vernehmungsprotokoll die Entscheidung nahelegen. Sie kann durch detaillierte sachliche Angaben oder besondere persönliche Anmerkungen die Entscheidung offenhalten oder auch auf die objektive Schwierigkeit der Beweiswürdigkeit hinweisen. Auf jeden Fall erbringt die Entscheidungsbegründung eine Reduktionsleistung. Sie trifft eine Auswahl zwischen einer besseren und einer schlechteren Darstellung des möglichen Tathergangs. Sie ist bemüht, die verschiedenen Sachverhaltsdarstellungen auf die Möglichkeit der Integration in eine angenommene Normalform des Diebstahls hin zu überprüfen. Die angenommene Sachverhaltskonstitution wird als bewährtes und schlüssiges Plausibilitätsangebot hingestellt. Die Entscheidung bringt eine juristische Definition des Situationsfeldes mit sich und reduziert somit den Umstandszusammenhang auf eine fachsprachlich rekonstruierte Interdependenz. Die fachsprachliche Reduktion macht das Rechtssystem sicher und Sanktionen vorhersehbar. Die juristische Fachsprache wird zum Instrument, um variierende Situationslagen durch gespeichertes Musterwissen und musterspezifische Reformulierungsmöglichkeiten als Normalform der Diebstahlshandlung zu definieren. Der juristische Subsumtionsvorgang muß sich nach alldem nicht nur an dem eigenen Muster und Vorwissen hinsichtlich der Einschätzung vergleichbarer Situationen durch den Rechtsstab orientieren. Er muß darüber hinaus auf die aktenmäßig dokumentierten Institutionalisierungsvorgänge des Verhaltens in den sozialen Situationskontexten eingehen. Die juristische Subsumtion ist nur auf der Grundlage einer juristischen Sachverhaltsbeurteilung möglich und letztere ist wiederum nur vor dem Hintergrund der Handlungsstrukturen im Situationsfeld denkbar. Ebd., S. 5 ,

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Während die Sachverhalte der Strafjustiz in Vernehmungssituationen produziert werden, sind sie in der Ziviljustiz Darstellungsprodukt der anwaltlichen Schriftsätze. Nach dem rechtsdogmatischen Verständnis der juristischen Praxis stellt jeder Jurist seiner Begründung einen Tatbestand voran. Auch der Zivilrichter richtet über das, was sich tatsächlich ereignet hat. Die Beobachtung der juristischpraktischen Berufsarbeit bestätigt dies jedoch nicht immer. Normauslegung und Tatsachenfeststellung lassen sich in wenigen Fällen voneinander unterscheiden. Die in den Schriftsätzen strukturell möglichen Darstellungsarten und Darstellungssituationen haben eine für die Entscheidungsbildung unverzichtbare Bedeutung. Die Entscheidungssituation ist meistens nicht so, daß ein klar vorliegender Sachverhalt nach einem vorformulierten Rechtsnormprogramm beurteilt wird. In diesem Fall „fiele die Sachverhaltsdarstellung in den Bereich alltäglicher Fähigkeiten". 44 Die Sachverhaltsdarstellung in den Schriftsätzen benutzt — wie Beobachtungen gezeigt haben — im wesentlichen umgangssprachliche Stilmittel, die vor dem Hintergrund der ständig vorhandenen Möglichkeit des Zugriffs auf juristische Fachsprache zu zielgerichteten Darstellungsstrategien werden. Anwaltliche Sachverhaltsdarstellungen in den Schriftsätzen zeichnen sich durch die Verwendung von alltagssprachlichen Strategien des Bewertens aus. Meistens entgegen alltagssprachlicher Gewohnheit stellt der Schriftsatz das Ergebnis der Darstellung — also die Beurteilung des Sachverhaltszusammenhangs — an den Anfang. Die Darstellung wird nicht durch die Begründung für eine Sachverhaltsbeurteilung geleitet. Sie orientiert sich vielmehr erstrangig an dem Ergebnis der Begründung, d. h. an einer noch unbegründeten Sachverhaltsbeurteilung. Wenn die juristische Darstellungspraxis allgemein das Ergebnis voranstellt, so deutet dies darauf hin, daß man um Unsicherheitsabsorption und Minderung des Erwartungsdruckes bemüht ist. Die Voranstellung des Ergebnisses soll sicherstellen, daß die Begründungsversuche in der gewünschten Richtung und die Fachwörter in einer bestimmten Verwendungsrichtung verstanden werden. Der Anwalt muß in seinem Schriftsatz die Texterwartung steuern. Nach Voranstellung des Darstellungszweckes trägt die Sachverhaltsdarstellung argumentative Kommentare an den Leser heran. Mit diesem Herantragen wird die Verbindung zwischen Zeichengebrauch und Lesererwartung gemeint, die durch Bewertungen hergestellt wird. Das Bewerten wird durch alltägliche attributive Assoziationen und Kontrastierungen unterstützt, ζ. B.: „nicht, wie es allgemein üblich ist, sondern". 45 Auf diese Weise wird dem Leser ein Kommentar plausibel gemacht, der in den Kontext des vorangestellten Ergebnisses paßt und insofern gleichsam vorweggenommen werden kann. Die strategische Instruktion des Lesers liegt dementsprechend in der Herstellung einer Darstellungsperspektive durch Herantragen von argumentativen Kommentaren. Nur unter der Darstellungsperspektive des Herantragens sind die Umstandsbeschreibungen verständlich. Der Anwalt bedient sich weiterer Qualifizierungen, soweit eine Vermittlung zur gewünschten Sachverhaltsbeurtei44 Ebd., S. 77. 45 Hier und zum folgenden Seibert (Fn. 26), S. 78, 83, 122, Fn. 13.

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lung notwendig erscheint. Die Qualifizierung ist eine griffige Kennzeichnung, die einen Zusammenhang von Umständen mit einem fachlich einstufenden Wort oder Wortkomplex benennt. Sie entfaltet ihre Wirkung, indem sie beschriebene Zusammenhänge umgangssprachlich bewertet: Der Kläger qualifiziert das Essen im Hotel, wo seiner Ansicht nach sein Urlaub verdorben wurde, wie folgt: „Die Mahlzeiten waren, sowohl was die Qualität als auch was die Quantität anbelangte, nur unter aller Kritik zu bezeichnen. Im allgemeinen bestanden die Gerichte aus einer Art abgeseihter Kartoffelsuppe." 46 Advokatorisches Geschick läßt die schon durch das vorangestellte Ergebnis erweckten Lesererwartungen durch Qualifizierungen in Erfüllung gehen. Der Leser weiß zwar schon, daß eine parteiliche Sachverhaltsdarstellung vorliegt. Da aber die Zeit knapp ist, fühlt er sich dennoch entlastet, wenn der Aktentext seine Erwartungen leitet, spezifiziert und im Laufe der Darstellung in Erfüllung gehen läßt. Umständen, die normalerweise ganz nebensächlich erschienen wären, wird durch Qualifizierung, Kontrastierung oder Verwendung von konnotierten Ausdrücken besonderes Gewicht verliehen. Die Sachverhaltsbildung und Sachverhaltsbeurteilung im Schriftsatz baut demnach auf bekannten und nach westlichem Alltagsverständnis nicht weiter in Frage zu stellenden Entscheidungskriterien auf. 2. Kontroverse

Normunterstellungen

Die Sachverhaltsdarstellung in der Klageerwiderung weist im Verhältnis zum Begründungsschriftsatz komplementäre Strategien auf. Gegenüber einem bewertenden Herantragen von Kommentaren durch die Nennung einzelner Umstände kann sich der Beklagtenvertreter auf verschiedene Weise verteidigen: Er kann die Existenz der vorgetragenen Umstände bestreiten und die Sachverhaltsschilderung seines Gegners als unwahrscheinlich erscheinen lassen. Er kann weitere Umstände nennen, die ins Bild der vom Gegner nahegelegten Sachverhaltsbildung nicht passen. Er läßt somit die Schilderung einseitig erscheinen. Er kann die vorgetragene Handlungsweise mit Verhaltensalternativen kontrastieren und sie somit als irrational erscheinen lassen. Er kann ferner die vorgetragene Handlungsweise in Relation zu einer Vielzahl von Verhaltensweisen setzen. Auf diese Weise erscheint das Außergewöhnliche als normal. Schließlich hat er die Möglichkeit, den nahegelegten Bewertungsgrundsatz und die Strategie des Herantragens durch Argumentation in Frage zu stellen. Diese Möglichkeiten der Gegendarstellung können mit Hilfe der Bildkorrektur zur Anzweifelung der Wahrheit der Umstandsangaben führen. Begründete Bildkorrekturen sind meistens mit der Supponierung einer anderen / neuen Handlungsregel verbunden und stellen die bekannte juristische Technik des substanziierten Bestreitens dar. Einfaches Bestreiten vermag nur gelegentlich zu überzeugen. 47 In den Schriftsätzen geht es 46 Ebd., S. 78. 47 Ebd., S. 88 f.

II. Aktionsnorm und Reaktionsnorm

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nicht nur um die Durchsetzung einer Sachverhaltsbildung. Die sachverhaltstypischen Darstellungsstrategien des Herantragens und Qualifizierens machen nicht den Streit aus. Zum richtigen Problemfeld weitet sich der Streit erst durch das Hinzukommen einer inhaltsbezogenen Argumentation aus. Die Argumentation beruht auf einer nachträglichen Regelbildung. Die Nachträglichkeit bezieht sich auf die soziale Situation, die rechtlich definiert werden soll. Die Situation ist zwar durch ihre eigenen Institutionalisierungsvorgänge strukturiert. Die Regeln, worauf sich die Argumentation in den Schriftsätzen bezieht, werden jedoch erst nachträglich dem Sinn des situationsabhängigen sozialen Systems durch die Anwälte supponiert. Anwälte sind nämlich bemüht, die Handlungsgrundsätze herauszuarbeiten, die den situationsgemäßen Verhaltensablauf regeln. Sie berufen sich dabei auf die alltagswirklichen Gewohnheiten, die der Situation eigentümlich sind. Die Üblichkeit der Verhaltenserwartbarkeit in der sozialen, sachlichen und zeitlichen Sinndimension stellt den Maßstab dar, auf den hin einzelne der supponierten Regeln verallgemeinert werden und als situationsgemäß institutionalisiert gelten können. Der Rückgriff auf alltagsweltliche Gewohnheiten oder — anders gesagt — auf den institutionalisierten Sinn der sozialen Situation, leistet also die Wechselwirkung zwischen Sachverhaltsdarstellung und normorientierten Überlegungen. Die in den Schriftsätzen supponierten Situationsregeln dienen als Selektionsschemata zur Hervorhebung von relevant erscheinenden Umständen. Sie schaffen Relevanzbereiche. Offensichtlich sind jedenfalls die nachträglich der Situation supponierten Regeln nicht. Sie sind mit der Meinungsdarstellung über den Sachverhaltszusammenhang verflochten. Gerade deswegen sind sie nur implizit als die argumentativen Muster erkennbar, die der Konstitution des Umstandes zugrunde liegen. Den Meinungen der Anwälte über den Sachverhaltszusammenhang liegen „Regelsuppositionen" zugrunde, die völlig kontrovers sind. 48 Unterschiedlich sind nicht nur die Sachverhaltsdarstellungen und Sachverhaltsbeurteilungen, sondern auch die Regeln, die dem Situationskontext supponiert werden. Es läßt sich auch bemerken, daß sich der Inhalt der Regel im Laufe des schriftsätzlichen Verkehrs ändert. Der Anwalt supponiert anfangs eine ganz auf die Situation bezogene Regel und zerlegt sie sodann in seinen anschließenden Repliken in weitere Handlungseinzelheiten. Die einmal eingeführte Argumentation läßt sich weiter differenzieren. Punkt der Argumentation ist die Handlungsregel, die zunächst die allgemeine Handlungskonstellation und sodann, im Laufe der Argumentationsdifferenzierung, den konkreten Handlungsverlauf betrifft. Die Technik, eine einmal unterstellte Situationsregel weiter zu differenzieren, wird von beiden Anwälten verfolgt. Auf diese Weise ändert sich der Inhalt von allen supponierten Regeln ständig. Im Fortgang des schriftsätzlichen Verkehrs häufen sich somit Wiederholungen, die sich auf unterstellte, fallangemessene, regelgeleitete Verhaltensorientierungen beziehen. Letztere sind argumentativ differenzierte Begriff von Seibert.

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§ 1 Strukturen der Entscheidungsherstellung

bar und haben keinen genau bestimmbaren, unveränderbaren Inhalt. Die aktenmäßige Darstellung der situationsgemäßen Verhaltensregeln ist bestrebt, die Meinungsbildung im gerichtlichen Forum zu formen. Darstellungen und Informationen sind daher miteinander verknüpft und vermischt, so daß aus einem komplizierten Umstandszusammenhang die gewünschte Diskussionsrichtung und Sachverhaltsperspektive herausgearbeitet werden. Dies erfolgt dadurch, daß der Situationszusammenhang nach einer alltagsweltlichen Regelformulierung beurteilt wird. Damit steht nicht gleichzeitig auch der Inhalt der alltagsweltlichen und umgangssprachlich formulierten Regel fest. Von der Erwartung sind Streitigkeiten, was denn eigentlich erwartbar sei, nicht zu trennen. Die Regelsuppositionen stellen Unterstellungen von Erwartungszusammenhängen dar, die die situationsgemäßen Normalformen des Handlungsverlaufs strukturieren. Auf diese unterstellte Normalform konzentrieren sich die Plausibilitätsangebote und Verallgemeinerungstendenzen der Anwälte. Die Kennzeichnung der situationsgemäßen Normalerwartungen steht nicht von vornherein fest, sondern sie gewinnt erst im Fortgang des schriftsätzlichen Verkehrs Gestalt und Inhalt. Die Anwälte versuchen die Normgesichtspunkte der Situation herauszuarbeiten, sie aus einer bestimmten Sicht darzustellen und dazu für ihren Mandanten Stellung zu beziehen. Bezeichnend ist, daß die Normgesichtspunkte in erster Linie durch die der situationsunterstellten Normalitätsvorstellungen und Erwartungszusammenhänge gebildet werden. Die abstrakten rechtswissenschaftlichen Überlegungen und der Verweis auf Rechtssätze scheinen dabei eine sehr geringe Rolle zu spielen. Die Vorstellungen über die situationsgemäßen Normalformen erfaßt der Anwalt zunächst einmal am besten in den Kategorien, in denen sich die Erlebenden selbst darstellen. 49 Berücksichtigt werden die Generalisierungsmöglichkeiten in der sachlichen, zeitlichen und sozialen Wahrnehmungsperspektive. Die forensische Darstellung arbeitet die Normalform des Erwartungszusammenhangs in allen drei Perspektiven heraus, so daß vergangene Handlungen als normal, erwartbar oder als anomal, abweichend etikettiert werden können. Für jede advokatorische, also parteiliche Wirklichkeitsverarbeitung muß die Sache dargestellt und muß mindestens eine soziale Regel der Normalform der Situation supponiert werden. Anschließend kann die Darstellung in der schriftsätzlichen Sachverhaltsbildung musterspezifische Handlungen mit dem Berichtsinhalt assoziieren. Der Schriftsatz erzählt nämlich eine Geschichte über Abweichungen von dem in der Situation Erwartbaren. Die Sachverhaltsdarstellung projiziert Abweichungen vor dem Hintergrund der unterstellten Normalform. Die den Sachverhaltsdaten unterstellte Handlungsregel kann vom Gegner angegriffen werden. Andererseits muß sie im Gericht akzeptiert werden. Dies führt dazu, daß die Erzählung der Geschichte über Abweichungen vom jeweils Erwarteten auf die Eigentümlichkeiten der Modalitäten des juristischen Berufshandelns vor Gericht Rücksicht nehmen muß. Der forensischen Darstellung ist eine besondere Ambivalenz eigen. Es gilt 49 Hierzu und zum folgenden: Seibert (Fn. 26), S. 116.

II. Aktionsnorm und Reaktionsnorm

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nicht die gewöhnliche Modalität des Erzählens. Der Schriftsatz darf nicht zu genau oder zu knapp sein. Ausführlichkeit ist nötig, damit das Gesagte aussagefähig wird. Kürze ist zwar die offizielle Darstellungsregel. Der kurze Bericht läuft jedoch Gefahr, das forensische notwendige Fremdverstehen zu vereiteln und das Berichtete als unsubstanziiert erscheinen zu lassen. Auch die Genauigkeitsregel hat im Schriftsatz ihre Grenzen. Dem Leser dürfen Worte und Bewertungsrichtung nicht derartig vorgegeben werden, daß er an die Sache keine eigenen Bewertungen mehr herantragen kann. Die schriftsätzliche Argumentation bezieht sich auf alle drei Sinndimensionen der supponierten Situationsregel. In der Sozialdimension geht es darum, ob der Betroffene die Kenntnis und den Wert der Normalformel von situationsgemäßen Erwartungszusammenhängen bekennt oder anerkennt. Deshalb wird seine konkrete Verhaltensorientiertheit zum Thema, das aufgrund von Konsens- und Distanzinformationen behandelt wird. Konsensinformationen zeigen zum einen den Einklang mit dem institutionalisierten Situationssinn und mit der Normalform des Verhaltensverlaufs an, zum anderen beziehen sie sich auf allgemeine Werthorizonte. Die innere Tatseite wird nach den supponierten situationsgemäßen Zurechnungsregeln beurteilt. Die soziale Perspektive hängt mit den institutionalisierten Möglichkeiten der Konsensunterstellung zusammen. Sie betrifft die soziale Reichweite der situationsgemäßen Institutionalisierungsvorgänge und steht im engen Zusammenhang mit der zeitlichen. Niemand ist nämlich sicher, wie lange Normalformen als normal gelten können. Die Argumentation kann in der Zeitdimension zweierlei tun: Entweder betont sie die bleibende Anomalie des Anomalen oder sie weist auf die Normalisierung des Anomalen hin. Es geht in beiden Fällen um die Veränderbarkeit von institutionalisiertem Sinn, sowie um das Verhältnis einzelner Sachberichte zu den institutionalisierten Erwartungen. Einzelne Sachberichte betreffen sozialgerichtete Qualifizierungen, die die Beibehaltung oder die Veränderung von Einstellungen bezeichnen. Die Normalisierung des Anomalen oder die Beständigkeit der etablierten Normalform von Verhaltenserwartungen beziehen sich sowohl auf die internen Institutionalisierungsmechanismen des betroffenen sozialen Systems als auch auf die Beschreibungen des sozial konstituierten Sinnes im Fortgang des schriftsätzlichen Verkehrs. Informationen über Beständigkeit und Änderung können dazu beitragen, daß Motive, Interessen und Einstellungen den Handelnden in der Situation zugeschrieben werden. Dabei muß man beachten, daß es keine einheitliche Sinnkonstitution gibt. Der situationsrelevante Sinn, der realiter existiert und als solcher von den Handelnden erlebt und behandelt wird, wird im sozialen System des Situationskontextes konstituiert. Für die advokatorische, also parteiliche Wirklichkeitsverarbeitung kann nur als wirklich gelten, was sich durch Wissen, Begriffe und Symbole darstellen läßt. Die Interpretierbarkeit der Umstände gibt zwar eine Garantie für ihre Zugehörigkeit zur Wirklichkeit ab; die advokatorische Interpretierbarkeit kann aber nicht die Interpretationskonstrukte, die im Situationskontext Orientierungswert haben, und die Normalform der institutionalisierten Erwartungen darstellen. Der Vollzug oder das Abwehren von advokatorischen

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§ 1 Strukturen der Entscheidungsherstellung

Sinnzuschreibungen berücksichtigt zwar den in der Sozialsituation konstituierten Sinn, läßt aber seine Existenz, wenn man so will, unangetastet. In den Schriftsätzen kann der sozial konstituierte Sinn, kann die „Sache" nichts Neutrales sein. Sie wird absichtsvoll dargestellt. Die Darstellung der Normalform des Handelns in der Situation kann mit Umständen konfrontiert werden, die nicht ins normale Bild passen und Zweifel aufkommen lassen. Die supponierten Situationsregeln des Gegners können mit Deutungen über die Normalität des vermeintlich Anomalen bezweifelt werden. Man kann die unterstellte Handlungsregel dadurch angreifen, daß man die Möglichkeit anderer normativer Reaktionen auf die Situationsumstände aufzeigt und eine Palette von Handlungsalternativen als plausibel vorstellt. In einem Fall beispielsweise, wo das verklagte Reisebüro dem Kläger die Abflugzeiten und die Flugverbindungen zwar genau bekanntgibt, der Kläger jedoch die gebuchte Reise nicht durchführen kann, weil auf dem Flughafen gestreikt wird, ist in schematischer Abkürzung folgender Begründungsgang möglich: 1. Klage: Zustand A ist versprochen worden, Β hatte Kläger angetroffen. Beklagter: Β ist A ähnlich. Diesen Zustand muß man sich gefallen lassen. 2. Ergänzung: Der Beklagte hätte A herbeiführen können. Beklagter: Auf A hat der Beklagte keinen Einfluß. Der Kläger hätte sich aber darum kümmern können. In diesem Begründungsgang entsteht ein Nebeneinander und Gegeneinander von konkurrierenden Regelsuppositionen und Sachverhaltsbeurteilungen. 50 Die Normgesichtspunkte, die als Regelsuppositionen fungieren, werden in dem Beispiel durch Normalitätsvorstellungen und nicht durch Rechtssätze gebildet. Sie liegen implizit als argumentative Muster oder Konstitutionen der Situationsumstände zugrunde und lauten wie folgt: Wer Abflugzeiten mitgeteilt hat, rechnet damit, daß sich der Adressat an das Mitgeteilte hält. Wer informiert worden ist, erwartet (nur) vom Informanten eine Änderungsnachricht. Diesen situationsgemäßen Handlungsregeln kann die Replik mit folgenden Regelsuppositionen begegnen: Wer Abflugzeiten bekannt gibt, schuldet die Information über Verzögerungen im Linienflugplan nicht. Die Information schuldet nicht, wer Verzögerungen weder verursacht hat noch sie sonst beeinflussen kann. Die Regelformulierungen verweisen noch nicht auf das fachsprachliche System. Die Regelsuppositionen werden nicht fachsprachlich formuliert und beziehen sich nicht auf Rechtssätze. Erst in einer ziemlich späten Phase kleiden die Anwälte ihre Intentionen in Ausdrücke und Erwartungen, die im fachsprachlichen System bekannt und institutionalisiert sind. Das Ringen um die richtige Situationsdefinition verläßt die alltagsweltliche Argumentation und versucht den Situationsumstand mit Anspruchsgrundlagen in Verbindung zu setzen. Der Bezug auf fachliche, standardisierte Formulierungen bringt eine Reduktion des Darstellungszusammenhangs mit sich. Die Nennung von Rechtssätzen und rechtsdogmatischen Ausdrücken bewirkt eine Themenzentrierung. Der sprachliche Bezug auf gesetzliche Normformulierungen kann jedoch nicht ausschließen, daß der Umso Ebd., S. 91, 93, 95, 118.

II. Aktionsnorm und Reaktionsnorm

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standskomplex als Sachverhalt von verschiedenen Rechtsinstituten darstellbar ist. Rechtsinstitute, die ihrer dogmatischen Differenzierung nach miteinander unverträglich sind, wie ζ. B. Gläubigerverzug und Unmöglichkeit, kommen als Subsumtionsmöglichkeiten gleichzeitig in Betracht. Vergleichsgegenstand ist der ähnliche, angeblich klar mit den eigenen Vorstellungen entsprechend geregelte Fall, der die eine oder andere Subsumtionsmöglichkeit nahelegt. Dennoch bleibt — wie immer — der besondere Zweifel: Liegt es hier anders? 51 Sobald die Auseinandersetzung in eine Konfrontation in Fachbegriffen umschlägt, wird eine höhere Ebene der Verallgemeinerungsfähigkeit erreicht. Die Opposition von gesetzlich positivierten oder rechtsdogmatisch und berufspraktisch institutionalisierten Fachausdrücken bringt eine Verallgemeinerung und zugleich eine Verkürzung mit sich. Die juristisch sprachliche Umkleidung rechnet den konkret zu entscheidenden Fall einer größeren Fallgruppe zu, die durch bestimmte Rechtsinstitute und Fachworte erfaßt wird. Andererseits bewirkt die Fachsprache eine Einschränkung der Interpretationsmöglichkeiten. Es ist nur noch ein verdinglichendes Lesen der fachsprachlich formulierten schriftsätzlichen Berichte möglich. Darüber hinaus ist es erheblich schwieriger, den nun verdinglichten Tatbestand der Fachsprache mit den situationsgemäßen Abläufen und Zielen des alltagsweltlichen Handelns in Einklang zu bringen. Der lebensweltliche Bezug der Fachsprache wird im zivilprozessualen Schriftsatz umstritten und die juristische Reduktion des Themenzusammenhanges selbst noch zum Thema der Argumentation gemacht. Die Benutzung der Fachsprache wird durch die institutionalisierten Verwendungsmöglichkeiten der Fachworte, durch das damit verbundene Vorwissen und die einschlägigen Vorsituationen der schon entschiedenen Fälle vorstrukturiert. Offenes und verdinglichendes Lesen sind für eine Aktenanalyse gleich wichtig. Die juristische Vorstrukturierung beruht sowohl auf der Kommunikationsgeschichte des Rechtssystems und der Verwendungsgeschichte der Fachworte überhaupt als auch auf der Kommunikationsgeschichte hinsichtlich eines konkreten Falles. Ein Fall wird nämlich von verschiedenen Instanzen und Berufsrollen behandelt. In Strafsachen beispielsweise thematisiert die Hauptverhandlung das Ergebnis eines vorgängigen Ermittlungsverfahrens. Der Zivilprozeß kennt ein entsprechend institutionalisiertes Vorverfahren nicht. Gleichwohl kann man von der informellen Existenz der Institution des anwaltlichen Schreibens sprechen, die den meisten forensischen Verfahren vorausgeht bzw. manchmal ein weiteres förmliches Vorgehen überflüssig macht. 52 Während Schriftsätze die Situationsumstände unter Gesichtspunkten juristischer Selektion so aufbereiten, daß Kommentierungen eines Dritten erwartbar werden, ist das anwaltliche Schreiben adressatenbezogen und braucht keine Überzeugungskraft für Dritte zu entfalten. Die adressatenbezogene Vorgeschichte eines privaten Rechtsstreits enthält supponierte Handlungsregeln, die einen Beurteilungsmaßstab darstellen für alltagsweltliche und umgangssprachlich formulierbare Erwägungen. Obwohl ansi Ebd., S. 103, 105 f. 52 Ebd., S. 108 ff.

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§ 1 Strukturen der Entscheidungsherstellung

waltliche Schreiben meist in den Gerichtsakten fehlen, darf ihr Beitrag zur Strukturierung der rechtlichen Kommunikation nicht unterschätzt werden. 3. Normierung von Enttäuschungsabwicklungen Das Verbindlichkeitskalkül hat die im „sozialen Milieu" geltenden normativen Erwartungen selbst und ihre Veränderungen in Rechnung zu stellen.53 Normwidriges Verhalten schafft eine „sekundäre, typische Situation" der Enttäuschungsabwicklung, die aus drei Elementen besteht, nämlich: (1) der Tatsache, daß ein komplexes kommunikatives Geschehen als Erwartungszuammenhang festgelegt wird, der Handlungs- und Beobachtungschancen verteilt, — (2) der Tatsache, daß der Erwartungszusammenhang das Verhalten in die Alternative Konformität / Abweichung zwingt und daß ein normativer Erwartungsstil Enttäuschungsabwicklungen unumgänglich macht; — (3) der Tatsache, daß im Laufe der Enttäuschungsabwicklungen die normative Erwartung ihre nähere und detaillierte Bestimmung erfährt. 54 Geiger nennt die Korrelation von Erwartungsenttäuschung und Enttäuschungsabwicklung „Kontrollmechanismus" und „spontane Reaktion". Verbindliche, „primäre Gebarensmodelle" sind somit „durch ein sekundäres Gebarensmodell überbaut". 55 Wenn eine bestimmte normative Erwartung enttäuscht wird, dann ist eine bestimmte Enttäuschungsabwicklung üblich. Oder mit Geiger: Wenn ein gewisses Verhalten in gewissenen Situationen für Personen einer gewissenen Kategorie verbindlich ist und gleichwohl abweichendes Verhalten an den Tag gelegt wird, dann pflegt „die Gruppenöffentlichkeit" gegenüber der Abweichung mit einer Reaktion zu antworten. Die normative enttäuschte Erwartung nennt Geiger „subsistente Primär- oder Aktionsnorm"; das enttäuschte Verhalten nennt er „Norm-Übertretung" und die Korrelation von Abweichung und Reaktion „sekundäres Gebarensmodell". Letzteres ist eine primäre Reaktionsnorm. Es wird selbst zum Inhalt einer subsistenten Norm. Die Enttäuschungsabwicklung kann in verschiedener Weise normiert werden. Mehrere Prozesse der Enttäuschungsabwicklung können einander ersetzen oder ergänzen, oder sie können einfach parallel laufen. Anstelle „spontaner Reaktion" kann die von der Rechtspflege gehandhabte Reaktionsnorm treten. Es ist daher auseinanderzuhalten, (1) der Rückgriff auf einen Mechanismus der Enttäuschungsabwicklung, der die „persönliche Reaktion" des in seinen Erwartungen Gekränkten überlagert, — (2) die Unterscheidung der im Verhaltenskontext vorhandenen Mechanismen der Enttäuschungsabwicklung von der in Gesetzesverfahren normierten Enttäuschungsabwicklung. Die Institutionalisierung und Normierung von Enttäuschungsabwicklungen kann demnach in verschiedenen Systemen erfolgen. Wichtig ist, daß Aktions- und Reaktionsnormen „gekoppelt" auftreten, da die sekundäre Norm die primäre Norm überbaut und die Reaktion auf ihre Übertretung regelt. 53 Geiger, Vorstudien, S. 286. 54 Ebd., S. 69. 55 Ebd., S. 138.

II. Aktionsnorm und Reaktionsnorm

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Der normative Erwartungsstil, die kontrafaktische Stabilisierung der Erwartung macht sich als „Reaktionsbereitschaft" bemerkbar, die ins Verbindlichkeits- und Erwartungskalkül der Systemteilnehmer einbezogen wird. Die Reaktionsbereitschaft fungiert nach Geiger als Symbol der Normativität und der Effektivität der Erwartung zugleich. Das gilt sowohl für die Erwartung als auch für die Reaktionserwartung. Wenn die Erwartung auf ihre Enttäuschung nicht reagiert, dann wird eine andere normative Erwartung enttäuscht. „Es ist ärgerniserregend, nicht Ärgernis zu nehmen, wo Ärgernis am Platze ist". 5 6 Verhaltenserwartungen, die als „Standards" Orientierungswert erhalten, sind meistens mit normierten Gelegenheiten und Möglichkeiten des Bekundens von Indignation verknüpft. Man braucht nicht besonders indigniert zu sein, um Indignation an den Tag zu legen. Die Reaktionserwartung verträgt sich sehr gut mit einer „Intermutation der Rollen" und wird durch eine doppelbödige Moral verstärkt. 57 Man kann fröhlich das eine Mal die Norm übertreten, das andere Mal einen anderen Normübertreter verurteilen und öffentlich aquae et ignis interdictio verlangen. Wer soeben selbst büßten mußte, hält doppelt streng darauf, daß andere nicht glimpflicher davonkommen. Dieser Gerechtigkeitssinn neigt meistens auch dazu, wenig Verständnis für die Eigenart und die individuellen Facetten des Falles an den Tag zu legen. Selbstund Fremdbeurteilung operieren mit verschiedenen Maßstäben, die demonstrativ angelegt werden, wenn man im Erwartungskalkül damit rechnet, daß die anderen auf die Erwartungsenttäuschung reagieren werden. Normative Erwartungen wollen immer diskret enttäuscht werden. Solange sich die Reaktionserwartung den Anschein geben kann, nichts zu bemerken, nimmt auch die enttäuschte Erwartung von ihrer Enttäuschung gleichsam keine Notiz. Die Enttäuschungsabwicklung reagiert somit in diesem Fall nicht auf die Erwartungsenttäuschung, sondern auf die Tatsache, daß ihre normative Erwartbarkeit operativen Wert erhält. Auf diese Weise kann ein „Standard" nur eine Minderheit persönlicher Meinungen für sich haben und dennoch „aus Gründen des äußeren Dekorums" solidarisch von einer Mehrheit sozial aufrecht erhalten werden, die ohne persönliche Überzeugung als reaktionsbereit unterstellt wird. Mit Rücksicht auf die sekundäre oder Reaktionsnorm erweist sich jede Norm auf drei Arten als wirksam: durch normgemäßes Handeln, durch Reaktion auf normwidriges Verhalten und durch Reaktion gegenüber der versäumten Abweichungskorrektur. 58 Geiger läßt aber hier offensichtlich die Tatsache außer acht, daß man auch mit undurchsetzbaren normativen Erwartungen sehr gut leben kann. Die Reaktionsbereitschaft und Normübertretungen, um die es hier geht, sind Kommunikationen und Handlungen, die in beliebigen Interaktionen und Organisationen der Gesellschaft vorkommen. Es handelt sich also um die Konstitutionsund Zurechnungsprozesse im jeweils laufenden sozialen Kommunikationssystem. 56 Ebd., S. 146. 57 Ebd., S. 74. 58 Ebd., S. 148 f.

§ 1 Strukturen der Entscheidungsherstellung

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Es ist für den vorliegenden Zusammenhang uninteressant, ob ein externer Beobachter als logischer Intentionalist, als handlungsphilosophischer Partikularist oder Pluralist die Kommunikation in einem Interaktionssystem beobachtet und als Interpretationskonstrukt beschreibt. Ein „beschreibungs-theoretisch-semantischer" Zugang, der Handlungszusammenhänge und Handlungsverursachung sprachabhängig werden läßt und den ontologischen Handlungspluralismus zu vermeiden sucht, indem er für einen Pluralismus der Beschreibungen plädiert, verfehlt unseren Gegenstand.59 Die Handlungszuschreibungen sind keine deskriptiv hypothetischen Interpretationen eines externen Beobachters. Die vorsichtige Unterscheidung zwischen einem „normativen Askriptivismus" und einem „deskriptiven Entwurf der Zuschreibung, der besser Interpretationismus genannt werden könnte" kann es zwar verhindern, daß Schlüsse weder durch „Äquivokationen noch durch normativ falacies noch durch Verwechselung von Benennungen, Prädikationen und Behauptungen" erschlichen werden. Sie stellt aber immer noch den Versuch dar, den deskriptiven Schwierigkeiten eines externen Beobachters Abhilfe zu leisten. 60 Die Emergenzebene der Handlung und der Handlungsintention ist die Typik der Fremdreferenzen im Rahmen des Kommunikationszusammenhangs selbst. Es handelt sich um die Deutungskonstrukte der Kommunikation, die die Kommunikation selbst für den Eigengebrauch anfertigt. Die Beobachtung erfolgt nicht im psychischen System des jeweils Handelnden, sie ist kommunikativer Zurechnungsakt. Als primäre Aktionsnormen fungieren nicht die konstituenten Beschreibungen der unterschiedlichsten Handlungs- und Verhaltenswissenschaften, sondern die situationsabhängigen Möglichkeiten, die Differenz Konformität/Abweichung zu prozessieren. Es kommt, um mit Hans Lenk zu sprechen, auf den Zuschreibungszwang an, der im jeweils laufenden sozialen System herrscht. Die Zuschreibungs- und Beschreibungsprozesse im sozialen System konstituieren eine Ziel- und Normorientierung, die sich von den Interpretationskonstrukten in den disziplinspezifischen Perspektiven sehr stark unterscheiden. Die juristische Betrachtungsweise konstruiert ein normengeleitetes und normenbrechendes Handeln, das mit der Verantwortungsverteilung und Handlungskonstitution im zu beurteilenden sozialen System keineswegs identisch ist. 61 Diesen Differenzierungen muß bei der Problematik der Aktionsnorm Rechnung getragen werden. Die Rechtspflege sieht sich im Laufe der juristischen Entscheidungsprozesse genötigt, die Mechanismen der Enttäuschungsabwicklung und die normativen Erwartungszusammenhänge im Verhaltenskontext zu rekonstruieren. Die Beschreibungen der Korrelation von Aktionsnormen und spontaner Reaktionsnorm, 59 Hans Lenk, Handlung als Interpretationskonstrukt. Entwurf einer konstituentenund beschreibungstheoretischen Handlungsphilosophie, in: ders. (Hrsg.), Handlungstheorien interdisziplinär Π. Handlungserklärungen und philosphische Handlungsinterpretation. 1. Halbband, München 1978, S. 279, 350, 288. 60 Ebd., S. 347.

Ebd., S. 3 .

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die von den juristischen Berufsrollen angefertigt werden, sind mit den normativen Erwartungen und den normativ erwartbaren Reaktionen, die im zu beurteilenden Kommunikationskontext wirksam sind, nicht identisch. Im Entscheidungsverfahren wird mit disparaten Rekonstruktionskonzepten gearbeitet. Die normativen Erwartungen und normativen Reaktionserwartungen sind dem juristischen Entscheider als solche nicht zugänglich. Sie werden in verschiedener Weise durch Aktions- und Reaktionsnormhypothesen ersetzt, die von den verschiedenen am Verfahren beteiligten Rollen konstituiert und in Anspruch genommen werden. Die Tatfrage, das Problem der Feststellung des Sachverhalts stellt sich auf diese Weise als ein Problem der Subsumtion von Sachverhaltshypothesen unter Aktions- und Reaktionsnormsuppositionen. Die Aktionsnormsuppositionen sind keine Varianten der im zu beurteilenden Kommunikationskontext wirksamen Aktionsnormen, sondern operative Rekonstruktionen zum Zwecke der Herstellung juristischer Entscheidungsfähigkeit. Die Aktionsnormsuppositionen der verschiedenen Verfahrensbeteiligten werden zugleich auf Normsätze zurückgeführt. Die Plausibilität der Rückführbarkeit der eigenen Aktionsnormsuppositionen auf das begriffliche Tatbestandsschema eines Normsatzes ist ein für die Durchsetzungschancen der Aktionsnormhypothese entscheidender Faktor. Aktionsnormhypothesen müssen auf die „Wenn-Seite" eines Normsatzes rückführbar sein. Beim näheren Zusehen heißt dies, daß ein doppelter Bezug hergestellt werden muß: Die Aktionsnormhypothese muß einerseits auf die subsistente Aktionsnorm und andererseits auf die Aktionsnormbeschreibungen Bezug nehmen, die nach Maßgabe der jeweils besonderen juristischen Berufstechnik als etabliert gelten. Der Richter seligiert eine der konfligierenden Aktionsnormhypothesen und verknüpft sie mit der im Normsatz enthaltenen Reaktionsnorm. Die richterliche Festsetzung einer Aktionsnormsupposition beruht ihrerseits auf der präjudiziell fixierten Erfahrung im Umgang mit der Selektion und Konstitution von Aktionsnormsuppositionen. Mit der richterlichen Festsetzung der Aktionsnormsupposition endet der Prozeß der Konstitution des Sachverhalts, der in einem nächsten Schritt unter einen Normsatz und unter Berufung auf ihn unter eine subsistente Reaktionsnorm subsumiert werden soll. Während die Aktionsnormsuppositionen nur auf die Tatbestandsseite eines Normsatzes rückführbar sind, ist die subsistente Reaktionsnorm auf den ganzen Normsatz, d. h. auf Tatbestands- und Rechtsfolgeseite zugleich zurückzuführen. Die Sachverhaltsbeurteilung erfolgt mit Blick auf Aktionsnormsuppositionen. Letztere werden auf das begriffliche Tatbestandsschema eines Normsatzes zurückgeführt und unter Berufung auf ihn dem Komplex früherer entschiedener Fälle koordiniert. Der unter Berücksichtigung von Aktionsnormsuppositionen konstituierte Sachverhalt muß im Hinblick auf die subsistente Reaktionsnorm, d. h. im Hinblick auf das in ihr beschriebene Wenn-Dann-Verhältnis neu aufbereitet werden. Die Aktionsnormsuppositionen müssen auf ihr Verhältnis zur subsistenten Reaktionsnorm hin untersucht werden. Nur auf diese Weise läßt sich ein Sachverhalt konstituieren, der zur juristischen Entscheidungsfähigkeit und zu durchsetzbarem Verbindlichkeitskalkül führen kann. 4 Gromitsaris

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§ 2 Juridische Rationalität

Das Verbindlichkeitskalkül, das die im Kommunikationskontext wirksame Aktionsnorm und ihre Veränderungen in Rechnung stellen will, ist auf Erwägungen angewiesen, deren Gegenstand sich als ein höchst verwickeltes Zusammenspiel konvarianter Faktoren erweist. 62 Sowohl die Aktionsnormen als auch die Aktionsnormsuppositionen und die Reaktionsnormen sind im Wandel begriffen. Es ist nicht nur denkbar, sondern auch häufig, daß sich ein Gegensatz zwischen dem Zusammenhang von normativen Erwartungen und normativen Reaktionserwartungen einerseits und der Korrelation von Aktionsnormsupposition und Reaktionsnorm andererseits einstellt. Die Normsätze bleiben unverändert. Bei der Konstruktion von Aktionsnormsuppositionen werden jedoch beliebige Selektionskriterien berücksichtigt und mit systeminterner entscheidungsrelevanter Selektivität verknüpft. Dieser Prozeß kommt nicht als ein „nach vielen Seiten hin abwägender Vergleich und Ausgleich zwischen einer Reihe sozialer Gegebenheiten" zum Vorschein. 63 Er findet vielmehr „in Wirlichkeit in dem stark abgekürzten Verfahren unmittelbarer Einschätzung" und „einfacher Unmittelbarkeit" statt. 64 Die unaufhörliche „Neuabstimmung" vollzieht sich nicht in der theoretischen, „sondern in der vitalen Ebene". Die juristischen Entscheidungen implementieren sich selbst, indem sie aufgrund von Kriterien getroffen werden, die die Erwartungsbildung in den sozialen Systemkontexten berücksichtigen. Dies führt unter anderen auch dazu, daß die einzelnen als Rechtspflege fungierenden Personen in Wirklichkeit inhaltlich verschiedene subsistente Normen handhaben, wenn sie sich der Form nach auf den gleichen Normsatz des Gesetzes in verschiedenen Zeitpunkten oder auch gleichzeitig berufen. 65

§ 2 Juridische Rationalität

I. Normatives Erwartungskalkül und juridische Rationalität 1. Temporalisierte

Erwartungserwartungen

Die „funktionelle Scheidung" zwischen Gesetzgebung und richterlicher Tätigkeit ist nicht aufrechtzuerhalten. Es gibt keine Rechtsanwendung nach vorgegebenen Normen, die als „Entscheidungsmaßstäbe" dienen. Wenn die „Kategorie des Gesetzes gerettet werden soll", dann müßte man zwischen „Normstiftung im allgemeinen und Gesetzgebung im besonderen" unterscheiden.1 Diese Normstiftung im allgemeinen beruht auf der Auffassung des programmierenden und 62 Geiger, 63 Ebd., S. 64 Ebd., S. 65 Ebd., S. 1 Geiger,

Vorstudien, S. 286. 287. 286 f. 274. Vorstudien, S. 196.

I. Normatives Erwartungskalkül und juridische Rationalität

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programmierten Entscheidens sowie auf einem Zusammenspiel der Rechtsinstanzen und Berufsrollen, die Schelsky als juridische Rationalität bezeichnet hat. Keine Instanz kann je für sich „geltendes Recht" produzieren. Die Herausfindung der formal geltenden Rechtssätze, die Auslegung sowie die Anwendung sind auf die Einschaltung verschiedener Instanzen angewiesen. Die juristischen ,»Produkte", die „juridische Rationalität" können nur „ausgehandelt" werden. 2 Geiger und Schelsky stimmen auf diese Weise mit Lon L. Fuller überein, der, aufgrund seiner „open-ended view of the law" nicht die „Produkte", sondern die Prozesse des Rechtssystems zum Forschungsgegenstand machen wollte. 3 In den juristischen Handlungsfeldern wird Sinn als Handlungsbeitrag, als regelgeleiteter Handlungsvorgang verarbeitet. Juristische Entscheidungsrelevanz ist auf die Aushandlungsprozesse des Rollenspiels und Rollenkonflikts angewiesen. Entscheidungen werden arbeitsteilig getroffen und sind erst auf der Grundlage und im Rahmen von offiziellen und inoffiziellen Kommunikationssystemen möglich. Sie sind nämlich „kommunikative Ergebnisse" des gesamten „dynamisch strukturierten Systems des Rechtslebens".4 Es steht immer im Ungewissen, was in bezug auf einen gegenwärtigen konkreten Fall rechtens ist. Was „bisher geltendes Recht gewesen ist", kann festgestellt werden. Was aber für den konkreten Fall rechtens ist, dies hängt von verschiedenen Erwartungskalkülen ab, die verschiedene Anhaltspunkte und verschiedene Zeitperspektiven haben.5 Das Verhältnis von subsistenter Aktionsnorm und subsistenter Reaktionsnorm spielt in normativen Erwartungskalkülen eine wichtige Rolle. Normative Erwartungen, die im sozialen Leben „im Bereich der allgemeinen Gesittung, der Standessitte, der Usance einer Erwerbs- oder Berufsschicht usw." entstehen, können erst nachträglich „von der Rechtsordnung aufgegriffen (werden)". 6 Die sich in allen möglichen sozialen Kreisen bildenden Gewohnheiten können der „spezifisch-rechtlichen Ordnungsgarantien" teilhaftig werden. Dies geschieht nicht nur in Prozessen der Rechtsgenese, sondern auch und vor allem im Rahmen der Tätigkeit der Rechtspflege. Die richterliche Instanz kann nämlich ihrer Entscheidungstätigkeit Gewohnheitsregeln oder Normen zugrundelegen, die mit den gesetzlichen primären Wortnormen nichts zu tun haben. Es handelt sich um eine „judikatorische Option auf die Gewohnheitsregel". 7 Das normative Erwartungskalkül eines Rechtsanwaltes oder eines Bürgers bezieht sich in diesem Fall darauf, ob und in welchem Maße die im Lebensverlauf eines Integrats tatsächlich einge2 Schelsky, Die Soziologen und das Recht, Opladen 1980, S. 47. 3 Hierzu: Stanley Paulson, Rezension von The Principles of Social Order: Selected Essays of Lon L. Fuller. Edited with an introduction by Kenneth L. Winston, Durham Ν. C. 1981, in: Philosophical Books, 25 (1984), S. 232-234: „for it is not the products (legal norms, legal rules) of legal processes that lay bare the distinctive features of the law but rather, the processes themselves" (S. 232 f.). 4 Schelsky (Fn. 2), S. 41; Geiger, Vorstudien, S. 171. 5 Geiger, Vorstudien, S. 211, 277 f. 6 Ebd., S. 183. 7 Ebd., S. 183. 4*

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spielten Erwartungszusammenhänge für die Beurteilung der gesetzlichen Primärnorm und für die Anwendbarkeit der gesetzlichen Sekundärnorm zu berücksichtigen sein werden. Die Tatsache, daß normative Erwartungen in sozialen Systemen gebildet und gewahrt werden, besagt nichts darüber, ob sie zusätzlich durch die Sanktionsbereitschaft des Rechtsstabes unterstützt sind. Erwartungsenttäuschungen und Abweichungen können zwar eine „Spontanreaktion" der Integratsöffentlichkeit nach sich ziehen, von der Rechtspflege aber ignoriert werden. Es ist außerordentlich schwierig „Voraussicht vorauszusehen".8 Wer aber die Verhaltensmöglichkeiten der Rechtsinstanzen erwartbar machen will, der muß nicht bloß die „tatsächliche Reaktion im gegebenen Einzelfall", sondern vor allem die „Reaktionsbereitschaft" der Rechtspflege in Betracht ziehen. Die Reaktionsbereitschaft offenbart sich zwar durch tatsächliche Reaktionen im Übertretungsfall, sie muß jedoch von der „Gelegenheit zur Reaktion" unterschieden werden. Solange die Instanz keine Gelegenheit hat, eine „Gewohnheitsregel" als Aktionsnorm anzusehen und mit einer anzuwendenden Reaktionsnorm zu verknüpfen, ist weder ihre Sanktionsbereitschaft berechenbar noch das Kriterium bekannt, das sie als Anlaß zur Reaktion ansieht. Dies bedeutet, daß das Verbindlichkeitskalkül in diesem Fall nicht vorausberechnen kann, welche Regelsuppositionen von der Rechtspflege als im Intégrât geltende Aktionsnormen zu behandeln sein werden. Nach der „erstmaligen Reaktion" des Rechtsstabs auf eine Abweichung von der Aktionsnorm, d. h. auf eine Enttäuschung von im Intégrât institutionalisierten Erwartungen, tritt die Reaktionsbereitschaft der Rechtspflege nach außen hin in Erscheinung. Es wird sogar unterstellt, daß die im Intégrât etablierte Erwartung „schon im Handlungsaugenblick, also vor der Sanktionsverhängung" als rechtlich bindend anzusehen sei.9 Man kann daher nicht wissen, ob der Rechtsstab vor der ersten Sanktionsverhängung bei gegebenem Anlaß reagieren würde. Seine Sanktionsbereitschaft wird nachträglich unterstellt. Andererseits aber besagt die „erstmalige — überhaupt die einzelne — Sanktionsverhängung" nicht viel. Wenn die Gerichtsinstanz heute eine Gewohnheitsregel auf eine bestimmte Weise interpretiert als rechtliche Aktionsnorm anwendet, ist doch wohl nicht ausgemacht, daß die „fernere Gerichtspraxis" dem folgen wird. Ein anderer Richter kann morgen im entgegengesetzten Sinn entscheiden. Dies liegt daran, daß sowohl die „Gewohnheitsregel" als auch die Regelsuppositionen der Anwälte und die Festsetzungsbedingungen der Aktionsnorm durch den Richter im Wandel begriffen sind. Sie sind in diesem Sinne subsistent. Die Gewohnheitsregel ist in diesem Zusammenhang nichts anderes als ein Symbol für die Entstehung von Sinn in sozialen Systemen. Sozial etablierter Sinn kann im Kommunikationskontext juristischer Entscheidungsmöglichkeiten als primäre Rechtsnorm, als Aktionsnorm dargestellt werden. Die Darstellung hängt aber immer vom jeweiligen Beobachtungsschema ab. Der Mechanismus der Spezifikation, Generalisierung und Respezifikation bedingt die Lernfähigkeit kognitiver und normativer Erwartungen in s Niklas Luhmann, Rechtssystem und Rechtsdogmatik, Stuttgart 1974, S. 35, 48. Geiger, Vorstudien, S. 184.

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allen sozialen Systemen, d. h. auch in den Organisationssystemen des sogenannten Rechtsstabs. Erwartungen verändern sich, obwohl die Gesetzestexte unverändert bleiben. Die subsistenten Normen, die den Umgang mit den anwaltlichen Berufsregeln und Beobachtungsschemata regeln, verändern sich, das Standesrecht bleibt unverändert. Angesichts dieser Bedingungen, die die Vereinheitlichungsversuche der Rechtsprechung unterminieren, stellt sich die Frage, welches der divergenten Präjudikate sich in der Praxis der Folgezeit durchsetzen wird. Die Symptome, die auf juristische Entscheidungswahrscheinlichkeiten hindeuten, sind in der bisherigen Entscheidungspraxis und in der verdichteten Beobachtungserfahrung, die in den Verbindlichkeitskalkülen verschiedener Instanzen und Berufsrollen enthalten ist, zu finden. Die Gerichtspraxis ist nur „eines von mehreren Symptomen für Wahrscheinlichkeit". Sie hat nur insofern einen prominenten Wert, als divergente Sachverhaltsbeurteilungen und Regelsuppositionen in der Urteilsentscheidung nicht zum Vorschein kommen. Im Urteil stehen Sachverhalt und Aktionsnorm fest. Das Urteil — nicht aber die ihm zugrundeliegenden Prozesse der Komplexitätsreduktion — bildet einen Anhaltspunkt für spätere Verbindlichkeitskalküle. Hier ist vom wirklich gehandhabten Recht die Rede ohne Frage danach, „wie richtig oder falsch, gut oder schlecht es sei". Urteile sind im folgenden Sinne Anhaltspunkte für Verbindlichkeitskalküle: Sie wirken „als ein zusätzlicher Beweggrund" für andere Richter, „morgen und übermorgen dem Beispiel zu folgen", oder sie bilden „zumindest eine Hürde", die der zu entgegengesetzter Entscheidung geneigte „Richter erst überspringen muß". 10 Die Frage danach, ob Verhaltensnormen in Integraten durch die richterliche Instanz in Anwendung gebracht werden könnten, kann nur aufgrund eines Verbindlichkeitskalküls beantwortet werden. Letzteres stützt sich auf die bisherige Gerichtspraxis, aber auch auf andere Symptome — ζ. B. Allgemeinheit der Regelbefolgung, Verbreitung einer volkstümlichen Auffassung oder fachjuristischen Überzeugung von der Verbindlichkeit des Standards als Kern einer Rechtsnorm unter gleichen.11 Die einem Gerichtsurteil zugrundeliegende „Richternorm" kann in verschiedenen Zeitpunkten und für verschiedene Verbindlichkeitskalküle Anhaltspunkt sein. Sie kann prospektiv oder retrospektiv in Betracht gezogen werden. Der rechtsschöpferische Richter hat „mögliche künftige Fälle prospektiv im Auge". In seiner Folgenorientierung denkt er an die Konsequenzen seiner Entscheidung, er faßt sein Urteil so, „daß es seiner Meinung nach verdient und Aussicht hat, als Präjudikat stehenzubleiben und Nachfolge zu finden". 12 Die Richternorm wird als subsistente Norm geschaffen und zugleich wörtlich deklariert. Dies bedeutet, daß sie sich implizit oder explizit auf die bisherige Gerichtspraxis bezieht. Die subsistente Richternorm entsteht aber zugleich aufgrund eines prospektiven Verbindlichkeitskalküls. Der Richter rechnet nämlich damit, daß seine Entscheidung „als Muster für die Zukunft, die sie begründende Norm als io Geiger, Vorstudien, S. 187 f. h Ebd., S. 187. 12 Ebd., S. 197.

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Maßstab künftiger Entscheidungen haltbar sein müsse". 13 Dies geschieht unabhängig von der Tatsache, daß der deklarative Normsatz, der die subsistente Rechtsnorm mindestens zum Teil zum Ausdruck bringt und die Entscheidung begründet, keine programmatische Forderung dieses Inhalts enthält. Niemand kann vom Standpunkt einer realistischen Rechtslehre aus mit Bestimmtheit sagen, „was jetzt und hier rechtens sei, ob eine bestimmte Norm verbindlich für den oder jenen Fall sei oder nicht". Die Frage der Geltung oder Verbindlichkeit kann insofern nur in Form eines Erwartungskalküls beantwortet werden. Was die Vergangenheit angeht, so kann man über die Verbindlichkeit von subsistenten Rechtsnormen eine „statistischrechnerisch begründete Aussage" machen. Man kann beispielsweise die Zahl der eingeklagten Fälle schuldhafter Sachbeschädigung, in denen die Rechtspflege auf Schadenersatz erkannt hat und das Urteil vollstreckt wurde, statistisch feststellen. Die statistische Betrachtungsweise gerät in Schwierigkeiten, wenn sie die Zahl der Fälle zu eruieren versucht, in denen schuldhafte Sachbeschädigung tatsächlich stattfand, ohne jedoch zur gerichtlichen Beurteilung gebracht zu werden. Ähnliches gilt für die Fälle, in denen der Schadenstifter freiwillig, d. h. außergerichtlich Ersatz geleistet hat. Beide Klassen von Fällen sind „im Ereignisablauf der Vergangenheit numerisch feststehende, wenngleich unermittelte Größen" und haben rechtliche Qualität. 14 Geiger geht von der Rechtsrealität aus. Diese besteht im „Inbegriff der Gebarensmodelle, die innerhalb eines unter einer politischen Zentralmacht organisierten Gesellschaftsintegrats tatsächlich beobachtet werden". Aktionsnormen, die den Handlungsverlauf innerhalb der verschiedenen Integrate tatsächlich beeinflussen und mit rechtlichen Reaktionsnormen verknüpft sind, haben auch dann Rechtscharakter, wenn sie gerichtlich nicht sanktioniert werden, wenn nämlich die Reaktionsnorm nicht in Anwendung gebracht wird. Für die Vergangenheit ist die Verbindlichkeit der subsistenten Rechtsnormen eine „im Prinzip größenmäßig meßbare Alternativ-Chance, eine Wahrscheinlichkeit des Ereignisablaufs". Für die Vergangenheit lassen sich mindestens die subsistenten Reaktionsnormen feststellen. Eine solche Rechtspflege ist statistische, wenn man will vergangenheitsorientierte und rechtshistorische Aussage, nützt indessen dem Juristen und dem Bürger wenig, der die Verbindlichkeits- und Geltungsfrage im Hinblick auf die aktuelle Rechtslage stellt. Statistik läßt sich nicht ohne weiteres auf die Zukunft auf die „noch nicht abgeschlossenen Ereignisverläufe" übertragen. Wenn der praktische Jurist von der Geltung einer Rechtsnorm spricht, ist der „Bezugsaugenblick" der Fragestellung und Antwort „das durch die historische Zeit gleitende Urteils-Jetzt". 15 Es geht darum herauszufinden, welche subsistente Aktions- und Reaktionsnormen für die jetzt und hier zur Beurteilung vorliegenden und divergenten Sachverhaltskonstitutionen gelten. Hierbei muß man auf die Bedingungen 13 Ebd., S. 197. 14 Ebd., S. 208 f., 211. 15 Ebd., S. 205, 207, 209 f.

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der Sinnkonstitution in der Zeitdimension achten. Das heute und hier zu beurteilende Verhältnis fiel im Zeitpunkt seiner Entstehung unter eine subsistente Aktions- und Reaktionsnorm, die inzwischen verändert oder erloschen und auf heute entstehende Verhältnisse gleicher Art nicht mehr anzuwenden ist. Dies bedeutet, daß die im Entstehungszeitpunkt angestellten Verbindlichkeitskalküle von Juristen und Bürgern eine Rechtslage zu eruieren versuchen, die mit der Rechtslage im Zeitpunkt der Klageerhebung und später der Urteilsentscheidung nicht identisch ist. 16 Die Normsatzformen, die Gesetze, bleiben selbstverständlich unverändert. Wir denken also hier nicht an die Gesetzesänderung und die Rechtsanwendungsprobleme, die sie mit sich bringt. In diesem Fall gilt der frühere Rechtssatz für alle vor einem bestimmten Stichtag entstandenen Verhältnisse einer Art. Nicht verbindlich ist der alte Rechtssatz dagegen für die nach diesem Stichtag entstandenen Verhältnisse gleicher Art. Der aufgehobene Rechtssatz besteht also so lange als verbindlich weiter, bis das letzte unter ihm entstandene „normtypische Verhältnis" abgewickelt ist — es sei denn, daß der an seine Stelle getretene Rechtssatz mit rückwirkender Kraft angewandt wird. Uns interessiert aber die „gleitende Verschiebung", die die subsistente Aktions- und Reaktionsnorm bei gleichbleibendem Gesetzestext erfährt. Es geht um die Tatsache, daß die „Dimension der Zeit" nicht integrierend, sondern desintegrierend in die Bestimmung der normtypischen Lebensverhältnisse mit eingeht.17 Im Zeitpunkt der Entstehung des zu beurteilenden Lebensverhältnisses orientieren sich die Erwartungskalküle an subsistenten Normen, die von den subsistenten Normen, die als Geltungssymptome und als Anhaltspunkte für die Verbindlichkeitskalküle im späteren Zeitpunkt des Urteils-Jetzt benutzt werden, zu unterscheiden sind. Die faktische Rechtshandhabung ist nicht einheitlich, und es gibt keine zentrale Instanz, deren Verbindlichkeitskalküle derart verbindlich wären, daß sie nicht selbst zu Anhaltspunkten für Verbindlichkeitskalküle anderer zu werden bräuchten. Unter dieser Voraussetzung muß man davon ausgehen, daß es eine Pluralität von Erwartungskalkülen gibt, deren Gegenwarten in verschiedener Weise mehrfach modalisiert werden. Die Erwartungskalküle der Bürger im Entstehungszeitpunkt des Lebensverhältnisses müssen von den Erwartungkalkülen der später einzuschaltenden juristischen Berufsrollen und von dem Erwartungskalkül des Richters im Zeitpunkt des Urteils unterschieden werden. Jedes Kalkül hat nicht nur seine eigenen Anhaltspunkte, sondern auch seine eigenen Zeithorizonte. Ein juristischer Fall ist daher ein in der Zeitdimension verwickelter Zusammenhang: a) Das zu beurtei16 Ebd., S. 207 FN 15. 17 Ebd., S. 198, 208. Vgl. den interessanten Temporalisierungsversuch von Wolfram Zitscher, Normen und Feldtheorie, Berlin 1983; ders., Die Satzungsnorm — Sprachgestalt und Zeitbezug, in: Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie 65 (1979), S. 21-48 und hierzu: Athanasios Gromitsaris, Theorie der Rechtsnormen bei Rudolph von Ihering. Eine Untersuchung der Grundlagen des deutschen Rechtsrealismus, Berlin 1989, S. 105, 108, 120, 123, 126; Martina Schöps, Zeit und Gesellschaft, Stuttgart 1980, S. 82 ff. spricht von der Diskrepanz zwischen verschiedenen Systemzeiten und von den damit zusammenhängenden „implizierten" und „interpersonellen" Zeitsanktionen.

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lende Lebensverhältnis ist ein Kommunikations- und Handlungssystem, das zu einem System eigener Art, zu einem Konflikt geworden ist, um Erwartungssicherheit wiederzugewinnen. 18 Man kann auf außergerichtliche Mechanismen der Enttäuschungsabwicklung zurückgreifen oder aber Erwartungskalküle über juristische Entscheidungsmöglichkeiten und Zitierwahrscheinlichkeiten anstellen.19 b) Die juristischen Berufsrollen rekonstruieren retrospektiv die im Lebensverhältnis relevanten Erwartungen unter Berücksichtigung ihres eigenen Verbindlichkeitskalküls, das die im Ungewissen stehende Rechtslage zu ermitteln versucht. c) Im Zeitpunkt des Urteils-Jetzt operiert das Verbindlichkeitskalkül des Richters retrospektiv in bezug auf die Gerichtspraxis und die fallbezogenen Verbindlichkeitskalküle der anderen juristischen Berufsrollen und prospektiv hinsichtlich des rechtlichen Anschlußwertes seines Urteils. Die Rechtslage ist historisch veränderlich, und das für den Jetzt-Fall Verbindliche steht immer im Ungewissen.20 Diese Relationierung von divergenten Zeitperspektiven sowie die Akzentuierung von Prozessen und nicht so sehr von fertigen Produkten verleihen dem Ansatz Geigers eine systemtheoretische Fundierung. 21 2. Norm- und Sachirrtum Im Gefüge der Verbindlichkeitskalküle kann es einen S ach und Normirrtum nur für einen Beobachter geben. Der Irrtum über die Sachlage liegt in dem Falle vor, in dem der Richter in seinem Verbindlichkeitskalkül aus der Sicht eines beliebigen Beobachters über die tatsächliche Beschaffenheit des zu beurteilenden Lebensverhältnisses irrt. Die Fehlbeurteilung kann auf verschiedenen Faktoren beruhen. Sie kann aber nur im Rahmen des Verbindlichkeitskalküls eines Beobachters als solche existieren. Letzterer kann annehmen, daß der Richter sein eigenes Urteil als falsch im Verhältnis zur angewandten Norm ansehen würde, wenn er den Sachverhalt des Falles „sachlich richtig" erfaßt hätte. Ein Normirrtum liegt dagegen vor, wenn der Richter nach der Auffassung eines Beobachters zwar die Sachmerkmale des zu beurteilenden Geschehensablaufs richtig erkannt hat, trotzdem aber den Norminhalt der subsistenten Aktions- und Reaktionsnorm in einer von der „vermeintlich feststehenden Geltungssubstanz der normabweichenden Weise" auffaßt. 22 Das Verbindlichkeitskalkül des Richters taucht im Verbind18 Luhmann, Ausdifferenzierung des Rechts (§ 1 Fn. 19), S. 92 ff. 19 Ebd., S. 53 ff. 20 Zur Ungewißheit der Rechtslage im Falle der nichtehelichen Lebensgemeinschaft s. Wilfried Schlüter / Delef W. Beling, Die nichteheliche Lebensgemeinschaft und ihre vermögensrechtliche Abwicklung, in: FamRZ 1986, S. 405, 416. 21 Vgl. Nikolaos Intzessiloglou, Stability and Change in Law: The dynamic equilibrium between the System of Law and its Environment, in: Problems of Constancy and Change. The Complementarity of Systems Approaches to Complexity, Vol. 1, 31st Annual Meeting of the International Society for General Systems Research, Budapest 1987, S. 511-518. 22 Geiger, Vorstudien, S. 230 f., 232 f.

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lichkeitskalkül des Beobachters als Mißinterpretation der subsistenten Norm auf. Sach- und Normirrtum sind Anhaltspunkte für Verbindlichkeitskalküle, die die Entscheidungswahrscheinlichkeiten der Berufungsinstanzen in Betracht ziehen. Nach Geiger ist die richterliche Tätigkeit für die Verbindlichkeit der subsistenten Aktionsnormsuppositionen und für die subsistente Reaktionsnorm konstitutiv. Die richterliche Urteilsentscheidung kann somit nicht „auf einem theoretischen Mißverstehen" des vermeintlich vorgegebenen verbindlichen Inhalts beruhen und also juristisch falsch sein. Die richterliche Instanz stiftet den Verbindlichkeitsumfang der subsistenten Norm. Sie kann also nicht „darüber irren, was geltendes Recht sei". Was wirklich in den Fällen vorliegt, in denen von falscher Auslegung einer Rechtsnorm die Rede ist, ist einfach das Vorhandensein von divergenten oder konträren Verbindlichkeitskalkülen. Ein Gericht macht den Versuch, ein „allseitig und seiner sachlichen Beschaffenheit nach richtig beschriebenes" Lebensverhältnis dem Verbindlichkeitsumfang einer subsistenten Norm zu koordinieren. Andere Juristen (Beobachter) erklären, daß sie diese Koordination nicht vorgenommen haben würden, weil sie „ein anderes Bild vom Typus" des verbindlichen Norminhalts haben. Hierbei berufen sie sich zu Unrecht auf den Normsatz, der nach Geiger bekanntlich nicht verbindlich sein kann. Sein begrifflicher Inhalt kann ja nicht im Namen der Logik einen bestimmbaren Bedeutungsumfang im Hinblick auf einen Fall konkreter Tatbestände beanspruchen.23 Die Entscheidung einer richterlichen Instanz ist „falsch" nicht, „weil sie auf einem juridisch-theoretischen Irrtum beruht, sondern einzig und allein, sofern sie sich nicht im Rechtsleben durchsetzt". Juristische Entscheidungen, die juristische Richtigkeit für sich in Anspruch nehmen wollen, dürfen sich nicht einfach ihren eigenen Folgen ausliefern. Sie müssen Erwartungskalküle anstellen, die die Erwartungskalküle maßgebender Instanzen und Berufsrollen im Rechtsleben in Betracht ziehen. Trotzdem bleiben sie riskant; oder genauer formuliert, sie sind weder richtig noch falsch, sie sind riskant. Wenn die höhere Instanz das Urteil des Richters umstößt, so ist das nicht auf einen begangenen juristischen Irrtum zurückzuführen, sondern es bedeutet einfach, daß die höhere Instanz „den rechtskonstruktiven A n l a u f der ersten Instanz durchkreuzt. Eine „theoretische Meinungsverschiedenheit" über die möglichen Inhalte von Normsätzen oder subsistenten Aktions- und Reaktionsnormen und deren richtige oder falsche Auslegung besteht nicht — weil sie nicht bestehen kann. 24 Der Normsatz ist ein begriffliches Schema, das die für seine Anwendung erforderlichen Verweisungszusammenhänge, das den dafür nötigen Sinn nicht beinhaltet. Er hat keinen determinierten Inhalt. Andererseits ist der Inhalt der subsistenten Aktionsnormsuppositionen und der subsistenten Reaktionsnormen „theoretisch indiskutabel". Im Gefüge der Verbindlichkeitskalküle, die kommunikativen Wert erhalten und kein bloßer Gedankeninhalt bleiben, ist eine Entscheidung juristisch falsch, „sofern sie in der Minderheit bleibt und sich nicht durchsetzen kann, gleichgültig was ihr Inhalt sei". Eine 23 Ebd., S. 252. 24 Ebd., S. 252 f.

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Entscheidung ist ihrer bewußten Risikoübernahme und allen Analysen ihrer juridischen Mängel zum trotz rechtlich richtig, wenn sie sich im Rechtsleben durchsetzt und „nachgeahmtes Präjudikat" wird. Dies geschieht, obgleich sie ihrem Inhalt und ihrer bewußten Selbstbeschreibung nach „abweichend von den bisherigen Linien der Normanwendung" ist. Normirrtum ist mit anderen Worten etwas, das nur für einen Beobachter existieren und das nur der einzelne Richter begehen kann. Die Rechtspflege als „Gesamtheit" ist unfehlbar. Der „kollektive Normirrtum" ist „Neu-Konstruktion von geltendem Recht". 25 3. Rationalität Geiger unterscheidet in den normativen Erwartungskalkülen zwischen dem „Gang der Dinge im einzelnen" und der „Ordnung der Dinge im allgemeinen", die mit dem Zusammenspiel von materiellem und formellem Recht im Gerichtsverfahren zusammenhängt. Man könnte den Zusammenhang anhand eines Beispiels wie folgt beschreiben: 1. A ist kraft subsistenter materiell rechtlicher, noch im Verlauf des Verfahrens arbeitsteilig zu bestimmender Aktions- und Reaktionsnorm gehalten zu zahlen. 2. Wenn er nicht freiwillig zahlt, riskiert er gemäß verschiedener Verbindlichkeitskalküle Sanktionen. 3. Die Verhängung und Vollstreckung der Sanktion gilt in gewissen Fällen als unmöglich. 4. Diese Unmöglichkeit beruht in einigen Fällen auf prozeß- und vollstreckungsrechtlichen Hindernissen. 2 6 Die Ordnung der Dinge ist so, daß ein Kreditnehmer kraft subsistenter Normen, die aufgrund des Zusammenspiels von divergenten Erwartungskalkülen herauszufinden sind, zurückzahle oder gepfändet werde und daß andererseits der auf Zahlung Verklagte nur unter gewissen prozessualen Voraussetzungen zur Zahlung verurteilt und urteilsgemäß gepfändet werde. So sieht das institutinalisierte Spiel aus. Der Gang der Dinge ist dagegen, daß das Entscheidungsverfahren die Voraussetzungen seiner konkreten Ausgestaltung im Laufe des Geschehens verändert, so daß die „Ordnung der Dinge" infolge des Gangs der Dinge Ausnahmen erleidet. Nicht nur das „Urteils-Jetzt", sondern sämtliche Verbindlichkeitskalküle vor dem Urteil gleiten durch die historische Zeit. 27 Sie müssen daher Erwartungsenttäuschungen verarbeiten können, wenn sie die gleitenden Verschiebungen der substistenten Normen mitverfolgen wollen. Die Tatsache, daß sich die Differenz von Interaktionssystem und Gesellschaftssystem in einer funktional ausdifferenzierten Gesellschaft verschärft, hat auch für das Rechtssystem gravierende Bedeutung. Die klassische Theorie vom Rechtsstaat schreibt dem souveränen Gesetzgeber die Aufgabe zu, die Legitimität und Rationalität der rechtlichen Entscheidungsprozesse zu bestimmen. Die Regierungs-, die Verwaltungs- und die Gerichtspraxis sind an Recht und Gesetz gebun25 Ebd., S. 253. 26 Ebd., S. 238, 240. 27 Ebd., S. 207, 240.

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den. Diese Gesetzesbindung kommt auch in der Unterscheidung zwischen programmierendem, gesetzgeberischem und programmiertem Fallentscheiden zum Ausdruck. Bekanntlich können die Absichten des Gesetzgebers in verschiedener Weise verstanden werden. Die Interpretationsbreite der Gesetzestexte ist sehr groß, und der Umfang des möglichen Wortsinns fluktuiert. Dies hat schon zu einer Renaissance des Richterrechts geführt, die die Grenzen der Entscheidungsprogrammierung betonte und die richterliche Rechtsfortbildung in den Vordergrund stellte. Die Unmöglichkeit, die Bedingungen der konkreten Fallentscheidung erschöpfend im vorhinein festzulegen, schien das Postulat der Gesetzesbindung zu gefährden und ließ einen Eindruck der Irrationalität entstehen. Hinter dieser scheinbaren Irrationalität waltet jedoch eine andere Logik, die letztlich genauso respektabel wie die „apriorische" Logik der Entscheidungsprogrammierung ist. 28 Es handelt sich um die juridische Rationalität Helmut Schelskys, die dem Umstände Rechnung trägt, daß die zunehmende Differenzierung von Interaktion in Gesellschaft die beiden Systemarten in ihrer Rationalität problematischer als zuvor macht. 29 Schelsky sieht, daß Rationalitätsansprüche im Rahmen juristischer Entscheidungsprozesse eher auf organisierte Sozialsysteme verlagert werden. Die Aushandlungsprozesse, die im Zusammenspiel der juristischen Instanzen und Berufsrollen stattfinden und in denen die apriorische Rationalität der Entscheidungsregulierung zu verschwinden scheint, gehorchen einer letztlich wirksameren Rationalität a posteriori. Es ist zunächst einmal unmöglich, alle für die Herstellung juristischer Entscheidungstätigkeit nötigen Informationen a priori zu sammeln. Sie werden erst im Zusammenspiel der Instanzen im juristischen Handeln selbst durch den Druck, den Gegendruck und die mehr oder minder expliziten Aushandlungsprozesse erzeugt, die in den juristischen Verfahren stattfinden. Die Entscheidungsziele können nicht im vorhinein bestimmt werden. Die als ursprünglich geltenden Ziele sind vieldeutig, ja sogar widersprüchlich. Da in den prozeßrechtlich institutionalisierten Handlungsfeldern eine Vielfalt von Entscheidungsträgern tätig wird, die als Gegenspieler im Rahmen etablierter Kommunikationssysteme aufeinander Bezug nehmen müssen, kann man nicht von einer Übereinstimmung der Handlungs- und Entscheidungsziele ausgehen. Die fortschreitende Ausdifferenzierung der organisierten Sozialsysteme in der Rechtspflege hat die Einführung weiterer Amtsträger wie ζ. B. des autonomen Sachverständigen zur Folge, so daß Schelsky den Begriff der DreiÄmter-Struktur „nur zum klassischen Modell und Mindestfall institutioneller Pluralität in der Erzeugung juridischer Rationalität" macht. 30 Schelsky vermutet in dieser „institutionel28 Zur Rationalität des Rechts: Werner Krawietz, Juridisch-institutionelle Rationalität des Rechts versus Rationalität der Wissenschaften? Zur Konkurrenz divergierender Rationalitätskonzepte in der modernen Rechtstheorie, in: RECHTSTHEORIE 15 (1984), S. 423-452; ders., Recht und Rationalität. Hommage à Professor Georg Henrik von Wright, in: Georg Henrik von Wright, Wissenschfaft und Vernunft. Akademische Reden und Beiträge der Westfälischen Wilhelms-Universität, Bd. 1, Münster 1988, S. 11-15. 29 Luhmann, Soziale Systeme (§ 1 Fn. 27), S. 442. 30 Schelsky, Die Soziologen und das Recht, S. 39.

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len Pluralitätssteigerung" Fortschrittsmöglichkeiten in der Gewinnung juridischer Rationalität. Er spricht deshalb genauer von einer „Mindest-Drei-Ämter-Struktur", die den „Rationalisierungsprozeß durch Vermehrung unabhängiger Instanzen" höher gliedert und wirksamer macht. 31 Diese organisationsgestützte Zerlegung von Entscheidungsproblemen in Einzelschritte, die besser überblickbare Alternativen zur Entscheidung bringen, verschiedene Teilbereiche auseinanderhalten und Probleme der Informationsbeschaffung und Verarbeitung besser bewältigen kann, läuft aber zugleich auf eine Vermehrung der Zahl von Entscheidungen hinaus. Eine Rationalisierung, die sich als Dekomposition von Entscheidungen in zeitlicher Hinsicht darstellt, zieht eine Steigerung der Größe und der Komplexität des Kommunikationssystems nach sich. 32 Die Strukturprobleme der Mindest-Drei-Ämter-Strukturen können nicht ex ante mitrationalisiert und müssen der Problemlösungskapazität des Kommunikationssystems selbst überlassen werden. Mit Schelsky muß man aber sagen, daß die Inhaber der juristischen Berufsrollen nicht als autonome Akteure betrachtet werden dürfen, die frei und gleich miteinander in Beziehung treten und eine gegenseitige Anpassung aneinander im Laufe der Berufsausübung vollziehen. Adam Smiths Grundgedanke über die unsichtbare Hand des Marktes, die die Konkurrenten dann auf das Allgemeinwohl hinlenkt, wenn sie nur ihre eigenen Interessen zu verfolgen glauben, findet in den juristischen Handlungsfeldern keine Anwendung. Juristische Entscheidungen beruhen zwar auf einem arbeitsteiligen Prozeß. Die Kommunikationssysteme, denen die juristischen Rolleninhaber angehören, werden jedoch von Erwartungsstrukturen beherrscht, die auf prozeßrechtlich und institutionell geregelte Kommunikationsmodalitäten zurückgehen. In diesem Zusammenhang stellt sich das Problem der Beziehung zwischen der Rationalität des Entscheidungsträgers und der des juristischen Kommunikationssystems, dem er angehört. Ein Modell des rationalen juristischen Entscheidens friert das Rollenverhalten des Juristen auf der Ebene der etablierten entscheidungsrelevanten Kenntnisse ein. Der juristische Rolleninhaber braucht aber nicht sehr genau zu wissen, was er will. Sehr oft entdeckt er die Ziele und Zwecke seiner juristischen Tätigkeit nicht durch die materiell- oder prozeßrechtlichen Gesetze, sondern durch seine Berufserfahrung, d. h. letztlich durch seine eigenen Entscheidungen. Was vom Gesichtspunkt der Logik der Entscheidungsprogrammierung und apriorischen Entscheidungsrationalität als Scheitern betrachtet werden muß, kann hingegen unter dem Gesichtspunkt der arbeitsteilig institutionalisierten Entscheidungsträgerschaft als Erfolg gelten. Neue Entscheidungsvoraussetzungen und Problemlösungen, an die man vorher nicht hatte denken können, werden im Laufe des Entscheidens und Handelns im Rahmen des konkreten Kommunikationssystems entdeckt. Wenn man eine Entscheidungstätigkeit von Anfang an dynamisch betrachten will, muß man davon ausgehen, daß die Entscheidungsprämissen am Beginn des Entscheidungsprozesses nicht feststehen. In jedem Ent31 Ebd. 32 Niklas Luhmann, Soziologische Aufklärung, Bd. 3, S. 345.

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scheidungsprozeß sind Anteile von vorherigem Konditionieren und nachträglichem Entdecken enthalten. Die Rechtspraxis hat es nicht nur mit materiellrechtlichen und prozeßrechtlichen Vorschriften zu tun. Jedes juristische Tätigkeitsfeld, jedes System sozialer Kommunikation zwischen Rechtsinstanzen und juristischen Berufsrollen entwickelt seine eigenen Regeln. Erst im Kommunikationskontext lernt man den Umgang mit den Regeln, die den Umgang mit Regeln bestimmen. Eine juristische Berufsrolle ist ein kompliziertes Berufssystem, das mehrere Verhaltensweisen und Verhaltenslasten an mehrere miteinander arbeitende Akteure verteilt. In den Kommunikationssystemen werden die Erwartungen gebildet, auf denen die Wahlmöglichkeiten der Entscheidungsträger beruhen. Der lernfähige Umgang mit normativen Erwartungen macht Programme zu Strategien und verändert zugleich ständig die Prämissen der Strategieentwicklung. Die Bemühung des Entscheidungsträgers um den Aufbau seiner Entscheidungsstrategien und Erwartungskalküle setzt eine Selbstsozialisierung voraus, die es ermöglicht zu entdecken, was möglich war und was er eigentlich suchte, ohne sich dessen wirklich bewußt zu sein. Die Programmierung erfolgt nicht aufgrund von anzuwendenden Normsätzen, sondern nach Maßgabe beruflich etablierter Verhaltensmodelle, die unter anderem dem Gewinnungsprozeß der anzuwendenden Rechtsnormen zum Regelungsgegenstand haben. Die Entscheidungen werden in ihrem Inhalt und ihrem Ablauf auch durch die Bildung von Subsystemen, die neben den offiziellen Drei-Ämter-Strukturen eines umfassenderen Kommunikationssystems gebildet werden, bedingt. Dies alles weist darauf hin, daß das durch die universitätswissenschaftliche Rechtsdogmatik vermittelte Bild einer einheitlichen juristischen Entscheidungstätigkeit verabschiedet werden muß. Weder die Diagnose noch die Lösung eines juristischen Problems können einheitlich definiert werden. Entsprechend der jeweiligen Berufs- und Entscheidungsrationalität, die jeweils zur Anwendung kommt, wird auch der Sachverhalt konstituiert, die Sachverhaltsbeurteilung vorgenommen, das juristische Problem ausgewählt und die Problemlösung vorgeschlagen. Wenn eine Position im Kampf um die Definition des Problems einmal durchgesetzt ist, ist die Richtung der endgültigen etwa richterlichen Entscheidung schon sehr stark vorstrukturiert. Dieser Kampf um die Definition findet sowohl zwischen verschiedenen juristischen Berufen als auch zwischen einem juristischen und einem nichtjuristischen Beruf statt. Der Wettbewerb um die Problemdefinition kann ein erbitterter Kampf sein. Diejenigen, die aufgrund ihres Zusammenhalts und dank ihrem besonderen Sachverstand ihr Monopol über ein Handlungsfeld oder über eine bestimmte Kategorie von Problemen zu errichten wußten, fühlen sich von Veränderungen direkt bedroht, die dieses Feld oder diese Probleme anderen Berufen bzw. anderen Entscheidungsrationalitäten eröffnen könnten. Derartige Interessen werden sehr hartnäkkig verteidigt. Man denke beispielsweise an die Wettbewerbssituation der Anwälte, die zu spät gemerkt haben, daß in einem Steuerstaat die Steuergesetze nicht verächtlich ignoriert werden können. Sie haben schon damit Steuerspezialisten eine offene Flanke geboten.

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I I . Programmierung und normative Konditionierung juristischen Entscheidens in den sozialen Institutionen des Rechts Die Gedanken Geigers zur Aktions- und Reaktionsnorm führen dazu, daß man die Voraussetzungen der juristischen Entscheidungsprozesse nicht im Rechtsstab, sondern in verschiedenen Systemen sozialer Kommunikation suchen muß, die die herkömmliche Unterscheidung von Staat und Gesellschaft obsolet werden lassen. Beschreibungsleistungen verschiedener Beobachter werden miteinander relationiert und produzieren dadurch im Rahmen jeweils konkreter Kommunikationssysteme den Inhalt der Aktions- und Reaktionsnormen. Auf dem Hintergrund dieser systemtheoretisch fundierten Auffassung können Ergebnisse der empirischen Forschung und rechtswissenschaftliche Realitätsabschätzungen miteinander konfrontiert und neu ausgewertet werden. Geigers Ansatz läßt sich für die Analyse der Entscheidungsprogrammierung, d. h. für die Untersuchung der Herstellung rechtlicher Entscheidungen empirisch erhärten und fruchtbar machen. Wir versuchen dies am Beispiel der Staatsanwaltschaft (1) und der Entscheidungsherstellung im Rahmen der Kommunikation vor Gericht (2) zu zeigen. Schließlich (3) werden wir versuchen zu zeigen, daß eingespielte Regelsetzungen und Regelbefolgungen mit der Beharrenskraft von Institutionen wirken und sich — ganz im Sinne Geigers — als „sekundärer Machtfaktor" und als Ritual etablieren. 1. Entscheidungsprogrammierung

in strafrechtlichen

Kommunikationssystemen

Die Entscheidung des Staatsanwalts über Kriminalisierung (Sanktionierung) bzw. Nichtkriminalisierung (Sanktionierungsverzicht) ist nicht zufallsgeleitet, sondern hängt von Kriterien ab, die einerseits in den materiell- und prozeßrechtlichen Gesetzen und andererseits in anderen Entscheidungs- und Handlungsprogrammen zu finden sind. Das Vorhandensein einer Vielfalt von Entscheidungsund Handlungsregeln weist darauf hin, daß ein Schluß von den Gesetzen auf das tatsächliche Handeln des Staatsanwalts nicht möglich ist. Hierfür bedarf es vielmehr der Kenntnis der in anderen Regeln festgelegten Kriterien, nach welchen die Gesetze in Handeln umgesetzt werden. Die unvermeidliche Unbestimmtheit der Rechtssätze, der hieran anknüpfende Rechtsprechung sowie die verschiedenen verfahrensrechtlichen Durchführungsbestimmungen stellen die Bedeutung von berufsspezifischen Anwendungsregeln und Handlungsspielräumen in den Vordergrund. Die Entscheidungsprogramme erschöpfen sich nicht in den gesetzlich formulierten Rechtssätzen. Es gibt Anwendungsregeln und Handlungsfelder, die die Programmierung des staatsanwaltlichen Entscheidens bedingen. Einen wichtigen Teil der Bedingungen des staatsanwaltlichen Handlungs- und Entscheidungsprogramms findet man in der formalen Organisation der Staatsanwaltschaften. Der Staatsanwalt arbeitet in einem Zusammenhang formaler und informaler Abhängigkeit. Das beruht auf innerbehördlichen Strukturen und deren Aufgabenzuweisung, auf Spezialisierung der Dezernenten und auf Ausdifferenzierung von

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Verfahren. Hinzu kommt noch, daß der Staatsanwalt als Mitglied seiner formal organisierten Behörde auf die Kooperation und Ermittlungsarbeit der Polizei sowie auf die Zusammenarbeit der Jugendämter, Bewährungshelfer, Gutachter, Rechtsanwälte und Gerichte angewiesen ist. Ein derartiges Beziehungsgefüge gestaltet sich als ein soziales Kommunikationssystem jedesmal neu. Die Bedingungen der staatsanwaltlichen Verfahrenserledigung ergeben sich im Rahmen dieses Kommunikationssystems, das unterschiedliche Möglichkeiten der Kontaktaufnahme, der Zusammenarbeit und des Gegenspiels, schließlich der Entscheidungsprogrammierung aufweisen kann. Angesichts dieser Komplexität kann man verstehen, warum die Gesetzestexte alleine die Entscheidungen von Staatsanwälten nicht programmieren können. Die organisationsspezifischen und die interorganisationsabhängigen Bedingungen der staatsanwältlichen Entscheidungsprogrammierung dürfen nicht unterschätzt werden. Diese Bedingungen sind nicht einheitlich für alle Behörden. Zwischen den einzelnen Staatsanwaltschaften bestehen deutliche Unterschiede in der Erledigungspraxis. Da das formelle Entscheidungsprogramm der Strafprozeßordnung, des Gerichtsverfahrungsgesetzes und der Richtlinien für das Straf- und Bußgeldverfahren einheitlich für alle Staatsanwälte Geltung beansprucht, müssen die empirisch nachgewiesenen Unterschiede in der Erledigungspraxis der einzelnen Staatsanwaltschaften auf die Bildung konkreter Kommunikations- und Handlungssysteme zurückzuführen sein. 33 An solchen Systemen beteiligen sich verschiedene Akteure, die sowohl Organisations- und Behördensegmente als auch eigenständige juristische Berufsrollen sein können. Die Größe der Organisation, in diesem Fall der Staatsanwaltschaft, scheint eine Bedingung der Entscheidungsprogrammierung zu sein. Die Entscheidungsarten, die bei einer bestimmten Staatsanwaltschaft am häufigsten vorkommen, scheinen mit dieser Größe zu korrelieren. Es scheint eine Beziehung zwischen der Größe und der Verhandlungsmacht der Staatsanwaltschaft bei der Anmeldung von Stellenanforderungen einerseits und der Einstellungs- bzw. Anklagequote der bei der Staatsanwaltschaft anhängigen Verfahren zu bestehen. Eine solche Betrachtungsweise ist jedoch statisch. Die Erledigungspolitik von Staatsanwaltschaften ist nicht allein mit ihrer Personalkapazität und ihrer behördlichen Organisationsstruktur in Beziehung zu bringen. Die Erledigungsart ist das arbeitsteilig produzierte Ergebnis von konkreten Kommunikationssystemen zwischen verschiedenen Instanzen und Berufsrollen. Die Art und Häufigkeit der von den Ermittlungsbehörden registrierten Delikte, d. h. die Deliktstruktur beeinflußt sowohl die Erledigungspraxis als auch die unterschiedlichen rechtlichen Begründungsmöglichkeiten der Erledigung. Neben den organisationsspezifischen Besonderheiten und den größenabhängigen Unterschieden in der staatsanwaltlichen Erledigungsprogrammierung setzt offensichtlich auch das zur Erledigung anstehende Delikt dem Staatsanwalt bestimmte Grenzen und Möglichkeiten für die Erledigungsentscheidung. Man könnte von einer deliktspezifischen Ausprägung 33 Erhard Blankenburg / Klaus Ψ eschar / S. Steffen, Die Staatsanwaltschaft im Prozeß strafrechtlicher Sozialkontrolle, Berlin 1978, S. 16 ff., 24 f.

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der Erledigungspraxis sprechen. Je nach Art des Delikts gibt es unterschiedliche Begehens- und Entdeckungssituationen, unterschiedliche „typische" Täter und Opfer und besondere Tatbestandsdefinitionen. Jede Deliktart hängt mit besonderen polizeilichen Aufklärungs- und Ermittlungsprozessen zusammen und bedingt die jeweilige Sachverhaltsbeurteilung. Es gibt somit deliktspezifische Ausgangssituationen, die die staatsanwaltlichen Erledigungsentscheidungen in einem je unterschiedlichen Ausmaß präjudizieren. 34 Man hat im wesentlichen drei deliktspezifische Ausgangssituationen auseinanderzuhalten, denen sich die einzelnen Delikte zuordnen lassen und die die Erledigungsentscheidung, d. h. die Möglichkeit der Stellung eines Antrags auf Erlaß eines Strafbefehls, die Anklageerhebung oder die Einstellung eines nicht anklagefähigen Verfahrens in je unterschiedlichem Ausmaß beeinflussen. Die Ausgangssituationen können als „Unbekanntsachen", als eindeutige und als beweisschwierige Verfahren bezeichnet werden. Unbekanntsachen sind Verfahren, die von der Polizei mit dem Vermerk „Tatverdächtiger nicht ermittelt" an die Staatsanwaltschaft abgegeben werden und von dieser in aller Regel eingestellt werden. In diesem Fall handelt die Staatsanwaltschaft als Vollzugsinstanz für eine schon vorher gefallene Entscheidung. Eindeutigen Verfahren ist der Tatverdächtige bekannt und greifbar und die Beweise werden als ausreichend beurteilt. Die Staatsanwaltschaft kann das Verfahren einstellen, einen Antrag auf Erlaß eines Strafbefehls stellen oder Anklage erheben. Im letzteren Fall kommt der staatsanwaltlichen Vorbereitung des gerichtlichen Entscheidungsprozesses entscheidendes Gewicht zu. Die Entscheidung über die Anklage wird zwar in der Hauptverhandlung nochmal in Frage gestellt, doch wird die Verurteilung durch die staatsanwaltliche Anklageerhebung vorher bestimmt. Bei beweisschwierigen Verfahren haben die Ermittlungen keine für eine Anklage ausreichenden Beweise erbracht. Hier erscheint die Entscheidungsmacht des Staatsanwalts über Einstellung oder Anklagefähigkeit ziemlich groß zu sein. Die Bedingung der Anklageerhebung trotz Beweisschwierigkeiten oder die Bedingung der Einstellung angesichts der Beweisschwierigkeiten können nur symbolisch im voraus festgelegt werden. Je nach Delikt gibt es unterschiedlich viele „Unbekanntsachen", „eindeutige Verfahren" oder beweisschwierige Verfahren. Außerdem variieren diese deliktsspezifischen Ausgangssituationen auch innerhalb des einzelnen Delikttypus. Dies bedeutet, daß die Erledigungsstruktur bei den einzelnen Staatsanwaltschaften von der Zusammensetzung der dort vorkommenden Delikte abhängt.35 Die deliktsabhängigen Faktoren, die der staatsanwaltlichen Ermittlungs- und Erledigungspraxis Möglichkeiten und Grenzen setzen, liegen in den verschiedenen Definitions- und Beweisproblemen sowie in den Aufklärungswahrscheinlichkeiten, die mit den einzelnen Delikten und Deliktsaiten verbunden sind. Viele Probleme gehen auf abweichende Definitionen zwischen Polizei und Staatsanwaltschaft zurück. Bei 34 Ebd., S. 46 f. 35 Ebd., S. 50.

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der Definition verfolgen beide Instanzen verschiedene, aus ihrem jeweiligen Arbeitsprogramm resultierende Ziele. Die polizeilichen Ermittlungsmaßnahmen setzen Problemdefinitionen voraus, die hinreichend konkret und scharf sein müssen, damit sie als geeignetes kriminalistisches heuristisches Schema eingesetzt werden können. Verschiedene Sachverhaltsumschreibungen lassen unter anderem auch Beweisprobleme auftreten. Dies kommt besonders dann vor, wenn die Beweisführung der Polizei mit den Anklageerfordernissen des Staatsanwalts nicht übereinstimmt. Wir haben es mit verschiedenen Handlungsrationalitäten zu tun. Die Polizei orientiert sich an der Verfolgbarkeit aufgrund der Beweislage, während für den Staatsanwalt eine besondere rechtliche Bewertung des Strafanspruchs hinzukommt. Bei den einzelnen Delikten gibt es übrigens unterschiedliche Aufklärungswahrscheinlichkeiten. Die Aufgabe des Staatsanwalts besteht nicht in einer Subsumtion von Fakten oder Rechtssätzen. Sie besteht darin, einen sozialen Sachverhalt in einen juristisch handhabbaren Tatbestand umzusetzen, d. h. konkrete Verhaltensweisen strafrechtlich zu definieren. Die staatsanwaltlichen Definitionsprozesse betreffen sowohl die Fakten als auch die Normtatbestände. Die Fakten sind dem Staatsanwalt nur als institutionell bedingte Wirklichkeitskonstruktion zugänglich. Diese Konstruktion ist je nach Systemreferenz verschieden. Da die Definitionspraxis des Staatsanwalts auf polizeilichen Sachverhaltsbeurteilungen und Tatbestandsumschreibungen beruht, basieren die staatsanwaltlichen Entscheidungen auf einer Vielfalt von Konstruktionen der Wirklichkeit. Wenn man polizeiliche und staatsanwaltliche Tatbestandsdefinitionen und Sachverhaltskonstitutionen vergleicht, lassen sich Umdefinitionen innerhalb ein und desselben Delikts wie ζ. B. vom einfachen Diebstahl zum Mundraub oder Möglichkeiten des Deliktwechsels, etwa vom Diebstahl zum Betrug oder zur Unterschlagung feststellen. 36 Die verschiedenen Möglichkeiten der Wirklichkeitskonstruktion sowie der Definitions- und Umdefinitionspraxis können nicht auf einheitliche Verhaltensstrukturen zurückgeführt werden. Die Vielfalt der Systemreferenzen bringt eine Pluralität der Strukturen mit sich. Die Vereinheitlichung der juristischen Realität und der Rechtswirklichkeit ist nur bedingt. Sie kann nur institutionell ermöglicht werden. Ihre Wurzeln sind in der einheitlichen universitären juristischen Ausbildung, im Referendardienst und in der beruflichen Sozialisation zu finden. Die professionell juristischen Denkmuster sind in ihrer Vielfalt und ihrer Geschlossenheit Produkt der Sozialisation in der Ausbildung und in der Berufspraxis. Juristische Entscheidungen werden jedoch nicht nur aufgrund von einheitlichen juristischen Denkmustern getroffen. Sie sind vor allem das Ergebnis eines Zusammen- und Gegenspiels zwischen verschiedenen Instanzen, welches seine eigenen Regeln entwickelt und die konkreten juristischen Entscheidungen stärker prägt als die Subsumtionsproblematik. Diese Funktions- und Ermittlungspraxis der Polizei einschließlich des von ihr erreichten Aufklärungsergebnisses beeinflußt beträchtlich die staatsanwaltliche 36 Ebd., S. 66, 68. 5 Gromitsaris

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Tätigkeit. Die Polizei gibt jeweils unterschiedlich große Anteile an Unbekanntsachen, beweisschwierigen und eindeutig aufgeklärten Verfahren an die Staatsanwaltschaft ab. Obwohl sich die polizeiliche Sachverhalts- und Beweisbeurteilung einerseits und die staatsanwaltliche Anklagebereitschaft andererseits nicht notwendig decken lassen, präjudiziert das polizeiliche Ermittlungsergebnis die staatsanwaltliche Erledigung weitgehend. Das Zusammen- und Gegenspiel zwischen Polizei und Staatsanwaltschaft gehört somit zu den Struktureigentümlichkeiten des staatsanwaltlichen Entscheidens. Die Doppelfunktion der Staatsanwaltschaft als Ermittlungs- und Anklagebehörde läßt Spannungen zwischen der vom Legalitätsprinzip nahegelegten Beteiligung an den polizeilichen Ermittlungen und der Handlungsfähigkeit der Staatsanwaltschaft entstehen. Die Notwendigkeit einer Rechtskontrolle über die polizeiliche Ermittlungstätigkeit wegen sonst zu befürchtender Minderung strafprozessualer Qualität widerspricht der kapazitätsbedingten Unmöglichkeit, dieser Forderung nach Ermittlungsbeteiligung nachzukommen. Auf diese Weise ist zwar die Staatsanwaltschaft darauf eingestellt, von der Polizei das aufbereitete Material entgegenzunehmen, sie sieht sich aber außerstande, es selbst zusammen mit der Polizei bis zur Erledigungsreife aufzubereiten. 37 Die materiell- und prozeßrechtlichen Entscheidungsprogramme lassen in ihrer gesetzlichen Fassung so weite Handlungsspielräume zu, daß sie in der praktischen Anwendung Bedeutungsänderungen erfahren. Sie bekommen erst in der Praxis ihre wirkliche Bedeutung. Der Staatsanwalt nimmt oft nicht bzw. unterschiedlich intensiv und sehr spät am Ermittlungsprozeß teil. Er verwertet das ihm zur Verfügung stehende Instrumentarium an Entscheidungsregeln und Verfahrenserledigungen in einer Weise, die der Handlungsrationalität im jeweils laufenden sozialen Kommunikationssystem dient. Das bedeutet, daß das Zusammen- und Gegenspiel mit anderen Instanzen und Rollen seine arbeitsökonomischen Zwecke und seinen Arbeitsablauf prägt. Die Subsumtionsprobleme können erst in diesem Kontext definiert und lösbar gemacht werden. Neben den deliktspezifischen Ausgangssituationen gibt es auch täterspezifische Ausgangssituationen, die die staatsanwaltlichen Handlungs- und Entscheidungsprogramme beeinflussen. Der Staatsanwalt berücksichtigt bei seiner Tätigkeit täterspezifische handlungsleitende Alltagstheorien, die bewirken, daß an sich verfahrensirrelevante Merkmale als direkt entscheidungsrelevante Orientierungspunkte die Verfahrenserledigung beeinflussen. Die täterspezifischen Alltagstheorien des Staatsanwalts stellen Annahmen über die „richtige Reaktion" auf Kriminalität sowie Annahmen über ihre Ursachen und Erscheinungsformen dar. Sie beruhen auf Generalisierungen der vorwissenschaftlichen Alltags- und Primärerfahrung der Instanzenvertreter und auf dem gewonnenen Erfahrungsvorrat der Institution an Sachverhaltsbeurteilungen, bewährten Tatbestandsdefinitionen und Entscheidungen. Solche Alltagstheorien nehmen eine Entlastungsfunktion wahr, indem sie die Stereotypenbildung fördern, die den Schluß eines meist leicht 37 Ebd., S. 89, 92, 95.

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feststellbaren Datums auf ein anderes, schwerer feststellbares Datum erlauben. Die größtenteils strikt auf die rechtsdogmatische Lösung gerichtlicher Fälle zugeschnittene universitäre Ausbildung kann die Umsetzung formaler gesetzlicher Regelungen nicht erschöpfend programmieren. Im realen arbeitsteilig organisierten Entscheidungsprozeß spielen Alltagskonzeptionen von Kriminalität und gewonnene institutionell spezifische Entscheidungserfahrung eine sehr wichtige Rolle. Die Subsumtion strafrechtlich relevanter Verhaltensweisen unter einen Verbrechensbegriff wird nicht nur rechtsdogmatisch geleitet. Es gibt altersspezifische, geschäftsspezifische, nationalitätsspezifische und schichtspezifische Alltagstheorien, die die juristischen Entscheidungen vorstrukturieren. Die besondere strafrechtliche Behandlung junger Menschen stützt sich auf Annahmen über Ursachen, Formen und Reaktionen auf ihr abweichendes Verhalten sowie auf die Errichtung eines Schonraumes für die Jugend und die Konstituierung eines Erziehungsanspruches gegenüber jungen Menschen. Ähnliches gilt hinsichtlich der Funktion von Ausländerstereotypen und der schichtdiskriminierenden Wirkung richterlicher Alltagstheorien. Instanzenvertreter verfügen über eine alltagsweltliche, pragmatische Theorie sozialer Differenzierung, die zu entscheidungsrelevanten Typisierungen von Handlungssituationen und unterschiedlichen Kriminalitätsformen führt und schichtabhängige Entscheidungsfindung begründet. 38 A l l dies läßt den Schluß zu, daß die staatsanwaltliche Entscheidung über Einstellung oder Sanktionierung Ergebnis eines Kalkulationsprozesses ist, in welchem normative und pragmatische Kriterien im Rahmen eines konkreten, aktuellen Verfahrens ständig gegeneinander abgewogen werden.,»Rechtsgewißheit ist nicht nur ein Wissen darum, was rechtens ist, sondern bewährt sich im Verbindlichkeitskalkül". 39 Es gibt verschiedene Bereiche von Erwartungen, die die staatsanwaltliche Erledigungsstruktur beeinflussen, aber nicht restlos determinieren können. Es handelt sich um Erwartungen, die in der juristischen Erledigungspraxis weder als rein normativ noch als rein kognitiv erscheinen, sondern Mischformen annehmen. Die Handlungsfähigkeit und die Entscheidungstätigkeit des Staatsanwalts ist durch die Stellung bedingt, die die Staatsanwaltschaft im System der strafrechtlichen Sozialkontrolle zwischen der Polizei und dem Gericht einnimmt. Diese Stellung bringt nicht nur Probleme der Kompetenz und der Abgrenzung, sondern auch solche der Strukturierung eines Instanzenspiels mit sich, welches zur arbeitsteiligen Programmierung und Produktion von juristischen Entscheidungen führt. Der Staatsanwalt orientiert sich vor allem am richterlichen Funktionsbereich und damit am Ausgang des Verfahrens. Faktisch ist das Verhältnis von Staatsanwaltschaft und Richter während des Ermittlungsverfahrens spannungsfreier als das zwischen Staatsanwaltschaft und Polizei. Ein Grund für diese geringen Spannungen scheint darin zu liegen, daß die Übernahme richterlicher Sanktionsentscheidungen durch den Staatsanwalt für den Richter eine Arbeitserleichterung bedeutet. 38 Ebd., S. 166 ff., 170 f., 174 f., 177, 180 ff., 193 ff., 201 ff., 208 ff. 39 Geiger, Vorstudien, S. 415. *

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Diese Hinwendung zum Richter und damit zur Sanktionsentscheidung bzw. deren Vorbereitung wird schon durch die weitgehend gleiche berufliche Sozialisation von Staatsanwälten und Richtern präjudiziell und erleichtert. Die richterliche Tätigkeit ist dem Staatsanwalt vertrauter als die polizeiliche. Andererseits ist die staatsanwaltliche Vorbereitung richterlicher Sanktionsentscheidungen durch die juristische Qualifikation des Staatsanwalts gedeckt und damit auch in ihrer rechtlichen Bedeutung für den Richter brauchbar und arbeitsentlastend. Die gelungene Antizipation richterlicher Erledigungskriterien durch den Staatsanwalt erklärt die widerspruchslose Hinnahme selbständiger staatsanwaltlicher Verfahrenserledigung durch den Richter ebenso wie die Tatsache, daß es beim Antrag auf Erlaß eines Strafbefehls meistens nicht zu Konflikten zwischen Staatsanwalt und Richter kommt. 40 Während des Hauptverfahrens verläuft das Verhältnis von Staatsanwalt und Richter nicht ganz so reibungslos und konfliktfrei wie beim Antrag auf Erlaß eines Strafbefehls oder während des Ermittlungsverfahrens. Dies scheint einer jeden „Mindest-Drei-Ämter-Struktur" immanent zu sein. 41 Konfliktpunkte ergeben sich hier vor allem daraus, daß häufig die Entscheidungssituation des Staatsanwalts durch den Gegensatz von Beweisnot einerseits und Strafanspruch andererseits gekennzeichnet ist. Der Staatsanwalt neigt dazu, aufgrund normativer Kriterien diesen Gegensatz in Richtung auf die Durchsetzung des Strafanspruchs zu lösen. Er neigt dazu, sich über bestehende Beweisschwierigkeiten hinwegzusetzen und gemäß seinem justiziellen, normativen Verständnis ein Verfahren wegen seines Schuld- und Unrechtsgehalts zur Anklage zu bringen, obwohl die Verurteilung in der Hauptverhandlung keineswegs wahrscheinlich ist. Für den Richter in der Hauptverhandlung ist aber nicht der Strafanspruch, sondern die Beweislage wichtiger. Wenn Staatsanwalt und Gericht der Beweislage bzw. dem Strafanspruch nicht die gleiche Bedeutung zumessen, dann wird meistens der Staatsanwalt durch die gerichtliche Entscheidung im Hauptverfahren korrigiert. Der Staatsanwalt kann somit entgegen der Beweislage Verfahren zur Anklage bringen. Im Hauptverfahren steht der Richter unter anderen Entscheidungsprämissen. Ein zweiter Konfliktpunkt ergibt sich daraus, daß der Staatsanwalt weitgehend nach Aktenlage entscheidet, während die anderen beiden Instanzen — Polizei und Gericht — aufgrund direkter Interaktion mit den Verfahrensbeteiligten ihre Tatbestandsdefinitionen und Sachverhaltsbeurteilungen vornehmen. Die polizeiliche Beweisbeurteilung ähnelt der gerichtlichen mehr als der staatsanwaltlichen. Die Polizei arbeitet in erster Linie beweisorientiert und richtet sich bei der Beurteilung ihres Ermittlungsergebnisses vornehmlich nach den vorhandenen und institutionell gesicherten Fakten. Der Staatsanwalt entscheidet hingegen eher anklage- bzw. sanktionsorientiert und beurteilt deshalb die VerurteilungsWahrscheinlichkeit eines Verfahrens überwiegend nach normativen Kriterien, die er 40 Blankenburg u. a. (Fn. 33), S. 244 f., 247. Vgl. hierzu: Geiger, Vorstudien, S. 289. 41 Schelsky (Fn. 2), S. 36.

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dem institutionellen Erfahrungsgut, den gesetzlichen Entscheidungsprogrammen und seinen Alltagstheorien entnimmt. In dem Maße, in dem das Gericht bei der Beurteilung von Beweislage und Strafanspruch anderen Maßstäben folgt als der Staatsanwalt, ist anzunehmen, daß damit die polizeiliche Beweisbeurteilung näher als die staatsanwaltliche an der des Gerichts ist. 42 Weitere Konfliktmöglichkeiten ergeben sich aus der Rollentrennung zwischen Staatsanwalt und Richter während des Hauptverfahrens. Diese Rollentrennung ermöglicht die Entstehung eines Handlungssystems, das die Grundlage für die konkrete Entscheidungsfindung bietet. Die Rolle des Staatsanwalts als Vertreter der Anklage in der Hauptverhandlung ist zwar nicht die treibende Kraft des Verfahrens, sie wirkt aber anregend und kontrollierend, indem sie das Instanzen- und Rollenspiel mitgestaltet. Durch die Funktionen der Anklagevertretung und des Schlußvortrages sieht sich der Staatsanwalt in der Rolle desjenigen, der eine Verurteilung erreichen will und deswegen häufig entgegen der Beweislage anklagen muß. Die Spielmöglichkeiten hängen konkret auch davon ab, ob der Staatsanwalt bei der Sitzungsvertretung von ihm oder von anderen Staatsanwälten bearbeitete Verfahren anklagt. Die Sitzungsvertreter in fremder Sache beeinflussen den Entscheidungsprozeß anders und liegen mit ihren Anträgen meist näher am Urteil als Sitzungsvertreter in eigener Sache. Die Handlungsspielräume des Staatsanwalts lassen sich nicht aus den gesetzlichen Entscheidungsprogrammen ableiten. Sie sind vielmehr das Produkt der konkreten Ausgestaltung von Instanzen- und Rollenspielen, die ihre Regeln selbst entwicklen. Die Abweichungsmöglichkeiten zwischen Antrag und Urteil sowie die unterschiedliche Beweisschwierigkeit der Fälle sind beispielsweise Orientierungspunkte, die faktisch das staatsanwaltliche Handeln bedingen. Es steht in keinem Gesetzesprogramm, daß es sich bei der Anklageerhebung des Staatsanwalts bei ungesicherter Beweislage häufig um einen Versuchsballon handelt. Es ist nicht einmal den Akten eindeutig zu entnehmen, ob die Erhebung der öffentlichen Klage für den Staatsanwalt den Charakter eines „Versuchsballons" hat. Bei ungesicherter Beweislage scheint es jedoch der Staatsanwalt der Hauptverhandlung zu überlassen, die Beweislage zu klären. Solche Handlungsprämissen gehen auf die Regulierungsmechanismen konkreter Handlungssysteme zurück. Aushandlungsprozesse regulieren sich selbst und die regelnden Regeln auf der Grundlage „interkursiver Machtverhältnisse". 43 Außerdem wird deutlich, daß Aufgabe und Rolle der Staatsanwaltschaft im Strafverfahren nicht Widerspruchs- und konfliktfrei geregelt werden können. Das staatsanwaltliche Entscheidungshandeln sieht praktisch so aus, daß man es als Produkt von Widerspruchs- und Konfliktmöglichkeiten im Rahmen von Instanzen· und Rollenspielen bezeichnen kann. Gesetzliche Entscheidungsprogramme und Rechtswirklichkeit fallen auseinander mit der Konsequenz, daß von der Kenntnis des Gesetzestextes, d. h. von der Kenntnis der gesetzlich fixierten 42 Blankenburg u. a. (Fn. 33), S. 249, 256. 43 Ebd., S. 248 f., 260. Vgl. ferner Schelsky (Fn. 2), S. 47; Geiger, Vorstudien, S. 343.

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materiell- und prozeßrechtlichen Vorschriften allein die tatsächlichen Verfahrensspiele nicht zu verstehen und zu beschreiben sind. Die Gesetzestexte stellen nur einen kleinen Teil der Entscheidungsregeln dar, die die praktische Entscheidungstätigkeit beeinflussen und bedingen. Die Staatsanwaltschaft ist ζ. B. als Ermittlungsinstanz nicht nur gesetzlich gebunden, sondern zugleich und vor allem durch andere Fakten bestimmt. Der Anlaß und die Richtung der staatsanwaltlichen Ermittlungstätigkeit lassen die Erledigungsentscheidungen von den Darstellungsbeiträgen und Interessen der anderen am Ermittlungsverfahren beteiligten Instanzen und Rollen abhängig werden. Wichtig sind hierbei das Aufklärungsergebnis der Polizei, das Interesse des Geschädigten an der Strafverfolgung, die Aufklärungsbeiträge desselben und die Aussagebereitschaft von Zeugen und Tatverdächtigen. In dem Maße, in dem die Staatsanwaltschaft Ermittlungsabstinenz übt, wird ihre konkrete Erledigungsentscheidung fremdbestimmt. Die Arbeitsteilung zwischen Polizei und Staatsanwaltschaft, zwischen Ermittlung und Erledigung, scheint eine zwangsläufige Voraussetzung eines Entscheidungsprozesses zu sein, der Machtressourcen und Möglichkeiten der Informationsgewinnung ökonomisch auf mehrere Instanzen verteilen muß. Das Entscheidungshandeln der Staatsanwaltschaft als Selektionsinstanz wird ebenfalls nur zum Teil durch formelle Gesetzesprogramme bestimmt. Die Selektion von Taten uiid Tatverdächtigen wird vor allem durch informale Entscheidungsregeln bestimmt, die auf organisationsspezifische, deliktspezifische, täterspezifische Handlungsbedingungen zurückzuführen sind. Solche Handlungsbedingungen stehen nicht von vornherein fest. Sie sind das Produkt des jeweils konkreten und zu entdeckenden Handlungssystems, das sich aufgrund eines juristischen Spiels zwischen konkreten Instanzen und Rollen ergibt. So stellt sich heraus, daß bei großen Staatsanwaltschaften seltener angeklagt wird als bei kleinen Staatsanwaltschaften. Dies bedeutet, daß schon aus organisationstheoretischer Sicht — abgesehen von Interorganisationsbeziehungen — die Tatverdächtigen regional unterschiedliche Chancen haben, für vergleichbare Taten verurteilt zu werden. Die Variationsmöglichkeiten werden noch dadurch erweitert, daß verschiedene tatbestandliche Konstruktionen des zur Erledigung anstehenden Delikts denkbar sind. Die Aufklärungs- und Nachweisbarkeitschancen sind von deliktspezifischen Ausgangssituationen abhängig und gehen auf polizeiliche Selektionsleistungen zurück. Damit hat der Staatsanwalt am Zustandekommen der spezifischen entscheidungsrelevanten Kriterien seiner Erledigungspraxis nur einen relativ geringen Anteil. Die Erledigungskriterien sind ihm zum Zeitpunkt seiner Einschaltung zum Teil durch die Tätigkeit anderer Instanzen vorgegeben. Dies bedeutet aber nicht, daß die Entscheidungskriterien unveränderbar einfach vorliegen, so daß man sie nur noch zu erkennen bräuchte. Die staatsanwaltliche Erledigungsentscheidung wird durch pragmatische und normative Handlungs- und Entscheidungsbedingungen bestimmt, die im jeweils konkreten Handlungssystem konstruiert und rekonstruiert werden. Sie betreffen sowohl die Beweislage als auch den Strafanspruch.

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Die Entscheidungsregeln, die die Definition der Beweislage programmierten, stehen von vornherein nicht fest und lassen sich nicht auf die Handlungsbedingungen einer einzigen Instanz zurückführen. Die Definition der Beweislage und damit die Begründung der Verfolgbarkeit orientiert sich an dem Sachstand, der von Polizei, Opfern und Tatverdächtigen vorstrukturiert ist. Sie orientiert sich sowohl an den institutionell gegebenen Voraussetzungen der Feststellung eines konkreten Tatverdächtigen, als auch an seiner konkreten Geständnisbereitschaft, seinen Machtressourcen, seiner Vertretung durch einen Rechtsanwalt und dem polizeilichen Aufklärungsergebnis. Die Begründung des Strafanspruchs und damit der Verfolgungswürdigkeit orientiert sich an Variablen, die die Erledigungsentscheidung erheblich beeinflussen. Es handelt sich um Variablen wie Deliktschwere, Tatgenossenschaft, Schadenshöhe, Delikthäufigkeit und Vorbelastung des Tatverdächtigen. 44 Die Delikthäufigkeit trägt beispielsweise dazu bei, daß die Einstellungen wegen Beweisschwierigkeiten sinken. Die Vorbelastung des Tatverdächtigen erweist sich als ein entscheidendes Kriterium für den Verlauf der Strafverfolgung. Sie trägt dazu bei, daß sowohl die Einstellungen wegen Geringfügigkeit als auch die wegen Beweisschwierigkeiten sinken. Die Vorstrafe wird somit nicht nur für die Konstruktion der Verfolgungswürdigkeit, sondern auch für die der Verfolgbarkeit verwendet. Dies alles deutet darauf hin, daß der Staatsanwalt nicht deliktsneutral, anhand eindeutig normativer oder kognitiver Entscheidungserwartungen über Einstellung oder Sanktionierung entscheidet. Er entscheidet vielmehr kriminalpolitisch orientiert. Sein institutionell bedingtes Interesse an der Verfolgung einer Straftat hat Konsequenzen für die Konstruktion der Verfolgbarkeit. Der Strafanspruch beeinflußt die Beurteilung der Beweislage. Verfolgungswürdige Verfahren werden somit letztlich unter dem Gesichtspunkt des Strafanspruchs und weniger unter dem der Beweislage staatsanwaltlich beurteilt. 45 Die staatsanwaltliche Erledigungsentscheidung kann nur im Rahmen eines konkreten Handlungssystems getroffen werden, das eine „zumindest Drei-ÄmterStruktur" im Sinne Schelskys aufweist. Dieses System konstituiert die Entscheidungsbedingungen und Erledigungskriterien, aufgrund derer die staatsanwaltlichen Erledigungsentscheidungen als ein arbeitsteiliger Prozeß produziert werden. Damit ein Staatsanwalt eine Entscheidung trifft, muß eine Vielfalt anderer Instanzen mitwirken. Die Selektion von Taten und Tatverdächtigen, die tatbestandlichen Konstruktionen der Delikte und die Sachverhaltsbeurteilungen sind das Produkt eines konkreten Handlungssystems (oder mehrerer Handlungssysteme), das die Beziehungsmöglichkeiten zwischen Polizei, Wahl- oder Pflichtverteidiger und Richter strukturiert.

44 Blankenburg u. a. (Fn. 33), S. 25 ff., 143 ff. 45 Ebd., S. 313.

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2. Entscheidungsprogrammierung

in Gerichtsverfahren

Im Falle der Kommunikation vor Gericht haben wir es mit einer Verschachtelung von verschiedenen sozialen Systemen zu tun. Die Verbindlichkeits- und normativen Erwartungskalküle der Verfahrensbeteiligten beziehen sich nicht nur auf die formalen Verfahrensregeln, sondern auch — und vor allem — auf Verhaltensmöglichkeiten, die mit den „interkursiven Machtverhältnissen" im konkreten Kommunikationssystem zusammenhängen. Die formalen und offiziellen Verfahrensregeln haben die Funktion von „primären Machtfaktoren". Die institutionsabhängigen und eingespielten Verhaltensregelmäßigkeiten fungieren aber als „fait accompli", als „sekundäre Machtfaktoren", an welchen sich die Entscheidungsprozesse wirklich orientieren. 46 Diese Erkenntnis Geigers, daß die primäre Regel- und Machtsteuerung durch sekundäre Gleichgewichte und Steuerungsmöglichkeiten überlagert wird, läßt sich in der konkreten Gestaltung der Kommunikation vor Gericht nachweisen. Die juristischen Entscheidungen sind in ein Gefüge von Kommunikationen eingebettet, die auf verschiedenen Systemebenen erfolgen. Es gibt Interorganisationsbeziehungen, Beziehungen zwischen verschiedenen Organisationssegmenten und Interaktionsprozesse. Dies alles ist seinerseits in das Gesellschaftssystem eingebettet. Entscheidend ist, daß jedes kommunikative Ereignis, das vor Gericht Relevanz haben soll, gleich auf welcher Systemebene, durch das Nadelöhr der Interaktion muß. Die Interaktionsprozesse vor Gericht können dann hinreichend verstanden werden, wenn die kommunikativen Asymmetrien in den Interaktionssystemen vor dem Hintergrund kommunikativer Bedingungen gesehen werden, die auf Organisations-, Interorganisations- und Gesellschaftsebene entstehen. Diese Strukturvorgaben machen es verständlich, wie institutionelle Prozeduren eine eigene Dynamik von Entscheidungsformen entfalten können, die sich jenseits der konkreten Einfluß- und Handlungsmöglichkeiten individueller Akteure im Rahmen von Interaktionssystemen vor Gericht befinden. Damit soll nicht gesagt sein, daß die Realisierungs- und Interaktionsebene nicht auch bestimmt sei durch die Beiträge der individuellen Rolleninhaber im Verfahren. Die Interaktionssysteme vermögen sogar manches hervorzubringen, was zwar im institutionellen Rahmen zu bleiben scheint, was aber dem offiziellen Verfahrensprogramm nicht oder nur teilweise entspricht. Die Pluralität der Rollenmöglichkeiten und der Beteiligten im Verfahren bringt eine Pluralität der Perspektiven mit sich, die durch eine Vielfalt der kommunikativen Themenbezogenheit noch erheblich erweitert wird. Die Schwerpunkte der thematischen Kommunikationszentrierung sind nicht bloß die Sachverhaltskonstitution und die Selektion von entscheidungsprogrammierenden Normen. Diese Themen sind zu allgemein. Sie werden im Laufe der Interaktionsprozesse zerlegt und durch andere Probleme ersetzt, deren Lösung am schnellsten zur Entscheidungsfähigkeit und zur Lösbarkeit sekundärer 46

Geiger, Vorstudien, S. 341 f.

II. Programmierung und normative Entscheidungskonditionierung

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und tertiärer Probleme führt. So kann man sich in der Interaktion damit befassen, die eigene Sachverhaltsbeurteilung durchzusetzen, über konkrete Ausführung und Modalitäten künftiger Handlungen verdeckt oder offen zu verhandeln, das Thema anzuschneiden, ob bestimmte anzuwendende Normen im vorliegenden Zusammenhang sinnvoll sind oder nicht. Die Interaktionspartner können einander Einigkeit über die Interaktionsziele und die einzusetzenden Mittel unterstellen oder auch nicht. Interaktionen können somit hinsichtlich ihres Verlaufs durch verschiedene Interaktionsmodi gekennzeichnet sein. Sie können kooperativ, kompetitiv, inkonvenient (keine unterstellte Einigkeit über die einzusetzenden Mittel) oder antagonistisch sein. 47 Wie man die Interaktionsmodi auch nennt, es kommt darauf an, daß sich in der Praxis der Interaktionsmodus im Laufe des Vollzugs verändern kann. Die Interaktionen gestalten sich als ein Zusammen- und Gegenspiel, das unter verschiedenen Verfahrensbeteiligten stattfindet. Da nicht alle Interaktionspartner über gemeinsame Interaktionspraxis verfügen, sind unterschiedliche Einschätzungen des Interaktionsmodus zu erwarten, die nicht immer zum Gegenstand von Metakommunikation werden. Die Ziele, die man im Gerichtsverfahren verfolgen kann, lassen sich nur in Interaktionssystemen verfolgen. Jeder der Verfahrensbeteiligten kann seine eigene Strategie haben. Mit dem Strategiebegriff kann dem Umstand Rechnung getragen werden, daß Ausgangspläne der Verfahrensbeteiligten in der Ausführung, die den kooperativen Gebrauch von institutionellen Handlungsmustern impliziert, modifiziert werden. Die Ausführungsbedingungen führen eine Veränderung des Ausgangsplans dadurch herbei, daß sich die Verfahrensbeteiligten genötigt sehen, den Ausgangsplan bei der Programmierung des jeweils nächsten Ausführungsaktes in einen Unterplan zu modifizieren. Solche Strategien können verdeckt oder offen sein. Verdeckte Strategien liegen vor, wenn der Interaktionspartner nicht weiß, welche Ziele sein Gegenspieler verfolgt. In diesem Fall wird mit Unterstellungen gearbeitet. A nimmt an, daß Β nicht weiß oder weiß, daß A das Ziel Ζ verfolgt. Wenn nötig, kann das Unterstellen reflexiv werden. Man orientiert sich dann an unterstellten Unterstellungen. Strategien operieren über Handlungsmuster, d. h. über etablierte Erwartungen, die an den institutionellen Zusammenhang des Gerichts gebunden sind. So sind im Strafverfahren bestimmte Bedingungen generell für das globale Handlungsmuster der Aussage vorgegeben. Diese determinieren aber nicht direkt das Verhalten des Angeklagten. Das allgemeine Handlungsmuster wird in den konkreten Interaktionssystemen in Strategien und Muster niederer Stufe zerlegt, die die Thematik in Probleme zweiten oder dritten Grades und in Teilhandlungen auflösen. Der Angeklagte hat die Möglichkeit, den Anklagesachverhalt einfach zu bestreiten. Er kann außerdem in einer komplexen Gesamthandlung des Erzählens — alternativ zur Anklage — einen anderen Sachverhalt behaupten und in einem Kommentar seine Unschuld zum Ausdruck bringen. Damit verfolgt er eine Strategie des 47

Ludger Hoffmann, Kommunikation vor Gericht, Tübingen 1983, S. 14.

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Leugnens, die sich aber als Ausgangsplan im Gesamtrahmen der Aussage und der damit zusammenhängenden Verpflichtungen modifizieren läßt. Unter dem Druck der Vernehmung kann er etwa seine Strategie im Vollzug ändern und mittels der Behauptung des Anklagesachverhalts nunmehr eine Strategie des Gestehens verfolgen. Von der Kenntnis der offiziellen Verfahrensprogramme (StPO, StGB, Kommentare) kann man auf die konkrete Interaktionsgestaltung und Entscheidungsprogrammierung nicht schließen. Die Rechtsanwendung ist als dynamischer Prozeß zu sehen, der sich auf eine arbeitsteilige Sachverhaltskonstitution und Tatbestandskonstruktion erstreckt. Der einfache Syllogismus des modus barbara gibt die wirkliche Struktur der rechtsanwendenen Prozesse nicht wieder, weil er die soziale Komplexität des Vorgangs der Subsumtion unterschätzt und die Pluralität der Entscheidungsträger übersieht. In der Praxis der verschiedenen juristischen Berufsrollen kommt es vor allem bei der Auffindung der konkreten Entscheidungsprämissen und Handlungsbedingungen zu Schwierigkeiten. Die Frage ist gerade, wie man zur Konstruktion bzw. Rekonstruktion von Sachverhalten gelangt, welche beruflichen Routineprogramme man dabei berücksichtigt und wie man im Dickicht der Perspektivenpluralität klarkommt. Auf einer rein symbolischen Ebene ist Rechtsanwendung darauf angewiesen, daß im Bereich der Sachverhalte einerseits geklärt ist, was als wahr oder falsch gelten kann, und daß andererseits keine Zweifel darüber bestehen, wie der von der normsetzenden und / oder normkontrollierenden Instanz beschriebene Sachverhalt zu verstehen ist. In Wirklichkeit ist weder die Tatsachenfrage noch die Tatbestandsfrage klar. Die Fakten können nur unter Berücksichtigung der anzuwendenden Norm und der Tatbestand nur unter Berücksichtigung der Fakten verstanden und überhaupt erst ausfindig gemacht werden. Die Rechtsanwendung ist ein komplexer Entscheidungsprozeß, der aus verschiedenen Etappen und verschiedenen aneinandergeketteten Einzelentscheidungen verschiedener Entscheidungsträger besteht. In diesem Prozeß gehen als Entscheidungsbedingungen nicht nur die offiziellen, gesetzlich festgelegten Verfahrensprogramme und die juristisch dogmatischen Interpretationen ein. Die Sachverhaltsrekonstruktionen erfolgen vielmehr unter Berücksichtigung der alltagsweltlich und systemspezifisch etablierten Erwartungszusammenhänge, die als Regelsuppositionen in die Rechtsanwendung Eingang finden. Hinzu kommt, daß die Verfahrensbeteiligten unter Aufbietung ihrer praktischen Erfahrung aufgrund strategischer Erwägungen den Entscheidungsprozeß zu ihren Gunsten zu beeinflussen suchen. Die individuelle Strategieentwicklung erfolgt auf der Folie institutioneller Zwecke und ist von großer Bedeutung. Dies alles weist darauf hin, daß man sich in den Interaktionssystemen vor Gericht zwar auf das offizielle Verfahrensprogramm beruft. Letzteres stellt jedoch einen Teil der normativen Orientierungspunkte dar, der nicht erklären kann, was wirklich passiert. Nach dem offiziellen Verfahrensprogramm ist z. B. der Angeklagte nicht verpflichtet, zur Sache auszusagen. Er kann sich für eine bestimmte Strategie entscheiden. Zweck der vom Gericht obligatorisch zu stellenden „Kooperationsfrage" ist es, die konkrete Entscheidung des Angeklagten abzurufen,

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diese feststellen und protokollieren zu lassen.48 Die strategische Bedeutung von Kooperationsfragen geht über die Exekution des Verfahrensprogramms hinaus. Bei positivem Bescheid schaffen sie eine erste Festlegung für den Angeklagten, die situationsgemäße Zugzwänge mit sich bringt. Das Verfahrensprogramm schreibt zwar die Belehrung, d. h. den Abbau möglicher Informationsdefizite beim Angeklagten vor. In der Praxis besteht jedoch eine enge Verbindung zwischen Verfahrensprogramm, das die Belehrung vorschreibt, und Kooperationsfrage, die auch daran deutlich wird, daß manchmal nur die Kooperationsfrage erscheint. Es ist fraglich, ob die Kooperationsfrage den Zweck des Belehrens erfüllt. Sie informiert nicht über die aktuellen Handlungsmöglichkeiten im Verfahren, sondern sie läßt sich leicht als institutionelle Aufforderung mißverstehen, jetzt gleich auf die Anklage einzugehen. Sie schränkt somit die strategischen Möglichkeiten des Angeklagten ein. Es ist nicht leicht, das eingegangene Kooperationsverhältnis aufzukündigen. Im Verfahren kann man nicht beliebig auf bereits abgehandelte Punkte zurückgehen, ohne dabei Schaden zu nehmen. Die übernommene Verpflichtung zur Aussage stellt eine institutionelle Situationsdefinition dar, die für den Angeklagten riskant ist. Die Grundlagen der Kommunikation, in die das Vorkommen der Kooperationsfragen eingebettet ist, können nicht einfach unterstellt werden, sondern sie sind stets neu zu klären. Andererseits führt die Weigerung des Angeklagten, Stellung zu nehmen, für die professionellen Akteure die Notwendigkeit herbei, die Situation neu zu definieren und dazu auf das sonst nur an Nahtstellen wie der Belehrung thematisierte Verfahrensprogramm zurückzugehen. Die Verhandlung muß eventuell vertagt werden. Auf dem institutionellen Hintergrund, daß polizeiliche oder staatsanwaltliche Protokolle nicht zu verlesen sind und daß eine Verlesung als Urkundenbeweis nur dann vorgenommen werden darf, wenn es sich um ein Geständnis handelt, wird es verständlich, daß die Verweigerung Zeitverlust und höheren Arbeitsaufwand mit sich bringt. Zeugen müssen geladen werden, und es ist mit einer längeren und komplexeren Verhandlung zu rechnen. Da sich Gerichte grundsätzlich als überlastet ansehen, versuchen sie an bestimmten Stellen, die außerhalb des bürokratischen Handlungsraumes angesiedelt sind, Zeit und Aufwand zu sparen. Das Kommunikationsmuster ist nicht das einer — selbst im Alltag weniger häufigen kooperativen Argumentation mit „open end-Format". 49 Von grundsätzlicher Bedeutung sind Zugzwänge, die durch das Ökonomieprinzip und die Machtstrukturen des konkreten Interaktionssystems bedingt sind und auf eine Entscheidung im vorgegebenen zeitlichen Rahmen zielen. Dem Angeklagten, der um die Ökonomiestrategie des Gerichts nichts zu wissen braucht, kann der Richter mit einem institutionellen Argument kommen, das als Machtausübung zu verstehen ist. Er stellt ihm als Konsequenz seiner Entscheidung einen persönlichen Schaden vor Augen, der im weiteren Verfahrensablauf nicht zu vermeiden sein wird. Sein Machtverhalten beruht darauf, daß er gegenüber der offiziell gegebenen Erwar48 Ebd., S. 60 ff. 49 Ebd., S. 77.

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tungslage im Verfahren eine ungünstigere Alternativenkombination konstruiert, die der Angeklagte besser vermeiden würde. Er konstruiert Möglichkeiten, deren Verwirklichung im weiteren Verfahrensablauf nur dann vermieden werden können, wenn der Angeklagte die Aussage nicht verweigert. 50 Der Richter beruft sich auf die stillschweigenden Regeln seines Berufs und auf sein praktischstrategisches Wissen, um seine Kontrollmöglichkeiten über die Ungewißheitszonen im Verfahren ins Spiel zu bringen. Die zu vermeidende Handlungsalternative kann so negativ bewertet werden, daß sie die Wirkung einer Drohung entfaltet und zur Übertragung von Selektionsleistungen vom Richter auf den Angeklagten führen kann. Eine Klärung der Sache ist — so kann dem Angeklagten angedeutet werden — unumgänglich und mit Unterstützung durch Zeugen möglich. Wenn er sich zur Sache nicht äußert, wird die mit höherem Aufwand erreichte Beweislage wahrscheinlich ungünstig sein. Trotz der Tatsache, daß der Bundesgerichtshof bestimmt hat, daß aus einer Aussageverweigerung keine für den Angeklagten nachteiligen Schlüsse gezogen werden dürfen, ist eine solche Strategie seitens des Angeklagten in der Institution wenig beliebt und kann auch auf Gegenstrategien der Machtausübung treffen. 51 Eine Aussageverweigerung erhöht den Aufwand für die Stützung der Anklage durch Zeugen, Gutachter und sonstige Beweismittel. Nicht zuletzt aber deshalb kann es dem Angeklagten als strategischer Vorteil erscheinen, daß das Gericht momentan auf ihn angewiesen ist. Die These, die man den obigen empirisch nachgewiesenen Ausführungen entnehmen kann, ist, daß das kodifizierte offizielle Verfahrensprogramm keine Regeln zum Inhalt hat, die bestimmte Handlungen vorschreiben oder verbieten. Es werden nicht Verhaltensweisen kodifiziert, sondern Spiele, die in der Praxis entstehen und nicht a priori festgelegt werden können. Ausgehend von den Verhaltensweisen und den bestimmten Machtstrategien der Praxis kann man wohl herausfinden, auf welche Regeln des offiziellen Verfahrensprogramms sich das konkrete Verhalten der Verfahrensbeteiligten bezieht. Umgekehrt scheint es aber unmöglich zu sein, von der Kenntnis des Verfahrensprogramms auf das konkrete Verhalten zu schließen. Dies läßt sich noch sehr deutlich am Beispiel der verdeckten Aushandlungsprozesse im Strafbefehls- und Bußgeldverfahren zeigen. Mit verdeckten Aushandlungsprozessen ist nicht die Möglichkeit gemeint, im Vorfeld einer Verhandlung eine Einstellung des Verfahrens durch die Übernahme von Wiedergutmachungsleistungen oder die Erledigung von Vergehensfällen durch einen Strafbefehl auszuhandeln. Es geht nicht darum, was sich zwischen Verteidiger und Staatsanwalt im Vorfeld einer Hauptverhandlung abspielen kann. Es geht um Aushandlungsprozesse mit Verfahrensbeteiligten in der Verhandlung. Im Falle eines Einspruchs gegen einen Bußgeldbescheid oder Strafbefehl kommt es nach Überprüfung durch die zuständigen Behörden zu einer Hauptverhandlung, in der wie üblich vernommen und Beweis erhoben wird. 5 2 Stellt sich nun im so Vgl. Niklas Luhmann, Macht, Stuttgart 1975, S. 22 f. 5i Hoffmann (Fn. 47), S. 77.

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Laufe der Verhandlung heraus, daß der Einspruch unbegründet war, also keine Chance auf eine Einstellung des Verfahrens, einen Freispruch oder eine mildere Strafe besteht, so kann sich ein Aushandlungsprozeß ergeben, an dessen Ende der Betroffene von seiner rechtlichen Möglichkeit Gebrauch macht, seinen Einspruch noch vor der Urteilsverkündung zurückzunehmen. Im Falle einer Rücknahme ist ein Urteil nicht mehr zu erstellen und zu begründen. Ein solches Urteil kann härter ausfallen als die ursprünglich verhängte Strafe. Der Angeklagte und der Vorsitzende verfolgen in einer Aushandlungskonstellation unterschiedliche Ziele. Sie können unabhängig voneinander, d. h. ohne Kooperation mit dem Gegenspieler, einen negativ bewerteten Zustand nicht verhindern bzw. einen positiv bewerteten Zustand nicht erreichen. Die institutionell vorgegebenen Handlungsmöglichkeiten, die die Verfahrensbeteiligten als verhältnismäßig positiv oder negativ bewerten mögen, sind wie folgt: Freispruch, Einstellung des Verfahrens, Rücknahme des Einspruchs, Verhängung einer dem Strafmaß des Strafbefehls oder Bußgeldbescheids entsprechenden Strafe durch ein Urteil, Urteilserstellung und Begründung, Verhängung einer härteren Strafe, Verhängung einer milderen Strafe. Diese Möglichkeiten stellen eine Präferenzskala dar, die in drei Bereiche zerlegt werden kann: in einen Gewinn-, einen Verlust- und einen Kompromißbereich. Es müssen nicht alle Bewertungen der Skala offengelegt werden oder bekannt sein. So bleibt beispielsweise dem Angeklagten die negative Bewertung der Möglichkeit einer Urteilserstellung und Urteilsbegründung durch den Vorsitzenden in der Regel unbekannt. Zum Aushandlungsbereich gehören alle Lösungsmöglichkeiten. Unter dem Aspekt, daß die Rücknahme des Einspruchs für das Gericht unter positive Bewertung fällt, da mit dieser Lösungsmöglichkeit den institutionellen Zwecken mit einem minimalem Aufwand entsprochen wird, ergibt sich für den Angeklagten eine Drohmöglichkeit, die seine Position im Machtspiel stärkt: der Abbruch des Aushandlungsdiskurses. Das Machtspiel ist in einen Kommunikationszusammenhang innerhalb des Verfahrens eingebettet, der die Ausgangskonstellation asymmetrisch strukturiert. Die Beziehung der Beteiligten zu ihren jeweiligen Vermeidungsalternativen ist unterschiedlich strukturiert. Der Angeklagte möchte seine alternative Vergleichsweise eher vermeiden als der Vorsitzende. Für den Angeklagten fallen die beiden Alternativen der Rücknahme des Einspruchs und der Verhängung einer dem Strafmaß des Strafbefehls oder Bußgeldbescheids entsprechenden Stufe durch ein Urteil unter bloß negative Bewertung. Die Lösungsmöglichkeit der Verhängung einer härteren Strafe wird vom Angeklagten als maximal negativ bewertet. Sie stellt eine zu vermeidende Alternative dar, die der Angeklagte vergleichsweise eher vermeiden möchte als der Vorsitzende seine eigene Vermeidungsalternative. Der Abstand zwischen dem am positivsten und dem am negativsten bewerteten Ausgang ist für den Vorsitzenden am geringsten. Er kann also am wenigsten verlieren, wenn seine Vermeidungsalternative, d. h. die Nichtrücknahme des Einspruchs und der mit der Urteilserstellung verbundene erhöhte Aufwand verwirklicht wird. 52 Ebd., S. 212 ff.

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Diese Relation zwischen den Beziehungen der Beteiligten zu ihren Vermeidungsalternativen ist von vornherein nicht erkennbar. 53 Der Angeklagte weiß kaum etwas über den institutionellen Gewinn- und Verlustbereich. Er kann zwar aus dem Verhalten des Vorsitzenden Schlüsse ziehen, wird aber die Konstellation meist nur als einseitige Bedrohung erleben. Der Vorsitzende initiiert den Aushandlungsprozeß, er legt seine Handlungsmöglichkeiten bzw. die Folgen für den Angeklagten offen, er überläßt ihm damit die Entscheidung gemäß seinen Präferenzen, aber er läßt die Bewertungen des Gerichts im dunkeln. Das Ergebnis ist, daß die eigenen Handlungsmöglichkeiten dem Angeklagten in ihren Konsequenzen nicht klar sind. Dieser ist über die Bewertungen und Ziele des Vorsitzenden nicht vollständig informiert und muß mit Hypothesen operieren. Die Hypothesen werden im Laufe des Verhandlungsprozesses verändert. Die Verhandlung kann mit hohen Forderungen begonnen werden, an deren Realisierung die Beteiligten selbst nicht glauben. Sie bewahren sich aber damit einen Verhandlungsspielraum, der ihnen erlaubt, die noch unbekannten Verhaltensweisen des Gegenspielers abzutasten. Aus den Reaktionen des Beteiligten ziehen sie Schlüsse über dessen Anspruchsniveau bzw. dessen Gewinnerwartungen und richten das eigene Konzeptionsverhalten danach aus, indem sie ihren Ausgangsplan im Vollzug modifizieren und die Prämissen ihres Handelns ändern. 54 Die Strategieentwicklung hängt von den Machtressourcen, die in concreto mobilisiert werden, und von den Ungewißheitsquellen und Ungewißheitszonen, die im Laufe des Verfahrens entstehen und kontrolliert werden, ab. Die Kontrolle über eine Ungewißheitszone kann als Trumpf ausgespielt werden. Man denke an den ungewissen Ausgang des Verfahrens. Nach dem Verfahrensprogramm darf das Urteil nicht vorweggenommen werden. Im Verhandlungsprozeß muß die Fiktion aufrechterhalten und faktisch inszeniert werden, daß die Phase der Urteilsfindung erst noch kommt, bevor das Urteil verkündet wird. Für den Vorsitzenden resultiert daraus die Schwierigkeit, seinen Machttrumpf auszuspielen, d. h. den Angeklagten über die gesetzlich bestimmte Verschlechterungsmöglichkeit zu informieren und somit die Möglichkeit der Verhängung einer härteren Strafe in den Aushandlungsprozeß einzuführen, ohne stabile Erwartungen über die Urteilsfindung beim Angeklagten aufbauen zu dürfen. Ohne den Aufbau solcher Erwartungen kann aber der Vorsitzende seine Machtressourcen nicht mobilisieren. Das Dilemma des Vorsitzenden sieht also wie folgt aus: Er darf das Urteil nicht vorwegnehmen, muß aber gewisse Erwartungen in dieser Richtung beim Angeklagten aufbauen, um die Rücknahme des Einspruchs zu bewirken. Eine Strategie des Drohens würde über das offizielle Verfahrensprogramm hinausgehen. Verdeckte Drohungen, die mit sprachlichen Elementen ausgedrückt werden, die konventionell in den Bereich der Äußerungsformen des Ratschlags gehören, liegen hart auf der Grenze. Eine Strategie des Mitteilens und Offenhaltens scheint die subtilste Form der Machtausübung in diesem Fall zu sein. Für den Angeklagten stellt sich die Frage, wie er bei seinem 53 Luhmann (Fn. 50), S. 22. 54 Hoffmann (Fn. 47), S. 215.

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geringen Informationsstand die Sanktionskompetenz des Vorsitzenden einschätzt. Von einem Verteidiger wird dann erwartet, daß er die Beeinflussung des Angeklagten in die gewünschte Richtung vornimmt, indem er etwa zu hoch gesteckte Hoffnungen auf das Urteil dämpft. Oft muß der Angeklagte alle Hoffnungen auf Freispruch oder Einstellung des Verfahrens begraben. Die Mitwirkung eines Verteidigers macht die Struktur des Aushandlungsprozesses komplexer. Seine Beteiligung mag einerseits gewisse Strategien des Vorsitzenden verhindern. Andererseits aber partizipiert der Verteidiger an institutionellen Kooperationssystemen, was ihn dazu veranlassen kann, aussichtslose Strategien nicht weiter zu verfolgen bzw. seinen Mandanten von der Sinnlosigkeit zu überzeugen. 55 Er sieht sich einem kooperativen Konformitätsdruck ausgesetzt. Wir wollen hier nicht behaupten, daß diese Machtspiele in ihrer konkreten Entscheidungsform verallgemeinerungsfähig sind. Nichtsdestotrotz gehen wir wohl nicht fehl in der Annahme, daß der Rechtsanwendungsprozeß vor Gericht auf einem Zusammenspiel von Verfahrensbeteiligten, Instanzen und Rollen beruht. Er beruht auf einem konkreten Kommunikations- und Handlungssystem, das seine Regeln und Erwartungsgrenzen jedesmal selbst produziert. Diese Regeln stehen nicht ex ante fest und können nicht aus dem offiziellen Verfahrensprogramm abgeleitet werden. Der Wissenschaftler ist ebenfalls als externer Beobachter nicht imstande, die Systemregeln analytisch vorwegzunehmen. Er kann sie nur in concreto jedesmal entdecken. Die Rechtsanwendung ist ein Kommunikations- und Handlungssystem, das aus Interaktionsprozessen, Organisationsbeziehungen und gesellschaftlichen Strukturvorgaben besteht. Dies ist keine Definition, sondern ein Versuch, auf die Fähigkeit dieses Systems hinzuweisen, Regelsetzungen und Regelbefolgungen zu produzieren, welche über die offiziellen Verfahrensprogramme hinausgehen. Die formalen Verfahrensvorschriften werden nur noch als strategische Punkte in Machtkämpfen benutzt, die die Beteiligten im Wettbewerb um die Kontrolle über Ungewißheitszonen gegen- und miteinander führen. Trotz der Gesetzesbindung, trotz der Verfahrensprogrammierung und trotz der „mindest Drei-Ämter-Struktur" ist die Rechtsanwendung — aus dem Beobachterstandpunkt heraus — ein immer ad hoc zu entdeckendes Kommunikationssystem; aus der Sicht des Akteurs ist sie ein Kommunikation produzierendes und zu „erhandelndes" Kommunikationssystem. Im Laufe der Aushandlungsprozesse, die in einer Verhandlung stattfinden können, orientieren sich die Beteiligten nicht an den Gesetzen, sondern an sekundären Bedingungsregeln, die sich aus den Machtspielen ergeben. 56 Der Bedingungssatz, der das Verhalten des Angeklagten im obigen Beispiel steuert, lautet: Wenn der Angeklagte seinen Einspruch nicht zurückzieht, muß er mit einer „im Vergleich zum Strafmaß des Strafbefehls" harten Strafe rechnen. Dieser Bedingungssatz steht nicht im Gesetz und auch nicht im Kommentar. Er ist das Produkt der konkreten Kommunikation vor einem 55 Ebd., S. 234. 56 Geiger, Vorstudien, S. 341, 343 f.

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bestimmten Gericht. Er stellt den Ausdruck von konkreten Machtverhältnissen dar, die bei einem anderen Fall im Rahmen eines anderen Verfahrens anders strukturiert wären, selbst wenn dieser zweite Fall juristisch ähnlich gelagert wäre. Wenn man diesen rechtstheoretischen Zugang wählt, ist es überhaupt nicht überraschend, daß es auch im Rahmen der Vernehmung des Zeugen zur Sache Raum für Aushandlungsprozesse gibt, obwohl der Zeuge laut offiziellem Verfahrensprogramm als bloßes Beweismittel gilt und an die Wahrheitsmaxime gebunden ist. Im Falle eines Zeugen, der versucht, den Angeklagten vom Vorwurf des gemeinsamen Haschischeinkaufs und Haschischkonsums zu entlasten, indem er seine frühere belastende Aussage gegenüber den Ermittlungsbehörden zurückzuziehen gedenkt, erfolgt die Sachverhaltskonstitution unter besonderen Bedingungen der Strategieentwicklung seitens der Verfahrensbeteiligten. Die Sachverhalte werden ungeachtet der Wahrheitsmaxime ausgehandelt.57 Die Ausgangskonstellation des verdeckten Aushandlungsprozesses läßt sich durch folgende institutionelle Problemlösungsmöglichkeiten beschreiben: Verurteilung wegen Meineids / falscher uneidlicher Aussage, Verurteilung wegen falscher Verdächtigung, Einleitung eines Folgeverfahrens, Verurteilung des Angeklagten, Straflosigkeit für den Zeugen, Freispruch für den Angeklagten, Bestätigung der ursprünglichen Aussage, Änderung der ursprünglichen Aussage. Aus der Sicht des Zeugen geht es darum, durch eine Änderung der ursprünglichen Aussage den Angeklagten zu entlasten und für ihn nach Möglichkeit einen Freispruch zu erreichen. Dahinter kann als Motiv Wahrheitsliebe, freundschaftliche Zuneigung für den Angeklagten oder Angst vor einer Verurteilung wegen Meineids stehen. Jedenfalls müßte für den, der sich um Wahrheit oder Freundschaft nicht kümmert, die Möglichkeit sich straflos aus der Affäre zu ziehen, eine attraktive Alternative darstellen. Aus der Sicht des Gerichts ist die Bestätigung der ursprünglichen Aussage der unproblematischste Fall. Wird die frühere Aussage beibehalten, so wird höchstwahrscheinlich der Angeklagte verurteilt, es kommt aber nicht mehr zur Einleitung eines Folgeverfahrens gegen den Zeugen. Im Falle einer Änderung der ursprünglichen Aussage wird der institutionelle Aufwand wegen des unvermeidlichen Folgeverfahrens in die Höhe getrieben. Der Zeuge müßte dann mit erheblichen Strafen rechnen. Kommen Staatsanwaltschaft und Gericht zu dem Ergebnis, daß sich der Zeuge mit seiner ursprünglichen Aussage der falschen Verdächtigung schuldig gemacht hat, so ist ebenfalls ein Folgeverfahren einzuleiten, das aber weniger schwere Sanktionen zur Folge haben könnte. Es hängt nun vom Aushandlungsprozeß ab, ob sich der Zeuge in die vom Vorsitzenden positiv bewertete Richtung bringen läßt. Die Sachverhaltskonstitution hängt davon ab, welche Wahrscheinlichkeit den verschiedenen Problemlösungen und Vermeidungsalternativen im konkreten Verfahren zukommt. Sie hängt nämlich von den Wahrscheinlichkeitskalkülen der Prozeßbeteiligten ab. Das Machtspiel scheint nicht zu funktionieren, solange der Zeuge an altruistischen Präferenzen festhält und 57 Hoffmann (Fn. 47), S. 351 ff.

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eine Verurteilung wegen Meineids bzw. falscher uneidlicher Aussage oder falscher Verdächtigung keinen allzu gravierenden Unterschied für ihn macht, solange nämlich die Vermeidungsalternative keine echte zu vermeidende Alternative ist. Auch in diesem Fall scheint der Hinweis auf die Ungewißheitsquelle des Prozeßausgangs und der Aufbau von Erwartungen hinsichtlich der Urteilsfindung beim Zeugen den wesentlichen Machtfaktor des Gerichts darzustellen. Wenn man verstehen will, was wirklich vorgeht, muß man das Kommunikations- und Handlungssystem zu erfassen versuchen, das sich um die Ungewißheitszonen und die Problemstellungen im Verfahrensablauf herumbildet. Es besteht aus einem Satz institutioneller Regelsetzungen und Regelbefolgungen sowie aus Möglichkeiten der Strategieentwicklung in Machtspielen, die das offizielle Verfahrensprogramm als bloßen normativen Orientierungspunkt benutzen. Das offizielle Verfahrensprogramm ist kein Rahmen, der das konkrete Verhalten programmiert. Im konkreten Kommunikationssystem wird ja dieser Rahmen geradezu gesprengt oder im Horizont der Möglichkeiten für den Aufbau von noch Undefinierten Erwartungen gerade noch paratgehalten. Das Instanzen- und Rollenspiel entfaltet eine eigene Dynamik von Erledigungsformen, die generell unvorhersehbare entscheidungsbedingende Einfluß- und Handlungsmöglichkeiten eröffnet. Wir wollen nicht behaupten, daß Aushandlungsdiskurse das Bild von Zeugenvernehmungen prägen. Jeder Fall der Zeugenvernehmung macht einen eigenwilligen Gebrauch von den institutionellen Erledigungsformen, er aktualisiert die Strukturgebrauchsmöglichkeiten und verändert sie zugleich. Die Tatsache, daß eine Erledigungsform nicht auf alle denkbaren und tatsächlich geschehenen Fälle angewandt wird, spricht nicht gegen, sondern für die systemtheoretische Betrachtungsweise, die dem Eigenrecht der Situation unter Berücksichtigung von Strukturgebrauch und Strukturveränderung gerecht zu werden sucht. Die Systembildung hängt von der konkreten Ausgangskonstellation ab. Sachverhalte sind sicherlich nicht immer das Produkt von verdeckten Aushandlungsprozessen. Jedenfalls kann man wohl sagen, daß die Sachverhaltskonstitution in einem Spannungsfeld erfolgt, das aus unterschiedlichen institutionellen Zugzwängen, Fallperspektiven, Wissens- und Erledigungsformen resultiert. 58 3. Ritualisierung

von Kommunikation in Gerichtsverfahren

Wenn man die Verfahrensmäßigkeit des Gerichtsverfahrens kennzeichnen will, muß man drei Arten von Regeln unterscheiden: die Regeln des formalen Verfahrensprogramms, die Organisationsregeln und die Regeln des informalen Verfahrensprogramms. Alle drei Regelarten müssen zusammenwirken, damit die Verfahrensmäßigkeit von den rechtlichen Entscheidungen entsteht.59 Die räumlichen und organisatorischen Gegebenheiten des Verfahrensablaufs hängen von Organiss Ebd., S. 359 f. 59 Erhard Blankenburg / Ralf Rogowksi / Siegfried Schönholz, Phänomene der Verrechtlichung, in: dies. (Hrsg.), Zur Soziologie des Arbeitsgerichtsverfahrens, Neuwied, Darmstadt 1979, S. 138-186, 144. 6 Gromitsaris

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sationsregeln und Organisationsstrukturen ab, die nicht notwendig prozeßrechtlich kodifiziert sind, aber durchaus innerhalb des Gerichts Geltung beanspruchen und angewandt werden. Der Geschäftsverteilungsplan spielt hierbei eine wichtige Rolle. Der Klagefall kann nach den Anfangsbuchstaben der Kläger oder Beklagtennamen oder aber auch nach Fachkammern zugeteilt werden. Wenn die Zuteilung nach Fachkammern erfolgt, können sich Hintergrundskenntnisse des Richters bezüglich seiner Branche im Verfahren auswirken. Wenn man von den Einschüchterungsmöglichkeiten durch die Raumgestaltung im Gerichtssaal und von der Imponierarchitektur des Gerichtsgebäudes absieht, kann das Gerichtsverfahren so ritualisiert werden, daß eine scheinbar im voraus festgelegte Handlungssequenz ohne innere Beteiligung der anwesenden Handelnden abläuft. Die Ritualisierung des Verfahrens macht sich besonders deutlich bemerkbar, wenn die im formellen Verfahrensprogramm festgelegten Vorschriften respektiert werden, obwohl sie für die Entscheidung des Prozesses bedeutungslos sind. So kann eine Gerichtsentscheidung am Schluß der Sitzung vor leerem Gerichtssaal verlesen werden, damit der formellen Entscheidungsverkündung Genüge getan wird. In der Regel ist es aber so, daß keine mündliche Verkündung erfolgt, sondern die Entscheidung den Parteien einige Tage nach dem Verhandlungstag schriftlich mitgeteilt wird. Häufig kann die Mitwirkung der Parteien so ritualisiert werden, daß das formale Verfahrensprogramm eingehalten wird, obwohl es dem Richter aus dem gezeigten Unverständnis der Parteien klar sein muß, daß ein unbegriffenes Ritual abläuft. Das Prinzip der Mündlichkeit kann ebenfalls rituell werden. Dies kommt häufig vor, wenn die Aktenlage nicht allen Verfahrensteilnehmern geläufig ist, wenn also ein Informationsgefälle hervortritt. Darüber hinaus führt die für die juristisch-dogmatische Begriffsarbeit unumgängliche Interessenabwägung zur Ritualisierung des Prozesses. Das Verfahren gestaltet sich nämlich gerade dann zum Ritual, wenn der Richter in der mündlichen Verhandlung seine vorgefaßte Meinung über die Interessenlage der Parteien zum Ausdruck bringt und sich dementsprechend einer suggestiven Fragestellung bedient. Die Vorüberlegungen des Richters betreffen nicht nur juristisch typisierte Interessenlagen, sondern auch alltagstheoretisch antizipierte Situationen und Konfliktsituationen. Die routinemäßige Behandlung und die hohe Zahl von Fällen, die als gleichgelagert gesetzt werden, haben eine Massenabfertigung zur Folge. Sie führen auch dazu, daß der Richter selten von seiner vorgefaßten Definition der Situation in der Interessenlage während der Verhandlung abweicht mit dem Ergebnis, daß er dazu neigt, nur noch mit dem gleichgeschulten Rechtsvertreter zu verhandeln, der ähnlich wenig von dem tatsächlichen Streit weiß wie der Richter. Die Partei wird in diesem Fall faktisch aus dem Ablauf des Verfahrens ausgeschaltet. Eine Meinungsäußerung entgegen den Vormeinungen und den Vorüberlegungen des Richters kann unter diesen Umständen nur noch bei „großer Widerspruchskompetenz des Gegenübers" erfolgen. Vorgefaßte Typisierung und Massenabfertigung der Fälle sind für den Neuling vor Gericht weder durchschaubar noch beeinflußbar, d. h., sie sind für ihn Ritualisierungen.

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Die Organisation der Kommunikation vor Gericht kann ebenfalls ein Grund für die Ritualisierungen der Kommunikation vor Gericht sein. Die Interaktion zwischen Richtern und Parteivertretern kann nämlich eigenwilligen Gesetzmäßigkeiten folgen. Es ist möglich, daß derselbe Richter es immer wieder mit den gleichen Rechtsvertretern zu tun hat, so daß die wechselnden Parteien sich einem eingespielten Ensemble von professionellen Akteuren gegenübersehen. In Arbeitsgerichtskammern, die auf Wirtschaftszweige spezialisiert sind, entsteht meistens ein enges Kontaktnetz, weil die verbandliche Rechtsvertretung beider Seiten nach diesem Prinzip organisiert ist. Die Stabilität der Autoritätsbeziehungen und die „familiäre Athmosphäre", die dadurch entstehen, führen zwar leichter zu Vergleichsverhandlungen. Eine solche Gerichtssaalorganisation schaltet jedoch die Parteien aus der Interaktion aus. Andererseits ist es auch möglich, daß die Personenkonstellationen in der Gerichtssaalorganisation ständig wechseln. Entsprechend können informale Verhaltenserwartungen schwieriger stabilisiert werden, weil sie für die jeweils neu hinzukommenden keinen Orientierungswert haben. Das Verfahren ist deswegen in gesteigertem Maße auf die formalisierten Wege des Rollenspiels angewiesen. Wie sich die Gerichtssaalorganisation im Einzelfall auch gestaltet, es ist festzustellen, daß die Parteien ausgeschaltet bleiben. Die Argumentenverkettung und die ganze Interaktion werden meistens unter dem Aspekt der möglichen Subsumtion und der Erfolgsaussichten eines Anspruchs gesehen. Argumente, die lediglich mit einem Stichwort oder mit einem Paragraphen ohne weitere Erläuterungen benannt werden, typisieren meistens nach Möglichkeit die fachsprachlich juristisch gefaßte Rechtsauffassung des Richters und stellen sich für die Parteien als rituell dar. Die verschiedenen Organisationsmöglichkeiten der Interaktionssysteme vor Gericht haben zur Folge, daß die an die Justiz alltags-weltlich oder beruflich-ideologisch herangetragenen Ziele durch die organisatorischen Gruppenziele der Gerichtssaalorganisation überlagert werden. Auf diese Weise ist das Ziel, der Gerechtigkeit Genüge zu tun, höchstens als eine institutionelle Leitidee aufzufassen, die unter Umständen zur Motivationsstruktur der Akteure beitragen könnte. Im Interaktionssystem des Gerichtsverfahrens vertritt die Partei die Außenperspektive des Neulings vor Gericht, der durch den Wunsch beseelt ist, das Kommunikationssystem „zum Tribunal dessen zu machen, worum es schließlich vor Gericht geht: um die Interessenauseinandersetzung zwischen den Parteien". 60 Die Interaktionsgesetzmäßigkeiten vor Gericht ergeben sich nicht aus der Addition des Rollenverhaltens. Das Gerichtsverfahren ist vielmehr als ein Kommunikationssystem zu begreifen, wo sich Beziehungen zu Kontaktsystemen verdichten können und wo die relevanten Verhaltensmuster nicht von den einzelnen Rollen der Auftretenden alleine bestimmt, sondern diese immer wieder durch ein Zusammenspiel neu produziert werden müssen. Gegenüber den gerichtsunerfahrenen Parteien haben die Rechtsvertreter eine doppelte Rolle: Sie verhelfen den Parteien zur adäquaten Identifika60 Zum ganzen Zusammenhang s. Blankenburg u. a. (Fn. 59), S. 144 ff., 152. 6*

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tion der relevanten Erwartungszusammenhänge des Verfahrens; sie beziehen aber die unerfahrenen Parteien soweit in die Interaktion ein, wie dies für die reduzierte Wirklichkeitskonstruktion gemäß juristischen Relevanzkriterien nötig ist. Das in aller Ausführlichkeit Vorgebrachte wird gemäß juristischer Relevanz selektiert und von allem, was für die beteiligten Juristen nebensächlich ist, unterschieden. Die Gerichtsverhandlung bringt nicht nur eine juristische Wirklichkeitsreduktion, sondern auch eine materielle Veränderung des Ausgangskonflikts mit sich. Es scheint eine allgemeine Folge justizieller Verfahren zu sein, daß neben dem Themenbereich des zur Verhandlung stehenden Vorganges weitere Themen in die Kommunikation Eingang finden müssen. Es kann sogar vorkommen, daß die Themenzusammenhänge, aus denen der Gerichtsstreit entstand, mit den Themen, die in der mündlichen Verhandlung erörtert werden, nur noch sehr entfernt zu tun haben. Es findet eine Überlagerung von Themenbereichen statt. Ein großer Teil der mündlichen Verhandlung wird durch Formalitäten des Verfahrensablaufs und durch prozeßtechnische Erwägungen eingenommen. Die Themen des Ausgangskonflikts werden gleichsam durch die Klärung verfahrensrechtlicher Themen verdrängt. 61 So kann man sich in der mündlichen Verhandlung mit den Voraussetzungen eines Versäumnisurteils, mit dem Vorhandensein der Vollmacht des Anwaltes, mit den Zustellungsmöglichkeiten eines Zahlungsbefehls oder auch damit befassen, ob ein Schreiben des Beklagten als Widerklage zu interpretieren wäre. Des weiteren kommen Folgeprobleme des Ausgangskonflikts zur Sprache. Dem eigentlichen Konflikt werden weitere Streitpunkte nachgeschoben, typischerweise Schadensersatzforderungen, oder neue Streitpunkte geschaffen, so daß auch hierdurch die mündliche Verhandlung auf Abwicklungsfragen verlagert wird. Der zur Verhandlung stehende Streitstoff kann durch Folgeprobleme so überlagert werden, daß sich die Erörterung auf diese Probleme konzentriert und die Aufarbeitung des Ausgangskonflikts verdrängt. Die Folgen der Auflösung eines Arbeitsverhältnisses bringen oft das Gerichtsverfahren im Zuge der Erörterung des Arbeitsverhältnisses zu einer Umorientierung auf Probleme der Kündigungsart oder der Restzahlung und Abfindung sowie ihrer Behandlung durch das Arbeitsamt, die Krankenkasse, das Finanzamt und die Ausländerbehörde. Diese Überlagerung und Verdrängung der den ursprünglichen Konflikt betreffenden Themen führt zum Problem der Selektion von den jeweils relevanten Themen überhaupt. Informationen über Sachverhalte werden insoweit zugelassen, als sie für rechtlich relevant gehalten werden. Sie werden nur soweit erörtert, als sie für die Subsumtion unter Normen des materiellen Rechts und der Prozeßordnung in Frage kommen. Die prozeßrelevanten Sachverhalte werden meistens von einheitlich ausgebildeten Rechtsvertretern in stark selektierter Form und juristischer Begrifflichkeit in Schriftsätzen dargestellt. Der Sachverhalt wird auf Einklagbares hin konzipiert. Schon in der Klageschrift wird demnach die Verdrängung von Zur Neuverteilung von Sicherheit und Unsicherheit, von Attribution und Kausalität als Leistung eines jeden Konfliktsystems s. Luhmann (§ 1 Fn. 19), S. 92 ff.

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prozeßirrelevanten Themen aus den gerichtlichen Erörterungen vorbereitet. Im Prozeß findet dementsprechend sowohl eine juristische Reduktion als auch eine Überlagerung der Streitthemen gegenüber dem Ausgangskonflikt statt. Die Fallinformationen werden auf justizielle Ansprüche und Urteilsfähigkeit hin hergerichtet. Andererseits überlagern Themen, die den Verfahrensablauf und Folgeprobleme betreffen, den Streitstoff der ursprünglichen Konfliktsituation. 62

62 Zum ganzen Zusammenhang: Blankenburg u. a. (Fn. 59), S. 164, 166, 168 f.

Zweiter Abschnitt

Entstehung, Anwendung und Befolgung des Rechts § 3 Verhältnis von Wortnorm und subsistenter Rechtsnorm I. Normativität Geiger löst sich in seiner Analyse der „geselligen Ordnung" von der normativen Sichtweise der Rechtswissenschaft. Diese sieht die Normen (Rechtssätze) als ihren Gegenstand und deren Auslegung als ihre Aufgabe an. Geiger hat einen anderen Blickwinkel. Er identifiziert nicht Ordnung und Norm. Die soziale Ordnung geht nicht auf ein „Gefüge aufgestellter Normen oder Regeln" zurück, nach denen das Leben in einem Intégrât sich gestaltet, in dem die „Mitglieder ,den Normen folgen 4 " . 1 Aufgestellte Normen haben insofern Bedeutung für die Ordnung eines sozialen Integrats, als sie im Modus des normativen Erwartens zur faktischen Verhaltensorientierung dienen. Sie haben also nur Bedeutung als „Bestandteile" eines „Ordnungsmechanismus", d. h. nur insoweit „als sie den wirklichen Verlauf des Lebens" im Intégrât beeinflussen. Geiger hält die „effektive oder Realordnung" und „Normgefüge" auseinander. Er unterscheidet weiterhin „zwischen der Norm selbst und ihrer Wortgestalt, ihrem verbalen Ausdruck". In diesem Sinne spricht er von „Norm im eigentlichen Sinn oder subsistenter Norm und Normsatz oder Verbalnorm". 2 Mit subsistenter Norm ist der Zusammenhang institutionalisierter normativer Erwartungen gemeint, der in der „Realordnung", also in der sich konkret gestaltenden Kommunikation eines realiter existierenden sozialen Systems prozessiert wird. Die normativen Erwartungen und das System sozialer Kommunikation, in welchem sie relevant sind, werden von den Handelnden selbst als normativ gestaltete Kommunikation behandelt und erlebt. Die Realordnung kann aus dem Leben in einem Intégrât hervorwachsen, „habituell als subsistente Norm verfestigt" und dann in einem Normsatz ausgedrückt werden. Es kann aber auch erst durch einen Normsatz eingeführt und statuiert werden. Im ersten Fall ist der Normsatz deklarativ, im zweiten Fall ist er proklamativ. Man muß hinzufügen, daß sowohl die Deklaration als auch die Proklamation in die Realordnung eingeführt und als Bestandteil von ihr behandelt werden können. In diesem Sinne wirkt das Deklarieren von normativen Erwartungen in der Form 1

Geiger, Vorstudien, S. 57. 2 Ebd., S. 58.

I. Normativität

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eines Normsatzes immer auch proklamativ. Das Setzen des Normsatzes beruht auf dem Betätigen eines Institutionalisierungsmechanimus, der die soziale Generalisierungsfähigkeit subsistenter normativer Erwartungen beeinflußt. Die Normierung von Erwartungen wird von ihrer Institutionalsierung unterschieden. Sie wird auch gegen die psychische Einstellung der einzelnen abgegrenzt. „Es besteht keine feste Entsprechung zwischen dem Ursprung des Norminhalts (Modells) — habituell oder statuiert — auf der einen und dem Verhältnis des einzelnen zum norm-befestigten" Verhaltensmodell auf der anderen Seite.3 Subsistent normierte Erwartungen erbringen ihre Ordnungsleistung unabhängig davon, was die einzelnen konkret erwarten. Es ist durchaus möglich, daß unreflektiertes, „ganz automatisches" Gebaren normgemäß ist, ohne daß die Normvorstellung beim Handelnden aktuell wirksam ist, obwohl die Norm im Kommunikationszusammenhang etabliert und institutionalisiert ist. 4 Hiermit hängen die Ausführungen Geigers zur Wirklichkeit der Norm zusammen. Der „Handlungs-Monismus" erblickt in den Normen „bloße Wunschäußerungen oder Phantasievorstellungen ohne Bedeutung". Dennoch ist es „mißverstandener Realismus", die Normen mit der mit den Sinnen wahrnehmbaren Geordnetheit des äußeren Ereignisablaufs zu identifizieren und ihnen ihren Wirklichkeitscharakter abzusprechen. Dem normativen Erwarten kommt ebenso wie dem kognitiven Erwarten ein empirischer Wirklichkeitszusammenhang zu. Die Wirklichkeit der Norm ist ihre „Wirkungs-Chance", d. h. daß sie für ihre Adressaten verbindlich ist, ungeachtet des inneren Respekts oder des Gehorsams, den die Adressaten gegenüber der Norm an den Tag legen. Der Wirklichkeitsinhalt der Norm ist eine Wirkungsalternative. Die Wirkung ist disjunktiv bestimmt und besteht „entweder in der Realisierung des Normkerns oder im abweichenden Gebaren mit sozialer Reaktion als Folge". Die Norm wirkt also als Differenz ihrer Verbindlichkeit, aber ist nicht disjunktiv, „sondern einheitlich" bestimmt. Sie ist nämlich nicht entweder das eine oder das andere, sondern Verbindlichkeitsinhalt. Sie ist „das Entweder-Oder, d. h. die Alternative selbst", welcher die Adressaten gegenüberstehen.5 Diese Begriffsbestimmung, die Tatsache, daß die Norm die Alternative des sanktionierten Verhaltens einschließt, erblickt die Funktion des normativen Erwartens in der Durchführung der Disjunktion Befolgung/ Abweichungskorrektur und läßt demnach unsanktionierter Abweichung keinen Raum. 6 Es ist jedoch nicht sicher, daß auf Abweichung unter allen Umständen und in jedem einzelnen Fall eine Sanktion folgt. Die Abweichung mag unentdeckt bleiben, die sanktionierende Instanz mag in ihrer Reaktion säumig sein, der Handelnde mag sich durch List der Reaktion zu entziehen wissen. Damit die Norm in diesen „Ausnahmefällen" weiter verbindlich bleibt, führt Geiger eine 3 Ebd., S. 60. 4 Ebd., S. 61. 5 Ebd., S. 65 f., 68 f., 70. 6 Niklas Luhmann, Rechtssoziologie, 2. Aufl. Opladen 1983, S. 43 FN 32.

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„Klausel" in die Bestimmung ihres Wirklichkeitsgehaltes als Alternativwirkung ein. Er bezeichnet die Verbindlichkeit der Norm als eine „AlternativwirkungsChance" und versucht damit dem Risiko Rechnung zu tragen, daß die Abweichung eingeht. Dieses Risiko entspricht der Wirkungschance der Norm. Geiger ist kein „Sanktionsmonist". Er knüpft die Verbindlichkeit nicht an die Sanktion, sondern an die alternative Wirkungschance. Selbst wenn die Abweichung nicht sanktioniert wird, behält die Norm ihre „wirkliche Geltung". Es kommt auf die Sanktionsbereitschaft, nicht auf die Sanktionsverhängung an. Will man Geiger stark machen, so kann man seine Kritik am Sanktionsmonismus dahingehend verstehen, daß er die Möglichkeit, mit enttäuschten, aber nicht durchsetzbaren normierten Erwartungen leben zu können, in seinem Normbegriff doch berücksichtigt. Begriffe wie Normprogramm und Sanktionsbereitschaft schließen den Begriff der kontrafaktischen Erwartungen in sich und verlassen keineswegs den „Boden der reinen Tatsachen". Wer den Begriff des „empirisch erfaßbaren »Tatsächlichen4 " so nehmen will, daß nur die „einzelnen Geschehnisse darunter fallen, feststellbare Wahrscheinlichkeiten, Chancen, soziale Tendenzen" und Risiken aber außerhalb seiner zu liegen kommen, so muß man jede Wissenschaft von einer sozialen und Rechtsordnung „von vorherein aufgeben und stattdessen einfach registrierend beschreiben, was in bunter Folge geschieht".7 Für diese Interpretation spricht auch die Tatsache, daß Geiger Orientierungssicherheit von Realisierungssicherheit unterscheidet. Die Fixierung und Identifikation von Erwartungszusammenhängen, die Orientierung nämlich an der Differenz Konformität/Abweichung ist mit der Orientierung an der Differenz Sanktionierungsfähigkeit/Sanktionsbereitschaft nicht identisch. Dennoch hat er die Differenz Erfüllung/Enttäuschung von Erwartungen nicht explizit in die Differenz normatives/kognitives Erwarten eingebaut, so daß die Sanktionsbereitschaft zu den Strukturelementen der Norm zu gehören scheint. Bei Luhmann ist es klar: In der Reihe der Differenzen, die „Differenzen produzieren", fehlt es mit Absicht an der traditionsreichen Differenz: Konformität/sanktionierte Abweichung. 8 Geigers zentrale Differenz heißt Konformität/Sanktionsbereitschaft. Er versucht auf diese Weise zweierlei: Erstens will er betonen, daß Normen keine Wunschäußerungen, keine „emotionalen Einstellungen" sind; zweitens will er darauf hinweisen, daß es nicht auf die Durchsetzung, sondern auf die prinzipielle Durchsetzbarkeit der normativen Erwartung ankommt. Er hat die „unbelehrbare Erwartungshaltung" sowie die Tatsache, daß die „Durchhaltebereitschaft" einer Erwartung ihrerseits „für alle anderen plausibel und erwartbar" gemacht werden kann, außer acht gelassen.9 Statt dessen führt er die Unterscheidung zwischen „Normkonstitution" und „Normoffenbarung" ein. Die aktuelle Sanktionsverhängung und Reaktion auf die Enttäuschung einer normativen Erwartung „offenbart die 7 Geiger, Vorstudien, S. 241. » Luhmann, Soziale Systeme (§ 1 Fn. 27), S. 440. 9 Ebd., S. 441, 442.

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Norm". Sie manifestiert die normative Erwartung, „kann sie aber unmöglich konstituieren". 10 Es ist eine „schiere Zufälligkeit", in welchem Zeitpunkt die Enttäuschung eintritt und wann erstmals die Gelegenheit zur S anktionsverhängung besteht. Die Reaktionsbereitschaft kann bestehen, ohne daß sich Anlaß zur aktuellen Sanktionsverhängung bietet. Geiger spricht von institutionalisierten subsistenten normativen Erwartungen. Die Schwierigkeiten seiner Begriffsbestimmung liegen daran, daß er im Laufe seiner Analyse die Systemreferenzen verwechselt. Er betrachtet den Begriff der Norm gleichzeitig unter zwei verschiedenen Gesichtspunkten. Einerseits stellt er auf den in der „Realordnung" prozessierten normativen Sinn ab. Andererseits bezieht er sich auf die Beobachtungsschwierigkeiten eines Beobachters, der eines Kriteriums bedarf, um das, was die Handelnden selbst als normativen Sinn behandeln, identifizieren zu können. Er benutzt als Identifikationskriterium die aktuelle Sanktionsverhängung, die ihrerseits einen Anhaltspunkt für die Unterstellung bisheriger und künftiger Sanktionsbereitschaft darstellt. Die Sanktionsbereitschaft bezieht sich nicht auf die Durchsetzungsmöglichkeiten des einzelnen, sondern auf die Reaktionsbereitschaft der Öffentlichkeit des jeweiligen Integrats. Die aktuelle Sanktionsverhängung dient demnach als Identifikationskriterium für die institutionalisierte Sanktionsbereitschaft der Integratsöffentlichkeit, welche ihrerseits als Beobachtungsschema von Normen benutzt wird. Die Frage, die Geiger nicht gestellt hat, lautet: Wie kann ein externer Beobachter „latente Normen" beobachten? Wie lassen sich nämlich normative Erwartungen, deren Durchhaltebereitschaft im kommunikativen Kontext durchaus erwartbar ist, identifizieren, wenn der Beobachter nicht die Möglichkeit hat, von einer erfolgten Abweichungskorrektur auf die „potentielle Reaktivität" der Integratsöffentlichkeit im Fall des Normbruchs zu schließen.11 Ein Beobachter sieht, was er sehen kann. In der „Realordnung" eines Integrats kann es für einen Beobachter unsichtbare Normen geben. Die Reaktionsbereitschaft der Integratsöffentlichkeit oder einer besonderen Sanktionierungsinstanz muß also sowohl in die Erwartungskalküle der Handelnden im Kommunikationskontext als auch in die Beobachtungsschemata beliebiger externer Beobachter einbezogen werden können. Dies setzt aber voraus, daß man zwischen Kommunikations- und Bewußtseinslatenz in der Realordnung eines Integrats einerseits und den Beschreibungsmöglichkeiten eines Beobachters andererseits unterscheiden kann. I I . Normsatz und Rechtsnorm Der Normsatz ist nicht die Rechtsnorm. Das wird als „gedankliches Schema" geschaffen, unter das noch unbekannte, in der Folgezeit erwartete Sachverhalte 10 Geiger, Vorstudien, S. 100. 11 Ebd., S. 100. Vgl. ferner hierzu die Ausführungen zur „Sonderstellung des Gewohnheitsrechts", in: Theodor Geiger, Über Moral und Recht. Streitgespräch mit Uppsala. Aus dem Dänischen übersetzt und eingeleitet von Hans-Heinrich Vogel, Berlin 1979, S. 133 ff., 136.

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einbezogen werden sollen. 12 Nach der klassischen Vorstellung ist die Rechtspflege auf Normsätze verpflichtet, die ihrem Inhalt nach bestimmt sind und mit den anzuwendenden Rechtsnormen identifiziert werden. Nach den Normsätzen, den „sogenannten Gesetzen", rechtsprechen heißt, daß der Richter einen bestimmten schon konstituierten Sachverhalt untersucht und dann diejenigen Normsätze auf ihn anwendet, unter die er „seiner Natur nach" fällt. Heute glaubt kein Jurist mehr, daß Rechtsprechung ein logischer Vorgang sein, in dem der Richter die „Rolle eines Automaten" spielt. Jeder moderne Jurist weiß, daß dieser „sinnreiche Automat" rechtskonstruktiv tätig ist. Praktische Juristen sind sich darüber im klaren, daß es dem logischen Prozeß der Subsumtion von konkreten Sachverhalten unter Normen „bei genaueren Zusehen schlechterdings nicht gibt". Rechtsanwendung ist nur in der Form von Rechtsneukonstruktion möglich. Der Gedanke der Subsumtion von Sachverhalten unter Normen bezieht sich auf die in Normsätzen ausgedrückten begrifflichen Inhalte und nicht auf die subsistente Aktions- und Reaktionsnorm. Es stellt sich die Frage, wie sich der Normsatz zum konkreten Sachverhalt verhält. Der Normsatz enthält ein „begriffliches Tatbestandsschema", und es wäre eine „naiv-rationalistische Vorstellung" anzunehmen, daß „der Begriff ein Abbild der in ihm erfaßten Wirklichkeit sei". 13 Tatbestandsschema und Sachverhalt (konkreter Tatbestand) sind herkömmlich wie folgt zu unterscheiden: Die Tatsbestände des sozialen Lebens erscheinen als die konkreten Varianten des abstrakten Tatbestandsschemas des Normsatzes. Die Frage ist aber, auf welche konkreten Tatbestände sich das Tatbestandsschema bezieht. Alle Probleme der Rechtsanwendung gehen darauf zurück, daß das im Normsatz „verbal ausgedrückte begriffliche Tatbestands- und Gebarensschema" in Wirklichkeit „überhaupt keinen objektiv abgegrenzten oder abgrenzbaren Bedeutungsumfang" hat. Der Kreis konkreter Tatbestände, auf welches sich das Tatbestandsschema bezieht, ist unbestimmt. Der Normsatz hat zwar einen begrifflichen und verstehbaren Inhalt, er ist aber „punktuell" und „ausdehnungslos".14 Die Auslegung eines Normsatzes, die auf einem hermeneutischen Zugang beruht, kann den Bedeutungsumfang der subsistenten Aktions- und Reaktionsnorm nicht feststellen. Sie kann weder irrig noch richtig sein. Auslegungsgegenstand ist der Normsatz, der Bedeutungsumfang bezieht sich aber nicht auf den Normsatz, sondern auf die konkreten Tatbestände, die als auf die subsistente Norm beziehbar gelten. Der begriffliche Inhalt des Normsatzes stellt einen zusätzlichen „begrifflichen Bezugspunkt" dar, der kein Feld „konkreter Fälle decken" kann. Er ist ein begriffliches Schema, kein Inbegriff von entschiedenen oder zu entscheidenden Fällen. Dies zeigt sich auch daran, daß immer, wenn Normsätze mit Standards und Generalklauseln operieren, die Rechtspflege eine „rein formelle Berufungshandhabe für Sanktionsverhängung, aber keinerlei Maßstab" bieten. 15 Im Tatbestands12 Geiger, 13 Ebd., S. 14 Ebd., S. is Ebd., S.

Vorstudien, S. 197. 242 f. 244. 245.

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schema des Normsatzes liegt weder ein geltender Inhalt der subsistenten Aktionsnorm noch ein gegebener und „durch Auslegung nur ,richtig 4 abzugrenzender" Bedeutungsumfang der Reaktionsnorm vor. Die Themen, auf welche sich die rechtlich normierten und sanktionsfähigen Erwartungen beziehen, liegen nicht von vornherein fest. Sie ergeben sich im nachhinein im arbeitsteilig organisierten Instanzen- und Rollenspiel, das die tatsächliche Handhabung des normativen Sinnes regelt. Die Beschaffenheit des maßgebenden normativen Sinnes ergibt sich nicht aus Normsätzen, sondern liegt „in dem Bedeutungsumfang, in welchem die durch die Normsätze ausgedrückten begrifflichen Schemata tatsächlich gehandhabt werden". 16 Die Anwendung muß die Norm konstruieren, die sie anwenden soll. Geiger benutzt den Begriff der subsistenten Norm als ein Kürzel, das die verwickelten Prozesse der arbeitsteiligen Konstruktion der bei jedem Anwendungsakt anzuwendenden Norm symbolisiert. Die substantielle Geltungsfrage kann nicht aufgrund einer „Inhaltsanalyse" von proklamativen oder deklarativen Normsätzen beantwortet werden. Entscheidend sind vielmehr die Betrachtungen über die Art, wie die begrifflichen Tatbestandsschemata, die in den Normsätzen enthalten sind, angewandt werden. Die Anwendung „konstituiert den Bedeutungsumfang", in dem sie konkrete Tatbestände auf Normsätze zurückführt. „Verbindlich ist das anschauliche Gebarensmodell", das die Praxis in den Normsatz hineinlegt — unter dem irreführenden Vorgeben, es aus ihm herauszulesen". 17 Der begriffliche Inhalt des Normsatzes scheint endgültig festgelegt zu sein. Er stellt einen Bezugspunkt für die Rückführbarkeit von konkreten Tatbeständen auf Gesetzesvorschriften dar. Er kann aber die Abgrenzung des Bedeutungsumfanges, der der subsistenten Norm zukommt, selbst nicht leisten. Der Bedeutungsumfang kann nur in der Anwendung im Hinblick auf konkrete Tatbestände festgelegt werden. So gewinnen die Normsätze in ihrer Handhabung „jene Biegsamkeit", die ihre begriffliche Formulierung — wohl auch nach den Absichten der Gesetzgebung — auszuschließen scheint. Der Inhalt der subsistenten Norm ist stets im Wandel begriffen. Die Rechtsnorm ist ihrem geltenden Inhalt nach „ewig im Fluß". Zwei konkrete Tatbestände sind niemals vollständig identisch. Jeder neue Fall, der sich der Aktionsnorm in Form der Erfüllung ihres Gebarensmodells fügt, verleiht „mindestens potentiell" dem verbindlichen Norminhalt eine „neue Facette". Der Bedeutungsumfang der Aktionsnorm wird nicht bloß durch die Aktionsnormsuppositionen der Rechtspflege bestimmt. Bestimmungsfaktor ist nicht die Gerichtspraxis, sondern die „Praxis des Rechtslebens".18 Indem sich das Handeln der Bürger — in „motivischer Reflexion" auf Normen oder auch unreflektiert — an gewissen Linien entlangbewegt, spezifiziert, generalisiert und respezifiziert es Erwartungszusammenhänge, die in die Form einer gewandelten Aktionsnorm gebracht werden können. Auf i6 Ebd., S. 246. π Ebd. ι» Ebd., S. 247 f.

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diese Weise befindet sich nicht nur die Aktionsnorm, sondern auch ihre Rekonstruktion im Rechtsstab, d. h. die mit der Reaktionsnorm zu verbindende Aktionsnormsupposition stets im Wandel. Andererseits sind die „Urteilsgewohnheiten" der Rechtspflege für die Bestimmung des Inhalts der subsistenten Reaktionsnorm sehr wichtig. Darüber hinaus bestimmen sie „mittelbar auch den Standard der außergerichtlichen Normanwendung". 19 Die Urteilsgewohnheiten werden nämlich zu einem Anhaltspunkt in den Erwartungskalkülen der Bürger. Der Inhalt der Aktionsnorm ergibt sich aus der tatsächlichen Erwartungsorientierung im jeweiligen sozialen System. Der Inhalt der Aktionsnormsuppositionen ist nicht einheitlich, sondern kontrovers. Er ergibt sich jedesmal aus dem tatsächlichen Instanzen- und Rollenspiel in der Rechtspflege. Der Inhalt der Reaktionsnorm ist „in jedem einzelnen sozialen Lebensaugenblick die Quintessenz der tatsächlichen Normhandhabung". 20 Die Rechtspflege läßt sich durch das Bild beeinflussen, das sie sich von der außergerichtlichen Normhandhabung macht. Andererseits paßt sich das außergerichtliche Rechtsleben den „Maßstäben der Gerichtspraxis" an. Dies ist aber keine Notwendigkeit. Jedenfalls kann der Inhalt der für einen konkreten Fall geltenden Aktions- und Reaktionsnorm „nie aus dem, sei es deklarativen, sei es proklamativen Normsatz abgelesen werden". Der „wirkliche Vorgang" der Subsumtion ist „mehrseitig und spielt sich in einem System fließender Gegebenheiten ab". 21 Der zu beurteilende konkrete Tatbestand erweist bei der Untersuchung seiner „näheren Umstände" eine „verhältnismäßige Gleichartigkeit" mit einem „Komplex früherer Fälle". Der neue Fall wird diesem Komplex früherer Fälle,»koordiniert" und nach den „gleichen Linien" behandelt, die sich im „Geschehensablauf 4 der früheren Fälle abzeichnen. Die Gleichartigkeit des neuen Falles wird durch den Zuordnungsakt gesetzt. Sie ist dem neuen Fall nicht immanent. Der Richter wendet die Norm auf den neuen Fall an, indem er ihren Inhalt verändert. 22 Die konkrete Normhandhabung geht „fürs nächstemal als Element in das dem Komplex der Normfälle entsprechende Anschauungsbild ein, reichert es an, markiert vielleicht seinen Umriß um ein weniges anders". Es gibt keine anzuwendende Rechtsnorm, die eine Kette von Fällen „in identischer Inhaltsbestimmung" überdauert. Der konkrete Fall wird einem Komplex früherer Fälle „als ihnen affin koordiniert — und aufgrund dieser Koordination zum Normsatz in Beziehung gebracht". 23 Das Subsumtionsproblem ist ein Problem der Entscheidung über Zurechnung oder Nichtzurechnung eines konkreten Falles zu bisher behandelten Fällen, die den Inhalt der subsistenten Norm ausmachen. 19 Ebd., S. 248. 20 Ebd., S. 249. 21 Ebd., S. 249 f. 22 Vgl. die psychologischen Begriffe „cross-situational consistency" und „idiosyncratic contextual and semantic generalization". Sie weisen auf die verschiedenen Generalisierungsgrade von Erwartungen in allen drei Sinndimensionen hin: Walter Mischet, Toward a Cognitive Social Learning Reconceptualization of Personality, in: Psychological Review 80 (1973), S. 252-283, 253, 259 f. 23 Geiger, Vorstudien, S. 251.

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Jede Entscheidung muß sich auf den Verbindlichkeitsumfang der subsistenten Norm beziehen. Dieser ist aber nicht „vor der Anwendung gegeben, sondern mit ihr im Fluß". 24 Dies wird dadurch verdeckt, daß die Einzelentscheidung der auf Normsätze zurückführbaren subsistenten Norm einen „theoretisch verstehbaren Inhalt bestimmten Bedeutungsumfanges" zuschreiben muß, wenn sie als begründet gelten will. Die Tatsache, daß der Normsatz keinen abgegrenzten Bedeutungsumfang im Hinblick auf konkrete Tatbestände hat, bedeutet nicht, daß er inhaltlich völlig nach Belieben ausgelegt und angewandt werden kann. 25 Das begriffliche Tatbestandsschema des Normsatzes ist als ausdehnungsloser Bezugspunkt an einen Spielraum gebunden, der durch die „sprachliche Konvention" bestimmt ist. Diese ist aber im Wandel begriffen, sie ist ebenfalls subsistent. Wenn sich die Rechtspflege in ihrer Entscheidungstätigkeit auf den Normsatz beruft, dann ist ihr darin durch die Sprachkonvention potentiell ein größter und ein kleinster „Bezugsradius" bestimmt. Diese Bestimmung ist aber sehr vage und verleiht dem Normsatz keinen Verbindlichkeitsinhalt. Die Ausschaltung von Beliebigkeit bei der Rechtsanwendung geht weder auf die sprachliche Konvention noch auf das Rechtsbewußtsein des Richters zurück. Sie liegt vielmehr in der institutionellen Herstellung und Handhabung von Sinn. Die Einheitlichkeit der „typisch juristischen Denkweise" ist nicht erkenntnistheoretisch und begrifflich argumentativ, sondern institutionell gesichert. Die Steuerung der Kontingenzausschaltung im Rahmen juristischer Entscheidungstätigkeit ist in der beruflichen Sozialisierung der Juristen zu suchen. Letztere erschöpft sich nicht im „Ausbildungsmonopol der Rechtswissenschaftlichen Fakultäten", sondern bezieht vor allem die „Referendarzeit und die ersten Jahre der amtlichen verantwortlichen Praxis" ein. 26 Berufliche Sozialisierung bringt jedoch eine „berufsfachliche Ideologiebildung" mit sich. Diese besteht in der „fachlichen Faszination durch den Ordnungsgedanken selbst" und in der „Akademisierung der Berufsgesinnung". 27 Die Kehrseite der fachlichen Theoretisierung und Technisierung der Entscheidungsaufgaben ist die ideologische Verdeckung der Tatsache, daß der Berufsrichter „selbst dort Recht stiftet, wo er dem Anschein nach vorausgeltende Rechtssätze nur anwendet".28 Soziale Differenzierung und neue Interdependenzen bringen eine Neudefinition von Berufsidentitäten mit sich. Das rechtswissenschaftliche Ideal kann dann in die Vergangenheit hineinprojiziert werden. 29 Geigers rechtsrealistische Betrachtungsweise verabschiedet das berufsideologisch bedingte Bild der Rechtsanwendung. Sie läßt die 24 Ebd., S. 252. 25 Ebd., S. 261. 26 Schelsky (§ 2 Fn. 2), S. 54, 65. 27 Geiger, Vorstudien, S. 255. 28 Ebd., S. 256. 29 Vgl. Dietrich Rueschemeyer, Ideology and Modernization, in: Jan J. Loubser u. a. (Hrsg.), Explorations in General Theory in Social Science, Bd. 2, New York / London 1976, S. 736-755, 746.

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§ 3 Verhältnis von Wortnorm und subsistenter Rechtsnorm

Verbindlichkeit des proklamativen Normsatzes weder auf dem Rechtsbewußtseins des Richters noch auf dem Legitimitätsglauben des Bürgers beruhen. Das realistische Element der Betrachtung Geigers liegt in seinem kommunikationsund institutionstheoretischen Zugang. Die Verbindlichkeit des Normsatzes beruht auf der „Sanktionsbereitschaft" der Rechtspflege, „als Institution die Anwendung des Satzes seitens der einzelnen Richter durchzusetzen". Andererseits beruht die „rechtliche Verpflichtung des Richters" auf dem Normsatz, auf der „Unwahrscheinlichkeit eine Rechtshandhabung im Widerspruch mit dem Inhalt des Normsatzes gegenüber dem gesamten Richterkorps durchsetzen zu können". 30

ΠΙ. Rückwirkende Kraft der Norm Das geschilderte Verhältnis von Normsatz und subsistenter Norm hat wichtige Konsequenzen für das Verbot der rückwirkenden Kraft der Norm. Die Verpönung der rückwirkenden Anwendung von Normen gehört zu den „installierbaren", Rechtssicherheit garantierenden Grundsätzen. Ein soziales Lebensverhältnis kann ausschließlich nach den Rechtsnormen beurteilt werden, die im Augenblick seines Entstehens für Sachverhalte dieser Art als geltend bekannt sind. Die Lebensverhältnisse müssen gemäß Normen behandelt werden, die im Augenblick der Entstehung und nicht im Augenblick der Beurteilung des Lebensverhältnisses verbindlich sind. Dem Normsatz kommt aber keine Verbindlichkeit zu. Verbindlich ist die subsistente Norm, und diese wird erst im Laufe der Normanwendung erzeugt. In diesem Sinne ist „alle Normanwendung rückwirkend". Das geht daraus hervor, (1) daß der verbindliche Inhalt der Aktionsnormsuppositionen und der damit verbundenen Reaktionsnorm im arbeitsteilig organisierten Entscheidungsprozeß generalisiert und spezifiziert wird, — (2) daß kein konkreter zu beurteilender Fall „irgendeinem anderen völlig identisch ist", — (3) daß die Rechtspflege konkrete Tatbestände einem Komplex früher entschiedener Fälle koordiniert und erst anschließend auf entsprechende Normsätze zurückführt. Die Frage danach, welches Recht für einen zu beurteilenden Fall gilt, kann immer erst beantwortet werden, „wenn der Fall geschehen ist". 3 1 Die „Umrisse und Nuancen" des Inhalts der Aktions- und Reaktionsnorm werden durch ihre Anwendung auf den konkreten Tatbestand „auch nur minimal" verändert. Im gerichtlichen Verfahren wird in diesem Sinn „Neurecht konstruiert und mit rückwirkender Kraft" auf den Einzelfall angewandt. Die Rückwirkung liegt darin, daß die angewandte Norm im Augenblick der Entstehung des beurteilten Falles einen anderen Norminhalt hatte. Die angewandte Norm war mit dem bisherigen Norminhalt „durch koordinierende Einbeziehung des vorliegenden Tatbestandes im modulierten Umfang" ihres Inhalts noch nicht verbindlich. Für den einzelnen Fall kann die Verbindlichkeit der Norm unmöglich manifest sein. Sie kann nicht als für einen konkret zu 30 Geiger, Vorstudien, S. 265 f. 31 Ebd., S. 266 f.

III. Rückwirkende Kraft der Norm

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beurteilenden Fall verbindlich bekannt sein. In diesem Sinne liegt die Rückwirkung „unumgänglich im Fungieren des Rechtsmechanismus selbst". 32 Diese Auffassung würde Biologen nicht überraschen. 33 Sie bedarf jedoch der Präzisierung. Rückwirkend ist die Normanwendung hinsichtlich der individuellen Bestimmtheiten der konkreten Tatbestände. Nicht rückwirkend ist und bleibt der „Normsatz und sein begrifflicher Inhalt, damit aber auch die im Anschluß an diesen begrifflichen Inhalt als ihren Bezugspunkt sich gestaltende, subsistente Norm in ihrer formellen Geltung". 34 Die rückwirkende Anwendung betrifft den Umfang des Inhalts der subsistenten Norm. Der Normsatz wird nicht rückwirkend angewandt, wenn die jeweils neue Determinierung des Verbindlichkeitsinhalts auf ihn im nachhinein bezogen wird und sich die Entscheidung im Rechtsleben durchsetzt. Im Gegensatz dazu gibt es keine „förmlichen Garantien gegen Erweiterung des Verbindlichkeitsumfangs der subsistenten Norm innerhalb der potentiellen begrifflichen Reichweite des Normsatzes". 35 Der Grundsatz, daß die formelle Geltung des Normsatzes nicht rückwirkend sein darf, ist eine „höchst reale und bedeutsame Garantie, die die Entscheidungstätigkeit steuert. Kommt ein konkreter Fall zur Beurteilung, der vor dem Stichtag des Inkrafttretens des Normsatzes geschehen ist, so kann die Frage, ob der konkrete Tatbestand auf das begriffliche Tatbestandsschema dieses Normsatzes beziehbar ist, gar nicht auftauchen. Die Normsätze entfalten nach Geiger keine programmierende Wirkung. Das eigentliche Entscheidungsprogramm ist die jeweilige subsistente Norm. Da letztere mindestens zum Teil die Züge eines Konditionalprogramms aufweist, zeichnet sie sich durch eine Zeitindifferenz aus: Jedesmal wenn eine Information A eintrifft, ist die Kommunikation Β zu geben. Es handelt sich um eine Wenn-DannStruktur. Temporalisiert man mit Geiger diese Struktur, so entstehen Schwierigkeiten. Die Identifikation der eintretenden Information A ist eine Leistung, die jedesmal neu erbracht werden muß. Die Bedingungen der Modulationsfähigkeit der immer wiederkehrenden Wenn-Information sind im Begriff des Konditionalprogramms nicht beinhaltet. Die „geregelte Wiederkehr von Geschehenszusammenhängen" stellt sich — mit den Worten Geigers — als die Verbindung von „Handlungs- und Zustandsordnung der Zeit dar". 36 Die Temporalisierung macht die Identifikation der Wenn-Information zu einem Problem. Diesem Problem trägt Geiger mit dem Begriff der subsistenten Norm und Luhmann mit dem Begriff der Strategie Rechnung. Das „Wenn" muß im Kommunikationszusammenhang erst konstituiert werden. Die ewig im Fluß begriffene programmierende 32 Ebd., S. 267. 33 Man reduziert nicht mehr biologische Phänomene auf Prozesse invarianter Reproduktion von „Pseudoprogrammen". Vgl. Henri Atlan, L'organisation biologique et la théorie de l'information, Paris 1972, S. 281, 282 f. 34 Geiger, Vorstudien, S. 268. 35 Ebd., S. 269. 36 Vgl. Yves Barel, La reproduction sociale. Systèmes vivants, invariance et changement, Paris 1973, S. 35, 249 ff., 257; Geiger, Vorstudien, S. 52; Schöps (§ 2 Fn. 17), S. 58 ff.

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§ 3 Verhältnis von Wortnorm und subsistenter Rechtsnorm

subsistente Norm läßt sich als Strategie bezeichnen, weil sie im Laufe des Vollzugs und der Programmierung geändert wird. Die Informationen, die Anlaß geben können, das Programm im Laufe des Vollzugs in bestimmten Hinsichten zu ändern, werden im Vollzug selbst spezifiziert, generalisiert und respezifiziert. 37 Die Wenn-Erwartungen können nie spezifisch genug formuliert werden. Sie können somit die Funktion der Identifikation von konkret Erwartbarem nicht erfüllen. Es besteht ein doppeltes Identifikationsproblem: es stellt sich die Frage, wie und von wem sich jeweils die Erwartungen und das Erwartbare identifizieren lassen.38 Die „feste Vorwegselektion" ist nur als Kombination gleichzeitiger Generalisierung oder Spezifikation von Erwartungen möglich. Die Wenn-Erwartungen sind symbolisch generalisiert. 39 Sie verweisen auf eine unbestimmbare und unvorhersehbare Vielheit, die in allen drei Sinndimensionen im stetigen Wandel begriffen ist. Während die eigentliche Programmierungsleistung eine regelrechte Programmkonstruktion im Vollzug des Programms darstellt, bleiben meistens die symbolisch generalisierten Wenn-Erwartungen unverändert. 40 Sie müssen sogar hinreichend unbestimmt bleiben, damit sie die Rückführbarkeit einer großen Vielfalt von Spezifikationsleistungen auf den Wenn-Teil des Programms zulassen. Dies geschieht „in a kind of retrospectiv arrangement". 41 Damit die Orientierung Veränderung als Bleibendes behandeln kann, muß sie die WennErwartungen als Vorselektion semantisch symbolisieren. Sie sieht sich aber andererseits genötigt, den Kontrast von Struktur und Prozeß pragmatisch zu unterlaufen. Die Änderbarkeit von Erwartungen beruht auf dem Zusammenspiel von „Spezifikationen, Generalisierungen und Respezifikationen", das die Bedingungen der Änderbarkeit jedesmal neu bestimmt. 42 Es ist anzunehmen, daß dieses Schema auch für den Einbau von Lernmöglichkeiten in normative Erwartungen relevant ist. Unter dem Aspekt des Zusammenspiels von Erwartung und Ereignis muß die Kurzlebigkeit der ereignishaften Gegenwart mit der Dauerhaftigkeit der Erwartungsgegenwart kombiniert werden. Auf der Ebene der Ereignisse gibt es aufeinanderfolgende Gegenwarten. Auf der Ebene der Erwartungen werden Ereignisse als erwartbar konstruiert und mit gegenwärtigen (aktuellen) Vergangenheiten und Zukünften in Verbindung gebracht. 43 Der Neuheitswert des Ereignisses 37 Luhmann (§ 1 Fn. 27), S. 432 FN 112. Vgl. auch Paul Weiss, Some Paradoxes Relating to Order, in: Paul G. Kuntz (Hrsg.), The Concept of Order, Seattle / London 1968, S. 14-20, 16: „Creativity though it both produces and possesses order, denies the building power of any order". 38 Einige versuchen es mit Informationstheorie, „Multivariate Uncertainty Analysis", „constraint analysis" und natürlich mit Mathematik. Vgl. G. Broekstra, Constraint Analysis and Structure Identification, in: Annals of Systems Research 5 (1976), S. 67-80. 39 Luhmann (§ 1 Fn. 27), S. 135, 447. 40 Barel (Fn. 36), S. 447 ff., 452 ff. unterscheidet die Reproduktion von Strukturen von der Reproduktion von Symbolen. Er geht aber nicht von demselben systemtheoretischen Begriff der symbolischen Generalisierung aus. 41 James Joyce, Ulysses, New York 1961, S. 241 (237). 42 Luhmann (§ 1 Fn. 27), S. 449; Theodor Geiger, Revolution, in: Alfred Vierkandt (Hrsg.), Handwörterbuch der Soziologie (Neudruck), Stuttgart 1959, S. 511-518, 513 f.

III. Rückwirkende Kraft der Norm

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scheint dem Ereignis nicht immanent zu sein. 44 In Anlehnung an den systemtheoretischen Begriff der Information kann man sagen: Ereignisse ändern die Erwartung, auf welche sie rückführbar sind, so daß die Erwartung auf ihren durch das Ereignis veränderten Zustand und mit ihm auf das Ereignis reagiert. Es handelt sich um Unsicherheit und um Redundanz, die in die Erwartung eingebaut werden. 45 Jede Respezifikation der Erwartung muß ihre Generalisierung aktualisieren. Die Reproduktion von Erwartbarkeit erfolgt in einer Gegenwart, die aus aktuell relevanten Vergangenheiten und antizipierten Zukünften besteht. Ein Ereignis als erwartbar zu behandeln heißt zugleich, die Erwartung unmerklich zu verändern. Die Wiederherstellung des Erwartbaren inkorporiert den Zufall ohne ihn aufzuheben. 46 Die strukturelle Normalität bleibt problematisch und als „Katastrophe" stabilisierbar, die Struktur und Prozeß nicht trennt und mit nur beschränkter Generalisierungsfähigkeit von Sinn verbunden ist. 47 Erst der Fremdoder Selbstbeobachtung fallen die unvermeidlichen Erwartungsverschiebungen auf. In diesem Sinne läßt sich die Subsistenz der subsistenten Norm nicht ausfindig machen. Der Inhalt der entscheidungsprogrammierenden normativen Erwartung muß erst im Kommunikationszusammenhang konstruiert werden. Die in den juristischen Entscheidungsprozessen neben dem Handeln mitlaufende Selbst- und Fremdbeobachtung ist kein psychischer Vorgang. Wenn sich die Rechtsprechung auf Rechtsprechung bezieht, dann ist dies ein Kommunikationsvorgang und keine 43 Vgl. Thomas Mathiesen, The Unanticipated Event and Astonishment, in: Inquiry 3 (1960), S. 1-17, 15: „a decision is made with regard to the important question of whether the unanticipated is to be interpeted as a negative disturbance of equilibrium or as a positive new addition to and change of the system in question." 44 Künstler, die unter dem Druck stehen, ständig etwas neues produzieren zu müssen, wissen dies vielleicht am besten. „To be Modern Art a work need not to be either modem nor art; it need not even be a work . . . Since the only thing that counts for Modern Art is that a work shall be new, and since the question of its newness is determined not by analysis but by social power and pedagogy, the vangard painter functions in a milieu utterly indifferent to the content of his work." Harold Rosenberg , The Tradition of the New, London 1962, S. 36 f. 45 Zum Begriff von „Built-in indeterminacy" s. Fred E. Katz, Indeterminacy and General Systems Theory, in: William Gray / Nicholas D. Rizzo (Hrsg.), Unity Through Diversity, Part Π, New York / London / Paris 1973, S. 969-982. Vgl. femer Wendell R. Garner, Uncertainty and Structure as Psychological Concept, New York 1975, S. 197. Bei Gamer könnte man von „Built-in redundancy" sprechen. „Redundancy has a real purpose. Its purpose is primarily to ensure against error". 46 Vgl. Henri Atlan, Entre le cristal et la fumée. Essai sur l'organisation du vivant, Paris 1979, S. 165 ff., 219 ff.; Michel Serres, Hermes III La traduction, Paris 1974, S. 46, 54, 64. 47 Zur Katastrophentheorie s. E. C. Zeeman, Catastrophe Theory. Selected Papers, 1972 -1977, London u. a. 1977; Jean Petitot-Cocorda, Identité et catastrophes (Topologie de la différence), in: L'Identité. Séminaire interdisciplinaire dirigé par Claude LéviStrauss, Paris 1977, S. 109-148, Diskussion 149-156; s. femer die Beiträge in: Laboratorio Politico 5/6 1981 (Catastrofi e trasformazione); zum Begriff der dissipativen Struktur als „challenge to system theory": Erich Jantsch, Autopoiesis: A Central Aspect of Dissipative Self-Organization, in: Milan Zeleny (Hrsg.), Autopoiesis. A Theory of Living Organization, New York/Oxford 1981, S. 65-90, 68, 83. 7 Gromitsaris

§ 4 Regelbildung und Regelbefolgung

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Erinnerungstätigkeit. Die Relationierung von Entscheidungseinheiten erfolgt immer in der Gegenwart und „braucht dazu kein Gedächtnis".48 Der Zusammenhang von Informationsereignis und Erwartungslage einerseits und von Informationsereignis und geänderter Operationsweise andererseits kann nur im nachhinein kommunikativ im Rahmen einer Selbst- oder Fremdbeobachtung als Gedächtnis erscheinen. Die der Einzelfallentscheidung vor- und nacharbeitende dogmatische Rechtswissenschaft scheint dies zu ignorieren und schreibt oft der Rechtsprechung ein schlechtes Gedächtnis zu. Die subsistente Norm kann die Einzelfallentscheidung, die sie programmiert, nicht überleben. Beim nächsten Kommunikationsvorgang können Alternativen zur Entscheidung gebracht werden, die die bisherige Operationsweise als durch eine subsistente Norm geregelt darstellen. Das ändert aber nichts daran, daß Erwartungen in der Gegenwart spezifiziert, generalisiert und respezifiziert werden.

§ 4 Regelbildung und Regelbefolgung in den sozialen Entscheidungssystemen des Rechts I. Aporien staatlicher Rechtsbildung Regelbildung und Regelbefolgung erfolgen meistens unmerklich. Formlose Absprachen zwischen staatlichen und gesellschaftlichen Organisationen werden auf verschiedene Weise dem Abschluß verbindlicher Verträge oder der Vornahme einseitiger hoheitlicher Rechtsetzungsakte vorgezogen. In der juristischen Diskussion finden informale Absprachen nur wenig Aufmerksamkeit. Das juristische Augenmerk bleibt auf gerichtliches oder gerichtlich überprüfbares soziales Handeln fixiert. Da Absprachen auch im Konfliktfalle nicht zu gerichtlichen Auseinandersetzungen führen, gelangen sie trotz ihrer praktischen Bedeutung nicht ins Blickfeld der Jurisprudenz. Wenn man die Wirksamkeitsvoraussetzungen und Funktionen von Absprachen untersucht, die zwischen Industrieverbänden bzw. Großunternehmen und dem Bundesinnenministerium getroffen werden, kommt man zu dem Schluß, daß Absprachen und subsistente Regelbildungen ein notwendiges Entscheidungsinstrument des Staates sind, das neben die Entscheidungsformeln von Vertrag, Gesetz, Rechtsverordnung und Verwaltungsakt mit Selbständigkeitsanspruch tritt und mit Hilfe der rechtssoziologischen Begrifflichkeit Geigers erfaßt werden kann. 1. Informalität

und Pluralität

von Entscheidungsmöglichkeiten

Umweltpolitische Absprachen mit Industrieverbänden und einzelnen Großunternehmen wurden beispielsweise als Instrument der Abfallwirtschaftspolitik eingesetzt, um die Menge von Verpackungsabfällen zu begrenzen und Verpackungs48 Luhmann (§ 1 Fn. 27), S. 102 f. FN 19.

I. Aporien staatlicher Rechtsbildung

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materialien verstärkt im Produktionsprozeß wieder neu zu verwenden. Obwohl die Bundesregierung laut § 14 AbfG die Möglichkeit hat, durch Rechts Verordnung Einwegbehältnisse allgemein zu verbieten, hat sie von dieser Möglichkeit keinen Gebrauch gemacht. Statt dessen wurden mit der Industrie fünf Absprachen getroffen, die die Erhaltung des Mehrwegbehälter-Systems sicherstellen und eine verstärkte Verwendung von Behältnisabfällen ermöglichen sollen. Die Erfahrungen, die mit den Absprachen über getrennte Verpackungen gemacht wurden, gestatten einige Hypothesen über die allgemeinen Wirksamkeitsvoraussetzungen von Absprachen. Erstens scheinen Absprachen auf einem Interessenausgleich zu beruhen. Nichtstaatliche Akteure erbringen die Leistung, einen umweltpolitisch erwünschten Zustand herbeizuführen oder zu erhalten. Staatliche Stellen verzichten als Gegenleistung auf den Einsatz von Zwangsmaßnahmen und stellen wirtschaftliche oder sonstige Vorteile in Aussicht. Für Absprachen dieser Art ist ferner kennzeichnend, daß sie gerichtlich nicht einklagbar sind. Ihre Bindungswirkung hängt nicht von der Erzwingbarkeit der Erwartungen ab. Als weitere Wirksamkeitsvoraussetzung erfordern Absprachen intensive Kontakte zwischen den Beteiligten in der Vorbereitungs- und in der Durchführungsphase. Absprachen kommen nämlich zustande, wenn sie Probleme der Informationsbeschaffung, der Eröffnung von Kommunikationsmöglichkeiten und der Überwindung von Macht- und Informationsgefällen mehr oder minder erfolgreich lösen. Die Nützlichkeit der umweltpolitischen Absprachen liegt in den Funktionen, die sie erfüllen. Alle Absprachen werden als Alternative zu förmlich geregelten Handlungsinstrumenten des Staates eingesetzt. Sie stellen ein eigenständiges Handlungsinstrument des Staates dar, das neben Vertrag, Verwaltungsakt, einseitige Verpflichtungserklärung und Rechtsnorm tritt. Sie werden als unvermeidbare Erscheinungen des Handelns von Organisationen nicht in einem rechtsfreien Raum getroffen. Sie ergänzen die formalen Handlungsstrukturen und machen zusammen mit den formalen Zielen und Handlungsregelungen die Möglichkeitspalette und das Alternativenbündel rechtlich relevanten Handelns aus. In den umweltpolitischen Entscheidungssituationen sind ausreichende Informationen über alle Problemaspekte nicht erreichbar. Einvernehmliche Problemlösungen sind ein Mittel der Komplexitätsreduzierung, weil sie die Kalkulierbarkeit des Entscheidungsverhaltens erhöhen und Informationen in den Verhandlungsprozeß einführen, über die jeweils die Gegenseite von sich aus nicht verfügt hätte.1 Absprachen werden somit zu Instrumenten der Konflikteindämmung, die die rechtsförmlichen Entscheidungen ergänzen. Dem Staat wird es — angesichts dieser Regelungsmöglichkeit — immer schwieriger, notwendige umweltpolitische Maßnahmen einseitig zu treffen und in der Öffentlichkeit zu rechtfertigen. Darüber hinaus sind Absprachen flexibel und können ohne Bindung an rechtsförmliche Schwierigkeiten an rasche wissenschaftliche, technologische und wirt1 Eberhard Bohne, Absprachen zwischen Industrie und Regierung in der Umweltpolitik, in: Volkmar Gessner/Gerd Winter (Hrsg.), Rechtsformen der Verflechtung von Staat und Wirtschaft, Opladen 1982, S. 266-281, 267, 274 f. i*

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schaftliche Veränderungen angepaßt werden. Sie tragen zu einer Aufwands- und Kostenminderung bei, weil sie Aufwand und Kosten für ein förmliches Rechtsetzungsverfahren sowie das Einschreiten eines behördlichen Vollzugs- und Kontrollapparates unnötig machen. Zusammenfassend läßt sich feststellen, daß formalisierte neben informalen Entscheidungsformen in der jeweiligen Entscheidungssituation zur Wahl stehen können. Außerdem entwickelt sich zwischen Staat und Industrie ein Kooperationszusammenhang, der die Entscheidungslasten verteilt. Die Frage, die sich aber aufdrängt, lautet, ob und wie Kommunikation zwischen verschiedenen Funktionssystemen der Gesamtgesellschaft, die verschiedene Codes handhaben, möglich ist. Die Pluralität der Entscheidungs- und Institutionsträger, die zur Gesetzesinterpretation und Gesetzesanwendung beitragen, bringt auch eine Pluralität der anzuwendenden Normen mit sich. Untersuchungen im Bereich des Umweltschutzes haben ergeben, daß verschiedene Regelbereiche und Normerzeuger unterschieden werden können, die im Funktionszusammenhang die auftretenden Problemstellungen im Umweltrecht lösen. Es handelt sich um Gesetze, administrative Richtlinien, technische Regelungen der Politikberatung und technische Normungen. Technische Fachbehörden und Sachverständigengremien haben das Schwergewicht bei der Definition von technischen Standards, bei der technischen Beratung und Begutachtung und bilden ein „kodifizierbares Sediment des technischen Know-how", das zusammen mit den institutionalisierten Praktiken des technischen Prüf- und Gutachtenwesens die rechtlich relevanten Routineentscheidungen steuern kann. 2 Die Regeln der Technik, die keine Rechtsqualität und rechtliche Verbindlichkeit besitzen, werden somit unentbehrlich für die Anwendung der Regeln des Rechts. Verfolgt man den Entscheidungsprozeß eines atomrechtlichen Genehmigungsverfahrens, so werden zunächst die Genehmigungsvoraussetzungen anhand der materiellen Genehmigungstatbestände des Atomgesetzes (AtomG) und der Strahlschutzverordnung (StrSchVO) geprüft. Bei der Prüfung müssen die Behörden einerseits auf die verwaltungsrechtlichen Konkretisierungen der einschlägigen Rechtsvorschriften in den darin enthaltenen unbestimmten Rechtsbegriffen ("Sicherheitskriterien" und anderen Richtlinien) zurückgreifen. Zum anderen müssen sie die Stellungnahmen der Gutachterorganisationen und technischen Beratungsgremien ihren Entscheidungen zugrunde legen. Der technische Sachverstand seinerseits findet seine grundlegenden Entscheidungsprämissen in den Sicherheitskriterien, den Leitlinien der (RSK) Reaktorsicherheitskommission, der kerntechnischen Normung des Kerntechnischen Ausschusses (KTA) und den Weisungsbeschlüssen der Vereinigung der Technischen Überwachungsvereine (VdTÜV). Die Beteiligten an dem Entscheidungsprozeß, d. h. Hersteller, Betreiber, Behörden, Gerichte und Umweltschützer müssen sich so mit einem unübersichtlichen Geflecht von Rechtsvorschriften, technischen Regeln und Nor2 Hierzu und zum folgenden Reiner Wolf \ Rechtsordnung und Technostruktur, in: ebd., S. 241 ff., 251, 254, 256, 258 f.

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men auseinandersetzen. Der Entscheidungsprozeß ist das Produkt einer Vielfältigkeit von Interaktions- und Interoganisationsbeziehungen im Spannungsverhältnis von rechtsförmlichen Regelungen und technischen Standards. Die Konkurrenz rechtsförmiger und technischer Regelungen stellt sich auch als Frage der Konkurrenz zwischen staatlichen und nichtstaatlichen Organisationen für die Definitionsmacht über die rechtlichen und technischen Regeln. Die Untersuchung der Beziehungen politisch administrativer und gesellschaftlicher Akteure ergibt eine klare Dominanz der außerrechtlichen und nichtadministrativen Vorgaben im Entscheidungsprogramm. Die entscheidenden Elemente der Programmstrukturen im Bereich der Kernenergie scheinen von technischen Regelungen und nicht von Gesetzesprogrammen fixiert zu werden. Die in Immissionswerten ausdrückbaren zentralen Umweltqualitätsnormen sowie die Meßmethoden, die Immissionskontrollverfahren, die Konstruktionsanforderungen, die Immissions- und Produktionsnormen werden also von technischen Regelungen festgelegt. Die rechtlichen Regelungen legen die organisatorischen und instrumenteilen Fundamente des administrativen Handelns fest. Selektivität der Programmstruktur bedeutet dennoch nicht nur die Festlegung der Grenzen der Verwaltungskontrolle durch den Verwaltungsrechtsschutz und die legislative Rechtsetzung, sondern auch Chancen zur Berücksichtigung der wirtschaftlichen und politischen Interessen in späteren Phasen der Interorganisationsbeziehungen im Implementationsspiel. Der Kern eines technischen Reaktorsicherheitsprogramms ist weder in den Rechtssätzen noch in den administrativen Entscheidungsvorlagen benannt und fixiert. Die Reaktorsicherheitskommission, die Gesellschaft für Reaktorsicherheit und die Technischen Überwachungsvereine scheinen über die Definitionsmacht zu verfügen, was den wesentlichen Bereich der Festlegung von Immissionswerten angeht. Die rechtsförmigen und administrativen Regelungen erbringen zwar prozedurale und organisatorische Leistungen, können jedoch die Programmstruktur rechtlich relevanten Entscheidens im Bereich der Kernenergie nicht aufzeigen. Die regulative Kernenergiepolitik beruht auf einem Akteurensystem. Dies besteht im wesentlichen aus dem Bundesinnenministerium, den Genehmigungsbehörden der Länder, der Organisation der technischen Politikberatung, dem Kerntechnischen Ausschuß und den Herstellern und Betreibern von Kernkraftwerken. Hinzu kommen die Gegner der Kernenergie und die teilweise von ihnen mobilisierte Verwaltungsjustiz. Alle diese Akteure bilden ein System sozialer Kommunikation, das Entscheidungsprogramme nicht nur umsetzt, sondern sogar erstellt. Nichtstaatliche Akteure beteiligen sich an der Erstellung von administrativen Programmen. Sie können nämlich — substantiell frei von staatlichen Interventionen — „wesentliche Programm- und Implementationselemente erstellen, die dann vom administrativen System adaptiert werden". 3 Die Beziehungsgeflechte zwischen den Akteuren sind nicht durchgehend hierarchisch strukturiert und weisen vielfältige, interde3 Wolf, ebd., S. 256.

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pendente, institutionelle und normative Abhängigkeiten auf. Es besteht eine Vielfalt von Kontaktsystemen zwischen Verwaltung, Kernenergiewirtschaft, Sachverständigenorganisationen und technischen Normerzeugem. In diesen Kontaktsystemen werden die verschiedenen Regelungskomponenten und Programmstrukturen durch vielfältige berufliche, instanzenhafte, organisatorische und — mit einem Wort — kommunikative Zusammenhänge ausbalanciert und stabilisiert. Geigers Theorie liefert die allgemeintheoretische Grundlage für diese konkreten Sachverhalte. Die genetischen Zusammenhänge von Programmentwicklung und Programmdurchführung lassen sich nicht bloß durch gesetzlich festgelegte Konditional- und Zweckprogramme und deren Anwendungsfälle präjudizieren. Für den administrativen Entscheidungsprozeß scheinen die Rechtssätze ihre Dominanz über den das Verwaltungshandeln präjudizierenden Input-Funktionen für weite Bereiche des kerntechnischen Umweltschutzes verloren zu haben. Nicht nur gerichtliche Urteile entfalten Präjudizwirkung. Nur zum Teil sind die Entscheidungsprogramme zu Beginn des Implementationsprozesses vorhanden. Die anfangs vorliegenden Programmrudimente werden durch einzelne und heterogene Implementationsleistungen der technischen Politikberatung und der Sachverständigengremien ergänzt. Auf diese Weise kann man wohl sagen, daß Regelerzeugung und Regelanwendung oder Regelbefolgung im Rahmen des Interaktionszusammenhangs zwischen staatlichen und nichtstaatlichen Akteuren einander bedingen. Die Vielfalt der Kontaktsysteme, die den gesamten Komplex der kerntechnischen Regelentwicklung und Begutachtung umspannt, stellt ein soziales Kommunikationssystem dar, das sowohl das programmierende als auch das programmierte Entscheiden selbst produziert. In diesem Kommunikationssystem sind institutionalisierte Erwartungszuammenhänge wichtig, unabhängig davon, ob sie staatliches Verwaltungshandeln oder nichtstaatliche Organisation betreffen. Es kommt darauf an, welche Erwartungszusammenhänge die Kommunikationsbeteiligten als Strukturen erleben und behandeln. Auf diese Weise werden auch gleichsam inoffizielle Programmstrukturen sichtbar. Sie sind für die Strukturierung der Kommunikation ebenso wichtig wie die offizielle formalisierte Kontaktstruktur. Rechtlich relevante Verhaltensregelungen finden nicht mehr in den Rechtsformen des Rechtsstaates statt. Nicht nur im Rahmen, sondern auch im Vorfeld förmlicher Verwaltungsverfahren werden rechtliche Probleme gelöst, unbeschadet der Tatsache, daß der herkömmliche rechtsdogmatische Begriffsapparat diesen Teil der Rechtswirklichkeit nicht erfassen kann. Im Idealtyp des Rechtsstaates wird jede rechtliche Entscheidungstätigkeit durch Rechtssätze strukturiert, die dem Typ des Konditionalprogramms oder dem Zweck-Mittel-Schema (Zweckprogramm) entsprechen. In der Regel kommen beide Programmarten in rechtlichen Entscheidungsprämissen kombiniert vor. Bei einer Entscheidungstätigkeit, die durch Konditionalprogramme strukturiert wird, braucht die Verwaltung Informationen, die die Vergangenheit betreffen. Sie muß Informationen über vergangene Ereignisse verarbeiten, um tätig werden zu können. Bei der Erfüllung von Zweckprogrammen entstehen

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völlig andere Probleme der Informationsbeschaffung, weil sie die Verarbeitung von Informationen über zukünftige Ereignisse erforderlich macht. Dies bringt das Problem der Unsicherheit mit sich. Den Unsicherheitswert von zukünftigem Verhalten der Adressaten der Verwaltungsentscheidung versucht die Behörde dadurch zu verringern, daß sie mit den Adressaten ihrer Entscheidung verhandelt und über deren zukünftiges Verhalten Absprachen trifft. Diese Art der Reduktion von Unsicherheit ist nicht nur aus informationstheoretischen Gründen erforderlich. Ohne die Mitwirkung der Betroffenen ist in vielen Fällen die Erfüllung der Norm gar nicht möglich. Dies ist gerade für wirtschaftslenkende Verwaltungstätigkeit typisch, da sie die Mitwirkungsbereitschaft der privaten Entscheidungsträger in den Unternehmen im Rahmen eines bargaining process aushandeln muß. 2. Zwischenstaatliche

und überstaatliche Rechtsbildung

Die internationale Wirtschaftstätigkeit kann nicht von den Geltungsansprüchen nationaler Rechte erfaßt werden. Mit den weltweit operierenden transnationalen Unternehmen verliert die Regelungskraft nationaler Wirtschaftsrechtsnormen erheblich an Wirkung. Die Internationalisierung der Unternehmensstrategien, Unternehmensziele, Unternehmensproduktion und Vermarktung beruht auf einem Gebilde anerkannter Praktiken. Die Formen des internationalen Wirtschaftsrechts sind meistens verbindliche Verhaltenskodizes, die nie in Kraft getreten sind. Sie sind aber trotzdem verbindlich. Sie können auf Verstöße nicht voll angewandt werden und sind doch allgemein akzeptierte Konventionen wie das GATT. Die Entstehung von formalen und informalen Kontaktsystemen zwischen Staatsorganen und Unternehmen ist auf der Ebene internationaler Wirtschaftspolitik so groß, daß Staatsapparate von den Unternehmen zur Förderung von Investitionsund ExportcKancen mobilisiert werden. So können Dreiecksvertragswerke zwischen einem Rohstoffstaat, einem deutschen Unternehmen und deutschen Kreditgebern unter Einschluß der „Kreditanstalt für Wiederaufbau" entstehen. Zum Zwecke der Energieversorgung können komplexe Abkommen mit Staaten der Dritten Welt ausgehandelt werden, die „als schützendes Dach über einer Reihe von Projektverträgen auf Unternehmensebene ruhen". 4 So stellt staatliche Kooperation die Vorbedingung und Grundlage für Abkommen vertraglich formalisierter Art dar. Bei Investitionen in Entwicklungsländern werden Investitionsvereinbarungen geschlossen, die zwischen vollständiger Unterwerfung unter gaststaatliches Recht und Gerichtsbarkeit einerseits und ausschließlicher Zuständigkeit einer privat- oder gemischt privat-staatlich organisierten Schiedsgerichtsbarkeit andererseits stehen. Als anwendbares Recht kann staatliches Recht oder aber die lex mercatoria der transnationalen Handelsbräuche in Betracht kommen. In der 4

Hier und zum folgenden Thomas Wälde, Rechtsformen der Verflechtung zwischen Staat und Wirtschaft im Bereich internationaler Wirtschaftsbeziehungen: Zwischenstaatliche Kooperationsabkommen und Modellverträge internationaler staatlicher Organisationen, in: Volkmar Gessner/Gerd Winter (Hrsg.), S. 376, 378, 382.

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Realität kommen meistens Mischformen vor. Insgesamt scheinen die Formen des selbstgeschaffenen Rechts der internationalen Wirtschaft auf eine vielfältige Vertragspraxis zurückzugehen, die aufgrund von Handelsbräuchen und Kriterien der Vertragsauslegung durch Schiedsgerichte international geltende Orientierungspunkte entstehen ließ. Im Rahmen des Prozesses der Entwicklung dieser internationalen lex mercatoria spielten Vertragsklauseln, Kommentare, standard contracts, einheitliche Bedingungen und ähnliche praktische Instrumente eine wichtige Rolle: Sie speichern die relevante Erfahrung, vereinheitlichen die Praxis der Vertragsgestaltung und üben auf die künftige Vertragsgestaltung und Vertragsauslegung eine Überzeugungswirkung aus. Die Staatlichkeit bleibt de facto als dritte übergeordnete erzwingende Instanz von der Erzeugung formeller Absegnung, Verbreitung und auch von der schiedsgerichtlichen Durchsetzung weitgehend ausgeschlossen. Staatsapparate können aber wohl in Kooperationsformen mit privaten Unternehmen zur Institutionalisierung der Handelspraxis beitragen. Einzelne Staaten oder eine regional organisierte Staatlichkeit (EG) können in Beziehungen zu Privatunternehmen treten und teilweise die Beziehungen dieser Unternehmen mit Staaten der Dritten Welt organisieren (joint ventures, Investitionsverträge). Bei den Rechtsformen der internationalen Wirtschaftskooperation scheint der Jurist dazu genötigt zu sein, „zwischen der binären Unterscheidung von rechtsverbindlich — nicht rechtsverbindlich eine neue Kategorie des ,halb verbindlichen' zuzulassen".5 Diese Auffassung stimmt mit dem Vorschlag von Blankenburg überein, „Recht als gradualisiertes Konzept" zu verstehen und die Juristenperspektive der absoluten Disjunktion Recht / Unrecht durch eine Perspektive des „mehr oder weniger Recht" zu ersetzen. Das kommt auch der Neigung Geigers, Verbindlichkeit und Normen in meßbaren Variablen zu denken, entgegen. Juristen messen aber nicht, sie entscheiden. Geiger scheint sich dieser Unterscheidung in anderen Zusammenhängen bewußt zu sein. Er unterscheidet nämlich zwischen rechtssoziologischer Beobachtung und juristischem Verbindlichkeitskalkül. Die Schwierigkeit, die seinen Ausführungen immanent ist, liegt in der Tatsache, daß er die Systemreferenzen wechselt, ohne jedoch immer zu warnen. Geltung bedeutet in der Perspektive des Fremdbeobachters etwas anderes als in der Perspektive des juristischen Entscheiders. 6 Was die Verbindlichkeit internationaler Handelsgebräuche angeht gibt Geiger eine klare Antwort. Wir haben es hier mit Erscheinungen rechtlicher Art zu tun, unbeschadet der Tatsache, daß keine überstaatliche Einheitsbildung und Einheitssanktionierung möglich ist. Die Realisierungssicherheit von Erwartungen läßt sich nicht auf die Sanktionsbereitschaft einer Zentralmacht und eines zentralen Herrschaftsapparates stützen. „In Termini der Rechtssicherheit gesprochen: die Orientierungsicherheit ist vor5

Gerd Winter, Literaturbericht zum Thema, in: Volkmar Gessner/Gerd Winter (Hrsg.), ebd., S. 9-37,27 f.; Thomas W. Wälde, Rechtsformen der Verflechtung zwischen Staat und Wirtschaft im Bereich internationaler Wirtschaftsbeziehungen: Zwischenstaatliche Kooperationsabkommen und Modellverträge internationaler staatlicher Organisationen, in: Volkmar Gessner/Gerd Winter (Hrsg.), ebd., S. 372 390, 380. 6 Hierzu s. den Abschnitt zur Funktion der Rechtsgeltung.

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läufig erheblich größer als die Realisierungssicherheit". 7 Es steht außer Zweifel, daß es um Recht geht, das die Funktion der Erwartungssicherung (Orientierungsgewißheit) auf internationaler Ebene übernimmt. Dies braucht und kann nicht einheitlich geschehen. Wenn man sich nun scheut den Ausdruck „geltendes Recht" auf internationale Erwartungszusammenhänge im wirtschaftlichen oder im politischen Bereich anzuwenden, „mag man dergleichen als unvollständiges Recht, als Recht in statu nascendi oder als Juridoide bezeichnen".8 Es würden sich aber nicht viele Juristen finden, die bereit wären zur Beruhigung des theoretischen Gewissens durch praktisch irrelevante Definitionsvorschläge beizutragen. 3. Rechtliche Organisation und gesellschaftliche

Ρolykontextur alitât

Die Entstehung von Kontaktsystemen zwischen privatrechtlichen Organisationen und der Öffentlichen Hand ist ein durchaus häufiges Phänomen, das nicht im institutionellen Bereich der Verwaltung angesiedelt ist. Daraus darf aber nicht der falsche Schluß gezogen werden, daß solche Kontaktsysteme ausschließlich der Politik oder der Wirtschaft angehören würden und demnach rechtlich irrelevant wären. Ein interessantes Beispiel ist die Gründung einer GmbH, der „Entwicklungsgesellschaft Wulfen mbH" (EW), die 1960 den Zweck des Baus einer völlig neuen Stadt am Ballungsrand des Ruhrgebietes verfolgen sollte.9 Die Geschichte des Projekts begann in den 50er Jahren mit der Planung einer neuen Großfläche der M. Stinnes AG. Das Projekt entsprach dem im Ruhrgebiet traditionsreichen Schema der Ausbreitung von Industrie und ihr folgend Besiedlung der Gegend.10 Die privaten und öffentlichen Träger teilen sich den Einfluß auf die EW. Alle notwendigen Teilnehmer am Planungs- und Durchführungsprozeß dieses Großprojekts sind im Aufsichtsrat der GmbH vertreten. Der Aufsichtsrat ist wie folgt besetzt: „Die Stinnes AG als ,Veranlasser 4, der Siedlungsverband als Hauptträger der öffentlich-rechtlichen Planungsarbeit und zur regionalen Abstimmung sowie Vermittlung von Landesförderung, die zuständigen Bundesund Landesministerien zur politischen Absicherung und finanziellen Förderung, die Westdeutsche Landesbank zur Sicherung ihrer Kredite (mit Vetorecht gegenüber der Gesellschaftsversammlung) und die Gemeinden als lokal zuständige politische Instanzen." Unter dem Aspekt des GmbH-Rechtes zeigt die Entwicklungsgesellschaft Wulfen keine Besonderheiten, da juristische Personen des öffentlichen Rechts unzweifelhaft Gesellschafter sein können. Die Wahl der Privatrechtsform geht auf die Vorteile der Arbeitsweise einer GmbH zurück. Querverbindungen funktionieren besser als in Verwaltungsbehörden. Die Hierarchie- und Kompetenzordnungen haben weniger grundsätzliche Bedeutung. Die Entwick7 Geiger, Vorstudien, S. 220 ff., 224. s Ebd., S. 225. 9 Sabine Stuht, Verflechtungsformen bei der Entwicklung der „Neue Stadt Wulfen", in: (Fn. 1), S. 297-327, 298 f. 10 Ebd., S. 303.

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lungsgesellschaft Wulfen ist keine vollziehende Gewalt. Sie organisiert ihre Arbeit nicht „bürokratisch-monokratisch-aktenmäßig". Sie wird nicht erst auf Antrag tätig, sondern vertritt ein Konzept der aktiven Herstellung von Gemeinwohl. 11 Diese Konzertierung öffentlicher und privater Zwecke, Aufgaben und Akteure in der privaten Rechtsform der GmbH ist rechtstheoretisch von Bedeutung. Die herkömmliche, rechtsstaatlich organisierte Handlungsform der Verwaltung, nämlich der Verwaltungsakt, ist zu starr und überhaupt nicht prozeßorientiert. Er geht gedanklich vom Eingriff in Freiheit und Eigentum aus und ist in ein begriffdogmatisches System der Freiheitsverbürgung und Rechtskontrolle eingepaßt. Die öffentliche Gewalt hat in ihm ein klassisches Handlungsinstrument gefunden, das auf den Dualismus: Staat/Gesellschaft beruht und dem Vollzug vorher gesetzlich geregelter, isolierter Zwecke dient. Die rechtsstaatliche Verwaltungsbindung stand einem selbstregulativen marktvermittelten Gemeinwohl gegenüber. Informationsbeschaffung und Datenverwertung, Interessenabstimmung und Vorausplanung, Programmdefinition und Programmveränderung können in der Gestalt von einseitig, d. h. hoheitlich regelnden Verwaltungsakten nicht geleistet werden. Eine Politik, die Währung, Arbeitsmarkt oder Industrieansiedlung beeinflussen will, muß einen Bereich staatlichen Handelns entstehen lassen, der durch die Einbeziehung heterogener Akteure in administrative Entscheidungen gekennzeichnet ist. Im Verwaltungsrecht ist man schon darum bemüht gewesen, das System öffentlichrechtlicher Handlungsformen um einige Figuren zu erweitern, etwa die Figuren des öffentlich-rechtlichen Vertrages oder der schlichten Hoheitsverwaltung. Die systematisch nächste Stufe wäre die Erweiterung öffentlichrechtlicher Vollzüge in privatrechtlich strukturierte Bereiche hinein. Auf diese Stufe kann das Verwaltungshandeln selbst privatrechtliche Formen annehmen. Die Verwaltung kann sich aber auch eines privaten Rechtssubjektes bei der Erfüllung ihrer Aufgaben bedienen oder schließlich gemeinsam mit Privaten in privatrechtlicher Form handeln. Das Hauptproblem mag bei diesen Konstruktionen in der Frage gesehen werden, ob die Verwaltung mit Eintritt in die privatrechtliche Sphäre ihre öffentlich-rechtlichen Bindungen abstreift oder ob und in welchem Maße diese Bindungen ins Privatrecht verlängert werden können. 12 Einerlei, wie die Verwaltungsrechtslehre dieses Problem löst, rechtstheoretisch liegt die Besonderheit gerade in dem Zusammenspiel von Akteuren, das auf der Ebene der Programmierung diejenigen Gesichtspunkte einführen kann, die auf der Codierungsebene der verschiedenen Funktionssysteme der Gesellschaft unberücksichtigt bleiben. Das verwaltungsrechtliche Denkgebäude kann zwar der Frage nach der öffentlich-rechtlichen Bindung des Verwaltungshandelns in seinen verschiedenen Verflechtungsformen nachgehen. Es kann versuchen, neue dogmatische Figuren zu entwickeln und vom Forschungsstand anderer Disziplinen zu π Ebd., S. 311. i2 Ebd., S. 311, 315 f., 319.

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profitieren. 13 Es wird aber insgesamt unterkomplex bleiben, wenn es seinen ihm zugrunde liegenden Gegensatz von Staat und Wirtschaftsgesellschaft nicht aufgibt. 1 4 Die moderne Rechtstheorie trägt hingegen diesem Umstand dadurch Rechnung, daß sie sich als eine Theorie und Soziologie des Rechts darbietet und den Theoriedefiziten der Dogmatik Abhilfe leistet. 15 Im Fall der Entwicklungsgesellschaft Wulfen scheinen Verfahren der Beteiligung der ausschlaggebenden Instanzen am Aufsichtsrat die traditionell öffentlichen Einfluß- und Abstimmungsverfahren ersetzt zu haben. Im Planungsprozeß einer GmbH lassen sich beispielsweise beliebige durch die binäre Schematisierung von Recht / Unrecht ausgeschlossene Dritten wieder einschließen. Während die konditionalprogrammierende Aufsichtsverwaltung durch hoheitliche Zwangsmittel ihren Entscheidungen letztlich Geltung verschaffen kann, macht die gestaltende Verwaltung den Zwang zum Verhandlungsgegenstand in den Verhandlungen mit den Unternehmen, obwohl dies im Idealtyp des Rechtsstaates eine politische Aufgabe darstellt, von der die Verwaltung gerade entlastet sein sollte. Die Probleme der Informationsbeschaffung und Informationsverarbeitung stellen sich noch gravierender dar, wenn der Gesetzestext, der die Entscheidungsprämissen für das Verwaltungshandeln festlegt, so vage ist, daß er nicht mehr die Funktion des Zweckprogramms erfüllen kann. Im Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen (§§ 8,24 Abs. 3 GWB) sind Beispiele für programmierunfähige Zwecktypen enthalten: die sogenannten Ministererlaubnisse, die an Tatbestandsmerkmale wie „überwiegende Gründe der Gesamtwirtschaft und des Gemeinwohls" oder „gesamtwirtschaftliche Vorteile" bzw. „überragendes Interesse der Allgemeinheit" anknüpfen. 16 Solche Begriffe können keine Entscheidungsprämissen setzen. Sie können kein Zweck sein. Das Gesetz programmiert nicht mehr; seine eigentliche Leistung liegt darin, einen „Problemkomplex als Aufgabe öffentlicher Gestaltung zu bezeichnen". Während das Gesetz Organisationsstrukturen fixiert und nur noch Nebenbedingungen konditionalisieren kann, sieht sich die Verwaltungsbehörde genötigt, ihr Handeln selbst zu programmieren. Die Selbstprogrammierung der Kartellbehörde erfolgt aufgrund einer fallweisen Konkretisierung und nicht durch eine Selbstbindung im Wege von Verwaltungsvorschriften. Im Falle dieses Gesetzestyps geht es nicht nur um die Festlegung von 13 Zu diesen Trends s. Luden Sfez, L'administration prospective, Paris 1970, 162 ff.; vgl. auch ders., Essai sur la contribution du doyen Hauriou au droit administratif français. Thèse pour le doctorat en droit, Paris 1964, S. 86 ff., 275 ff. 14 Vgl. Friedhelm Hase / Karl-Heinz Ladeur, Verfassungsgerichtsbarkeit und politisches System. Studien zum Rechtsstaatsproblem in Deutschland, Frankfurt am Main 1980, S. 227 ff., 265 f., 272 f. 15 Hierzu: Werner Krawietz, Wo stehen wir heute? Aktuelle Aufgaben einer Theorie und Soziologie des Rechts, in: Aissymnètès. Annales de Sociologie Juridique, 1 (1988), S. 22-27. 16 Jürgen Gotthold / Reinhard Vieth, Erfüllung von öffentlichen Aufgaben durch Verhandlungen mit Privaten im Bereich der Wettbewerbspolitik, in: Volkmar Gessner/ Gerd Winter (Hrsg.), ebd., S. 282-296, 284 ff., 286, 296 FN 24.

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geeigneten Mitteln im Hinblick auf gegebene Zwecke, sondern um die ZweckMittel-Beziehung insgesamt. Die Behörde beteiligt die Adressaten ihres Verwaltungshandelns nicht bloß bei der Auswahl der Mittel. Sie macht darüber hinaus die Festlegung der Zweck-Mittel-Beziehung selbst zum Verhandlungsgegenstand. Mit dem privaten Unternehmen wird nicht nur über die Ausübungsgrenzen des Verwaltungsermessens im Hinblick auf die Rechtsfolge (den Mitteleinsatz) verhandelt, sondern auch im Hinblick auf die Festlegung des Entscheidungsprogramms durch die Verwaltung selbst. Der Inhalt der unbestimmten Rechtsbegriffe wird durch Verhandlungen und Absprachen mit privaten Unternehmen konkretisiert. Allerdings widerspricht diese Praxis der herkömmlichen rechtsstaatlichen Verwaltungsrechtsdogmatik. Letztere bedient sich einer Unterscheidung „von gesetzlicher Normierung und verwaltungsmäßigem Vollzug, von tatbestandsmäßiger Voraussetzung und Rechtsfolge, von unbestimmtem Rechtsbegriff und Ermessen", die selbst in ihrer Funktion als rechtsstaatlicher Idealtypus bei dieser Art gestaltender Verwaltung obsolet wird. 1 7 Das Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen ist zwar seiner sprachlichen Formulierung nach ein Konditionalprogramm, das finale Elemente enthält. Tatsächlich sind jedoch die dort verwendeten Begriffe so vage, daß von einer Programmierung der Behörde nicht die Rede sein kann. Es geht hier nicht um den dem juristischen Denken schon länger vertrauten Umstand, daß den rechtsanwendenden Instanzen eine gewöhnlich als Rechtsauslegung bezeichnete Konkretisierung der Normen anvertraut wird. Das besondere für diesen Gesetzestyp liegt vielmehr darin, daß die Festlegung des Inhalts des Gesetzes nicht die einseitige Tätigkeit der mit seiner Ausführung beauftragten Behörden und Gerichte, sondern weitgehend das Ergebnis eines Verhandlungsprozesses zwischen Behörde und Privaten ist. Die wirtschaftlichen Unternehmen haben die Tendenz, Zweifelsfragen und den Inhalt der zahlreichen im Gesetz enthaltenen unbestimmten Rechtsbegriffe mit dem Bundeskartellamt zu erörtern. Das Bundeskartellamt trifft wegen der Komplexität und Vielschichtigkeit der Erscheinungsformen der Wettbewerbsbeschränkungen seine Einzelentscheidungen nach vorausgegangenen Verhandlungen. So geht die inhaltliche Konkretisierung des Kartellverbots wesentlich auf Aushandlungsprozesse zurück. Allerdings scheint die Verhandlungsbereitschaft der Unternehmen hauptsächlich wegen der Existenz hoheitlicher Sanktionsnormen (Bußgelddrohung, Verbotsdrohung, Auflösungsverfügung bei einem unzulässigen Zusammenschluß) zu bestehen. Dies bedeutet aber keineswegs, daß die gesetzlichen Regelungen das tatsächliche Verfahren steuern. Sie stellen eher die Voraussetzung der tatsächlich stattfindenden Aushandlungsprozesse dar. Die Sanktionsandrohungen werden im Horizont der Möglichkeiten bereitgehalten. Sie können die Rolle der Motivationsstruktur übernehmen und als Verhandlungsmacht vom Bundeskartellamt ins Spiel gebracht werden. Die Gesetze können die Vorhersehbarkeit des möglichen Verhandle Ebd., S. 287.

I. Aporien staatlicher Rechtsbildung

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lungshandelns nicht mehr gewährleisten. 18 Diese Aushandlungsprozesse, die zwischen verschiedenen Organisationenen und Instanzen stattfinden, werden dadurch möglich, daß Erwartungserwartungen gebildet, sinnvoll exkludiert und inkludiert werden. Die größten Schwierigkeiten, die dabei entstehen, sind damit verbunden, daß die Erwartungen in verschiedener Weise codiert sind. Erwartungen, die als Selektionskriterien für die Bestimmung der Werte des Rechtscode (Recht/Unrecht) dienen, sehen sich dazu genötigt, sich mit Erwartungen kompatibel zu machen, die als Selektionskriterien für die Bestimmung der Werte anderer Codes benutzt werden. Es handelt sich meistens um Wirtschaft, Politik und Wissenschaft. Es sind also mehrere binäre Schematisierungen gleichzeitig im Spiel: Zahlen / Nicht-Zahlen, Konservativ / Progressiv, Bindend / Nicht-bindend, Wahr/Unwahr. Zudem gibt es Differenzen, die nicht codemäßig miteinander verbunden sind, die aber kommunikativ relevant werden. 19 Es handelt sich also immer zugleich um Selektionsmöglichkeiten von Systemreferenzen. Die Systemteilnehmer seligieren nicht notwendig unter dem gleichen Code. Die eigentliche Ordnungsleistung des Kommunikationssystems die die Aushandlungsprozesse darstellen, liegt darin, daß codemäßig different schematisierte Erwartungen einander seligieren, ausschließen und erwartbar machen müssen, und die Frage ist dann, nach welchem Selektionsschema das geschehen soll. Die Reflexivebene des Erwartens bildet zwar ein emergentes Ordnungsniveau, die daraus resultierende Ordnung ist aber stets prekär. Bei der heute übersteigerten Eigenkomplexität der verschiedenen Funktionssysteme sind die jeweils funktionsspezifischen Prozesse der Informationsverarbeitung für Beobachter nicht durchschaubar. Unternehmer können nicht wissen, was für den konkreten Fall rechtens ist, und Verwaltungsbehörden können nicht wissen, ob und in welchem Sinne einer unternehmerischen Tätigkeit gesamtwirtschaftliche Bedeutung zukommt. Der eine gründet seine Erwartungsbildung auf Marktbeobachtung. Er beobachtet, wie sich die anderen Marktteilnehmer gegenseitig beobachten. Er nimmt Gelegenheiten zu Risikoübernahmen wahr, er sieht, wie die Konkurrenz Monopolgewinne zu Lasten der europäischen Volkswirtschaften erzielt oder wie Monopolpreise aufgrund der Preisbindung durch die Kontrollinstrumente des öffentlichen Preisrechts nicht erzielt werden können. Er hat Angst vor Wettbewerbern, die es noch gar nicht gibt, er plädiert für Wettbewerbsfähigkeit, er beklagt das politisch geprägte Organisationsmodell und will betriebswirtschaftliche Grundsätze durchsetzen. Der andere stellt sich als progressiv oder konservativ dar und operiert mit anderen Beobachtungsdifferenzen. Er kann in einer Fusion Gefahren für den Frieden, die Rückkehr zu den Dogmen eines staatsmonopolistischen Kapitalismus oder einfach politische Inkonsequenz erblicken. Er kann aber auch in demselben Unter18 Ebd., S. 288. 19 Beispielsweise: „Das Kammergericht, Gott sei Dank, war immer literarisch. Das Literarische macht frei..." Theodor Fontane, Frau Jenny Treibel, in: Theodor Fontane, Romane, Darmstadt 1985, S. 302. Hierzu: Eberhard Wilhelm Schulz, „Das Literarische macht frei ...": Über aphoristische Sätze Fontanes und ihre epische Integration, in: Literaturwissenschaftliches Jahrbuch 30 (1989), S. 141-161, 158.

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nehmenzusammenschluß den dauerhaften und langfristigen Abbau einer Subventionslast, die vom Steuerzahler aufzubringen wäre und die Schaffung neuer Arbeitsplätze sehen. Der Jurist braucht seinerseits brauchbare Entscheidungen und sucht in der Truhe der Entscheidungserfahrung des Rechtssystems nach Brauchbarkeitskriterien. In der juristischen Interessenabwägung zählt das politische Argument nicht. Die Erwartungsbildung im einen Funktionssystem ist dem anderen Funktionssystem nicht als Information, sondern als Irritation zugänglich. Die Kommunikation droht in jedem Moment zu kollabieren, man kann nicht mitansehen, wie rechtliche Probleme nicht rechtlich, sondern wirtschaftlich oder politisch gelöst werden, und man tritt gelegentlich deswegen von seinem Amt zurück. Auf der Ebene reflexiver, unterschiedlich codierter Erwartungen steht kein Selektionsschema fest. Das ist eine Wirklichkeit, mit der sich Verwaltungsbehörden, Sachverständigengremien und Privatunternehmen jedesmal konfrontiert sehen, wenn sie das Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen anzuwenden versuchen. Die Politik eignet sich in solchen Fällen bestens zum Sündenbock, und man kann als Jurist oder als Betriebswirt gegen sie leicht Abneigung oder Ressentiments entwickeln. 20

I I . Verwaltungsrechtswissenschaft und Verwaltungswissenschaften Wenn man Verwaltungen systemtheoretisch als Kommunikationssysteme definiert, die bindende Entscheidungen anfertigen, dann muß man das Prinzip der Gewaltenteilung als Prinzip der internen Differenzierung des Staatsverwaltungssystems auffassen. Bindende Entscheidungen produziert nämlich nicht nur die Verwaltung, sondern auch die Rechtsprechung und die Gesetzgebung. Das Gesamtsystem der Staatsverwaltung, d. h. die Entscheidungsverfahren in Parlamenten, Gerichten und in Verwaltungen hat eine bürokratische Grundstruktur, die bei der Grenzziehung zwischen Politik und Verwaltung beachtet werden muß. Die Kommunikationsprozesse, die zur Herstellung legitimer Macht dienen, lassen sich als Politik bezeichnen.21 Welche Institutionen diese politische Funktion erfüllen, ist eine Frage des Differenzierungsgrades der jeweiligen sozialen Ordnung. Bei wenig fortgeschrittener sozialer Differenzierung muß die Staatsbürokratie die politische Funktion der Bildung legitimer Macht miterfüllen. Mit zunehmender Differenzierung werden politische Kommunikationsprozesse und bürokratische Entscheidungsprozesse voneinander getrennt. Die Teilung der Gewalten erscheint als ein Regulativ für das Verhältnis von Politik und Verwaltung. Die Politik setzt zwar Entscheidungsprämissen für das Verwaltungssystem. Letzteres ist jedoch der Politik gegenüber verhältnismäßig autonom eingerichtet. Bei fortge20 Vgl. zu dieser Abneigung: Niklas Luhmann, Die Grenzen einer betriebswirtschaftlichen Verwaltungslehre, in: Verwaltungsarchiv 56 (1965), S. 303-313, 308. 21 Niklas Luhmann, Politische Verfassungen im Kontext des Gesellschaftssystems, in: Der Staat 12 (1973), s. S. 1-22 und S. 165-182, 3, 10ff.

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schrittener sozialer Differenzierung, etwa in funktionierenden parlamentarischen Demokratien, lassen die vorhandenen Kommunikationsstrukturen und Kommunikationsunterbrechungen eine zentrale, befehlsförmige Lenkung des Verwaltungssystems durch die Politik nicht zu. Die offizielle Entlastung von politischen Funktionen schaltet jedoch die politische Beeinflussung nicht aus. 22 Die Entscheidungsprozesse der Verwaltung bilden eine Grenze nicht nur zur Politik, sondern auch zum Publikum und zum Personal der Verwaltung. Diese drei Arten von Grenzbeziehungen spiegeln sich zum Teil in formalen und informalen Regeln der Arbeitsverteilung wider. Die Grenzen sind als Mechanismen der Filterung und der Verarbeitung von Informationen aufzufassen. Das Verwaltungssystem operiert nach eigenen Gesichtspunkten und behandelt Personalfragen, Publikumsverkehr und politischen Einfluß auf seine ihm eigentümliche Weise. Mechanismen der Grenzisolierung sorgen dafür, daß die drei Umwelten in der Staatsverwaltung voneinander unterschieden und die drei Grenzen gegeneinander abgedichtet werden. So wird eine Seperatbehandlung der politischen, der Publikums- oder der Personalgrenze nach jeweils besonderen Anforderungen möglich. Die Differenzierung von Umwelten durch Seperatbehandlung von Grenzen verhindert, daß die Verwaltung von einer Grenze aus beherrscht werden kann. Diese Separatbehandlung schließt breite Kontaktzonen nicht aus, in denen sich die Rollenanforderungen überschneiden und die verwaltungsmäßige Legitimitätsverwendung von der politischen Legitimitätsbeschaffung nicht mehr getrennt bleibt. Unabhängig von Überschneidungen und Überlappungen muß man die Verwaltung als ein Mehrgrenzensystem verstehen. Erst in bezug auf diese Umweltdifferenzierung und Grenzisolierung gewinnt das Schisma von präskriptiver und deskriptiver Verwaltungsforschung seine Bedeutung. Präskriptive und deskriptive Wissenschaften identifizieren sich nämlich mit je verschiedenen Grenzen des Verwaltungssystems. Erstere verstehen sich teils als wertabhängige oder als normierende Wissenschaften, die sich um die Richtigkeit des Handelns in der Verwaltung bemühen. Teils verstehen sie sich als wertneutral, indem sie Rationalmodelle des Handelns konstruieren, die sich für beliebige Werte verwenden lassen wie ζ. B. Modelle der Gewinnmaximierung oder der Machtstrategie. Die Jurisprudenz oszilliert zwischen diesen beiden Möglichkeiten normativ wissenschaftlicher Tätigkeit. Einerseits setzt sie die gesetzte Rechtsnorm voraus, andererseits versucht sie als Interessen- und Wertungsjurisprudenz aufgrund von Interessenforschung und Interessenabwägung die Wertgrundlagen der Rechtsnormen herauszuarbeiten; sie versucht die Wertabhängigkeit der konkreten Einzelfallentscheidung in den Griff zu bekommen. Die Rechtswissenschaft ist infolge ihres Selbstverständnisses eine dogmatisch exegetische Disziplin, die meistens mit wenigen interdisziplinären Kontakten auszukommen versucht. Trotzdem bleibt äußerst fraglich, ob man alles rechtserhebliche Verwaltungshan22 Niklas Luhmann, Tradition und Mobilität. Zu den „Leitsätzen zur Verwaltungspolitik", in: Recht und Politik 1968, S. 49-53, 49.

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dein der Verwaltungsrechtswissenschaft reservieren und die anderen Verwaltungswissenschaften auf dem Bereich des schlichten Tathandelns verweisen kann. 23 Selbst die richtige Auffassung, daß es keinen rechtsfreien Raum der Verwaltung gibt, führt nicht selten zur fehlgehenden Folgerung, alle verwaltungswissenschaftliche Forschung müsse auf den Begriffen der Verwaltungsrechtswissenschaft aufbauen. Jeder Wissenschaftszweig legt jedoch andere eigentümliche Begriffe und damit ein anderes Relevanzschema zugrunde und beleuchtet somit jeweils andere Wirklichkeitsausschnitte. Interdisziplinarität soll Verschiedenartiges als vergleichbar erweisen. 24 Wenn man zwischen dem analytischen Charakter einer Wissenschaft und der konkreten Wirklichkeit unterscheiden will, muß man auch die Frage stellen, ob alles rechtsrelevante Verwaltungshandeln durch die rechtsdogmatische Begrifflichkeit erfaßt wird. Das rechtswissenschaftliche Raffinement sollte auch vom juristischen Kalkül in der beruflichen Verwaltungspraxis unterschieden werden. Das juristische Kalkül kann als problemspezifische Verwaltungssprache besonderer Art angesehen werden. Es stellt aber keinen ausschließlichen Gegenstand der Rechtsdogmatik dar. Es kann auf seine Funktion, Strukturersetzbarkeit und faktische Bedeutung hin erforscht werden. Dies bedeutet, daß seine Bedeutung für die Verwaltung keineswegs unterschätzt, sondern als variabel behandelt werden muß. Die präskriptiven Orientierungen der Verwaltungsrechtswissenschaft sind grenzspezifisch formuliert. Sie orientieren sich an der Differenz Politik / Verwaltung. Sie steuern die politische Grenze des Verwaltungssytems an. Die empirischen Wissenschaften, die später als die Verwaltungsrechtswissenschaft die Bühne betraten, wandten sich hingegen einer anderen Systemgrenze zu. Sie fingen an, sich mit den Systemmitgliedern zu befassen, und entdeckten den konkreten Menschen in der Organisation, der über seine eigenen sozial verflochtenen Motivationsstrukturen, über eigenes Handlungsbewußtsein und eigene Rationalität verfügt. Wenn dies alles stimmt, scheinen präskriptive und deskriptive Wissenschaften verschiedene Umweltinteressen zu vertreten. Sie befassen sich nicht mit dem Verwaltungssystem, sondern mit jeweils spezifischen Problemen jeweils einer seiner Grenzen. 25 Wenn man nach der Funktion fragen will, die das Recht für die Verwaltung erfüllt, müßte man einerseits das Recht als disponibel behandeln und nach anderen funktionaläquivalenten Möglichkeiten Ausschau halten. 26 Andererseits müßte man die Verwaltung als ein Kommunikationssystem auffassen, daß sich in einer komplizierten, mindestens nach Politik, Publikum und Personal differenzierten Umwelt erhalten muß. Die juristische Dogmatik begibt sich auf die Suche nach 23

Niklas Luhmann, Theorie der Verwaltungswissenschaft, S. 23, 60 f., 75, 78. Niklas Luhmann, Einblicke in vergleichende VerwaltungsWissenschaft, in: Der Staat, 2 (1963), S. 494-500, 496. 2 5 Luhmann (Fn. 23), S. 80 f. 26 Niklas Luhmann, Der Funktionsbegriff in der Verwaltungswissenschaft, in: Verwaltungsarchiv, 49 (1958), S. 97-105. 24

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Funktionaläquivalenten nur im Hinblick auf rechtsbegriffliche Konstruktionen oder bestimmte Rechtsfiguren. Das exegetische Instrumentarium eignet sich nicht für die Untersuchung der Funktion des Rechts. Nur die Synthese der Beiträge mehrerer Disziplinen zu einer Verwaltungstheorie scheint imstande zu sein, die Begriffe zu schaffen, die eine Transformation von der einen Wissenschaftssprache in die andere und die Erforschung des Rechts im Verwaltungssystem ermöglichen. Da es sich bei der Verwaltung um Kommunikations- und Handlungssysteme handelt, die in der wirklichen Welt faktisch existieren, kann man nicht davon ausgehen, daß die Probleme, mit denen sich die Verwaltung befaßt, durch Nachdenken gelöst werden könnten. Für Kommunikationssysteme ist ein besonderer Problembegriff maßgebend. Probleme sind nicht gedanklich lösbar. Ihre Lösung wird nicht in dem Sinne erdacht und durchgeführt, daß die Problematik dadurch beseitigt würde. Gedankliche Lösbarkeit bedeutet, daß eigentlich das Problem als Problem nur vorübergehend im Kopfe des Unkundigen existiert. Gedanklich lösbare Probleme sind aber keine. Die systemtheoretische Erforschung der Verwaltung formuliert ihre Analyse in der Sprache von Problemerfahrungen des realiter existierenden Kommunikationssystems. Sie sucht nicht nach Lösungen, die die Probleme aufheben; die Thematisierung von Problemen und Problemlösungen sucht begreiflich zu machen, daß es für bestimmte Probleme unterschiedliche, funktional äquivalente Problemlösungen geben kann. Auf diese Weise wird die Problemmenge problematisiert und gleichzeitig erhalten. Die Problematik wird umdefiniert, eingegrenzt, verteilt und so lange kleingearbeitet, bis sie die Form von Verhaltenslasten annimmt, die bewältigt werden können. 27 Durch systemeigene und grenzspezifische Mechanismen der Problem Verkleinerung wird die komplizierte Systemwelt auf die begrenzte Kapazität der systemrelevanten Handlungszusammenhänge zurückgeschnitten. Diese Auffassung hat einen höheren heuristischen Wert als die herkömmliche Zweck-Mittel-Überlegung. Sie erfaßt nämlich das gesamte Zusammenwirken von heterogenen Faktoren, die das Verwaltungshandeln strukturieren. Nach dieser Auffassung stellt die tatsächliche Problemverarbeitung durch komplexe Konditionalprogrammierung oder bewußte Zweckprogrammierung des Fallentscheidens Problemlösung und Problemdefinition zugleich dar. Die Entscheidungsprogramme sind handliche Verarbeitungsformeln der Problemerfahrungen des Systems, die seine Handlungsmöglichkeiten nicht ausschöpfen. Die Programmstrukturen, die den Entscheidungsgang und sein Ergebnis mitbestimmen, müssen mit wachsender systemrelevanter Umweltkomplexität zunehmend unbestimmt gehalten werden, damit das Verwaltungssystem seine Elastizität und Anpassungsfähigkeit trotz unverändert gebliebener Rechtssätze erfüllt. Die Orientierung am klassischen Idealtypus der Rechtsstaatlichkeit verzerrt das Problembewußtsein dahingehend, daß man alle Entscheidungsprämissen, die sich auf Rechtssätze nicht zurückführen lassen, als irrelevant erachtet. Das Verhältnis von Struktur und 27 Luhmann (Fn. 23), S. 83 f., 91 f., 93, 101. 8 Gromitsaris

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Prozeß müßte überdacht werden. 28 Die Programmstrukturen des Rechtssystems finden sich nicht nur in formalen Verhaltensvorschriften, amtlichen Planungen und offiziellen Dienstwegen. Informale Verhaltensweisen, Erfahrungen, die man am Arbeitsplatz macht, unabwälzbare Verhaltenslasten, die persönlich zu tragen sind, interessenbedingte, willensmäßige und emotionale Momente, die den Entscheidungsgang mitbestimmen, dies alles sind keine unvermeidlichen Irrationalitäten; sie erbringen vielmehr eine anpassungsfähige Programmierungsleistung, die am Konkreten orientiert bleibt. Sie ist als Zusatz im offiziellen Prozeß der Rechtsfindung oder als informale Alternative zu den formalen Programmformen anzusehen, welche aber in beiden Fällen rechtlich relevant ist. Würde man die Systemstruktur mit der offiziellen Zweck- und Konditionalprogrammierung identifizieren, würde das die Kapazität des Systems zur Komplexität beträchtlich herabsetzen und seine faktisch vorhandenen Handlungsmöglichkeiten verkürzen. Dies zeigt sich unter anderem auch daran, daß die formale Organisation Neuverteilungen informaler Funktionen nicht bewältigen kann oder zumindest offen läßt. 29 Andererseits hat es sich inzwischen herausgestellt, daß die Unterscheidung von Formalität und Informalität „das zentrale Begriffspaar einer ,vor-galileischen\ klassifizierenden, deskriptiven Theorie ist und daß diese beiden Begriffe in Wirklichkeit Sammelbegriffe sind, denen jeweils ganz verschiedene Sachverhalte zugeordnet werden". 30 Die Fülle von funktional äquivalenten Analogien und Taktiken des Problemlösens wäre somit zum größten Teil als pathologischer Aspekt der Verwaltungstätigkeit unter der Rubrik unvermeidlicher disfunktionaler Folgen abgebucht. Ein Kriterium dafür, daß ein sozialer Handlungsbeitrag als Verwaltungshandeln anzusehen ist, liegt nicht in dem Grad der Rechtsstaatlichkeit seiner Programmierung. Es besteht vielmehr darin, daß der Handlungsbeitrag einen Bezug zu einer problemgebundenen Rationalität funktionaler Äquivalente herstellt. Erst diese Auffassung macht es möglich, daß sowohl manifest als auch latent wirkende Handlungsbeiträge als verwaltungsrational gelten können. Alle Beiträge, die dazu dienen, Probleme des Verwaltungssystems zu lösen, sind funktional äquivalent und können gegeneinander ausgewechselt werden. Die Differenz manifest/latent darf nicht als Grenze der Rationalisierung des Verwaltungssystems verstanden werden. Die Verwaltungsproblemgebundenheit von Handlungsbeiträgen kann in latenten Beziehungen stecken. Sie kann in der sozialen Kooperation von staatlichen Behörden mit Privatunternehmen liegen. Sie kann auch ihren Ursprung in Handlungsfolgen nehmen, die nicht beachtet, nicht beabsichtigt und 28 Niklas Luhmann, Die Grenzen einer betriebswirtschaftlichen Verwaltungslehre, in: Verwaltungsarchiv 56 (1965), S. 303-313, 310. 2 9 Niklas Luhmann, Der neue Chef, in: Verwaltungsarchiv 53 (1962), S. 11-24, 16; ders., Spontane Ordnungsbildung, in: Fritz Morstein Marx (Hrsg.), Verwaltung: Eine einführende Darstellung, Berlin 1965, S. 163-183. 30 Martin Irle, Soziale Systeme. Eine kritische Analyse der Theorie von formalen und informalen Organisationen, Göttingen 1963, S. 69.

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nicht thematisiert werden können, die aber Motivwert haben und zur Problemlösung beitragen. In einer schwierigen und turbulenten Umwelt braucht das Verwaltungssystem mehr Informationen, als es in seine bewußte, offizielle Selbstdarstellung aufnehmen und integrieren kann. Erforderliche Informationen sind im System verfügbar, ohne jedoch als vorhanden anerkannt werden zu müssen. Das System errichtet eine offizielle Fassade der Selbstdarstellung, wo latent wirkendes und nützliche Funktionen erfüllendes Handeln nicht dargestellt wird. Die Differenzierung von manifesten und latenten Systemprozessen läßt die Verwendung von widersprüchlichen Verhaltensgrundlagen zu. Da eine Vielzahl von Problemlösungen brauchbar und leicht zu entdecken ist, gibt es im Verwaltungshandeln keine einzig richtigen Ergebnisse. Das Verwaltungssystem ist als formales Organisationssystem so stark differenziert, daß die Kommunikation mit Außenstehenden nicht Sache aller Mitglieder ist, sondern besonderen Stellen übertragen wird. Das Handeln, die Schwierigkeiten und die Folgeprobleme dieser Grenzstellen können nicht auf formalem Wege geregelt werden. Die formale Verwaltungsorganisation dient auch hier als ergänzungsbedürftige Teilstruktur. Grenzstellen empfangen die Verhaltenserwartungen, die die Umwelt an das System heranträgt und entwickeln eine besondere Sensibilität, die nötig ist, um den Umweltänderungen zu folgen und die selbsterzeugten Umweltannahmen des ganzen Systems auf ihre Kompatibilität mit der Umwelt hin zu überprüfen. Sie überprüfen die Erwartungserwartungen des Systems und stellen sehr oft fest, daß das, was das System aufgrund seines offiziellen Selbstverständnisses und seiner formalen Struktur seiner Umwelt an Verhaltenserwartungen unterstellt, mit der Umwelt überhaupt nicht übereinstimmt oder im Laufe der Zeit an Stimmigkeit verliert. Angesichts der Durchlässigkeit und der Unbestimmtheit der Organisationsgrenzen scheint es unmöglich zu sein, einen klaren und präzisen Trennungsstrich zwischen dem Systemexternen und dem Systeminternen zu ziehen. Was immer auch die offensichtlichen und latenten Ziele der Verwaltungsorganisation sein mögen, so kann sie doch nicht davon absehen, daß sie in zweifacher Weise von ihrer Umwelt abhängig ist. Zunächst muß sie dort Ressourcen aller Art finden. Dann muß sie dort ihre Produkte absetzen. Es geht nicht darum, daß verschiedene Inputs durch eine systemeigene angemessene Bearbeitung umgeformt werden. Es gibt keine einzig richtigen Entscheidungsbedingungen und es gibt keine optimalen Entscheidungen. Man müßte von der Theorie der einzig richtigen Entscheidung zur Theorie der „brauchbaren Entscheidungen" übergehen und jedesmal konkret nach Brauchbarkeitsbedingungen suchen. Die übliche, lebensnahe Form der „Festlegung und Änderung von Brauchbarkeitsbedingungen" sind der Vergleich mit schon getroffenen eigenen Entscheidungen und der Vergleich mit den Leistungen anderer Verwaltungseinheiten.31 31 Niklas Luhmann, Kann die Verwaltung wirtschaftlich handeln?, in: Verwaltungsarchiv 51 (1960), S. 97-115, 105, 111.

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Es gibt andererseits keine Rohmaterie, die in das System eingeführt werden könnte. Es hat also keinen heuristischen Wert, etwas als Rohmaterial zu bezeichnen, damit man es auf seine Beschaffenheit und Variabilität hin untersuchen kann. Ebenso ist es wenig sinnvoll, die Beschaffenheit eines im System stattfindenden Suchprozesses zu untersuchen, den die Systemmitglieder angeblich durchmachen müssen, um für die durch die Umwandlung des Rohmaterials (ζ. B. Information) entstehenden Probleme eine angemessene Lösung zu finden. Darüber hinaus hat es einen sehr schwachen Erklärungswert, die System / Umweltbeziehungen durch einen Rückgriff auf den deus ex machina der Bedürfnisse des wie Natursystems konzipierten Systems oder seiner Umwelt erforschen zu wollen. Der Erklärungswert hängt nicht von der Qualifizierbarkeit des Untersuchungsgegenstandes ab. Statistische Korrelationen zwischen strukturellen und kontextuellen Variablen in formalen Modellen der strukturellen Entwicklung von Organisationen leiden an einem Formalismus, der die organisatorische Wirklichkeit mit den von der formalen Struktur vorgesehenen Gliederungen gleichsetzt. Informale Handlungsabläufe entwickeln sich gerade deshalb, weil die formale Struktur nicht alles regeln kann, und weil sich die Akteure immer einen Spielraum zur Interpretation, Manipulation und Aushöhlung der in den formalen Regeln enthaltenen Vorschriften verschaffen. 32 Eine hauptsächlich für formale Organisationsmerkmale interessierte Forschung endet unausweichlich in einer äußerst mechanistischen und deterministischen Auffassung des organisatorischen Wandels. Im folgenden werden wir versuchen interdisziplinäre Forschung für die Analyse rechtlich relevanten Verwaltungshandelns fruchtbar zu machen. I I I . Formale Organisation und soziale Entscheidungssysteme des Rechts 1. Machtprozesse an den Grenzen der formalen Verwaltungsorganisation Die Verwaltung ist als Organisationssystem ein komplexes soziales Phänomen. Ihre Umwelt kann nicht als eine Gesamtheit objektiver Gegebenheiten verstanden werden, dessen Objektivität sich gewissermaßen auf Anhieb und automatisch der Verwaltungsorganisation aufzwingt. Ausgehend von der Einheit der Differenz System / Umwelt vermeidet man eine unilaterale Konzeption der Umwelteinflüsse und sieht die organisatorische Verwaltungsdifferenzierung in engem Zusammenhang mit einer ebenfalls fragmentierten Umwelt. Die Umwelt übt keinen direkten Einfluß auf die Organisation aus. Die Stabilisierung eines System/ Umwelt-Verhältnisses bedeutet, daß die Organisation mit den Anforderungen und Zwängen ihrer Umwelten zu spielen weiß. Sie kann sie ihrerseits manipulieren. Wenn man die Umwelt / System-Beziehung als solche problematisiert, ergibt sich, daß die Anforderungen der Umwelt keine objektiven, systemabhängigen Faktoren sind, die sich dem Organisationssystem durch automatische Mechanis32 Luhmann, Funktion und Folgen formaler Organisation, S. 220 ff.

III. Formale Organisation und soziale Entscheidungssysteme des Rechts

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men aufdrängen. Sie gehen auf eine Vielfalt fragmentierter oder voneinander abgeschotteter Felder zurück, die jeweils — auch aus der Sicht des Systems — diesem mehrdeutige, fluktuierende und widersprüchliche Zwänge auferlegen. Umweltanforderungen und Umweltzwänge werden für die Organisation nur dann zwingend — und sind im Grunde nur vorhanden — wenn sie zu systemspezifischen Umwelten werden. Die strukturierten Beziehungen, die der Organisation zugrunde liegen, sind nicht passiv durch situative Zwänge geformt. Die tatsächlich ablaufenden Prozesse entsprechen allem anderen als einer einseitigen Anpassung der Organisation an Situationszwänge. Es handelt sich vielmehr auch hier um Austauschbeziehungen und Mechanismen der gegenseitigen Beeinflussung, durch die die Organisation ihre Situation ebenso strukturiert, wie sie von ihr strukturiert wird. Man darf das Verhältnis einer Organisation zur Umwelt nicht einem Problem adäquater Entscheidungsfindung gleichsetzen. Die Art und Weise, wie eine Organisation ihre Beziehungen zur Umwelt betreibt, ist nicht nur Ergebnis des Bewertungsvorgangs, durch den die herrschende Koalition der Entscheidungsträger bestimmte Interaktionen mit der Umwelt auswählt. Ebensowenig ist sie nur Ergebnis von strukturellen Entscheidungen. Will man die Umweltbeziehungen einer Organisation erforschen, ohne sowohl bezüglich der Systemstruktur als auch des Systemwandels einer deterministischen Sichtweise zu verfallen, so muß man den Untersuchungsgegenstand selbst wechseln. Es gilt nicht ein internes Kommunikationssystem zu untersuchen, das den Determinanten der Situation unterworfen ist, sondern die Regulierungsmechanismen, die die Gesamtheit des Systems Organisation — Umwelt steuern. Anstatt undifferenziert über die Umwelt im allgemeinen nachzudenken, scheint es fruchtbarer, von relevanter Umwelt zu sprechen. Diese deckt sich nämlich nicht mit der Gesamtheit eines der Organisation äußeren Universums. Ihre Ausdehnung ist geringer: Sie umschließt die Gesamtheit der sozialen Systeme, die die Fähigkeit der Organisation bedingen, in bestandssicherer und befriedigender Weise zu funktionieren und ihre Ziele zu erreichen. Dies darf uns aber nicht verbergen, daß die Organisationsziele keine objektiven Gegebenheiten sind, sondern eben das Produkt von Macht- und Austauschverhältnissen, die das der Organisation und ihren Hauptgeschäften mit den Sozialsystemen in der für sie relevanten Umwelt zugrunde liegende Handlungssystem strukturieren. Der Begriff der Systemgrenze, der der Differenz System / Umwelt zugrunde liegt ist sehr umstritten. Verzichtet man auf eine Sichtweise, die formalisierte Mitgliedsrollenerwartungen als Systemgrenze ansieht, so ist es sowohl für Beobachter als auch für Handelnde sehr schwierig zu entscheiden, welche Kommunikationen zum System gehören und welche nicht. 33 Um ihre kontingenten Ziele zu erreichen, muß jede Organisa33 What is ,inside4 and what lies ,outside4 the given organization is at best arbitrary . . . The practice is analogous to trying to develop a physics of gases on the basis of dichotomy like breathable-unbreathable, which scrambles together and ignores fine gradations in temperature, pressure and chemical composition." Hier zitiert Anant R. Negandhi W. H. Starbuck: Anant R. Negandhi, Interorganization Theory: A step Beyond the Present, in: ders. (Hrsg.), Interorganization Theory, Kent 1975, S. 252-261, 259 f.

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tion mit ihrer spezifischen relevanten Umwelt in Verhandlungen eintreten. Verschiedene Systeme in der für die Organisation relevanten Umwelt verfügen nun über besonders wichtige und nicht zu umgehende Ungewißheitsquellen, die die Organisation stets zu kontrollieren und zu beherrschen suchen muß, um ihren Fortbestand und ihren angemessenen Wandel zu gewährleisten. Eine Organisation, die diese äußeren Ungewißheitsquellen kontrollieren will, sieht oft in der Ausdifferenzierung von besonderen Kontaktstellen, die auf die Beziehung zu besonderen Umweltsegmenten spezialisiert sind, eine erste mögliche Antwort auf dieses Problem. Die spezialisierten Kontaktstellen werden damit beauftragt, die sich im jeweiligen Umweltsegment abzeichnenden Probleme und Tendenzen zu erkennen. Eine intern ausdifferenzierte Organisation steht somit einer fragmentierten Umwelt gegenüber. Die Binnendifferenzierung stellt indes nur einen Teil der Antwort auf das Problem der Organisierung der Systembeziehungen zu den verschiedenen relevanten Umweltsegmenten dar. Die Kontaktstellen können nämlich wiederum ihre Aufgaben nur dann befriedigend erfüllen, wenn sie im Umweltsegment Gesprächspartner finden, mit denen sie mehr oder minder dauerhafte Beziehungen eingehen können. Die Vorgänge und Probleme im Segment der anvisierten Umwelt können tatsächlich erfaßt werden, wenn sich die Beziehungen der organisatorischen Kontaktstellen zu ihrem Umweltsegment um bestimmte, privilegierte Mittelsmänner oder Schaltstellen herum strukturieren, die für das Handeln der Organisation notwendig sind. Diese Schaltstellen sind Kommunikations- und Handlungsstrukturen und können verschiedener Art sein. 34 Sie können also auch Organisationen in der Umwelt einer Organisation, etwa der Verwaltung sein. In erster Linie geht es hier um das rechtlich relevante Handeln selbst. Wir wollen nicht hinter den systemtheoretischen Forschungsstand zurückfallen und uns auf das Subjekt und auf dessen Motive festlegen. Um das Handeln zu verstehen, braucht man nicht den gemeinten Sinn des Handelnden und seine Situationsauslegung zu kennen. Eine Theorie der Entstehung rechtlicher Kommunikationssysteme braucht sich nicht zum Subjekt und dessen zu Motiven oder Interessen zurückzuorientieren. 35 Es handelt sich um die theoretische Herausstellung der Identifikationskriterien, die im Rahmen der sozialen Kommunikation zu systembildenden Orientierungspunkten werden. Die Rolle der Schaltstellen gegenüber der Organisation hat immer zwei Aspekte. Zunächst müssen die Schaltstellen das von der Organisation anvisierte Umweltsegment repräsentieren, indem sie die Organisation oder eines ihrer Teile über die das jeweilige Segment kennzeichnende Situation informieren. Sie berichten somit über die Folgen, die sich aus der Umweltsituation für die Organisation ergeben und tragen zu deren Funktionsfähigkeit bei, indem sie die Mobilisierung notwendiger Ressourcen erleichtern oder indem sie die Absatzmöglichkeiten der Organisationsprodukte verbes34 Michel Crozier / Erhard Friedberg, Macht und Organisation. Die Zwänge kollektiven Handelns, Königstein / Ts. 1979, S. 88 ff., 93, 337. 35 Niklas Luhmann, Zeit und Handlung — Eine vergessene Theorie, in: ders., Soziologische Aufklärung Bd. 3, S. 101-125, 101.

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sern. Diese Funktionen hängen mit den verschiedenen Systemgrenzen der Organisation zusammen.36 Wir verstehen unter Organisationsprodukten das Output der jeweiligen Organisation und können annehmen, daß das System seine Umwelten unter diesem Gesichtspunkt spezifiziert. Auf diese Weise werden die Systemumwelten vom System selbst als Kontexte von Ressourcen und Perfomanz behandelt, so daß Umweltstabilität mit Stabilität der Abnahmefähigkeit des eigenen Outputs identifiziert werden kann. 37 Wenn sich Organisationen ihre Umwelten in der Form von Ressourcenproblemen zugänglich machen, dann erfahren sie das Komplexitätsgefälle zwischen System und Umwelt und die Kontingenz der jeweiligen Umwelt als Abhängigkeit. Ein Teil der organisationstheoretischen Forschung hat mit Vorliebe diese Umweltsicht thematisiert. Die Umwelt ist eine Konfiguration von Quellen seltener Ressourcen, und Organisationen konkurrieren miteinander um die Kontrolle dieser Quellen. Abhängigkeit nötigt Organisationen zu struktureller Flexibilität und zur Bildung von Kommunikationssystemen, die sich als Interorganisationsbeziehungen entwerfen. 38 Andererseits ist es aber möglich, daß das Organisationssystem seine Umwelten als Information auffaßt. In diesem Fall erfährt es die Umweltkomplexität und -kontingenz als Unsicherheit. In der Informationsperspektive wird nicht Abhängigkeit, sondern massive Erwartungs- und Orientierungsunsicherheit spürbar. Die Erwartungsbildung gerät in Schwierigkeiten. In einer entscheidungsorientierten Tätigkeit gelten Mangel an Informationen über die Umwelt, Unabschätzbarkeit der eigenen Entscheidungsfolgen und Mangel an Adäquanzkriterien für Wahrscheinlichkeitskalküle als die wichtigsten Unsicherheitskomponenten. 39 Wir wollen uns im folgenden mit beiden Aspekten 36 Vgl. R. Jean Hills, The Organization as a Component in the Structure of Society, in: Jan J. Loubser / Rainer C. Baum / Andew Effrat / Victor Meyer Lidz (Hrsg.), Explorations in General Theory in Social Science. Essays in Honor of Talcott Parsons, Vol. II, New York / London 1976, S. 805 - 828, 809. Er unterscheidet vier „boundary processes": legitimation, integrative, disposal und procurement processes. Vgl ferner die Differenzierung bei Talcott Parsons, Three Levels in the Hierarchical Structure of Organization, in: William M. Evan (Hrsg.), Interorganizational Relations, New York 1976, S. 69-77. 37 Hierzu: Jerald Hage, Toward a Synthesis of the Dialectic between HistoricalSpecific and Sociological-General Models of the Environment, in: Lucien Karpik (Hrsg.), Organization and Environment, London 1978, S. 103-145, 108. 38 James D. Thomson, Organization in Action, New York 1967; Ephraim Yuchtman / Stanley Seashore , A Systems Resource Approach to Organizational Effectiveness, in: American Sociological Review 32 (1967), S. 891-903; Michael Aiken I Jerald Hage, Organizational Interdependence and Intra-Organizational Structure, in: American Sociological Review 33 (1968), S. 912-930 und in: William M. Evan, Interorganizational Relations. Selected Readings, New York 1976, S. 161184; Michael Aiken / Jerald Hage, Social Change in Complex Organizations, New York 1970; Philip Sadler I Bernard Barry, Organizational Development, London 1970; John Child , Organization Structure, Environment, and Performance — The Role of Strategic Choice, in: Sociology 6 (1972), S. 1-22; ders., Organization Structure and Strategies of Controll: A Replication of the Aston Study, in: Administrative Science Quarterly 17 (1972), S. 163 -177; Jeffrey Pfeffer, Merger as a Response to Organizational Interdependence, in: Administrative Science Quarterly 17 (1972), S. 382-394. 39 Robert B. Duncan, Characteristics of Organizational Environments and Perceived Environmental Uncertainty, in: Administrative Science Quarterly 17 (1972), S. 313-

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der Umweltauffassung befassen. Unsicherheit und Abhängigkeit können vom System als voneinander unabhängige Variablen behandelt werden. Informationen können als Ressourcen und Ressourcen als Informationen operationalisiert werden. Unsicherheits- und Abhängigkeitsperspektive sind beide System- und nicht Beobachtelperspektiven. 40 Die Schaltstellen stellen die Forderungen der von ihnen vertretenen Umweltsegmente dar und führen eine bessere Anpassung der Organisation an das Umweltsegment herbei. Sie können diese Aufgabe erfüllen, wenn sie mit den Vertretern der Organisation eine Vielfalt von mehr oder minder expliziten und formalisierten Regeln aufstellen, die die allgemeinen Voraussetzungen zur Mobilisierung von Ressourcen und zum Vertrieb von Produkten festlegen. Auf diese Weise erfüllen die Schaltstellen ihre Aufgabe, wenn sie den Austausch zwischen der Organisation und den von ihr anvisierten Umweltsegmenten regularisieren und dadurch steuern. Durch diesen Prozeß erhält ihre Rolle als Repräsentant eines Umweltsegments gegenüber der Organisation eine zweite Dimension, und zwar die eines Vertreters der Organisation gegenüber ihren Umweltsegmenten. In diesen für die Organisation relevanten Umwelten müssen die Schaltstellen die Befolgung der mit der Organisation aufgestellten Regeln durchsetzen. Sie fungieren demnach einerseits als der verlängerte Arm der Umwelt gegenüber der Organisation und andererseits als der Agent der letzteren in der Umwelt. Diese ambivalente Situation der Schaltstellen hängt mit der allgemeineren Problematik der Repräsentation zusammen. Als Repräsentant ist die Schaltstelle strukturell ein möglicher „Verräter". 41 Sie kann nämlich ihre Rolle nur dadurch erfüllen, daß sie sich von den „legitimen Interessen" ihrer Mandanten zumindest teilweise unabhängig macht oder diese gar zum Teil opfert. Das Oszillieren zwischen Treue und Verrat an den Interessen der Mandanten hängt von der doppelgesichtigen Handlungsstruktur der Schaltstellen ab, die mit den daraus folgenden Widersprüchen leben muß. Die widersprüchlichen Funktionen der Rolle der Schaltstellen ermöglichen es, das Ausmaß und die Grenzen der Macht zu verstehen, die sie gegenüber den Organisationen haben. Schaltstellen sind für die Organisation unverzichtbare Verringerer von Ungewißheit und befinden sich ihr gegenüber in einer Machtposition. Der Typus und die Logik dieses Machtspiels gibt ihnen Erpressungsmöglichkeiten in die Hand, aus denen sie sich für sich selbst und ihre Mandanten Vorteile schlagen können. Gelingt es ihnen, Vorteile für ihre Mandanten zu erzielen, so erhöht sich ihr Einfluß auf diese und damit ihre 327, 318. Hierzu auch Martin Irle , Macht und Entscheidungen in Organisationen. Studie gegen das Linie-Stab-Prinzip, Frankfurt am Main 1971, S. 156 ff. 40 Diese Anregung bei Howard Aldrich / Sergio Mindlin, in: Lucien Karpik (Hrsg.), ebd., S. 149-170; „Thus, dependence and uncertainty may vary independently of each other, and it is to their joint effect that attention should be devoted . . . The dependence perspective has not directly confronted the issue of perception, and instead hat treated the flow of »correct4 information about existing dependencies as nonproblematic." (S. 161 f., 164); Luhmann (Fn. 34), S. 252. 41 Crozier ! Friedberg (§ 1 Fn. 27), S. 95 f., 338 f.

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Handlungsfähigkeit als ihr Repräsentant. Im Rahmen dieser Machtspiele sind nicht alle Schaltstellen gleichwertig. Ihre Macht gegenüber der Organisation ändert sich entsprechend der Relevanz und dem entscheidenden Charakter der Ungewißheitsquellen, die sie in den Umweltsegmenten kontrollieren, wie auch in Entsprechung zu ihrer Ersetzbarkeit in ihrer Rolle als Schaltstelle.42 Die Abhängigkeitsbeziehung ist gegenseitig: Die Schaltstellen sind auch von der Organisation abhängig, da ihre Handlungsfähigkeit und ihre Macht, ihre spezifischen Ziele zu verfolgen, an ihrer Funktion als Schaltstelle gebunden sind. Das Kräfteverhältnis in dieser gegenseitigen Abhängigkeit ist Funktion der Situationszwänge und der Trümpfe, die jeder der beteiligten Gegenspieler ausspielen kann. Kooperation und Konkurrenz dürfen demnach nicht mehr getrennt zum Forschungsgegenstand werden. Sie müssen vielmehr gemeinsam und als miteinander kombinierbar untersucht werden. Die eigene Tätigkeit ist gleichzeitig auf die Existenz und auf das Abblocken von Konkurrenz gerichtet. 43 Die Logik, die der Vielfalt der spezifischen Konfigurationen und Machtgleichgewichte zwischen einer Organisation und ihren Schaltstellen zugrunde liegt, die Machtspiele bedingt und die Strategien der verschiedenen Akteure strukturiert, kann als eine „Logik des Monopols" beschrieben werden. 44 Damit ist die mehr oder weniger leichte Ersetzbarkeit der Gegenspieler in der besonderen Rolle, die sie im jeweiligen Machtspiel spielen, gemeint. Das Machtspiel scheint sich wie folgt zu strukturieren: Jeder (sowohl die Organisation als auch ihre Schaltstellen) versucht sich dem anderen als einzig möglicher Gesprächspartner aufzuzwingen, während er sich zugleich Austauschmöglichkeiten und Austauschpartner vorbehält. Es sieht so aus, als würde jeder Gegenspieler versuchen, den anderen in einem Feld voraussehbarer Verhaltensmöglichkeiten einzuschließen, als bestünde nämlich ein Äquivalent zwischen Vorhersehbarkeit und Unterlegenheit. In der Machtbeziehung zwischen einer Organisation und ihren Schaltstellen sucht jeder der beiden Gegenspieler seine Kontrolle über einige Ungewißheitsquellen sicherzustellen. Wenn beispielsweise die Organisation nur über die Schaltstelle ihre Kunden erreichen kann und wenn die Schaltstelle über auswechselbare Gesprächspartner verfügt, d. h. mit mehreren Organisationen spielen kann, dann befindet die Schaltstelle sich in einer Machtposition. Die Schaltstelle ist dagegen faktisch in die Organisation integriert, also abhängig und unterlegen, wenn es der Organisation gelingt, sich zum einzig möglichen Gesprächspartner zu machen. Manchmal kann nur eine bestimmte Organisation auf das von der Schaltstelle verkörperte und zum Ausdruck gebrachte soziale Bedürfnis antworten. Eine solche Integration der Schaltstelle in die Organisation verändert die Beschaffen42 Ebd., S. 96, 338 f. 43 Hierzu Nicholas Β. Cottrell, Means-Interdepence, Prior Acquaintance, and Emotional Tension during Cooperation and Subsequent Competition, in: Human Relations 16 (1963), S. 249-262. Vgl. ferner L. Keith Miller I Robert L. Hamblin, Interdependence, Differential Rewarding, and Productivity, in: American Sociological Review 28 (1963), S. 768-778. 44 Hierzu und zum folgenden: Crozier / Friedberg (Fn. 34), S. 97 ff.

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heit des Machtspiels von Grund auf. Die Schaltstellen müssen Spielregeln gehorchen, die sie im Rahmen eines schwer zu verändernden und stärker formalisierten Gefüges nur geringfügig beeinflussen können. Auf diese Weise kann man den Monopolisierungsgrad, den jeder Gegenspieler gegenüber dem anderen erreicht, als Dimension der Erforschung des Verhandlungssystems ansehen, das die Machtgleichgewichte zwischen Organisation und Schaltstellen bestimmt. Zwei extreme, aber nicht auszuschließende Fälle könnten beobachtet werden: Die „Kolonisierung" der Schaltstellen durch die internen Anforderungen der Organisation oder die „Kolonisierung" der Organisation durch ihre Schaltstellen und die von ihnen vertretenen oder verkörperten Anforderungen. 2. Interorganisationsbeziehungen Ansatzpunkte, die für Interpretationen der Organisationsgebundenheit der Rechtsordnung fruchtbar erscheinen, bieten soziologische Theorieansätze zur formalen Organisation, die die sozialen Beziehungen innerhalb komplexer Organisationen zu erklären suchen. Allerdings stellen die organisationstheoretischen Ansätze meistens Untersuchungen zu internen Strukturen und Entscheidungsprozessen von Organisationen dar, die keinen unmittelbaren Bezug zum Zusammenhang von Gesetzesproduktion und Gesetzesanwendung aufweisen. Man kann beispielsweise die verwaltungsbehördlichen Rechtsakte, das Strafverfahren oder den Zivilprozeß dadurch zu erklären versuchen, daß man organisationsinterne Merkmale einzelner Verfahrungsbeteiligter, etwa der Staatsanwaltschaft, einer Verwaltungsstelle oder der Verteidigerrolle hervorhebt und analysiert. Dies darf jedoch den Blick nicht auf die Binnenbeziehungen von Organisationen verengen, da die Gesetzesanwendung ein Kommunikationszusammenhang ist, der überwiegend behördenexterne Verhältnisse betrifft und regelmäßig auf dem Zusammenwirken der Behörde mit verschiedenen anderen staatlichen und privaten Stellen beruht. Das Kommunikationsgefüge des Gesetzesvollzugs beinhaltet also sowohl organisationsinterne als auch behördenexterne Beziehungen. Diesem Sachverhalt hat man schon versucht, theoretisch insoweit Rechnung zu tragen, als man auf die Binnenbeziehungen einer Organisation keinen besonderen Akzent mehr legte und die Interaktionen einer Mehrzahl von Organisationen in den Vordergrund rücken ließ. Dieser theoretische Ansatz, der von Ewan vorgeschlagen wurde, ist unter der Bezeichnung „Interorganisationsanalyse" bekannt. Im Mittelpunkt des Forschungsinteresses stehen die Interaktionsbeziehungen einer Verwaltungsbehörde mit anderen staatlichen und privaten Organisationen. Diese Interaktionsbeziehungen werden als Interorganisationssystem begriffen, in dessen Brennpunkt die jeweils zu untersuchende Verwaltungsbehörde steht. Letztere wird „Focal Organization" genannt, während die Organisationen, zu denen sie Interaktionsbeziehungen unterhält, als „Organization-set" bezeichnet werden. Das Organization-set wird in input und output Organization-set unterteilt, je nach Art des Beitrags, den die einzelnen Organisationen für das Handeln der „Focal Organiza-

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tion" leisten. Die Anwendung des kybernetischen Modells auf die Beziehungen zwischen Organisationen mag nicht den höheren heuristischen Wert einer systemtheoretischen Analyse haben. Weiterführend ist jedenfalls die Interorganisationsanalyse insoweit, als sie die Rechtsakte nicht als eine nachträgliche Verkettung der Selektionsleistungen von isoliert handelnden Behörden begreift. Die Interaktionsbeziehungen zwischen staatlichen und privaten Stellen sind von Anfang an für die Auslegung und Anwendung von Gesetzes Vorschriften konstitutiv. Fraglich ist allerdings, ob das Konzept der Focal Organization die organisationsinternen und organisationsexternen Entscheidungszusammenhänge adäquat analysieren und erklären kann. Dieses Konzept wählt eine Behörde als Brennpunkt von Interorganisationsbeziehungen und rückt somit nur einen beschränkten Ausschnitt der Kommunikationszusammenhänge in den Mittelpunkt der Analyse, während es alles, was nicht zum Organization-set der Focal Organization gehört, von der Untersuchung ausnimmt. Dies ist für die Analyse der Focal Organization sehr gut geeignet. Bei der Erforschung der hierarchisierten Entscheidungszusammenhänge der Rechtsordnung ist jedoch das Erkenntnisinteresse nicht auf das Interaktionsnetz einer bestimmten Behörde, sondern auf die Umsetzung von gesetzlichen Entscheidungsprogrammen in die soziale Wirklichkeit gerichtet. Der Zusammenhang von programmierenden und programmierten Entscheidungen ist in mehrere Interorganisationsbeziehungen eingebettet. Das Interaktionsnetz einer mehr oder minder willkürlich gewählten focal organization, etwa einer Kreisbehörde, eines Ministeriums oder eines Verwaltungsgerichts, ist demnach nicht geeignet, um als Ausgangspunkt für die Erklärung von Entscheidungsabläufen in der selbsthierarchisierten Rechtsordnung zu dienen. Forschungsgegenstand ist nach alldem nicht eine bestimmte Organisation, sondern zumindest ein „organization-set" 45 . Wir wollen noch einen Schritt weiter gehen und vom Konzept der „focal organisation" zum „interorganizational network" übergehen. 46 Die Verhandlungs- und Machtbeziehungen, die zwischen den Organisationssegmenten und dem Schaltstellenring entstehen, zeichnen sich durch die Tendenz zu einer bestimmten Permanenz aus. Solche Verhandlungsbeziehungen sind keine kurzlebigen Sozialsysteme, sie sind keine punktuellen Ereignisse. Sie ergeben sich meistens aus den Funktionsnotwendigkeiten verschiedener Organisationen und schreiben sich in einen Tauschprozeß ein, der tendentiell von Dauer ist. Die Akteure des entsprechenden Segments der Organisation können von der Stabilität ihrer Beziehungen mit ihren Schaltstellen in den Umweltsegmenten, um ihre Interessen in ihren intraorganisatorischen Strategien zu verfolgen und ihren Willen durchsetzen zu können. Die Beziehung zur Umwelt stellt eine wichtige intraorganisatorische Ungewißheits- und damit Machtquelle dar. 47 Umgekehrt 45 William Evan, Organization Theory. Structures, Systems, and Environments, New York/London/Sydney/Toronto 1976, S. 119 ff., 153, 268. 46 J. Kenneth Benson, The interorganizational Networks as a Political Economy, in: Administrative Science Quarterly 20 (1975), S. 229-249.

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gilt für die Schaltstellen, daß sie ihre Machtposition und ihre Repräsentantenrolle bei der von ihnen vertretenen Kundschaft verstärken können, wenn die Beziehungen, die ihnen Zugang zur Organisation und Einfluß auf deren Produkt gewähren, eine gewisse Stabilität aufweisen. Die über Schaltstellen laufenden Transaktionen zwischen Organisationssegmenten und Umweltsegmenten scheinen auf einer Logik der Suche nach einem Beziehungsmonopol zu beruhen. Der Versuch eines jeden der Gegenspieler, sich dem anderen als einzig möglicher Gesprächspartner aufzudrängen und sich als unumgängliche Bezugsperson darzustellen, ist ein Mittel, Stabilität und günstige Machtgleichgewichte sicherzustellen. Um die Beziehung zwischen einem Organisationssegment und seinen Schaltstellen in der Umwelt kristallisiert sich sehr schnell ein soziales Kommunikations- und Handlungssystem. Dieses entwickelt seine eigenen Regulationsmechanismen und seine eigentümlichen Spielregeln, die die Verhandlungs- und Handlungsmöglichkeiten sowie die gegenseitigen Machtsteigerungsversuche der Gegenspieler strukturieren. Es handelt sich also um ein autonomes System sozialer Kommunikation, um ein Handlungssystem, dessen eigene Struktur und Logik nicht auf die ursprüngliche, seiner Entstehung zugrunde liegende Zielsetzung und instrumenteile Rationalität zurückzuführen sind. Die konkrete Ausgestaltung und Autonomisierung des sozialen Handlungssystems, das aufgrund der Transaktionen zwischen den beteiligten Organisationen und ihren relevanten Umweltsegmenten entsteht, hängen von verschiedenen Variablen ab. Dieses System ist ein emergentes Phänomen. Es hat seine eigenen Umwelten, die es sich als Kombination und Variabilität von Informationen, Ressourcen, Abhängigkeit und Unsicherheit zugänglich macht. 48 Die Autonomisierung der Kommunikationsssysteme, die die Organisationssegmente an ihre Schaltstellen in den relevanten Umweltsegmenten binden, stellt einen bestimmten Zwang für die internen Prozesse der Organisation und für ihre Entwicklungs- und Wandlungsfähigkeit dar. Diese Systeme sind samt ihrem Machtgefüge kein „Transmissionsriemen äußerer Einflüsse auf das interne System". 49 Sie sind die Art und Weise der Organisierung der Beziehungen der Organisation zur Umwelt. 50 Die verschiedenen Akteure in der Organisation benö47 Vgl. Kenneth McNeil , Understanding Organizational Power: Building on the Weberian Legacy, in: Administrative Science Quarterly 23 (1978), S. 65-90, 69 f., der bei Max Weber „a fascinating paradox" vermutet. Dies liege im Spannungsverhältnis zwischen intemer Bürokratisierung und Steuerungsmöglichkeiten des Staates, die von privaten Organisationen zur Mobilisierung von Organisationsmacht eingespannt werden sollten. 48 Als seltene Ressourcen können „money and authority" genannt werden. „Authority refers to the legitimation of activities, the right and responsibility to carry out programs of a certain kind, dealing with a broad problem area or focus.": Benson (Fn. 46), S. 232. 4 9 Crozier I Friedberg (Fn. 34), S. 96 f., 98 f., 100 f., 340. 50 Renate Mayntz, Intergovernmental Implementation of Environmental Policy, in: Kenneth Hanf /Fritz W. Scharpf (Hrsg.), Interorganizational Policy Making, S. 201214, „Curiously enough, this complete dependence upon another agency's information and expert opinion, though fully realized, is not deplored by the administrative agencies." (S. 207). „The agencies employ various strategies of bargaining and indirect pressure

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tigen ihre Schaltstellen in der Umwelt um überhaupt handlungsfähig zu werden. Sie können ihre Ziele und ihre Strategien nur unter der Bedingung festlegen oder neu definieren, daß sie die den Beziehungen mit ihren Schaltstellen zugrunde liegenden Gleichgewichte berücksichtigen oder verändern. Sie können nicht nach Belieben neue Solidaritäten nach „draußen" flechten, denn sie würden in diesem Fall auf den Widerstand der bestehenden Schaltstellen treffen. Die Macht der Schaltstellen hängt vor allem von der Stabilität der Beziehungen ab, die ihnen die Kontrolle über Ungewißheitsquellen und den Zugang zu den Strukturen der verschiedenen relevanten Umweltsegmente verschaffen. Folglich setzen sie zumeist alles ins Werk, um diese Stabilität zu bewahren oder im Machtspiel vorzutäuschen. Da darüber hinaus die Legitimität ihrer Rolle als Repräsentanten der Organisation und ihrer Interessen gegenüber ihren Umweltsegmenten teilweise an die Stabilität der Ziele und Funktionen der Organisation gebunden ist, werden die Schaltstellen nach und nach zu deren Garanten. Sie verwandeln sich auf diese Weise in ein Filter der von außen kommenden Anstöße. Sie neigen dazu, alle Anstöße, die ihre Repräsentativität und damit auch ihre Handlungsfähigkeit als Schaltstellen in Frage stellen könnten, zu blockieren. Andere Anstöße lassen sie natürlich passieren. Aus diesem Grunde kann die im Kommunikations- und Handlungssystem erfolgende Organisierung der Beziehungen der Organisation zur Umwelt zu einem zusätzlichen Faktor der Starrheit werden. Die Organisation bleibt zwar vor zu brutalem Umstürzen geschützt, doch ihre strukturelle Starrheit nimmt dagegen zu. Den Schaltstellen ist es zu verdanken, daß eine Organisation (etwa die Verwaltung) lange Zeit bedeutende Veränderungen in ihren Umweltsegmenten einfach nicht kennen kann. Sie sind bemüht, die ihnen günstige Stabilität ihrer Beziehungen mit den Organisationssegmenten zu bewahren. Die Organisationssegmente ihrerseits werden oft zu Komplizen der Strategien ihrer Schaltstellen, wenn dies ihre intraorganisatorische Position bestärkt. Auf diese Weise können Umweltveränderungen schlicht ignoriert werden. In diesem Sinne können wir von einem „organizational lag" sprechen, das sich nicht auf die Diskrepanz zwischen technischer und administraviver Innovationsfähigkeit beschränkt, sondern Reaktionsfähigkeit und Umweltkonstitution betrifft. 51

3. Emergenz konkreter Kommunikationssysteme Aus den Zusammenhängen zwischen Erwartungsunsicherheit, Abhängigkeit und Kooperationszwang wollen wir keine Umwelttypologie ableiten. Typologien sind theoretische Konstrukte und müssen von der systemabhängigen Umweltkonstitution unterschieden werden. Die von verschiedenen Autoren vorgeschlagenen Typologien konnten noch nicht empirisch erhärtet werden. 52 Theoretisch lassen in negotiating such agreements, which they concider a more effective means to achieve abatement that the use of the formal instruments of coercion." (S. 212). 5i Evan (Fn. 45), S. 112 ff.

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sich leicht Organisationstypen auf Umwelttypen beziehen, die meistens analog zu wirtschaftstheoretischen Marktkonzepten geschmiedet werden. Die Praxis behält sich das Recht vor, anders zu sein. 53 Je schwerer es ist, Schaltstellen zu ersetzen, desto eher werden diese ein faktisches Mitglied der Organisation sein, desto eher werden sie nämlich einem Beziehungs- und Handlungssystem angehören, das es zu definieren und zu analysieren gilt. Der Bezug zur Umwelt kann jedenfalls nicht auf eine einseitige Anpassung eines äußeren Einflusses reduziert werden. Er stellt einen permanenten Tauschprozeß zwischen Organisationssegmenten und Schaltstellen in den verschiedenen Umweltsegmenten dar. Dieser Tauschprozeß beruht auf Selektionsleistungen, durch welche sich die Organisation dem Machtgefüge des dadurch entstandenen Kommunikations- und Handlungssystems selektiv öffnet, um Teile davon in mehr oder minder permanenter Weise in ihr eigenes internes Handlungssystem zu integrieren. Die Ausdehnung und die Grenzen des relevanten Kommunikationssystems, das einer Organisation zugrunde liegt, können nach diesem Ansatz nicht a priori festgelegt werden. Systemmitglieder, die in ihrer Person eine Rollenkombination oder Ämterhäufung vollziehen, können im System eine regulierende Wirkung entfalten. Ämter oder Rollen, deren Träger normalerweise sehr schlecht miteinander kommunizieren, werden miteinander verknüpft. Ein ämterhäufender Akteur kann mehrere Spiele zugleich spielen und die Kenntnisse, die er in einem gewinnt, für sein Handeln im nächsten entscheidend werden lassen. Rollenkombinationen und Ämterhäufungen tragen somit zur Überwindung von Kommunikationseinengungen im Kommunikationssystem bei. Letzteres reguliert seine Grenzen selbst. Es kann die in seinem Rahmen ablaufenden Spiele zum Teil geschlossen und geheimhalten. Es kann durch seine Operationsweise Ausschlüsse produzieren, in einer Dunkelzone funktionieren und schließlich Angst vor der öffentlichen Meinung entwickeln. Jedenfalls ist es sehr darauf bedacht, die Bedingung der Teilnahme und vor allem der Nichtteilnahme selbst zu regeln. Auf diese Weise entsteht ein Codemonopol, das es möglich macht, daß nur bestimmte partikularistische Verhaltensweisen in die Sprache der offiziellen Systemrationalität übersetzt werden können. 54 Solche Bedingungen bieten die Grundlage dafür, daß vom „role-set" 52 Zum Typologieangebot: F. E. Emery / E. L. Trist, The Causal Texture of Organizational Environments, in: Human Relations 18 (1965), S. 21 -31; J. D. Thompson, Organizations in Action, New York 1967; Ray Jurkowich, A Core Typology of Organizational Environments, in: Administrative Science Quarterly 19 (1974), S. 380-394; Eric Trist, The Environment and System-Response Capability, in: Futures 12 (1980), S. 113-127. 53 Johannes M. Pennings / Rama C. Tripathi, The Organization-Environment Relationschip: Dimensional Versus Typological Viewpoints, in: Lucien Karpik (Hrsg.), Organization and Environment, S. 171-195, 176: „types of organizations can be related to types of environments. To the extent that such a cross-classification succeeds, one can conclude that environmental variations affect the organizations". 54 „The game is closed (and secret), making it very difficult for outsiders to gain access of information. In order to protect the game, insiders seek to prevent outsiders from »breaking in4 by keeping information levels low and disguising what is going on. They hold a monopoly on those codes which enable particularistic demand to be expressed »rationally', because they are the only ones who know how to play ,the system'." J. C.

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zum „organizational-set" und von der „focal organization" zur Verselbständigung von sozialen Interorganisationssystemen übergegangen wird. Die formalisierten Erwartungen und die Bedingungen der Mitgliedschaftsrolle, welche jedem Mitglied bei seinem Eintritt in das Organisationssystem oktroyiert werden, können die Handlungsfähigkeit der Mitglieder nicht erklären. Das der Organisation zugrunde liegende relevante Kommunikationssystem kann nicht a priori durch deren offizielle Grenzen oder durch solche formale Kriterien wie Mitgliedsrolle, Zugehörigkeit und Nichtzugehörigkeit zur Organisation definiert werden. Die Grenzen des relevanten Kommunikationssystems fluktuieren und werden selbst zum Problem und Gegenstand nicht nur der Forschung, sondern vor allem der täglichen konkreten Kommunikation. Die Ausdehung oder Einengung des relevanten Machtfeldes kann beträchtlich zur Veränderung der Gegebenheiten einer Situation und der Spielregeln, die die Interaktionen steuern, beitragen. Die intraorganisatorische Verhandlungsposition von Organisationsmitgliedern kann dadurch verbessert werden, daß sie ihre Gesprächspartner — ihre Schaltstellen — in den Umweltsegmenten dazu bringen, ihnen beizuspringen. Aus diesem Grund können die Grenzen des für die Organisation relevanten Kommunikationssystems erst am Ende der Handlungsabläufe, am Ende der Verhandlungs- oder Austauschprozesse bestimmt werden. Sie sind nämlich erst dann definiert, wenn sich die Organisation ihren Kompetenzbereich und ihr Einzugsgebiet im Rahmen von sozialen Kommunikationssystemen verschafft hat. Das Einzugsgebiet der Organisation erfaßt man, wenn man alle Akteure in Betracht zieht, die an den Wirkungen der Organisation interessiert sind und darauf reagieren. Es ist demnach nicht wirklichkeitsnah, davon auszugehen, daß es von vornherein ein System gibt, welches in Abhängigkeitsbeziehungen mit seiner Umwelt und mit anderen Systemen in seiner Umwelt steht. Das System kann informell entstehen und zur eigentlichen Funktion die Regulierung von Konkurrenz und von Machtgleichgewichten haben.55 Die Grenzen des Systems selbst stehen a priori nicht fest. Die Einheit der Differenz System / Umwelt muß ständig neu konstituiert werden und kann keine einseitige Definitionsleistung sein. Sie ist vielmehr das Ergebnis von Machtspielen und fluktuierenden Machtgleichgewichten, die zu neuen Systembildungen führen. 56 Dies bedeutet praktisch, daß es bestimmte Akteure gibt, für Thoenig, State Bureaucracies and Local Government in France, in: Kenneth Hanf / Fritz W. Scharpf (Hrsg.), Interorganizational Policy Making. Limits to Coordination and Central Control, London and Beverly Hills 1978, S. 167-197., S. 185. 55 Edward Gross, Social Integration and the Control of Competition, in: The American Journal of Sociology 67 (1961/62), S. 270-277, 276 f.: „Competition is not enlisted to »explain4 the integration of informal groups. Rather, what makes these groups sociologically interesting is that they control competition". Dies ließ sich schon auch in bezug auf informale Systembildung im Funktionssystem Wissenschaft nachweisen: Randall Collins, Competition and Social Control in Science: An Essay in Theory-Construction, in: Sociology of Education 41 (1968), S. 123-140, 130. 56 Fritz W. Scharpf, Interorganizational Policy Studies: Issues, Concepts and Perspectives, in: Kenneth Hanf/Fritz W. Scharpf (Hrsg.), Interorganizational Policy Making, S. 345-370, 350 f., 352 f.

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welche die Mitgliedsrolle nicht als Prämisse für Eintritts- und Austrittsentscheidungen fungiert, und welche ihre verschiedenen Verhaltensrollen nicht unbedingt in Kombination mit der formalen Mitgliedsrolle übernehmen müssen. Solche Akteure legen ein Verhalten an den Tag, das zur Handlungsfähigkeit der Organisation beiträgt, ohne seine Prämissen in der Mitgliedsrolle zu haben. In ihrem Fall kann die Mitgliedsrolle die Bedingung des Zugangs zu allen anderen Rollen des Systems nicht festlegen. Solche Akteure, die nicht Mitglieder der Organisation im eigentlichen Sinne sind, unterhalten dennoch implizit oder gar explizit derart konstante und auf herauskristallisierte Erwartungen zurückgehende Beziehungen mit ihr, daß sie praktisch von den formalen Mitgliedern kaum zu unterscheiden sind. Die Systemgrenzen werden in der sozialen ebenso wie in der sachlichen Dimension problematisiert. Es handelt sich um den Zusammenhang von Themen und Grenzen einerseits und von sozialen Akteuren und Grenzen andererseits. Durch die Lösung des Problems, welche Themen welchem Akteur als Kommunikation zumutbar sind, erfolgt die Grenzziehung des Systems. Die tatsächlichen Grenzen des relevanten Kommunikationssystems fluktuieren und verschieben sich je nach Themenrelevanz und Akteurenbeteiligung. Sie dehnen sich aus oder verengen sich entsprechend den Problemen, denen die Organisation begegnen muß und entsprechend den Akteuren, denen es gelingt, das Einzugsgebiet der Organisation zu verändern oder zu reaktivieren, indem sie relevante Handlungsbeiträge liefern. So können Akteure, die normalerweise außerhalb der organisatorischen Spiele und Rollenkombinationen stehen, ihre Machtressourcen mobilisieren, um so zwingend wie möglich auf den Ablauf intraorganisatorischer Prozesse und Konflikte einzuwirken. 57 Die Grenzziehung wird zu einem stillschweigend antizipierenden, versteckten oder gar offenen Prozeß des Aushandelns. Dieser Prozeß läßt sich durch ein Machtspiel der Festlegung von Themenerwartungen, des Auferlegens von Themenerweiterungen und des Definierens von Problemsituationen führen. Darüber hinaus bieten die zur Verfügung stehende Kommunikationszeit und der Kreis der Beteiligten Möglichkeiten der Grenzregulierung. Der Kreis der Beteiligten steht nicht ex ante fest. Kommunikationsmöglichkeiten, die man als „cross regulation" und „honeycomb system" bezeichnet hat, weisen darauf hin, daß Regelungen nicht nur auf Gegenseitigkeitsverhältnisse, sondern auch auf unvorhersehbare Interventionen Dritter zurückzuführen sind. Letztere können die Situation definieren und ihr Problemverständnis den „Parteien" aufzwingen. 5 8 Der Intervenierende kann sich auf technische Kriterien und Verwaltungsverfahren, auf das Zitieren von Normen und die politische Tradition, sowie 57 Crozier I Friedberg (Fn. 34), S. 102, 341 f. 58 Beispiele und Definition bei Jean-Claude Thoenig, (Fn. 54), S. 177. „Cross regulation is a dynamic process through which compromises are imposed from the outside by the intervention of an external actor whose activity and legitimacy are different in nature from those of the parties involved." Zu „honeycomb process": „communication and integration follow a pattern of alternative cells, the shape of a honeycomb is a relevant image. Hierarchy and leadership never operate directly, but rather are mediated through the process of cross regulation." (S. 184).

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auf Symbole und „esoterische Codes" stützen. Die Intervention kann auch durch die Bezugnahme auf anerkannte Werte (ζ. B. Gemeinwohl) ideologisch legitimiert werden. Im autonomisierten Kommunikationssystem zwischen Organisationssegmenten und Schaltstellen in den Umweltsegmenten regulieren die entstehenden Machtgleichgewichte die Zulassungsbedingungen zur Teilnahme. So sind die Grenzen des relevanten Kommunikationssystems, das dem Arbeitsablauf der Organisation zugrunde liegt, mit den Grenzen des formalen Systems gar nicht identisch. Die formale Organisation reguliert beim ersten Zusehen ihre Grenzen primär über Mitgliedschaftsrollen und Zulassung zur Mitgliedschaft. Sie behandelt Themen als etwas, was nur den Mitgliedern des Systems aufgrund der Mitgliedschaftsrolle zugemutet werden kann. Damit lassen sich die Phänomene und Prozesse, die sich im Rahmen der Organisation beobachten lassen, nicht hinreichend verstehen und erklären. Durch formale Mitgliedschaftsregulierung und die damit zusammenhängende Themenregulierung gewinnen zwar die Grenzen des formalen Systems besondere Präzision, die durch den sich unvermeidlich einstellenden Bedarf für informale Kommunikation nicht beeinträchtigt werden kann: Die informalen Seitenthemen, die durch die Mitgliedschaftsrolle zugänglich gemacht werden, verändern nicht die formalen Organisationsgrenzen. Wenn die Organisationsanalyse es jedoch bei dieser Organisationsbeschreibung bewenden läßt, beschränkt sie sich auf ein zu enges Untersuchungsfeld. Will sie die Phänomene, die im Rahmen einer Organisation stattfinden, erklären, so muß sie den auf formalisierte Mitgliedschaftserwartungen zurückgehenden Begriff der Organisation schließlich fraglich werden lassen. Sie muß das Untersuchungsfeld erweitern und nach den Gründen und Erklärungen für die sich in der Organisation abspielenden Phänomene außerhalb suchen. Dies heißt, daß der Status der formalen Organisation als privilegierter Forschungsgegenstand grundlegend relativiert werden muß. Man kann natürlich immer den Dienstweg, den formalisierten Kommunikationsweg, die Mitgliedsrollen und ihre Kombinationsmöglichkeiten mit informalen Rollen untersuchen. Dies alles kann aber zugleich als Einstieg zu etwas anderem benutzt werden. Die formale Organisation kann nämlich als ein besonders sichtbares, formalisiertes und eng mit informalen Erwartungen zusammenhängendes Kommunikationssystem angesehen werden. Letzteres ist als Segment eines größeren Handlungssystems zu verstehen, das als Regulierungsmechanismen mit den formalen Mitgliedschaftsbedingungen des Segmentes gar nichts zu tun haben und welche es zu entdecken und zu analysieren gilt. Die Organisation oder bestimmte Segmente der Organisation können zwar den Ausgangspunkt der Forschung darstellen. Sie sind aber keineswegs das Zentrum des zu entdeckenden Kommunikationssystems. Zuweilen ist die formale Organisation samt den Informalitätsmöglichkeiten ihrer Mitglieder nur ein mehr oder minder marginales Segment des zu entdeckenden Kommunikationssystems, dessen tatsächliche Machtzentren sich an anderem Ort befinden. 59 9 Gromitsaris

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4. Verwaltungshandeln

und funktionale Differenzierung

Das staatliche Verwaltungshandeln im Bereich des Umweltrechts ist das Produkt eines Entscheidungssystems, das sich aus einer Vielzahl von verstreuten Entscheidungszentren zusammensetzt, die ihre Ziele relativ selbstständig und abgeschüttet innerhalb ihres eigenen Bereiches verfolgen. Um die Entscheidungssituation aufzuhellen, müßte sich die Analyse nicht mit den Strukturen der Dienststellen in der Verwaltung oder mit diesem oder jenem Merkmal ihrer Umweltsegmente befassen, sondern mit der Entdeckung der aufgrund konkreter Kontingenzund Problemerfahrungen entstehenden Kommunikationssysteme zwischen Verwaltungsabteilungen und ihren Schaltstellen in den Umweltsegmenten. Das Problem der verschiedenen Dienststellen der Verwaltung besteht darin, daß sachverständige Begutachtungen ausgearbeitet werden müssen, die ihre Handlungsfähigkeit zum Teil bilden. Der Erfolg der Organisationssegmente der Verwaltung scheint unmittelbar mit ihrer Fähigkeit verbunden zu sein, Beziehungsgeflechte und Schaltstellen in den relevanten Umweltsegmenten zu mobilisieren und zu manipulieren. Diese Beziehungsgeflechte stützen sich zuweilen auf persönliche Kontakte. Sie gehen beispielsweise auf die Anwesenheit von durch Ausbildungsund Karrierebande eng miteinander verbundenen Führungskräften zurück, die sowohl in den verschiedenen relevanten Entscheidungszentren der Verwaltung als auch in den Unternehmen tätig sind. Gemeinsame Ausbildung, gemeinsamer Karrierebeginn und oft enge persönliche Beziehungen haben zur Folge, daß die Führungskräfte auf beiden Seiten über die institutionellen Barrieren hinaus dieselbe Sprache sprechen können. Dies erfolgt aber nicht in dem Sinne, daß Interkoordinationsprobleme durch eine Aussprache von Interaktionsbeteiligten, die sich auch persönlich kennen, gelöst oder abgeschwächt werden. 60 Verwaltungsdienststellen, denen solche Beziehungen zur Verfügung stehen, haben leichteren Zugang zu den notwendigen Informationen und können sich einen mehr oder minder realistischen Überblick verschaffen, zumeist in direkter Zusammenarbeit mit den betreffenden Unternehmen. Durch eine realistische Problemorientierung können sie informelle und kontinuierliche Beziehungen mit anderen Verwaltungen unterhalten, die für die in Frage kommenden Probleme auch relevant sind. Sie können sich somit über deren Tätigkeiten, Bedenken und Pläne auf dem laufenden halten. Verwaltungsabteilungen, die enge Kontakte mit den Unternehmensstäben pflegen, stehen oft im Zentrum von Informations- und Kommunikationssystemen, die es ihnen ermöglichen, ein realistisches Bild der für sie relevanten Umweltsegmente zu bekommen und ihre Expertenrolle als gesuchte Gesprächspartner anderer Verwaltungen zu verstärken. Ihr daraus resultierendes größeres Gewicht in den politisch administrativen Entscheidungssystemen verstärkt wiederum ihre 59 Luhmann (§ 1 Fn. 27), S. 270 f.; Crozier / Friedberg (Fn. 34), S. 103, 342; Michel Crozier / Jean Claude Thoenig, The Regulation of Complex Organized Systems, in: Administrative Science Quarterly 21 (1976), S. 547-570. 60 Luhmann (§ 1 Fn. 27), S. 579.

ΙΠ. Formale Organisation und soziale Entscheidungssysteme des Rechts

131

Position gegenüber den Unternehmen, für die es nützlich ist und zur guten Politik gehört, sich an sie zu wenden und ihnen die verlangten Informationen zu liefern. Dies stärkt ihre Stellung als Experten usf. 61 Meistens beruhen jedoch die Informationsnetze und Ressourcenabhängigkeiten nicht auf Beziehungsnetzen des persönlichen Kontakts zwischen Individuen, die sich kennen. Das Problem der Informationsfindung und Informationsverarbeitung besteht unabhängig von konkreten Individuen. Es hängt mit dem Auffassungsschema und der Selbstreferenz des jeweiligen Systems zusammen. Die Information erscheint als Selektion aus einem Möglichkeitsbereich, den das System selbst entwirft und für relevant hält. Sie erscheint aber zugleich als Selektion, die durch das System seiner Umwelt zugerechnet wird. Sie erscheint als Selektion, die nicht das System, sondern seine Umwelt vollzieht. Die Information kann als zeitpunktgebundenes Ereignis verstanden werden, das Systemzustände auswählt. Informationswert haben diejenigen Ereignisse, die den Systemzustand verändern. Dies wird nur aufgrund von Strukturen möglich, die die Möglichkeitsbereiche, aus denen die Selektion getroffen wird, vorsortieren und abstecken. Auf diese Weise kann man die Formulierung wagen: Die Umwelt enthält keine Information, sie ist was sie ist. 62 Information ist immer Information eines Systems, das bei der Änderung seiner eigenen Zustände immer selbst mitwirken muß. Eine Änderung des Systemzustandes ist durch schlichte Außeneinwirkung nicht möglich. Eine Außeneinwirkung kann nur als Bestimmung zur Selbstbestimmung erfolgen. Diesem Umstand trägt der systemtheoretische, selbstreferentielle Informationsbegriff Rechnung. Die Information beseitigt nicht die Struktur des Systems, sondern sie setzt diese voraus. Sie aktualisiert den Strukturgebrauch und läßt somit das System den systeminternen Kontext seiner Selbstbestimmung verändern. 63 Dieser Ansatz zeigt die Bedingung der Möglichkeit für Informationsgewinnung und Informationsverarbeitung überhaupt auf. Im vorliegenden Zusammenhang geht es uns darum, genau das zu problematisieren, was der Informationsbegriff notwendigerweise voraussetzen muß: das Vorhandensein von Strukturen. Weder die Systemstrukturen noch die Systemgrenzen stehen a priori fest. Sie sind das Ergebnis von fluktuierenden Machtgleichgewichten, die die Möglichkeitsfelder im nachhinein definieren. Wenn die Strukturen nicht feststehen, kann auch nicht gesagt werden, welche Ereignisse Informationswert haben. Es ist nicht bekannt, was als Information fungieren kann. Es ist auch nicht bekannt, wann ein zeitgebundenes Ereignis seine Informationswirkung entfalten wird. Ein Ereignis kann zwar verschwinden, es geht aber als Information nicht verloren, wenn es den Systemzustand verändert. Es ist somit möglich, daß vergangenen Ereignissen erst in einer künftigen Gegenwart Crozier I Friedberg (Fn. 34), S. 106 ff. 62 Heinz von Foerster, Observing Systems, 2. Aufl., Seaside California 1984, S. 270; ders., Biokybernetik des Zentralnervensystems, in: Wolf D. Keidel / Wolfgang Händler / Manfred Spreng (Hrsg.), Kybernetik und Bionik, München/Wien 1974, S. 27-46. 63 Luhmann (§ 1 Fn. 27), S. 102 ff. 9*

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§ 4 Regelbildung und Regelbefolgung

Informationswert zukommt. Sie rücken erst später in ein neues Licht, das sie im nachhinein als das erscheinen läßt, was den Systemzustand verändert hat, nämlich als Information. Die Umwelt ist dem System nur als Information zugänglich. Um besondere, neuartige weitere Informationen gewinnen zu können, muß das System seine Strukturen ändern, seine Binnendifferenzierung entwicklen oder die Iterierung der Systembildung an seinen Grenzen begünstigen. Informationsgewinnung setzt Strukturbildung und Strukturbildung setzt Systembildung voraus. Organisationssegmente, die auf Informationen aus sind, ohne genau zu wissen, was sie brauchen noch was sie wollen, sehen sich demnach genötigt, neue Beziehungsnetze entstehen zu lassen. Sie können versuchen, Kontaktverluste, die sie erlitten haben, durch die Schaffung neuer Schaltstellen in den Umweltsegmenten zu begegnen. Dies wird jedoch immer auf den Widerstand der bestehenden Schaltstellen stoßen. Solche Beziehungssysteme müssen in einer diachronischen Perspektive gesehen werden. Sie sind für die zeitlichen Fluktuationen ihrer Ressourcen und Behandlungsmöglichkeiten, also ihrer Strukturen, anfällig. Ein von seinen Schaltstellen zu einem Zeitpunkt kolonisiertes organisatorisches Segment kann sich ihnen gegenüber zu einem späteren Moment mehr Autonomie schaffen und umgekehrt. Die Kommunikationssysteme, die auf diese Weise entstehen, bestehen aus Verhaltenserwartungen, die sich um Beziehungen zwischen Systemen herumkristallisieren. Alles, was vorkommt, kann zugleich zugehörig zu einem oder zu mehreren Systemen und zugehörig zur Umwelt anderer Systeme sein. Jede Analyse erfordert somit die Angabe einer Systemreferenz, in der etwas als Element des Systems oder als Moment seiner Umwelt bestimmt ist. 64 Die Schaltstellen sind Systeme mit eigenen Strategien und Zielen. Die Organisationssegmente, die in engen Beziehungen mit ihnen stehen, können über die System / Umweltbeziehungen ihrer Schaltstellen in den Umweltsegmenten nicht verfügen. Das, was den Schaltstellen als Information dient, ist demnach den Organisationssegmenten nicht direkt zugänglich. Die Operationen in den Schaltstellen sind nicht unmittelbar beobachtbar, sondern sie können nur erschlossen werden. Den Organisationssegmenten geht es nun sehr oft darum, in Erfahrung zu bringen, durch welche Informationen sich die Schaltstellen ihrer Umwelt zugänglich machen. Um dieses Zugänglichmachen des Zugänglichmachens von Umweltsegmenten zu ermöglichen, müssen die Organisationssegmente Systeme sozialer Kommunikation mit ihren Schaltstellen bilden. Im Rahmen dieser Systeme entstehen Machtgefüge und fluktuierende Gleichgewichte, d. h. also Strukturen, die Möglichkeitsfelder vorsortieren und Ereignissen Informationswert zukommen lassen. Informationen sind immer systemrelativ. Der „Besitz" von Informationen ist für die Schaltstellen ein wichtiger Trumpf, den sie gegenüber der Verwaltungsorganisation ausspielen können. Sie sind daher eher daran interessiert, daß sich Systemstrukturen bilden, die besonderen Kategorien von Ereignissen Informationswert verleihen, die die ihnen günstigen Machtgleichgewichte nicht in Frage stellen und die ihre Repräsentantenrolle stärken. Die Systemstrukturen sind also w Ebd., S. 243.

III. Formale Organisation und soziale Entscheidungssysteme des Rechts

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zugleich Orientierungspunkte für Manipulationspraktiken und absichtliche Ausblendung von Ereignissequenzen. Struktur bedeutet zugleich bruchstückhafte und manipulierte Information über die Umwelt. Wenn man die Machtposition und die Operationsweise von Verwaltungssegmenten innerhalb der Verwaltungsorganisation erklären will, dann muß man die Spielregeln der Kommunikationssysteme erfassen, die sich „außerhalb" der formalen Organisation um die Transaktion zwischen organisatorischen Segmenten und den in ihrer Umwelt relevanten Schaltstellen gebildet haben. Deren Spielregeln und spezifische Zwänge bedingen nämlich die Handlungs- und Wandlungsfähigkeiten sowie die Informationsgewinnung der Organisation. Man muß von einer Vielfalt struktureller Gegebenheiten ausgehen, die für die Informationsgewinnung und Verarbeitung relevant sind. Die Organisation, so wie sie sich mit ihren formalisierten Mitgliedschaftserwartungen, ihren hierarchischen Ketten, ihren Koordinationsverfahren, ihren formalen und informalen Rollenkombinationen und ihrer scheinbaren Integration zunächst darbietet, muß der Analyse der vielfältigen Kommunikationssysteme weichen. Diese Systeme umfassen zwar Segmente der Organisation, gehen aber auch über sie hinaus und liefern die Strukturen, die der Organisation zur Informationsgewinnung und Handlungsfähigkeit verhelfen. Um die Ergebnisse der gemeinsamen Tätigkeit von Organisations- und Umweltsegmenten zu verstehen, ist es wichtiger, die Funktionsweise des konkreten Kommunikationssystems ihrer Beziehungen zu untersuchen, als sich an die apriorischen Präferenzen der Entscheidungsträger oder an die Bedürfnisse und Regeln der jeweiligen Organisationen zu halten, denen die Segmente angehören. Der Druck dieses Kommunikationsystems ist oft stärker als der Druck der offiziellen Verwaltungsorganisationen, und die Akteure stehen in einer gegenseitigen Abhängigkeit, die sich in der Tatsache manifestiert, daß keine Entscheidung einseitig auf einsamen Entschluß irgendeines Akteurs getroffen werden kann. Entscheidungen werden ausgehandelt. Oft beruhen sie übrigens nicht auf direkten Verhandlungen, sondern sie laufen über die Intervention anderer Instanzen. Die Entscheidungen entziehen sich somit dem vorherrschenden Einfluß und der Konditionierung von Verwaltungsorganisationen. Im Kommunikationssystem scheint eine gegenseitige Durchdringung der traditionellen Funktionsbereiche stattzufinden. Die Welt der Verwaltungsbeamten, der gewählten Politiker und der wirtschaftlichen Unternehmen scheinen sich gegenseitig im Handlungssystem zu durchdringen. Die soziale Kommunikation im System scheint sich sowohl an der Differenz Recht / Unrecht als auch an den Differenzen Zahlung / Nichtzahlung und kollektiv bindende / kollektiv nichtbindende Entscheidungen zu orientieren. Es ist jedoch fraglich, ob Kommunikationssysteme auf unterschiedlich kodierten Erwartungen beruhen können. Dies ist ein Problem, das nur gesellschaftstheoretisch gelöst werden könnte. Jedenfalls ist ein juristisches Denken im eigentlichen Sinne hier ebenso unangemessen wie ein politisches und ein Verwaltungsdenken. Alles, was im Kommunikationssystem vorkommt, gehört nicht nur diesem System an. Es ist zugleich zugehörig zu mehreren Funktionssystemen. Es kann zugleich

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§ 4 Regelbildung und Regelbefolgung

administrativ, rechtlich (unter Umständen auch juristisch), wirtschaftlich und politisch relevant sein. Die Gleichzeitige Erhöhung von Interdependenzen und Independenzen zwischen dem Rechtssystem und den anderen Funktionssystemen scheint auf der Ebene von Programmen und Selektionskriterien stattzufinden. Auf der Ebene des Code herscht Zweiwertigkeit. Auf der Ebene der Progamme können beliebige Dritten eingeschlossen werden. Mit Programmen meinen wir hier nicht Gesetzesprogramme. Es geht vielmehr um Selektionskriterien, die in Aushandlungsprozessen und Kommunikationssystemen zwischen mehreren Organisationen festgelegt werden. Schon sehr früh ist in der Organisationstheorie von „joint programmes" die Rede gewesen.65 Nach diesem Ansatz liegt die „organizational diversity" der Verwaltung weder in Gesetzestexten noch in ihren formal organisierten Kommunikationsprozessen. Sie hängt vielmehr mit einer Reihe verschiedener Variablen zusammen, die den Umgang der jeweiligen konkreten Behörde mit Informationsunsicherheit und Ressourcenabhängigkeit regeln. Diese Variablen können nur in zu bildenden sozialen Kommunikationssystemen bestimmt werden. Diese Festlegung von Selektions- und Entscheidungskriterien erfolgt also nicht in der Behörde, sondern im „interorganizational network", d. h. im Kommunikationssystem, dessen Mitglied sie faktisch ist. Die Entscheidungsprogramme, die auf diese Weise gebildet werden, werden nicht formalisiert. Dennoch initiieren sie „a never-ending cycle of diversity — innovation — need for ressources — establishment of joint programmes". 66 Die wichtigsten Probleme, denen die Verwaltung begegnen muß, sind im wesentlichen einigen relevanten Kommunikationssystemen zuzuschreiben, die nicht mit der formalen Organisation der Verwaltung identisch sind. 67 Das Vorhandensein solcher Kommunikationssysteme ist problematisch. Man kann nicht universelle Gesetze formulieren, die für alle Systeme dieser Art Geltung hätten. Sie sind kontingent, sie haben kontingente Eigenschaften, sie sind nie im vorhinein erkennbar. Sie sind erst zu entdecken. Die Individuen sind sich nicht immer der Existenz solcher Kommunikationssysteme bewußt. Die Systeme scheinen von individuellen Besonderheiten unabhängig zu sein. Ihre Regeln und Normen werden gleichsam den fragmentierten Individuen aufgezwungen. Die Regulierung ist nicht Produkt persongebundener Anordnungen, sondern eher Produkt einer Gesamtheit von Beziehungen. Selbst starke Persönlichkeiten können ihre Willkür nur innerhalb eines schon existierenden Machtgefüges ausüben. In den Handlungssystemen werden nicht die Menschen reguliert und strukturiert, sondern die Spiele, die Verhaltensmöglichkeiten, die ihnen angeboten sind. Es entstehen Strukturen kreuzweiser Beziehungen, die die Akteure zwar unter starken Druck stellen, ohne sie jedoch in direkte Abhängigkeit zu bringen. Die Beziehungen 65 M. Aiken / J. Hage, Organizational Interdependence and Intraorganizational Structure, in: W. M. Evan (Hrsg.), Interorganizational Relations, New York 1976, S. 160-184. 66 M. Aiken U. Hage, ebd., S. 167. 67 Dies wird von Stewart Clegg, Organization and Control, in: Administrative Science Quarterly 26 (1981), S. 545-562 übersehen.

III. Formale Organisation und soziale Entscheidungssysteme des Rechts

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brauchen weder hierarchisch noch demokratisch noch kontraktuell zu sein. Im Rahmen solcher kreuzweisen Abhängigkeiten, anhand derer man versucht, den das Kommunikationssystem beherrschenden Regeln zu entkommen ohne seine Strukturen zu beseitigen, müßten auch die Beziehungen zwischen formalen und informalen Handlungsweisen überdacht werden. Anstatt nur das formale dem informalen Organisations- und Verwaltungshandeln gegenüberzustellen, müßte man zweierlei tun: Einerseits müßte man das Organisationssystem — samt seinen mit der Mitgliedschaftsrolle verbundenen Formalitäts- und Informalitätsmöglichkeiten — von den konkreten zu entdeckenden Handlungssystemen unterscheiden, die über das Organisationssystem hinausgehen, um diesem zu den gesuchten Problemlösungen zu verhelfen. Andererseits müßte man das diesen konkreten Handlungssystemen zugrunde liegende reguläre Spiel, das zugleich eine formale Struktur und ein informales Leben haben kann, einem zweiten durchaus möglichen Spiel für Eingeweihte gegenüberstellen können. Aus dem ersten Verhaltenssystem kann sich ein zweites entwickeln. Die Regel ruft die Ausnahme, die Systembildung eine weitere Systembildung hervor. Die Beziehungen in den Kommunikationssystemen beruhen nicht auf einer interaktionistischen Logik, die die Handlungsfelder strukturiert. Aus systemtheoretischer Sicht gibt es kein nichtstrukturierte Feld. Selbst wenn der Grad der Strukturierung gering ist, ist sie immer stark genug, um jede einfache interaktionistische Logik zu verfälschen. Dies heißt, daß weder die anomische Freiheit noch die totale Konditionierung möglich sind. Ausgangspunkt jeder Systembildung ist vielmehr die Tatsache, daß es kein neutrales machtfreies Handlungsfeld gibt. Jedes Handlungsfeld setzt Ungleichheit, behinderte Kommunikation, Notwendigkeit von Umwegen voraus, um zum Handeln zu kommen. Das unausweichliche Vorhandensein von Machtverhältnissen bedeutet, daß die Homogenität der sozialen Felder zerbrochen wird und daß Brüche, Diskontinuitäten und Inkohärenzen unvermeidlich sind. Die Systembildung ist der faktisch unternommene Versuch, unter diesen Umständen Kommunikation zu ermöglichen. Viele soziale Systeme sind sogar auf Geheimhaltung und auf die Unmöglichkeit zu kommunizieren gegründet. Da es keine Macht ohne Strukturierung geben kann und da Strukturierung Regulierung voraussetzt, kann die Diagnose des Vorhandenseins eines Systems von der Feststellung von Machtbeziehungen ausgehen. Selbst kurzlebige, zeitgebundene Systeme, in denen Machtbeziehungen ohne dauerhafte Regulierung vorhanden sein können, stellen eine Ermöglichung von Kommunikation dar. Alle Systeme schränken die Kommunikationsmöglichkeiten ein, beziehen sich zugleich auf schon vorhandene Einschränkungen und lassen auf diese Weise vorherrschende Kommunikationsweisen entstehen. Die Kommunikation kann etwa lateral einfach, vertikal aber unmöglich sein, sie kann zwischen bestimmten Stellen sehr gut laufen, zwischen anderen hingegen überhaupt nicht stattfinden. Hinzu kommt, daß die Grenzen des Systems nicht feststehen. Die Möglichkeit des Einbeziehens oder des Ausschlusses von momentan außerhalb des Systems befindlichen Akteuren variiert ebenso wie die Möglichkeiten der Systemmitglieder die Systemstruk-

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§ 4 Regelbildung und Regelbefolgung

turen zu ändern. Während die Grenzen der formalen Organisation durch die Mitgliedsrollen abgesteckt sind, sind die Grenzen der konkreten Kommunikationssysteme, welche die Beziehungsgeflechte zwischen Organisations- und Umweltsegmenten umfassen, sehr diffus. Die Grenzen der relevanten Kommunikationssysteme sind das Ergebnis der Ausdehung oder Einengung von relevanten Machtfeldern. Die Organisation mit ihren formalisierten Mitgliedschaftsbedingungen und Kommunikationsmöglichkeiten scheint sich am Ende eines Kontinuums konkreter Kommunikationssysteme zu befinden, bei denen der Grad der Formalisierung, sowie das Bewußtsein für Kommunikationslatenz zwischen der unbewußten Regulierung und den offiziellen Mitgliedschaftsrollen variiert. Die Wirklichkeit solcher Systeme und ihrer Zwänge und Bedeutung kann beispielsweise am Fall der Polizeiorganisation gezeigt werden. Eine Vielzahl von Polizeidienstbereichen sind nämlich bei ihrem Kampf gegen das Verbrechen auf ein Netz von Spitzeln angewiesen. Letztere fungieren als Schaltstellen in den Umweltsegmenten. Sie sind zwar keine formalen Mitglieder der Polizei, sie unterhalten jedoch mit ihr implizit sehr konstante und reglementierte Beziehungen, daß sie praktisch der Polizei angehören. Dieses unter Mühen aufgebaute Kommunikationssystem ist für das Verständnis der Handlungsfähigkeit und Handlungsfreiheit der Polizei unentbehrlich. 68 Mit Geiger können wir die Frage stellen: „Wissen die Juristen das?" 69 Das ist eine Frage nach der Funktion von Strukturlatenz. Die Latenzbedürfnisse von Bewußtsein und Kommunikation brauchen in den sozialen Entscheidungssystemen des Rechts, die in der oben beschriebenen Weise entstehen, miteinander nicht übereinzustimmen. Das Problem der Latenzerhaltung ist kein Problem der „faktischen Unmöglichkeit". 70 Es geht nicht um „harmlose", sondern um strukturgefährdende Latenz. Die Tatsache, daß alles juristische Entscheiden als rechtsstaatlich fundiert und als auf formal geltende Entscheidungsprogramme rückführbar behandelt wird, ist eine Kommunikationsstruktur, die den „Begleitschutz" von Latenz braucht. Dies bedeutet, daß Bewußtheit oder Kommunikation über die Kommunikationsstruktur die Struktur zerstören bzw. „erhebliche Umstrukturierungen auslösen würde, und daß diese Aussicht Latenz erhält". 71 Juristisches Entscheiden erzeugt ihm „zugeordnete Latenzen", die dafür sorgen, daß die faktische Entscheidungsprogrammierung im Laufe des Entscheidungsprozesses selbst ausgeblendet wird. Sie wird mit semantischen Varianten belegt, die ihr jegliche juristische Relevanz absprechen. Die Orientierung an rechtsstaatlichen Prinzipien, die post festum — nachdem sich der Entscheidungsprozeß schon selbst programmiert hat—demonstrativ in den Vordergrung tritt, wird als funktional unersetzbar behandelt. Die Funktion des rechtsstaatlich geregelten Entschei68 Crozier ! Friedberg (Fn. 34), S. 341. 69 Geiger, Vorstudien, S. 253. 70 Luhmann (§ 1 Fn. 27), S. 460. 71 Ebd., S. 459.

I. Interdependenz von Entscheidungen

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dens kann aber nicht darin liegen, seine Ersetzbarkeit durch andere — empirisch nachweisbare — funktionale Äquivalente latent zu halten. Diese Leistung muß von anderen Formen erbracht werden, deren latente Funktion die Bewahrung des Scheins von der Unersetzbarkeit der offiziellen Entscheidungsstruktur ist. Juristische Begründungen und Argumentationsformen scheinen demnach nicht nur zur Minderung des Überaschungswertes aneinander geketteter Argumente beizutragen, und nachträgliche Asymmetrisierung trägt nicht nur zur Unterbrechung der Rekursivität aller Sinnbeziehungen in den Entscheidungssystemen bei. 72 Begründung, Argumentation und Asymmetrisierung übernehmen zugleich die Last und Funktion, sich auf den Latenzbedarf der Rechtsstaatlichkeitsprinzipien zu beziehen. Diese ihre Funktion bleibt ihrerseits latent und blendet den Umstand aus, daß die Einheit der Kommunikationssysteme, in welchen das juristische Entscheiden sich selbst programmiert, nur noch „über Problemorientierung und Funktionsbezug"73 hergestellt und im Nachhinein verdeckt werden kann. Das ist genau der Sachverhalt, dem Geiger mit seinem Begriff der immer rückwirkend anzuwendenden subsistenten Norm Rechnung zu tragen versuchte.

§ 5 Juristische Entscheidung und ihre rechtliche Relevanz für das menschliche Sozialverhalten I. Interdependenz von Entscheidungen Das Aufeinanderbezogensein von Themen steht innerhalb eines Systems unter besonderen Bedingungen. Bezugsmöglichkeiten und Bezugsprobleme von Themen wollen wir unter dem allgemeinen Begriff der Interdependenz erfassen. Interdependenzen können erhöht oder unterbrochen werden. 1 Man kann davon ausgehen, daß im Rechtssystem an Interdependenzen mehr möglich ist, als faktisch realisiert werden kann. Für die Erfassung der faktischen Komplexität im Rechtssystem muß man zwischen zeitlicher, sachlicher und sozialer Komplexität unterscheiden und in jeder dieser Dimensionen wiederum differenzierte Konzepte bilden. Im folgenden werden wir uns mit der Operationalisierung von Interdependenz in der sachlichen Dimension befassen. Wir werden nämlich untersuchen, wie die soziale Kommunikation Abhängigkeiten zwischen verschiedenen Elementen in der Sachdimension entstehen läßt. Bevor man sich aber dieser Frage zuwendet, muß man die Vorfrage geklärt haben, was alles als Element im Rechtssystem fungieren kann.

72

Niklas Luhmann, Die Rückgabe des zwölften Kamels. Zum Sinn einer Soziologischen Analyse des Rechts, unveröffentliches Manuskript, Bielefeld, S. 48 f. 73 Luhmann (§ 1 Fn. 27), S. 463. ι Luhmann (§ 1 Fn. 19), S. 67.

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§ 5 Juristische Entscheidung und rechtliche Relevanz

Aus der Sicht der Theorie selbstreferentieller Systeme ist das Rechtssystem nicht als ein Inbegriff von zusammenhängenden Rechtssätzen oder als ein die Rechtssätze darstellendes Begriffssystem zu verstehen. Das Recht einer Gesellschaft ist vielmehr ein soziales System. Soziale Systeme können sich als Interaktionen, Organisationen oder als Gesamtgesellschaft konstituieren. Dies bedeutet, daß es unzuläßig ist, das Rechtssystem in seinen Organisationen aufgehen zu lassen. Die Rechtstheorie kann aus der wissenschaftlichen Forschungssituation auf dem Gebiet der Organisationssoziologie Nutzen ziehen. Die methodologischen Erkenntnisse der Organisationsforschung lassen sich unter drei Gesichtspunkten zusammenfassen. 2 Die Organisationstheorie berücksichtigt zwar gesellschaftstheoretische Perspektiven, die Organisation wird aber als ein Problem eigener Art erforscht. In Organisationen spielt die formalisierte Kommunikation eine wichtige, aber nicht allein ausschlaggebende Rolle; man stellt also der formalen Organisation die informale Organisation gegenüber, ohne jedoch beide Ansätze antagonistisch aufzufassen. Der entscheidungstheoretische Ansatz wird in die Organisationsforschung eingebaut, und der Zusammenhang von Organisation und Entscheidung wird soziologisch interpretierbar. Zunächst muß daher der Begriff der Entscheidung geklärt werden. Die systemtheoretischen Überlegungen verwenden den Entscheidungsbegriff nicht im lebensweltlichen Sinne. Es handelt sich nicht um einen „Überlegungsprozeß" 3 , der eine Wahl zwischen Alternativen vorbereitet, trifft und ausführt. Handlungen und Entscheidungen werden auseinandergehalten. Entscheidungen erfassen Kontingenz anders und haben ein anderes Identifikationskriterium als Handlungen. Im Unterschied zu Handlungen „thematisieren Entscheidungen ihre eigene Kontingenz". Sie finden ihre Identität nicht in der bloßen Erwartbarkeit im Rahmen einer sozialen Situation. Für sie genügt es nicht, daß sie als erwartbar auf einen Träger zugerechnet werden können. Entscheidungen müssen sich selbst als kontingent auffassen und dies mit zum Ausdruck bringen. Sowohl für Handlungen als auch für Entscheidungen ist die Orientierung an Erwartungen grundlegend. Erwartungen lassen noch keinen Entscheidungsdruck entstehen. Sie zwingen jedoch das Handeln in die Form von Entscheidungen, wenn sie es als eine kontingent ausgewählte Antwort im Horizont der Differenz von erwartungskonform oder abweichend erscheinen lassen. Man kann die verschiedensten Arten von Alternativen, etwa Präferenzen oder Optimierversuche als Erwartungen auffassen. Es ist unwichtig, wer die Erwartungen hegt, ob sie nämlich vom Entscheider, von einem Beobachter oder ganz allgemein von anderen an das Verhalten gerichtet werden. 4 Der Entscheidungsbegriff läßt offen, ob die Sinngebung des Handelns, ob das Hineinzwingen des Handelns in die Form von Entscheidungen vom Handelnden selbst oder von einem Beobachter vollzogen wird. Eine schon 2

Der s., Organisation und Entscheidung,in: ders., Soziologische Aufklärung Bd. 1, Opladen 1981, S. 335-389, 336. 3 Hierzu und zum folgenden: Ebd., S. 337 ff. 4 Hierzu und zum folgenden: Luhmann (§ 1 Fn. 27), 399 ff.

I. Interdependenz von Entscheidungen

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stattgefundene Handlung kann im nachhinein im Lichte einer noch nicht berücksichtigten Erwartung als erwartungskonform oder abweichend angesehen werden. Für die Entscheidung ist es erforderlich , daß die Erwartungsorientiertheit des Handelns aktualisiert wird, daß die sich durch das Erwarten bildenden Alternativen als das „Woraus" der Selektion, als Kontenxt, Geschichte und Kontingenz an der gewählten Alternative thematisiert und festgehalten werden. Eine Handlung nimmt den Charakter einer Entscheidung an, wenn in ihre Sinnbestimmung der Erwartungsbezug aufgenommen wird, daß sie also vom Handelnden, von anderen oder von beiden erwartet wird. Dies führt dazu, daß die getroffene Auswahl als kontingent behandelt wird und daß Entscheidungen erheblich kontextsensibler sind als Handlungen. Die Alternativenkonstellation kann sogar nach der getroffenen Entscheidung erneut variieren, sei es weil sich eine übersehene Alternative nachträglich einstellt, sei es weil die Handlungssituation im nachhinein anders definiert und zur Entscheidungssituation erhoben wird. Die ausgewählte Alternative stellt ihre eigene Kontingenz in den Vordergrund und blendet nicht den Entscheidungskontext aus. Auf diese Weise können sich die Anschlußhandlungen auf die Kontextsensibilität der Entscheidung beziehen und sich durch die Kontingenz der Auswahl motivieren lassen.5 Der faktische Zustand, der durch die Auswahl erreicht wird, kann somit im Anschlußgeschehen erneut relativiert werden. Die getroffene Auswahl ist im Rahmen der durch sie erreichten Faktizität nur als ein „Auch-anders-möglich-gewesensein" 6 möglich. Die Entscheidung vereinigt aus systemtheoretischer Sicht zwei Formen von Kontingenz: die offene Kontingenz der Alternativenkonstellation und das Auch-anders-möglich-gewesen-sein der getroffenen Entscheidung. Sie kann daher ihre „eigene Vorher/ Nachher-Differenz überbrücken". 7 Die Alternativenbezogenheit der Entscheidung läßt sich — wie Geiger betont — ex post unter Berücksichtigung von „deviation-counteracting und deviation-amplifying mutual causal processes" herstellen. 8 Der Vorschlag von Torstein Eckhoff 9 müßte demnach um diese doppelte Feedback-Möglichkeit bereichert werden. 5 Dieter Frey / Randolph Ochsmann, Schematisierung von Entscheidungsprozessen, in: Martin Irle (Hrsg.), Attraktivität von Entscheidungsalternativen und Urteilssicherheit, Bern/Stuttgart/Wien 1978, S. 20-28. 6 Luhmann (§ 1 Fn. 27), S. 402. 7 Ebd., S. 402. 8 Geiger, Vorstudien, S. 250 f. Hierzu und zur Entstehung von „vicious circles" von feed back: Magoroh Maruyama, The Second Cybernetics: Deviation-Amplifying Mutual Causal Processes, in: General Systems 8 (1963), S. 233-241, 239; vgl. femer J. O. Wisdom, The Hypothesis of Cybernetics, in: General Systems 1 (1956), S. 111 -122,112. 9 Torstein Eckhoff, Feedback in Legal Reasoning and Rule Systems, in: Scandinavian Studies in Law 22 (1978), S. 39-51; hierzu Luhmann, Die Einheit des Rechtssystems, S. 140 f. (Fn. 26, 27) unter Berufung auf die „second order cybernetics" von Heinz von Foerster, Kybernetik einer Erkenntnistheorie, in: Wolf D. Keidel / Wolfgang Händler / Manfred Spreng (Hrsg.), Kybernetik und Bionik: Berichtswerk über den 5. Kongreß der Deutschen Gesellschaft für Kybernetik Nürnberg 1973, München/Wien 1974, S. 2746; und ders., Cybernetics of Cybernetics, in: Klaus Krippendorff (Hrsg.), Communication and Control in Society, New York 1979, S. 5-8, 7 f.

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§ 5 Juristische Entscheidung und rechtliche Relevanz

Mit diesem systemtheoretischen Entscheidungsbegriff werden zunächst Entscheidungszusammenhänge nicht berücksichtigt. Entscheidungsdruck kann aber entstehen, auch wenn die Alternativen einer Entscheidungssituation mit Blick auf die Entscheidungen von anderen Stellen im Organisationssystem strukturiert werden. Entscheidungen liegen auch dann vor, wenn die Wahl durch routinisiertes Verhalten, Vorentscheidungen oder durch die Macht und die Kompetenz anderer beinflußt wird. Wenn man davon ausgeht, daß Organisationen darauf beruhen, daß Entscheidungen wechselseitig miteinander verknüpft werden, muß man ein komplexitätstheoretisches Argument gelten lassen. In einem komplexen sozialen System kann nicht mehr jedes Element mit jedem anderen verknüpft werden. Dies führt zu Selektivität und Temporalisierung von Komplexität. Die inneren Kapazitätsschranken des Systems erzwingen eine drastische Selektivität der Verknüpfungen und legen es nahe, daß Zeit in Anspruch genommen wird. Sind die Entscheidungen gleichzeitig miteinander nicht kombinierbar, so können sie doch nacheinander aufeinander bezogen werden. Die Steigerung der Selektionsmöglichkeiten durch die Erschaffung einer Ordnung der Entscheidungen im Nacheinander setzt voraus, daß sich die relationierenden Entscheidungen als vergehende Ereignisse bilden. Die Relationierung im Nacheinander kann nur erfolgen, wenn Entscheidungen getroffen werden und zugleich eine „zeitbindende Funktion" erfüllen. Sie müssen trotz der Tatsache, daß man sie schon getroffen hat, als Prämisse späteren Entscheidens verwendbar sein können. Sie wirken zeitbindend, wenn sie Selektionsleistungen festlegen, die im Hinblick auf weiteres Entscheiden Kontinuität oder Diskontinuität, Widerspruch oder Fügsamkeit möglich machen. Das Merkmal des Entscheidens in Entscheidungszusammenhängen ist daher nicht bloß das Thematisieren der Kontingenz der gewählten Alternative, sondern auch der Umstand, Sinn produzieren zu müssen, der überhaupt im weiteren Entscheiden kontinuieren kann. Jede Entscheidung bekommt es in Entscheidungszusammenhängen mit einer zweifachen Selektionsperspektive zu tun. Sie muß sowohl die Selektivität der getroffenen Auswahl aus einer wie auch immer strukturierten Alternativenkonstellation als auch die Selektivität ihrer Beziehung zu anderen Entscheidungen zum Vorschein rücken lassen. Entscheidungstheoretische Überlegungen, die im Anschluß an den Begriff der Komplexität angestellt werden, gehen bei ihrem Versuch, die Interdependenz von Entscheidungen zu erklären, nicht vom Inhalt der jeweiligen Entscheidung aus. Sie tragen vor allem dem Umstand Rechnung, daß die Beziehungen zwischen Entscheidungen selektiven Charakter haben, daß sie also kontingent sind. Ihr Zugriff auf das Problem der Entscheidungsverknüpfung besteht darin, festzustellen, wie Entscheidungen sich wechselseitig einschränken, sich gegenseitig vorbereiten, einander unter Druck setzen oder entlasten.10 Die Zweck-Mittel-Beziehung, die von der klassischen Theorie des rationalen Entscheidens als das Ent10 Hierzu und zum folgenden s. Luhmann, Soziologische Aufklärung Bd. 3, Opladen 1981, S. 342 ff.

I. Interdependenz von Entscheidungen

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scheidungsinhalte miteinander verknüpfende Relationierungsschema betrachtet wurde, ist nur ein Fall von Entscheidungsverknüpfung unter anderen. Die Systemtheorie ersetzt die zu enge teleologische Relationierung durch den allgemeineren Begriff der Entscheidungsprämisse. Sie kann damit besser erklären, wie Entscheidungen wechselseitig die Funktion der Entscheidungsprämisse wahrnehmen. Sie beschreibt, wie es möglich ist, daß Vorentscheidungen dem Entscheiden eine Situationsdefinition oder eine Entscheidungslage oktroyieren, ohne eine solche Absicht in ihren Entscheidungsvorgang hineinvermittelt zu haben. Sie kann darstellen, wie eine Entscheidung den Alternativenspielraum von Folgeentscheidungen eischränkt, ohne das genau zu bezwecken oder die sachliche ZweckMittel-Rationalität überhaupt zu bemühen. In Entscheidungsorganisationen sind die Beziehungen zwischen Entscheidungen eine Art primärer Entscheidungsinhalt. Die Rücksicht auf andere Entscheidungen in der Form von sozialer und zeitlicher Orientierung (wer wann entscheidet) hat eine Art Primat gegenüber der sachlichen Zweckrelationierung von Entscheidungen. Ohne vorgängige und künftige Entscheidungstätigkeit könnte man in Entscheidungszusammenhängen keine Entscheidung treffen. Selbst wenn nicht jede Entscheidung mit jeder anderen abgestimmt werden kann — oder gerade weil das nicht möglich ist — muß es Selektivität thematisierende Koordinationsmuster geben, nach denen „aus jeder Entscheidungslage heraus" erkennbar wird, „welche anderen Entscheidungen abgerufen oder verhindert, benutzt oder befürchtet, erinnert oder ausgelöst werden müssen".11 Jede Einzelentscheidung wird vor dem Hintergrund anderer Vorentscheidungen und in einem Horizont anderer Folgeentscheidungen getroffen, die von ihr als gegeben oder als selektiv relevant behandelt werden. In Organisationssystemen muß jede anstehende Entscheidung davon ausgehen, daß die anderen Entscheidungen, die von ihr als relevant angesehen werden, eine Realität als Entscheidungen im Rahmen der Organisation beanspruchen, daß sie also entschieden wurden oder werden. Die Selektionsprozesse, die Entscheidungswahrscheinlichkeiten abtasten, sind keine Bewußtseinsprozesse. Sie sind vielmehr Kommunikationsprozesse oder Prozesse von „sounding out", die sich von Ambiquität und Unsicherheit ernähren und reversible Alternativenkonstellationen sowie Konfrontationen vermeidende Entscheidungszusammenhänge konstituieren. Ihr Nachteil ist es, daß sie sehr hohe Zeitkosten haben.12 Zudem ist die Tatsache problematisch, daß Entscheidungsinformationen der Kommunikation nicht ohne weiteres zur Verfügung stehen. Informationsgewinnung kann auf Erfahrungsbestände und informale Kontaktsysteme zurückgehen und kann sehr oft das Tageslicht der Kommunikation nicht gut vertragen. 13 Die Mechanismen, „die es (im Vergleich zu Zufallserwartungen oder im Vergleich zur Umwelt) wahrscheinli11 Ebd., S. 352. 12 Vgl. Johan P. Olsen, Voting, „Sounding Out", and the Governance of Modem Organizations, in: Acta Sociologica 15, S. 267-283. 13 Ebd., S. 277: Information „cannot be articulated and transmitted to other people even when its possessor is willing to transmit it".

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§ 5 Juristische Entscheidung und rechtliche Relevanz

eher machen, daß überhaupt und daß interdependent" (nicht daß rational) „entschieden wird" nennt Luhmann „Verstärkermechanismen". 14 Er postuliert drei Mechanismen mit dieser Funktion: die Unterstellung von Entscheidungen, die Verstärkung der Wahrscheinlichkeit und das Reflexivwerden von Entscheidungen. Mit Hilfe des ersten Mechanismus kann ein Organisationssystem es offen lassen, ob und in welchem Umfang die Entscheidungen, auf die sich die jeweils anstehende Entscheidung bezieht, wirklich als Entscheidungen „(das heißt: als Auswahl aus Alternativen)" getroffen worden sind oder getroffen werden. Die operative Voraussetzung des weiteren Entscheidens sind nicht die wirklich getroffenen Entscheidungen, sondern eine „erfolgreich durchgesetzte Unterstellung mit einer dafür ausreichenden Deckung durch Realverhalten". Interdependentes Entscheiden wird dadurch möglich, daß eine Realität zum Teil hergestellt wird, die so aussieht, als ob alles vergangene oder künftige relevante Verhalten als explizite Wahl unter vorgestellten Alternativen stattgefunfen hätte bzw. stattfinden würde. Entscheidungsunterstellungen können weit in Zukunft und Vergangenheit ausgreifen und die Anschlüsse an das Verhalten anderer unter die Prämisse stellen, daß „auch diese entschieden haben bzw. entscheiden werden". Dies bedeutet keineswegs, daß Organisationen auf Fiktionen beruhen. Sie können sich nicht ganz und gar von der faktisch ablaufenden Realität abheben. Sie verschaffen sich aber die Möglichkeit Entscheidungen einem Entscheider zuzurechnen, selbst wenn dieser sein Verhalten nicht als eine psychisch fundierte Realität ansieht und ihm deswegen den Charakter der Entscheidung abspricht. Es handelt sich um eine Sinngebungsleistung, die als Entscheidung unterstellt wird. Eine besondere Form der Sinngebungsleistung ist auch der zweite Mechanismus: die Verstärkung von Wahrscheinlichkeiten. In einem komplexen sozialen Organisationssystem sieht man sich nicht nur genötigt Entscheidungen zu unterstellen, sondern auch Unsicheres als sicher zu behandeln. Die Entscheidungsfähigkeit wird erheblich erhöht, wenn die Entscheidung nicht abzuwarten braucht, bis ihren Prämissen Sicherheitswert zukommt. Sie gehen mit Unsicherheiten und bloßen Möglichkeiten so um, als ob sie Sicherheiten wären. Dies setzt allerdings Situationen voraus, die mit Risiken verbunden sind. Die Risiken strukturieren die Entscheidungssituation so, daß es ratsam erscheint nur Wahrscheinliches wie Sicheres zu behandeln. Entscheidungssituationen, die zunächst als bloß wahrscheinlich antezipiert werden, gewinnen an Orientierungswert, wenn sie als risikoreich erachtet werden. Wenn wahrscheinliche Entscheidungen natürliche, künstlich geschaffene, systemeigene oder gar umweltmäßige Risiken implizieren, können sie nicht mit dem Argument, sie seien nur gering wahrscheinlich, außer acht gelassen werden. Sie erheischen Beachtung und werden trotz geringer Wahrscheinlichkeit zu hochwahrscheinlichen Prämissen weiteren Vorentscheidens. Es muß mitgesehen werden, daß sich die Sicht auf den Wahrscheinlichkeitsgrad künftigen Entscheidens jedesmal auf der Basis einer variierenden Sensibilität für Risiken neu entwickelt. 14 Hierzu und zum folgenden: Luhmann (Fn. 10), S. 353, 382.

I. Interdependenz von Entscheidungen

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Die vom Entscheider aufgenommene Herausforderung, nur Wahrscheinliches wie Sicheres zu behandeln, findet ihre Grenzen in der Schwelle der Risikosensibilität. Diese kann erheblich erhöht oder sehr weit gesenkt werden und somit als Selektionsschema für hochwahrscheinliche Entscheidungsprämissen fungieren. Wenn aber unter Umständen Risiken kein Informationswert zukommt, wenn Informationen über Risiko-Identifikation mit Absicht zurückgehalten oder gefälscht werden, wenn Informationen nicht mehr den Strukturgebrauch aktualisieren, sondern nur noch als Falsifikate behandelt werden können, dann reicht die „risk supervision modality" nicht aus. Werden Risiken als Information zugänglich, so müssen sie sich als Unsicherheit behandeln lassen.15 Wenn mit Hilfe des dritten Mechanismus das Entscheiden reflexiv wird, wird eine zweite Ebene eingerichtet, auf die sich der Entscheider ständig zurückziehen kann, um eine Entscheidung darüber zu treffen, „ob man und wann man und welche Entscheidungen man entscheiden will". Dieses Auseinanderhalten der Ebene des Entscheidens über die anstehende Entscheidung von der Ebene der anstehenden Entscheidung selbst hat ebenfalls nur Sinn im Rahmen eines Entscheidungsnetzes. Nach Geiger steht dieses Netz nicht von vornherein fest. Das Vermeiden von Entscheidungen kann in komplexen sozialen Systemen zu Technik erhoben werden, die gelernt werden will. Man kann sich auf die Ebene des Entscheidens über Entscheidungen zurückziehen und entscheiden, ob es ratsam ist die Regeln der Technik des Nichtentscheidens von unnötigen Teilentscheidungen anzuwenden. Die Pluralität und die Relationierung von normativen Erwartungskalkülen bei Geiger thematisiert genau diese Reflexivität. 16 Auf diese Weise wird die Reflexivität des Entscheidens zum Korrelat der zeitbindenden Wirkung von Entscheidungen in Entscheidungszusammenhängen. Wenn man entscheidet, eine Entscheidung nicht zu entscheiden, bestimmt man das Schicksal aller anderen Entscheidungen, die sich von der Bindungswirkung der nicht getroffenen Entscheidung hätten abhängig machen können oder müssen. Die nicht getroffene Entscheidung wird später nicht in den Horizont historischer Erinnerungen hineinvermittelt werden können. Sie wird auch nicht als Fundus von Bedeutungen, als Zitat- und Anspielungsmöglichkeit, als Hintergrund für Variationen anderen Entscheidungen zugute kommen. Die Prozeßebene der Entscheidung über Entscheidungen stellt sich demnach auch als die Ebene dar, wo man über die Bindungswirkung von Entscheidungen nachdenkt und relevante Kettenwirkungen hervorhebt. 17 Nach Geiger entstehen Entscheidungsinterdependenzen nicht logisch, sondern kommunikativ aufgrund von normativen Erwartungs- und Durchsetzungskalkülen, die in der Kommunikation Entscheidungswert erhalten. Die Relationierung 15 Hierzu: William H. McWhinney, Organizational Form, Decision Modalities and the Environment, in: Human Relations 21 (1968), S. 269-281, 274 f. 16 Geiger, Vorstudien, S. 99, 211, 277 ff., 284 ff. 17 Luhmann (Fn. 10), S. 357, 383.

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von Entscheidungen wird immer ad hoc entschieden, und die Institutionalisierung von bewährten Interdependenzen hängt von Machtverhältnissen ab. Interdependenzen gelten als juristisch falsch, nicht weil sie der rechtswissenschaftlichen Vernunft nicht entsprechen, sondern weil sie sich im Rechtsleben nicht durchsetzen. 1 8 Die Radikalität Geigers liegt darin, daß er nicht von schon fertigen Entscheidungsnetzen ausgeht. Jede Entscheidung konstruiert ihre eigenen Interdependenzen und setzt sich künftigen normativen Erwartungskalkülen aus, die über ihre Bewährungschancen im Rechtsleben entscheiden. Schon beim ersten Zusehen kann man feststellen, daß Entscheidungen im Fall des Rechts hohe Relevanz als Systemelemente beanspruchen. Auch hier entscheiden Entscheidungen nicht nur über die Wahl aus Alternativen, sondern auch über die Entscheidungsprämissen anderer Entscheidungen. Auch juristische Entscheidungen müssen mit Entscheidungssuggestionen operieren und Wahrscheinliches wie Sicheres behandeln. Auch sie müssen die Möglichkeit haben, auf eine zweite Prozeßebene zurückzugreifen, wo sie gegebenenfalls entscheiden können, nicht oder noch nicht zu entscheiden. Auch im Kommunikationsnetz des Rechtssystems entfalten Entscheidungen eine ΒindungsWirkung hinsichtlich anderer Entscheidungen, indem sie ihre Selektionsmöglichkeiten beeinflussen und festlegen. Eine Aufgabe der Rechtstheorie könnte es sein, zu erforschen, wie die soziale Kommunikation es im Rechtssystem vermeidet, daß jede juristische Entscheidung mit allen anderen Entscheidungen verknüpft wird, daß alles nämlich von allem abhängt. Sie könnte untersuchen, unter welchen Bedingungen Interdependenzmöglichkeiten entstehen und eingeschränkt werden. Hierbei kann sie — ganz im Sinne Geigers — von den Darstellungs- und Selbstsimplifikationskonstrukten der Rechtswissenschaft Abstand nehmen und die Kommunikationsstrukturen des Rechts mit anderen Differenzschemata beobachten. Die Reduktionsstrategien, deren sich das Rechtssystem bedient, um die Regulierung von Interdependenz zu steuern und Entscheidungslasten zu verteilen, hat Luhmann, ohne Anspruch auf Vollständigkeit, in einigen wichtigen Hinsichten herausgearbeitet. Es handelt sich um die Beschränkung von Entscheidungszusammenhängen auf zentral vermittelte Interdependenzen, um die Umformung von symmetrischer in asymmetrische Beziehungen, um die Entlastungsfunktion von Pauschalabwägungen gegenüber Detailabwägungen von Entscheidungsnetzen und um das Einzelfalldenken. Im folgenden werden wir versuchen zu zeigen, daß es formale und informale Interdependenzen gibt, die zur Unterscheidung zwischen Herstellung und Darstellung von Entscheidungen führen. I I . Herstellung und Darstellung von Entscheidungen Die Verwaltung ist eine komplexe Organisation, die aus entscheidungstechnischen Gründen ein vereinfachtes Umweltmodell entwerfen muß. Ihre Umweltmodelle unterwirft sie zugleich einer laufenden Veränderung durch eine laufende ι» Geiger, Vorstudien, S. 252 f.

II. Herstellung und Darstellung von Entscheidungen

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implizite Adaptierung ihrer Entscheidungsprogramme. Letztere erfolgt zum Teil durch ein kybernetisches Rückkoppelungsverfahren. Die Grenzstellen der Organisation betreuen meistens einen engeren Umweltausschnitt, während das System es mit mehreren Umwelten zu tun hat. Als Sonderumwelten der Organisation wären zu nennen: ein Fachministerium, die Welt der Rechtsgelehrten oder ein Sachverständigengremium. Die Aufgabe der Grenzstellen ist in sich widerspruchsvoll. Einerseits hat die Grenzstelle die Rolle der Idealdarstellung des Systems nach außen im Sinne der offiziell akzeptierten Systemziele und der Behandlung der Umwelt nach festgelegten Entscheidungsprogrammen. Außerdem haben sie als „Antennen zur Warnung des Systems" zu dienen und Informationen über die anvisierten Umweltsegmente zu gewinnen. 19 Die Grenzstellen müssen in ihrem Versuch, die Umwelt für das System zu interpretieren, Initiativen ergreifen, Informationen sichten und die Verantwortung dafür tragen. Nützlich ist es hierbei, wenn das Mitglied in der Grenzstelle an den Fakten der Außenwelt nicht unbeteiligt ist, wenn es beispielsweise eine Rollenverflechtung in seiner Person realisiert; So etwa wenn das Unternehmensmitglied selbst die Lieferfirma ausgesucht und empfohlen hatte, mit der es nun als Grenzstelle zu verkehren hat. Solche Rollenverflechtungen mit der Außenwelt erleichtern zwar die Informationsgewinnung, können jedoch Illoyalitäten zu ihrer Erhaltung erfordern, die sich in der Organisation nicht sehen lassen dürfen. Interessant ist es, daß der Verkehr zwischen Systemen zu einem besonderen Zwischensystem wird. Dessen Erhaltung und dessen Strukturen erfordern dann besondere Handlungsbeiträge, die nicht in Einklang gebracht werden können mit dem, was in jedem der beteiligten Systeme an sich gilt. Die Grenzstelle wird somit Mitglied an mindestens zwei Systemen: am System der formalen Organisation auf der einen Seite und an den verschiedenen Zwischensystemen der Außenbeziehungen und Außenbegegnungen derselben auf der anderen Seite. 20 Das Beispiel der Grenzstelle zeigt, daß eine Organisationsrolle zu ihrer Durchführung die Übernahme von anderen Rollen in anderen Systemen fordert, unabhängig davon, ob das Organisationsmitglied sich dessen bewußt ist. Es handelt sich um Kleinstrollen, die in der formalen Mitgliedsrolle nicht vorgesehen werden können, und die trotzdem mit ihnen durch Verhaltensgeschick kombiniert werden müssen. Die Rollenverflechtung in Zwischensystemen eröffnet Möglichkeiten der zusätzlichen Information über Hintergründe und kann Probleme der Anpassung lösen, die das formale System nicht lösen könnte. Kontakte, die im Studium, beim Squash oder in Kriegsgefangenschaft geknüpft wurden, können in Zwischensystemen der Rollenverflechtung mit Umweltsegmenten reaktiviert und als Trumpf ausgespielt werden. Die formelle Organisation kann die Funktion der Grenzstellen fördern, indem sie „halbexterne Einrichtungen, Stellen, Ausschüsse, Gutachterbeziehungen" schafft, in denen ihre Mitglieder oder Nichtmitglieder, von normalen Mitgliedspflichten freigestellt, Umweltkontakte knüpfen sollen. 21 Auf diese Weise entstehen Zwischensy19 Luhmann (§ 1 Fn. 30), S. 220 ff., 224. 20 Ebd., S. 226 f. 10 Gromitsaris

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§ 5 Juristische Entscheidung und rechtliche Relevanz

steme, die einen zwar „geordneten, aber nicht formal verbindlichen Kontakt" mit den Sonderumwelten ermöglichen. Solche Kontaktsysteme lassen eine verbreitete Zwischenzone nicht voll verbindlichen Handelns entstehen, die sowohl von der beteiligten formalen Organisation als auch von den mit ihr kommunizierenden Systemen in ihrer Umwelt respektiert wird. Eine Vielzahl von Ausschüssen, Sachverständigenkommissionen und Auftragsgutachtern dienen der Ministerialbürokratie und der Verwaltung als Zwischenzone in diesem Sinne. Wie sich nun das Zwischensystem tatsächlich gestaltet, ist eine Machtfrage. Ob die Grenzstellen oder die halbexternen Einrichtungen ihren Systemstatus in den Verhandlungen im Zwischensystem als Trumpf benutzen können, hängt von der Prestigeund Machtstruktur dieses Systems ab. Es ist möglich, daß hoher interner Status einem niedrigen Status in Außenbeziehungen und Zwischensystemen entspricht. 22 Die Rollenverflechtung von Grenzstellen in Außenbeziehungen hat Rückwirkungen auf die hierarchischen Strukturen des formalen Systems. Die Vorgesetzten müssen sich damit abfinden, daß sich die Untergebenen genügend Autonomie für die Abwicklung ihrer Außenbeziehungen verschaffen. Spitze und Grenzkontakt werden voneinander getrennt. Die Machtposition der Grenzstellen in den Zwischensystemen stärkt ihre intraorganisatorische Position. Der Untergebene wird durch seine eigenen Außenkontakte vom Vorgesetzten verselbständigt. Er kann sich sogar unersetzbar machen: Wenn er geht, wird ein ganzes für die Organisation nützliches Beziehungsnetz kollabieren; seine persönlichen Beziehungen sind „Arbeitsmittel im notwendigen Privatbesitz". Sie können nicht in das Eigentum der Organisation übertragen werden. In diesem Sinne ist er unersetzbar. Er kann in seiner formalen Stellung, nicht aber in seiner Rolle im Zwischensystem ausgewechselt werden. Man denke an den Pressereferenten, der Einfluß auf die Presse gewonnen hat, oder an den Verwaltungsbeamten, der ein stabiles Kontaktnetz mit der von ihm betreuten Interessentenorganisation aufgebaut hat. Verwaltungen müssen Sorge dafür tragen, daß ihre Entscheidungen von der Umwelt abgenommen werden. Sie benötigen hierzu eine wirksame Selbstdarstellung für Nichtmitglieder. Die formale Organisation muß eine Schauseite bilden, die auf Idealisierungen beruht. Im externen Verkehr wird keineswegs das ganze System faktischen Verhaltens den Nichtmitgliedern zugänglich gemacht. Es wird vielmehr nur eine begrenzte, idealisierte Auswahl von Themen, Symbolen und Arbeitsabläufen sichtbar gemacht, die die Abnahmefähigkeit der Begründung förmlicher Entscheidungen unterstützt und erhöht. 23 Jede Verwaltungsentscheidung muß nach außen hin von Unzulänglichkeiten, Ungewißheiten befreit und in Richtung auf akzeptierbare Werte und anerkannte Prinzipien überhöht werden. Sie muß als allen Verständigen einleuchtend und mit ständiger Praxis übereinstimmend dargestellt werden. Sie gibt sich als sachlich, alle Interessen ausgleichend, 21 Ebd., S. 229. 22 Hierzu und zum folgenden Luhmann, ebd., S. 235, 237 f. 23 Ebd., S. 108 ff., 112 ff.

Π. Herstellung und Darstellung von Entscheidungen

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als fallgerecht und juristisch richtig. Falsche Ansätze und informale Kommunikation gelangen nicht in die Akten. Der genetische Aspekt der Entscheidungsfindung wird unterdrückt und gelangt nicht in die Öffentlichkeit. Man weiß auch nicht so recht, ob er das Tageslicht vertragen würde. Interne Meinungsverschiedenheiten bleiben den Zuschauern vorenthalten. Die Formulierung der Entscheidung selbst tritt in den Dienst der Sortierung des Darstellbaren und des Unsichtbaren. Eine Entscheidung kann individuell stilisiert werden, um ihre Routiniertheit zu verbergen, oder umgekehrt, sie kann ihre Zugehörigkeit zur Normalität der Mehrheit der Fälle bekunden, um die Individualität der Fälle zu eliminieren. Dies führt dazu, daß man in der Verwaltung ebenso wie in jeder Organisation doppelgleisig operieren muß. Allem Geschehen haftet ein Doppelaspekt an: die organisatorische Innenansicht auf der einen und die Nöte der Außendarstellung auf der anderen Seite. Der Verwaltungsalltag besteht demzufolge aus einem ständigen Umschalten von darstellbaren in nicht darstellbare und wieder zurück in darstellbare Entscheidungssituationen und Situationsauffassungen. Nicht alles, was organisationsinterne Relevanz hat, hat auch externe Relevanz. Die offizielle Außendarstellung stützt sich vor allem auf den Zusammenhang von Formalität und Darstellungsfähigkeit. Dies heißt, daß das Außenbild durch Erwartungen bestimmt ist, denen man als Mitglied der Verwaltung nicht widersprechen kann, ohne seiner Mitgliedsrolle zu widersprechen. Demzufolge kann die Verwaltung so präsentiert werden, als ob sie ihren akzeptierbaren, bewährten und offiziellen Zwecken untergeordnet sei. Sie erscheint in Handlungen, die um des offiziellen Zweckes willen durchgeführt werden, und in Entscheidungen, die gesetzlich programmiert sind. Man kann sogar die Formulierung wagen, daß der Arbeitsablauf der Verwaltung zwar als Idealbild, nicht aber in seinem Herstellungsprozeß juristisch normiert werden kann. Nicht alle Selektionsleistungen, die die Verwaltung entscheidungsfähig machen, können juristisch formalisiert werden. Der genetische Prozeß der Entscheidungsfindung scheint juristisch nicht normierbar zu sein. Man kann mit einer Theorie der juristischen Argumentation das Problem nicht einmal angemessen stellen. Es ist daher ratsam, zwischen Entscheidungsherstellung und Entscheidungsdarstellung zu unterscheiden. Eine Theorie der juristischen Argumentation kann den Prozeß der Entscheidungsherstellung nicht wiedergeben und nicht strukturieren. Sie kann sich nur mit der Frage der Darstellungsfähigkeit, der juristischen Rechtfertigung der wie auch immer gefundenen Entscheidung befassen.24 Die Trennung von Herstellung und Darstellung ist notwendig und realistisch. Nur die Kontrolle, nicht aber die Entstehung der Entscheidung ist juridifizierbar. Das hat Geiger am Beispiel des,»klassischen Begriffsmodells der Subsumtion" deutlich nachgewiesen. Subsumtionsmodell und „wirklicher Vorgang" werden auseinandergehalten. Das Modell wird berufsideologisch überbaut, die ,»rückwirkende Kraft" der Normen verdeckt. 25 Die Tatsache, daß die juristische 24

10*

Ulfried

Neumann, Juristische Argumentationslehre, S. 3 ff.

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§ 5 Juristische Entscheidung und rechtliche Relevanz

Rechtfertigung der Entscheidung mit den praktischen Entscheidungsmotiven nicht übereinstimmt, ist meistens nicht darstellungsfähig, weil sie sich für die Entscheidung tendentiell disqualifizierend auswirkt. So kommt es zu Scheinbegründungen und juristischen Argumentationen, in denen die wirklichen Abläufe der Entscheidungsfindung nicht zum Ausdruck kommen. Man kann hier die wissenschaftliche Redlichkeit, die Akzeptierbarkeit oder sogar die Rationalität der juristischen Argumentation bemühen, um diese Disjunktion zwischen Sein und Schein anzuprangern. Man kann für Wahrheit plädieren und das Sein gegen den Schein in Schutz nehmen wollen. Jedenfalls kann es nicht darum gehen, daß die Verwaltung alle Faktoren offenbart, die die Entscheidungsfindung gestaltet haben mögen. Jede formalisierte Aufdeckungspflicht würde unausweichlich weiteres informales Verhalten nach sich ziehen. Zum anderen darf die Forderung nach Methodenehrlichkeit nicht als Verzicht auf eine am Gesetz orientierte Argumentation verstanden werden. Deduktionen aus dem Gesetz scheinen juristisch auch dann unentbehrlich zu sein, wenn es sich um offenbare Scheindeduktionen handelt. Die Informationsgewinnung und Informationsverarbeitung bei der Entscheidungsfindung bestehen nicht im „Hin- und Herwandern des Blickes" zwischen Tatsbestandsmerkmalen und vorliegendem Sachverhalt — wie Engisch meinte — sie können aber als ein solcher Subsumtionsvorgang dargestellt werden. Die juristische Normierung der Entscheidungsdarstellung schärft die Berücksichtigung von bestimmten Orientierungspunkten ein. Es muß auf der Basis einer formalen Zielstruktur teleologisch argumentiert werden. Man muß sich auf die formalen gesetzlichen Ziele beziehen, die ausdrücklich in besonderen Zweckoder Grundsatzbestimmungen ausgeführt und den gesetzlichen Einzelregelungen vorangestellt sind. Wo ausdrückliche Zielbestimmungen fehlen, muß die Auslegung diese den tatbestandlichen Voraussetzungen gesetzlicher Handlungsermächtigungen entnehmen. Die Entscheidung muß sich als Resultat der Ausübung eines juristisch akzeptierbaren Verwaltungsermessens darstellen. Neben den durch Interpretation gewonnenen gesetzlichen Zielen sollen auch Verfassungsprinzipien die Festlegung der Gesetzesbegriffe und den Ablauf des Entscheidungsprozesses lenken. Die Entscheidungsformen müssen an Verfassungsgrundsätzen ausgerichtet sein. Die Verfassung muß als höchstrangige normative Aussage über die Grundprinzipien der freiheitlichen demokratischen Grundordnung berücksichtigt werden. Die Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit, Demokratie und Sozialstaatlichkeit müssen sich konkret als maßgebend für Entscheidungsverfahren und Entscheidungsformen zeigen können. Zur Rechtsstaatlichkeit gehört vor allem die Rechtsgebundenheit des Verwaltungshandelns. Die Rechtsgebundenheit ist einerseits als Gesetzmäßigkeit und andererseits als Rechtssicherheit zu verstehen. Unter der Bezeichnung „Gesetzmäßigkeitsprinzip" werden Grundsätze zusammengestellt, die die Ziel-Mittel-Rationalität des Entscheidungsverhaltens bestimmen sollen. Dazu gehören der Begründungszwang, der Gesetzesvorrang, 25 Geiger, Vorstudien, S. 250, 267 ff.

II. Herstellung und Darstellung von Entscheidungen

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das Willkürverbot. Der Grundsatz der Rechtssicherheit verlangt Berechenbarkeit und Verläßlichkeit des Verwaltungshandelns. Der Entscheidungsprozeß muß berechenbar und das Entscheidungsergebnis muß einerseits verbindlich, andererseits nur unter bestimmten Voraussetzungen veränderbar sein. Auf diesem Grundsatz der Rechtssicherheit im Sinne von Verläßlichkeit ist die Einführung von Formvorschriften und Verfahrensregeln zurückzuführen. Ein weiterer Grundsatz, der die idealisierende Außendarstellung der Verwaltung kennzeichnet, ist der der Gewaltenteilung und Gewaltenkontrolle. Die Staatsgewalt fertigt eine besondere Selbstbeschreibung an: Sie wird in die Tätigkeitsbereiche Gesetzgebung, Vollziehung und Rechtsprechung unterteilt und jeweils besonderen Organen zur Wahrnehmung übertragen. Zweck dieser Unterteilung soll die Gewährleistung gegenseitiger Machthemmung und Kontrolle staatlicher Instanzen sein. Neben diesem traditionellen Gesichtspunkt des Gewaltenteilungsprinzips ist noch die Eigenverantwortlichkeit der drei Gewalten bei der Wahrnehmung ihrer Aufgaben zu erwähnen. Eigenverantwortlichkeit bedeutet, daß die jeweilige Gewalt das Recht hat, im Rahmen der Gesetze über die organisationsmäßige Abwicklung ihrer Aufgabe zu entscheiden.26 Unter dem Gesichtspunkt der Eigenverantwortlichkeit der Aufgabenwahrnehmung könnte man die Existenz der informalen Handlungsebene des Verwaltungshandelns positiv bewerten. Die geschickte Kombination rechtlicher Entscheidung und faktischer Verhaltensabstimmung macht einen Großteil der eigenverantwortlichen Verwaltungskunst aus. Die Konflikte zwischen den übrigen verfassungsrechtlichen Grundsätzen der Außendarstellung und den faktischen Strukturen der Entscheidungsherstellung sind jedoch unvermeidlich. Informales Verwaltungshandeln — vor allem das Verhandlungs- und Tauschprinzip — sprengt den vorgegebenen gesetzlichen Rahmen. Dieser Konflikt zwischen Gesetzmäßigkeit und Tauschprinzip ist vom öffentlich-rechtlichen Vertrag her wohlbekannt und hat zu dogmatischen Regeln geführt, die die Verwirklichung gesetzlicher Ziele unter Beschränkung auf zulässige Mittel sicherstellen sollten. Faktische Verhaltensabstimmungen zwischen Verwaltungsbehörden und Industriebetrieben beruhen jedoch auf oft gesetzesverletzenden Tauschbeziehungen, die geräuschlos den Raum außergesetzlichen Interessenausgleiches erweitern, ohne den Gerichten oder der Öffentlichkeit bekannt zu werden. Im Rahmen informaler Arrangements findet darüber hinaus ein Verstoß gegen den grundrechtlich verankerten Gleichheitsgrundsatz statt. Dies betrifft die Frage der Regulierung des Zugangs zur informalen Handlungsebene. Informationsvorsprung, Wirtschaftspotential und politischer Einfluß sind dafür maßgebend, ob wichtige Angelegenheiten außerhalb des Dienstweges geklärt werden. Verhandlungsschwache Akteure werden sich hingegen bei ihrem Versuch, ihr Anliegen auf informalem Wege zu klären, mit dem Rat zufriedengeben müssen, erst mal einen Antrag zu stellen, Dienstweg und Dienstzeiten einzuhalten und gegebenenfalls Rechtsmittel einzulegen. Dies macht deutlich, daß eine Verlagerung der Entscheidungsprozesse aus dem formell geregelten Verfahren auf die informale 26 Eberhard Bohne, Der informale Rechtsstaat, Berlin 1981, S. 199 ff., 208 f.

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§ 5 Juristische Entscheidung und rechtliche Relevanz

Handlungsebene stattfindet. Letztere kann nur durch sehr ungleich verteilte Handlungsmöglichkeiten zugänglich gemacht werden. 27 Diese Entscheidungsverlagerung wird für eine Minderung der Transparenz, Verstehbarkeit und Offenheit staatlichen Handelns verantwortlich gemacht. Doppelbödigkeit des Entscheidungsverfahrens und ungleicher Zugang zur informalen Ebene bewirken beim Bürger das Gefühl der Rechtsunsicherheit, der Unkontrollierbarkeit und der Rechtsschutzverkürzung. Auf der Ebene informaler Verfahrenshandlungen hängen die Handlungsmuster und die gegenseitigen Kontrollmöglichkeiten vom konkreten Machtgefüge ab. Faktische Verhaltensabstimmungen begründen keine gegenseitigen Rechte und Pflichten. Ausschluß von den informalen Verhandlungen bedeutet das Hineingeraten in einen Informationsrückstand. Zudem bringt die Formlosigkeit des Vorgehens Beweisnot mit sich. Der informal ausgeschlossene Dritte kann demzufolge keine große Aussicht auf Erfolg haben, wenn er sich doch dazu entschließt, das rechtlich formalisierte Spiel zu spielen und Klage zu erheben. I I I . Systemtheoretische und entscheidungstheoretische Problemkonzeptionen Der tragende Gedanke für die Erklärung des Handelns des Verwaltungssystems ist der Problembegriff. Das Verwaltungssystem kann nur im Rahmen eines realen Kommunikationssystems handeln, das sich durch Orientierung an Problemen und Problemlösungen, d. h. durch Orientierung an Funktionen strukturiert. Die Gestaltung der Wirklichkeit durch die Gesetze beruht nicht allein auf den Handlungen oder Unterlassungen der für den Vollzug gesetzlich zuständigen staatlichen Behörden. Sie erfolgt vielmehr in den und durch die Interaktionen einer Vielzahl von Akteuren. Der Gesetzesvollzug ist keine Abfolge einseitiger Entscheidungsakte einer staatlichen Behörde. Es entstehen Interaktionsbeziehungen zwischen Verwaltungsbehörden, privaten Unternehmen, mit Steuerungs- und Kontrollaufgaben betrauten Aufsichtsbehörden und drittbetroffenen nichtstaatlichen Stellen. Dieses Beziehungsgefüge kann nur stattfinden, wenn ein soziales Kommunikationssystem zustandekommt, das sich durch Orientierung an bestimmten Problemerfahrungen und Problemspezifikationen strukturiert. Forschungsgegenstand soll demnach im folgenden nicht eine rechtsanwendende Instanz, sondern ein System sozialer Kommunikation in seiner funktionalen problemgebundenen Rationalität sein. Untersuchungseinheit ist nicht die Tätigkeit einer Verwaltungsbehörde, sondern ein System, das aus den Selektionsleistungen verschiedener staatlicher und nichtstaatlicher Akteure besteht. Die systemtheoretische Betrachtungsweise wird es uns ermöglichen, die eigentümliche Querlage des Systems zu klassischen Kontroversen zu verstehen. Es handelt sich um Begriffspaare wie rechtsverbindliche Formalität versus unverbindliche Informalität, rechtswidriges versus gesetzlich programmiertes Entscheiden, Rechtssi27 Ebd., S. 227, 229 f.

III. System- und entscheidungstheoretische Problemkonzeptionen

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cherheit versus Rechtsunsicherheit, Gewaltenteilung und Gewaltenkontrolle versus unkontrollierbare Ermessensfreiheit, Gesetzmäßigkeit versus Willkür; mit anderen Worten geht es um das Spannungsverhältnis zwischen Rechtsstaatlichkeit und Rechtswirklichkeit. Solche Kontrastierungen verlieren im Rahmen der Systembildung und ihrer problemgebundenen Funktionalität ihren heuristischen Wert. Grundlage der Systembildung ist nicht ein anzuwendender Gesetzestext, sondern eine Problemkonstellation. Alle Selektionsleistungen, die zur Problemdefinition, Problemverkleinerung und Problemlösung beitragen, sind funktional äquivalent und sind systemrelevant. Die Frage danach, was zum System und was zur Umwelt gehört, wird durch die Operation des Systems selbst beantwortet. Da es sich um ein soziales System handelt, können nur soziale Kommunikationen als Systemoperationen angesehen werden. Es wäre nicht richtig anzunehmen, daß die Verwaltung mit ihrer Umwelt kommuniziere und in Kooperation mit anderen staatlichen und nichtstaatlichen Akteuren die Gesetze vollziehe. Die Kommunikation ist immer eine Operation des sozialen Systems selber. Sie kann nicht das System mit seiner Umwelt verbinden. Sicherlich kann die Verwaltung mit anderen sozialen Systemen, etwa mit anderen Organisationen und mit verschiedenen Berufsrollen oder mit Bürgern kommunizieren. Dies ist aber notwendigerweise Kommunikation innerhalb eines umfassenderen Sozialsystems oder letztlich innerhalb der Gesellschaft. Das Verwaltungssystem kann sich selbst durch eigene Operationen mit seiner Umwelt nicht verknüpfen. 28 Das Zusammenspiel von Vollzugsbehörden und nichtstaatlichen Akteuren stellt keine Verbindung des Verwaltungssystems mit seiner Umwelt durch Prozesse dar, die dann zwangsläufig streckenweise verwaltungsinterne und streckenweise verwaltungsexterne Prozesse sein müssen. Die Interaktionsbeziehungen zwischen Verwaltungsbehörden und anderen Akteuren sind nur durch Bildung eines Sozialsystems möglich, das seine eigene Struktur, seine eigene Autopoiesis und seine eigene systemrelevante Umwelt hat. Da Kommunikation die eigentümliche Operation von sozialen Systemen ist, kann es keine Kommunikation sozialer Systeme mit nichtsozialen Systemen geben; es gibt demnach auch keine Kommunikation zwischen Verwaltungssystemen und Bürger oder Verwaltungspersonal. Wenn man die Sachverhalte von sehr hoher Komplexität begreifen will, die die Systembildung bei der gesetzesanwendenden Verwaltungstätigkeit charakterisieren, sieht man sich genötigt, vom Gegensatz zwischen Systemtheorien und Entscheidungstheorien auszugehen. Die Komplexität läßt sich durch eine einzige Theorie nicht erfassen. 29 Die Differenzierung von Systemtheorien und Entscheidungstheorien beruht auf einer unterschiedlichen Problemkonzeption. Systemtheorien konstituieren sich „unter weiteren Prämissen" als Entscheidungstheorien, weil sie sich nicht um die Entwicklung von eindeutigen Kriterien richtiger Lösung 28 Niklas Luhmann, Autopoiesis als soziologischer Begriff, in: Hans Haferkamp/ Michael Schmid (Hrsg.), Sinn, Kommunikation und soziale Differenzierung. Beiträge zu Luhmanns Theorie sozialer Systeme, Frankfurt/M. 1987, S. 307-324, 313 ff. 29 Luhmann (§ 1 Fn. 19), S. 196 f.

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bemühen. Sie befassen sich mit der Festlegung von Grenzen struktureller Vergleichbarkeit und Kompatibilität. Sie können somit widersprüchliche, sich gegenseitig ausschließende Strukturen sowie Phänomene des Konflikts und des Wandels in ihr Untersuchungsfeld einbeziehen. Entscheidungstheorien sind hingegen darauf angewiesen, engere Prämissen unter Ausschluß anderer vergleichbarer Möglichkeiten annehmen zu müssen, um auf die zu bevorzugenden oder einzig richtigen Problemlösungen hinweisen zu können. Die unterschiedliche Problemkonzeption von Systemtheorien und Entscheidungstheorien läßt sich wie folgt beschreiben 30: Systemprobleme gehen auf das Komplexitätsgefälle zwischen System und Umwelt zurück. Sie sind mit dem Bestand von Systemen in einer komplexen Umwelt gegeben und die Systembildung orientiert sich an ihnen. Soll das System in seiner Umwelt erhalten bleiben, so müssen die systemgebundenen Probleme im System bewältigt werden. Dies bedeutet nicht, daß die Probleme gelöst werden und das System nach ihrer Lösung „problemlos fortexistiert". Die Probleme werden „durch Primärlösungen abgeschwächt, in Folgeprobleme differenziert und schließlich in konkret tragbare Verhaltenslasten verkleinert". Entscheidungsprobleme sind hingegen lösbar. Sie werden durch das Finden der richtigen Entscheidung beseitigt. Das Entscheidungsproblem existiert lediglich als ein Problem der mangelnden Kenntnis der richtigen Lösung. Entscheidungsprobleme werden durch das Finden einzig richtiger oder bloß brauchbarer Lösungen beseitigt. Die juristische Dogmatik befaßt sich mit Entscheidungsproblemen. Sie kann also sich selbst als eine Entscheidungswissenschaft begreifen. Mit Entscheidungsproblemen befaßt sich jedoch nicht nur die Rechtsdogmatik. Entscheidungen sind Entscheidungen über Probleme. Sie stellen Problemlösungen innerhalb eines faktisch existierenden Kommunikationssystems dar, das sich durch die Problemorientierung strukturiert. Das System stellt die Begrenzung sinnvoller Problemstellung dar und eine Palette verfügbarer Lösungsmöglichkeiten bereit. Mit Systemen ist also hier eine Ordnung des faktischen Handelns, der sozialen Wirklichkeit, der Lebenswelt gemeint. Es handelt sich nicht um eine Ordnung von Sätzen über die Wirklichkeit, um ein analytisches System, sondern um eine Ordnung des Objektbereichs selbst, um ein konkretes realiter existierendes System sozialer Kommunikation. Problemerfahrung und Problemlösung sind demnach nicht nur als Entscheidungstheorie und Systemtheorie möglich. Problemstellung und Problemlösungsalternativen sind in der Form von Handlungszusammenhängen ermöglichte problemorientierte Systembildung. Das Zusammenspiel von Verwaltungsträgern und staatlichen und nichtstaatlichen Akteuren ist ein problemorientiertes Kommunikationssystem, das sich durch die Orientierung sowohl an Systemproblemen als auch Entscheidungsproblemen strukturiert. Beide Problemtypen sind keine analytischen Kategorien, sondern Kontingenzerfahrung und Kontingenzbewältigung im Handlungszusammenhang. Ebd., S. 29 f.

III. System- und entscheidungstheoretische Problemkonzeptionen

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Im System haben wir es sowohl mit einer systemtheoretischen als auch mit einer entscheidungstheoretischen Problembehandlung zu tun. Die funktionale Methode ist kein Privileg des soziologischen Beobachters, sie wird im System auf die Systemprobleme angewandt. Jedes Systemproblem gibt dem System Anlaß dazu, Felder funktional äquivalenter problemlösender Selektionsleistungen zu eröffnen. Das System besteht nicht nur aus Entscheidungsproblemen. Sein Problem ist nicht, von einer sozial wissenschaftlichen funktionalen Analyse Entscheidungshilfe zu bekommen, um Entscheidungsprobleme zu lösen. Wenn man die Variierbarkeit der Systemreferenz bedenkt, muß man sagen, daß die Suche nach Alternativen den Zugang zu jeweils anderen Sachverhalten erschließt, je nachdem, wer wo was sucht. Funktionale Äquivalente sind nur eindeutig, wenn mit angegeben wird, auf welches System sie sich beziehen.31 Dies ist für die Auffassung latenter Beziehungen neben den manifesten Problemlösungsalternativen, die zum Orientierungshorizont des Systemhandelns gehören, von großer Bedeutung. Hinzu kommt, daß die problemorientierte Suche nach vergleichbaren Alternativen nicht nur funktionale, problemverkleinernde, sondern auch dysfunktionale, den Systembestand gefährdende Folgeprobleme ins Auge faßt. Analysierende Sozialwissenschaft ebenso wie konkretes Kommunikationssystem oder — allgemeiner — beobachtendes ebenso wie beobachtetes System haben die Möglichkeit, anhand der Differenzen manifest / latent und funktional / dysfunktional zu operieren. Feststellungen über manifeste oder latente Beziehungen und Dysfunktionen können nur systemrelativ getroffen werden. Sie verschieben sich mit jeder Änderung der Systemreferenz. Problemorientierte funktional äquivalente Leistungen können zwar das beobachtete System gestalten. Gleichwohl können sie als systemnotwendige Latenz die Funktion erfüllen, eigene Funktionen latent zu halten. Sie sind Leistungen und Beziehungen, die der im System Handelnde in sein Handlungsbewußtsein nicht aufnehmen kann, ohne seine Motivierbarkeit zu verlieren oder sich in Widersprüche zu verwickeln oder sein Potential für Aufmerksamkeit zu überfordern. Das beobachtende System kann genau dies beobachten. Es riskiert dadurch nichts. Umgekehrt ist es möglich, daß Selektionsleistungen in beobachteten Systemen dem beobachtenden System verborgen bleiben, weil sie durch sein Beobachtungsschema nicht erfaßt werden können. Wir untersuchen hier nicht die funktionale Analyse als sozialwissenschaftliche Methode, die jede Gegebenheit in Frage stellen und jede Stuktur eines jeden beliebigen Systems problematisieren kann. Im vorliegenden Zusammenhang interessiert uns die systemproblemorientierte praktische Handhabung dieser heuristischen Methode im sozialen System des faktischen Handelns selbst. In Systemen faktischen Handelns nimmt diese praktische Handhabung die Form von Strukturbildung an. Das System strukturiert sich selbst, indem es Problemstellungen festlegt und Möglichkeitsbereiche von vergleichbaren Problemlösungen eröffnet und eingrenzt. Die systemspezifische Einschränkung von Möglichkeiten der Pro3i Ebd., S. 280 ff.

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§ 5 Juristische Entscheidung und rechtliche Relevanz

blemlösung hemmt das Problematisieren des Gegebenen. Das System muß sich durch Strukturbildung gegenüber einer Umwelt anderer Handlungsmöglichkeiten abgrenzen. In konkreten sozialen Systemen hat die Suche nach Alternativen ihre systemeigenen, strukturellen Grenzen. Strukturen bewirken zugleich eine Erhöhung und eine Reduktion von Komplexität. Einerseits erweitern sie das Problemfeld, indem sie nicht auf eine einzig richtige Lösung hinweisen, sondern Bereiche von funktional äquivalenten Möglichkeiten eröffnen. Andererseits beschränken sie die Fälle der möglichen vergleichbaren Problemlösungen und Variationen auf bestimmbare systemspezifische Konturen, die das System gegenüber seiner Umwelt abgrenzen. Die Lösungsbeiträge, die für ein Systemproblem funktional sind, bringen ihrerseits „manifeste und latente Dysfunktionen eigener Art mit sich, die dann als Folgeprobleme akut werden und ihrerseits gelöst werden müssen".32 Das ist ein seit Malinowski und Schelsky bekannter Sachverhalt. Die Lösung von Grundproblemen zieht Folgeprobleme nach sich, die durch Strukturbildung sekundärer Art gelöst werden und ihrerseits tertiäre Folgeprobleme aufwerfen. Problemzusammenhänge entstehen somit gleichsam als Stufenordnungen. Systemprobleme dritten, vierten oder fünften Grades verdanken ihre Existenz den eingespielten, strukturbedingten Lösungsmöglichkeiten von jeweils übergeordneten Systemproblemen. 33 Auf diese Weise stellt man fest, daß sich alle Systempraxis mit Folgeproblemen ihrer Systemstrukturen beschäftigt. Das System befaßt sich mit Folgeproblemen von Folgeproblemen seiner Strukturentscheidungen und stabilisiert sich durch Zerlegung dieser abgeleiteten Probleme in mehr oder minder erträgliche Verhaltenslasten, mit denen sich das tägliche Leben konfrontiert sieht. Als Ergebnis der obigen Gedankengänge kann man festhalten, daß die Behandlung von Systemproblemen in Systemen faktischen Handelns zum Vergleichen von verschiedenen strukturabhängigen Problemlösungen führt. Primäre Kontingenz und Problemerfahrung führen zu strukturell bedingten Systemproblemen, Problemlösungen, Folgeproblemen und deren Lösungen. Diesem Umstand trägt auch die Systembildung bei der Entfaltung der gesetzesanwendenden Verwaltungstätigkeit Rechnung. Die Probleme, die im Gesetzestext zum Vorschein kommen, sind sehr oft nicht die Probleme, an denen sich die Strukturbildung im System des faktischen Verwaltungshandelns orientiert. Den Bezugspunkt der Interaktionen bildet weder ein einzelnes Gesetz noch eine einzelne Institution oder Behörde. Das Problembewußtsein und die Problemorientierung gehen über die durch das Gesetz erfaßten Probleme hinaus. Konstitutiv für das konkrete System faktischen gesetzesanwendenden Handelns ist nicht die in Gesetzesform ergangene Entscheidung, bestimmte, meist allgemein und diffus formalisierte Ziele zu verwirklichen. Neben den formalen gesetzlich verankerten Zielen gibt es noch andere Ziele, die mit Problemen dritten, vierten oder fünften Grades zusammenhängen und das tatsächliche Verhalten der Systemakteure be32 Ebd., S. 287. 33 Ebd., S. 199, 287 f.

III. System- und entscheidungstheoretische Problemkonzeptionen

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stimmen. So sind die systemstrukturabhängigen Grundprobleme, die die Funktionsfähigkeit des gesetzesanwendenden Handlungssystems betreffen, nicht etwa die gesetzlich formulierten Ziele, sondern die Informationsunsicherheit, die Ressourcenknappheit, die zahlreichen Konflikte zwischen den verschiedenen Akteuren und die Umweltveränderungen. Die formalen Zielvorgaben, die in den Gesetzen zu finden sind, stellen in der Regel Rahmenanweisungen dar, innerhalb deren die Akteure ihre konkreten Handlungsziele selbst bestimmen müssen. Zwischen den formalen Zielen und den partikularen Zielen einzelner Akteure, die auf divergierende Interessenrichtungen zurückgehen, bestehen Konflikte. Es geht um systeminterne Konflikte zwischen den Systemmitgliedern, deren Umfang und Intensität ein bestimmtes Niveau nicht überschreiten dürfen. Das System muß daher über Mechanismen verfügen, um die Konflikte zu kanalisieren und Interessenausgleiche zu ermöglichen. Diese Integrationsleistung kann durch juristisch geregelte oder durch nichtjuristische Vorgehensweisen erbracht werden. Die juristischen Möglichkeiten der Konfliktlösungen liegen ζ. B. in den vorgesehenen subjektiven Rechten im Rahmen des Verwaltungsverfahrens, in den Regelungen des Verwaltungsakts und des öffentlich-rechtlichen Vertrags, in der Einrichtung des Widerspruchsverfahrens und schließlich auch in der Möglichkeit der verwaltungsgerichtlichen Klage. Der juristisch programmierte Konfliktlösungsmechanismus ist allerdings nur bedingt geeignet, den Zusammenhalt des Kommunikationssystems sicherzustellen. Die partikularen Ziele der Systemmitglieder finden überhaupt keine oder nur in geringem Umfang formaljuristische Anerkennung. Juristische Entscheidungen dürfen nicht von Zielen abhängig gemacht werden, die in die gesetzlichen Vorgaben nicht hineininterpretierbar sind. Auch die Berücksichtigung von gesetzesfremden Sonderinteressen ist im Rahmen juristischer Entscheidungen grundsätzlich nicht zulässig. Lediglich gesetzliche Ermessensermächtigungen und rechtsdogmatische Begriffsnetze bieten die Möglichkeit, in beschränktem Umfang Sonderinteressen juristisch zu berücksichtigen. Hinzu kommt, daß juristische Entscheidungen den Konflikt auf ein klares EntwederOder bringen müssen. Wenn die eine Partei im Recht ist, muß die andere Partei im Unrecht sein, was die Möglichkeit der Niederlage und das Risiko impliziert, daß man ohne Aufgabe von Rechtspositionen nicht davonkommen kann. Demgegenüber erlauben nichtjuristische Vorgehensweisen wie Vorverhandlungen oder Absprachen die Berücksichtigung von gesetzesfremden Sonderinteressen, ohne daß die gesetzlich formalisierten Ziele juristisch in Frage gestellt werden. Auf diese Weise wird eine „Intermutation der Rollen" möglich. 34 Als Jurist kann man die Priorität des Umweltschutzes bejahen. Gleichwohl kann man im Rahmen von Vorverhandlungen informal Wirtschaftsinteressen fördern. Diese doppelte institutionell bedingte Moral verhilft dem System zur Konfliktlösung und verleiht ihm Flexibilität. Die juristische Unverbindlichkeit informalen Handelns erlaubt Kompromisse, die nicht zur Aufgabe von Rechtsstandpunkten zwingen. 34 Geiger, Vorstudien, S. 73 f.

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§ 5 Juristische Entscheidung und rechtliche Relevanz

Im sozialen Kommunikationssystem geht die strukturbedingte Suche nach äquivalenten Problemlösungen über die gesetzliche und rechtsdogmatisch-juristische Handlungsprogrammierung hinaus. „Tatjuristen" sind sich dieser Tatsache bewußt. „Erkenntnisjuristen" tun sich damit schwer. 35 Was das Problem der Umweltanpassung angeht, sind die juristischen Formalisierungen ebenso nur beschränkt imstande, Komplexität und Veränderlichkeit zu absorbieren. Unbestimmte Rechtsbegriffe, Ermessensermächtigungen und die klausula rebus sie standibus bei Verträgen können dem System keine hinreichende Flexibilität verleihen. Das System erhöht seine Reaktionsfähigkeit auf die hohe relevante Umweltkomplexität durch das Bereithalten von informalen, nichtjuristischen Verhaltensmustern, welche Ansatzpunkte zur Einführung von Neuerungen bieten. Diese Neuerungen würden im Rahmen formell juristisch programmierten Handelns an juristischen Hindernissen scheitern. Wenn sich das informale innovative Entscheiden einmal als erfolgreich erwiesen hat, können auch die formalen juristisch bestimmten Strukturen unter Berufung auf die schon bewährte Praxis entsprechend angepaßt werden. Das dritte wichtige Folgeproblem, mit dem sich die Systempraxis konfrontiert sieht, ist der Ressourcenmangel und die informationsabhängige Unsicherheit. Ohne ausreichende personelle, sachliche und finanzielle Ressourcen und ohne Informationen über die Umwelt lassen sich die Systemkommunikationen auf die Dauer nicht aufrechterhalten. Nichtjuristische Vorgehensweisen scheinen ihre Rechtfertigung darin zu finden, daß sich auf informalem Wege Entscheidungen vielfach mit weniger Aufwand herbeiführen lassen als dies im Rahmen ausschließlich juristisch vorbedingten Handelns der Fall ist. Durch informales Handeln im Immissionsschutz wird der Aufwand für Vorbescheids· und Widerspruchsverfahren sowie für Polizeiverfügungen und Verträge vermieden und Umwelterwartungen erwartbar gemacht.36 Nichtjuristische Vorgehensweisen lassen sich somit zum Teil als Versuch verstehen, mit den Problemen der Ressourcenknappheit fertig zu werden. Allerdings sind informale Verhaltensmöglichkeiten nicht ausnahmslos ressourcensparender als juristisch konditional programmierte Handlungen. Routine darf man nicht unterschätzen. In stark routinisierten Bereichen stellt die strikte Einhaltung der konditionalen Entscheidungsprogramme eine enorme Arbeitserleichterung dar. In diesem Fall bewältigt die formalisierte Routine den Massenverkehr weniger aufwendig als die am Einzelfall orientierten nichtjuristischen Verhaltensmuster. Die spezifische Funktionalität des juristisch bezogenen Handelns in einem sozialen System müßte man im engen Zusammenhang mit der Entstehung von systemspezifischen Mechanismen der Lösung von Primär- und Folgeproblemen sehen. Die juristisch vorgegebenen Handlungsmöglichkeiten sind in dieser Perspektive ein Problemlösungsmechanismus besonderer Art, der mit anderen nicht 35 Vgl. Franz Wieacker, Gesetz und Richterkunst. Zum Problem der außergesetzlichen Rechtsordnung, Karlsruhe 1958. 36 Bohne, (Fn. 26), S. 119 ff., 121, 123 f.

III. System- und entscheidungstheoretische Problemkonzeptionen

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nur verglichen, sondern auch in vielen Systemsituationen durch andere funktional äquivalente Mechanismen ersetzt werden kann. Im Sozialsystem des faktischen Verwaltungshandelns beschränkt sich die problemorientierte Suche nach Alternativen nicht auf juridifizierbare Problemlösungen. Sie erstreckt sich vielmehr auf alle funktionalen Äquivalente, die die Systemstrukturen zugänglich machen. Auch gesetzeswidriges Handeln kann als systemrationale Problemlösung begriffen werden, obwohl es nicht juridifizierbar ist. Der rechtsanwendende Jurist unterliegt Beschränkungen. Er hat Normen zu interpretieren, die den Bereich funktionaler Äquivalente eingrenzen und den Vergleich mit den dadurch ausgeschlossenen Alternativen juristisch ausschließen. Gesetzliche Vorgaben, rechtsdogmatische Begriffe und einschlägige Rechtsprechung machen jedoch die Strukturen des Sozialsystems nicht aus. Wenn der Jurist einer unumgänglichen normativen Verkürzung des Vergleichsbereichs unterliegt, heißt dies nicht, daß das System faktischen Verwaltungshandelns die nicht juridifizierbaren Problemlösungen völlig außer acht lassen muß. Die Juridifizierungsmöglichkeiten stellen nur einen der verschiedenen strukturabhängigen Möglichkeitsbereiche dar, die das Handlungssystem bereithält. Die „förmliche Berufung auf den Normsatz" spiegelt die eigentlichen Entscheidungsprobleme nicht wieder und enthält keinen Hinweis auf die zugrunde liegenden Probleme des Prozessierens von Informationen. 3 7 Es gibt nicht nur juristische, sondern auch andere systemspezifische Stoppregeln bei der Suche nach adäquaten Problemlösungsmöglichkeiten. Wenn Rechtssätze und rechtsdogmatische hermeneutische Sinnkonkretisierungen den juristischen Vergleichradius verengen, machen andere Systemstrukturen ein Heranziehen von nichtjuristischen Problemlösungen möglich. Die Systeme faktischen gesetzesanwendenden Handelns sind — genauso wie soziale Systeme im allgemeinen — notwendige Begrenzungen sinnvoller Problemstellung und verfügbarer Lösungsmöglichkeiten. Sie bestehen sowohl aus Systemproblemen als auch aus Entscheidungsproblemen. Letztere sind nicht nur juristischer Art. Wenn man die Problemerfahrung und die Handlungsorientierung an Problemen als den tragenden Leitgedanken der Systembildung ansieht, kann man im faktischen Zusammenhang von Systemproblemen und Entscheidungsproblemen ein zusätzliches Problem erblicken, mit dem sich das System konfrontiert sieht. Das Kommunikationssystem muß nämlich, um Entscheidungsfähigkeit herzustellen, Systemprobleme in Entscheidungsprobleme transformieren. Diese Transformation ist die eigentliche Programmierungsleistung im Hinblick auf juristische Entscheidungsprozesse.38 Sie stellt einen Übersetzungsvorgang aus der einen Problemsprache in die andere dar. Systemprobleme thematisieren das Komplexitätsgefälle zwischen System und Umwelt und bleiben bestehen, solange auch das System als besondere Sinnordnung eine andere Ordnung als seine Umwelt aufweist. Soll das System erhalten bleiben, so muß es seine umweltbezogenen Systemprobleme 37 Geiger, Vorstudien, S. 263. 38 Luhmann (§ 1 Fn. 19), S. 198, 289 ff., 297.

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§ 5 Juristische Entscheidung und rechtliche Relevanz

bestandssicher formulieren und einer systemeigenen Behandlung zugänglich machen. Systemprobleme werden in Entscheidungsprobleme transformiert, wenn aus den strukturell bedingten Möglichkeitsbereichen des Erlebens und Handelns, die das System durch seinen schlichten Fortbestand verfügbar hält, Alternativen herausgegriffen werden, die die Bedingungen einer Entscheidungsfindung definieren. In einem sozialen System faktischen gesetzesanwendenden Verwaltungshandelns ist für den Juristen diejenige Transformationsleistung interessant, die Lösungsmöglichkeiten von Systemproblemen auf ihre Juridifizierbarkeit hin überprüft. Da die Systemprobleme nur zum Teil gesetzlich verankert und formuliert sind, bezieht sich die Juridifizierbarkeit auch auf Kommunikationsthemen und Probleme, die gesetzlich nicht erfaßt sind. Die Programmierung beschreibt als Übersetzungsvorgang nicht nur die Transformation von gesetzlich formulierten Systemproblemen in juristische Entscheidungsprobleme. Sie erstreckt sich vielmehr auf alle strukturabhängigen Folgeprobleme, die der Gesetzgeber nicht berücksichtigt hat oder nicht hätte voraussehen können. Das System muß sich daher selbst programmieren, indem es Begriffe, Denkfiguren und Argumentationsformen als Subroutinen verwendet, die seine bestandsicher formulierten Systemprobleme in juristisch Übersehbares und Entscheidbares verwandeln. Demzufolge ist es nicht so, daß gesetzlich geregelte Probleme in der juristischen Einzelfallentscheidung konkret gelöst werden. Systemprobleme werden vielmehr juridifiziert, indem unter anderem ein nachträglicher Bezug zum Gesetzestext hergestellt wird. Das System des gesetzesanwendenden Verwaltungshandelns, d. h. das Kommunikationssystem zwischen Verwaltungsbehörden und beliebigen anderen Akteuren ist ein realiter existierendes Sozialsystem. Es hat seine eigene Problemsicht, die sich von derjenigen der Verwaltung als formaler Organisation unterscheidet, es setzt seine eigenen Vorstellungen an die Stelle der Wirklichkeit, seine Erwartungen an die Stelle der Zukunft und handelt nach Maßgabe der eigenen Projektion. Seine Umwelten werden in systemeigene Begriffe gefaßt und die Probleme, die sich ihm stellen, werden als systemeigene Problematik widergespiegelt. Die Umwelt ist ein systemrelativer Sachverhalt. Das System macht sich unabhängig von Punkt-für-Punkt-Übereinstimmungen mit dieser relevanten Umwelt, indem es Strukturen bildet. Das System / Umwelt-Verhältnis ist sehr komplex, weil man zwischen der Systemumwelt und den Systemen in der Umwelt des Systems unterscheiden muß. So muß man die Abhängigkeitsbeziehungen zwischen Umwelt und System von Kommunikationsbeziehungen zwischen Systemen unterscheiden. Die Beziehungen zwischen Systemen bilden ein Kommunikationssystem, das seine eigenen systemrelevanten Umwelten hat. Dieses neu sich bildende System der Beziehungen zwischen Systemen ist zugleich Umwelt für die interagierenden Systeme. Die Anwendung dieses systemtheoretischen Gedankens auf rechtliche Organisationen und Juridifizierbarkeitsprobleme kann, wie wir meinen, juristische Entscheidungszusammenhänge besser als andere Ansätze erklären. Geigers subsistente Norm ist ein Versuch, die systemtheoretische Problembezogenheit von juristischen Entscheidungen zu erfassen und über

III. System- und entscheidungstheoretische Problemkonzeptionen

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die „förmliche Berufung auf den Normsatz" in seiner rechtssoziologischen Darstellung hinauszugehen. Die subsistente Norm ist der Hinweis auf die Reproduzierbarkeit von Problemstellungen und Problemlösungen, die jedesmal durch konkretes Entscheiden in Entscheidungsprobleme transformiert werden müssen.

Dritter Abschnitt

Geltung und soziale Verbindlichkeit der Rechtsregeln im Rechtssystem § 6 Stabilisierung, Erneuerung und Reform normativer Erwartungsstrukturen I. Individuum und soziale Erwartungsbildung 1. Die soziale Situation Geiger erklärt die Konstitution von sozialen Situationen aufgrund gleichzeitiger Bildung von Engrammkomplexen im Gedächtnis psychischer Systeme einerseits und sozialen Erwartungen im Kommunikationszusammenhang andererseits. Die soziale Situation darf durch eine „schematisierende Betrachtungsweise" nicht dahingehend aufgefaßt werden, daß sie eine „objektiv gegebene Einheit sei, bestimmt durch einen Satz von äußeren Umständen und eine oder mehrere implizierte Personen". 1 Das Nacheinander aktueller „Konstellationen von Umständen" kann als „Wiederholung des gleichen" oder als innovatives Umständearrangement konstruiert werden. Mit Bezug auf die psychische Umwelt sozialer Kommunikationssysteme gibt es nach Geiger eine Pluralität sozialer Situationen. Es liege ein „ungelöstes Rätsel" darin, nach welchen Gesetzen verschiedene „Eindruckselemente" sich für eine Person zum „komplexen Vorstellungsbild" einer Situation vereinigten und demgemäß „als Gedächtnisbild" einer komplexen Situation bewahrt würden. Die soziale Situation ist keine „objektiv feststellbare Größe". Psychische Systeme konstituieren ihre Situationen angesichts des jeweils laufenden sozialen Systems dergestalt divergent, daß sie nicht notwendig aufeinander abgestimmt sind. Kommunikation kann trotzdem oder vielleicht gerade deswegen gelingen. Es kann also sehr wohl sein, daß „der Beobachter den Eindruck hat", jemand „befinde sich wieder" in der gleichen Situation „wie schon in einem früher beobachteten Fall", daß aber der Beobachtete sich selbst „in einer neuen" Situation „befindlich fühlt". 2 Der Unterschied zwischen „Selbsterlebnis und Fremdbeobachtung" scheint konstitutive Bedeutung zu haben.3 1

Geiger, Vorstudien, S. 112. Ebd., S. 113. 3 Ebd., S. 115. 2

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Psychische Systeme sollen hier als wichtige Bestandteile der Umwelten von sozialen Systemen gelten. Die psychischen Systeme müssen von den Personen unterschieden werden. Für das Erfassen der informationsverarbeitenden Prozesse des psychischen Systems ist eine andere Semantik erforderlich als für das Erfassen der Personen. Letztere sind sozial erfahrbar, die Binnenselektivität der Psyche ist nur erschließbar und deutbar. So kann sich das psychische System im Laufe eines Interaktionssystems hinter der Person verstecken. Es kann sich hinter approbierten Höflichkeits- und Taktformen sowie hinter fremdbestimmter Personkonstitution verbergen, um im engen Kontakt hinsichtlich seines Erlebens dennoch unbemerkbar zu bleiben. In diesem Zusammenhang läßt sich der Problemkomplex Aufrichtigkeit und Authentizität thematisieren. Die Erwartungszusammenhänge, die aufgrund des Kriteriums Person identifiziert werden, sind milieuspezifisch und kontrastreich. Die Systemtheorie setzt als Ausgangspunkt der Personanalyse nicht die Selbst-, sondern die Fremdreferenz. Erst so läßt sich sehen, als was Personen in sozialen Systemen fungieren: als Orientierungskonstrukte oder als Zurechnungseinheiten und als Identifikationskriterien für themenspezifische Erwartungszusammenhänge. Die Person fungiert als Element im jeweils laufenden sozialen System. Sie greift das System-Umwelt-Verhältnis auf. Die Perspektive des psychischen Systems rekuriert hingegen auf innersystemische Prozesse, auf die kontingente Selektivität eines Systems, das zur Umwelt sozialer Systeme gehört und zugleich deren Aufbau ermöglicht. Die Person betrifft diejenige Vielfalt an Ausprägungen und erfahrbaren Verhaltensformen, die von der Orientierung einem Handlungsträger zugerechnet werden können. Allerdings, wie jedes andere, so setzt auch das Personschema die Orientierung der Gefahr aus, Komplexität auf Kosten der Temporalität zu reduzieren, also die Person doch zu einer Reifikationsformel zu machen. Die sich damit auftürmenden Probleme kann man vermeiden, wenn man den fremdreferentiellen Zugang mit Formen der Herstellung temporaler Indifferenz kombiniert. Mein Freund bleibt mein Freund, selbst wenn er alt und hinfällig wird. Die Personkonstitution hat ihre Bedingungen in allen drei Sinndimensionen. Man ist Person in der Zeit und in der Gegenwart anderer Personen. Im Spannungsfeld zwischen Selbst- und Fremdreferenz sind plurale und divergierende Konstitutionsmöglichkeiten der Person parat. Personalreferentielle Schematisierungen können im Laufe der Zeit verändert und korrigiert werden. Neuschematisierungen sind aber nicht ins Belieben psychischer Systeme gesetzt. Sie werden von sozialen Systemen in Regie genommen und der Kontrolle unterworfen. In Henry James Roman, The Awkward Age, sind Personen „phrases", die man in verschiedener Weise lesen und interpretieren kann. Selbst „an observer at all initiated" vertrete nichts als eine unter vielen Lesarten, die sich gegenseitig kontrollieren. Selbst das „Lesen", das Setzen einer Differenz kann negiert werden: „Do you call mamma a phrase?". 4 Personen sind temporalisierte 4 Henry James, The Awkward Age. Edited with an introduction and notes by Vivien Jones, Oxford/New York 1984, S. 194. Vgl. hierzu Gilles Deleuze, Le pli, Leibniz et le baroque, Paris 1988, S. 30: „cela dont je vous parle, et à quoi vous pensez aussi, etesi i Gromitsaris

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§ 6 Stabilisierung und Reform normativer Erwartungsstrukturen

Erwartungsbündel. Gegenwärtige Zukünfte fungieren demnach als unerläßliche Bestandteile von schematisierenden personalen Integrationen. Diese Zukünfte steuern als integrale Komponenten der jeweiligen Personalschemata die jeweils gegenwärtige Zurechnung und Qualifikation all jener Ereignisse, die den je involvierten Personen erst noch zugerechnet werden sollen. Eine Person ist immer zugleich eine in der Fremdreferenz rekonstruierte und vorauserinnerte Biographie. Das Personalschema kann in engen oder weiten Zeitgrenzen integriert werden. Die Limitierungen der schematisierenden Integration hängen von dem jeweiligen sozialen System ab. 5 Die systemtheoretische Abstraktion von der Selbstreferenz des Subjektbegriffs ermöglicht es, das psychische System in die soziologische Theoriebildung einzuführen und in neuer Weise zu thematisieren. Man kann sich nämlich diesem als Element sozialer Umwelten zuwenden und seine Relevanz für die soziale Erwartungsbildung herausarbeiten. So kann man soziale Systeme nicht nur von innen, sondern auch von einem externen Standpunkt aus betrachten. Ausgangspunkt der Forschung aus der Sicht des psychischen Systems ist die Erwartungsbildung. Es handelt sich um diejenigen Orientierungsprozesse, die in Form von Erwartungsbildung im psychischen System die Erwartungsbildung im sozialen System begleiten. Man muß die Erwartungen des psychischen Systems von den Erwartungen des sozialen System unterscheiden. Unter dieser Voraussetzung kann der Begriff der Erwartung als zentrales Konstruktionsmittel benutzt werden, mit dessen Hilfe sich studieren läßt, wie das psychische System sich mögliches erschließt und seinen Umwelten zugänglich macht. Orientierungsprozesse des psychischen Systems gehen auf eine Zuwendungsweise zurück, durch welche sich die Selektivität des Systems sowohl gegenüber seiner Erfahrung als auch gegenüber seiner Umgebung artikuliert. Die Aktualisierung und Reproduktion von Erfahrungsbeständen ergibt ein Auslegungsschema, das auf die Umgebung des Systems angewandt werden kann. Umgekehrt können Merkmale der Umweltwahrnehmung als Indikatoren genommen werden, die als Anweisungen zur Reproduktion der geeigneten Schemata dienen.6 Die Umwelt kann dem psychischen System Erfahrung zurechnen, unterstellen und sogar zumuten.7 Das soziale System steht nicht zur Disposition psychischer Systeme. Es kann im Gegenteil sogar mit der Dichotomie zwischen Denken und Phantasie operieren. Es kann „Phantasie" mit dem Unwirklichen, der Phantasmagorie und dem Intimsten gleichsetzen und sie trotzdem als institutionalisiert behandeln. Von designiervous d'accord pour le dire de lui, à condition qu'on sache à quoi s'en tenir, sur elle, et qu'on soit d'accord aussi sur qui est lui, et qui est elle?". 5 Jürgen Markowitz, Verhalten im Systemkontext. Zum Begriff des sozialen Epigramms. Diskutiert am Beispiel des Schulunterrichts, Frankfurt/M. 1986, S. 197 f. 6 Der s., Die soziale Situation. Entwurf eines Modells zur Analyse des Verhältnisses zwischen personalen Systemen und ihrer Umwelt, Frankfurt/M. 1979, S. 11 f., 20, 62. 7 Eine solche Erfahrungszumutung bei Montaigne , De l'expérience, in: Essais, Oeuvres complètes (Pléiade), Paris 1985 (1962), S. 1041 -1097, 1057: „pour estre vray medecin, il seroit necessaire que celuy qui l'entreprendroit eust passé par toutes les maladies qu'il veut guarir et par tous les accidens et circonstances de quoy il doit juger.".

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ten Personen wird in einem bestimmten Alter tatsächlich erwartet, daß sie „Phantasien" und „Visionen" haben. Im Kontext sozialer Kommunikation geht es demnach nicht um eine „Umgrenzung des Begriffs der schlichten Phantasievorstellung als Vollzug von reinem Vergegenwärtigungsbewußtsein". Auch die Phantasie wird in die Typik der Fremdreferenzen hineingezwungen.8 Die sozialen Erwartungen des Interaktionssystems dürfen nicht mit den psychischen Erwartungen der beteiligten psychischen Systeme vermengt werden. Der Möglichkeitshorizont des psychischen Systems ist mit dem des Interaktionssystems nicht identisch. Dies zeugt von der Simultaneität zweier Ebenen der Orientierung für das psychische System. Einerseits gibt es das Ordnungsniveau und die Orientierungsebene des sozialen Systems der Interaktion. Andererseits gibt es über der Ebene der Interaktion eine zweite Orientierungsebene, die es dem psychischen System möglich macht, sich gegenüber der Selektivität des Interaktionssystems selektiv zu verhalten. Das Interaktionssystem deckt die erwartende Zuwendung des psychischen Systems zu seiner Umwelt nicht ab. Das psychische System verstanden als Differenz von Möglichem und daher als Situation hat gegenüber der thematischen Komplexität und der Autopoiese des laufenden Interaktionssystems einen „Komplexitätsvorbehält". Die situativen Komplexitätsvorbehalte bieten die Grundlage dafür, daß interaktionssystemexterne Selektivitätsprämissen in die situative Orientierung des psychischen Systems einbezogen werden. So kann das psychische System komplizierte Orientierungsleistungen erbringen, die seine Erwartungsbildung hinsichtlich der Anschlußselektivität im sozialen System modifizieren. Da jedes psychische System seinen eigenen Komplexitätsvorbehalt gegenüber der Komplexität des sozialen Systems hat, sind höchst unterschiedliche Perspektiven zur Erwartung von Anschlußfähigkeit im Fluß der sozialen Kommunikation möglich. Der Vorbehalt wirft psychische Erwartungen über die sozialen Erwartungen und über das Hantieren mit ihnen aus.9 Soziale Kommunikation läuft aber „ohne Rekurs auf Bewußtsein und ohne Rekurs auf Rationalität" ab. Füreinander undurchsichtige psychische Systeme bringen ein soziales System zustande, das „für es selbst" Transparenz / Intransparenz herstellt. 10 Nach Simmel verstehen wir das „Innere nur durch Analogie des Äußeren". Die „Nachbildung des Nicht-Erlebten" kann somit gelingen, selbst wenn das Nachzubildende „niemals in das eigene psychische Erleben getreten ist". Musils Kapitel über die „Naive Beschreibung, wie sich ein Gefühl bildet" weist darauf hin, daß ein „lang aufgezwungenes Verhalten am Ende die Gefühle 8

Zur Selbstreferenz s. Edmund Husserl, Phantasie, Bildbewußtsein, Erinnerung. Zur Phänomenologie der anschaulichen Vergegenwärtigung, Husserliana Bd. 23, S. 85 ff.: Der „Wahrnehmung, der Präsentation" steht die „Vergegenwärtigung, die Repräsentation" gegenüber (S. 87). Zur Fremdreferenz s. Anselm L. Strauss, Spiegel und Masken. Die Suche nach Identität, Frankfurt a. M. 1974, S. 67 ff., 71. 9 Markowitz (Fn. 6), S. 111. 10 Niklas Luhmann, Autopoiesis, Handlung und kommunikative Verständigung, in: Zeitschrift für Soziologie 11 (1982), S. 366-379, 370. 11*

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erzeugt, von denen es ausgehen sollte". Die „amphibische Zweiseitigkeit" des Gefühls bringt die Orientierungsschwierigkeiten zum Ausdruck, die entstehen, wenn die „Analogie" Simmeis nicht funktioniert. Die „schöne Theatralik" des Gefühls beruht auf dem kommunikativen Prozessieren von Differenzen wie „Fühlen/Verhalten", „Körper/Gefühl", „Gedanke/Gefühl". Situationen, die ihre Definition mit sich bringen dienen als „reminders of feeling rules", die die „emotive Dissonanz" reduzieren und Gefühlenadäquanz herbeiführen. 11 Aus der Sicht der Fremdreferenz erscheinen Gefühle als geeignet oder ungeeignet und werden einer Person zugerechnet. Dieses „Als-geeignet-Erscheinen" ist das, was die Aufgabe zu erfüllen hat, zwischen einem Gefühl, seinem Gegenstand, den dazugehörenden Handlungen, Gedanken, Entschlüssen und jenen tieferen Antrieben zu vermitteln, die „sich meistens der Beobachtung entziehn". Die Gefühle selbst sind nicht nur dem Beobachter, sondern auch dem Fühlenden unzugänglich. „Die Aufmerksamkeit ist schon eine Veränderung des Gefühls". 12 Es kann nicht sichtbar werden, wie Gefühle in der Selbstreferenz des Bewußtseins die „Immunfunktion des psychischen Systems" übernehmen. 13 Einige Wissenschaftler ziehen daraus die Konsequenz, für bestimmte Forschungsabsichten auf die Betrachtung des Bewußtseins „von außen" zu verzichten. 14 Andere befassen sich mit der Beobachtung der Verwaltung von Gefühlen in sozialen Systemen.15

n Arlie Rüssel Hochschild, Emotion Work, Feeling Rules, and Social Structure, in: American Journal of Sociology 85 (1980), S. 551-575,564 f. „We assess the ,appropriatness' of a feeling by making a comparison between feeling and situation, not by examining the feeling in abstracto." (S. 560) und weiter: „Be happy' I told myself . . . A wedding is ,the happy day* of one's life" (S. 564). Vgl. auch die Unterscheidung zwischen „Erlebensform und selbständige(r) Begrifflichkeit" bei Georg Simmel, Das individuelle Gesetz. Ein Versuch über das Prinzip der Ethik, in: Michael Landmann (Hrsg.), Georg Simmel, Das individuelle Gesetz. Philosophische Exkurse, Frankfurt am Main 1968, S. 184. 12 Robert Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, Bd. 2. Aus dem Nachlaß hrsg. von Adolf Frisé, Reinbek bei Hamburg 1987, S. 1158, 1163, 1167, 1172; Georg Simmel, Die Probleme der Geschichtsphilosophie. Eine erkenntnistheoretische Studie, 3. Aufl., Leipzig 1907, S. 7, 65. Zur Temporalisierung und Institutionalisierung psychischer und sozialer Erwartungen s. auch Gromitsaris (§ 2 Fn. 17), S. 167 ff. β Luhmann (§ 1 Fn. 27), S. 371. 14 So beispielsweise Arnold Gehlen, Theorie der Willensfreiheit, in: Gesamtausgabe Bd 2. Philosophische Schriften II (1933-1938), hrsg. von Lothar Samson, Frankfurt am Main 1980, S. 1-179, 11: „Wir werden daher verzichten müssen, über die Freiheit in der Betrachtung des Organismus von außen etwas zu erfahren, und wenden uns dahin, wo allein dieses rätselhafte Verhältnis eines »Inneren4 zu einem ,Äußeren4 uns gegeben ist, nämlich an die eigene Handlung". Vgl. femer Alfred Schütz, Parson's Theorie sozialen Handelns, in: Walter M. Sprondel (Hrsg.), Alfred Schütz-Talcott Parsons. Zur Theorie sozialen Handels. Ein Briefwechsel, Frankfurt am Main 1977, S. 57:,,Nur der Handelnde kennt den wahren Zweck oder besser: das wahre Ziel seiner Handlung". 15 Hierzu: Erving Goffman, On Cooling the Mark Out. Some Aspects of Adaptation to Failure, in: Psychiatry 15 (1952), S. 451-463; Burton R. Clark, The „Cooling-Out" Function in Higher Education, in: American Journal of Sociology 65 (1960), S. 569576; Markowitz (Fn. 5), S. 191 (Fn. 10).

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Man kann zwischen der Konstitution und der Definition einer Situation unterscheiden.16 Es macht einen Unterschied, ob sich das psychische System eine Neuorientierung aufbauen muß oder ob es das Erlebnis seiner aktuellen Orientierung als etwas bereits früher Erlebtes wiedererkennt. Orientierungen an neuen Themen und Objekten führen zu bisher nicht beherrschten Konstellationen. Im Prozeß der Situationskonstitution geht es darum, tragfähige Erwartungen über ihm Unbekanntes aus der Sach-, Zeit- und Sozialdimension auszubilden. Strategien, die auf Identifikation von Bekanntem hinauslaufen, können den Prozeß der Situationskonstitution einleiten. Mit Hilfe vorhandener Begriffsschemata kann man seine anfänglichen Erwartungen über Unbekanntes analog zu bekannten Zusammenhängen ausbilden. Aufgrund „verähnlichender Apperzeption" sind auch die „uns unbekannten Dinge dieser Welt, allgemein zu reden, ihrem Typus nach bekannte". Es handelt sich um selbstrefentielle Akte und nicht um Ideenplatonismus.17 Neue Erfahrungen aus den drei Dimensionen können somit mittels der Selbstreferenz des psychischen Systems seine Themenhierarchie, seine Kompatibilitätskriterien und Selektionsprämissen verändern. Die sich so verändernden psychischen Systeme konstituieren die Situationen in ihrem jeweiligen Rollenverhalten zwangsläufig neu. Die Generalisierung bewährter Situationskonstitutionen läßt Situationstypen entstehen. Sie behandelt Variablen als Invarianzen, die zunächst etwa per Vorurteil beschafft werden können. Polizeibeamte können rassische, ethnische und Schichtungsmerkmale benutzen, um neue Situationen als typisch bekannt zu identifizieren. Auf diese Weise lassen sich auch die unbekannten Dinge dieser Welt als ihrem Typus nach bekannt „identifizieren". Eine neue, komplexe und konkrete Orientierungsherausforderung wird unter bewährte Orientierungsschemata subsumiert. Die Identifikation setzt Situationstypen voraus und wird dadurch leichter gemacht, daß wenige signifikante Merkmale gebündelt werden und auf Orientierungsschemata verweisen. Die psychischen Systeme typisieren Situationen nach pragmatischen orientierungsspezifischen Gesichtspunkten. Selbst wenn man annimmt, daß in „appresentational situations" „various orders" miteinander verknüpft werden, bleibt man in der subjektiven Selbstreferenz eingeschlossen. Die Möglichkeit der Herstellung von anschaulichen Zusammenhängen zwischen allen im Bewußtsein konstituierten Gegenständlichkeiten, d. h. zwischen „Wahrnehmungs- und Phantasiegegenständen eines Ich" kann den Ausweg zur Konstitution des sozialen Sinnes nicht finden. 18 Situationstypisierungen sind darauf angewiesen, die Last der Repräsentation thematischer Sequenzen auf die 16 Markowitz (Fn. 6), S. 166, 171, 174 ff. Die mittelbare Intentionalität der Fremderfahrung als „Appräsentation" ist kein Analogieschluß vom eigenen auf fremdes Bewußtsein, sondern eine „analogische Apperzeption": Edmund Husserl , Cartesianische Meditationen und Pariser Vorträge, Husserliana Bd. 1, Den Haag 1950, S. 138, 140 f. is Alfred Schutz, Collected Papers I. The Problem of Social Reality, The Hague 1962, S. 297 ff.; Edmund Husserl , Erfahrung und Urteil. Untersuchungen zur Genealogie der Logik, 3. Aufl. Hamburg 1964, S. 203, 206 f. 17

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Umwelt zu übertragen. Sie haben thematische Fremdrepräsentanz nötig. Unabhängig davon, welche Handlungen das laufende soziale System dem psychischen System zurechnet, operiert letzteres in seinen Orientierungsprozessen mit der Unterscheidung zwischen Handlungsplanung und Handlungsausführung. Es handhabt nämlich die Handlungen, die es sich selbst zurechnet, wie Einheiten, die im Hinblick auf zu bewirkende Wirkungen konstruierbar sind. Nun meint thematische Fremdrepräsentanz die Tatsache, daß das psychische System seine Handlungsplanung nur unter unerläßlicher Mitwirkung seiner Umwelt vornehmen kann. Es situiert seine Handlungseinheiten in Möglichkeitsbereiche und Verweisungszusammenhänge seiner Umwelt. Es ist diesen Verweisungszusammenhängen des jeweils laufenden sozialen Systems zu verdanken, daß weitere Handlungsmöglichkeiten aufeinander folgen können. Spätere Handlungsmöglichkeiten werden aber dem psychischen System erst zugänglich, wenn der Themenverlauf die erforderliche kontextspezifische Gestalt angenommen hat. Man kann etwa die Reaktionen des Interaktionspartners abwarten, um sie als Indiz für den weiteren Themenverlauf zu benutzen. Die Situationskonstitution und Typisierung von bewährten Situationskonstitutionen (Identifikation) lassen sich von der Situationsdefinition unterscheiden. Der Unterschied zwischen Definieren und Identifizieren betrifft ein Problem der Selektivitätszurechnung, ob nämlich das Verhalten als Definition oder als Identifikation eingestuft wird. Der Unterschied ist der Differenz Erleben und Handeln nachkonstruiert. Definition einer Situation meint die Einführung eines Themas, die Festsetzung der Themenbezogenheit von Handlungen. Aus der Sicht des psychischen Systems setzt Situationsdefinition die Vertrautheit mit dem Thema als solchem sowie mit der Systemumwelt bereits voraus. Da aber Themen in sozialen Systemen verwaltet werden, können Personen mit unterschiedlicher Thematisierungsmacht ausgestattet werden und ihre Vertrautheit mit bestimmten Themenbereichen erst in Kommunikation und in der Praxis erwerben. Es ist durchaus denkbar, daß ein psychisches System im Laufe des sozialen Systems über Definitionsmacht verfügt, ohne mit dem Thema vertraut zu sein, das es seinen Interaktionspartnern auferlegt. Die Systemreferenz muß beachtet werden. Der kontrollierende Polizeibeamte ist mit der Macht ausgestattet, den Passanten das Thema der Kontrolle aufzuerlegen. So vollzieht der Beamte eine Situationsdefinition und der Passant eine Situationsidentifikation. An dieser Stelle muß man präzisieren, in welchem Sinne von Situation die Rede ist. Es handelt sich nicht um die eine Situation mehrerer Handelnder. Es geht vielmehr um die Situation des je einzelnen in der tatsächlichen oder vorgestellten Gegenwart anderer einzelner oder Gruppen. Situationsdefinitionen sind andererseits kommunikative Leistungen, so daß eine konkrete Verhaltensweise als die Aktualisierung einer oder sogar mehrerer Interaktionsstrukturen interpretierbar ist. 19 Die Situation besteht 19 Hierzu: Melvin L. Kohn , Situational Patterning in Intergroup Relations, in: American Sociological Review 2 (1956), S. 164-175: „ participants . . . assimilate the situation to their past actual or vicarious experience... Yet the behavior manifested in these situations

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im Zusammenhang mit einer psychischen Systemreferenz. Sie stellt die pragmatische Orientierungsleistung eines psychischen Systems dar, die sich das gesellschaftlich bedingte, jeweils laufende Interactions- oder Organisationssystem zugänglich macht. Auf diesen Sachverhalt hat man schon in der Psychologie terminologisch reagiert. Perzeption und Responsivität lassen sich nicht als distinkte Prozesse auseinanderhalten. Man braucht deswegen neue analytische Einheiten, die nicht nur die Relationierung beider Prozesse, sondern auch ihren kommunikativen Wert reflektieren. 20 Der Unterschied zwischen den sozialen Systemebenen läßt sich im Unterschied der Situation nachweisen. Aufgrund seines situativen Komplexitätsvorbehalts verhält sich das psychische System selektiv gegenüber den ebenenspezifischen Selektivitäten der sozialen Kommunikation, die dem Interaktionssystem zur Verfügung gestellt werden. Die Situationskonstitution muß sowohl aus der Sicht der Selbstreferenz als auch aus der Sicht der Fremdreferenzen gesehen werden. Der uniformierte Polizeibeamte muß damit rechnen, daß er beobachtet und daß sein Verhalten seinen Vorgesetzten gemeldet wird. Der Kontrollierte kontrolliert ihn. Die Beschwerdemacht des Betroffenen kann von der Diskrepanz zwischen Konstitution und Definition profitieren. Die Situation bleibt konstituiert, ihre Definition kann noch geändert werden. Der Vorfall kann als „Bagatelle" umdefiniert werden. Die Selektivität des Bagatellisierens ist aber kein psychischer Vorgang. 21 2. Vom Subjekt zur Selbstreferenz Den langen Weg bis zur Entdeckung der sozialen Dimension und der mehrwertigen Logik hat Gotthard Günther nachgezeichnet. Nach der traditionellen Theorie der logischen Allgemeingültigkeit können nur „intersubjektive", d. h. für jedermann geltende und von allen nachprüfbare Sätze wahr oder falsch sein. Die Allgemeingültigkeit hat zwei Geltungsformen. 22 Sie gilt für alle Objekte, die unter den Allgemeinheitsgrad eines Satzes oder eines Begriffs fallen, und sie gilt für alle urteilenden Individuen zu jeder Zeit. Sie ist also intersubjektiv und interobjektiv zugleich und inszeniert sich selbst als das einzige Instrument genereller Kommunikabilität. 23 Die intersubjektiven Unterschiede verschwinden in can be interpreted as an attempt to see a socially unstructured situation in terms of one or possibly even of several alternative socially acceptable structures" (S. 168). 20 Vgl. den Vorschlag von / . A. Easterbrook , The Effect of Emotion on Cue Utilization and the Organization of Behavior, in: Psychological Review 66 (1959), S. 183-201, 188, 194: „The correct u n i t . . . is the use of a cue. A singular cue can be said to have been used when a related response had occurred". 21 Markowitz (Fn. 6), S. 172, 194; Johannes Feest ! Erhard Blankenburg, Die Definitionsmacht der Polizei. Strategien der Strafverfolgung und soziale Selektion, Düsseldorf 1972, S. 27, 45, 77, 83; Luhmann (§ 1 Fn. 27), S. 403. 22 Hierzu: Paul Hofmann, Das Verstehen von Sinn und seine Allgemeingültigkeit, Berlin 1929. 23 Gotthard Günther, Idee und Grundriß einer nicht-aristotelischen Logik. Die Idee und ihre philosophischen Voraussetzungen, 2. Aufl., Hamburg 1978, S. 9 f., 21; ders.:

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der Angleichung an das objektiv Seiende. In der seinsthematischen Orientierung des subjektiven Bewußtseins verschwindert der „pluralitätsstiftende Gegensatz von Ich und Du". Die interobjektive Allgemeingültigkeit zieht die intersubjektive zwangsläufig nach sich. Dies geschieht, weil die aristotelische Logik es unterläßt, das denkende Ich in das System ihrer Begriffe einzuführen. Die denkende Reflexion geht in der „objektiven Seinsthematik" nicht auf. Es bleibt „ein Reflexionsüberschuß" zurück. 24 Die Reflexion des Einzelbewußtseins kann in „Selbst-Vergessenheit" glauben, die Gegenstände selbst in ihren Vorstellungen ergriffen zu haben oder in subjektivistischer Wendung sich selbst entdecken und von sich selbst fesseln lassen. In dieser Reflexion auf die Reflexion nimmt sich das Bewußtsein aus dem Zusammenhang der Dinge heraus und vollzieht ein „bewußtsloses Übergehen" der Kausalität. 25 Eine dritte Möglichkeit geht im Rückgang auf die Subjektivität nicht nur bis auf das zufällige Ich, daß das kartesische Kogito gerade anwendet, sondern auf „Subjektivität-Überhaupt" zurück. Die Frage jedoch bleièt: Wie ist intersubjektive Allgemeingültigkeit ohne die Hypostasierung eines transzendentalen Ichs möglich? Das Ich bezieht sich auf sich selbst, indem es auf die Differenz Ich / Nicht-Ich Bezug nimmt. NichtIch ist zweierlei: das Ding und das Du. 2 6 Das „doppelte Subjektsein", das subjektive Subjekt und das objektive Subjekt sind eine relativ späte philosophische und logische Entdeckung, die es wagt, auf ein universales transzendentales Subjekt als Garanten allgemeiner Subjektivität zu verzichten. 27 Das subjektive Subjekt hat zwei Themen der Reflexion: nämlich das objektive Objekt, das als nicht selbstreferentiell gesetzt wird, und das objektive, das gedachte Subjekt. Es gibt auch selbstreferentielle Objekte des Denkens. Die totale Reflexion Hegels, d. h. die Reflexion-in-sich der Reflexion-in-sich-und-anderes enthält ein „Reflexionsgefälle" vom subjektiven Subjekt zum objektiven Subjekt und ebenso ein komplementäres Gefälle vom objektiven Subjekt zum subjektiven Subjekt. Für das selbstreferentielle Objekt ist das selbstreferentielle Subjekt ein Objekt. Die klassische Logik hat fremde Selbstreferenz und selbstreferenzloses Ding als ObjektÜberhaupt gemeinsam behandelt. Die Reflexionsprozesse im Ich behandeln die Reflexionsprozesse im Du in Form einer irreflexiven Seinsthematik. Das Tertium non datur legt fest, daß alles Reflektieren kein anderes Thema haben kann als das irreflektive Sein. Neben dem Sein und der an dasselbe gebundenen Reflexion kann kein reflexionsfähiges Drittes existieren. 28

Die logisch-methodischen Voraussetzungen zu Hegels Theorie des Denkens (InauguralDissertation), Potsdam 1932, S. 20 ff. 24 Günther, Idee und Grundriß, S. 24, 30, 35; Schelsky (§ 2 Fn. 2), S. 97, spricht vom Reflexionsüberschuß des analytischen Denkens gegenüber dem Motivbewußtsein des Handelnden. 25 Gehlen (Fn. 14), S. 101, 119. 26 Günther (Fn. 23), S. 48, 66. 27 Ebd., S. 84 ff., 93 ff. 28 Ebd., S. 101.

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In der klassischen Logik ist aber der negative Wert von „höherer implikativer Mächtigkeit" als der Positive. 29 Der positive Wert impliziert nur sich selbst und stellt irreflexive Daten dar. Der negative Wert repräsentiert vielmehr sowohl solche Daten wie darüber hinaus den Reflexionsprozeß selbst. Jede Aufgabe eines positiven Bestimmungsgesichtspunktes, unter dem die Alternative des Drittensatzes nach Paul Hofmann gelten soll, verdeckt die Tatsache, daß die Negativität sowohl irreflexive positive Daten als auch ein „kompliziertes System von Reflexionsprozessen und Stufen" impliziert. Die jeweilige Alternative existiert also nicht zwischen irreflexivem Objekt und seiner Reflexivität, sondern zwischen Objekt auf der einen und Subjekt-Objekt auf der anderen Seite. Die übliche Allgemeinfassung des Drittensatzes nimmt keine Rücksicht auf die Tatsache, daß alles mögliche Bestimmen unter Gesichtspunkten steht, die den Gegenstand an einem vorgegebenen in sich geschlossenen System möglicher Prädikationen mißt. Anstatt „relative Inadäquatheit" jedem bestimmenden System zuzuschreiben, fordert die klassische Logik ein einziges „ideales System des wahrhaften Bestimmens", die die Objekte in ihrer absoluten Objektivität fassen würde. 30 In der Negativität liegt nicht nur die partielle Verneinung eines Objekts, sondern der weitere Negationssinn, daß der Bestimmungsgesichtspunkt der jeweiligen Alternative verneint werden kann. Die Reflexion kann die Einheit der Differenz verneinen. Das Dritte muß in der klassischen Logik auf zweierlei Weise ausgeschlossen werden: erstens im „irreflexiven gegenständlichen Sinn" und zweitens als distanzfähige und distanznehmende Reflexion. 31 Die Orientierung an der Einheit der Differenz muß auch ausgeschlossen werden. Solange die Reflexion im Reflexionsprozeß funktionell nicht repräsentiert und sichtbar wird, bewegt sich das formale Denken sowohl in seiner „Aristotelischen" wie in seiner „Kontra-Aristotelischen" Fassung in der totalen Alternative von Positivität und Negation. 32 Das wirklich ausgeschlossene Dritte, „die sich selbst ausschließende Reflexion" kann dann nicht sichtbar werden. 33 Die Reflexion kann vom Sein Abstand nehmen, indem sie sich die Unterscheidung von Reflexion und Sein, die in den Reflexionsprozessen als Differenz wirkt, als Einheit zugänglich macht. Bei dem Übergang von der Reflexion in anderes zur Reflexion in sich, findet kein „Themawechsel" statt. Das Thema heißt auch hier Sein, und Subjekt und Objekt sind nur „verschiedene Momente am Sein überhaupt". Dasselbe gilt für den Übergang zur Reflexion-in-sich-der-Reflexion-in-sich-und-anderes. Diese doppelte Reflexion begreift sich als Konjuktion von Reflexivität und 29 Ebd., S. 159. 30 Ebd., S. 154; Paul Hofmann, Das Problem des Satzes vom ausgeschlossenen Dritten, Berlin 1931, S. 14, 19. 31 Günther (Fn. 23), S. 198; Luhmann (§ 1 Fn. 27), S. 597. 32 Vgl. hierzu: C. P. Wormell, On the Paradoxes of Self-Reference, in: Mind 67 (1958), S. 267-271, 269: „we require epithets applying to statements which will cause us to re-interpret them, but in a more selective fashion than ,true' and ,false'. 33 Günther (Fn. 23), S. 291, 292 f. zitiert hier Hegel.

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Irreflexivität. Wenn nun die doppelte Reflexion im disjunktiven Sinne als die Reflexion entweder der einfachen Reflexion in sich oder der unmittelbaren Reflexion in anderes aufgefaßt wird, dann wird die Selbstreferenz eines fremden Bewußtseins zum Gegenstand der Selbstreferenz des eigenen Bewußtseins.34 In diesem Sinne gibt es ein Reflexionsgefälle, das immer von der jeweiligen Selbstreferenz zur jeweiligen fremden Selbstreferenz geht. Das Objekt ist jetzt selber Reflexion, aber es ist fremde undurchschaubare Reflexion. Die reflexionsthematische Referenz der Reflextion hat für die Logik Konsequenzen35: Sie macht den Unterschied von Ich und Du oder die Differenz von Selbstreferenzen relevant. Wichtig ist, daß jede Selbstreferenz ausschließlich mit selbstgesetzten Differenzen operieren muß. Die fremde Selbstreferenz erscheint als ein „positives Ding in der Welt", ihre „subjektive Negativität" ist nirgends gegeben, sie kann nur erschlossen werden. Wenn die Reflexion zum Gegenstand einer neuen Reflexion gemacht wird, ist der Gegenstand des Denkens nicht mehr Denken, sondern Gedachtes. Dies gilt sowohl für die Reflexion auf die eigene Reflexion wie für die Reflexion auf die fremde Reflexion. „Der denkende Reflexionsbegriff ist mit demselben Begriff, wenn er gedacht wird, nicht mehr voll identisch." 36 Der Satz der Identität, gemäß dem der Denkgegenstand dadurch, daß er gedacht wird, „in seinen ihm eigenen Eigenschaften nicht verändert wird", ist damit „für die Reflexion auf die Reflexion als ungültig erkannt". Weder die Reflexion in sich noch die Reflexion auf fremde Reflexion decken sich mit dem „Projektionsprozeß", durch den sie gegenständlich gesetzt werden. Es bleibt immer ein Reflexionsüberschuß zurück, der „in der Gleichung Sein = Denken nicht aufgehen will". 3 7 Die Systemtheorie vertritt die These, daß die Selbstreferenz des Bewußtseins mit ihrer doppelten konjunktiven Reflexion auf eine „zwangsläufige Koppelung von selbstreferentiellen und fremdreferentiellen Verweisungen trift", die nicht nur als Du, sondern auch als soziales System begriffen werden muß. Schon in der Kybernetik hebt sich die Differenz von „Mechanismus und Organismus (Vitalismus)" auf. Die Information ist Information und nicht Materie, Energie, Geist oder Subjektivität. 38 Während man für das Bewußtsein sagen könnte: Gegenstände haben ist die Weise, wie sich das Denken auf sich selbst bezieht, kann man im Hinblick auf Selbstreferenz im allgemeinen sagen: Sich auf anderes beziehen ist die Weise, wie eine Differenz gesetzt wird. Die Selbstreferenz kommt in der Erfahrungswelt vor. Eine Beschreibung der Erfahrung wird aber nicht nur vom Standpunkt des Ich, sondern auch vom Standpunkt des Du und des sozialen 34 Ebd., S. 312, 323. 35 Hierzu: Joseph Ditterich, Logikwechsel und Theorie selbstreferentieller Systeme, in: Dieter Hombach (Hrsg.), Zukunft als Gegenwart, Berlin 1982, S. 120-155. 36 Günther (Fn. 23), S. 352, 338 f. 37 Ebd., S. 394, 374. 38 Luhmann (§ 1 Fn. 27), S. 593,660; Gotthard Günther, Das Bewußtsein der Maschinen. Eine Metaphysik der Kybernetik, Krefeld und Baden-Baden 1963, S. 24, 31 f.

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Systems angefertigt. Auf der Grundlage pluraler Subjektivität ist der Schluß „von dem Ich-Charakter des denkenden Subjekts auf den Ich-Charakter des gedachten Subjekts" nicht zulässig. 39 Selbstreferenz wird für sich selbst und für andere erfahrbar, indem sie sich über anderes enttautologisiert. Sie konstituiert sich als ein „Sich-Herausnehmen aus der Totalität". Vom Ich aus gesehen, stellt sie sich als ein „Rückzug" von mir und von der Welt dar. Unabhängig davon, ob sie sich als Du oder als soziales System von dem Ich und der Totalität absetzt, bezieht sie sich auf etwas, was sie nicht ist. Sie rechnet sich selbst einer Umwelt zu. Jede Selbstreferenz ist gleichzeitig durch Iterierbarkeit und durch die Fähigkeit „Standpunktverschiebungen" im Sinne Hofmanns zu vollziehen und zu berücksichtigen gekennzeichnet. Hierin liegt der Unendlichkeitsgedanke der „Welt". 4 0 Die Wahl der Differenz muß der jeweiligen Selbstreferenz überlassen werden. Daraus ergibt sich die Unmöglichkeit, intersubjektive Allgemeingültigkeit auf intersubjektiv zwingende Gründe zu stützen. Zudem ist jedes Operieren mit einer Differenz darauf angewiesen, „Einheiten zu erschließen". 41 Die Einheit der Differenz wird durch die Operationen konstituiert, die die Differenz in Anspruch nehmen. Eine Selbstreferenz, die sich auf eine fremde Selbstreferenz bezieht, orientiert sich an selbstgesetzten Differenzen. Der „Inhalt eines jeden Begriffs ist selber ein Begriff 4 . 4 2 Geiger identifiziert nicht die psychische Erwartungsbildung mit der sozialen Kommunikation. Im Vollzug der Selbstreferenz des Bewußtseins oder — wenn man so will — in der „phänomenologischen Reduktion" erhält der Verweis auf denkfremdes anderes „seine Einklammerung". Die psychische Erwartung kann nicht in Selbstvergessenheit geraten: Das Erwarten stellt sich anstatt auf das Erwartete auf das Erwarten des Erwarteten ein. 43 Unter Verzicht auf die „fatale Differenz von empirisch und transzendental", die eine unnötige „Verdoppelung" darstellt, kann man mit Gotthart Günter die „Epoché" verallgemeinern und die Fähigkeit des Einzelbewußtseins, von „jedem Mitvollzug" der wissenschaftlichen Erkenntnisse und von „jeder kritischen, an ihrer Wahrheit oder Falschheit interessierten Stellungnahme" Epoché zu üben, als den in jeder Differenzsetzung eingeschlossenen dritten „Rejektionswert" auffassen. 44 Als Rejektionswert fungiert 39 Günther, ebd., S. 96. 40 Ebd., S. 83; ders., Dialektik, S. 318 f.; Luhmann, Wirtschaft der Gesellschaft, S. 82 FN 71; Hofmann, ebd., S. 34. 41 Luhmann (§ 1 Fn. 27), S. 654. 42 Günther (Fn. 23), S. 361. 43 Vgl. die Veranschaulichung am Beispiel „eines reizenden Gimpelpärchens" bei Edmund Husserl , Zur Phänomenologie der Intersubjektivität, Husserliana Bd. 13, Den Haag 1973, S. 165, 148. 44 Niklas Luhmann, Die Lebenswelt in Rücksprache mit Phänomenologen, in: Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie 72 (1986), S. 185 FN 24; Edmund Husserl , Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie, Husserliana Bd. 6, 2. Aufl. Den Haag 1962, S. 138; Michel Serres, Hermès Π. L'interférence, Paris 1972, S. 159.

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die jeweilige Selbstreferenz selbst, die auf die Einheit der durch sie gesetzten Differenzen referieren kann. Geiger vollzieht keine „distinctio Phänomenologie^ \ 4 5 Er trennt zwar Psychisches vom Sozialen, er unterscheidet jedoch nicht zwischen Empirischem und Transzendentalem. Er vertritt keine Theorie des Analogieschlusses vom eigenen auf den fremden Bewußtseinsstrom und keine Theorie der Einfühlung. Er interessiert sich auch nicht für die Frage, ob die „Monaden Fenster haben". Das in einem fremden Bewußtsein konstituierte Jetzt ist dem Eigenbewußtsein nicht zugänglich. Es ist „objektiv" als Jetzt gesetzt, als „zugleich mit einem selbstgegebenen Jetzt". 46 Dem „Ringen Husserls" mit dem Versuch, Kommunikation auf Bewußtseinsleistungen monadischer Subjekte zurückzuführen, verdanken wir Formulierungen, die über das unlösbare Problem der Intersubjektivität hinausführen. 47 Die Unterscheidung: „Person als sachliches Thema und die anderen thematisch als Ich-Subjekte, die mit mir kommunizieren" macht deutlich, daß die Orientierung an einer fremden System / Umwelt-Differenz nicht die psychischen Vorgänge des fremden Bewußtseins, sondern eine ihm zugerechnete Umwelt zum Gegenstand hat. Im „Nachverstehen" der anderen „lebend", habe ich keinen Zugang zu ihren „reinen" Erlebnissen, zu den „rein phänomenologischen noetisch-noematischen Verflechtungen". Thema ist nicht die Autopoiesis des fremden Bewußtseins, sondern die „Person, die Personengemeinschaft", die „ihnen gegenüberstehende Umwelt (als ihre Umwelt)". 48 Sobald aber die Umwelt eines fremden Bewußtseins dem Ich-Bewußtsein als Information zugänglich wird, wird sie zu seiner eigenen Umwelt. In der Formulierung des Intersubjektivitätsproblems scheinen zwei völlig verschiedene Intersubjektivitätskonzepte unzulässigerweise miteinander verknüpft zu sein: Intersubjektivität „as constitution of an objective world inclusive of others encoutered therein" und Intersubjektivität „as communication, both actual and potential". 49 Intersubjektivität beruht dann auf Kommunikation und Kommunikation ihrerseits auf Einfühlung. Nimmt man den Ausgangspunkt von einem solipsistischen Ich, so übersieht man, daß keine „private Erfahrung" möglich ist, die „nicht von vornherein sozialisiert wäre". 50 Die 45

Husserl , Intersubjektivität, Husserliana Bd. 13, S. 144. 46 Ebd., S. 36, 42, 221, 470 f. 47 Luhmann (§ 1 Fn. 27), S. 120 FN 49. 48 Husserl , Husserliana Bd. 13, S. 467. Nach der Auffassung von Alfred Schütz, Edmund Husserl's Ideas, Volume Π, in: I. Schutz (Hhrg.), Collected Papers III. Studies in Phenomenological Philosophy, The Hague 1966, S. 15-39, 38 f. bestehe eine Affinität zwischen Husserl einerseits und Hegel, Dürkheim und Gierke andererseits: „The attempts of Simmel, Max Weber, Scheler to reduce social collectivities to the social interaction of individuals is, so it seems, much closer to the spirit of phenomenology than the pertinent statements of its founder.". 49 Alfred Schutz, The Problem of Transcendental Intersubjectivity in Husserl, in: Collected Papers III, Studies in Phenomenological Philosophy, The Hague 1966, S. 5091, 77. so Alfred Schütz I Aron Gurwitsch, Briefwechsel 1939-1959. Hrsg. von Richard Grathoff, München 1985, S. 282, 279 f.

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„Konstitution einer kommunikativen Subjektivität" ist eine immer noch unzureichende Erfassung der „kommunikativen Realität", so daß selbst die Konstitution einer „kommunizierenden Subjektvielheit", die auch ihre eigene „gemeinsame Umwelt" hat, die Kommunikation nicht als Einheit aus Information, Mitteilung und Verstehen operationalisieren kann. 51 Es geht darum, daß die Kommunikation ein neues emergentes Ordnungsniveau entstehen läßt, daß von der kommunizierten Subjektvielheit unabhängig ist und von der Theorie zum selbständigen Forschungsgegenstand werden kann. 52 Wenn man dies berücksichtigt, ist die Benennung des Niveaus ein rein terminologisches Problem. 53 Geiger kommt in die soziale Dimension des Sinnes mit einem Sprung, der alle Intersubjektivitätproblematik hinter sich läßt: Es gibt soziale Prozesse der Konstitution und Selektion von sozialen Erwartungen. Warum „im einzelnen Fall gerade diese und nicht ganz andere Gebarensweisen" verbindlich erwartbar sind? „Ignoramus". 54 Der „engraphisch-ekphorische Mechanismus" symbolisiert Sozialisations- und Lernprozesse im psychischen System, die in soziale Erwartungszusammenhänge eingebettet sind. Er wirkt „kommulativ und progressiv" und führt zu „oft wiederkehrenden Situationen". Sein Begriff der Situation bezieht sich auf Erwartungen, die „im Daseinsverlauf' des psychischen Systems gebildet und verändert werden. Er bezieht sich darüber hinaus auf die Typisierung von Erwartungen im „sozialen Milieu". 5 5 Die Entstehung von sozialen „GebarensErwartungen" erklärt Geiger auf der Grundlage eines Polyperspektivismus, der dem Übergang von der „individuellen Gewohnheitsbildung" zur „interindividuellen Nachahmung" und zum „kollektiven Brauch" zugrunde liegt. 56 Entscheidend ist die Bedeutung des unbeteiligten oder beteiligten „Zuschauers". Er bewirkt „Gebarens-Erwartungen", die neben den Perspektiven von Ego und Alter Berück51

Husserl , Zur Phänomenologie der Intersubjektivität, Husserliana Bd. 14, Den Haag 1973, S. 105 ff., 197; Luhmann, Soziale Systeme, S. 202; s. femer das Kapitel „Le système et son élément" bei Yves Barel, Le paradoxe et le système. Essai sur le fantastique social, Grenoble 1979, S. 149 ff., 187 ff. „on ne peut composer une société qu'avec des individus déjà sociaux" (S. 189 f.). 52 Vgl. Michel Serres, L'interférence, S. 127 ff., 155. Zur Relationierung von ego und alter ego bei Aristoteles s. Jean-Claude Fraisse, Philia. La notion d'amitié dans la philosophie antique, Paris 1984, S. 238 ff., 244. Vgl. ferner die systemtheoretische Nähe von Maurice Merleau-Ponty, Le visible et l'invisible, Paris 1964, S. 84 f.: „Le regard d'autrui sur la chose n'est pas un rien pour moi, témoin extérieur . . . l'intervention du spectateur étranger ne laisse pas intacte la relation avec les choses" und „l'être . . . de l'etre pour les autres . . . ce qui mérite le nom d'etre . . . c'est le système des perspectives qui y introduit. . . l'être est à l'intersection de mes vues et à l'intersection de mes vues et de celles des autres, à l'intersection de mes actes et à l'intersection de mes actes et de ceux des autres" (S. 116). 53 Vgl. den Begriff „group achievement" bei Ralph M. Stogdill, Individual Behavior and Group Achievement. A Theory. The Experimental Evidence, New York 1959, S. 221, 277. 54 Geiger, Vorstudien, S. 120. 55 Ebd., S. 93 f. 56 Ebd., S. 95.

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sichtigung finden müssen. Erwartungen sind in verschiedenen Perspektiven erwartbar. 57 Die Divergenz der Auffassungsperspektiven manifestiert sich in bezug auf verschiedene Integratsöffentlichkeiten und angesichts der Erwartungen unbeteiligter unbekannter Dritter. Der „engraphisch ekphorische Mechanismus" bietet die Grundlage dafür, daß Analogisierungsprozesse eintreten, die die „EreignisErwartung" anpassungsfähig machen. Geigers Ausgangspunkt ist nicht die Fragestellung der Intersubjektivität. Er wehrt sich dagegen, Soziales auf individuelle Bewußtseinsleistungen zurückzuführen. Erleben und Handeln in sozialen Kommunikationszusammenhängen beruhen auf der Nichtreduzierbarkeit von sozialem Sinn auf Bewußtsein und von Bewußtsein auf sozialen Sinn. 58 Das zeigen deutlich die Ausführungen Geigers zum Rechtsbewußtsein und zum Verhältnis von Moral und Recht: „Niemand kann mit Sicherheit wissen, was andere Leute ,im Bewußtsein haben4 ". Gedanken sind nicht „objektiv feststellbar", und aus der „motivischen Deutung" von Handlungen kann man Soziales nicht erklären. 59

I I . Normativer Wandel in Regelsystemen 1. Macht In Anlehnung an Max Weber versteht Geiger unter Macht: die Chance, gewisse Ereignisverläufe steuern zu können. Die Begriffe des eigenen Willens und fremden Widerstrebens, die in der Weberschen Definition vorhanden sind, fallen hier fort. Der Definitionsbestandteil „Wille" ist deswegen überflüssig, weil er schon im „Steuern" liegt. Andererseits verdeckt der Wille die eigentliche Funktion der Macht als Kommunikationsmedium, aufgrund dessen die Selektionsweise des einen Partners zur Motivationsstruktur des anderen wird. Der Definitionsbestandteil Wille erweckt den Eindruck, daß es bei der Macht um den Zwang geht, „etwas konkret genau Bestimmtes zu tun". 6 0 Während aber Zwang das konkrete Bewirken bestimmter Wirkungen anstrebt, liegt Macht im Steuern der Selektivität des Partners. Sie setzt nicht voraus, daß ein fertiger Willensentschluß, der dann gebrochen wird, immer schon vorliegt. Sie neutralisiert vielmehr den Willen, indem sie Wirkungsketten unabhängig von der Willensbildung beim Machtunterworfenen sicherstellt. Es geht nicht um die Brechung des Willens. Die Kausalität der Macht existiert selbst, wenn der Machtunterworfene gleichsinnig handeln wollte „und dann erfährt: er muß ohnehin". 61 Wie Geiger meint: „Das Element fremden Widerstrebens schlösse aus dem Begriff der Macht die Erscheinungen vollkommenen Gehorsams aus, d. h. die Fälle, wo ein Befehlender nicht nur 57 Vgl. Stogdill, ebd., S. 275: „Expectation is defined as readiness for reinforcement". 58 Luhmann (§ 1 Fn. 27), S. 594. 59 Geiger, Vorstudien, S. 383, 384 f. 60 Luhmann (§ 2 Fn. 50), S. 9. 61 Ebd., S. 7, 9, 11 f.

II. Normativer Wandel in Regelsystemen

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keinen mit psychischer Gewalt zu brechenden äußeren, sondern kraft seiner Autorität nicht einmal inneren Widerstand findet." 62 Die Antizipation der Machtentscheidung macht die Willensbildung unnötig. Wenn man mit Geiger Macht als die Chance definiert, „gewisse Ereignisabläufe steuern zu können", dann ist derjenige, zu dessen Gunsten diese Chance besteht, der Inhaber der Macht. Er hat die Macht über die Objekte, „an denen die Ereignisabläufe sich vollziehen". Die soziale Macht ist ein Machtverhältnis, eine zwischenmenschliche Beziehung, die dadurch gekennzeichnet ist, daß ein Partner das Verhalten des anderen zu steuern vermag. Ein Machtverhältnis kann eine interindividuelle oder eine interkollektive Beziehung sein. Die Partner können nämlich beiderseits Einzelpersonen, beiderseits Gruppen oder auf der einen Seite eine Einzelperson, auf der anderen eine Gruppe sein. Machtverhältnisse gestalten sich aufgrund von Machtfaktoren. Das sind die Umstände, auf denen die Steuerungsmöglichkeiten anderen menschlichen Verhaltens beruhen. „Mit dieser vorläufigen Garnitur von Deutungen arbeitend" führt Geiger in seine Interaktions- und Organisationstheorie ein Machtkonzept ein, das im Machtbegriff „schon Statusdifferenzen oder ausreichende Informations- und Kalkulationsmöglichkeiten" voraussetzt.63 Er gewinnt auf diese Weise kein „Urteil über die gesamtgesellschaftliche Tragweite von Macht", er versucht aber machttheoretisch zu erklären, wie der Einbau von Lernmöglichkeiten in normative Erwartungen erfolgt und wie eine laufende Institutionalisierung von Erwartungen stattfindet. Die Machtfaktoren können vielfältig sein: „überlegene Körperstärke, Waffenübung, überlegene Schlauheit, ausschließende Verfügung über Mittel der Bedürfnisbefriedigung, Überzahl (im interkollektiven Machtverhältnis), sexueller Charme, Suggestionsund Überredungsgabe, Kenntnis gewisser Tatsachen und Zusammenhänge usw." 6 4 Geiger unterscheidet zwischen aktiven Fällen, kategorischen, interkursiven und integralen Machtverhältnissen. Akzidentelle Machtverhältnisse bestehen zwischen individuell bestimmten Personen und beruhen auf Machtfaktoren, die in den persönlichen Eigenschaften oder Umständen der Partner liegen. Kategorisch ist ein kollektives oder individuelles Machtverhältnis, das zwischen zwei Personen „kraft ihrer Zugehörigkeit zu Gruppen" besteht. Die Funktion von Macht ist nicht ausreichend beschrieben, wenn man sie auf die Verhaltenssteuerung beschränkt. Es geht nicht nur darum, den Machtunterworfenen zur Annahme der Weisungen zu bewegen, sondern auch darum, daß der Machthaber selbst zur Ausübung seiner Macht bewegt werden muß. 65 Macht ist kein bloßes Instrumentieren eines schon vorhandenen Willens. Obwohl beide Partner des Machtverhältnisses handeln, werden Selektionsleistungen dem Machthaber allein zugerechnet. Die Übertragung der Selektionsleistungen ist in einen Kommunikationsprozeß 62

Geiger, Vorstudien, S. 340. 63 Luhmann (§ 2 Fn. 50), S. 16; Geiger, Vorstudien, S. 341. 64 Hierzu und zum folgenden Geiger, Vorstudien, S. 341. 65 Luhmann (§ 2 Fn. 50), S. 21.

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eingebettet, im Rahmen dessen die Motivationen der Partner erst aufgebaut und zugeschrieben werden. Das Machtverhältnis ist ein Kommunikationssystem, das seine eigenen Zurechnungsregeln entwickelt. Aufgrund dieser Regeln werden den Partnern Selektionsleistungen als Handlungen zugerechnet. Die Machtverhältnisse sind nicht einseitig. Der Machthaber steuert das Verhalten des Machtunterworfenen nicht restlos, sondern „nur zu einem gewissen Grad". 66 Der Machtunterworfene wird als jemand erwartet, der in seiner Möglichkeit der Selbstbestimmung beeinflußt wird und dessen Widerstand und selbstvollzogene Wahl in Betracht gezogen werden muß. „Wo der Widerstand des einen sich meldet, hört die Macht des anderen auf, und durch die bloße Voraussicht des Widerstandes wird der Machtgebrauch des Mächtigen gesteuert." Mit Luhmann kann man sagen, daß beide Partner Alternativen sehen, deren Realisierung sie vermeiden wollen. Im Machtverhältnis erfolgt keine hypothetische Kombination von Vermeidungsalternativen beider Seiten. Die Machtausübung wird möglich, wenn die Beziehung der Beteiligten zu ihren jeweiligen Vermeidungsalternativen „unterschiedlich strukturiert wird". 6 7 Die Vermeidungsalternativen der Partner werden nämlich miteinander konditional verknüpft. Macht setzt eine immer schon vorhandene Erwartungslage voraus, nach Maßgabe derer Kombinationen von Vermeidungsalternativen konditional verknüpft werden können. Erst auf diese Weise kann eine „ungünstigere Alternativenkombination" konstruiert werden. 68 Die konditionale Verknüpfung von Alternativenkombinationen hängt nicht ausschließlich vom kontingenten Entscheiden des Machthabers ab. Zur Machtausübung kommt es aber erst, wenn die Möglichkeit und die Bereitschaft dazu für den Machtunterworfenen glaubhaft ist. Macht beruht darauf, daß Möglichkeiten gegeben sind, deren Verwirklichung nicht bloß vermieden, sondern derart vermieden wird, daß Glaubhaftigkeit unangetastet bleibt. In der Machtkommunikation muß die Mitteilung liegen, daß der Machthaber seine Vermeidungsalternative lieber nicht realisieren möchte, aber dazu in der Lage ist. 69 Die konditionale Verknüpfung von Alternativen- und Präferenzenkonstellationen läßt sich standardisieren und institutionalisieren. Sie kann somit von konkreten motivationalen Voraussetzungen sowie von der Notwendigkeit konkreter Einschätzungen der Folgebereitschaft anderer unabhängig werden. Sie läßt sich gegen bestimmte Themen, Personen, Rollen — j e nach Institutionalisierungsgrad — immunisieren. Macht sorgt auf diese Weise dafür, daß ihr die Probe nicht allzuoft abverlangt wird. Ihre Institutionalisierung trägt dazu bei, daß die Macht „ihre eigenen Möglichkeiten nicht realisiert", aber trotzdem glaubhaft bleibt. 70 In solchen Zusammenhängen der Erwartbarkeit des Erwartens von Erwartungen stehen nicht „Mächtige den Ohnmächtigen, sondern Mächtigere den Mindermächtigen gegen66

Hierzu und zum folgenden Geiger, Vorstudien, S. 342. 67 Luhmann (§ 2 Fn. 50), S. 22. 68 Ebd., S. 23. 69 Ebd., S. 23, 50. 70 Ebd., S. 78, 86.

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über". 71 Interkursive Machtverhältnisse sind die Beziehungsnetze eines Gesellschaftsintegrats, die in ihrer „Mannigfaltigkeit und Vielseitigkeit" als ein „Gewebe ungezählter, auf verschiedenen Machtfaktoren beruhender" Alternativenkonstellationen und Präferenzen aufgefaßt werden können. Sie beruhen auf gleitenden Machtgleichgewichten und sekundären Machtfaktoren und sind mit „balancing operations" verbunden. 72 Im Gegensatz dazu bietet der Begriff des „integralen Machtverhältnisses" die Möglichkeit, an einem anderen Punkt, und zwar an der „sozialen Interdependent' anzusetzen.73 Es geht um den „sozialen Druck, den die jeweils anderen auf den einen ausüben", d. h. um ein Machtverhältnis, das nicht zwischen „persönlich benennbaren Partnern", sondern zwischen jedem einzelnen Mitglied des Integrats auf der einen und der Integratsöffentlichkeit auf der anderen Seite besteht. Mit diesem Begriff thematisiert Geiger Macht als symbolisch generalisiertes Kommunikationsmedium. Macht wird hier nicht einem der Partner als Eigenschaft oder als Fähigkeit zugeschrieben. Sie stellt eine „codegesteuerte Kommunikation" dar. 74 Die selektive Kommunikation, die sich aufgrund institutionalisierter Erwartungen in Gesellschaftsintegraten gestaltet, bietet sich als machtgesteuerte Selektionsübertragung dar. „Vorausgesetzt ist nur Kommunikation überhaupt". 75 Situationen mit doppelkontingenter Selektivität werden kommunikativ enttautologisiert und asymmetrisiert. Wenn sich die Kommunikation als Erleben vergangener oder künftiger Machthandlungen einem als Machtunterworfenen behandelten Träger zurechnet, werden die Bedingungen der Selektionsübertragung und die Zuschreibungen der entsprechenden Motive auf der Basis von Vermeidungsalternativen geregelt. Eine Kommunikation, die sich als Machtkommunikation beschreibt, dupliziert die Handlungsmöglichkeiten, indem sie den Handlungsselektionen Vermeidungsalternativen, dem Machthaber ein Wollen und dem Machtunterworfenen ein Nichtwollen zuordnet. Wenn man mit Geiger die soziale Interdependenz in einem Gesellschaftsintegrat als ein integrales Machtverhältnis zwischen jedem einzelnen und der Integratsöffentlichkeit auffaßt, dann impliziert dies, daß jede Orientierung an institutionalisierten Erwartungen, sobald sie sich als Machtkommunikation beschreibt, komplementäre Vermeidungsalternativen, Entscheidungsverhalten und entsprechendes Verteilen von Wollen und Nichtwollen zur Bedingung von Selektionsübertragungen macht. 2. Machtgesteuerte Regelbildung Die Regelsetzung, Regelbefolgung und Regelveränderung in den Kommunikationssystemen hängt nach Geiger von der Institutionalisierung und Verschiebung 71 Geiger, Vorstudien, S. 342. 72 Vgl. RichardM. Emerson, Power-Dependence Relations, in: American Sociological Review 27 (1962), S. 31-41, 35 f. 73 Hierzu und zum folgenden Geiger, Vorstudien, S. 344. 74 Luhmann (§ 2 Fn. 50), S. 15. 75 Ebd., S. 13. 12 Gromitsaris

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von Machtfaktoren in interkursiven Machtverhältnissen ab. Die „Regelung des Machtgebrauchs" beruht auf der Stabilisierung des Zusammenhanges von Steuerungsansprüchen und Widerstandsmöglichkeiten. 76 Die „doppelschichtige Antizipation" von Reaktionen und Erwartungen, von Macht und Machtthemen geht mit der „Doppelstufigkeit der Symbolbildung", d. h. mit der Sicherung der Erwartungsmöglichkeiten auf den zwei unterschiedlichen Ebenen von Macht und Machtthemen einher. 77 Auf diese Weise kann Macht relativ themenunabhängig werden; Machtquellen und Machtschranken können symbolisiert werden, während die jeweiligen Selektionen des Machthabers, seine Erwartungen und Befehle offenbleiben können. Die Regelung des Machtgebrauchs „wirkt nun aber als sekundärer Machtfaktor". 78 Die Stabilisierung von doppelstufiger Antizipation und Symbolbildung kann mit Hilfe von verschiedenen systemabhängigen Semantiken erfolgen, die „Dispositionsbegriffe" wie Kraft, Fähigkeit, Kompetenz, Potenz als symbolisierte Potentiale und angebbare Eigenschaften bereithalten. 79 Sekundäre Machtfaktoren überlagern und modifizieren primäre Machtverhältnisse, indem sie neue Machtspiele entstehen lassen. Jede Regel, die das Machtspiel regelt, wirkt — wenn sie einmal besteht — „mit dem Beharrungsvermögen einer Institution". Die Steuerungschance des Mächtigeren folgt nicht mehr „von Augenblick zu Augenblick den Schwankungen im Gleichgewicht der primären Machtfaktoren". 80 Hat sich einmal eine Regel für den Machtgebrauch herausgebildet, so wird die Machtkommunikation entpersonalisiert. Selektionsbereitschaften werden gebündelt und unterstellt, ein Zusammenspiel von formaler und informaler Macht wird möglich, Machtgebrauch nimmt die Form der Antizipation von Erwartungen oder der stillschweigenden Vorwegverständigung an. Die Schwankungen „im Gleichgewicht der primären Machtfaktoren" werden im Rahmen des Kommunikationssystems, das sich um die „sekundären Machtfaktoren" herumkristallisiert, „innerhalb gewisser Grenzen neutralisiert". 81 Die Etablierung eines Machtspiels entlastet die Sinnverarbeitung von der Thematisierung und kommunikativen Explikation aller implizierten Sinnbezüge. Sie wird zu einem sekundären Machtfaktor, der seinerseits zur Herausbildung gegenläufiger Selektionsmöglichkeiten führen kann. Die Organisationssoziologie hat die Voraussetzungen dieser Machtkommunikation im Zusammenhang mit der informalen Kommunikation in Organisationen herausgearbeitet. Sowohl formale als auch informale Macht stützt sich auf die Unterscheidung und auf den Zusammenhang von primären und sekundären Machtfaktoren. Die Normen für den formalen und/oder informalen Machtgebrauch haben einen verschiedenen „Verbindlichkeitsumfang", je nach konkreter Ausgestaltung des Zusammenspiels von primären und 76 Geiger, Vorstudien, S. 343. 77 Luhmann (§ 2 Fn. 50), S. 36 f. 78 Geiger, Vorstudien, S. 343. 79 Luhmann (§ 2 Fn. 50), S. 32. so Geiger, Vorstudien, S. 343. si Ebd., S. 343.

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sekundären Machtfaktoren. Die „eingespielte Regelmäßigkeit ist ein fait accompli". 8 2 Sie erträgt die Risiken der Macht; sie überbrückt die Diskrepanz zwischen Möglichem und Wirklichem. Sie erzeugt überzogene Erwartungen, die faktisch nicht erfüllt werden können und trotzdem als Machtfaktoren fungieren; oder aber sie nimmt Chancen der Generalisierung nicht wahr, mit dem Nachteil, daß machtgesteuerte Übertragungsmöglichkeiten ungenutzt bleiben. Normen für den Machtgebrauch können demnach inflationär oder deflationär wirken. 83 Ihre Lernfähigkeit (Veränderbarkeit) ist mit den Gleichgewichtsverschiebungen der primären und der sie überlagernden sekundären Machtfaktoren verbunden. Kombinationen von Vermeidungsalternativen, die miteinander konditional verknüpft werden, können kommunikativ als primäre oder sekundäre Machtfaktoren behandelt werden. Sekundäre Machtfaktoren können im Hinblick auf die konditionale Verknüpfung neuer anderer Vermeidungsalternativen die Funktion von primären Machtfaktoren erfüllen. Der Verbindlichkeitsumfang der Normen hängt unter diesem Gesichtspunkt von der Relationierung von Machtfaktoren ab, d. h. von der Beziehung konditional verknüpfter Vermeidungsalternativen zu anderen konditional verknüpften Vermeidungsalternativen. 84 Machtverhältnisse beruhen nicht nur auf Erwartungssicherheit. Die Partner können versuchen, auftretende Erwartungsunsicherheiten zu Machtfaktoren zu machen. Sie können versuchen, die Ungewißheitszonen zu verschieben und von den Umständen zu profitieren, um die Beschaffenheit des Machtspiels zu verändern. Ungewißheit und Unvorhersehbarkeit spielen für die Ausgestaltung von Machtverhältnissen eine wichtige Rolle. Macht ist eine Funktion der Größe der Ungewißheitszonen, die durch die Verhaltensmöglichkeiten der Gegenspieler kontrolliert werden. Diese Ungewißheit ist kein psychischer Tatbestand. Sie muß für das laufende soziale System relevant sein. Sie muß in bezug auf die systemkonstituierenden Problemstellungen, Problemerfahrungen und Problemlösungen relevant sein und bezieht sich auf alle drei Sinndimensionen. Sie kann nämlich eine zeitliche, sachliche oder soziale Ungewißheit sein. 85 Im Rahmen des laufenden sozialen Kommunikationssystems bedingt das Vorhandensein und die Beherrschung einer Ungewißheitszone die Handlungsfähigkeit der Machtpartner. Im Rahmen der sozialen Erwartbarkeit wird sich die Strategie der Gegenspieler so ganz natürlich auf die Manipulation der Unvorhersehbarkeit des eigenen und des fremden Verhaltens ausrichten. Die Gegenspieler werden bemüht sein, die strukturellen Bedingungen und die ihr Machtverhältnis lenkenden sekundären Machtfaktoren jeweils zu ihren Gunsten zu verändern. Dies findet auf eine Weise statt, 82 Ebd., S. 343. 83 Luhmann (§ 2 Fn. 50), S. 81 ff., 89. 84 Geiger, Vorstudien, S. 344. 85 Eine interessante Studie zur Machtgebundenheit von Zeitgebrauch bei Barry Schwartz , Waiting, Exchange, and Power: The Distribution of Time in Social Systems, in: American Journal of Sociology, 79 (1974), S. 841-870, 845, 853. „Overscheduling" ist eine der Techniken des Immunisierens gegen Zeitverluste. 12*

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die den faktischen Umgang mit den sozial fixierten Erwartungen beeinflußt und die Regelbefolgung verändert. Erwartbarkeit wird selbst zum Machtfaktor. Man ist bemüht, den eigenen Freiheits- und Willkürspielraum so weit wie möglich auszudehnen, um die Palette seiner potentiellen Verhaltensweisen so offen wie möglich zu halten. Gleichzeitig versucht man, den Spielraum des Gegenspielers einzuschränken und ihn in solche Zwänge einzuschließen, daß dessen Verhalten so voraussehbar wie möglich gemacht wird. 8 6 Soziale Systeme legen durch die Bildung von Erwartungsstrukturen fest, in welchen Bereichen und hinsichtlich welcher Ungewißheitsquellen sich Machtbeziehungen entwickeln können. In der Wissenschaft scheinen Konkurrenz, Redundanz (multiple discovery) und Innovation zusammenzuhängen.87 Wissenschaftler müssen somit mit den damit verbundenen Machfaktoren umgehen lernen und besondere Fähigkeiten dafür entwikkeln. Sie müssen vor allem mit der Tatsache fertig werden, daß sie die ihnen abverlangte Originalität meistens nicht an den Tag legen können. 88 Alle Handlungsprogrammierung geht mit der Schaffung von Ungewißheitszonen einher, um die herum Machtverhältnisse entstehen, da die Individuen oder Gruppen im Rahmen des sozialen Systems versuchen, diese Ungewißheitszonen unter ihre Kontrolle zu bringen. Die Macht- und Handlungsfähigkeit der Gegenspieler scheint von der strukturbedingten Entstehung von Ungewißheitszonen im sozialen System abhängig zu sein. Die „certitude morale" von Descartes hat also hier keinen Platz. Sie kann Ungewißheit nicht verschwinden lassen.89 Unter Bedingungen von Erwartungsunsicherheit besitzt Macht derjenige, der die strukturabhängigen Ungewißheitszonen und Ungewißheitsquellen kontrolliert. Diese Macht ist eine Funktion der Wichtigkeit und Relevanz der beherrschten Ungewißheitszone im Vergleich mit all den anderen Ungewißheitszonen, die ebenfalls die Anschlußselektivität des sozialen Systems bedingen. Je entscheidender die kontrollierte Ungewißheitszone für die relevanten Selektionsleistungen auf dem Emergenzniveau des sozialen Systems ist, desto mehr Macht ist mit ihr verbunden. Dies deutet daraufhin, daß die Regelsetzung und Regelbefolgung in sozialen Systemen in engem Zusammenhang mit Ungewißheitszonen und Ungewißheitsquellen steht. Die Reglementierung von Kommunikationsnetzen und Kommunikationsflüssen ist stets im Wandel begriffen, weil sie mit dem Wettbewerb um die Beherrschung von Ungewißheitsquellen zusammenhängt. Informationsabhängige Umwelterfahrung sowie entscheidungsbezogene Informationsverarbeitung im 86 Emerson (Fn. 72), S. 35 ff. unterscheidet folgende „balancing operations": withdrawal, extension of power network, coalition formation, emergence of status. 87 Warren Ο. Hagstrom, Competition in Science, in: American Sociological Review, 39 (1974), S. 1-18, 15 f. 88 Hierzu: Robert K. Merton , Priorities in Scientific Discovery: A Chapter in the Sociology of Science, in: American Sociological Review 22 (1957), S. 635-659, 654 f. Vgl. femer Daniel Sullivan, Competition in Bio-Medical Science: Extent, Structure, and Consequences, in: Sociology of Education 48 (1975), S. 223-241. 89 Vgl. Franz-Xaver Kaufmann, Sicherheit als soziologisches und sozialpolitisches Problem. Untersuchungen zu einer Wertidee hochdifferenzierter Gesellschaften, Stuttgart 1970, S. 93, Fn. 68.

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allgemeinen sind für alle Systeme immer mit Unsicherheit verbunden. 90 Regeln sind nicht nur nicht imstande, die Ungewißheitsquellen auszuschalten. Regeln und Regelbefolgungen schaffen sogar neue Ungewißheitszonen hinzu, die sofort von denen ausgenutzt werden können, deren Spielraum sie einschränken und deren Verhaltensweisen sie bestimmen sollten. Die Erwartungsbildung und die Bündelung von Erwartungen darf nicht als der deus ex machina angesehen werden, der die Ordnung des jeweils aktuellen sozialen Systems zusammenhält. Erwartungsbildung heißt zugleich Erwartungsunsicherheit. Erwartungsstrukturen bilden einerseits Zwänge, die sich zu gegebener Zeit allen Systemmitgliedern auferlegen. Andererseits sind sie kontingent, d. h. sie sind nicht notwendig und auch anders möglich. Sie sind nur Produkt früherer Machtverhältnisse und Verhandlungsbeziehungen. In gewisser Weise stellen sie die vorübergehende und kontingente Ijistitutionalisierung der zu einer gegebenen Zeit erreichten Machtgleichgewichte dar. Ausgehend von Helmut Schelskys politisch funktionalem Ansatz können wir die machtgesteuerte Erwartungsbildung anders beleuchten. Schelsky geht davon aus, daß Menschen und soziale Systeme selbst „zu Prozessen der Willensbildung und damit zur Bestimmung von Endzielen ihres Handelns fähig sind". 91 Die machtgesteuerte Erwartungsbildung kann in die Regelkreise von Handlungsmotivation und institutioneller Steuerung eingebettet werden. Sie kann nämlich als ein Kreisprozeß „solcher wechselwirkender Motivations- und Institutionssysteme" gedacht werden. Der einzelne handelt „nach seinen Vorstellungen, Antrieben, Zielen, also nach seinen Motivationen auf die soziale Welt hin, in sich hinein, schafft und verändert sie (Wirkungsweise: Handlungsmotivation)". Andererseits „steuern die Institutionen das Verhalten der Menschen, determinieren, sanktionieren es (Wirkungsweise: institutionell gesellschaftliche Steuerung)". 92 Machtverluste und Machtgewinne können jedenfalls nur in Institutionen stattfinden. 93 Spricht man in einem solchen Kontext von einer Rolle, dann bekommt dies nicht mehr die Bedeutung von Homogenität und Berechenbarkeit der Entscheidungen und Verhaltensstrategien, auf die dieser Begriff Bezug nimmt. Es handelt sich vielmehr um das Vorhandensein und um die Verbindung von einer Gesamtheit möglicher Verhaltensstrategien innerhalb eines gegebenen Regelsystems. Eine 90 Delbert M. Nebeker, Situational Favorability and Perceived Environmental Uncertainty: An Integrative Approach, in: Administrative Science Quarterly, 20 (1975), S. 281 294, 282. 91 Schelsky (§ 2 Fn. 2), S. 103. 92 Ebd., S. 77 f. Vgl. hierzu Michael Bock, Recht ohne Maß. Die Bedeutung der Verrechtlichung für Person und Gemeinschaft, Berlin 1988, S. 122 ff., 134. Die Kritik Bocks an Luhmann beruht zum Teil auf der Auffassung, die Systemtheorie stelle sich „außerhalb" ihrer Kultur, sie finde sie damit schon „als Objekt" ihrer Erkenntnis vor (S. 140, Fn. 34). Demgegenüber betont Luhmann, die Systemtheorie komme in ihrem Gegenstandsbereich selbst vor (s. etwa Luhmann (§ 1 Fn. 27), S. 25 f.). 93 Zur Untersuchung dieses Zusammenhangs aus der Sicht eines um Machtzuwachs ringenden Individuums ("strategies for regaining controll") s. James S. Coleman , Loss of Power, in: American Sociological Review, 38 (1973), S. 1-17, 8 f.

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juristische Berufsrolle erscheint als provisorisch institutionalisierter Gleichgewichtszustand zwischen einerseits einer vorherrschenden Mehrheitsstrategie und andererseits mehreren Minderheitsstrategien. Der Machtgleichgewichtszustand zwischen Mehrheits- und Minderheitsstrategien ist durch Schwellenwerte bestimmt, deren Überschreitung erst eine Umkehrung des Gleichgewichtszustandes mit sich bringt und deren Überschreitungsmöglichkeiten in der Berufsrolle oder im Kommunikationssystem mit institutionalisiert sind. Eine juristische Berufsrolle kann sich als eine Verteilung der insgesamt zu gegebener Zeit möglichen Strategien an verschiedene Akteure fassen lassen, innerhalb derer jedoch auch andere Rollenausführungen und abweichende Minderheitsstrategien erprobt werden können. 94 Die Rolle stellt eine Komplementarität des Verhaltens zu verschiedenen Akteuren her. Dies kann jedoch die in ihr koexistenten Verhaltensstrategien nicht divergieren und vereinheitlichen. Die Überschreitung des in der Rolle institutionalisierten Schwellenwertes kann die Ersetzung der alten durch eine neue vorherrschende Strategie herbeiführen. Die Experimentier-, Erfindungsund Entdeckungsmöglichkeiten, über die die Rolleninhaber verfügen, schaffen neue Handlungsgelegenheiten, die in Mehrheits- oder Minderheitsstrategien umgesetzt werden. So bleiben die verschiedenen möglichen Strategien innerhalb einer Rolle ständig einer potentiellen Umstrukturierung ausgesetzt. Die Stabilität einer Verhaltensordnung hängt demnach von Kreisprozessen wechselwirkender Handlungsmotivationen und institutioneller Steuerung in Regelsystemen ab. Die funktionalen Anforderungen und Erwartungsstrukturen des Systems stellen die Grundlage für die Entstehung und Institutionalisierung von dominierenden Verhaltensstrategien seitens verschiedener Rolleninhaber dar. 95 Die Funktionsanforderungen sind weder als Denknotwendigkeiten im Sinne Kants noch als Strukturnotwendigkeiten im Sinne Simmeis noch als Funktionsnotwendigkeiten im Sinne Parsons zu verstehen. 96 Wir gehen nicht davon aus, daß „certain functional prerequisites must be met". 97 Funktionen und Strukturen sind mit Unsicherheit verbunden und kommunikativ als Kontingenz erfahrbar. So versteht man besser, warum jede Veränderung von institutionalisierten und mindestens zum Teil kodifizierten (formalisierten) Erwartungsstrukturen Schwierigkeiten mit sich bringt. Veränderung bedeutet nicht bloß Anpassung der Handelnden an neue Anforderungen, sondern Umstrukturierung von Kommunikationssystemen. Man versteht auch besser, woran Planungsmodelle und gesetzliche Entscheidungsprogramme 94 Grozier / Friedberg, S. 71. 95 Vgl. Keni'chi Tominaga, Growth, Development, and Structural Change of the Social System, in: Jan J. Loubser u. a. (Hrsg.), Essays in Honor of Talcott Parsons, Bd. 2, New York 1976, S. 681 -712, 687: „Functional imperatives do not work for the maintenance of the existing structure, but for the maintenance of the system.". 96 Hierzu: George K. Zollschan, Concerning the Fourfold Root of the Principle of „Sufficient Reason" in Sociological Explanation, in: George K. Zollschan / Walter Hirsch (Hrsg.), Social Change: Explorations, Diagnoses, and Conjectures, New York / London / Sidney/Toronto 1976, S. 220-269, 241. 97 Harold J. Bershady, Ideology and Social Knowledge, Oxford 1973, S. 117.

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scheitern. Sie können keine neuen Ungewißheitszonen entstehen lassen. Zudem lassen sie die Tatsache unberücksichtigt, daß Planungsprozesse meistens nachweislich die Gestalt eines „bottom-up process" annehmen.98 Dies ist ein Umstand, dem Geiger mit seiner rückwirkenden subsistenten Norm Rechnung trägt. Die eigentliche Strategieentwicklung erfolgt kommunikativ und pragmatisch. Sie ist kein Plan und kein Programm. Sie ist Struktur und Prozeß zugleich und bietet sich als das Ergebnis der Wechselwirkung von „maladaptiv defences" und Innovation. 99 Es läuft im Grunde darauf hinaus, daß entscheidende Ungewißheitszonen und damit ein Großteil der Machtfaktoren und Machtressourcen umverteilt werden, die die Handelnden im Rahmen eines sozialen Systems mobilisieren können. Anstatt sich auf die Analyse einer Art von „systemischer List" zu beschränken, mit der das soziale System Zufall inkorporiert, Abweichungen verwendet, toleriert und sogar provoziert, um seine Reproduktion zu sichern, kann man systemtheoretisch zusätzlich versuchen, Begriffe wie Erwartungsstruktur, Prozeß, Rolle, Person, Norm und Regel weiter im Hinblick auf kontingente Handlungsbezogenheit aufzulösen. Mit Hilfe der Machtfaktoren, die den Gegenspielern zur Verfügung stehen, kann man Phänomene der Verhandlungen und der gegenseitigen Abhängigkeitsgestaltung berücksichtigen. Es handelt sich um konkrete, jedesmal neu zu entdeckende Machtstrategien, die im Rahmen von sozialen Systemen stattfinden. Die formalisierten sowie die informalen Verhaltenserwartungen wirken nicht direkt. Die Geltung und die Art des von den Erwartungsstrukturen ausgehenden Druckes scheinen indirekt zu sein. Die formalen Erwartungsstrukturen und die dazugehörigen informalen Erwartungszusammenhänge sind provisorische Kodifizierungen und Institutionalisierungen eines Gleichgewichtszustandes zwischen vorhandenden Machtstrategien. Diese Institutionalisierung und zum Teil Formalisierung von Spielregeln hat etwas viel Unbestimmteres, Verschwommeneres und Indirektes zum Inhalt als lediglich einfache Verhaltensregeln, die bestimmte Handlungen vorschreiben oder verbieten. Das Wesentliche der Regelsysteme liegt anderswo. Die Erwartungsstrukturen beziehen sich nicht auf konkrete Verhaltensweisen. Es werden keine konkreten Verhaltensweisen, sondern symbolisch generalisierte Erwartungen, Spieltypen und Verhaltensstrategien institutionalisiert, die wiederum bestimmte Verhaltenserwartungen, bestimmte Strategien, bestimmte Ungewißheitszonen und Machtfaktoren eher erwartungsfähig machen als andere. Die Gesetzlichkeit der Spielregeln ist eine Categoriale Unbestimmtheit". Die „Lücken", in denen die Verhaltensabläufe determinationsfrei sind, sind in den Regelsystemen mitinstitutionalisiert. Die Bestimmtheit der Regelsysteme ist eine relative und „offene Determination", die keinen Anspruch auf eindeutige und gesetzliche Formulierung erheben kann. Wer spielt muß Ambivalenz und 98 William K. Hall , Strategie planning models: are top managers really finding them useful?, in: Journal of Business Policy, 3 (1973), S. 33-42, 33, 35. 99 F. E. Emery / E. L. Trist , Towards a Social Ecology. Contextual Appreciation of the Future in the Present, London/New York 1973, S. 57 ff.

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Unbestimmtheit ertragen können. Die Spielgesetzlichkeit in den Regelsystemen impliziert Lücken läßt Sprünge zu und eröffnet Raum für immer präsent gehaltene Zufälligkeit. 100 Das Spiel ist agon und alea zugleich. 101 Es erfordert Regelmäßigkeit, fachliches Können und Kontingenzausschaltung einerseits und die Willkür des Zufalls andererseits. Beim aleatorischen Geschehen werden die Erwartungen zu Ereignissen. Die Erwartung rechnet mit dem geringsten Hinweis, „mit der geringsten äußeren Abweichung", in der sie ein „verheißendes oder ein warnendes Zeichen" sehen könnte. Sie verläßt sich auf alles, nur nicht auf sich selbst. Agon und alea sind in den Regelsystemen gemeinsam wirksam. 102 Kontingenz reguliert Kontingenz. Die „große Kontingenz der Dressur impliziert die lebenslange Kontingenz der je gespielten Sprachspiele". 103 Spiele werden als Kontingenzformeln erlernt. Wir haben es mit dem Prozeß von Spezifikationen, Generalisierungen und Respezifikationen von Erwartungszusammenhängen zu tun. 1 0 4 Aus dem Vorhandensein von bestimmten Verhaltensregeln in einem sozialen System ist noch kein Determinismus ableitbar. Die Verhaltenslasten, mit denen sich die Selbstreproduktion des Systems im Alltag konfrontiert sieht, werden in sekundären oder tertiären Machtspielen verteilt, wo es um die Mobilisierbarkeit von Machtressourcen und die Wahrnehmung von Einsatzgelegenheiten, kurz um das Aushandeln von Inklusionsmodalitäten geht. Diese Iterierbarkeit der Entstehung von Bedürfnisstrukturen und institutionellen Bedürfniserfüllungen macht es sehr schwierig, von den etablierten Differenzen, die die Kommunikation strukturieren, Distanz zu nehmen. Man müßte gegen mumifizierte Machtkonstellationen, gegen „frozen loyalties", „established commitments" und „definitions of the situation" zu Felde ziehen. 105 Jede sozial strukturierte Situation beinhaltet somit Freiräume, deren sich die Handelnden in sekundär etablierten Regelsystemen bemächtigen wollen. Die Erwartungsstrukturen können auf diese Weise als eine Gesamtheit von Folgespielen verstanden werden. Die Verhaltensweisen der Akteure sind keine direkte Reaktion auf die primär institutionalisierten Erwartungen. Sie sind vielmehr Strategien der Teilnahme am Prozeß von Spezifikationen, Generalisierungen und Respezifikationen von Erwartungen, der sich im Wettbewerb um die Kontrolle von Ungewißheitsquellen gestaltet.

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Ingeborg Heidemann, Der Begriff des Spiels und das ästhetische Weltbild in der Philosophie der Gegenwart, Berlin 1968, S. 61, 64 f. 101 Zum Spielbegriff: Gustav Bally, Vom Spielraum der Freiheit. Die Bedeutung des Spiels bei Tier und Mensch, Basel / Stuttgart 1966, S. 53-60. 102 Roger Caillois, Die Spiele und die Menschen. Maske und Rausch, Stuttgart 1960, S. 21 ff., 25;. 103 Heinrich Kutzner, Erfahrung und Begriff des Spiels. Eine Religions wissenschaftliche, metapsychologische und gesellschaftskritische Untersuchung, Bonn 1975, S. 35, 193. 104 Luhmann (§ 1 Fn. 27), S. 449. los Theodore Lowi, Toward Functionalism in Political Science: The Case of Innovation in Party Systems, in: The American Political Science Review, 57 (1963), S. 570 - 583,575.

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Die eigentliche Verhaltensorientierung erfolgt in Regelsystemen aufgrund von Strategieentwicklungen, die in keinem Gesetzbuch und in keinem Gerichtsurteil festgelegt sind. Das Drehbuch der „feindlichen Übernahme4' eines Unternehmens kristallisierte sich in der Praxis heraus und wurde als solches erst nach den Übernahmeschlachten, die in den letzten Jahren in den Vereinigten Staaten stattgefunden haben, thematisiert. Die Problematisierung der Kommunikation führte zur Festlegung der normativen und kognitiven Erwartungszusammenhänge. Erst im nachhinhein erfolgte die Typisierung der Erwartungen zu einer Strategie, die typischerweise so aussieht: Ein Investor bietet den Aktionären eines Unternehmens an, ihre Aktien zu einem Preis weit über dem aktuellen Börsenkurs zu kaufen. Gehen die Aktionäre darauf ein, zahlt er sie mit „Brückenkrediten" befreundeter Banken aus. Sobald der Investor die Kontrollmehrheit erlangt hat, läßt er das eben erworbene Unternehmen hoch verzinste Risikoanleihen emitieren, mit deren Erlös die Bankenkredite getilgt werden. 106 Hoch verzinsliche Risikoanleihen werden als Junk Bonds bezeichnet, weil sie das hohe Risiko bergen, einmal „Schrott" zu werden, wenn Zins und Tilgung auf sie nicht mehr geleistet werden können. Unternehmen, die nach traditionellen Bonitäts-Maßstäben keine Anleihe hätten auflegen können, erschließen sich eine zusätzliche Finanzierungsquelle durch Junk Bonds. Durch kleine Stückelung der Anleihen wird es möglich, große Risiken in kleine Portionen zu zerlegen, so daß die einzelnen Investoren von jeder Risiko-Emmission nur einen kleinen Betrag übernehmen. Diese Finanzierungstechnik kam Anfang der 80er Jahre auf und rüttelte Amerikas Wirtschaft durcheinander. Sie hat nicht nur neue Spiele und neue Spielregeln mit sich gebracht, sie beeinflußte außerdem die Verhaltensorientierung, die Beobachtung von Operationen und Beobachtungen in den schon vorhandenen Regelsystemen. Viele Manager amerikanischer Aktiengesellschaften mußten in der Furcht leben lernen, daß ein Investor die Kontrollmehrheit über ihr Unternehmen gewinnen könnte. Formale und informale Kommunikation wurden vor dem Hintergrund neuer Erwartungslagen neu strukturiert. Das jeder Aktie gewährte Stimmrecht wurde „über Nacht von einem Papiertiger zu einem Tiger". Vorstandsvorsitzende, die sich einen „selbstherrlichen Führungsstil" und die „Aktionäre wie Stückvieh" zu behandeln angewöhnt haben, sehen sich auf einmal genötigt, die Erträge nicht nur zu steigern, sondern auch tatsächlich an die Aktionäre zu verteilen. 107 Demnach ändern sich die Kommunikationsmöglichkeiten in diesen sozialen Systemen nur unter der Voraussetzung, daß eine Interdependenz von Interdependenzen entsteht, wenn nämlich die Relationierung von Redundanz, Variation und selektiver Retention einerseits als Kommunikationsprozeß und andererseits als psychische Sinnverarbeitung stattfindet. 108 In der Europäischen Gemeinschaft stoßen 106 Benedikt F ehr, Ein Lehrstück von Rendite und Risiko. Der Markt für Junk Bonds, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 19.9.1989, Nr. 217, S. 17. 107 Ebd. los Hierzu: Michael Fullan / Jan J. Loubser, Education and Adaptive Capacity, in: Sociology of Education 45 (1972), S. 271-287, 274 f. „Adaptive functioning" verlange

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nun Übernahmen nach angelsächsischer Vorstellung auf Schranken, die im Gesellschaftsrecht angelegt sind. Das Drehbuch einer feindlichen Übernahme läßt sich hier nicht anwenden, denn die Machtergreifung in einer übernommenen Gesellschaft in Deutschland hängt von anderen Machtfaktoren ab. Im deutschen Recht ist der Grundsatz der Kapitalerhöhung ausgeprägt. Zudem hat ein deutscher Aktiengesellschaftsvorstand in erster Linie das Wohl seiner Gesellschaft zu wahren, während nach angelsächsischer Vorstellung das Wohl der Aktionäre der Maßstab ist. Der Entwurf für eine 13. Richtlinie zum Gesellschaftsrecht, den die Europäische Kommission Ende 1988 unterbreitet hat, wird auf dem europäischen Kontinent keine angelsächsischen Verhältnisse und keine einheitlichen Regeln schaffen können. Freundliche oder feindliche, auf jeden Fall aber öffentliche, d. h. an zahlreiche Aktionäre gerichtete Übernahmeangebote sind nur da ein Thema, wo Unternehmen ihr Kapital in hohem Maße über die Börse und nicht in Gestalt von Darlehen oder Anleihen über die Hausbanken beschaffen. Damit einher geht noch ein psychologischer Faktor, der mit der Finanzierungsweise zusammenhängt. Wer hochfungible Papiere wie Aktien kauft, entwickelt geringere emotionale Beziehungen zu dem Unternehmen, in das er investiert als jemand, der einen Kredit gibt, um dessen Wohlergehen er bangen muß. Die Übernahmerichtlinie wird auf Regelsysteme stoßen, die mit anderen Ungewißheitszonen und Machtfaktoren verbunden sind, als das in Amerika der Fall ist. Wer im Rahmen dieser Regelsysteme Raum für öffentliche Übernahmen schaffen will, der braucht Strategieüberlegungen, die von anderen Programmen und Schritten ausgehen. 3. Lernfähigkeit

in Regelsystemen

Die Inhaber der juristischen Berufsrollen sind nicht in passiver und beschränkter Weise an ihre Routine gebunden. Wenn sie Interessen und Gewinnchancen an einer Veränderung der etablierten Beschaffenheit der angebotenen Verhaltensmöglichkeiten finden können, sind sie bereit, Gewohnheiten aufzugeben. Veränderung eines Kommunikationssystems, in dem das Zusammenspiel verschiedener juristischer Berufsrollen bedingt wird, bedeutet Veränderung der Handlungsmöglichkeiten und der Machtquellen, über welche die Entscheidungsträger verfügen. Jede Veränderung bringt die Entstehung von neuen Ungewißheitszonen mit sich, die kontrolliert werden müssen. Sie beeinflußt die Prozesse der Informationsverarbeitung und Informationsgewinnung und stellt die Unmöglichkeit, überhaupt unverfälschte Informationen im Rahmen des sich verändernden Macht- und Einflußspiels zu bekommen, unter neue Voraussetzungen. Die gegenseitige Anpassung der Gegenspieler in den asymmetrischen Spielgebilden des Rechts vollzieht sich im jeweils laufenden Handlungssystem und im Wettbewerb um die Kontrolle „flexibility" und „openness to new experiences" sowie „the ability to pursue diversity and tolerate ambiguity". Es handle sich um Variation und selektive Stabilisierung in psychischen und sozialen Systemen.

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von Ungewißheitsquellen und Machtfàktoren. Wenn man juristische Entscheidungen als Produkte von arbeitsteiligen Prozessen des Aushandelns im Sinne Schelskys ansieht, dann muß man die gegenseitige Anpassung der Gegenspieler machttheoretisch nicht als einen blinden, sondern als einen institutionell zum Teil vorstrukturierten Prozeß auffassen, der dazu führt, von den bestehenden Machtgleichgewichten oder -Ungleichgewichten zu profitieren, um die eigenen Gewinnchancen zu erhöhen. Es gibt eine Vielfalt von normativen Erwartungsstrukturen. Einige davon sind sprachlich fixiert und als materiell-rechtliche oder verfahrensrechtliche Rechtssätze formuliert. In den juristischen Handlungssystemen, in denen verschiedene Entscheidungsträger arbeitsteilig juristische Entscheidungen produzieren, haben die juristischen Berufsrollen die Möglichkeit, eigene Strategien zu entwickeln. Gesetze und Verfahrensregeln werden in verschiedener Weise interpretiert, je nachdem, welche Machtspiele in den juristischen Entscheidungsund Handlungssystemen stattfinden. Veränderung dieser Spiele bedeutet zugleich mittelbare Veränderung des Inhalts der anzuwendenden Rechtssätze. Helmut Schlesky hat in seiner Kritik der Richter-Jurisprudenz auf die Mannigfaltigkeit sowie auf die Gegensätzlichkeit der Zielsetzungen, Strategien und Taktiken, die die verschiedenen juristischen Berufe kennzeichnen, hingewiesen. Diese Divergenz in Strategie und Taktik beschränkt sich nicht auf die klassischen Rollen des Richters und des Staatsanwalts.109 In jeder juristischen Berufsbranche gibt es „Binnendifferenzierungen". Die Anwaltschaft ist kein so homogener Beruf „wie die schwarze Robe suggeriert". 110 Selbst in der freiberuflichen Advokatur gibt es große Unterschiede, die verschiedene interkursive Machtverhältnisse, Rollenausführungen und Strategien implizieren. Ein Strafverteidiger etwa, der mit der Vertretung von Gesetzesbrechern sein Geld verdient, hat mit einem Wirtschaftsanwalt „nahezu nichts gemein". Die Bedeutung des Rechtsstabes ist für beide sehr unterschiedlich. Für den Mann des Strafrechts ist der Auftritt vor Gericht häufig, während der Mann des Wirtschaftsrechts „gerichtliche Auftritte nahezu für rufschädigend hält". In einem zusammenwachsenden Europa, das die Wettbewerbssituation der Anwälte verändert, ist die überörtliche Sozietät nicht gleichermaßen für alle Anwälte ein Thema. Den Strafverteidigern kann sie gleichgültig sein, weil sie vor jedem Strafgericht ihre Arbeit tun können. Bei den Wirtschaftsrechtlern ist es nicht so. Sie müssen nicht für fälschlich Verdächtigte tätig werden. Sie spielen ein anderes Spiel und müssen ihre Orientierungsleistungen im Rahmen anderer Regelsysteme erbringen. Sie müssen für transnationale Wirtschaftsunternehmen tätig werden, die — wie jede Fusion zeigt—„Beratungsbedarf in einer Größenordnung und mit einer Häufigkeit haben, der weder von einem Kopf noch rein lokal zu bewältigen ist". Neue Anforderungen, die sich in höchst unsicheren Erwartungslagen einbetten und neue Regelsysteme entstehen lassen, führen Verschiebungen von sekundären Machtfaktoren herbei. Erwar109 Schelsky (§ 2 Fn. 2), S. 60 f. 1 io Hier und zum folgenden Fernando Wassner, Modernes Design für die Anwaltsrobe, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 14.8.1989, Nr. 186, S. 9.

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tungsunsicherheit auf der Ebene der Spielregeln wirkt sich negativ auf die Orientierungsfähigkeit der Akteure aus und stellt sich sogar als psychisches Problem dar: Der Streit um die überörtliche Sozietät kann dann „bezeichnend für die emotionale Krise der Anwaltschaft" gelten. Neue Spiele verlangen den Spielern neue Selbstdarstellungsbilder, neue Berufsideologie, neue Motivationsstrukturen ab. Es handelt sich um Erfahrungsregeln, die erst in der Praxis entstehen, an Institutionalisierungsgrad gewinnen und die Berufssymbole verändern. Wer sich rechtzeitig von überkommenen Symbolen befreit und sich den neuen Zurechnungsregeln erschließt, der kann seine Selbstsozialisation schneller vornehmen. Informationsgewinnung und Informationsverarbeitung können als Symbole fungieren, die den Strukturgebrauch zwar symbolisieren, aber nicht aktualisieren. Die Speicherung und Benutzung von Informationen können zwar als Symbole für Kompetenz und richtiges Entscheiden fungieren, die Entscheidungen brauchen jedoch nicht auf den gesammelten Informationen zu beruhen. Information und Entscheidung werden in der Praxis abgekoppelt, obwohl Entscheidungstheorien darauf bestehen, Entscheidungsverhalten von informationell zugänglichen Alternativen abhängig zu machen. 111 Informationsrituale dienen zur Legitimation von Entscheidungen und symbolisieren ihre Rationalität. Neuen Funktionsanforderungen kommt auf diese Weise kein Informationswert zu. Da man Informationen vor allem zum Zweck der Entscheidungslegitimation sammelt, können neue Umweltanforderungen ignoriert werden. Die Umwelt wird aufgrund von etablierten Metaphern zugänglich. 112 Man kann wohl nicht mehr davon ausgehen, daß Anwälte „eben doch ein wenig Staatsverwaltung" sind, die dort zu sitzen haben, wo auch der „übrige Staat" ist. Die objektiv gültigen Entstehungszusammenhänge, die mit der Berufsrolle des Wirtschaftsanwalts verbunden sind, lassen nahezu entgegengesetzte Strategieentwicklungen und Taktiken zu. Wer vom Leitbild der staatsverwaltenden Honoratioren ausgeht, der sucht seine Mandanten nicht auf, Honoratioren werden von ihrer Klientel aufgesucht. Anwälte, die es wahrhaben können, daß sie Dienstleister auf der Suche nach Klienten sind, werden von den Machtverschiebungen in den Regelssystemen profitieren können, anstatt sich gegen den Verlust des alten Leitbildes zu streuben. Rollenausführungen verändern die Rolle. Dies alles deutet darauf hin, daß eine Vielfalt von sich entwickelnden Regelsystemen besteht, im Rahmen derer die Rechtssätze unter sich stets verschiebenden Voraussetzungen des Erlebens und Handelns zum Auslegungs- und Anwendungsgegenstand werden. In Großkanzleien, die als Unternehmen mit beschränkter Haftung organisiert sind, und in denen neben Rechtsanwälten auch Wirtschaftsprüfer, Architekten und Sachverständige für Immobilien vertreten sind, wird der Anwaltsberuf anders ausgeübt als in einer vom alten Leitbild inspirierten Anwaltskanzlei. Das heißt, daß anwaltliche Rechtsauslegung und 111 Hierzu: Martha S. Feldman I James G. March, Information in Organizations as a Signal and Symbol, in: Administrative Science Quarterly, 26 (1981), S. 171-186, 178. 1 !2 im Sinne von Peter K. Manning , Metaphors of the Field: Varieties of Organizational Discource, in: Administrative Science Quarterly 24 (1979), S. 660-671.

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Rechtsanwendung einen arbeitsteiligen Entscheidungsprozeß darstellt, der sehr oft außergerichtlich stattfindet und von traditionsreichen Leitbildern sowie von ehrwürdigen, aber wirklichkeitsfernen Traditionen frei ist. Die Arbeitsteilung in Sozietäten hängt wiederum von der Wettbewerbssituation der Anwälte und von den Machtfaktoren ab, die die Möglichkeit eines Zusammenschlusses von Rechtsanwälten mit Berufsfremden wie Wirtschaftsprüfern oder Immobilienmaklern und -sachverständigen eröffnen und interessant machen. Veränderung der juristischen Handlungssysteme bedeutet für die jeweils beteiligten Entscheidungsträger das Erlernen, d. h. die Entdeckung, ja sogar die Schöpfung und den Erwerb neuer Orientierungsfähigkeiten, Beziehungsmodelle und Denkweisen. Veränderungen erfolgen nicht dadurch, daß sich die Entscheidungsträger zu einer neuen Verhaltensstruktur, zu einer neuen Technik der Informationsbeschaffung und Informationsverarbeitung entschließen. Vielmehr beruhen sie darauf, daß Aktionen und Reaktionen, Verhandlungen und Zusammenarbeit im Wettbewerb um die Beherrschung von Problembereichen und um die Problemdiagnose neue Ungewißheitsquellen bilden und die Möglichkeiten, diese zu kontrollieren, jedesmal bis zu einem gewissen Grad neu verteilen. In der Berufspraxis werden die Fähigkeiten entdeckt, erfunden und erworben, die die Reproduktion und Veränderung von Kommunikationsformen und Denkweisen herbeiführen. In der juristischen Berufspraxis werden die Spielmodelle erlernt, die samt ihren affektiven, kognitiven und relationellen Komponenten den Umgang mit Gesetzen und Menschen regeln. Diese Spiele stellen eine soziale Praxis der Etablierung und Veränderung von Machtgleichgewichten dar. Sie bringen eine Strukturierung der juristischen Handlungsfelder zum Ausdruck, die nicht nur die berufsspezifischen Methoden der juristischen Argumentation, sondern auch die Problembezogenheit und die Selbstregulierung der Handlungs- und Entscheidungssysteme beeinflußt. Berufsrollen fungieren als „reflexive Rollen". 113 Problematisch ist hier nicht das individuelle Lernen von im Gebrauch stehenden Spielen. Es handelt sich vielmehr um die Erarbeitung von neuen Verhaltensmodellen, die von einer Vielfalt verschiedener Entscheidungsträger gelernt werden müssen. Dies geschieht dadurch, daß man mit Interessen und Machtverhältnissen ebenso wie mit affektiven Schutzmechanismen und intellektuellen Modellen brechen muß. Die Übernahme neuer Spiele und Verhaltensmuster bedeutet, daß man sich in die Lage versetzen muß, Probleme wahrzunehmen, die man im Rahmen der etablierten Spiele nicht handhaben kann. Die institutionalisierten Verhaltensmuster legen den beteiligten juristischen Berufsrollen eine bestimmte Handlungsrationalität und bestimmte Handlungsinstrumente auf und eliminieren andere. Diese Fähigkeiten lassen sich weder während der universitären juristischen Ausbildung noch 113

Alessandro Pizzorno, L'incomplétude des systèmes, in: Connexions 9 (1974), S. 33 - 64 und 10 (1974), S. 5 - 26,18,20: „le phénomène à définir est celui de l'augmentation de la part de l'expérience accumulée sous forme transmissible publiquement par rapport à la part d'expérience acquise directement pendant le travail et donc non transmissible d'une facon généralisée.".

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im Referendardienst erwerben. Sie ermöglichen es, bestimmte Probleme zu lösen, bilden aber zugleich aus eben diesem Grund ein Hemmnis gegen die innovative Ausgestaltung der jeweiligen juristischen Berufsausübung. Man lernt in der Berufspraxis, was man eigentlich für die Berufsausübung braucht, und hat anschließend Schwierigkeiten, sich an Umstrukturierungserfordernisse anzupassen. Da die etablierten Spiele der Berufsausübung die Erfahrung der Beteiligten vorstrukturieren und ihre jeweiligen Fähigkeiten bedingen, ist es nicht so einfach, andere Beziehungsweisen und neue Verhaltensmuster und Spielweisen zu erfinden. Jede juristische Berufsrolle ist in Verhaltens- und Spielmodelle eingeschlossen, die als Circuii vitiosi (im Sinne von Michel Crozier) die Grundlage und Folge der Selbsterhaltungsprozesse des Berufs darstellen. 114 Sie beschweren seine Wandlungs- und Anpassungsfähigkeit, sie enthalten aber zugleich seine Handlungsund Existenzfähigkeit. Die Selbsterhaltungsmechanismen von Kommunikationsund Handlungssystemen reproduzieren sich nicht unendlich in der Form von unvermeidlichen Circuii vitiosi. Er verändert sich und erneuert sich ständig. Wenn die Erarbeitung, Erfindung und Etablierung neuer Verhaltensmuster und Machtspiele mit großen Schwierigkeiten zu kämpfen hat, dann deshalb, weil die juristischen Rolleninhaber und Entscheidungsträger Gefangene von Handlungssystemen, etablierten Machtgleichgewichten und somit von alten Circuii vitiosi sind, außerhalb derer sie keine ausreichende Handlungsfähigkeit und Orientierungsfähigkeit zu wahren wissen oder wahren können. 115 Das Erlernen neuer Spiele bedeutet Institutionalisierung neuer Verhaltensweisen und Erwerb neuer Orientierungsfähigkeiten. Es stellt zugleich teilweise einen Bruch mit den alten, bereits etablierten Circuii vitiosi dar und setzt die Einsetzung neuer Circuii vitiosi voraus. Die alten circuii vitiosi sind ebenso kontingent wie die neuen. Die Wandlungsfähigkeiten von Machtfeldern und Erwartungsstrukturen hängen von ihrer institutionellen Redundanz, d. h. von dem Reichtum und Überfluß an Kombinationsmöglichkeiten ab. Die Machtfelder, die die Handlungsfähigkeit der juristischen Berufsrollen bedingen, verändern sich aufgrund und in der Folge von zum Teil neu auftauchenden Beziehungs- und Spielmodellen, die erlernt werden müssen. Die Rolleninhaber, die sich lernwillig und lernbereit zeigen, sind auch imstande, aus den neuen Erwartungslagen Nutzen zu ziehen. Jeder Lernprozeß — wie man spätestens seit Schelsky weiß — setzt einen mitinstitutionalisierten Bruch mit Institutionalisiertem voraus und scheint mit den drei Mechanismen der Variation, Selektion und Stabilisierung von Selektionsleistungen zusammenzuhängen. Lernen bietet sich als die Möglichkeit dar, „Krisen", die die Herstellung von Variation und Kontingenzerfahrung mit sich bringen, positiv zu überwinden. Psychische „Krisen" brauchen aber nicht mit sozialen 114

Michel Crozier, Der bürokratische Circulus Vitiosus und das Problem des Wandels, in: Renate Mainz (Hrsg.), Bürokratische Organisation, 2. Aufl., Köln, Berlin 1971, S. 277-288. 1 1 5

Crozier

! Friedberg,

Macht und Organisation, S. 250.

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„Krisen" zusammenzuhängen.116 Jeder Bruch kann zur Regression führen. Damit ein Bruch im Gegenteil zu positiven Lernprozessen führt, ist der Eingriff eines individuellen Ermessens nötig, das sich auf irgendeine Weise selektiv gegenüber den kontingenten Variationsmöglichkeiten in den sich verändernden Kommunikationssystemen verhält. Das Erlernen neuer Verhaltensmuster scheint nur dann möglich zu sein und läßt sich nur dann hinreichend erklären, wenn man die Auffassung verabschiedet, daß die Erwartungsstrukturen den Handelnden in deterministischen Sackgassen gefangenhalten. 117 Strukturwandel kann sich aber auch als routinisiertes Lernen darstellen. Strukturen sorgen dafür, daß ihr Wandel in den routinisierten Strukturgebrauch einbezogen wird. 1 1 8 Es herrscht jedenfalls keine Klarheit darüber, was jeweils als Bruch zu gelten hat. Werte, objektive Bedürfnisse und subjektive Lebensqualität werden in Selbst- und Fremdzurechnungsprozessen konstituiert und sind im stetigen unmerklichen Wandel begriffen. 119 Latentes Lernen läßt Erwartungsverschiebungen nicht zum Vorschein kommen. 120 Der entscheidende Punkt ist der Alternativenspielraum, der Reichtum und der Überschuß an Kombinationsmöglichkeiten,121 er liegt mit anderen Worten in der Redundanz und Kontingenzerfahrung. Das Auftauchen von Problemen, die den Horizont der in den jeweiligen Kommunikationssystemen Handelnden übersteigen, führt dazu, daß Freiräume und Fähigkeiten gesucht und anerkannt werden, anders zu spielen als nach den routinemäßigen Strategien, in denen sich der Akteur eingeschlossen glaubt. Die institutionalisierten Handlungsmöglichkeiten können nur dann verändert werden, wenn die Machtressourcen und die Ungewißheitszonen verändert werden.

116 Psychologistisch die Auffassung von T. Dunbar Moodie , Social Order as Social Change: Towards a Dynamic Conception of Social Order, in: George K. Zollschan/ Walter Hirsch (Hrsg.), ebd., S. 123-138, 135: „If there is any internal logic in the social change, however, I reiterate that this logic be sought rather in the manner in which individuals constantly change their articulations and actions in responce to exigencies.". in Schelsky (§ 2 Fn. 2), S. 103. us Guy E. Swanson, Social Change, Glenview Illinois 1971, S. 142. 119 Ronald Inglehart, The Silent Revolution. Changing Values and Political Styles Among Western Publics, Princeton New Jersey 1977, S. 116 ff., 125. 120 Vgl. w. S. Pringle, On the Parallel Between Learning and Evolution, in: General Systems 1 (1956), S. 90-110, 94, 103. 121 Vgl. Andrew Effrat, Social Change and Development. Introduction, in: Jan J. Loubser u. a. (Hrsg.), ebd., S. 661-680, 671.

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§ 7 Funktion der Geltung von Rechtsnormen im Rechtssystem

§ 7 Funktion der Geltung von Rechtsnormen i m Rechtssystem I. Rechtsgeltung und Erwartungsbildung in Interaktionssystemen 1. Strukturbildung a) Herstellung von Gleichzeitigkeit und Dauer Der Kontrast zwischen Abweichung und Konformität ist nicht geeignet, die Feinstruktur sozialer Systeme abzubilden. Empirische Forschungen akzentuieren meistens deviantes Verhalten. Die Alltagsorientierung erfolgt jedoch vor allem in den Grenzbereichen zwischen konform und deviant. Es scheint sinnvoll, den Problemkontext nicht mehr zwischen den Polen von Devianz und Ordnung zu entfalten, sondern im funktionalen Zusammenhang des „attentionalen Alternierens" zu denken.1 Mit dem Begriff des attentionalen Alternierens wird die phänomenologische These von der Intentionalität des Bewußtseins ergänzt. Der Horizont, der das Zentrum eines jeden Aufmerkens umgibt, verdankt sich nicht nur den Intentionalitätsleistungen. Die Selektiviätt der Intentionalität birgt in sich den Aspekt der riskierten Indifferenz gegenüber nicht Intendiertem. Das Sichbeziehen auf etwas ist eine komplexe Leistung, die auf dem ständigen Wechseln der Attention von einem zum anderen Referenten beruht. Das kartesische Dual des Subjekt/Objekt-Schemas kann die Referentialität des Bewußtseins nicht erklären. Die Figur des attentionalen Alternierens ist der Versuch folgende Probleme zu lösen: Es soll versucht werden, die attentionalen Zuwendungen eines Zeitpunktes mit den attentionalen Zuwendungen eines anderen Zeitpunkts in Beziehung zu setzen. Erwartungsfähiges Alternieren kommt dadurch zustande, daß die Referenten, die aus der Aufmerksamkeit entlassen werden, auf irgendeine Weise fortdauern müssen. Sie müssen in eine Verweilform eingestellt werden, in welcher sie bei erneutem Zuwenden wieder angetroffen werden können. Die Bezugspunkte der Aufmerksamkeit sind in diesem Sinne nicht pflichtgegeben. Es müssen Erwartungen entstehen, die die Referenten und ihre Fortdauer betreffen. Diese Erwartungen werden nicht nur mit Blick auf die Referenten, sondern auch hinsichtlich der eigenen Verweilform ausgebildet. Wichtig ist in diesem Zusammenhang, in welche Art von Betreffbarkeit sich die je eigene und fremde Verweilform artikuliert. Diese Betreffbarkeit ist pragmatisch an den Schnittpunkten möglicher oder wirklicher Gefährdung der Fortdauerkonditionen einer Verweilform zu lokalisieren. Sie ist also differenziell auf den Begriff der Betroffenheit zu beziehen. Das Begriffspaar Betroffenheit / Betreffbarkeit wird als Differenzpunkt genommen, der die partiellen Negationen, die die Möglichkeit und die Wirklichkeit des Wegfalls partieller Fortdauerkonditionen anzeigen, zum Ausdruck bringt. In sozialen Kommunikationssystemen wird diese Betreffbarkeit ι Markowitz

(§ 6 Fn. 5), S. 74.

I. Rechtsgeltung und Erwartungsbildung in Interaktionssystemen

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partialisiert. Die Orientierung im Rahmen laufender sozialer Systeme erfährt sich selbst als eine, welche ihre Betreffbarkeit sowie ihre Betroffenheit durch andere, fremde Betreffbarkeit in systemspezifischen Prozeßformen behandelt. Die Unterscheidung zwischen Möglichkeiten und ihren Bedingungen erscheint hierbei als Voraussetzung aller Orientierung und Manipulation. Die Orientierung erfährt ihre Konditionen als selbstentworfene Konzepte ihres Bedingungsgefüges und weiß sich als betreffbar durch diesen Entwurf. 2 Die Verwendung des Begriffs der Orientierung, die bei Geiger sehr wichtig ist, ist nicht zufällig. Sie will es vermeiden, bei Phänomenen des Bewußtseins stehenzubleiben und seine jeweiligen Inhalte als Atom, also als nicht weiter zerlegungsbedürftige Bestandteile zu behandeln, die als Elemente der Orientierung gelten dürften. Orientierungsprozesse sind nicht identisch mit Bewußtsein. Sie sind mit Sinnverstehen dann gleichzusetzen, wenn sinnverarbeitende Systeme in einem Kommunikations- oder Interpretationszusammenhang stehen. Wie „subsensuale" Anteile an der Orientierung fungieren, kann hier nicht untersucht werden. 3 Systemtheoretisch wird die These vertreten, daß die Dekomponierbarkeit von Orientierungsprozessen von der pragmatischen Orientierung selbst von Fall zu Fall zu entscheiden ist. Die Orientierung entscheidet jedesmal, welches Auflösungsvermögen benötigt wird. Für die Orientierungsleistungen ist die Betreffbarkeit der eigenen und fremden Verweilform entscheidend. Die Riskiertheit der Abwendung wird als Funktion der Betreffbarkeit der Orientierung erlebt. Im Rahmen verschiedener sozialer Systeme werden außerordentlich viele Konzeptionen möglicher Verweilformen entwickelt, aus denen die prekäre Orientierungsökonomik je nach Erfordernis auswählen kann und muß. Irgendeine dieser Verweilformen wird einem Referenten zugeordnet, damit er „im Modus des Dahingestelltseins" erlebt und behandelt werden kann. Auf diese Weise beruht die Orientierung auf einer Hypothetik prozessualer Fixierung, mit deren Hilfe die alternierende Attention durch „Deponieren" auszulassende Kommunikationsbeteiligte in Verweilformen einrückt. Das Deponieren kann modalisiert werden. Die Verweilformen können als vorgeschrieben, typisch, offiziell oder als abweichend konstruiert werden. Die Verweilformen müssen von psychischen Typisierungsprozessen unterschieden werden. 4 Unabhängig davon, wie das Deponieren modalisiert wird, umschreibt es das Problem der Erwartbarkeit von Verhalten. Dies läßt sich nämlich auf die Kontingenzerfahrung, die die Schwierigkeiten der Verweilformkonstitution mit sich 2 Ebd., S. 41 f., 56, 63, 64, Anm. 20. 3 Hierzu: Georg Henrik von Wright, An Essay on Door-Knocking, in: RECHTSTHEORIE 19 (1988), S. 275-288. 4 Psychische Prozesse wie: „observational learning, conditioning, direct and vicarious reinforcement, generalization, and discrimination" sind mit sozialtypischen Verhaltensformen nicht identisch. »Although every individual, and indeed every response pattern, is in a sense unique, the basic processes that determine his behavior are not." Walter Mischel, Personality and Assessment, New York / London / Sydney 1968, S. 149 ff., 188. 13 Gromitsaris

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§ 7 Funktion der Geltung von Rechtsnormen im Rechtssystem

bringt, zurückführen. Referenten lassen sich gut oder schlecht deponieren, und da ihr faktisches Verhalten nicht antizipiert werden kann, müssen sie in eine Verweilform eingerückt werden, die jenseits der Differenz Konformität/Abweichung sein kann. Referenten brauchen nicht unbedingt mit dem Status des potentiellen Abweichlers oder Konformisten belegt zu werden. Der Rekurs auf Regelkonzepte kann die Entstehung von Orientierungsprozessen nicht erklären. Die Unzulänglichkeit solcher Konzepte liegt darin, daß sie soziale Systeme so interpretieren, als handele es sich im systemspezifischen Orientieren darum, einen geschlossenen Regelkomplex mit einem Bereich regelgeleiteter Handlungen in Verbindung zu setzen. Die Ausbildung erwartungsfähiger Kontexte geht nicht darauf zurück, daß Handelnde Regeln wie Vokabeln lernen, sondern sie hängt eng mit der Betreffbarkeit und Riskiertheit aller attentionalen Aktivitäten zusammen.5 Erwartungen beziehen sich nicht vor allem auf die Differenz Konformität / Abweichung. Sie betreffen Verweilformen, d. h. laufende Engagements und deren Indikator der Zugänglichkeit. Deponierte Referenten werden als wieder zugänglich behandelt, indem Erwartungen über ihr aktuelles laufendes Engagement gebildet werden, die die Orientierung des Referenten an seiner System / Umwelt-Differenz berücksichtigen. Das aktuelle Engagement, in welchem ein Referent mit seiner Umwelt steht, wird dadurch erwartungsfähig gemacht, daß die Orientierung das Umweltverhältnis des Referenten in Form von Kürzeln, also als typisierte Engagements zu fassen sucht. Dies geschieht sowohl im Vorgang des Absehens von einem Referenten als auch im damit zusammenhängenden und gleichzeitig gegebenen Vorgang des Hinsehens auf einen anderen Referenten. Einerseits muß in die Fülle konkreter Komplexität ein schematisiertes laufendes Engagement eingebracht werden. Andererseits muß das Konkrete den Modus des Dahingestelltseins als Fortdauerndes mit Hilfe der Indifferenzherstellung gegenüber Veränderbarkeit aus der Beobachtung entlassen werden können. In sozialen Systemen entstehen Erwartungen über Fixierungsanweisungen und Manifestationskriterien je laufender Engagements. Kleidung, Haltung oder das Signalisieren der laufenden eigenen Intention verweisen auf das momentane Engagement und auf das Ausmaß an Disponibilität, die man den attentionalen Aktivitäten im sozialen System entgegenzubringen bereit ist. Um das Fixieren des je laufenden Engagements von Referenten zu erleichtern und die Spezifik an Zugänglichkeit und Disponibilität leichter feststellen zu lassen, etablieren soziale Systeme teilweise komplexe Erwartungszusammenhänge, die die Themenrelevanz zu bestimmten Zeitpunkten festlegen. Im sozialen System ist Disponibilität kein isoliertes Datum, keine Eigenschaft oder Charaktermerkmal eines Referenten. Sie ist eine Komponente des Aufeinanderbezogenseins der je aktuellen Engagements verschiedener Referenten. Die Disponibilität hängt von der Spezifik der pragmatischen Kontraste, die das Konditionalgefüge und somit die 5 Markowitz

(§ 6 Fn. 5), S. 65, 69 ff., 71.

I. Rechtsgeltung und Erwartungsbildung in Interaktionssystemen

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Betreffbarkeit der verschiedenen je aktuellen Engagements darstellen. Angesichts einer immensen Vielfalt faktischer Verweilformen fällt es der Orientierung schwer, die wirklichen Alternierungsprozesse der verschiedenen Referenten zu identifizieren. Man kann auf das Alternieren der anderen und auf ihre Fixierungsversuche des eigenen Engagements mit verdeckten Engagements reagieren und die eigentliche Orientierung hinter offiziellen Fassaden des laufenden sozialen Systems verbergen. Die Disponibilität wird mit Hilfe von situativ fungierenden Permeabilitätskonstanten vermittelt, die als Wahrnehmungsbereitschaften erwartbar gemacht werden. Da die je aktuellen Permeabilitätskonstanten mit der jeweiligen Verweilform, in welche die Interaktionsteilnehmer kommunikativ eingerückt werden, nicht identisch sind, garantieren die sozial bereitgehaltenen Schemata des Deponierens und Fixierens nicht die Erreichbarkeit und Disponibilität der Referenten. Damit Dauer entsteht, muß das attentionale Alternieren im Laufe der Relationierung von Referenten mit Kontinuitätshypothesen operieren, die es erlauben, momentan Wahrgenommenes aus einem Augenblick in einen neuen zu überführen. Damit das Letztmögliche nicht gleich verschwindet, muß die Orientierung Dauerkomplexe entstehen lassen, die keine ontischen Qualitäten haben. Die Temporalisierung von Komplexität beruht auf Dauer, d. h. auf der Möglichkeit, Möglichkeiten nacheinander realisieren zu können. Die Orientierung an Möglichkeiten wären ohne die Unterstellung von Dauer unmöglich. Dauer wird „als Bedingung der Möglichkeit von Möglichkeit" in den Verweilformen der Referenten konkretisiert. Die Verweilformen bieten dafür die Grundlage, daß die Orientierung im Interaktionssystem Repräsentationslasten dem Interaktionssystem selbst übertragen kann und daß die Referenten den alternierenden Attentionen anzeigen können, in welcher Hinsicht sie zugänglich und disponierbar sind. 6 Für die Erklärung von Orientierungsprozessen in Interaktionssystemen gehen wir von zwei systemtheoretischen Prämissen aus: 1. Elemente werden „durch das System selbst als Einheiten konstituiert". 7 Sie sind Elemente nur für die Systeme, die sie als Einheiten verwenden. Die Einheit eines Elements ist nicht „als Emergenz von unten", sondern „als Konstitution von oben" zu erklären. 8 Der Konstitutionsprozeß von Elementen verläuft in Systemen und bleibt systemrelativ. Was in einem System als nicht weiter auflösbares Element — etwa als Atom, als Zelle, als Nervenimpuls, als Handlung, als Entscheidung — fungiert, mag in anderen Systemen als ein hochkomplexes Arrangement erscheinen. Systeme behandeln die Elemente, auf denen ihre Ordnung beruht, als nicht weiter auflösbar. Der Modus operandi des Systems unterschreitet nicht eine bestimmte Realitätsebene.9 Die Operationsweise des Rechts6 Ebd., S. 74, 82 f., 88 f., 92 f., 96, 101. 7 Luhmann (§ 1 Fn. 27), S. 61. s Ebd., S. 43. 9 Vgl. Francois Jacob, Das Spiel der Möglichkeiten. Von der offenen Geschichte des Lebens, 2. Aufl., München / Zürich 1984, S. 37. 1*

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§ 7 Funktion der Geltung von Rechtsnormen im Rechtssystem

systems läßt es beispielsweise nicht zu, daß Entscheidungen in Motive, Nervenimpulse oder chemische Prozesse zerlegt werden. Die Ausblendung der Unterbaukomplexität der Elemente konstituiert Grenzen. Dies bedeutet, daß nicht alles mit allem kombinierbar ist. Handlungen können etwa nicht mit Zellen oder Molekülen relationiert werden. 2. Temporalisierte Systeme konstituieren ihre Elemente als Ereignisse. Man kann daher die Ereignisse nach Luhmann nicht vom System trennen. Die „theoretisch richtige Differenz" heißt „Element (Ereignis) / Relation". 10 Relationen setzen Elemente als zugleich bestimmt und unbestimmt. Der „Anschlußwert" von Elementen bleibt immer unbestimmt. Für Interaktionssysteme heißt dies, daß Ereignisse, die das laufende soziale System relationiert, von den Erlebnissen der am System beteiligten psychischen Systeme unterschieden werden müssen. Die Konstitution der Einheit von Ereignissen stellt die pragmatische Orientierung im sozialen Interaktionssystem vor erhebliche Schwierigkeiten. Diese werden zum Teil dadurch gelöst, daß in sozialen Systemen auf Ereignisschemata zurückgegriffen wird, die zur Ereignisidentifikation dienen. Ein Vorher / Nachher-Kontrast läßt sich von verschiedenen psychischen und sozialen Systemen relationieren. Erst diese Relationierung macht ihn zum Ereignis, denn erst diese behandelt ihn als Differenz. Wenn ein bisher gegen ein ab-jetzt abgegrenzt wird, wird zwar immer zugleich ein Vorher / Nachher-Kontrast differentiell gesetzt. Interessant ist jedoch, daß dies gleichzeitig in verschiedenen Systemreferenzen geschieht. Die Einheit der Vorher / Nachher-Differenz wird in verschiedener Weise gesetzt. Der Übergang vom nicht-mehr zum noch-nicht, vom Vergangenen zum Künftigen, der gleichzeitig in verschiedenen Systemen erfolgt, bedeutet — je nach Systemreferenz und unter dem Aspekt der Mehrfachmodalisierung der Zeit — jedesmal etwas völlig anderes. Die Kombination relativ bestimmter Aktualität und unbestimmten Anschlußwertes, die jedes Ereignis kennzeichnet, ist je nach Systemreferenz anders und nur in einem System möglich. Es ist diese Pluralität und Differenz der Differenzen, die die Ausbildung eines sozialen Systems geradezu nötig macht. Da es keine Vorher / Nachher-Differenz gibt, die als objektiv gilt und die als vor jeglicher Systemreferenz emanzipiert gesetzt werden kann, muß gegenseitige Differenzwahrnehmung und Ereigniserschließung kommunikativ (also in einem zu bildenden sozialen System) versucht werden. Was in diesem letzteren sozialen System als Ereignis fungieren soll, darüber wird das System selbst entscheiden. Die Gegenwärtigkeit dieses Systems seligiert nicht nur eine jeweils aktuelle systemeigene Vergangenheit und Zukunft; sie aktualisiert nämlich nicht nur die eigene Selektionsgeschichte. Darüber hinaus macht sie sich als Aktualität erst dadurch möglich, daß sie die kommunikativ erschließbaren Gegenwarten der beteiligten psychischen und sozialen Systeme selektiv behandelt. Die Aktualität des sozialen Systems ist den Gegenwarten der Beteiligten zugänglich, sie wird aber in eine jeweils unterschiedliche modalisierte i

Luhmann

(§ 1 Fn.

), S.

.

I. Rechtsgeltung und Erwartungsbildung in Interaktionssystemen

197

Gegenwart integriert, d. h. unterschiedlich erlebt. Im Gegensatz dazu sind die Gegenwarten der Beteiligten einander nicht zugänglich. Aufgrund der laufenden Aktualität des sozialen Systems kann jedenfalls jedes beteiligte psychische und soziale System komprimierte aktuelle Präsentationen von den anderen Teilnehmern und von sich selbst entwerfen. Die Differenzen zwischen diesen Entwürfen bedingen nachdrücklich die Anschlußselektivität des sozialen Systems; denn jeder der Beteiligten wird mit jeder seiner Selektionsleistungen immer wieder versuchen, diese Differenzen in seinem Sinne zu gestalten. In diesem Sinne scheinen die Erlebnisse Bestandteile der Ereignisse zu sein, die sie erleben. In einem laufenden sozialen System wird jeder Beteiligte aus der Spezifik seiner Selbstreferenz herausgerissen und in fremdreferentiell gesetzte Orientierungskonstruktre hineingestellt, damit er mit der Aktualität des laufenden Systems gekoppelt wird und trotz Irreversibilität fortdauern und erwartungsfähig gemacht werden kann. Die Aktualität des sozialen Systems ist mit der Pluralität der sich beteiligten (psychischen und sozialen) Systemreferenzen nicht identisch. Die Pluralität wird durch die jeweilige Aktualität des Systems repräsentiert und in verschiedener Weise gedeutet und erlebt. In Interaktionssystemen kommunizieren selbstreferentielle Orientierungen miteinander. Das daraus resultierende soziale System hat seine eigene Struktur. Sagt man, daß die Struktur Ereignisse relationiert, so will das heißen, daß der Strukturgebrauch durch Relationieren von Selektionspotentialen aktualisiert wird. Die Einheit einer Vorher / Nachher-Differenz kann im sozialen System nur unter Relationierung der differenziell partizipierenden Systemreferenzen gestiftet werden. Dies erfolgt, ohne daß die Operationsweise des sozialen Systems ihre eigene systemrelative Realitätsebene unterschreitet. Über die Anschlußselektionen eines Ereignisses kann nur in einem sozialen System disponiert werden. Ein Vorher / Nachher-Kontrast wird zum Ereignis, wenn ein soziales System ihn als Differenz behandelt. Systemexterne Selektionen mit je eigenen Differenzsetzungen werden mit systeminterner Selektivität verknüpft. Die Tatsache, daß umweltinduzierte, fremdreferentielle Selektionen die Grenzen des Systems zu passieren vermögen, bedeutet nicht, daß die Operationsweise des jeweils anderen Systems zur Disposition gestellt wird. Nicht die fremde Operationsweise, sondern die fremden Selektionen werden mit systeminterner Selektivität verknüpft. Die Bildung eines sozialen Interaktionssystems stellt die Weise dar, auf welche sich disparate selbstreferentielle Selektivitäten wechselseitig derart limitieren, daß in einem Gefüge differenter Differenzen Orientierung möglich wird. Auf der Ebene der Bildung von Erwartungserwartungen geht es nicht um Antizipation von Ereignissen. Es handelt sich vielmehr um das Problem der Selektivität von Erwartungen, die ein „Korrigieren (und ein Kämpfen um Korrekturen)" des Erwartens ermöglicht. 11 Da Erwartungen in verschiedener Weise kodiert sein können, handelt es sich zugleich um Selektionsmöglichkeiten von Systemreferenzen. Die Systemteilnehmer seli11 Luhmann

(§ 1 F n . 27), S.

414.

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gieren nicht notwendig unter dem gleichen Code. Die eigentlichen Ordnungsleistungen eines sozialen Systems liegen darin, daß codemäßig different schematisierte Erwartungen einander seligieren müssen, und die Frage ist, nach welchem Selektionsschema das geschieht. Die Reflexivebene „bildet ein emergentes Ordnungsniveau", 1 2 wo verschiedene Codes selbst zum Kommunikationsthema werden. Das Selektionsschema steht nicht von vornherein fest. Es ist das Produkt des gelungenen Versuchs, Erwarten reflexiv zu machen. Hier entstehen aber Schwierigkeiten, die nur gesellschaftstheoretisch zu lösen sind. b) Orientierungs- und Verhaltensdiskontinuitäten Aufgrund eines laufenden sozialen Interaktionssystem entstehen bei den Systemteilnehmern Unterschiede des Erlebens und des Differenzsetzens. Distinktion und Ereignisbildung ist auf systemrelative Relationierungen angewiesen. Je nach Systemreferenz erhalten Ereignisse eine andere Qualität. Die Anschlußfähigkeit in einem sozialen System hängt somit von Ereigniskontrastierungen ab, die als objektiv angesehene, allen beteiligten Systemreferenzen zugängliche Grundlage der laufenden Kommunikation im System gesetzt werden und gleichzeitig die Möglichkeit schaffen, daß Unterschiede des Erlebens aneinander abgearbeitet werden. Um die Konstitution der jeweiligen Aktualität eines sozialen Interaktionssystems zu erklären, werden wir auf die Unterscheidung und auf das Zusammenspiel von semantischer und pragmatischer Integration zurückgreifen. 13 Pragmatische Systemintegration ist die Tatsache, daß Verhalten auf irgendeine Weise immer integriert wird, gleichgültig wie und woran es sich orientiert. Semantische Integration erfolgt dadurch, daß die Gegenwarten der Systemteilnehmer über ihre disparate Orientierungsprozesse integriert werden. Die Bildung von Interaktionssystemen ist ohne pragmatische Integration nicht möglich. Dies ist aber kein Grund dafür, daß man die semantische Integration als völlig irrelevant erachtet. Semantische Integrale werden im Modus der Zeit als Prozesse und im Modus der Schematik als Objekte konstruiert. Schematizität und Temporalität werden in ihrer Funktion im Rahmen einer selbstreferentiellen Orientierung betrachtet. Referenten werden in die Verweilform eines dem beobachtbaren fremden Verhalten angemessen erscheinenden Engagements deponiert. Da alle Engagements Dauer und Zukunft in sich bergen, da sie nicht als pure Prognostik mißverstanden werden dürfen, sondern auf dem Unterschied zwischen gegenwärtiger Zukunft und zukünftiger Gegenwart beruhen, so wie dieser aus der Sicht der deponierenden Orientierung verstanden wird, sieht sich die Orientierung genötigt, neben dem Prozeß des laufenden Themas weitere Prozessualität zu entfalten, um die Engagements ihrer Referenten semantisch piazieren zu können. Bei einer Mehrzahl von Referenten wäre somit eine Vielfalt von Prozeßgefügen erforderlich, die nicht gleichzeitig verfolgt werden 12 Luhmann, ebd., S. 413. 13 Ebd., S. 181 ff., 251 ff.

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können. Die Orientierung löst das Problem, indem sie zwei verschiedene Zeitkonzepte parallel zu führen vermag. 14 Sie kann nämlich einerseits die Verbindung nichtkausaler, andererseits die Verknüpfung kausaler Singularitäten als Schema temporaler Integration benutzen. Prozessualität kann enumerativ oder genetisch aufgefaßt werden. Sie kann auch als nichtserklärende Enumeration zur semantischen Integration beitragen, indem sie Selektionsleistungen auf ein semantisches Abstellgleis schiebt und späterem Zugriff der Orientierung zur Verfügung hält. Die Orientierung verschafft sich die Möglichkeit, sich weiter auf den Prozeß des laufenden Kommunikationsthemas zu konzentrieren. Sie kann sich dem deponierten Referenten erst später bei passender Gelegenheit zuwenden. Sie kann — entlastet von der genetischen Kausalität des laufenden Themas — den Versuch unternehmen, das bewahrende, aber nichtserklärende Engagement des Referenten aus seinem enumerativen semantischen Integral herauszulösen, um das ihm (dem Engagement) mehr oder minder entsprechende beobachtbare Verhalten des Referenten prozessual-genetisch temporal zu integrieren. 15 Die Plausibilität von Verweilformen hinsichtlich des beobachtbaren Verhaltens von Referenten muß von ihrer Kompatibilität mit dem Themenverlauf, in welchem die Orientierung jeweils eingespannt ist, unterschieden werden. Erstere betrifft das Deponieren eines Referenten, d. h. die Herstellung seiner Dauer trotz der Tatsache, daß der Referent das Auseinanderklaffen zwischen seiner gegenwärtigen Zukunft und seiner zukünftigen Gegenwart anders handhabt als der Beobachter. Letztere betrifft die semantische Qualifikation von Verweilformen. Sie entscheidet darüber, ob Verweilformen zum Hauptverkehr laufender Themenprozessualität gehören oder ob sie vielmehr auf die Nebengleise schematisierender Integration geschoben werden sollen. Die Konstitution von Verweilformen (Engagements) hängt sehr eng mit der Kombination von Schematizität und Temporalität zusammen. Wenn die letzte Essenz von Wirklichkeit Ereignis ist, dann muß die Dauer jedesmal konstruiert werden. Das Problem der Zeit war in der klassischen Logik grundsätzlich nicht thematisiert. Die Relation zwischen Urbild und Abbild war — ontologisch betrachtet — temporal und fiel unter die metaphysische Kategorie der Wiederholung. Im Bilde ist „keine Identität gedacht, und keine Verschiedenheit, sondern eben Wiederholung" (Gehlen). 16 Will man das Zeitproblem in die Logik einführen, so muß man der Zeit einen „eigenen ontologischen Ort" zubilligen. 17 Vgl. die Unterscheidungen von „event und clock time" sowie von homogenen und heterogenen „transition matrices" bei Dean E. Hewes, The Sequential Analysis of Social Interaction, in: The Quarterly Journal of Speech 65 (1979), S. 56-73. „Heterogeneous transition matrices can be generated either because the event-time sequential process is truly different for some groups or because those groups are proceeding through the same event-time transition matrix but at different clock-time rates." (S. 66 f.). is Markowitz, Verhalten im Systemkontext, S. 189. i6 Hierzu: Gilles Deleuze , Différence et répétition, Paris 1968; Arnold Gehlen, Theorie der Willensfreiheit, Gesamtausgabe Bd. 2, Frankfurt am Main 1980, S. 1179, 168 ff., 172; vgl. zum Zerfall der Wiederholbarkeit und zu einem modernen „sich vollbringenden Skeptizismus" Garbis Kortian, Le sens du possible. Arnold Gehlen, in: Critique 34 (1978), S. 303-323, 319.

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Selektionsleistungen, die als Objektschemata konstituiert werden, beschränken das Integral des Objekts nicht auf die Grenzen jeweiliger Gegenwärtigkeit. Objektintegrale werden so konstituiert, daß sie die Zerstörung verschiedener, dem Objekt zugerechneter Zustände überleben können. Objekte werden nicht mit einem ihrer Zustände identifiziert. Objektzustände verbinden Temporalität und Schematizität. Sie sind insofern ein Temporalschema, als sie dem Objektschema Subschemata zuordnen, deren Veränderung den gesamten Begriff von einem bestimmten Objekt nicht untergehen läßt. Neuschematisierungsversuche von Objektschemata sind nicht ins private Belieben einzelner selbstreferentieller Orientierungen gestellt. 18 Sie werden vielmehr von sozialen Systemen in Regie genommen, die die Trennung des Bleibenden von dem Veränderlichen unabhängig von den systembeteiligten Orientierungen institutionalisieren können. Auf diese Weise kann man in Interaktionssystemen mit Substanz umgehen. Substanz ist demnach eine bestimmte Kombinationsform von Schematizität und Temporalität. 19 Dies geschieht nicht auf der Grundlage von Subjektivität. Die Subjektivität hat sich schon in den durch die Vergesellschaftungsfunktion mobilisierten Symbolformen des Neu-Kantianismus verflüchtigt. 20 Das Verweisungsgefälle von Urbild und Abbild, Original und Nachbild, Zeichen und bezeichneten Sache ist obsolet geworden. Symbole symbolisieren das Zusammenfallen von Bruchstücken zu einer ergänzenden Einheit nicht mehr. Die Dinge sind keine Zeichen für etwas anderes, sie sind symbola als sich selbst, sie sind Einschränkungen von Verweisungsmöglichkeiten.21 Die verschiedenen Systeme von Symbolen sind dennoch kein bloßes Gebilde der Laune des Einzelbewußtseins oder des Zufalls. Sie treten „von Anfang an mit einem bestimmten Objektivitäts- und Wertanschpruch" auf. 22 Dies ist kein Plädoyer für symbolischen Interaktionismus, der der Sozialpsychologie verhaftet bleibt. 23 Bei divergenten Erwartungen und konfligierenden normati17

Gotthard Günther, Logik, Zeit, Emanation und Evolution, in: ders., Beiträge zur Grundlegung einer operationsfähigen Dialektik, Bd. 3, 95-135, 109 f. Veröffentlichung der Diskussion im Anschluß an den Vortrag, in: Arbeitsgemeinschaft für Forschung des Landes Nordrhein-Westfalen. Geisteswissenschaften, Heft 136, Köln/Opladen 1967, S. 55-96, 59, 73. is Ephrem Else Lau, Interaktion und Institution. Zur Theorie der Institution und der Institutionalisierung aus der Perspektive verstehend-interaktionistischer Soziologie, Berlin 1978, S. 119 ff., 129 ff. Zum diachronischen Identitätsaspekt in institutionellen Handlungsverkettungen: S. 182 ff. Vgl. ferner Alfred Schütz, Das Problem der Relevanz, herausgegeben und erläutert von Richard M. Zaner, Frankfurt am Main 1971, S. 221 ff. Das „Älterwerden" ist als Problem in der Selbst- und Fremdreferenz zu sehen (S. 222). 19 Vgl. Jacques Merleau-Ponty, Cosmologie du XXe siècle, étude épistémologique et historique des théories de la cosmologie contemporaine, Paris 1965, S. 302, 341, 351. 20 Karl-Heinz Ladeur, „Abwägung" — Ein neues Paradigma des Verwaltungsrechts. Von der Einheit der Rechtsordnung zum Rechtspluralismus, Frankfurt am Main / New York 1984, S. 149. 21 Eugen Fink, Spiel als Weltsymbol, Stuttgart 1960, S. 112 ff., 120. 22 Ernst Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen. Erster Teil. Die Sprache, (Nachdruck) Darmstadt 1988, S. 21 f. 23 „A society is, therefore, conceptualized as individuals in interaction, communicating, developing a common, shared perspective. Every interaction situation can be thought

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ven Präferenzen kann der unterstellte Vorrat an „shared symbols" keine „standard operating procedures" entstehen lassen. In einem Interaktionssystem kann die Bildung von Erwartungserwartungen auf „third-order dependencies" beruhen, die Antizipationsfähigkeit unmöglich machen.24 Das Ontische ist nur noch Symbol, das auf nichts anderes verweist und semantisch kontrovers belegt werden kann. 25 Die Seinssemantik wird als Phylogenese von täglichen Ritualen der Ontogenese kommunikativ hergestellt, sie ist nur als „hallowed presence", als heilige Gleichzeitigkeit zugänglich, und sie macht Kommunikation möglich. 26 Das Ontologische kann sich nur noch um die Wahrheit der Wahrheit bemühen.27 Eine private Tagebuch-Semantik kann ihr Richtigkeitskriterium nicht in der Normierung, sondern in der Institutionalisierung finden. 28 Im Umgang mit je àkzeptierten Substanzkonzeptionen wird in Interaktionssystemen eine Garantie für die Dauer von Objektzuständen hergestellt. Referenten müssen ihre jeweiligen Engagements überdauern können. Erst so entsteht die Möglichkeit der Referenten, als identisch in mehr als einem Kontext setzen zu können. Es handelt sich um eine Einheitsstiftung, die Veränderung und Bleibendes kontrollierbar aufeinander bezieht. Auf dem Hintergrund der Unterscheidung von Referent und Engagement läßt sich die Parallelität des Dauerzerfalles von Ereignissen im psychischen und sozialen Interaktionssystem thematisieren. Im Bewußtsein gibt es kein „Etwas", „ohne daß damit eo ipso und ohne weitere Vermittlung ein ,Anderes 4" gesetzt to be the beginnings of society." Joel M. Charon, Symbolic Interactionism. An Introduction, an Interpretation, an Integration, Englewood Cliffs 1979, S. 31. 24 „For example, in a third-order process, the action constructed by self is contingent upon the perception of past actions by self and other, as well as the interaction of self und other." Ronald W. Manderscheid / Donald S. Rae / Anne K. McCarrick / Sam Silbergeld, Stochastic Model of Relational Control in Dyadic Interaction, in: American Sociological Review 47 (1982), S. 62-75, 64, 73. 25 „For it is not things and their actual relations which are said to be consistent or inconsistent with one another, but propositions or statements about them; and it is to these latter that principles as the principle of noncontradiction are relevant": Ernst Nagel, Logic without Ontology, in: ders., Logic without Metaphysics, Glencoe / Illinois 1956, S. 55-92, 63. 26 Diese Vermutung bei Roy A. Rappaport, Ritual, Sanctity, and Cybernetics, in: American Anthropoligist 73 (1971), S. 59-76, 73 f. 2 ? Vincent Descombes, La vérité du vrai, in: Critique 34 (1978), S. 156-164 : „Dans le discours philosophique, ce ne sont pas des vérités qui sont produites, mais la vérité du vrai, la vérité du mot vrai." (S. 158). 28 Ludwig Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, in: Werkausgabe Bd. 1, Frankfurt am Main, S. 361 f. Vgl. hierzu: Jay F. Rosenberg, One World and our Knowledge of it. The Problematic of Realism in Post-Kantian Perspective, Dordrecht / Boston / London 1980. s. das Kapitel „Correctness and Community: From the Individual to the Social". Die Unterscheidung von „semantic beings" und „things" wird von „conditions of correctness" abhängig gemacht (S. 92 f.), die divergent institutionalisierbar sind. „My posited world is as public as one could wish. Correctness not the world is what I have tried to reserve to myself. But having so reserved it I lost it." Semantische Richtigkeit „must be found in the community" (S. 104). Vgl. femer zur „Fehlidentifizierung" und ,»Fehlprädikation" von „Gegenständlichkeit": Hans Jürgen Wendel, Benennung, Sinn, Notwendigkeit. Eine Untersuchung über die Grundlagen kausaler Theorien des Gegenstandsbezugs, Frankfurt am Main 1987, S. 68 ff., 117.

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würde. Die Reproduktion des Bewußtseins vollzieht sich im „Jetzt". Wo das Jetzt nicht als die sich vollziehende Scheidung zwischen dem Nicht-Mehr und dem Noch-Nicht genommen wird, da bildet es die „Negation der Zeit". Dem Jetzt entspricht keine,»Lage", kein Zustand. Das „Integral des Bewußtseins" baut sich aus der „Gesamtheit seiner Beziehungs- und Formdifferentiale", und seine „Aktualität" bringt immer nur das zur Entfaltung, was „in jedem seiner Sondermomente beschlossen liegt". Das scheinbare „Nachbilden" von reflexionslosen Dingen hat in Wahrheit ein „inneres Vorbilden" zur Voraussetzung. Obwohl der Bewußtseinsverlauf mit der Sprachform nicht identisch ist, trägt die Sprache dazu bei, daß etwa durch Artikelkonstitution und Artikelverwendung eine „allgemeine Form der ,Substanzierung\ der Gestaltung zum ,Ding 4 " ausgedrückt wird. 2 9 Diskontinuitäten können einerseits dem Alternieren, also der attentionalen, selbstreferentiellen Orientierung und andererseits einem von der Attention unabhängigen Passieren zugerechnet werden. Dies erklärt zwar keine psychischen Prozesse, kann aber als ein Hinweis darauf gelten, wie die Orientierung eine Referenz im Verlauf des Alternierens durchhält, indem sie in der Kategorie der Gegenwart Temporalität und Modalität aufeinander bezieht. Das Durchhalten der Referenz wird als Intendieren bezeichnet, daß eine Mehrzahl von alternierenden Selektionsleistungen in eine mehrfach modalisierte Gegenwart integriert. Der Prozeß des Intendierens stellt eine semantische Integration dar, die der Orientierung dazu verhilft, einen possibilistischen Modus (einen Möglichkeitsbereich) in den Referenten hineinzuprojizieren und diesen laufend mit der Präsentationsformel der sich ändernden Sinnverweisungen im sozialen System abzustimmen. Das Auseinanderhalten von Orientierungsvermögen und pragmatischer Integration, von Referenten und Engagement sowie von sozialen Ereignissen und orientierungsgebundener Diskontinuität weist darauf hin, daß die Einheit des Verhaltens im je laufenden sozialen Interaktionssystem mit der Einheit der Orientierung nicht identisch ist. Verhaltensdiskontinuitäten müssen mit Orientierungsdiskontinuitäten abgestimmt werden. Diese Doppelstruktur aller Diskontinuität kann auch in der Form der Trennung von Orientierungs und Kommunikationsereignissen oder der Trennung von Ereignis und Erlebnis zum Ausdruck gebracht werden. Ein kommunikatives Ereignis kann somit in verschiedenen Orientierungssprachen geschildert, d. h. auf verschiedene Weise gedeutet werden. Der weitere Aufbau der Kommunikation im sozialen Interaktionssystem kann sich als ein Werben für den geeigneten Erlebens-Modus gestalten. Hinzu kommt, daß soziale Systeme im Verlauf ihrer Geschichte Diskontinuitätsschemata typisieren und institutionalisieren, die es der Orientierung gestatten, soziale Ereignisse mit einem schematisierten Erlebensmodus zu versehen. Ein kommunikatives Ereignis im Interaktionssystem existiert außer einer systembeteiligten selbstreferentiellen Orientierung, aber nicht seine Differenz. Diese existiert in der Orientierung, sie 29 Cassirer (Fn. 22), S. 32 f., 40 f., 131, 159; Luhmann (§ 1 Fn. 27), S. 368.

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ist das orientierungsabhängige Abgestimmtsein von Kommunikations- und Orientierungsereignissen auf- und miteinander. Wenn soziale Ereignisse unabhängig von ihrem orientierungsgebundenen Erleben sind, dann hängt die Anschlußfähigkeit der Kommunikation von den Unterschieden des Ereigniserlebens und des Differenzsetzens ab. Auf der Grundlage einer einzigen Diskontinuität sind unterschiedliche Differenzen möglich. Georg Henrik von Wright hat bei der Untersuchung menschlicher Orientierungsprozesse zwischen verschiedenen Ordnungsniveaus der Informationsverarbeitung unterschieden. Sensorische, neurologische und soziale Informationskonstitution müssen sorgfältig auseinandergehalten werden. „It is important to distinguish between concept and phenomenon, — between the phenomena of (a person's) hearing sounds, understanding something, having reasons for or against an action and the concept of hearing sounds, of understanding, of reasons for action". 30 Die Frage, die dem Essay von Wrights zugrundeliegt lautet: Wie ist der „psychophysical parallelism" möglich? Oder — systemtheoretisch formuliert — wie ist die Herstellung von Gleichzeitigkeit zwischen neuronaler, chemischer, psychischer und sozialer Informationsverarbeitung im Laufe menschlicher Orientierungsprozesse möglich? 31 „We must be able, by and large, to identify the neural phenomena and the psychological phenomena independently , on the basis of different criteria". 32 Wir wandeln im folgenden das Beispiel von Wrights etwas ab und beschränken uns auf die Herstellung gleichzeitiger Differenzhandhabung im Bereich sozialer Sinnkonstitution. „ I hear a knock on the door", und Du betrittst mein Zimmer. Du betrittst mein Zimmer, während ich am Schreibtisch sitze. Die Differenz, als die ich dein Eintreten erlebe, veranlaßt mich dazu, dieses kommunikative Ereignis als Störung zu qualifizieren. Du typisierst hingegen nach dem Muster des Besuchs.33 Die Einheit einer sozialen Ereignisdifferenz kann in der jeweiligen systembeteiligten Orientierungsperspektive auf verschiedene Weise gesetzt werden. 34 Im Weiterlaufen des Kommunikationsprozesses 30 von Wright (Fn. 3), S. 285. 31 Vgl. bei Maurice Merleau-Ponty , La structure du comportement, Paris 1972, S. 20: „La mise en jeu d'un »circuit réflexe' dépend encore des réactions simultanées ou précédentes."; s. femer das Problem der Gleichzeitigkeit in der sozialen Sinndimension bei Alfred Schütz, Der sinnhafte Aufbau der sozialen Welt. Eine Einleitung in die verstehende Soziologie, Frankfurt am Main 1974, S. 143: „Die Gleichzeitigkeit des fremden Erlebnisstromes"; vgl. auch das Kapitel „ Z e i t l i c h k e i t und Intersubjektivität" in: Hans Jonas, Praktische Intersubjektivität. Die Entwicklung des Werkes von G. H. Mead, Frankfurt am Main 1980, S. 164 ff. 32 Ebd. 33 Vgl."reasons for action normally are things which an agent gets . . . they enter his »stream of life' from the ,outer world' in the form of perceptions the meaning or significance of which as reasons for action he has already learnt" von Wright (Fn. 3), S. 287. 34 Gilles Deleuze, Le pli, Leibniz et le baroque, Paris 1988, S. 106 baut in die Vorher / Nachher-Differenz eines jeden Ereignisses die Differenz public / privé ein, die auch bei Whitehead für die Ereigniskonstitution von Bedeutung sei: „Chaque préhension nouvelle devient un datum, elle devient publique, mais pour d'autres préhensions qui l'objectivent;

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müssen die Unterschiede des Erlebens aneinander abgearbeitet werden. 35 Dieses Gefüge von unterschiedlichen Differenzen bietet die Grundlage dafür, daß sich ein soziales System den beteiligten Orientierungen auf jeweils verschiedene Weise erschließt. Jeder Systemteilnehmer orientiert sein Erleben und Handeln am Erleben und Handeln anderer Systemteilnehmer. Jeder hat aber seine eigene Vorstellung vom laufenden sozialen System. Jeder ist auf,»komprimierte, übersichtliche, aktuelle Präsentation" der Sinnzusammenhänge im sozialen System angewiesen. Orientierung und Verhalten der Systemteilnehmer können von der Analyse relational gefaßt werden. Verhalten kann zwar unabhängig von Intentionen, Wünschen und Ansichten integriert werden. Eine orientierungsabhängige, semantische Integration kann aber andererseits die pragmatische Integration des sozialen Kommunikationssystems modulieren. Ein soziales System bietet sich den Systemteilnehmern in einer Mehrzahl von Kontextformen dar. Die Analyse kann ihrerseits ebenfalls mit mehreren oder zumindest mit zwei Formen operieren: erstens mit dem vogelperspektivischen Systembegriff und zweitens mit den Formen, in denen Sozialsysteme den Beteiligten selbst erscheinen und entwerfen. Die Vereinfachungsformen des Systems sind nicht das System selbst. Systeme sozialer Kommunikation bieten den beteiligten Orientierungen die Voraussetzungen, „pragmatisch handhabbare Abbilder von ihnen" zu gewinnen. In diesem Sinne unterscheiden sich soziale Systeme von ihren Darstellungsformen, den „sozialen Epigrammen". 36 Die Darstellungsformen sind Formen der Herstellung von Zugänglichkeit. Zugänglich ist nicht das laufende soziale System, sondern die Vielfalt seiner Darstellungsformen. Letztere sind für die systemteilnehmenden Orientierungen zugänglich, und sie können es nur deswegen sein, weil sie aus den Aktivitäten der Orientierung gefügt sind. „Epigramme enthalten Anteile sowohl der Beteiligten wie des jeweiligen Systems." Die systembeteiligten Orientierungsaktivitäten beruhen auf der Unterstellung, daß alle Systemteilnehmer strukturgleiche Orientierungen an den Tag legen. Die Unterstellung selbst ist das Ergebnis der Kombination und Operationalisierung von Projektion und Integration; sie wird in die je einzelne Orientierung inkorporiert. 37 Die Erwartungsbildung in Interaktionen betrifft Möglichkeiten, die als bedingt angesehen und anvisiert werden können. Die Realisierungsbedingungen von Möglichkeiten müssen unterstellt werden können. Die Modalstruktur von Intenl'événement est inséparablement l'objectivation d'une préhension et la subjectivation d'une autre, il est à la fois public et privé, potentiel et actuel, entrant dans le devenir d'un autre événement et sujet de son propre devenir. Il y a toujours quelque chose de psychique dans l'événement". 35 Markowitz (§ 6 Fn. 5), S. 106 ff. Vgl. hierzu: Gilles Deleuze , Logique du sens, Paris 1969, S. 200, 208: „d'après quels critères des événements sont-ils des copulata , des confatalia (ou inconfatalia ), des conjuncta oder disjuncta ?" und „L'incompatible ne nait qu'avec les mondes où les événements s'effectuent, mais non pas entre les événements eux-memes ou leurs singularités acosmiques , impersonelles et pré-individuelles ". 36 Markowitz (§ 6 Fn. 5), S. 18, 26 f. 37 Ebd., S. 27, 28.

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tionen ist ohne Rekurs auf Bedingungen nicht möglich. Diese Bedingungen sind Kompetenzen, die auf fremdes, die betreffende Intention ermöglichendes Verhalten projiziert werden müssen. Man operiert mit virtualen und aktualen Projektionen. 3 8 Man kann nämlich die Bedingungen intendierter Möglichkeiten unterstellen (postulieren) oder modifizieren. Aktualprojektionen bewirken eine konditionale Modifikation des Referenten. Sie entziehen dem Bedingungsgefüge des Referenten Bedingungen oder fügen neue hinzu und verändern somit seine Wirklichkeit. Aktuale Projektionen werden von dem jeweiligen Engagement des Referenten reflektiert und der referierenden Orientierung als fremdgesetzte Projektion repräsentiert. Es geht um die im Interaktionssystem prozessierte Unterstellung, daß die Bedingungen geschätzter Möglichkeiten fortdauern können. Das Postulieren von Konditionalität hängt mit dem Deponieren von Referenten in Verweilformen zusammen, die Bedingungsgefüge von Möglichkeiten darstellen. Bei aktualer Projektion werden Diskontinuitäten auf das Bedingungsgefüge eines deponierten Referenten übertragen. Dies hat zur Folge, daß der konditionale Kontext des Referenten verändert, daß irgendwelche bis zum Beginn der aktualen Projektion dauernde Kondition kontrastiert wird. Man sitzt alleine im Zugabteil. Ein Fahrgast steigt ein. Er stellt ein Interaktionsansinnen dar, das zwangsläufig vom laufenden Engagement des Sitzenden eine Rückprojektion, eine Reflexion erfährt, die wiederum die Konditionalität des Eintretenden modifiziert. Virtuale Projektionen orientieren auch daran, welche der bisherigen oder der bis zur aktualen Projektion vorhandenen Dauer des Referenten als brüchig behandelt werden können. Jedes Herantragen von Diskontinuitäten führt eine Neuformierung von Bedingungen bestimmter Möglichkeiten herbei. Projektionen erfolgen aufgrund von Homologie- oder Analogieschemata.39 Diese Schemata sind institutionalisierte Erwartungszusammenhänge, die sich darauf beziehen, was virtual projiziert werden kann. Selbst in kurzlebigen Interaktionssystemen werden typisierte Prozesse des Homologisierens und Analogisierens angewandt. Die große Vielfalt der Erwartungszusammenhänge, die als Modelle solch virtualer Entwürfe dienen können, hängt von der jeweiligen Kultur ab. Kultur wird hier als Vorrat von Kommunikationsthemen verstanden, der es ermöglicht, „in themenbezogener Kommunikation passende und nichtpassende Beiträge oder auch korrekten bzw. inkorrekten Themengebrauch" zu unterscheiden. 40 In diesem Sinn ist es kulturell bedingt, welche Erwartungen darüber entstehen, welche Homologie- und Analogieschemata in Betracht gezogen und virtual projiziert werden können. Im Rahmen solcher Projektionsprozesse wird auf die gesellschaftliche Ausdifferenzierung von Kontingenzbereichen zurückgegriffen. Es handelt sich um „Kontingenz-Kontinua" und „Kontingenz-Formeln". 41 Alternativausprägungen 38 Hierzu und zum folgenden: Ebd., S. 150 ff. 39 Vgl. Edgar Morin, La Méthode 3. La Connaissance de la Connaissance / 1, Paris 1986, S. 139 ff. und zum Regelkreis von Projektion und Identifikation s. S. 144 ff. 40 Luhmann (§ 1 Fn. 27), S. 224 f. 41 Markowitz (§ 6 Fn. 5), S. 208.

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werden dadurch erwartbar gemacht, daß sie einem Kontingenzbereich zugeordnet werden, dessen Grenzen als abnehmende Wahrscheinlichkeit und Erwartbarkeit erlebt werden. Ereignisse lassen sich als eine der Ausprägungsalternativen eines bestimmten Kontingenzbereichs ansehen, wenn es der Orientierung gelingt, die kulturell bereitgehaltenen Kontingenz-Kontinua in concreto als einschlägig in Betracht zu ziehen. Die Fähigkeit der Orientierung, Ereignisse zu qualifizieren, setzt eine wie auch immer elaborierte Kenntnis von Kontingenzbereichen voraus. Mit Hilfe der Kontingenzbereiche kann angegeben werden, welches die Horizonte sind, die die Orientierung abtasten muß, um Ereignisse zu qualifizieren. Abweichungen entstehen im Hinblick auf die Erwartungen, die im Zusammenhang mit diesen Projektionsformeln gebildet werden. Homologisierungen können als Tertium comparationis dienen, das die analoge Relationierung von Referenten ermöglicht. Interaktionssysteme können sich gegenüber der Kontingenz von Prozessen variablen und differenten Projizierens dadurch schützen, daß sie in der sozialen Dimension auf Führung und in der zeitlichen Dimension auf Geschichte setzen. Dies erfolgt aufgrund pragmatischer und nicht semantischer Integration. Die Integration des Interaktionssystems wird nicht über das Bewußtsein der Teilnehmer vermittelt. Jeder Teilnehmer muß aber das semantische Integral, das es sich im Laufe der Autopoiese seines Bewußtseins von der laufenden Interaktion macht, mit der pragmatischen Integration des sozialen Interaktionssystems strukturell kompatibel machen. Autopoietische Erfordernisse der Weiterführung von Kommunikation erzwingen pragmatische Integration, d. h. Strukturbildung, die von den Teilnehmern als einzelnen nicht zu einem beliebigen Dispositionsspielraum erklärt werden kann. In Alltagsinteraktionen wollen sogar meistens die Interagierenden nicht genau wissen, worüber sie reden. Wer sich dessen aber bewußt ist, und dies auch in der Interaktion mitkommuniziert, bezweifelt unverständlicherweise Selbstverständlichkeiten und weicht ab. 42 Die Strukturierung der Interdependenzen kann auf ein Ordnen der relevanten Ereignisse nach Sachthemen oder auf Orientierung an kompetenten Teilnehmern hinauslaufen. 43 Wenn die Zentrierung von Interdependenzen ihren Schwerpunkt in der Sozialdimension hat, können die Interaktionsteilnehmer über ihr attentionales Alternieren nicht frei verfügen. Sozial vermittelte pragmatische Integration beeinflußt sowohl die Prozesse des Deponierens und Intendierens als auch diejenigen des semantischen Integrierens. Wer aufzupassen hat, der muß die Verfügung über seine Gegenwarten aufgeben. Die Strukturbildung in Interaktionssystemen ist ein Integrieren im faktischen Procedere und nicht im Bewußtsein. Interaktionssysteme setzen auf allen drei 42 Harold Garftnkel, Studies of the Routine Grounds of Everyday Activities, in: Social Problems 11 (1964), S. 225-250, 229: „The anticipation that persons will understand, the occasionally of expressions, the specific vagueness of references, the retrospectivprospective sense of a present occurence, waiting for something later in order to see what was meant before, are sanctioned properties of common, reasonable, understandable, plain talk.". 43 Luhmann (§ 1 Fn. 27), S. 564 f.

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Sinndimensionen eine „anonym konstituierte Gesellschaft" voraus. 44 Es bedarf gesellschaftlicher Vorgaben, damit die Beteiligten Interaktionen beginnen und beenden können, damit sie auf die für unmittelbares Anschlußhandeln „nötige Vielfalt" von Erwartungsstrukturen zurückgreifen können, die im multiplen Alternieren der laufenden Interaktion unmöglich entwickelt werden können. Damit die Gegenwarten der Beteiligten als durch aktuelles Kontextieren distinkter Kontexte gefügt, gesetzt werden können, müssen Homologieformen, Analogiemuster und Engagements als Projektionsformeln benutzt werden. Wichtig ist hierbei, daß die Gesellschaft einen Reichtum an Homologisierungs- und Analogisierungsmöglichkeiten sowie eine „triftige Typologie von Engagements" bereithält, die reine Zustände doppelter Kontingenz unmöglich machen, indem sie die beginnende Interaktion einschränken. 45 Die Gesellschaft verfügt über einen Vorrat an Verweiltypen, also an Engagements, die in Interaktionssystemen prozessiert werden und Gegenwärtigkeit entstehen lassen. Nur auf der Basis von einer so hergestellten Gegenwärtigkeit können sich die Interaktionsteilnehmer gegenseitig als füreinander erreichbar behandeln. Was die Sozialdimension angeht, so ergeben sich aus der Gesellschaft für die Interaktionsteilnehmer Freiheiten und Bindungen, die außerhalb des Interaktionssystems entstehen, die aber systemintern als Differenz von System und Umwelt, als „Person- und Rollenmanagement" präsentiert werden können. Außerhalb des jeweils laufenden Interaktionssystem können die Teilnehmer mit ihrer persönlichen Identität „eine andere Geschichte" und andere Erwartungen verbinden. 46 Dies ist Bedingung dafür, daß die Interaktion ihre „Eigengesetzlichkeit" auf der Grundlage doppelter Kontingenz entwickeln kann. Sie bringt ein ihr eigentümliches Arrangement von Freiheiten und Bindungen dadurch zustande, daß sie die Beteiligten aus der Spezifik ihrer Selbstreferenz herausnimmt und in die Typik der teilnehmenden Fremdreferenzen zwingt. Es entstehen dadurch mehrere Person- und Selbstbegriffe. 47 Die Differenz zwischen den selbstreferentiellen und fremdreferentiellen Personkonstitutionen beeinflußt nachdrücklich das Verhalten in der Interaktion. Die Differenz von Gesellschaft und Interaktion macht sich hier vor allem dadurch bemerkbar, daß die Teilnehmer durch „selbstreferentielle Konstitutionsvorbehalte" ihre Partizipation steuern können. 48 Das je eigene Selbst behauptet sich gegenüber fremdreferentiellen Konstitutionsansinnen seiner Person in der Interaktion mit Hilfe von Konstitutionsvorbehalten. Es kann den Versuch unternehmen, rigiden Projektionen auszuweichen durch Andeutung darüber, was man in diversen Kontexten, was man in der Gesellschaft und sogar im interaktionsfreien Handeln sonst noch alles ist. Die Bedingungen der Möglichkeit aller selbstreferentiellen Konstitutionsvorbehalte, deren Typologie Markowitz in Anlehnung an 44 Ebd., S. 568 f. 45 Markowitz (§ 6 Fn. 5), S. 271 f.; Luhmann (§ 1 Fn. 27), S. 186, 569. 46 Luhmann (§ 1 Fn. 27), S. 569 f. 47 Hierzu: Ephrem Else Lau (Fn. 18), S. 172 ff., 179. 48 Markowitz (§ 6 Fn. 5), S. 278 ff., 281 f.

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Goffmanns Asyle herausgearbeitet hat, liegt in der Unterscheidung von Interaktion und Gesellschaft. 49 Allgemein formuliert müssen alle Interaktionsteilnehmer das eigene Selbst in Auseinandersetzung mit den eigenen Vorbehalten und mit den selbstreferentiellen Vorbehalten anderer zu objektivieren versuchen. Das ist ein Bemühen, das die Nichtidentität von Gesellschaft und Interaktion als Differenz erfahrbar macht. Für die Sachdimension des jeweils in Interaktionen prozessierten Sinnes gibt es ähnliche Konsequenzen. Die Themen der kommunikativen Interaktion werden nämlich,»konkret und zugleich kontingent" gewählt. 50 Erwartbarkeit, Normativität und Devianz werden in Interaktionssystemen dadurch möglich, daß „hinreichende" gesellschaftliche Strukturvorgaben die Interaktionssysteme zu „pausenlosem Prozessieren und zur Selbstselektion von eigener Struktur und eigener Geschichte" befähigen. 51 Die Interaktion kann zwar Organisation und Gesellschaft als von der Komplexität des Interaktionssystems abhängend behandeln, dies befreit sie aber nicht von sozialen Strukturvorgaben. 52 Hierbei spielen etablierte Projektionsformeln eine wichtige Rolle. Sie werden dem Verhalten zugrundegelegt, damit Analogisieren, Vergleichen und Devianz möglich werden. Auf der Grundlage etablierter kontingent einzuschaltender Projektions- und Verweilformeln entstehen Analogkontexte und différentielle Partizipationsmöglichkeiten an der pragmatischen Integration der Interaktion. Mit sich ändernden Themen der kommunikativen Interaktion können die Beteiligten auch die Projektionsformeln wechseln, so daß jedesmal die Themen- und Beitragserwartungen auf einen anderen Analogiekontext und auf ein anderes Ausmaß des Analogisierens bezogen werden. In der Differentialität und im Nacheinander prozessierter Projektionsformeln entstehen Verhaltensalternativen, die unterstellte Intentionen und Kompetenzen konform oder abweichend konkretisieren. Die Konkretisierung gilt nicht als deviant, wenn sie im Rahmen etablierter Kontingenz-Kontinua erfolgt, wenn sie die Grenzen des Analogisierens nicht überschreitet. Devianz und Konformität werden in den Interaktionsprozessen in verschiedener Weise konstruiert. Erwartungen werden nicht nur deshalb aufrechterhalten, weil sie kontrafaktisch stabilisiert sind. Die Fakten selbst werden konstruiert und eröffnen somit den gehegten Erwartungen die Möglichkeit, sich immer wieder bestätigt zu sehen.53 Die Spezifikation, Generalisierung und Respezifikation von Erwartungen erfolgt im Modus einer „self-fullfilling prophecy". 49 Hierzu eine schon frühere Studie: Denis Diderot, La religieuse. Texte établi et présenté par Robert Mauzi, Paris 1972. so Luhmann (§ 1 Fn. 27), S. 571. 51 Ebd., S. 572. 52 „In Shakespeare's drama (Antony and Cleopatra), a war of global significance is treated by the lovers as a courtly tournament, and their armies are manipulated as if the outcome were related only to the complexities of the internal dyadic relationship." Philip E. Slater, On Social Regression, in: American Sociological Review 28 (1963), S. 339364, 349. 53 Hierzu: J. L. Simmons, On Maintaining Deviant Belief Systems: A Case Study, in: Social Problems 11 (1964), S. 250-256.

I. Rechtsgeltung und Erwartungsbildung in Interaktionssystemen

2. Konformität

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und Abweichung in Interaktionen

a) Regelskeptizismus Diese „Mikrophänomenologie", die mit Systemtheorie, Handlungstheorie, symbolischem Interaktionismus und differentialistischen Ansätzen verbunden ist, kann den für das Recht grundlegenden Zusammenhang von Regelsetzung und Regelbefolgung in ein neues Licht stellen. Bei dem Versuch, Regelorientierung zu erklären, darf man sich nicht von der Suggestivkraft des Kausalitätskonzeptes leiten lassen. Man darf auch nicht von der Vorstellung ausgehen, die Gesellschaft bestehe aus Individuen in Interaktionen. Damit wird das, was die Interaktion als regelgeleitetes Verhalten behandelt, „letztlich in psychische Systeme zurückverlagert". 5 4 Regeln werden darauf zurückgeführt, daß Individuen die Differenz von psychischer und sozialer Identität zu handhaben wissen. Dies führt jedoch zur einseitigen Disposition zugunsten subjektiver Perspektivität und zur „Tyrannei der Intimität". 55 Systemtheoretisch läßt sich die These vertreten, daß einseitiges Abstellen auf psychische Systeme zu einem Verlust der Fähigkeit führt, kommunikationsabhängige Regelorientierungen zu analysieren. Zudem muß man aus der Differenz von Gesellschaft und Interaktion die Konsequenzen ziehen. Der in Interaktionen prozessierte soziale Sinn kann keine direkten Lösungen für gesellschaftlich relevante Probleme liefern. Alles, was sich die einzelnen in den Interaktionssystemen verständlich und zugänglich machen, erschöpft nicht den gesellschaftlich prozessierten Sinn, es setzt ihn nur voraus. Vor diesem Hintergrund kann man Distanz zu einem Regelbegriff gewinnen, der als Reifikationsformel die komplexen Interaktionsprozesse auf allen Beteiligten bekannte Regeln zurückführt. Die Regeln gelten, die Handelnden verhalten sich konform oder abweichend. So ist es eben nicht. Es gibt natürlich typisierende gesellschaftliche Leistungen, die dem „Transport von Abwesendem in Anwesendes" dienen. 56 Es gibt Verhaltensregelmäßigkeiten, es gibt Erwartungen und es gibt die Differenz konform / abweichend. Die Frage ist aber: für wen? Uns geht es um das, was die Interaktionsteilnehmer leisten müssen, „wenn sie sich an dem Umstand orientieren wollen, daß sie in einem sozialen System erleben und handeln". 57 Es geht um das, was die Teilnehmer als anwesend / abwesend — und quer dazu — als Ereignis und Struktur, als Fluktuation und Dauer, als Intention und Kompetenz, als Handlung und Regelsupposition behandeln, und zwar so behandeln, daß es kommunikativ erfahrbar wird. Der Zusammenhang zwischen Regelsetzung und Regelbefolgung ist zu hoch aggregiert. Man braucht eine ganze Reihe neuer Unterscheidungen, die in verschiedenen Disziplinen erarbeitet worden sind, um neue Analysemöglichkeiten zu eröffnen und das, was man geläufig mit dem 54 Luhmann (§ 1 Fn. 27), S. 551; Markowitz 55 Markowitz, ebd., S. 242.

(§ 6 Fn. 5), S. 129.

56 Niklas Luhmann, Vorwort zu: Markowitz, Verhalten im Systemkontext, S. HL 57 Ebd., S. V. 14 Gromitsaris

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§ 7 Funktion der Geltung von Rechtsnormen im Rechtssystem

Begriff der Regelbefolgung meint, zu erklären. Psychische Autopoiese ist nicht soziale Reproduktion. Wenn psychische und soziale Systeme nur aus Ereignissen bestehen, die im Entstehen schon wieder verschwinden, muß Dauer und damit auch Änderbarkeit eine ständig zu erbringende Dauerleistung sein. Die Differenz von Umwelt und System kann nur als gleichzeitige gesetzt werden. Dies heißt, daß die Umwelt für das System nur als Simultaneität, als Gleichzeitigkeit erfaßbar ist. In der Umwelt gibt es andere Ereignisse und andere Verknüpfungsmöglichkeiten als im System. Diese parallel laufenden Ereignisrelationierungen müssen vom System als gleichzeitig gesetzt werden. Das Verhältnis der Autopoiesis von Bewußtseinssystemen und von Kommunikationssystemen, das mit dem gesamten Problemkreis der Interpénétration und Sozialisation zusammenhängt, beruht auf der Herstellung von Gleichzeitigkeit. 58 Diese erfolgt aufgrund von Modalisierung von Engagements, in welche der interaktiv prozessierte soziale Sinn eingerückt wird. Psychische Systeme sind nur von Moment zu Moment an Interaktionen beteiligt, und jeder Moment ist ein anderer. Das Interaktionssystem aktualisiert sich selbst, indem es Verweilformeln operationalisiert. Erst so wird es möglich, daß im „heterogen fluktuierenden Material" von differenten Aufmerksamkeitsleistungen Erwartbarkeit und Änderbarkeit entstehen.59 Erst so kann das Problem der Erwartbarkeit von Verhalten in Interaktionen umschrieben und das damit zusammenhängende Problem von Devianz und Enttäuschungsabwicklung behandelt werden. Die Bedingung der Möglichkeit für das Prozessieren von Erwartbarkeit liegt in der Differenz von Engagement und Referent, die in der Kommunikation erfahrbar sein muß. Diese Differenz löst Prozesse von „Spezifikation, Generalisierung und ReSpezifikation" von Erwartungen aus, die kommunikativ erprobt werden. 60 Diese Prozesse beziehen sich auf die Plausibilität der Verweilformen und ihre semantische Qualifikation und sorgen dafür, daß Verhaltensdiskontinuitäten in der laufenden Interaktion mit den Diskontinuitäten der systembeteiligten Orientierungen abgestimmt werden. Andererseits beziehen sie sich auf die Referenten und sorgen dafür, daß diese ihre jeweiligen Engagements überdauern und in verschiedenen Kontexten als identisch gesetzt werden können. Auf die Differenz Engagement (Verweilform) / Referent stützt sich zudem die Möglichkeit, zwischen semantischer und pragmatischer Integration des Interaktionssystems zu unterscheiden. 61 Mit dieser Differenz operieren nämlich sowohl virtuale wie auch aktuale Projektionen, die die Bedingungen geschätzter Möglichkeiten postulieren oder — entsprechend — modifizieren. Die Differenz der Differenzen trägt insofern zum faktischen Procedere der Interaktion bei, als sie in der Kommunika58 Luhmann (§ 1 Fn. 27), S. 254; ders., Autopoiesis als soziologischer Begriff, in: Hans Haverkamp / Michael Schmid (Hrsg.), Sinn, Kommunikation und soziale Differenzierung, Frankfurt/Main 1987, S. 307-324, 314, 323 Anm. 19; ders. (Fn. 56), S. II. 59 Luhmann (Fn. 56), S. V. 60 Ders. (§ 1 Fn. 27), S. 449. 61 Dies wird etwa im Vorschlag von Francesca Cancian, Norms and Behavior, in: Jan J. Loubser u. a. (Hrsg.), ebd., S. 354-366, 360 (social identity theory approach) nicht beachtet.

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tion Informationswert erhält. 62 Was die psychischen Systeme angeht, ist die Theorie sozialer Systeme phänomenologisch, d. h. sie ist „mechanism free", sie ist eine „black box" oder „grey box theory" aber keine „translucid box theory". 63 Andererseits „motives cannot be private and internal". Motive sind „practical observer's rules". 64 Dies alles muß in eine Kommunikationstheorie eingebaut werden. Die Herstellung von Gleichzeitigkeit, die die Grundlage für die Interpénétration von psychischem und sozialem System und für die Sozialisation bietet, muß in die dreistellige Selektion von Information — Mitteilung — Verstehen einbezogen werden. Die dritte Selektion (Verstehen) stützt sich auf die Unterscheidung von Information und Mitteilung. Dafür ist keine Mitteilungsabsicht erforderlich. Kommunikation gelingt, wenn es einem Beteiligten gelingt, eine Differenz von Information und Mitteilung „gleichwohl" zu beobachten. Dies impliziert, daß der Verstehende „auf Seiten des Kommunizierenden Selbstreferenz voraussetzen muß", und zwar so, daß Selbstreferenz und Mitteilung divergieren können. 65 Die Mitteilung muß als Selektion, als Selbstfestlegung interpretierbar sein. Homologieformeln, Analogiekonzepte und Engagements dienen dazu, Selbstreferenz und Mitteilungsverhalten der Referenten als Information zugänglich zu machen. Der Rekurs auf die Differenz Referent / Engagement rückt den Ereignisfluß in eine Verweilform ein, die das Mitteilungsverhalten als solches identifizierbar, wahrnehmbar, erwartbar macht. Damit die Ausgangsdifferenz aller Kommunikation installiert werden kann, damit nämlich die Unterscheidung von Information und Mitteilung durch einen Beobachter möglich und in der Interaktion kommunikativ prozessiert wird, muß die Eigenselektivität der Mitteilung und ihr Verhältnis zur Selbstreferenz des Mitteilenden beim Verstehenden Informationsweit bekommen. Die Mitteilungsselektivität muß den Systemzustand des Verstehenden verändern (den Gebrauch seiner Struktur aktualisieren). 66 Der Kommunikationsprozeß enthält aber mehr selektive Ereignisse als nur die als Mitteilungen festgelegten Akte. Aktuale und virtuale Projektionen, die auf der Unterscheidung von Engagement und Referent beruhen, dienen dazu, einerseits Mitteilungshandlungen aus dem Verhaltensfluß herauszugreifen und andererseits der Selbstreferenz des Mitteilenden Informationswert zukommen zu lassen. Auf diese Weise wird ein „Handlungsver62 A difference makes a difference. Hierzu: George Κ . Zollschan , Concerning the Fourfold Root of the „Principle of Sufficient Reason" in Sociological Explanation, in: ders. / Walter Hirsch (Hrsg.), Social Change: Explorations, Diagnoses, and Conjectures, New York / London / Sidney / Toronto, S. 220-269, 260; ders. / Michael A. Overington, Reasons for Conduct and the Conduct of Reason: The Eightfold Route to Motivational Ascription, in: ebd., S. 270-317, 281 f. 63 Vgl. Mario Bunge, The GST Challenge to the Classical Philosophy of Science, in: International Journal of General Systems 4 (1977), S. 29-37, 32. 64 „We are not trying to run psychologists out of business", wir versuchen die Systemreferenzen auseinanderzuhalten: Alan F. Blum / Peter McHugh, The Social Ascription of Motives, in: American Sociological Review 36 (1971), S. 98-109, 100 (Fn. 6), 103. 65 Luhmann (§ 1 Fn. 27), S. 195, 208. 66 Ebd., S. 102. 14*

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ständnis" in das kommunikative Geschehen eingebaut, das die Kommunikation durch Beschreibungsleistungen beobachtbar macht und distinkte Einheiten als Handlungen behandelt.67 Es handelt sich um Beschreibungen, die im sozialen System selbst angefertigt werden. Sie kommen dadurch zustande, daß Selektionsleistungen „aus welchen Gründen, in welchen Kontexten und mit Hilfe welcher Semantiken (Absicht, Motiv, Interesse) auch immer auf Systeme zugerechnet werden". Alle Selbstbeschreibung und Selbstbeobachtung der kommunikativen Geschehnisse im jeweils laufenden sozialen System ist „ihrerseits wieder Kommunikation und nur so möglich". 68 Jede Beschreibung oder Beobachtung, die durch die Operationen eines psychischen Systems geschieht, ist kein kommunikatives Ereignis. Die Selbstreferenz des Bewußtseins ist nicht die Selbstreferenz des sozialen Systems. Die Formen virtuellen Verweilens, die der semantischen Integration von Interaktionen zugrunde liegen, sind sowohl für das soziale als auch für die beteiligten psychischen Systeme relevant. Nur mit ihrer Hilfe können Ereignisse sich in Interaktionssystemen identifizieren und sich aufeinander beziehen. Da der Anschlußwert eines sozialen Ereignisses unbestimmt ist, gibt es eine Mehrzahl der Anschluß- und Ausprägungsalternativen. In jeder Systemreferenz wird Anschlußfähigkeit unter Zugriff auf vorausgegangene und künftige Ereignisse hergestellt. In jedem System entsteht eine antizipationsfähige Ordnung, die als Prozeß identifizierbar ist. Die Lage wird komplizierter, wenn man gleichzeitig verschiedene Systemreferenzen berücksichtigen muß. Die Teilnehmer eines Interaktionssystems entwerfen jeweils für sich eine prozessuale Integration der von ihnen als antizipationsfähig konstituierten Ereignisse. Jeder der Beteiligten entwirft seine eigene Deutung der antizipationsfähigen Ordnung des Systems. Die Pluralität der Antizipationsentwürfe ist nicht identisch mit dem tatsächlich entstehenden prozeßhaften Sequenzieren der Ereignisse im sozialen System.69 Auf diese Weise entstehen multiple Kommunikationskanalisierungen. 70 Differentiale prozessuale Integrationen werden von der Orientierung im laufenden sozialen System berücksichtigt. Auf ihnen beruht die Disposition über die Anschlußselektivität der Ereignisse im sozialen System, und auf sie geht die Notwendigkeit zurück, für unvermeidliche Ambivalenz, Ambiguität und Inkoherenz Toleranz aufzubringen. 71 In einem laufenden sozialen System können aber Ereignisse zum Prozeß pragmatisch integriert werden, wenn die „Selektion des einen Ereignisses 67 Vgl. Abraham A. Moles / Elisabeth Rohmer, Théorie des Actes. Vers une écologie des actions, Paris 1977, S. 30: „Où commence, où finit une action donnée?". 68 Luhmann (§ 1 Fn. 27), S. 227, 228, 232. 69 Vgl. Paul Stager , Conceptual Level as a Composition Variable in Small-Group Decision Making, in: Journal of Personality and Social Psychology 5 (1967), S. 152161: „reality is defined as being possessed of multiple alternatives and hence diversity is sought as a means of enhancing validation" (S. 154). Hier zitiert Stager H. Schroder. 70 „A multichanneled communication network", „utilization of conflicting information" und „different environments or task situations (that) require different structural responses with respect to group organization", das sind begriffliche Versuche, semantische und pragmatische Integration des Interaktionssystems aufeinander zu beziehen: Ebd., S. 160.

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die eines anderen ermöglicht". 72 Aus der Sicht der semantischen Prozeßintegration setzt Prozeßerleben den Rückgriff auf konjukte Kontingenz-Kontinuen voraus, die ein attentionales Alternieren der Orientierung auf die verschiedenen Ausprägungen des Kontinuums nacheinander zulassen. Nur durch den Rückgriff auf konjukte Ausprägungsalternativen eines Kontingenz-Kontinuums kann die Orientierung Ereignisverkettungen in einem laufenden sozialen System als eine Mehrzahl von Alternativen identifizieren und eine antizipationsfähige Ordnung semantisch erstellen. Von semantischer prozessualer Integration ist demnach dann die Rede, wenn die Orientierung antizipationsfähige Ereignisse als Ereignisverkettungen ins Kalkül zieht. Hierfür ist die Kenntnis von sozial vorhandenen Kontingenzkontinuen und Kontingenzformeln erforderlich. Die pragmatische prozessuale Integration erfolgt ohne notwendigen Rückgriff auf die semantischen Prozeßintegrale. 73 Diese Gedanken führen zu einem Regelskeptizismus.74 Soziale Systeme sind nicht so gebaut, daß sie zwei in sich abgeschlossen denkbare Bereiche — den eines geschlossenen Regelkomplexes und einen anderen aus Handlungen bestehend — miteinander kombinieren. Soziale Systeme entstehen nicht dadurch, daß man zunächst einmal die Regeln vereinbart, die anschließend befolgt werden sollen. Diese Auffassung setzt voraus, daß Regeln und Regelbefolgungen prinzipiell auch unabhängig von aller Kontextualität zur Verfügung stehen. Regeln werden als internalisierte ideale Entitäten angesehen, die das Verhalten steuern. Gerade dieses Internalisierungs- und Sozialisationskonzept wird hier in Zweifel gezogen. Regeln können aber nicht unabhängig von der sozialpragmatischen Integration des Systems aufgefaßt werden. Sie sind keine Entitäten, die in der 71 Das ist das Thema von Henry James', Daisy Miller, in: Daisy Miller and Other Stories, edited with an introduction and notes by Jean Gooder, Oxford / New York 1985. Winterbourne erträgt keine Ambivalenz: „the name of little American flirts was incoherence". Die Erwartungen stehen nicht fest, und die Situationen bleiben Undefiniert: „but Mrs. Miller was humbly unconscious of any rupture of any law or of any deviation from any custom" (S. 62, 63 f.). 72 Luhmann (§ 1 Fn. 27), S. 482. 7 3 Markowitz (§ 6 Fn. 5), S. 208 ff.; Luhmann (§ 1 Fn. 27), S. 482. 74 Hierzu s. den radikalen Fakten- und Regelskeptizismus bei Werner Krawietz, Zur Korrelation von Rechtsfrage und Tatfrage in der Rechtsanwendung. Strukturprobleme im Theoriedesign einer möglichen Rechtsprechungslehre, in: Norbert Achterberg (Hrsg.), Rechtsprechungslehre. Internationales Symposium Münster 1984, Köln / Berlin / Bonn / München 1985, S. 517 - 553,528; ders., Normativismus oder Skeptizismus? Zum Verhältnis von Regelsetzung und Regelbefolgung in der kritischen Rechtstheorie Kants, in: ders. / Walter Ott(Hrsg.), Formalismus und Phänomenologie im Rechtsdenken der Gegenwart. Festgabe für Alois Troller zum 80. Geburtstag, Berlin 1987, S. 321-342. Vgl. femer die Kritik Bourdieus an den „juridisme": Pierre Bourdieu, Habitus, code et codification, in: Actes de la recherche en sciences sociales 1986, S. 40-44, „contre la tendence des ethnologues à décrire le monde social dans le langage de la règle et à faire comme si Ton avait rendu compte des pratiques sociales dès qu'on a énoncé la règle explicite selon laquelle elles sont sensées être produites" (S. 40). Zum „Regelplatonismus" und anderen Kategorisierungen s. Andreas Kemmerling, Regel und Geltung im Lichte der Analyse Wittgensteins, in: RECHTSTHEORIE 6 (1975), S. 104-131.

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Kommunikation prozessiert werden könnten. Im Grundgeschehen der Kommunikation kommt das „Regelhafte" überhaupt nicht zum Vorschein. In der Kommunikation geht es immer um Selektionen aus verschiedenen Möglichkeitsbereichen und um Informationen, die nicht übertragen, sondern konstituiert werden müssen. Die Differenz von Information und Mitteilung wird different als Einheit gesetzt. Sie wird different beobachtet, erlebt, verstanden und different als virtuale Projektion semantisch integriert. Sie wird auch different als aktuale Projektion der Wahl des Anschlußverhaltens im sozialen System zugrunde gelegt, indem sie die Bedingungen geschätzter Möglichkeiten nicht mehr bloß postuliert, sondern faktisch modifiziert. Die Erlebnissysteme, die jeder Beteiligte in die soziale Situation einbringt, sind von den ihm zugerechneten Handlungen zu unterscheiden. Sie sind von denjenigen der anderen Teilnehmer auf viele Weisen verschieden. Sie können aber zum Faktor, zum Element des Interaktionssystems nur werden, wenn sie anhand der Differenz Mitteilung / Information beobachtbar werden. Die pragmatische Integration des Verhaltens in der Interaktion hängt nicht nur von der Reaktion des einen Handelnden auf den anderen ab. Sie hängt auch davon ab, daß jeder Handelnde nicht nur auf der Grundlage der faktischen oder antizipierten Reaktion des anderen handelt, sondern auch aufgrund eigener Erwartungen, die auf vergangenen Erfahrungen beruhen. Erfahrung und Erlebnis sind in der Selbstreferenz nicht das, was sie in der Fremdreferenz sind. Die Abweichungsmöglichkeiten, die aufgrund dieser Unterscheidungen entstehen, müssen als zu den Interaktionskontingenzen hinzukommend berücksichtigt werden. Es handelt sich nicht nur um die doppelte Kontingenz von Erwartungen in der Pluralität der Fremdreferenzen. Es gibt eine ganze Reihe doppelter Kontingenzen, die auf die Differentialität der Selbstreferenzen und ihr Verhältnis zu den pragmatisch integrierten Fremdreferenzen zurückzuführen sind. 75 Alle Fähigkeit, die Differenz Mitteilung / Information zu beobachten, zuzumuten und dem Anschlußhandeln zugrunde zu legen, hängt von den Erfahrungen und Erlebnissen, die das systembeteiligte psychische System mitbringt, ab. Auf der Grundlage dieser Erfahrung kann der Handelnde die jeweils systemrelevante Art der Selbstzurechnung sich selbst beibringen. Er kann „soziale Kontrolle durch Selbstkontrolle entlasten" und rechtzeitig merken, wann, die Fremdreferenzen auf ihn Handlungsbeiträge zuschreiben. In diesem Sinne ist „Sozialisation immer Selbstsozialisation". 76 Max Weber hat bei seiner Analyse des Regelbegriffs das Aufeinanderbezogensein von Selbst- und Fremdreferenz in den Vordergrund gestellt. 77 Dies hat ihn 75 Jan J. Loubser, Handlung und Erlebnis, in: ders. / Reiner L. Baum / Andrew Effrat Victor Mayer-Liedz (Hrsg.), Allgemeine Handlungstheorie, Frankfurt / Main 1981, S. 328-394, 354 ff. 76 Luhmann (§ 1 Fn. 27), S. 231, 327. 77 Max Weber, Rudolf Stammlers „Überwindung" der materialistischen Geschichtsauffassung, in: ders., Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, Hrsg. von Johannes Winckelmann, 4. em. durchges. Aufl., Tübingen 1973, S. 291-359; ders., Nachtrag zu dem Aufsatz über R. Stammlers „Überwindung" der materialistischen Geschichtsauffassung, in: ebd., S. 360-383. Hierzu: Gromitsaris (§ 2 Fn. 17), S. 47 ff., 57 ff.

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zu einem Regelrelativismus geführt. Es gibt die Regelsuppositionen, die die Interaktionsteilnehmer in das fremde Verhalten hineinprojizieren, sowie das Regelverständnis, was sie dem eigenen Verhalten zugrunde legen. Die Regel fungiert nämlich als kausal determinierende Maxime und als Maximenhypothese. Sie wird im System selbst als heuristisches Schema konstruiert, das zur Hypothesenbildung bei den Teilnehmern dient. Sie verdankt ihre Existenz den Beschreibungen und Beobachtungen der Teilnehmer. Hinzu kommt, daß ein externer Beobachter ein anderes Regelverständnis hat, das von seinem jeweiligen Beobachtungsschema abhängt und von dem Sinn, der im System als Regel behandelt wird, unterschiedlich ist. Es muß nicht so sein, daß die Regeln, die ein externer Beobachter — etwa ein Logiker — in das Verhalten der Interagierenden hineinprojiziert, mit den kommunikativen Prozessen im System identisch ist. Die Rekonstruktion der Fremdbeobachtung ist nicht identisch mit den Rekonstruktionen, die im System selbst angefertigt werden. Die Kommunikation asymmetrisiert sich selbst, indem sie Anschlußfähigkeit durch punktualisierte und irreversible Handlungszurechnungen erleichtert. Dieser Vorgang ist von externen Rekonstruktionsleistungen des kommunikativen Grundgeschehens sorgfältig zu unterscheiden. Eine Rechtstheorie, die aus diesem Regelrelativismus die Konsequenzen zieht, muß die Elemente, von denen sie ausgeht, tiefer legen und temporalisieren. Sie muß die Kluft zwischen den Interaktionssequenzen und der Komplexität des Rechtssystems stärker beachten. Dies heißt, daß sie die Fragen nach der Wirksamkeit und Geltung des Rechts neu und anders stellen muß. Die Analyse des Prozessierens der Differenz Konformität / Abweichung und der Sinnkonstitution in Interaktionen bringt uns zum Ergebnis, daß sich das Verhalten im Normalfall nicht an Rechtssätzen, sondern an jeweils systemabhängigen Erwartungszusammenhängen orientiert. Vor dem Hintergrund von gesellschaftlichen und organisationsabhängigen Strukturvorgaben verteilen die laufenden Interaktionssysteme Verhaltenslasten, mit denen sich die Teilnehmer konfrontiert sehen. Die Verhaltensregeln sind selbst Beschreibungskonstrukte, die dem Verhalten in der Kommunikation zugrunde gelegt werden, um Anschlußhandeln zu erleichtern. Sie sind zugleich Fremdbeschreibungskonstrukte, die als Bewertungsmaßstäbe benutzt werden können, um die fremdbeobachtete Kommunikation und ihre Selbstbeschreibung als Handlung zu rekonstruieren. Das Verhalten im Systemkontext orientiert sich an den Regelsuppositionen, die im Systemkontext durch Selbstbeobachtung und aktuale Projektion angefertigt werden. Auf diese Weise gibt es in allen sozialen Systemen Regeln. Es gibt nämlich Erwartungen, die sachlich, sozial und zeitlich insofern kongruent generalisiert werden, als die Kongruenz der Generalisierung in einem Interaktions- oder Organisationssystem stattfindet. In diesem Sinne kann man auch mit Werner Krawietz von Regelsystemen des Rechts sprechen. Rechtsregeln entstehen in der Form von regelbefolgenden Regelsetzungen in allen sozialen Systemen ohne Rekurs auf die staatliche Entscheidungsbürokratie. 7 8

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b) Orientierungsgewißheit und Realisierungssicherheit Auf dem Hintergrund eines Normen- und Faktenskeptizismus kann man mit Krawietz sagen, daß „sowohl die normativen als auch die faktischen Entscheidungsprämissen jeder rechtlichen Regelbefolgung zwar nicht hinfällig, aber brüchig geworden sind, weil es vom Standpunkt eines sinnkritischen Rechtsrealismus ... die Norm bzw. Rechtsregel ebensowenig gibt wie das Faktum brutum." 79 Dies läßt sich auch für die rechtlich relevanten Kommunikationsprozesse in Interaktionssystemen nachweisen. Recht ist eine besonders anspruchsvolle Erwartungsgeneralisierung. In Anlehnung an Luhmann benutzen wir als Rechtskriterium die kongruente Generalisierung von Erwartungen. Weder Staatsbezug noch Sanktionsfähigkeit können die Funktion des Rechtskriteriums erfüllen, ohne den Verhältnissen Zwang anzutun. Jedes soziale System — d. h. Interaktionen, Organisationen und Gesellschaften — hat seine eigenen kongruent generalisierten Erwartungen. Da es keine Ordnung ohne Erwartungen geben kann, gibt es auch keine Gesellschaft ohne Recht. In einer Gesellschaft gibt es aber eine Pluralität von Regelsystemen und in diesem Sinne auch eine Pluralität von Rechtssystemen. Die Frage, welches Recht gesellschaftsweite Anerkennung finden kann, kann nicht in der Sachdimension beantwortet werden. 80 Es handelt sich um ein Problem der Generalisierungsfähigkeit von Erwartungen in der Sozialdimension, also um ein Institutionalisierungsproblem. Die drei Dimensionen treten natürlich nicht isoliert auf. So gibt es Themen, die es beanspruchen, normativ und gesamtgesellschaftlich geregelt zu werden. Jedenfalls kann der Norminhalt allein nicht über den Institutionalisierungsgrad der Normen entscheiden. Die kommunikative Bezugnahme auf die kongruent generalisierten Erwartungen des jeweils einschlägigen Systems braucht nicht nach der binären Schematisierung Recht / Unrecht kodiert zu werden. Die Thematisierung der kongruent generalisierten Erwartungen eines Systems greift — wenn sie nach Maßgabe des Codes Recht / Unrecht geschieht — über die Kompetenzgrenzen des Subsystems hinaus und schaltet die Gesamtgesellschaft als institutionalisierende Instanz und Bezugsgruppe ein. Die Kommunikation wählt ihren eigenen Anwendungsbereich, indem sie den Code anwendet. Es kommt aber nicht in jeder Situation auf gesamtgesellschaftliches Recht an. Die Einschaltung des Codes ist ein kontingentes Phänomen und hängt von den Thematisierungsschwellen ab, die die Kommunikation im System errichtet. Die Kommunikation braucht sich in Problemfällen nicht gleich an juristischen Entscheidungswahrscheinlichkeiten und Subsumierungsmöglichkei78

Dazu: Werner Krawietz, What Does It Mean To Follow an Institutionalised Legal Rule? On Rereading Wittgenstein and Max Weber, in: Eugen E. Dias / Stig Jörgensen / Alice Erh-Soon Tay (Hrgs.), Konstitutionalismus versus Legalismus? Geltungsgrundlagen des Rechts im demokratischen Verfassungsstaat (Proceedings of the IVR 13th World Congress Kobe 1987 on Philosophy of Law and Social Philosophy, Beiheft vom Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie, Stuttgart (im Druck). 79 Krawietz, Rechtsfrage und Tatfrage (Fn. 74), S. 528. so Luhmann (§ 1 Fn. 27), S. 451.

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ten des Rechtsstabes zu orientieren. Das Festhalten und Weiterverfolgen von Erwartungen im Enttäuschungsfall sowie die Herstellung von Erwartungsgewißheit kann durch Rückgriff auf die kongruent generalisierten Erwartungen des jeweiligen Interaktions- und Organisationssystems erfolgen. Die Kommunikation gibt häufig genug Anlaß zur Kommunikation über Kommunikation. Auf dieser Ebene reflexiver Kommunikation kann man sich dem Zugriff des Codes Recht / Unrecht entziehen, indem man ihn selbst zum Thema macht. Lohnt sich ein Rechtsstreit wirtschaftlich betrachtet, menschlich betrachtet? 81 Die Juridifizierung von Interaktionsprämissen durch „Umformung von Selbstverständlichkeiten in Rechtsnormen" ist einerseits kontingent und andererseits nicht die einzige Möglichkeit, der Kommunikation rechtliche Bedeutung beizulegen.82 Die Kommunikation verschafft sich nämlich rechtliche Relevanz, indem sie auf ihre kongruent generalisierten Erwartungsprämissen Bezug nimmt. Dies kann explizit auf der Metaebene der Kommunikation über Kommunikation geschehen. Die in der direkten Kommunikation aufgetretene Erwartungsunsicherheit kann auf der Metaebene beseitigt werden. Interaktionen und Organisationen sehen Einrichtungen der Enttäuschungsabwicklung vor, die Erwartungen gegen Lernzumutungen schützen können, ohne die „Friedensvorsorge" ganz dem Rechtssystem der Gesellschaft zuzuschieben, ohne nämlich Erwartungen und Enttäuschungen zu juridifizieren. 83 Interaktionen und Organisationen ordnen sich selbst einem Regelsystem und damit einem Recht zu. Dies geschieht operativ aufgrund pragmatischer Integration, die der Unterscheidung von Operationen und Beobachtungen Beachtung schenkt. Operationen sind Kommunikationen. Beobachtungen erhalten kommunikativen Wert, wenn ihnen die Differenz Information / Mitteilung von einem Beobachter abgewonnen werden kann. Beobachtungen sind Unterscheidungen, die dem Beobachter zur Informationsgewinnung dienen. Aber sie müssen nicht kommuniziert werden. Operationen werden im Moment ihres Vollzugs zu Ereignissen und können beobachtet werden. Aus der Beobachtung von Operationen wird ein „Wissen ex post gezogen". Auf künftige Operationen läßt sich aus vergangenen und gegenwärtigen Operationen nur sehr bedingt rückschließen, und dies nicht nur in der Wirtschaft. 84 Eine Informationsgewinnung ex ante über Erwartungsmöglichkeiten ist darauf angewiesen, „die Beobachtungen zu beobachten, die den Operationen der anderen vorausgehen". Auf diese Weise entstehen Beobachtungen zweiter Ordnung, die die Kalküle der anderen aufgrund von Unterstellungen rekonstruieren. Man will sehen, aufgrund welcher Beobachtungsdifferenzen die anderen Unterscheidungen treffen, um zu wissen, was sie möglicherweise tun. Die Beobachtungen, die die Reflexivität des Beobachtens beobachten, sind si Luhmann (§ 5 Fn. 10), S. 271. 82 Luhmann (§ 1 Fn. 19), S. 59. 83 Luhmann (§ 1 Fn. 27), S. 210 f., 453, 456. 84 Dirk Baecker, Information und Risiko in der Marktwirtschaft, Frankfurt / Main 1988, S. 198 ff.

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§ 7 Funktion der Geltung von Rechtsnormen im Rechtssystem

Beobachtungen dritter Ordnung. Der Versuch, Beobachtungen zu rekonstruieren, ist der Versuch, die System / Umwelt-Differenzen der beobachteten Systeme zu rekonstruieren. 85 Für Interaktionssysteme bedeutet dies, daß die Entwürfe semantischer Integration der Beteiligten sowie die pragmatisch integrierte Aktualität des Systems zum Beobachtungsgegenstand werden kann. Die Beobachtung von Operationen und Beobachtungen ist für die Verwendung des Codes Recht/Unrecht von Bedeutung. Die Codierung der Operationen eines Systems nach dem Schema Recht / Unrecht sichert diesem System eine höhere Anschlußsicherheit. Die im Code etablierte Unterscheidung ordnet Konsequenzen, die sich darauf stützen, daß alle weitere Informationsverarbeitung kanalisiert wird, daß nämlich Recht und Unrecht nicht identisch behandelt und mit verschiedenem Anschlußwert versehen werden. Die Codierung sagt aber nichts darüber aus, wer sie einschalten und anwenden kann. Geht man davon aus, daß nur der Rechtsstab über die Differenz Recht / Unrecht verfügt, so fällt man einer Rechtsstabs- und Zwangstheorie anheim, die die kontingente Einschaltung des Codes ausblendet. Die Codierung muß auch darauf verzichten, als Kriterium der codierten Selektionsleistungen zu dienen. In der allgemeinsten Abstraktionslage des Codes lassen sich keine Selektionskriterien festlegen. Der Code verweist darauf, daß eine Gesellschaft die Möglichkeit funktionsspezifischer Operationen vorsieht. Die Kriterien dienen „sehr viel konkreter" der Selektion von brauchbaren Operationen. Das heißt, daß der Code nicht sagen kann, was rechtens ist. Er kann nicht sagen, nach welchen Kriterien eine Kommunikation rechtliche Relevanz erhält und unter welchen Bedingungen eine Erwartung zum Vorrat an kongruent generalisierten Erwartungen einer Interaktion oder einer Organisation gehört. Der Code fixiert nicht die Bedingungen, unter denen der eine oder der andere Wert gesetzt wird. 8 6 Der Rechtscode ist gesamtgesellschaftlich relevant, die Bedingungen der Richtigkeit für die Selektion von Recht und Unrecht sind jedoch pluralistisch und divergent in einer Gesellschaft fixiert. Kriterien beziehen sich auf die binäre Codierung Recht / Unrecht, „aber sie sind nicht ein Pol" dieses Codes selbst. Diese Selektionskriterien heißen im Rechtsstab Gesetze, in einer Räuberbande aber können sie Sitte oder eigenwilliger Gerechtigkeitssinn heißen.87 Die eigentliche Leistung des Codes liegt darin, daß er eine Differenz und keine Distinktion ist. Er ist keine einfache Unterscheidung, die das Recht als etwas Bestimmtes bezeichnet, indem sie es von unbestimmt anderem unterscheidet (Distinktion). Er ist eine Differenz, d. h.: Er ist eine Unterscheidung, bei der beide Seiten bezeichnet werden, um etwas Bestimmtes von etwas anderem Bestimmten zu unterscheiden. Der rechtliche Code besagt, daß Recht in der Differenz zum Unrecht und nicht in der Differenz zur Wissenschaft, zur Moral, zur Wirtschaft oder zur Erziehung bestimmt wird. Man kann den Gehalt des Begriffs Recht ändern, indem man den Gegenbegriff ändert. Man erfährt über das Recht ss Ebd., S. 200 ff. 86 Niklas Luhmann, Ökologische Kommunikation, Opladen 1986, S. 82 ff. 87 Ebd., S. 90.

I. Rechtsgeltung und Erwartungsbildung in Interaktionssystemen

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ganz etwas anderes, wenn man es im Hinblick auf und im Unterschied zu Moral bestimmt als in dem Fall, in dem man sagt, daß Recht keine Wirtschaft, keine Religion, keine Wissenschaft, keine Kunst, keine Wahrheit ist. Der Rechtscode besagt, daß sich das Recht im Unterschied zum Unrecht bezeichnet, und dies ist sein wichtigster Beitrag zur Ausdifferenzierung eines sozialen Systems in der Gesellschaft. Der Wert Recht kann nur in Richtung auf den Gegenwert Unrecht verlassen werden — und dies aufgrund von beliebigen Kriterien. Die Existenz und die Anwendungsmöglichkeit des Rechtscodes bietet die Grundlage dafür, daß Kommunikationen, die rechtliche Relevanz haben, nicht religiös, moralisch, ästhetisch, wirtschaftlich etc. begründet und beurteilt werden müssen, um ihre rechtliche Qualität zu erwerben oder zu bewahren. Andererseits bestimmt der Code nicht die Selektionsprozesse des Fixierens dessen, was als Recht oder Unrecht festgelegt werden soll. Was als Recht auftritt, muß nicht zugleich gläubig, gut, gerecht, wahr, schön oder richtig sein. Was als Unrecht auftritt, muß entsprechend nicht zugleich ungläubig, böse, ungerecht, unwahr, häßlich oder falsch sein. Es kann all dies sein für beliebige Beobachter und ist dennoch schlicht Recht oder Unrecht. 88 Die Selektion der Erwartungen, die rechtliche Relevanz haben, setzt jedoch Kommunikation sowie Beobachtung von Kommunikationen und Beobachtungen voraus. Operationen und Beobachtungen sind nicht darauf angewiesen, ihre Informationsgewinnung und Informationsverarbeitung an dem binären Schematismus des Rechtscodes zu binden. Letzterer ist ohnehin so abstrakt, daß sein Informationswert schlicht in der Festlegung einer Systemreferenz liegt. Die Einschaltung der Differenz Recht / Unrecht ordnet Kommunikationen dem Rechtssystem zu. Sie nötigt nämlich Kommunikationen dazu, sich in der Differenz zum Recht oder zum Unrecht und nicht in der Differenz zum Nichtrecht zu bezeichnen. Nichts hindert aber die Operationen und Beobachtungen daran, Informationen anhand der Unterscheidung zwischen Recht / Unrecht und Nichtrecht zu gewinnen. Diese Unterscheidung von Rechtscode und Kriterien für die Selektion von kongruent generalisierten Erwartungen ermöglicht eine zutreffendere Beschreibung der Rechtsorientierung in Interaktionssystemen. Für die Kommunikation und Beobachtung in der Interaktion geht es nicht nur um Recht oder Unrecht, sondern auch um Sittlichkeit, Religion, um Sitte und Ehre, um Anstand, um Mode und sogar um den guten Ton. Es handelt sich um das, was Lon L. Fuller in Anlehnung an die Systemtheorie Parsons' „interactional expectancies" nennt. 89 Operationen und Beobachtungen sind auf die zwei Werte des Rechtscodes nicht festgelegt und können darum beliebige „ausgeschlossene Dritte" wieder einführen. Die Informationsgewinnung erfolgt aufgrund beliebiger Differenzen, die fremdreferentielle Verweisung erschließen, die Kalküle der anderen einbeziehen und Anschlußmöglichkeiten nahelegen. Aus der operativen pragmatischen 88 Vgl. Baecker (Fn. 84), S. 335, 181. 89 Lon L. Fuller, Human Interaction and the Law, in: Kenneth I. Winston (Hrsg.), The Principles of Social Order. Selected Essays of Lon L. Fuller, 2. Aufl., Durham Ν. C. 1982, S. 211-246, 220.

220

§ 7 Funktion der Geltung von Rechtsnormen im Rechtssystem

Integration der interaktiven Kommunikation ergeben sich die Erwartungen, die als kongruent generalisiert behandelt worden sind. Auf der Ebene der Beobachtung von Beobachtungen wird mit Unterstellungen operiert, die die kongruenten Erwartungen des Systems identifizierbar zu machen suchen. Hierbei orientieren sich die Beteiligten nur im Extremfall am staatlichen Straf- und Vollstreckungszwang. Prozesse „wechselseitiger Selektion von Verhaltensweisen" führen zum „sukzessiven Aufbau" von Bedingungen der Möglichkeit weiterer Kommunikation. 90 Diese Möglichkeiten von Anschlußkommunikationen gestalten sich „nicht nur mit Blick auf den Staat, sondern auch für sonstige, mehr oder weniger organisierte Handlungssysteme".91 Wenn es überhaupt der Orientierung an Sanktionsmöglichkeiten bedarf, geht es eher um systemabhängige äußere Rücksichten. Es geht eher um den Verlust des Postens, der Arbeit, der gesellschaftlichen Stellung, der Kundschaft, der Geschäftsverbindung, des Kredites usw. Im Laufe der Interaktion werden die Referenten tentativ in Engagements deponiert, die zum Abtasten der Erwartungslage dienen und aufgrund von Homologien und Analogien zur Herstellung von Abweichungsmöglichkeiten führen. Die Interaktion erhält rechtliche Relevanz, wenn kongruent generalisierte Erwartungen als unterstelltes Homologieschema der Bildung von Analogien zugrunde gelegt werden. Dies geschieht nicht nur auf der Ebene von Beobachtung der jeweiligen Aktualität der pragmatischen Integration der Interaktion, sondern auch auf der Ebene der Beobachtung der semantischen Integration, die als Beobachtungsschema und Erwartungskalkül der anderen unterstellt wird. Die Erwartungen, die die semantische Integration als kongruent generalisiert behandeln, sind mit den Erwartungen, die im Laufe der pragmatischen Integration operativ diesen Status erlangen, nicht identisch. Rechtliche Relevanz wird erzeugt, selbst wenn man das Wort Recht überhaupt nicht ausspricht und Juridifizierungsmöglichkeiten nicht in Betracht zieht. In bezug auf die Erwartungsbildung in sozialen Systemen unterscheidet Geiger zwei Dimensionen der Ordnungssicherheit. Er spricht von Ordnungssicherheit oder Ordnungsgewißheit und von Realisierungssicherheit oder Ordnungszuversicht. Das Wissen um die Themenbezogenheit und den sozialen Generalisierungsgrad von Erwartungen bezieht sich auf die Handlungsweisen, die die anderen von mir erwarten oder nicht erwarten, und auf das Gebaren, das „ich vom anderen zu gewärtigen habe oder nicht". Die Erwartungszusammenhänge in sozialen Situationen verweisen auf die Handlungsweisen, die „in einem ganz bestimmten Sinne risikofrei sind". Sie sind nämlich frei von dem Risiko, „soziale Nachteile" nach sich zu ziehen, d. h. sich der Reaktion der jeweiligen Integratsöffentlichkeit auszusetzen. Diese Orientierungssicherheit ist um so größer, je „gründlicher die 90 Werner Krawietz, Identität oder Einheit des Rechtssystems, in: Mitsukuni Yasaki / Alois Troller / José Llompart (Hrsg.), Japanisches und europäisches Rechtsdenken — Versuch einer Synthese philosophischer Grundlagen, Beiheft zur RECHTSTHEORIE Bd. 16, Berlin 1985, S. 233-277, 262. 91 Ebd.

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verschiedenen Gebarensmodelle eingespielt sind", „je unverrückbarer der engraphisch-ekphorische Mechanismus bei der Vorstellung oder dem aktuellen Eintreten" einer sozialen Situation „die Vorstellung" von einer zugehörigen Gebarensweise weckt. Sicher ist in der Bedeutung von „certus" aufgefaßt. Bei auftretender Erwartungsunsicherheit befindet man sich in „Orientierungs-Unsicherheit": Man weiß nicht, „mit welchem Gebaren" man „in die soziale Risikozone gerate". Handlungen und Entscheidungen können nämlich nicht von vornherein wissen, in welchem Sinne sie riskant sind. 92 Die andere Dimension der Ordnungssicherheit betrifft nicht die Identifikation von Erwartungszusammenhängen. Sie bezieht sich auf die Wirksamkeit bestehender Mechanismen der Enttäuschungsabwicklung: „Ein Ding ist: seine Rechte und Pflichten kennen — ein anderes: darauf bauen, daß man seines Rechts teilhaftig, an seine Pflicht gehalten wird". Sicher heißt hier „securus". 93 Realisierungssicherheit beruht auf dem Zusammenspiel von Enttäuschungserklärungen und Sanktionen, die abweichende Sachlagen „renormalisieren". Sie setzt Orientierung an der Differenz Erfüllung / Reaktionsrisiko voraus. 94 Hinzu kommt, daß enttäuschte normative Erwartungen durch die Normativität ermutigt werden zu zeigen, daß sie lernunwillig sind und bleiben. Dies ist ein Sachverhalt, den Geiger unterbelichtet läßt. Die Orientierungsprozesse in Interaktionssystemen beruhen auf einer Pluralität von unreflektierten Anhaltspunkten. Erwartungen werden in Integraten nach Geiger als bindend behandelt, ohne daß eine richterliche Entscheidung vorliegt schon ehe es zu einer solchen kommt. Hierbei geht es nicht um die Wirksamkeit von Verbindlichkeitsvorstellungen. Über die „Vorstellungen" der interagierenden Personen weiß Geiger „nichts zuverlässig Greifbares" und läßt sie darum aus dem Spiel. Psychische Erwartungen sind jedenfalls „für die Rechtsnorm als einen Tatsachenzusammenhang nicht konstitutiv". Es mag allerdings sein, daß die Beteiligten die Beachtung von Erwartungen „als bindend betrachten" — damit wäre jedoch immer noch nichts darüber gesagt, „wie weit sie spezifisch rechtlich bindend" sind. 95 Geiger bezieht hier rechtliche Relevanz auf die ganze Rechtsgesellschaft, deren soziale Interdependenz in einer politischen Zentralmacht repräsentiert wird. 9 6 Die Erwartungszusammenhänge, aus denen eine Handelsusance besteht, werden faktisch als bindend behandelt, unabhängig von den Semantiken und Differenzschemata, die sich für beliebige Beobachter in verschiedener Weise zugänglich machen. „Der Kaufmann, der sich verpflichtet fühlt, im Sinne einer bestehenden Handelsusance zu verfahren, legt sich nicht Rechenschaft darüber ab, ob sie ihn als Rechtsnorm oder Standessitte oder Handelsusance usw. verpflichtet." 97 Die Orientierungsleistung setzt kein „positives Bewußtsein" darüber 92 Geiger, Vorstudien, S. 102 f. 93 Ebd., S. 103. 94 Luhmann (§ 1 Fn. 27), S. 453 f.; Geiger, Vorstudien, S. 88. 95 Geiger, Vorstudien, S. 185. 96 Ebd., S. 169 f. 97 Ebd., S. 185.

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§ 7 Funktion der Geltung von Rechtsnormen im Rechtssystem

voraus, ob einer Forderung der Rechtsgesellschaft oder einer sozialen Forderung anderer Art Folge geleistet wird. Wichtig sind Unterscheidungen, die im Anschlußhandeln einen Unterschied machen. Es ist etwa von Bedeutung, welche Mechanismen der Enttäuschungsabwicklung im Kommunikationszusammenhang relevant werden. Ist einmal der Sanktionsmechanismus der Rechtsgesellschaft zur Aufrechterhaltung enttäuschter Erwartungen durch die Rechtspflege in Gang gesetzt, so besteht für den Beobachter kein Zweifel mehr darüber, daß es sich um eine Erscheinung der rechtlichen Ordnung handele". 98 Für die Beteiligten macht die Orientierung an rechtsstaatlichen Sanktionsmöglichkeiten auch etwas aus: Sie bringt eine Neufassung der Kontingenz des Kommunikationssystems mit sich; sie macht Normsätze und juristische Entscheidungen zitierwahrscheinlich und das Weiterlaufen der Kommunikation von besonderen Thematisierungsschwellen abhängig. Der simultane Rückgriff auf Pflichtvorstellungen und Semantiken anderer Art, ζ. B. moralische, bleibt natürlich dadurch unberührt.

I I . Rechtliche Entscheidung und Rechtsgeltung 7. Rechtsquellen Der herkömmmliche metaphysische Begriff der Rechtsquelle kann nach Geiger die Antwort auf drei verschiedene Fragen enthalten: a) „Worin hat der Rechtscharakter von Normen seine Quelle?" Man kann das als die Frage nach der Entstehung von rechtlicher Relevanz, nach der „Verbindlichkeits- oder Geltungsquelle" bezeichnen. 1 b) Worin hat das Gebarensmodell, das eine Rechtsnorm enthält und vorschreibt, seinen Ursprung? Es geht um die Frage nach dem Inhalt oder nach der Inhaltsquelle der Rechtsnorm. 2 c) Wo findet der Fachjurist oder bürgerliche Laie, „der über die ,Rechtslage4 eines Falles oder über den gesamten Rechtszustand der Gesellschaft Bescheid sucht, die anwendbaren und anzuwendenden Normen"? In diesem Sinne spricht Geiger von „Einsichtsquellen".3 d) „Worauf beruft man sich, wenn man das Bestehen einer Rechtslage behauptet?" Geiger spricht hier von Berufungsquellen. Diese Frage liegt der üblichen Rechtsquellenlehre zugrunde und vermengt in unzulässiger Weise die Begriffe der Geltungsund der Inhaltsquelle. Darüber hinaus verdeckt sie die Tatsache, daß alle Rechtsquellen und das objektive Recht selbst nicht „außerhalb des Mechanismus der Rechtsverwirklichung" liegen können.4 a) Der Rechtscharakter einer Norm bezieht sich auf ihre Generalisierbarkeit in der sozialen Dimension. Die soziale Generalisierung, die „Verbindlichkeit 1 Geiger, Vorstudien, S. 169. 2 Ebd., S. 172. 3 Ebd., S. 175. 4 Ebd., S. 176. 98 Ebd., S. 186.

II. Rechtliche Entscheidung und Rechtsgeltung

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einer Norm ist ein Ding" ihre spezifische soziale Generalisierung, ihre „spezifische Verbindlichkeit als Rechtsnorm ist ein anderes". 5 Rechtsnormen sind die Normen, die Anspruch darauf erheben, für alle Mitglieder der „Rechtsgesellschaft" verbindlich zu sein. Als Rechtsgesellschaft bezeichnet Geiger ein Gesellschaftsintegrat, in dem eine politische Zentralmacht ausgebildet ist. Letztere manipuliert durch ihr Gesetzgebungs- und Justizsystem „die der Rechtsgesellschaft als solcher zurechenbare soziale Interdependenz". 6 Gebarensmodelle „beliebigen Inhalts und beliebiger Herkunft" können durch die „innerhalb der Rechtsgesellschaft als solche bestehende", in der politischen Zentralmacht „verdichtete soziale Interdependenz" und dem von der politischen Zentralmacht gesteuerten „Rechtsmechanismus" mit dem spezifisch rechtlichen Verbindlichkeitstigma ausgestattet werden. Eine Norm erlangt Rechtscharakter, wenn sie durch die Institutionalisierungsmechanismen der „Rechtsgesellschaft" sozial generalisiert wird, sofern sie nämlich als Element in den gesamten „durch die Zentralmacht gesteuerten" Rechtsmechanismus einbezogen wird. Geiger betont, daß der Institutionalisierungsmechanismus nicht auf die Gesetzgebung und die Rechtspflege-Instanz zu beschränken ist. Die Institutionalisierung kann nicht auf „selbständige Geltungsquellen", nicht auf „die oder jene einzelne Ursache" zurückgeführt werden. Sie beruht vielmehr auf dem „gesamten Rechtsmechanismus", auf dem „gesamten verwickelten Getriebe des Rechtslebens". Kein Einzelfaktor kann als Regulator und Modell des Rechtssystems fungieren. 7 In den rechtlichen Institutionalisierungsprozessen sind die verschiedenen „Einzelfaktoren innerhalb (des) Systems in gewisser Weise konvariant", so daß eine „unabhängige Variable (genannt: Ursache) nicht zu entdecken ist". 8 Geigers Begriff der Geltungsquelle ist weiter als der juristische Begriff der formalen Rechtsgeltung. Die rechtliche Institutionalisierung einer Norm geht nicht nur über das „interkonnektive" Verhältnis von gesetzgeberischem und gerichtlichem Entscheidungsverfahren hinaus. Sie umfaßt sämtliche Faktoren des Rechtslebens. Weder der Gesetzgeber noch der Richter, weder die Gewohnheitsbildung noch die Rechtswissenschaft „können je für sich" Normen rechtliche Institutionalisierungskraft zukommen lassen.9 Geiger begnügt sich nicht mit der institutionalisierenden Kraft kompetenzmäßigen Entscheidens in Gesetzgebungs-, Verwaltungsund Gerichtsverfahren. Der Gesetzgeber proklamiert zwar Normsätze, er verknüpft sie aber nur „programmatisch" mit rechtlichem Verbindlichkeitsstigma. Falls die programmatische Forderung des Normsatzes von der Rechtspflege boykottiert oder von der Allgemeinheit der Bürger mißachtet wird, erhält sie nach Geiger kein rechtliches Verbindlichkeitsstigma. Die Rechtspflege wiederum s Ebd., S. 169. 6 Ebd., S. 170. 7 Vgl. Roger C. Conant / W. Ross Ashby, Every good regulator of a system must be a model of that system, in: International Journal of Systems Science 1 (1970), S. 89-97. s Geiger, Vorstudien, S. 170 f. 9 Ebd., S. 171..

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§ 7 Funktion der Geltung von Rechtsnormen im Rechtssystem

kann natürlich Sanktionen verhängen, sie ist aber nicht in der Lage, die „gutwillige unerpreßte Fügung des Bürgers" in die soziale Interdependenz zu bewirken. Die Gewohnheit allein ist nicht rechtliche Institutionalisierungsinstanz. Die „wissenschaftliche Rechtserkennntis" endlich ist nur insofern relevant, als sie sich im Rechtsleben durchsetzt. 10 Keiner dieser Faktoren für sich kann einer Norm Rechtscharakter verleihen. „Sie alle" und insbesondere der Gesetzgeber und der Richter müssen „zusammenwirkend und konkurrierend" die Normen seligieren, die sie — wiederum zusammenwirkend — als rechtliche Normen behandeln. Das Zusammenwirken dieser Faktoren stellt den Selektionsmechanismus dar, der die seligierten Normen (Gebarensmodelle) mit rechtlichem Verbindlichkeitsstigma ausstattet. b) Am Zustandekommen des Inhalts der Rechtsnormen sind ebenfalls „immer mehrere Quellen beteiligt". 11 Rechtliche Norminhalte entstehen somit als notwendige Redundanz.12 Die Norminhalte können auf „habituell entstandene Gebarensmodelle", auf einen „Prozeß der Verfestigung kollektiver Gewohnheiten und entsprechender Ordnungsnormen" zurückgehen. Gewohnheiten sind Inhaltsquelle von Rechtsnormen, die anderer institutionalisierender Prozesse bedürfen, um mit rechtlicher Relevanz ausgestattet zu werden. Die Gewohnheit liefert den Norminhalt, die Relationierung und das Zusammenspiel der Rechtsfaktoren in den rechtlich geregelten Entscheidungsverfahren, „das Fungieren des Rechtsmechanismus" verleihen ihm Rechtscharakter. Gesetzgeber, Richter, Gewohnheit und Rechtswissenschaft können je für sich Normen produzieren. Sie können aber nur im Zusammenwirken die Normen herausgreifen, die sie als Rechtsnormen behandeln. Der Gesetzgeber kann nicht die Quelle des Inhalts aller Gesetzesvorschriften sein. Er ist auf habituelle Standards, auf faktische Normbildungen in den sozialen Integraten und auf fachlich-rechtliche Diskussionen angewiesen. Die Bedeutung der Gesetzgebung als Inhaltsquelle von Rechtsnormen ist unter diesem Gesichtspunkt gering. Die Rechtsanwendung ist nach Geiger ebenfalls Quelle von Norminhalten. Die Gerichtspraxis ist sowohl Geltungs- als auch Inhaltsquelle von Rechtsnormen. Der Richter ist in seiner rechtsanwendenden Tätigkeit rechtsschöpferisch tätig. Er konstituiert neues Recht nicht nur in den Fällen, wo er sich bescheiden-verschämt auf analoge Anwendung einer schon bestehenden Norm oder auf die „Natur der Sache" beruft. Darüber hinaus ist er bei jeder Entscheidung „rechtsschöpferisch tätig". 13 Die einzelne Rechtsentscheidung ist auf jeden Fall Inhaltsquelle. Sie wendet Recht an, indem sie den „Inhalt bestehender Normen deutend modifiziert". Die Subsumtion ist keine logische io Ebd., S. 171. h Ebd., S. 172. 12 Zum Lob der Redundanz s. Martin Landau , Redundancy, Rationality, and the Problem of Duplication and Overlap, in: Public Administration Review 27 (1969), S. 346 - 358,349. Vgl. femer Eric Trist , The Environment and System-Response Capability, in: Futures 12 (1980), S. 113-127, 121. 13

Geiger ,

Vorstudien, S. 174.

II. Rechtliche Entscheidung und Rechtsgeltung

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Operation, sondern eine „Neudeutung des Norminhaltes 4 '. 14 Rechtsquelle ist aber die einzelne Entscheidung, „sofern sie Nachfolge findet und sich durchsetzt44. Die Möglichkeiten einer richterlichen Entscheidung zur Geltungsquelle zu werden, sind nach ihren „Durchsetzungs-Chancen44 im Zusammenspiel der Rechtsfaktoren zu beurteilen. 15 Die rechtspolitisch gemeinten Vorschläge der Rechtswissenschaft endlich sind Inhaltsquelle von Rechtsnormen nur in dem Umfang, als sie durch Vermittlung der Gesetzgebungs- und Richterinstanz „im tatsächlichen Rechtsleben Verbindlichkeit erlangen 44.16 Aus den beobachteten Verhaltensregelmäßigkeiten sowie aus den richterlich oder wissenschaftlich aufgestellten Norminhalten geht nicht hervor, ob diese Gebarensmodelle rechtlichen Charakter haben. c) Bei der Rechtsanwendung liegen die Probleme nicht nur in der Sachverhaltsbeurteilung, sondern auch und vor allem im Auffinden der anwendbaren Rechtsnormen. Es ist aber fraglich, ob die Einsichtsquellen Geigers, d. h. Gesetzestexte, Gerichtspraxis, habituelle Standardbildung im täglichen Leben und Rechtswissenschaft dazu beitragen, die anzuwendenden Rechtsnormen zu finden. Man müßte die institutionalisierten Möglichkeiten, mit diesen Einsichtsquellen umzugehen, dazunehmen. Im juristischen Instanzen- und Rollenspiel müssen soziale Kommunikationssysteme gebildet werden, damit die jeweils anwendbaren Rechtsnormen herausgefunden werden können. 2. Aktuelle Geltungsfrage Es besteht eine „ausgeprägte Neigung44, den Normsatz mit der Norm selbst zu verwechseln, und die Gefahr einer „Vertauschung unter der Hand44 ist groß. Das hängt damit zusammen, daß dem Normsatz eine „erhöhte funktionelle Bedeutung44 zukommt. Die Rechtspflege hat es mit Normen in Gestalt von Normsätzen zu tun, genauer: die subsistente Aktions- und Reaktionsnorm muß auf Normsätze beziehbar sein, um in einem begründeten Urteil angewandt zu werden. 17 So hat der Normsatz eine gewisse Neigung, an die Stelle der „subsistenten Norm zu treten 44. Dem Normsatz kann nun aber offenbar unmöglich als solchem Verbindlichkeit zukommen. Er ist nicht verbindlich, er ist eine „Aussage über das Vorliegen von etwas Verbindlichem 44. Nicht die „bloße Wortzusammenstellung44 als solche, sondern die ihren Aussageinhalt ausmachende subsistente Norm hat die Eigenschaft, verbindlich zu sein. Die Frage nach der Geltung der subsistenten Aktions- und Reaktionsnorm hat eine zweifache Richtung. Sie zielt auf das Ob und das Was. Im ersten Fall lautet die Frage: Liegt hier überhaupt ein „Funktionsverhältnis 44 von rechtlichem Verbindlichkeitscharakter „zwischen irgendwie be14 Ebd., S. 174 f. 15 Ebd., S. 281. 16 Ebd., S. 175. 17 Geiger, Vorstudien, S. 211 f. 15 Gromitsaris

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§ 7 Funktion der Geltung von Rechtsnormen im Rechtssystem

stimmten Gegebenheiten" vor? Die Geltungsfrage ist hier formell. Sie bezieht sich darauf, ob überhaupt ein rechtlich anzuwendendes, ob eine Rechtsnorm seligiert werden kann, unabhängig davon, welches ihr Inhalt ist. Selektionsgegenstand ist der Rechtscharakter der Norm. Selektionskriterium ist die Möglichkeit, eine irgendwie bestimmte Norm als auf das formelle Rechtsquellensystem beziehbar darzustellen. Im zweiten Fall „steht das Fragezeichen bei den materiellen Bestimmungen der Norm. Was gilt? Was ist verbindlich?" Hier geht es um die Bestimmung der normtypischen sozialen Situation, des normativ erwarteten und institutionalisierten Gebarensmodells sowie um die Festlegung der Klasse der Adressaten und der Benifiziare. Die nähere Bestimmung der Adressaten und Benefiziare gehört zu den genaueren Bestimmungen der sozialen Situation, zu der Determinierung der Normierungs- und Institutionalisierungsmechanismen, die die subsistente Reaktionsnorm und die subsistenten Aktionsnormsuppositionen als subsistente Aktionsnorm und situationsabhängige Spontanreaktion behandeln. Geiger bezeichnet dies als die „substantielle Geltungsfrage". Angesichts dieser Unterscheidung handelt es sich um eine „für juridisches Denken grundlegende Fiktion", daß der Inhalt der subsistenten Aktions- und Reaktionsnorm „ein in seinen Bestandteilen und als ganzes abgeschlossener, feststehender und determinierter, jedenfalls aber gedanklich determinabler Inhalt sei". Es muß nach Geiger „zwischen der Positivität der Rechtsregeln und ihrer Gültigkeit unterschieden werden". Der „Gültigkeitsanspruch" des positiven Rechts ist mit seiner tatsächlichen „Wirkungschance" und mit seinen tatsächlichen Norminhalten nicht identisch.18 Im Zeitpunkt der Entstehung eines zu beurteilenden Lebensverhältnisses läßt sich nur die formelle Geltungsfrage beantworten. Man kann feststellen, welche Normsätze als formell-rechtlich geltend behandelt werden können. Man kann wissen, welche Normsätze gelten, man kann aber nicht wissen, mit welchem Inhalt. Die substantielle Geltungsfrage kann erst beantwortet werden, wenn der Fall geschehen ist. Geiger spricht im Hinblick auf das Feld konkreter Tatbestände, die unter die subsistente Norm fallen, von dem „Verbindlichkeits- oder Geltungsumfang" der Norm. Die Tatsache, daß die Rechtslage in bezug auf einen konkreten Fall im Ungewissen steht, bedeutet, daß man nicht sagen kann, welche im wirklichen Leben vorliegenden und durch Untersuchung (Beweisaufnahme) aufgeklärte Sachverhalte „kraft ihrer natürlichen Sobeschaffenheit unter das Schema des Normkerns fallen". 19 3. Norm und Geltung Eine Theorie über die Geltung des Rechts muß es sorgfältig vermeiden, Genese und Geltung von Rechtsnormen zu verquicken. Die kausale Entstehung einer Rechtsnorm muß von dem Grund ihrer Verbindlichkeit unterschieden werden können. Der Prozeß der Rechtsentstehung und Rechtsumbildung ist ein gesamtge18 Ebd., S. 213; Geiger (§ 3 Fn. 11), S. 150 f.

19 Geiger, Vorstudien, S. 214.

II. Rechtliche Entscheidung und Rechtsgeltung

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seilschaftliches Geschehen. Der Gesetzgeber findet eine Fülle normativer Erwartungen vor, und der Richter muß bei der RechtsanWendung auf nicht juridifizierte außergesetzliche Norminhalte und gesellschaftliche Wertvorstellungen zurückgreifen. Die Entscheidungsprozesse, die in der formellen Organisation des Rechtsstabes stattfinden, erzeugen nicht das Recht. Sie beruhen jedoch auf Selektionsleistungen, die aus einer Fülle normativer Erwartungen und akzeptierbarer Werte eine Auswahl treffen müssen. Die Entscheidungsabläufe im Rechtsstab stellen einen „Filterungsprozeß" dar, dem wegen seiner „Statusdotierung" und wegen der Formalität und „Sichtbarkeit" seiner Verfahren die Rechtserzeugung zugerechnet wird. Die formalisierten Rechtsentscheidungsprozesse geben keinen Aufschluß über die Genese der Rechtsnormen. Ihre Beschreibung kann auch die Herstellungszusammenhänge der Rechtsanwendung nicht beschreiben. Sie sind einer unter mehreren sozialen Filterungsprozessen, dessen selektive Entscheidungen sich als unentbehrliches Requisit der formalen Rechtsgeltung darstellen. 20 Die Pluralität sozialer Normvorstellungen bringt normative Streitigkeiten mit sich. Die je eigene Norm wird als geltend und relevant behandelt und den anderen untergeschoben. Auf diese Weise kann ein Verhalten zugleich konform und abweichend sein. Die Normwidrigkeit kann eigene Normativität behaupten, das Abweichen ist hinsichtlich einer anderen Norm Konformität und kann darauf hinweisen. In dem Maße, wie divergierende Normierungen aufkommen, entsteht eine Kontingenz auf der Steuerungsebene der Reflexivität normativer Erwartungen. Normativer Streit und Versuche der Enttäuschungsabwicklung setzen eine Kommunikationsebene voraus, auf der die Normkontingenz und der Streit selbst zum Kommunikationsthema werden können. Die Kontingenz des normativ Möglichen macht es nötig, daß nicht einfach nur im Streit gelebt, sondern über den Streit gesprochen werden muß. 21 Im Bereich des normativen Erwartens muß man ebenso wie bei den kognitiven Erwartungen zwischen Wirklichkeit und Möglichkeit unterscheiden. Hinzu kommt, daß normativ Mögliches und normativ Wirkliches jeweils einen ihnen zugeordneten Kontingenzbereich haben, so daß auf der Ebene des bloß Möglichen andere Formen der Kontingenzausschaltung möglich und institutionalisierbar sind. Im anglesächsischen Raum scheint „the doctrine of individuation" ebenfalls mit Modalitätsproblemen verbunden zu sein. Es handelt sich um die von Bentham initiierte Diskussion über die Identifizierbarkeit von Rechtsnormen. 22 Es gibt keine allgemeingültigen Bedingungen der Möglich20 Luhmann (§ 1 Fn. 19), S. 122 f.; Geiger (§ 3 Fn. 11), S. 140 ff., 150 f. 21 Luhmann (§ 1 Fn. 19), S. 215 f. 22 Jeremy Bentham, Of Laws in General. Edited by H. L. A. Hart, in: J. H. Bums (Hrsg.), The Collected Works of Jeremy Bentham, Bd. 2,2 Principles of Legislation, London 1970: „Obligative laws the only standards to measure by" (S. 169) und femer: „to settle the individuation of a law, what it is that makes one entire yet single law, and what parts of the total mass of the laws belong to the three great branches into which that body is commonly divided" (S. 305, Fn. 2). Vgl. auch Joseph Raz, The Concept of a Legal System. An Introduction to the Theory of Legal System, Oxford 1980, S. 223; A. M. Honoré, Real Laws, in: P. M. S. Hacker/J. Raz (Hrsg.), Law, Morality, and Society. Essays in Honour of H. L. A. Hart, Oxford 1977, S. 99-118. Honoré verabschie15*

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§ 7 Funktion der Geltung von Rechtsnormen im Rechtssystem

keit, alle Bedingungen könnten auch anders formuliert werden. 23 Wie man seit den Stoikern weiß, sind Axiomata möglich, die ihre Bedingungen der Möglichkeit, ihren Wahrheitswert ändern. 24 Den Anregungen Geigers und Luhmanns folgend, wollen wir an dieser Stelle zwischen Norm und Geltung unterscheiden. Wir wollen mit Geltung ein Selektionskriterium für die Identifikation von Normen bezeichnen. Es handelt sich um Selektionsleistungen, die „nicht Kontingenz auf der Ebene normativer Erwartungserwartungen" herstellen. Die Selektionsleistungen selbst sind natürlich kontingent. Üblicherweise vermischt man beide Kontingenzbereiche und spricht allgemein davon, daß die Rechtsgeltung keine logische Geltung sei; den Normen des positiven Rechts komme eine „zeitlich und räumlich begrenzte" Geltung zu. 25 Normen, die gelten, gelten als nichtkontingent. Die Entscheidung aber darüber, ob und welche Normen gelten, ist ihrerseits kontingent, und dies macht gerade die Positivität des modernen Rechts als währendes Kontingenzbewußtsein aus. Diese Begriffsverwendung distanziert sich von älteren Versuchen, Geltung auf ein transzendentales Apriori, auf Willen oder auf faktische Anerkennung oder auf Berufungsquellen zu gründen. Sie versucht, die Definition der Geltung zu erfassen, und sieht diese in der Ausschaltung von Normkontingenz, d. h. in der Selektion von Normen und Normbereichen. Wir unterscheiden also mit Ota Weinberger streng zwischen der „Geltungsproblematik und der Rechtfertigung des Rechts". 26 Die Frage aber danach, was gilt, läßt sich nicht aufgrund einer Orientierung an den Outputs und den Produkten von Entscheidungsprozessen, sondern aufgrund einer Orientierung an den Prozessen selbst beantworten. Dies führt zu neuen Problemstellungen. Man muß sich mit der Frage befassen, wer und aufgrund welcher Selektionsstrategien die Nordet „the Benthamite programme of individuating laws" — d. h. „imposing duties" als Selektionskriterium für Rechtsnormen — und schlägt andere Identifikationsgesichtspunkte vor (S. 102, 107). 2 3 Ein altes Problem, das mit dem Gottbegriff zusammenhängt: Jaakko Nintikkal Heikki Kannisto, Kant on ,The Great Chain of Being4 or the Eventual Realization of All Possibilities: A Comparative Study, in: Simo Knuuttila (Hrsg.), Reforging the Great Chain of Being. Studies of the History of Modal Theories, Dordrecht / Boston / London 1981, S. 287-308, 291, 299, 304 „In respect to ,inner4 possibilities Kant . . . has now located them in God's thought and separated them from God's will". Eine Unterscheidung, die Descartes nicht gemacht habe (S. 291). Hierzu die historisch-systematische Monographie von Ingetrud Pape, Tradition und Transformation der Modalität, Hamburg 1966: „Kompossibilität höherer Ordnung als Afeterc-einander-Möglichkeit des Mit-einander-Unmöglichen" (S. 120). 24 Susanne Bobzien, Die stoische Modallogik, Würzburg 1986, S. 21. 25 Karl Engisch, Auf der Suche nach der Gerechtigkeit. Hauptthemen der Rechtsphilosophie, München 1971, S. 64. 26 Ota Weinberger, Norm und Institution. Eine Einführung in die Theorie des Rechts, Wien 1988, S. 116. Nach Valentin Petev, Erkenntnis und Konstituierung der Rechts Wirklichkeit, in: Werner Krawietz / Walter Ott (Hrsg.), Formalismus und Phänomenologie im Rechtsdenken der Gegenwart. Festgabe für Alois Troller zum 80. Geburtstag, Berlin 1987, S. 59-69 beanspruchen zwar die Rechtsnormen „unabhängig von der Akzeptanz durch den Normadressaten eine Geltung", sind aber „letzlich auf diese Akzeptanz angewiesen, um ihre Funktion zu erfüllen" (S. 63).

II. Rechtliche Entscheidung und Rechtsgeltung

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men seligiert, die als geltend, d. h. als schon ausgewählt behandelt werden sollen. Im Gefüge der Pluralität von Systemreferenzen ist die Kontingenzausschaltung auf der Ebene des normativ Möglichen, d. h. die Geltungsbegründung eine unwahrscheinliche Leistung, die das Problem der Korrelation divergierender und konflingierender geltungsbegründender sozialer Einrichtungen in eine Gesellschaft stellt. Die Geltungsfrage wird je nach Systemreferenz anders gestellt und beantwortet. Die Ebenendifferenz (Geltung / Normativität) darf nicht mit dem Problem der Kausalentstehung von Normen verquickt werden. Die zwei Ebenen der Modalisierung machen es möglich, daß Kontingenzbereiche auseinandergehalten werden. Man denke an die Parallelentwicklung in der Erkenntnistheorie und an die Unterscheidung Kants zwischen Erkennen und Denken. 27 An die Stelle des Satzes „omne quod est quando est necesse est esse" tritt der nüchternere Satz: „Do you know the gas law? means ,Can you cite it? 4 ". 2 8 Die opinio necessitatis, die als Kriterium für die Geltung von Gewohnheitsnormen angesehen wird, ist selbst keine notwendige Meinung. 29 Die opinio necessitatis ist selbst kontingent und nicht notwendig. Im sozialen Situationskontext hebt die Negation der einen Notwendigkeit die andere nicht auf. Welche Norm als gewohnheitsrechtlich etablierte Norm gilt, darüber entscheidet das jeweilige soziale System selbst, indem es Normen seligiert und institutionalisiert. 30 Aus der Sicht juristischer Entscheider werden Geltungsfragen als Entscheidungsfragen thematisiert. Die Selektivität des Rechts wird insofern thematisiert, daß die Selektion der anwendungsfähigen, zu berücksichtigenden Normen zum Problem wird. Es geht also nicht um die Frage, wer im Streitfalle Recht hat und behält, sondern um die schon vorher zu stellende Frage, nach welchem Maßstab, nach welchen Normvorstellungen und normativen Erwartungen Abweichungs27 „Einen Gegenstand erkennen, dazu wird erfordert, daß ich seine Möglichkeit (es sei nach dem Zeugnis der Erfahrung aus seiner Wirklichkeit, oder a priori durch Vernunft) beweisen könne. Aber denken kann ich, was ich will, wenn ich mir nur nicht selbst widerspreche, d. h. wenn mein Begriff nur ein möglicher Gedanke ist, ob ich zwar dafür nicht stehen kann, ob im Inbegriffe aller Möglichkeiten diesem auch ein Objekt korrespondiere oder nicht." Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, Werkausgabe Bd. ΙΠ, hrsg. von Wilhelm Weischedel, 4. Aufl., Frankfurt am Main 1980, S. 31 (Anm.); Luhmann (§ 1 Fn. 19), S. 318 (Fn. 19); Bernward Grünewald, Modalität und empirisches Denken. Eine kritische Auseinandersetzung mit der Kantischen Modaltheorie, Hamburg 1986; Arthur Liebert, Das Problem der Geltung, Berlin 1914, S. 31 ff: Erkenntnis beziehe sich auf die Einheit des Begriffs des Erlebnisses nicht auf das Erlebnis selbst (S. 34 f.). 28 Georg Henrik von Wright, Truth, Knowledge, and Modality. Philosophical Papers Bd. 3, Oxford 1984, S. 72, 139, 147: „Knowing laws of nature is more like a know how than a know that. It is the skill of scientists to be able to handle them. And as long as they are handled, and not tested, they are treated as the certainties on which science progress" (S. 147). Vgl. femer zum Zusammenhang von „lawfulness" und „mind-dependency" Nicholas Rescher, The Ontology of the Possible, in: Michael J. Loux, The Possible and the Actual. Readings in the Metaphysics of Modality, Ithaca / London 1979, S. 166-181, 171 f. 29 Luhmann (§ 1 Fn. 19), S. 321 Anm. 26. 30 Vgl. André Darbon, Les catégories de la modalité, Paris 1956, S. 147.

230

§ 7 Funktion der Geltung von Rechtsnormen im Rechtssystem

möglichkeiten und Konformitätsdruck beurteilt werden sollen. Es geht also um das Operieren mit der Differenz Geltung / Nichtgeltung, die zum Auswahlprinzip für geltende Normen wird. In der formalen Organisation des Rechtsstabes gibt es strukturelle Vorkehrungen, die Normativität und Geltung (bzw. Nichtgeltung) von Normen streng unterscheiden. Die Entscheidungsprozesse werden differentiell strukturiert, indem sie sich auf das Operationalisieren der Differenz Geltung / Nichtgeltung stützen. Die Rechtsentscheidungsprozesse regulieren normative Kontingenzen mit Hilfe des Begriffs der juristischen formalen Geltung. Normen, die aufgrund von Kompetenz- und Verfahrensnormen mit dem Filterungsprozeß der Entscheidungsabläufe im Rechtsstab verbunden werden, erhalten formale Rechtsgeltung. Dies ist aber ein formales Selektionskriterium von Normen, das zwar geltende von nichtgeltenden Normen abstrakt unterscheidet, das aber nicht sagt, mit welchem Inhalt die geltenden Normen gelten. Die Geltungsfrage ist je nach Systemreferenz anders entscheidbar. Dies bedeutet, daß nicht nur die Kontingenz normativen Erwartens, sondern auch die Kontingenz des Geltens reguliert werden muß. Unsere These ist, daß es im Rechtssystem keine Zentralstelle gibt, wo die Geltung oder Nichtgeltung von Geltungen problematisiert und zur Entscheidung gebracht werden kann. 31 Die in der Gesetzgebung praktizierten Geltungskriterien sind nicht identisch mit den Geltungskriterien, die die richterliche Rechtsfindung unter Berücksichtigung bewährter Auslegungslehren, erprobter dogmatischer Begriffsfiguren und transdogmatischer Weitorientierungen praktiziert. Die formale Rechtsgeltung ist ein Selektionskriterium kompetenzmäßiger Art, das nur einen Orientierungspunkt im Verlauf des Selektionsprozesses von Rechtsnormen darstellt. Formale Rechtsgeltung verweist zunächst einmal auf Wortnormen, d. h. auf Gesetzes- und andere autoritative Normtexte. Es ist seit längerem bekannt, daß sich Gesetzeswortnormen oder Rechtssätze aus zwei Normen zusammensetzen. Die Schilderungsabläufe der Rechtsentscheidungsprozesse benötigen somit Geltungskriterien nicht nur für die Reaktions-, sondern auch solche für die Aktionsnorm. Wortnormen können höchstens Anhaltspunkte für die Selektion der Aktionsnorm sein. Die eigentlichen Selektionsprozesse finden im laufenden sozialen System statt, das sich nach Maßgabe eines eigenen Schemas von Konformität / Abweichung darstellt. Die Kontingenz auf der Ebene normativer Erwartungserwartungen wird in den Entscheidungsprozessen des Rechtsstabes und in den jeweiligen sozialen Systemen ausgeschaltet. In den formalen Organisationssystemen des Rechtsstabes müssen die Entscheidungen nur unter Berücksichtigung von geltenden Aktionsnormen und d. h. nur unter Zugrundelegung der Kriterien und Prozesse von Normselektion in den Situationskontexten der laufenden sozialen Systeme getroffen werden. Die Kriterien der Normselektion im sozialen Situationskontext werden in den Rechtsentscheidungssystemen rekonstruiert. Dies erfordert die gleichzeitige Beachtung von verschiedenen Systemreferenzen: Einerseits werden die Systemreferenzen beachtet, die an der Kommunikation des Entscheidungsprozesses beteiligt sind. Ande3i

Luhmann

(§ 1 F n . 19), S. 3 0 9 ,

318.

III. Rechtsgeltung und funktionale Gesellschaftsdifferenzierung

231

rerseits muß die normative Kontingenzausschaltung, die das jeweils einschlägige soziale System selbstreferentiell herbeiführt, berücksichtigt werden, was vom Standpunkt der Fremdbeobachtung aus erfolgt. Je nach beobachtendem System und angewandtem Beobachtungsschema läßt sich die selbstreferentielle Normselektion auf verschiedene Weise rekonstruieren und beschreiben, so daß verschiedene divergierende und konflingierende Beobachtungen und Interpretationskonstrukte als im sozialen Situationskontext geltende Aktionsnormen behandelt werden können. Auf der Ebene von den Rechtsentscheidungsprozessen in den Organisationen des Rechtsstabes stellt die Orientierung an der Differenz Geltung/ Nichtgeltung ein formales Selektionskriterium dar, das zweierlei leistet: Erstens geht es um formale Geltungen, die unabhängig vom moralischen Urteil über die geltenden Rechtsnormen gesichert werden. Zweitens geht es um die Bedingung der Möglichkeit für die Rückführbarkeit konkreter Fallentscheidungen auf geltende Entscheidungsprogramme. Dies bedeutet, daß die Orientierung an der Differenz Geltung / Nichtgeltung nur Wortnormen, aber nicht den eigentlichen normativen Sinn seligieren kann, der den konkreten Fallentscheidungen zugrunde gelegt wird. Das Hauptproblem, dem sich die Rechtsentscheidungsprozesse konfrontiert sehen, ist nicht die Subsumtion eines Sachverhaltes unter einen lückenhaften Normtext. Das Problem ist die Normgewinnung. Die konkrete Entscheidung muß die Norm gewinnen, die sie anwenden muß und durch welche sie vermeintlich schon programmiert ist. Die Ebenendifferenzierung von Normativität und Geltung verengt zwar den Selektionsbereich des Entscheiders, sie kann ihm aber noch nicht sagen, welche subsistente Norm er anzuwenden hat, selbst wenn sie ihn auf einen bestimmten Normtext verweist. I I I . Rechtsgeltung und funktionale Gesellschaftsdifferenzierung 7. Rechtscode und Selektionskriterien Wenn in einem systemtheoretischen Sinne vom Rechtssystem die Rede ist, dann handelt es sich nicht um ein systematisiertes Gefüge von Rechtssätzen. Es handelt sich auch nicht um ein Beziehungssystem zwischen den Organisationen des Rechtsstabes, die mit professionellem Sachverstand Rechtssätze setzen, anwenden und durchsetzen. Das Rechtssystem wäre demnach entweder eine Menge von Sätzen oder ein Gefüge von Organisationssystemen.1 So wenig, wie das Religionssystem mit der Kirche und das Erziehungssystem mit den Schulen und Universitäten identisch ist, so wenig gehen die Kommunikationen, die rechtliche Relevanz haben, in den Organisationen des Rechtsstabs oder in anderen Organisationen auf. 2 Die Frage, die sich aufdrängt, ist, nach welchen Kriterien die Zugehörigkeit von sozialen Kommunikationen zum Rechtssystem beurteilt wird. Die ι Niklas Luhmann, Die Codierung des Rechtssystems, in: RECHTSTHEORIE 17 (1986), S. 171-203, 178. 2 Ders. (§ 1 Fn. 19), S. 36.

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§ 7 Funktion der Geltung von Rechtsnormen im Rechtssystem

Maßgeblichkeit des Rechts ist mit der Maßgeblichkeit der Entscheidungswahrscheinlichkeit und Entscheidungsfähigkeit der juristischen Berufsrollen nicht identisch. Kommunikationen des täglichen Lebens gehören zum Rechtssystem nicht nur soweit sie vorauszusehen versuchen wie die Juristen über bestimmte Erwartungen entscheiden werden. Diese Auffassung würde den Rechtsstab durch die Hintertür wieder als Rechtskriterium einführen. Das Rechtssystem besteht nicht nur aus Rechtsanwendungsprozessen im engeren Sinne, aus der juristischen Kautelartätigkeit sowie aus den Strategien und Negativorientierungen derer, die Rechtsnormen zu umgehen und zu übertreten suchen. Dies alles ist Kommunikation oder antizipierte Kommunikation über erhöhte oder geringe Zitierwahrscheinlichkeit der beruflichen Entscheidungsfähigkeit des Rechtsstabes. Ob Kommunikationen in Interaktionssystemen mit Bezug auf die Entscheidungstätigkeit besonderer Institutionen und Organisationen thematisiert werden, ist eine offene Frage, die im jeweiligen Interaktionssystem entschieden wird. Das Interaktionssystem entscheidet darüber, ob es seine Kommunikationsthemen juridifizieren oder nicht juridifizieren soll. Es gibt Thematisierungs- und Juridifizierungsschwellen, die jedesmal überwunden werden müssen und die Kommunikation strukturieren. Wir wollen hier die These vertreten, daß die Maßgeblichkeit des Rechts nicht nur von den situationsabhängigen Juridifizierungsmöglichkeiten im Problemfall abhängt. Auf Interaktionsebene erhält das allgemeine gesellschaftliche Problem der Absorption von Erwartungsunsicherheit rechtliche Relevanz, und dies nicht nur im Hinblick auf besonders problematisierte Erwartungen. Der Fall, wo Erwartungen durch Konflikt und durch die Anrufungsmöglichkeit von entscheidungsfähigen Organisationszentren gesichert werden, ist eher pathologisch und ein Ausnahmefall. Das Recht betrifft nicht nur die Erwartungspathologie und letztere beschränkt sich nicht auf die Zitierwahrscheinlichkeit von Rechtsvorschriften und juristischen Entscheidungen. Man geht davon aus, daß sich das Recht durch einen Schwerpunkt im Normativen kennzeichnet. Im Interaktionskontext lassen sich jedoch nicht alle Erwartungen auf einen entweder normativen oder kognitiven Erwartungsstil festlegen. Das Problem scheint nicht mit der Normativität, sondern eher mit der Eignung von Erwartungen als Struktur von sozialen (Interaktions-) Systemen zu fungieren, zusammenzuhängen. Erwartungen gewinnen Strukturwert, wenn sie ihrerseits erwartet werden können.3 Die binäre Schematisierung von Recht und Unrecht ist die Bedingung der Möglichkeit dafür, daß die Unterscheidung zwischen Recht und Unrecht gemacht werden kann. Dies bedeutet nicht, daß die Interaktionsteilnehmer die Differenz thematisieren müssen, damit diese ihre Wirkung entfaltet. Die Differenz wirkt als Unterscheidungsmöglichkeit und als Differenz, d. h. daß Recht und Unrecht mit jeweils unterschiedlicher Anschlußselektivität verbunden werden und daß alles, was zur Handhabung dieser Differenz beiträgt, eine rechtlich relevante Operation darstellt.

3 Ders.

(§ 1 Fn. 27), S . 4 1 1

ff.

III. Rechtsgeltung und funktionale Gesellschaftsdifferenzierung

233

Pierre Bourdieu hat die Auffassung vertreten, daß Luhmanns Begriff des Rechtssystems positivistisch sei. In seiner Bemühung, den Begriff des „champs juridique" gegen den Begriff des „sozialen Systems" abzugrenzen, stellt er fest, daß die systemtheoretische Rechtssoziologie von einem zu eng gefaßten Begriff von Selbstreferenz ausgehe. Letzterer unterscheide nämlich nicht zwischen der symbolischen Ebene der Rechtsnormen und Rechtsgrundsätze einerseits und der Ebene des sich gestaltenden Wettbewerbs um die Monopolisierung des Rechts der Rechtssetzung andererseits. Dem ist aber nicht so. Diese Kritik übersieht die Unterscheidung von Codes, Kriterien und Programmen. Die Universalität von Recht beruht weder auf der Geltung noch auf der allgemeinen Anerkennung von Rechtsnormen. Der Begriff der Universalität bezieht sich vielmehr auf die Disjunktion Recht / Unrecht. Dies geschieht in der Absicht, die Rechtsordnung nicht als Zusammenhang von Rechtsnormen, sondern als Rekonstruktion und Bestimmung von Kontingenz, d. h. als Struktur eines Verhaltens zu begreifen, das entweder die Form von Recht oder die Form von Unrecht annehmen kann. 4 Die Tatsache, daß eine Gesellschaft die Disjunktion Recht / Unrecht bereithält, bedeutet nicht, daß es kein „partikularistisches" Recht mehr gibt. 5 Die Ausdifferenzierung einer „funktionsbezogenen Universalkompetenz (nirgendwo sonst gibt es Recht als im Recht)" 6 bringt keine Vereinheitlichung und Universalkompetenz der Entscheidungsprogramme mit sich. Der „Hinweis auf das ,lebende Rechten der Bukowina" 7 bestreitet nicht die Universalkompetenz des Rechts, sondern die faktische Universalkompetenz einer staatsbezogenen Semantik. Er erinnert daran, daß die Programme und Kriterien zur Bestimmung der beiden Werte des Rechtscode auch unter modernen Bedingungen der Positivierung des Rechts durchaus plural und mit beliebigen Semantiken verbunden sein können. Der Universalitätsanspruch besteht nur in bezug auf die kontingente Einschaltung des Code. Eigenwillige Semantiken und Programme zerfallen in eine Pluralität, die nicht einmal Anspruch auf Generalisierung erhebt. Idiosynkratische Moralen werden gegen etablierte Semantiken ausgespielt, aber auch der „Verzicht auf Maßgeblichkeit der eigenen Moral" oder — allgemeiner — der eigenen Differenz ist möglich. 8 Wenn man nur das als Recht anerkennt, was vom Rechtsstab ausgeht, ist man auch genötigt, die vom Rechtsstab verwendeten Beobachtungsschemata, Beschreibungen und Semantiken zu übernehmen. In diesem Fall haben nur formal gültige juristische Entscheidungen Rechtscharakter. Alles andere ist Sitte, Moral oder andere nichtrechtliche soziale Norm. Andere Beobachter, die nicht unter 4 Ders. (§ 1 Fn. 19), S. 411 f. FN 80. 5 Hierzu: Rudolph von Ihering, Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung Bd Π 1, 9. unver. Aufl., Aalen 1968 (Neudruck) S. 143, 178, 182 ff., 200, 202 ff.; femer auf Ihering aufbauend: Eugen Ehrlich, Gesetz und lebendes Recht. Vermischte kleine Schriften, hrsg. von Manfred Rehbinder, Berlin 1986, passim. 6 Luhmann, Die Rückgabe des zwölften Kamels, S. 62. 7 Ebd., S. 62, Fn. 100. s Arnold Gehlen, Soziologie der Macht, in: Gesamtausgabe Bd. 7, Frankfurt am Main 1978, S. 91-100, 98.

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§ 7 Funktion der Geltung von Rechtsnormen im Rechtssystem

dem Druck stehen, juristische Entscheidungen zu treffen, können von einer anderen Semantik ausgehen. In diesem Sinne kann man mit Krawietz sagen: , Alles staatliche Recht ist zugleich auch gesellschaftliches Recht, aber nicht alles gesellschaftliche Recht ist auch staatliches Recht". 9 Verhaltenserwartungen können in Organisations- und Interaktionssystemen semantisch auf verschiedene Weise belegt werden, unabhängig davon, welche Bedeutung sie für den entscheidenden Richter oder für eine andere juristische Berufsrolle haben. Der MachtCode ist zwar mit dem binären Schematismus von Recht und Unrecht verknüpft und kann relativ kontextfrei verwandt werden. Dies bedeutet aber nicht, daß die Verteilung von Rechten und Pflichten der in einem Rechtssatz enthaltenen Aktionsnorm entspricht. Wer meint, er befinde sich mit seinen enttäuschten Erwartungen im Recht, braucht nicht sofort den „Klingeldraht" zum fernstehenden rechtsstaatlichen Machthaber nach den vorweg bekannten Regeln zu betätigen.10 Er kann auf andere Mechanismen der Enttäuschungsabwicklung zurückgreifen, die im betreffenden Kommunikationssystem selbst parat gehalten werden. So können ethnische Minderheiten ihre Familienverhältnisse nach einem Familienrecht regeln, das aus der Sicht des juristischen Entscheiders bloße Sitte und kein Recht ist. Die im Gesetzestext enthaltene Aktionsnorm hat für die im Familienleben geltenden Erwartungszusammenhänge nur in den sehr spärlichen Fällen einen Orientierungswert, in denen Anlaß zur Nachschaltung des Rechtsstabes gegeben ist. In diesen Fällen werden die gesetzlichen Reaktionsnormen angewandt und die normativen Erwartungen sowie die Prozesse der Enttäuschungsabwicklung als rechtlich ungültig deklariert. Die Regelsuppositionen von Anwälten und Richtern ersetzen die das Familienleben regelnden Aktionsnormen. In den Fällen, wo kein Anlaß zu obrigkeitlichem Eingriff geboten wird, wächst und gedeiht die Familie nach ihrem eigenen Recht. 11 Die Ordnungsleistung von Recht liegt nicht in der Nachschaltung des Entscheidungsmechanismus des Rechtsstabes nach rechtlich geregelten Entscheidungsverfahren. Der Abbau der „Vorfilter des Zugangs zum Verfahren" und das „Verbot der Justizverweigerung" beziehen sich auf die Einschaltungsmöglichkeiten von subsistenten Reaktionsnormen und subsistenten Aktionsnormsuppositionen. 1 2 Schon vor dieser ,,Nachschaltung" erfolgt eine Verteilung von Recht und Unrecht, die vom universell einsetzbaren Rechtscode unabhängig ist. Die Chancen, im Recht bzw. Unrecht zu sein, werden bereits im Kontext des jeweils laufenden sozialen Kommunikationssystems ungleich verteilt. Diese Verteilung 9 Werner Krawietz, Grundzüge der Rechtssoziologie. Unveröffentliches Manuskript, Münster 1989, S. 47. 10 Luhmann (§ 2 Fn. 50), S. 49. h Vgl. hierzu: Werner Krawietz, Sind Zwang und Anerkennung Strukturelemente der Rechtsnorm? Konzeptionen und Begriffe des Rechts in der modernen Rechtstheorie, in: Ota Weinberger/ders. (Hrsg.), Reine Rechtslehre im Spiegel ihrer Fortsetzer und Kritiker, Wien /New York 1988, S. 315-369. Luhmann

(§ 1 Fn.

19), S.

3

.

III. Rechtsgeltung und funktionale Gesellschaftsdifferenzierung

235

ist kein psychischer, sondern ein sozialer Tatbestand. Sie erfolgt unabhängig von den eigenen Handelnsentschlüssen. Dies bedeutet, daß nicht nur der universell gesetzte Rechtscode, sondern auch die Erwartungssicherung und die Enttäuschungsabwicklung, d. h., daß Recht des jeweiligen konkreten Kommunikationssystems „dem Erleben der unmittelbar Betroffenen entzogen, versachlicht, situations- und enttäuschungsunabhängig ist". 1 3 Das Mißverständnis Bourdieus liegt darin, daß er bei Luhmann das Rechtssytem mit dem Justizsystem identifiziert, dem von vornherein das Monopol zustehe, durch bindende Entscheidungen die zwei Werte des Rechtscodes zu bestimmen. Die herkömmliche Rechtsphilosophie war gewöhnt, alles Recht vom Justizsystem abhängig zu machen und alles andere in der Form von Moral in die Natur oder in das innere Gewissen des einzelnen einzuschmuggeln. Man braucht aber Moral nicht unbedingt im Hinblick auf das Justizsystem zu definieren. Eine schon vorgeschlagene Alternative geht dahin, Moral auf die Frage zu beziehen, „ob und unter welchen Bedingungen Menschen einander achten bzw. mißachten". 14 Entscheidend ist demnach nicht die innere Bindung im Gegensatz zur äußerlichen Ordnungsleistung des justizabhängigen Rechts, sondern „daß die Person als ganzes zur Beurteilung steht". 15 Der Achtungsentzug oder Achtungserweis betrifft — nach welchen Kriterien auch immer — die Person „als ganzes" und kann je nach Systemreferenz kontrovers gehandhabt werden. Dieser Moralbegriff läßt es beispielsweise zu, daß man Moral nicht nur gegen rechtliche Reaktions- und Entscheidungsnormen, sondern auch gegen Erwartungszusammenhänge abgrenzt, die in einem „rudimentären" Sinne in allen sozialen Systemen und auch ohne Rekurs auf das offizielle staatlich gesetzte und sanktionierte Recht rechtlichen Charakter erlangen. Organisationen, Familien, Gruppen, die Briefmarken tauschen, und Nachbarschaftsverhältnisse haben demnach ihr eigenes Recht, das für beliebige Beobachter — den Staat eingeschlossen — moralisch, ungerecht, rechtlich irrelevant oder verbindlich sein kann. Was es tatsächlich ist, hängt von der Tatsächlichkeit der sozialen Interdependenz ab. Seine Verbindlichkeit hängt nämlich von dem Grad seiner sozialen Generalisierung ab. Rechtliche Relevanz ist jedenfalls auf die Institutionalisierbarkeit von Normen angewiesen. Normen, die rechtlich sind, weisen darauf hin, daß die zeitliche Generalisierung von bestimmten Verhaltenserwartungen zugleich Anspruch auf soziale Generalisierung, d. h. auf Verbindlichkeit für andere, erheben. 1 6 Das Ergebnis des Entscheidungsverfahrens im Justizsystem führt eine neue Verteilung von Recht und Unrecht herbei. Auf diese Weise entstehen „Widersprüche zwischen den geforderten Gebarens weisen". 17 Ein sozialer Kreis stellt andere Forderungen als ein anderer, und das nachgeschaltete Justizsystem verteilt die Chancen von Recht und Unrecht neu. Infolgedessen sind Fälle unvermeidlich, 13 Ebd., S. 411. 14 Luhmann (§ 1 Fn. 27), S. 318. 15 Ebd., S. 319. 16 Ders. (§ 1 Fn. 19), S. 338. 17 Geiger, Vorstudien, S. 335.

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§ 7 Funktion der Geltung von Rechtsnormen im Rechtssystem

wo es dem einzelnen erschwert ist, sich risikofrei zu bewegen. In einer funktional differenzierten und moralisch diskrepanten Gesellschaft ist jede Entscheidung und jede Handlung ihren eigenen Folgen ausgeliefert. Es geht nicht nur darum, daß Operationen und operationalisierte Beobachtungen in einem funktionalen Teilsystem Rückbetroffenheiten und Unwahrscheinlichkeiten in anderen Teilsystemen verursachen. In bezug auf Recht und Moral entstehen Erwartungsunsicherheiten dergestalt, daß Erwartbarkeit durch Risiko ersetzt wird. Recht entsteht rudimentär in allen sozialen Systemen, und moralische Fragen werden kontrovers behandelt. Die Einschaltung des universell gesetzten Rechtscodes bleibt kontingent, und die formal juristische Frage danach, was in concreto rechtens ist, bleibt im Ungewissen. So geht jedes Verbindlichkeitskalkül von Erwartungsunsicherheit aus, um in durch sich selbst verursachte Risiken einzumünden. 2. Riskante Erwartungen

und Risiko der Entscheidung

Wir haben schon von Ungewißheitszonen und Ungewißheitsquellen gesprochen, deren Kontrolle zum Machtfaktor wird. Wo es an Erwartungen fehlt, die Strukturweit haben, entscheidet das Zusammenspiel von primären und sekundären Machtfaktoren über die Erwartungs- und Regelbildung. Eine andere Möglichkeit ist es, Ungewißheit mit Blick auf Information zu thematisieren. Wir gewinnen auf diese Weise den Begriff von Risiko. Informationen werden durch Aktualisierung des Strukturgebrauchs im Kommunikationssystem selbst produziert und dann erst „als Prämisse ihrer Verarbeitung als gegeben" behandelt.18 Wenn die Differenz Information / Ungewißheit im Hinblick auf zu treffende Entscheidungen reflektiert wird, wird die Risikosemantik für das Kommunikationssystem relevant. Selektionsleistungen werden als riskant und risikobereit, Entscheider als risikofreudig bezeichnet. Risiko ist gegeben, nicht wenn die Möglichkeit einer Gefahr oder eine Gefahr gegeben ist, sondern wenn mögliche Gefahren die Folge eigener Entscheidungen sind. Die Gefahrmöglichkeit muß „als Folge eigener Entscheidungen" zugerechnet werden können. Dieser Risikobegriff kalkuliert nicht die Wahrscheinlichkeit des Auftretens unerwünschter oder erwünschter Ereignisse. 19 Er berücksichtigt vielmehr die erwünschten und unerwünschten Ereignisse, die als Folge eigener Entscheidungen möglich erscheinen. Man kann versuchen, sich über Risiken zu informieren und sich durch sie informieren zu lassen. Risiken informieren über die laufenden und potentiellen Zustände eines Kommunikationssystems. Informationen orientieren sich an Erwartungen, die auf Kontingenzen beruhen. Risiken betreffen nicht Erwartungen, sondern die ihnen zugrunde liegende Kontingenz. Selektionsleistungen müssen als Resul18

Hierzu und zum folgenden Baecker (Fn. 84), S. 12. Vgl. die Unterscheidung von dangerosité undrisque bei Robert Castel , La gestion des risques. De Γ anti-psychiatrie à Γ après-psychanalyse, Paris 1981, S. 144 ff.: „le diagnostique de dangerosité rabat la catégorie du possible sur celle du réel, sous prétexte que le possible est — plus ou moins — probable" (S. 147). 19

III. Rechtsgeltung und funktionale Gesellschaftsdifferenzierung

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tat eigener und fremder Entscheidungen nicht immer erwartbar gemacht werden. Wenn man als Entscheidungsfolge nur Kontingenz erwarten kann und trotzdem entscheidet, geht man ein Risiko ein. Dies bedeutet, daß man ein Risiko als Information behandelt hat und daß diese Information für die Entscheidung entscheidend war. Informationen können sich aber als falsch herausstellen: Das Risiko ist keines gewesen. Es ist also riskant, sich an Risiken zu orientieren. Jedenfalls soll hier die Tatsache in den Vordergrund gestellt werden, daß Entscheidungen Ursache eines Risikos sein können. 20 Das Risiko entsteht erst daraus, daß man sich entscheidet. Wir können mit Luhmann das Verhältnis von Risiko und Entscheidung wie folgt beschreiben: Die Entscheidung überträgt die Kontingenz der Alternativenkonstellation auf die gewählte Alternative. Die Alternativen bleiben am Resultat der Entscheidung „als Geschichte und als Kontingenz" hängen. In diesem Sinne läßt Entscheiden sich auch beschreiben als „converting uncertainty to risk".21 Ungewißheit ist die Voraussetzung von Risiko. Entscheidungen erbringen die Konvertierungsleistung von Ungewißheit in Risiko. Jeder Versuch der Entscheidung, sich schon im Moment der Entscheidung als falsch oder richtig zu behaupten, wird durch den Hinweis darauf blockiert, daß die „auf den Prüfstand geschickte Alternative" das Risiko aushalten muß, „nur eine Alternative zu sein". 22 Es kann also das Risiko nicht ausgeschaltet werden, anderen im Kommunikationszusammenhang oder in anderen Gesellschaftssystemen mit eigenen Entscheidungen, auf die man sich festlegt, Anschlußmöglichkeiten zu bieten, die den eigenen Interessen widersprechen. Wir wollen versuchen, diesen Risikobegriff für die Geltungstheorie Geigers fruchtbar zu machen. Es ist für das Rechtsleben ohne direktes Interesse, „was gestern rechtlich bindend" war. 23 Praktisch kommt es immer darauf an zu wissen, „was jetzt, d. h. heute und morgen verbindlich ist". Ein Unternehmen A will beispielsweise wissen, was es mit einer bestimmten Disposition in einer gegebenen Lage riskiert, ein anderes Unternehmen Β will wissen, was für diese Disposition es von A in derselben gegebenen Lage zu gewärtigen hat. A will die Grenzen seiner „Rechtssphäre" abstecken. Er will „innerhalb seiner Rechtssphäre auf zugesagte Garantien der Freiheit von Rechtsnachteilen vertrauen". Β will mit Zuversicht „ein gewisses Verhalten des A " — und „subsidiär" des Rechtsstabes — erwarten können. Wir haben es hier mit Ungewißheit und Risiko zu tun. Es geht aber nicht um das im Umweltrecht relevante Problem, ob und wie der Jurist die Risikoeinschätzungen der Bürger beurteilen soll. Bei der juristischen Erfahrungsregel der Güterabwägung werden die Risiken abgewägt, die jemand für andere erzeugt. 24 Hier ist aber von Entscheidungen die Rede, die die Ungewißheit eines „Verbindlichkeitskalküls" in Risiko konvertieren. Sie gehen das Risiko ein, als 20 Baecker (Fn. 84), S. 131. 21 Luhmann (§ 5 Fn. 10), S. 338, 380. 22 Ebd., S. 338. 23 Geiger, Vorstudien, S. 278. 24 Luhmann (Fn. 86), S. 137 ff., 140.

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§ 7 Funktion der Geltung von Rechtsnormen im Rechtssystem

Ursache von Rechtsnachteilen, d. h. als im Unrecht seiend, behandelt zu werden. Sie liefern sich somit ihren eigenen Folgen aus. Die Erwartungsungewißheit beim Verbindlichkeitskalkül liegt darin, daß es immer „einigermaßen im Ungewissen" steht, was in bezug auf „einen gegenwärtigen, konkreten Fall rechtens sei". Die Auskunft über die Rechtslage enthält immer „eine Unbekannte X". Meistens meint man zu wissen, was rechtens ist. Ob das, was einem rechtens zu sein scheint, geschehen wird, kann niemand wissen. Man kann natürlich das Verbindlichkeitskalkül, die „ungelöste Gleichung der Tatsachen", „ideologisch mit einer gelösten Gleichung der Postulate" überbauen und das Risiko ihrer Entscheidungen verschleiern. Geiger zieht die nackte Ungewißheit vor: „Was für den konkreten Fall rechtens sei, wie er verlaufen werde, das kann weder aus Normsätzen herausgelesen noch durch Analyse bisheriger Rechtshandhabung mit Sicherheit erschlossen werden". So bringen politische, wissenschaftliche, religiöse oder moralische Entscheidungen immer das Risiko mit sich, sich aus der Sicht des Rechtssystems im Unrecht zu befinden, obwohl sie aufgrund ihrer eigenen Semantik der Gerechtigkeit und daher dem richtig verstandenen Recht entsprechen. Es ist „grundsätzlich ungewiß", welche Tatsachen als fallrelevante Fakten zu behandeln sein werden und „welchen Normen einer wie determinierten Verbindlichkeitssubstanz der Fall zugeordnet werden wird". 2 5 Die Erwartungsunsicherheiten werden auch noch dadurch erhöht, daß die Bürger in ihren Verbindlichkeitskalkülen die Verbindlichkeitskalküle der juristischen Berufsrollen einbeziehen und zum Teil rekonstruieren müssen. Die proklamierten Normsätze bieten ein System „begrifflicher Bezugspunkte für konkrete Tatbestände". Angewandt werden aber nicht die Normsätze, sondern die subsistenten Normen. Wie die „Verbindlichkeitssubstanz der unter Berufung auf die Normsätze gehandhabten subsistenten Norm determiniert ist, geht aus der Judikatur hervor". 26 Das Kalkül ist verhältnismäßig sicher, wenn sich im Anschluß an wichtige Gesetzesvorschriften „eine ziemlich konstante Rechtsprechung" entwickelt hat, die meisten konkreten Lebensverhältnisse im „Innenbezirk des Streufeldes der Tatbestände" liegen und man weiß, in welchem Sinn und welcher Anschauung die Gerichte „durchschnittlich" die Paragraphen anwenden. Richterliche Entscheidungen können als geltendes Recht behandelt werden, wenn sie sich als „verhältnismäßig konstant" erweisen. Die einzelne Entscheidung kann somit als Rechtsquelle behandelt werden, „sofern sie Nachfolge findet und sich durchsetzt". Wenn nun für ein Lebensverhältnis gewisser Art „vorerst nur eine einzige richterliche Entscheidung" vorliegt, stellt sich die Frage, nach welchen Kriterien man „ihre Durchsetzungs-Chancen beurteilen kann". Die bisherige Rechtshandhabung und die Berücksichtigung einer fortlaufenden Kette von Entscheidungen lassen Tendenzen erkennbar werden. 27 Es gibt aber Lebenslagen, wo diese Voraussetzung fehlt und das Kalkül erheblich schwieriger wird. Ein 25 Geiger, Vorstudien, S. 277, 278. 26 Ebd., S. 278. 27 Ebd., S. 279, 281.

III. Rechtsgeltung und funktionale Gesellschaftsdifferenzierung

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neues, „durch die Rechtspflege noch unerprobtes" Gesetz wird erlassen. Da sich im Anschluß an dieses Gesetz eine feste Rechtsprechung noch nicht entwickelt hat, ist das Verbindlichkeitskalkül darauf angewiesen, zu vermuten, daß „irgendeine subsistente Norm im Anschluß an das Gesetz im Entstehen begriffen sei". Hierbei verläßt man sich auf die institutionalisierten Gepflogenheiten: Gesetze werden als „Relationspunkt zur Entscheidung konkreter Fälle" angewandt und die „terminologische Konvention" wird die Auslegung der im Normsatz gebrauchten Worte leiten. Es kommt freilich vor, daß die Rechtspflege „ein Gesetz sabotiert". Ob die Sabotage des Gesetzes sich durchsetzt, hängt von verschiedenen Machtfaktoren ab: solidarische Haltung der höheren Instanzen, Reaktion der Politik und Gesetzgebung, Einflußmöglichkeiten von Interessenverbänden, Konformitätsdruck, Vertrauen auf die Effektivität der Gesetzgebung.28 In anderen Fällen kann man „ohne große Schwierigkeiten einem neuen Gesetz das Fiasko voraussagen". Das Verhalten der Adressaten kann nicht einmal im nachhinein als durch das Gesetz gesteuert gesetzt werden. Das Gesetz bewirkt weder Verhaltenssteuerung noch Erwartungssicherung. Leicht schwindet auch die Bereitschaft der Rechtspflege, in den wenigen vor sie gebrachten Übertretungsfällen Sanktion zu verhängen, „wenn der Richter doch weiß, daß hunderte von Übertretungen straffrei bleiben und die zur Aburteilung Kommenden eine bloße Zufallsauslese sind". Wenn eine neu-proklamierte Gesetzesvorschrift Anlaß zur Bildung einer subsistenten Norm gibt, ist doch vorerst ungewiß, „eine wie determinierte Verbindlichkeitssubstanz" sie durch die Tätigkeit der Rechtspflege bekommen wird. Die Anhaltspunkte, die das Verbindlichkeitskalkül in diesem Falle hat, sind nach Geiger wie folgt: a) Die Diskussion, die während der Vorbereitung und Erörterung des Gesetzesentwurfs im Parlament, in juristischen Vereinen und Fachblättern und in den betroffenen Kreisen der Bevölkerung in Gang gekommen ist. b) Ist das Gesetz dann in Kraft getreten, so wird es zum sekundären Machtfaktor, der die Orientierungsprozesse beeinflußt. Die Bürger werden vorerst „für alle Fälle lieber mit einer sehr weiten als einer zu engen Abgrenzung der vermutlichen Verbindlichkeitssubstanz rechnen". 29 Bürger, die im Begriff stehen, eine auch nur „möglicherweise von dem neuen Gesetz berührte Disposition zu treffen", werden möglicherweise den Rat eines Anwalts einholen. Letzterer müßte aber noch sein eigenes Verbindlichkeitskalkül anstellen, c) Die vorangegangene Diskussion über die rechtlichen und anderen Folgen des Gesetzes, die Kommentare der Tages- und Berufspresse, die juristische Fachdiskussion, die durch die ratgebende Tätigkeit der Anwälte zugänglich wird, dies alles wirkt „wegweisend und lenkend für das vorläufige Verbindlichkeitskalkül". 30 Andere Gesichtspunkte tauchen auf, wenn für einen Normsatz,»keine kontinuierliche Praxis besteht, weil lange Zeit hindurch kein konkreter Fall zur Beurteilung gebracht wurde, auf den die Norm überhaupt hätte angewendet werden können". Das Gesetz steht auf 28 Ebd., S. 281. 29 Ebd., S. 283. 30 Ebd., S. 284.

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§ 7 Funktion der Geltung von Rechtsnormen im Rechtssystem

dem Papier, die den Gesetzesvorschriften entsprechenden Normen sind so hoffnungslos veraltet oder — allgemeiner gesagt — sie haben mit der subsistenten Norm nichts zu tun. Es kann eine dem Normsatz entgegengesetzte subsistente Norm entstehen. Das Verbindlichkeitskalkül wird die Nichtanwendung des Gesetzes aus Mangel an Anlaß von den Fällen der Nichtanwendung als Symptom des Erlöschens der Norm zu unterscheiden wissen. Das Verbindlichkeitskalkül hat hier „das soziale Milieu selbst und seine Veränderungen mit in Rechnung zu stellen". 31 Es muß die im jeweiligen sozialen System bereitgehaltenen Möglichkeiten der Enttäuschungsabwicklung in Betracht ziehen und sich primär an diesen orientieren. Die vom Rechtsstab abhängende Enttäuschungsabwicklung, die staatlichen Sanktionierungsmöglichkeiten verlieren an Orientierungsweit. Ein dritter Fall der Abweichung der subsistenten Aktionsnorm von der im Normsatz dargestellten und unterstellten Aktionsnorm kann im folgenden Zusammenhang gesehen werden: Technische und organisatorische Neuerungen oder ökonomische Umgestaltungen führen zu Änderungen der „faktischen Sozialstruktur", d. h. zu bisher ungekannten Lebensverhältnissen, „für deren Beziehung oder Nicht-Beziehung auf einen Normsatz seitens des Rechtsstabes bisher keine Erfahrungen vorliegen". Die Lebensverhältnisse regeln zwar sich selbst. Für ihren „bisher unbekannten Typus" muß sich jedoch ein Normsatz erst bilden. Weder ein Gesetz noch die Rechtspflege können da unmittelbare Anhaltspunkte für ein Verbindlichkeitskalkül bieten. „Das erste Wort hat die Lebenspraxis selbst." 32 Die Ungewißheit der Reaktion des Rechtsstabes kann vielleicht durch Wahrscheinlichkeitskalküle abgefangen werden. Letztere sind aber nicht imstande, das durch die Entscheidungen der Bürger selbst erzeugte Risiko, mit seinen Erwartungen im Unrecht zu sein, auszuschalten. Die ersten Andeutungen der Herausbildung einer neuartigen Unternehmungsform rufen schon eine vorangehende Diskussion der Wirtschaftsjuristen hervor, die „gewisse Vermutungen hinsichtlich der wahrscheinlichen Haltung" der Rechtspflege zulassen. Unabhängig davon, wie fundiert und wie fachmännisch die Prognosen sind, ob man mit einer extensiven, analogen oder restriktiven Auslegung schon bestehender Gesetzesvorschriften rechnet oder ob man davon ausgeht, daß neues autonomes Recht zu konstruieren und dem bestehenden Rechtssystem stilgemäß einzufügen ist, gibt es für eine gegebene „praktisch-rechtliche Frage" keine richtige und prognostizierbare Lösung. 33 Das Verbindlichkeitskalkül des Bürgers hat für den konkreten Fall auch mit „den Betrachtungsweisen und Urteilsgewohnheiten des einzelnen Richters" zu rechnen. Das wirkt indirekt auf die „Kalkulation des Einflusses der Rechtswissenschaft" zurück. Es ist nämlich nicht irrelevant, wessen Schüler und Anhänger der entscheidende Richter ist. Dem Verbindlichkeitskalkül des in rechtlich rele31 Ebd., S. 285 f. 32 Ebd., S. 280, 287. 33 Ebd., S. 288.

III. Rechtsgeltung und funktionale Gesellschaftsdifferenzierung

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vanter Weise handelnden Bürgers entspricht ein „Durchsetzungskalkül des Richters". Der einzelne Richter kalkuliert in seiner Urteilstätigkeit „unter anderem auch danach, welche Entscheidung Aussicht hat, sich in der Judikatur allgemein durchzusetzen". Im richterlichen Durchsetzungskalkül liegt ein „retardierendes Moment gegenüber der Anpassung der determinierten Verbindlichkeitssubstanz eingespielter Normen an Verschiebungen der sozialen Verhältnisse: Die erste Neu-Erscheinung hat stets mit geschärfter oberinstanzieller Überprüfung zu rechnen". Bei problematischen Entscheidungen kann der Richter versuchen, hinter dem Prestige der Rechtswissenschaft in Deckung zu gehen und dieses Prestige gegen den Respekt vor den Präjudikaten der höheren und höchsten Instanzen auszuspielen. Das Verbindlichkeitskalkül des Bürgers sieht sich nach all dem genötigt, die Kalküle der Rechtsinstanzen und juristischen Berufsrollen in Betracht zu ziehen. Die Ungewißheiten seines Versuchs herauszufinden, „welche risikofreien Dispositionsmöglichkeiten die bestehenden, als verbindlich gehandhabten Normen ihm einräumen", schlagen nach dem Kalkül in ein notwendigerweise riskantes Handeln und Entscheiden um. 3. Parzellierung

der Macht und Schisma der Moral

In der heutigen funktional differenzierten Gesellschaft sind gesellschaftliche Erwartungsstrukturen von den Erwartungsstrukturen einzelner gesellschaftlicher Subsysteme (Politik, Wirtschaft, Rechtswissenschaft, Religion) zu unterscheiden. Die im Rechtssystem selbst unternommenen Differenzsetzungen, die als Orientierungspunkte für Operationen im System behandelt werden, müssen von den externen Beobachterdifferenzen unterschieden werden. Die Informationen, Erwartungen und Relationierungsmuster, die für die Beantwortung der Frage: „Was ist rechtens?" erforderlich sind, sind Informationen, die im Rechtssystem selbst prozessiert werden. Sie müssen von den Informationen über diese Informationsverarbeitungsprozesse unterschieden werden. Die Unterscheidung ruft in Erinnerung, daß es spezieller Vorkehrungen bedarf, wenn der Versuch gelingen soll, die „Bestimmungsleistungen" der theoretischen oder anderen Beobachtung an die Bestimmungsleistungen des Rechtssystems anzuschließen. Erwartungen, die aus dem Blickwinkel einer Theorie und der von ihr möglicherweise angeleiteten Praxis (Politik, soziale Bewegung) sich an Erzeugung und Anwendung geltenden Rechts stellen lassen, müssen nicht die Erwartungen sein, die in den Regelsystemen des Rechts für Operationen der Produktion von gesamtgesellschaftlich bindenden Rechtsentscheidungen relevant werden. 34 Zwischen den von verschiedenen Funktionssystemen unterschiedlich konstituierten und operationalisierten Erwartungen kommt es zu Konfliktmöglichkeiten und zur Kommunikationsunmöglichkeit. Unterschiedlich wahrgenommene und eingesetzte Werte, unterschiedlich kodierte Erwartungen können nicht einfach miteinander relationiert werden. Bei der Beobachtung anderer Funktionssysteme ist das Rechtssystem in der Lage, 34 Vgl. Baecker (Fn. 84), S. 243 f.

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§ 7 Funktion der Geltung von Rechtsnormen im Rechtssystem

Erfahrungen zu sammeln, die es intern für „eine Relativierung seiner Werte" nutzen könnte. Eine solche Relativierung könnte sogar „Hoffnungen auf einen Dialog der Systeme stimulieren". 35 Die Frage ist aber, nach welchen Regeln diese „Konversation" ablaufen soll. Die unterschiedliche Erwartungskodierung in den verschiedenen Funktionssystemen — nach Lyotard die Ungleichartigkeit der Regelsysteme — bringt die Unmöglichkeit mit sich, sie ein und demselben Gesetz zu unterwerfen (außer um den Preis ihrer Neutralisierung). Jedem dieser Funktionssysteme entspricht ein Darstellungsmodus des Universums, der in einen anderen Modus nicht übersetzbar ist. Wie Max Weber und Wittgenstein feststellen, muß man die Gesamtheit der konstitutiven Regeln eines Spiels von der Gesamtheit der Empfehlungen und Erfahrungsregeln, die eine erfolgversprechende Strategie bilden, unterscheiden. Bei Mißachtung der ersteren wird das Regelsystem verändert, man spielt nicht dasselbe Spiel. Bei Mißachtung der letzteren spielt man immer noch dasselbe Spiel, aber schlecht. Die Frage ist, ob Strategien entwickelt werden können, die mehreren und unterschiedlichen Regelsystemen unterstehen und gleichzeitig Empfehlungen für erfolgreiche Teilnahme an verschiedenartigen Spielen sein können. 36 Ginge es bei der unterschiedlichen Erwartungskodierung um einen Rechtsstreit, ließen sich die Regeln des Rechts auf die verschiedenen konfligierenden Argumentationen anwenden. Welche Urteilsregel soll aber im Fall des Konfliktes zwischen Recht und anderen Funktionssystemen angewandt werden? Habermas' idealer Diskurs ist eben ideal und muß sich außerdem auch die Frage gefallen lassen: „was denn nach dem Konsens der Fall sein würde". 37 Es ist eine interessante Frage an die Gesellschaftstheorie, ob die Interdependenzen und Independenzen zwischen unterschiedlich kodierten Erwartungsstrukturen nach dem Muster eines „Rechtsstreites" oder eines „Widerstreites" operationalisierbar sind. Die Annahme und Etablierung eines Vorrats an kulturellen Gemeinsamkeiten können gesellschaftstheoretische Probleme nicht lösen. Kulturtheorie kann Gesellschaftstheorie nicht ersetzen. 38 Rechtlich handelt man, indem man Ansprüche geltend macht und Anspruchsgrundlagen prüft. Wirtschaftlich handelt man, indem man zahlt oder nicht zahlt. Das Problem liegt darin, ob es Metaregeln geben kann, nach denen in unterschiedlichen Sprachen formulierte Probleme gelöst werden können. 39 Da der Staat in der funktional ausdifferenzierten Gesellschaft nur noch ein ideologisches Alibi für soziale Bewegungen zu sein scheint, wäre es falsch anzunehmen, daß er einen Supercode 35 Ebd., S. 244 f. 36 Jean-François Lyotard , Le Différend, Paris 1983, S. 197 f. 37 Luhmann (§ 1 Fn. 27), S. 237 FN 73. 38 Vgl. Margaret Mead , The Future as the Basis for Establishing a Shared Culture, in: Gerald Holton (Hrsg.), Science and Culture. A Study of Cohesive and Disjunctive Forces, Boston 1965, S. 163-183. Ferner Daniel Bell , The Disjunction of Culture and Social Structure: Some Notes on the Meaning of Social Reality, in: ebd., S. 236-250. Bell geht von einer Pluralisierung von Kultur und von einer Privatisierung von Sprachen, Symbolen und Zeichen aus (S. 244). 39 Niklas Luhmann, Die Wirtschaft der Gesellschaft, Frankfurt / Main 1988, S. 348.

ΙΠ. Rechtsgeltung und funktionale Gesellschaftsdifferenzierung

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entwickeln und die Autopoiesis der Funktionssysteme steuern könnte. 40 Ein Supercode wäre kein Code, sondern ein Übergang, ein Hinübergehen von einem Code in einen anderen. 41 Ein solcher Code würde aber die Kontingenz der jeweiligen Codeeinschaltung verschwinden lassen oder zumindest durch die Kontingenz eines codierten Hinübergleitens vom Relevanzbereich eines Code in den eines anderen ersetzen. Das eigentliche Problem liegt nach alldem nicht im Verhältnis von Recht und Moral, sondern in der Polykontexturalität. 42 In einer funktional ausdifferenzierten und moralisch pluralisierten Gesellschaft ist nach Geiger alle rechtliche Kommunikation mit machtabhängigen Ungewißheitszonen und Risikobereichen verbunden. Risiko und Macht sind die Begriffe, mit denen Geiger den Schwierigkeiten der Polykontexturalität begegnen will. Mit Hilfe der Unterscheidung von rechtmäßiger und rechtswidriger Macht läßt sich Macht „unter ein klares Entweder/ Oder bringen". 43 Es gibt Machtausübung sowohl durch als auch gegen den rechtmäßigen Machthaber. Die Zumutung der Schematisierung in rechtmäßige und unrechtmäßige Macht wird normiert und als Rechtsnorm, d. h. als rechtliche, kontrafaktisch stabilisierte Erwartung dargestellt. Dies bedeutet jedoch nicht, daß die Werte Macht und Recht bzw. Ohnmacht und Unrecht zur Deckung gebracht werden. Die Differenzen Macht / Ohnmacht und Recht / Unrecht werden aufeinander bezogen.44 Dies geschieht fallweise. Daueridentifikationen, die dahin führen könnten, daß die Machthaber immer im Recht sind, werden somit vermieden. In diesem Sinne muß die Frage nach dem Vorrang von Macht bzw. Recht „im System reflektiert werden und trotzdem strukturell unentschieden bleiben". 45 Macht erhält durch das Recht ihre Zweit-Kodierung: Zwei Disjunktionen können miteinander relationiert werden, so daß höchste Machthaber Unrecht tun und die 40

Vgl. Jacques Donzelot, Misère de la culture politique, in: Critique, 34 (1978), S. 572-586, 575, 577, 585: „prise en considération du pouvoir comme phénomène singulier, irréductible à un sujet (l'Etat)" (S. 575) und femer: „illusion d'une aurore révolutionaire . . . un alibi" (S. 585). 41 Vgl. Lucien Sfez, Critique de la décision, 2. Aufl., Paris 1976, S. 313: „notre surcode n'est pas un code, c'est un passage, un mouvement créatif de code à code". 42 Niklas Luhmann, Die Codierung des Rechtssystems, in: RECHTSTHEORIE 17 (1986), S. 171-203, 180, 188; femer auf Gotthard Günther aufbauend: Rudolf Kaehr, Einschreiben in Zukunft, in: Dieter Hombach (Hrsg.), ebd., S. 191-238, 210 ff.: „Die Kontexturen der Kontexturalitätstheorie . . . lassen sich logisch, semiotisch, arithmetisch und auch ontologisch deuten, insofern, als sie je Kontextur als Ort, Platzhalter, Leerstelle für eine Logik, Semiotik, Arithmetik und Ontologie, d. h. als Bedingung der Möglichkeit, als Ermöglichung derselben fungieren" (S. 210 f.). Bei der Polykontexturalität gehe es um die „Vermittlungsmodi für Kontexturen" (S. 211). Zum „Schisma der Moral" s. unten unter 4. « Luhmann (§ 2 Fn. 50), S. 43. 44 Hierzu: Werner Krawietz, Verhältnis von Macht und Recht in staatlich organisierten Rechtssystemen, in: Paul Hofmann / Urlich Meyer-Cording / Herbert Wiedemann (Hrsg.), Festschrift für Klemens Pleyer zum 65. Geburtstag, Köln / Berlin / Bonn / München, S. 217-235. «

Luhmann

(§ 2 F n . 50), S.

56.

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§ 7 Funktion der Geltung von Rechtsnormen im Rechtssystem

Schwächsten Recht haben und erhalten können. Ähnliches gilt für die Relationierungsmöglichkeiten der politischen Disjunktion konservativ / progressiv mit der Differenz Macht / Ohnmacht. Die „ n a i v e Direktassoziation" von Präferenzen ist natürlich möglich, hat aber keinen Erklärungswert. Sie wird moralisch begründet und dient zur politischen Motivierung, die ideologisch überformt wird. Das Postulat, die „Macht solle progressiv (und nicht konservativ)" sein, ruft das Gegenpostulat hervor, die Macht solle konservativ (und nicht progressiv) sein. 46 Im Bereich von Macht wird die Bildung von Handlungsketten ermöglicht. Diese entstehen, wenn und soweit der Machthaber über die Machtausübung des Machtunterworfenen disponieren kann. 47 Kettenbildung erschließt dem Machthaber eine Reichweite und Durchgriffsfähigkeit, die seine personbezogene Selektionskapazität steigert. Machtketten bringen aber das Phänomen der Erzeugung reziproker Gegenmacht mit sich, die für die Anwendung des Rechtscodes von Bedeutung ist. Es stellt sich die Frage, wie sich die Differenzierung von formaler und informaler Macht zum binären Schematismus von rechtmäßiger und unrechtmäßiger Macht verhält. Man könnte sagen, daß der Rechtscode nur auf formale Macht anwendbar ist und daß diese „dadurch geradezu definiert" ist. 48 Mit Geiger könnte man sagen: „Allen Rechtsfunktionen liegen Machtfunktionen zugrunde, wogegen es Machtfunktionen gibt, die keinerlei Rechtsfunktionen voraussetzen". 49 Informale Macht kann die größere Macht sein, ohne sich dem Rechtsschematismus zu stellen. Sie kann außerdem in ihrer Informalität insofern von rechtlicher Relevanz sein, als sie zu Problemstellungen und Problemlösungen führt, die faktisch als funktionale Äquivalente zu den Alternativen der rechtlich kodierten formalen Machtkommunikation behandelt werden. In systeminternen Interaktionen wird die kontingente Einschaltung des Schematismus von rechtmäßiger/ unrechtmäßiger Macht durch den zweiten, systeminternen Schematismus von formaler/informaler Macht geregelt. Andererseits kann die informale Macht Problemstellungen und -lösungen erschließen, die im nachhinein in den Relevanzbereich der rechtlich kodierten formalen Machtkommunikation eingeführt werden. Im Relevanzbereich von rechtmäßiger und unrechtmäßiger Macht werden offizielle Vermeidungsalternativen den Handlungs- und Entscheidungsselektionen zugeordnet, die aber den Selektionsleistungen und Selektionsübertragungen im Bereich der informalen Macht anfangs nicht zugrunde lagen. Der Übergang vom Bereich informaler zum Bereich formaler Macht führt eine Neuverteilung des Wollens und Nichtwollens sowie eine neue Definition und konditionale Verknüpfung von Vermeidungsalternativen herbei, die die eigentliche Problemstellung nur für Eingeweihte sichtbar werden läßt. Unter genetischem Gesichtspunkt hat die Macht nach Geiger den Primat vor dem Recht. Dies hängt damit zusammen, daß Geiger die Entstehung von Recht 46 Ebd., S. 128 FN 131. Ebd., S. 39 ff. 48 Ebd., S. 46. 49 Geiger, Vorstudien, S. 357. 47

III. Rechtsgeltung und funktionale Gesellschaftsdifferenzierung

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mit der Ausdifferenzierung politischer Macht identifiziert. Letztere hat die Sichtbarkeit der Macht, ihren Legitimationsbedarf, ihre Funktionsweise und ihre Reichweite in der Gesellschaft revolutioniert. „Da Staat und Recht als soziale Erscheinungen sowohl genetisch als strukturell zusammengehören, sind Recht und Staatsmacht gleichzeitig gegeben."50 Die Konstitution politischer Systeme, die physische Gewalt und Machtgebrauch auf besonders anspruchsvolle Weise miteinander kombinieren, bringen eine komplexe Entscheidungsabhängigkeit des Machteinsatzes mit sich. Sie implizieren aber keineswegs eine „volle Monopolisierung der Macht in der Hand des Staates".51 Eine Gleichsetzung von Macht und Staatsmacht führt zu dem nach Geiger unzuläßig vereinfachten Bild des Machtverhältnisses, das er bei den „Uppsala-Juridikern" kritisiert hat. In einem Staat gibt es nicht nur „eine Macht", und die Masse der an Handhabung dieser Staatsmacht unbeteiligten Bürger steht ihr nicht als machtlos gegenüber. Vielleicht mag dies unter dem Gesichtspunkt der Staatsmacht, welche eine Institution ist, so aussehen. Unter dem „Gesichtspunkt der Macht im allgemeinen" liegt aber das Problem eher im „Volumen gesellschaftlicher Macht, das außerhalb jeden Bezugs zum politischen System entsteht und verbleibt". 52 Es handelt sich um die verwickelten interkursiven Machtverhältnisse, die außerhalb des politischen Systems bestehen. Es gibt „Macht vor der Staatsmacht und außerhalb ihrer", und nur auf diese vor- und außerstaatliche Macht bezieht sich die Behauptung Geigers von der Priorität der Macht vor dem Recht. Alle Machterscheinungen in der Gesellschaft können auch vor die Frage gestellt werden, unter welchen Bedingungen und innerhalb welcher Grenzen die „Politisierbarkeit von Macht" erfolgen kann. Es geht nicht nur um den offiziellen „politischen Machtkampf'. 53 Es geht eher um das allgemeinere Phänomen des Zusammenspiels von interkursiven Machtverhältnissen und sekundären Machtfaktoren insoweit, als sein Objekt die Herrschaft ist. Die etablierte Regelmäßigkeit der Herrschaftsausübung stellt ein „Beharrungsmoment" dar. „Hinfort ist eine Institution geschaffen." 54 Die Politisierbarkeit gesellschaftlicher Macht hängt mit Verlagerungen „in der Sphäre der interkursiven Machtverhältnisse" zusammen, die groß genug sind, um die ,3eharrungskraft der Herrschafts- und Untertänigkeitsgewohnheiten überzukompensieren". Darüber hinaus schaffen sich die Herrschaftsorgane durch die Kontrolle und ihren Anteil an der eingeübten Handhabung des Herrschaftsapparates eine „Schlüsselstellung", die ihnen eine „besondere funktionelle Macht" gewährt. Eine „einmal etablierte Herrschaft" überdauert somit „ihre eigenen ursprünglichen Voraussetzungen in den interkursiven Machtverhältnissen". 55 Sekundäre Machtfaktoren wie die Kontrolle des Herrschaftsapparates sowie anderer Unge50 Ebd., S. 355. 51 Luhmann (§ 2 Fn. 50), S. 91 f. 52 Geiger, Vorstudien, S. 356; Luhmann (§ 2 Fn. 50), S. 91 f. 53 Geiger, Vorstudien, S. 345; Luhmann (§ 2 Fn. 50), S. 92. 54 Geiger, ebd. 55 Ebd., S. 346 f. 16 Gromitsaris

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§ 7 Funktion der Geltung von Rechtsnormen im Rechtssystem

wißheitsquellen, die für den politischen Machtkampf wichtig sind, bedingen die Politisierungschancen außerpolitischer Macht. Macht kann jedenfalls nicht im politischen System domestiziert werden. Geiger geht von der „Nichteliminierbarkeit von Macht in außerpolitischen Interaktionen" aus. 56 „Eine Gesellschaft ohne Machtverhältnisse irgendwelcher Art ist undenkbar." 57 Das geltende Recht, der „bestehende Rechtszustand" wirkt als ein sekundärer Machtfaktor. Politische Macht stellt sich als eine Machtausübung dar, die sich „entlang dem in der bestehenden Rechtsordnung festgelegten Linien" bewegt. 58 Unter dem Gesichtspunkt der Veränderlichkeit des Verfassungs- und Rechtszustandes beruht jede Änderung auf Verschiebungen der dem Verfassungszustand zugrunde liegenden interkursiven Machtverhältnisse, deren nunmehrigen Status die Struktur und personelle Zusammensetzung der Herrschaftsmacht angepaßt wird. Die Nichtpolitisierbarkeit und funktionelle Diffusion außerpolitischer Macht, die Tatsache nämlich, daß es politisch unkontrollierbare Machtquellen gibt, und daß Macht funktionale Spezifikationen anderer Medien und Gesellschaftsbereiche usurpieren kann, steht außer Zweifel. 59 Dies befähigt aber diese Macht nicht ohne weiteres dazu, mit einem Herrschaftsanspruch aufzutreten. Das Aufdrängen einer „Metaorientierung an Machtfragen" in Interaktionen, in der Wirtschaft, in der Familie oder in der Liebe schafft nicht jene Grundlage von „Generalisierbarkeit, Themenunabhängigkeit und Drohfähigkeit", die zu einer „Gegenpolitik" führen könnte. 60 Verschiebungen im Bereich der politischen Macht hängen von dem Eingespieltsein eines „sekundären, tertiären usw. Verfassungszustandes" ab. Im letzteren „sehen wir simultan" erstens bestehende interkursive Machtverhältnisse aller Bevölkerungsgruppen untereinander, zweitens eine gegebene Herrschaftstruktur und Zusammensetzung ihrer Träger, drittens einen bestehenden Rechtszustand.61 Das Eingespieltsein der Herrschaft ist „ja nur ein anderer Ausdruck" für die Übereinstimmung der Funktionsweise derselben mit den staatsrechtlichen Normen. Dieses „Übereinstimmungsgleichgewicht" zwischen Recht und Herrschaft darf nicht den Umstand verdecken, daß jede aktuelle Herrschaftstruktur immer dadurch entsteht, daß „eine frühere ihr unterm Druck veränderter interkursiver Machtverhältnisse weichen mußte". Die Machteinbuße in der interkursiven Sphäre muß größer als der Vorsprung sein, den die Kontrolle über den Staatsapparat in der integralen Sphäre ergibt. In diesem Sinne treten alle Veränderungen der Herrschaftsausübung, d. h. alle Veränderungen von staatsrechtlichen Normen „unter dem Druck von Machtverschiebungen" ein. 62 Das gegenseitige Bedingungsverhältnis zwischen Rechtsstaat und Staats56 Luhmann (§ 2 Fn. 50), S. 93. 57 Geiger, Vorstudien, S. 352. 58 Ebd., S. 358 f. 59 Luhmann (§ 2 Fn. 50), S. 93. 60 Ebd., S. 93 f. 61 Geiger, Vorstudien, S. 358 f. 62 Ebd., S. 360.

III. Rechtsgeltung und funktionale Gesellschaftsdifferenzierung

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recht läßt sich je nach Betrachtungsweise unterschiedlich darstellen: In statischer Betrachtung nehmen die „augenblicklichen Träger" der Herrschaftsmacht einer lange fungierenden Demokratie ihre Stellung in Übereinstimmung mit den geltenden staatsrechtlichen Normen ein. In dynamischer Betrachtungsweise hängt das Staatsrecht als Modus der Herrschaftsausübung seitens des Rechtsstaats vom Druck der Machtverschiebungen ab. Macht ist nach Geiger der Faktor, der das Verhältnis zwischen Rechtsstaat und Staatsrecht asymmetrisiert. Auf einer Metaebene der Kommunikation kann über Macht und politische Macht kommuniziert werden. Man kann Macht thematisieren, d. h. sie bezweifeln, begründen oder ändern. Der Begriff der Legitimität symbolisiert diese Metaebene der,,Nichtnegierbarkeiten", die Macht als kontingent erfahrbar macht. Der Begriff der Legitimation antwortet auf die Frage, durch welches Medium die Kommunikation über Macht gesteuert werden kann. Kelsen sah die Begründung der rechtmäßigen Machtausübung in der erkenntnistheoretischen Hypothese der Grundnorm. Habermas fordert die Errichtung einer Metaebene der Kommunikation über die Begründbarkeit von Macht in allen Diskursen. Worin bestehen aber die Quellen von Nichtnegierbarkeit der Metakommunikation über Macht? Es gibt keine letzte nichtkontingente Grundlage der Absorption von Kontingenz, die Kommunikation über Kontingenz und Änderbarkeit möglich machen könnte. Das Problem der Herstellung der für die Machtthematisierung erforderlichen Machtthematisierungen muß im jeweiligen Kommunikationssystem aufgrund systemspezifischer Opportunismen gelöst werden. Luhmann sieht im Unterschied zur üblichen Legitimitätsdiskussion das Problem weder in einer logischen, moralischen oder — allgemeiner — hinreichenden Begründung der Macht noch allein in ihrer „faktischen Hinnahme aufgrund einer Mischung von Konsens und Gewalt". Er sieht es vielmehr in der Kontingenz der Strukturen und Prozesse, die die kontingente Einschaltung und das Kontingentwerden der Macht ermöglichen, und kontrollieren. Dieses Problem der Kontingenzkontrolle macht das Problem der Erhaltung von gesellschaftlichen Differenzierungen sichtbar. Wie kann es nämlich bei hoher Machtkontingenz verhindert werden, daß jede machtgesteuerte Selektionsübertragung zugleich immer auch in Kommunikation über Macht umschlägt und somit unterminiert wird? 63 Geiger antwortet auf diese Frage mit seiner Auffassung von Reflexivität von Macht. Recht kann Macht nicht legitimieren, Macht legitimiert sich selbst. Nur Macht kann verhindern, daß Machtkommunikation zu Kommunikation über Macht wird. „Der Legitimitätsglaube ist selbst ein Machtphänomen." Rechtsnormen sind die eingespielte Herrschaftsausübung. Die Rechtsgrundsätze, die die Herrschaftsträger „als ,zu Recht4 die Herrschaftsstellung einnehmend" erscheinen lassen, sind der „Niederschlag des faktischen kontinuierlichen Herrschaftshandelns". Die Kommunikationen über den Machtcode werden bei Geiger nicht durch ein anderes Medium (etwa durch Recht) gesteuert. Die Steuerung gründet sich auf der Unterscheidung von primären und 63 Luhmann

16*

(§ 2 F n . 5 0 ) , S. 5 5 , 5 6 , 5 8 f.,

127 F N

122.

248

§ 7 Funktion der Geltung von Rechtsnormen im Rechtssystem

sekundären Machtfaktoren. Nur Machtfaktoren können Machtverschiebungen bewirken. Geltendes Recht ermöglicht und kontrolliert die kontingente Einschaltung von Macht, wenn es zum Machtfaktor in einem Machtverhältnis wird. 6 4 Die Kontingenzkontrolle erfolgt im Zusammenspiel zwischen sekundären Machtfaktoren und interkursiven Machtverhältnissen. Die Kontingenz der Machtverschiebungen in der interkursiven Sphäre wird durch die Kontingenz der auf sekundären Machtfaktoren beruhenden Machtverhältnisse kontrolliert. Alles kann zum primären Machtfaktor werden. Fraglich ist, ob es zugleich zum sekundären Machtfaktor werden kann. Im Rechtsstaat scheint sich die Herrschaft auf Rechtsvorstellungen der Beherrschten zu stützen. Aber eben diese Rechtsvorstellungen sind „Derivate der bisherigen Herrschaftsausübung". 65 Wenn der Herrschaftsstatus fortbesteht, obwohl „er seine Voraussetzungen in den interkursiven Machtverhälnissen" verloren hat, beruht die tatsächliche Herrschaftsausübung auf der Beharrungskraft der durch sich selbst erzeugten Herrschaftsgewohnheit, d. h. auf den sekundären Machtfaktoren der Herrschaftsetablierung, die die Machteinbuße in der interkursiven Sphäre neutralisieren. Ein Herrschaftsstatus ist nach dem Fortfall seiner Voraussetzungen in den interkursiven Machtverhältnissen nur „begrenzte Zeit lebensfähig". Er ist nämlich stets nur ein „Übergangszustand". Das Entscheidende ist, daß „bestehende Rechtsgestaltungen" mit Glaube an ihre Legitimität versehen und zu sekundären Machtfaktoren werden können. Geltendes Recht kann sich auf Rechts- und Legitimitätsvorstellungen der Beherrschten stützen, es kann mit beliebigen ideologischen Floskeln begründet werden und „psychische Widerstandshemmungen" bei den Bürgern hervorrufen. Es bleibt trotz all dem ein Machtprodukt und ein sekundärer Machtfaktor, der einkalkuliert werden muß. Dies bedeutet nicht, daß der im Augenblick in der Gesellschaft herrschenden Macht die Priorität im Verhältnis zu dem gesamten Rechtszustand zukomme. Einmal als integrales Machtverhältnis institutionell verfestigt, wirkt das dem geltenden Rechts- und Verfassungszustand zugrunde liegende interkursive Machtverhältnis „über seine eigene Bestandsdauer hinaus". 66 4. Rechtsbewußtsein und sozialer Wandel durch Recht Es ist nicht zu leugnen, daß Selektionsleistungen, die als rechtlich relevante Handlungen Personen zugerechnet werden, von „psychischen Vorgängen" begleitet sind. Niemand kann aber mit Sicherheit wissen, was andere Leute „ i m Bewußtsein haben". Dies ist der Grund, weshalb Geiger vom Rechtsbewußtsein Abstand nimmt. Ein Beobachter kann nämlich nicht wissen, ob die beobachtete Handlungsweise ζ. B. die Reaktion auf das wahrgenommene Handeln eines anderen ihre 64 Cardinal de Retz , Mémoires, in: Oeuvres (Pléiade), édition établie par MarieThérèse Hipp et Michel Pemot, Paris 1984, S. 195 spricht von „assemblage des armes et des lois", von Konsens und Akzeptanz ist keine Rede. 65 Geiger, Vorstudien, S. 362. 66 Ebd., S. 362 f., 364.

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Quelle in einem spezifisch rechtlichen Bewußtsein oder in Vorstellungen von anderer Art hat. Die Rechtssoziologie kann durch eine „veraltete BewußtseinsPsychologie" über die Mannigfaltigkeit und das unentwirrbare Zusammenspiel der „formativen Faktoren" des Rechtsbewußtseins nichts erfahren. 67 Wenn man dem Rechtsbewußtsein „rechtskreative Bedeutung" zuschreibt, macht man die Varianten Rechtsbewußtseine der Völker, die man als kollektive Bewußtseine ansieht, zu Inhaltsquellen der bestehenden Rechtsordnungen. Das Rechts- und Sittenbewußtsein — allgemeiner: das Ordnungsbewußtsein — läßt sich aber aus nichts anderem feststellen als eben aus den Gebarensmodellen, „die es als Kollektiv verpflichtend adoptiert hat". Als einzige Quelle für „Charakterisierung des folglichen Rechtsbewußtseins" besteht die „Besonderheit der beobachteten Rechtsgestaltungen". Man bewegt sich im Zirkel: Die Rechtsgestaltungen einer geselligen Ordnung sind durch das kollektive Rechts- und Ordnungsbewußtsein bestimmt—und die Eigenart dieses Bewußtseins wird aus den tatsächlich maßgebenden Gebarensmodellen in den Gesellschaftsintegraten abgelesen. Man stellt also nichts anderes fest, als daß gewisse positive Rechtsgestaltungen „so und so beschaffen" sind und „dann eine imaginäre Ursache hinzugedichtet" wird. In einem solchen Zusammenhang ist das Rechtsbewußtsein nur „ein Name für die unbekannten Ursachen" für die „So-Gestaltung" der objektiven Kultur, des positiven Rechts und der sozialen Ordnungserscheinungen. 68 Ein Beobachter kann nämlich nicht wissen, ob die beobachtete Handlungsweise, ζ. B. die Reaktion auf das wahrgenommene Handeln eines anderen, ihre Quelle in einem spezifisch rechtlichen Bewußtsein oder in Vorstellungen von anderer Art hat. Die Deflation und die Inflation der Wertgebundenheit des Beobachters und des Beobachteten können unabhängig voneinander variieren. 69 Die Mehrzahl von Varianten, in denen das Rechtsbewußtsein als Kritiker des positiven Rechts, als kritische Instanz auftritt, enthalten nach Geiger eine „naturrechtlich-dualistische Auffassung vom Recht". Das allgemeine Rechtsbewußtsein tritt hier an die Stelle des göttlichen oder ideel-vernünftigen, jedenfalls in irgendeinem Sinn ,richtigen 4 Rechts". Hinter dem positiven Recht, das das Leben normiert, steht ein Rechtsbewußtsein, das normative Maßstäbe für die Beurteilung der positiv rechtlichen Forminhalte liefert. Diese naturrechtlich-dualistische Rechtsauffassung kann verschiedene Gestalten annehmen. Sie manifestiert sich an der begrifflichen Unterscheidung von Staatsmacht und Volksbewußtsein. Sie kann aber auch ihr Grundmotiv in dem Gegensatz „Institution und Leben" finden; in einem Mißtrauen nämlich gegen die Starrheit artifizieller Sozialgebilde, die 67 Ebd., S. 385. 68 Ebd., S. 109 f., 386 f. 69 Jan J. Loubser, The Values Problem in Social Science in Developmental Perspective, in: ders. u. a. (Hrsg.), Explorations in General Theory in Social Science Bd. 1, S. 7589, 82: Deflation / Inflation „of scientific value commitments" und Deflation / Inflation „of social value commitments" seien „distinct systems subject to independent fluctuations in the flow processes".

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nicht das natürliche Wachstum des sozialen Lebens selbst beengen und verhindern dürfen. Der Dualismus heißt hier: eingreifen oder wachsen lassen. Es kann aber auch sein, daß „nüchtern-praktische Erwägungen" diesem zugrunde liegen: „Verbreitetes inneres Widerstreben gegen ein Gesetz vermindert die Gehorsamswilligkeit". Diese Dualismen rufen die Vorstellung von einem Bewußtsein hervor, dessen Inhalt „ein irgendwie definiertes überpositives ,Recht4 sei". Letzteres tritt den positiven Rechtsgestaltungen „maßstäblich-kritisch" gegenüber und kann nichts anderes als eine naturrechtiche Vorstellung vom Recht sein. Gesetze können natürlich öffentliche Meinungen gegen sich haben. Sie können auf Widerstände stoßen. Der Begriff des „(gekränkten) Rechtsbewußtseins" kann aber zur Konstatierung der Widerstände und zur Herausstellung ihrer Quellen und Motive nichts beitragen. Das allgemeine Rechtsbewußtsein ist nicht nur eine „nichtssagende Floskel". Es ist darüber hinaus ein in die Irre führender Begriff, denn er täuscht eine „einheitliche gleichartige Motivation der Widerstände vor: »das' Rechtsbewußtsein".70 Mit der Zurückführung der Widerstände auf ein allgemeines Begriffsschema „überkleistert man" die Mannigfaltigkeit und Heterogenität möglicher Realfaktoren und Motivationen. Nimmt man die „innere Anerkennung" als Voraussetzung für den dauernden Bestand der Rechtsnormen an, so schreibt man die Verbindlichkeit der Normen des Rechts einem allgemeinen Rechtsbewußtsein zu. Letzteres scheint konstitutiv für die Geltung der Normen, es scheint die Geltungsquelle des Rechts zu sein, gleichviel aus welchen Inhaltsquellen die Rechtsnormen geflossen sind. Hierin liegt der Unterschied zwischen der Anerkennungstheorie und der Theorie der Romantik und des Rechtshistorismus, wonach das „folgliche Rechtsbewußtsein" Inhaltsquelle der Rechtsnormen ist. Einige Varianten der Anerkennungstheorie vermengen sogar die beiden Thesen, im wesentlichen infolge davon, daß sie zwischen Inhalts- und Geltungsquelle der Rechtsnormen in ihrer Theorie der Rechtsquellen nicht unterscheiden. Wenn nun aber das allgemeine Rechtsbewußtsein die Geltung der Rechtsnormen konstituieren soll, dann muß den vom allgemeinen Rechtsbewußtsein mißbilligten und abgelehnten Rechtsnormen die Verbindlichkeit abgesprochen werden. Da allgemein abgelehnte Normen von der staatlichen Rechtspflege faktisch durchgesetzt und behauptet werden können, obwohl sie infolge mangelnder Anerkennung durch das allgemeine Rechtsbewußtsein der Rechtsgeltung entbehren, führt uns die Anerkennungstheorie vor einen Gegensatz zwischen effektiver Sozialordnung und geltendem Recht. Sie führt nämlich zur Wiederherstelung der naturrechtlichen Vorstellungen von einem „ideelen Recht hinter dem positiven". Geiger geht es nicht um den Gegensatz zwischen innerlich anerkanntem und äußerlich gehandhabtem Recht, sondern um faktische Kritik am Gesetz und wachsende Übertretungsquote, die ein Nachlassen der Rechtspflege in sanktionierender Aufrechterhaltung der Norm oder geradezu gesetzgeberische Aufhebung derselben mit sich bringen. 71 Es handelt 70

Geiger,

Vorstudien, S. 389.

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sich also um das Zusammenspiel zwischen interkursiven Machtverhältnissen und sekundären Macht- und Realfaktoren. Nun läßt sich zwar nicht in Abrede stellen, daß der Rechtsstab nicht jede beliebige Norm durchzusetzten vermag, daß es „Grenzen für die Steuerbarkeit des Verhaltens der Bürger-Allgemeinheit" gibt. 72 Worauf das beruht, was „den Impuls zum allgemeinen Widerstand" gibt, könnte nur „von Fall zu Fall verschieden" beantwortet werden. Das allgemeine Rechtsbewußtsein und die damit zusammenhängende innere Anerkennung sind jedenfalls keine Antwort, sondern nur die „Umgehung einer solchen mit Hilfe einer Redensart". Der Rückschluß von wachsender Übertretungsquote und Kritik am Gesetz auf ein in ihm sich vermeintlich offenbarendes, als Generalursache fungierendes allgemeines Rechtsbewußtsein, verdeckt einerseits das „Gewirr disjunktiver und multipler Ursächlichkeiten" und andererseits die Machtspiele und Machtverhältnisse, die zu Rechtserinnerungen führen. Jede Anerkennungstheorie muß folgende zwei Schwierigkeiten auflösen: (1) Die Anerkennung ist am „bisher geltenden positiven Recht" orientiert. Wie könnte sie „gleichzeitig konstitutiv für rechtliche Neubildung" sein? — (2) Anerkennung und allgemeines Rechtsbewußtsein gestalten sich „in der Reflexion über rechtliche Vorgänge und Erscheinungen". Die Reflexion führt die einzelnen und die Integrate in der Gesellschaft zu verschiedenen Auffassungen über „die richtige Lösung eines rechtlichen Problems". Wie können also individuell differenzierte, untereinander divergierende Rechtsbewußtseine und Anerkennungstendenzen „konstitutiv für die Geltung von Rechtsregeln" sein, die als „einheitliche Maßstäbe gegenüber einer ganzen Population" angewendet werden? 73 Selbst eine „noologische Fassung" des konstitutiven Rechtsbewußtseins kann diese zwei Probleme nicht lösen. 74 Geiger distanziert sich sowohl von der psychologisierenden als auch von der objektiv geistigen (noologischen) Fassung des Rechtsbewußtseins (Hegelscher Prägung). Was die Geltung einer rechtlichen Neubildung angeht, vertritt er die Auffassung Iherings und Schelskys über die „Selbstbewegung des Rechts" und über die „Kritik des Rechts durch sich selber". 75 Er verbindet dynamische und statische Betrachtungsweise: „Eine Norm kann sich nur dann als verbindlich innerhalb einer Rechtsgesellschaft durchsetzen, wenn sie der inneren Konsistenz des gesamten Rechtssystems und der Kontinuität seiner geschichtlichen Entwicklung sich einfügt". 76 Es handelt sich um einen geltungskonstitutiven Prozeß der Selbstbewußtwerdung des Rechts in der „dialektischen Konkurenz" verschiedener rechtlicher Problemlösungen. Damit sind wir beim zweiten Problem. Mehrere rechtliche Lösungsvorschläge konkurrieren. Die „tatsächliche Einbürgerung einer bestimmten Lösung" ist das einzige objektive Kriterium für ihre Übereinstim71 Ebd., S. 392 f. 72 Ebd., S. 395. 73 Ebd., S. 399. 74 Ebd., S. 395. 75 Schelsky (§ 2 Fn. 2), S. 165; Geiger, Vorstudien, S. 402. 76 Geiger, Vorstudien, S. 401.

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mung mit den tatsächlich vorherrschenden Machtfaktoren. Eine normative Auffassung des Rechtsbewußtseins hat keinen Erklärungswert. Wenn man Gesetzgeber und Richter dazu auffordert, sich in ihrer rechtsschöpferischen und Entscheidungstätigkeit auf ein zu entdeckendes allgemeines Rechtsbewußtsein zu verpflichten, dann greift man auf einen Inbegriff von normativen Auffassungen zurück, die für die Rechtsschöpfung und Rechtshandhabung normativ sein sollen und hinter dem positiven Recht stehen. Damit bewegt man sich aber „außerhalb der Grenzen erfahrungswissenschaftlicher Rechtsforschung". 77 Das Rechtsbewußtsein kann als „öffentliche Meinungen über rechtliche Gegenstände" aufgefaßt werden. Die Meinungsbildung über rechtliche Fragen gehört zu den Bedingungen des Rechtslebens, die zum rechtlich sozialen Wandel beitragen. „Ausgeprägte öffentliche Rechtsmeinungen" können den Steuerungsmöglicheiten der Gesetzgebung und Rechtsprechung Grenzen setzen. Das gilt für relativ verbreitete und herrschende Meinungen. Öffentliche Meinungen und Interessenverbände sind Faktoren, die zu Ausgangspunkten normativer Forderungen im Hinblick auf einzelne rechtliche Neugestaltungen oder zu kritischen Maßstäben gegenüber konkreten Erscheinungen des positiven Rechts werden können. Auch das Gegenteil ist aber wahr: Die Gesetzgebung kann „öffentliche Attitüden" schaffen, die in die „Kritik des Rechts durch sich selber", wie Ihering sagt, einbezogen werden und als normative Anforderungen und kritische Instanz gegenüber dem geltenden objektiven Recht dargestellt werden. 78 Das positive Recht ist nach Geiger keine feste, „innerhalb einer gewissen Zeitspanne unveränderliche Größe". Es ist „ewig im Fluß", so daß die Rechtsgewißheit zu einem Problem wird. Positivität impliziert das Präsenthalten von Änderbarkeit und Änderungsbewußtsein. Mehrfache Normänderungen „in schneller Folge oder Kompliziertheit der auf einen Kreis von Tatbeständen bezüglichen Normen" machen aber die Rechtslage schwer durchschaubar. 79 Dies bedeutet, daß es eine relativ geringe Orientierungssicherheit gibt. Es besteht nämlich Unklarheit darüber, welche Gebarensmodelle mit Verbindlichkeitsstigma ausgestattet sind. Klare Unterscheidungen zwischen „zwei grundsätzlich verschiedenen Situationen—Legalität und Illegalität—und der ihnen entsprechenden entgegengesetzten Bewertungen gleicher Handlungen" sind nicht mehr selbstverständlich. 8 0 Geiger verbindet statische und dynamische Betrachtung des Rechts, indem er die Rechtsgewißheit unter zwei verschiedenen Gesichtspunkten zugleich auffaßt. Man kann nämlich wissen „was rechtens ist, wenn man es auch nicht als Recht anerkennt". 81 Rechtsgewißheit ist demnach nicht nur ein Wissen darum, was rechtens ist, wie es um die Juridifizierungschancen und Entscheidungsmöglichkeiten steht. Außerdem „bewährt sich" die Rechtsgewißheit „im Verbindlich77 Ebd., S. 403 f. 78 Ebd., S. 411, 413. 79 Ebd., S. 415, 406. so Ebd., S. 405. si Ebd., S. 414.

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keitskalkül". Jedes konkrete Lebensverhältnis ist in dynamischer Rechtsbetrachtung „potentieller Anlaß zu — in der Regel minimalen, manchmal wesentlichen — Modifikationen der Verbindlichkeitssubstanz von Rechtsnormen oder zur Norm-Neubildung". 82 Das Verbindlichkeitskalkül ist ein Kalkül nicht nur über gegenwärtige, sondern auch über künftige Rechtsfolgen eines vorliegenden Lebensverhältnisses. Ein solches Kalkül stützt sich zwar auf die Vertrautheit mit dem gegenwärtigen Rechtsleben, kann aber die künftigen Reaktionsmöglichkeiten des Rechtssystems nicht vorwegnehmen. Es ist klar, daß der Laie im allgemeinen nur mit den Normen vertraut ist, mit denen er „in praktische Berührung" kommt, während die juristischen Berufsrollen eine umfassendere Kenntnis der tatsächlichen Rechtsgestaltungen haben und erfolgreichere Verbindlichkeitskalküle anstellen können. In diesem Sinne setzen Wahrscheinlichkeits- und Verbindlichkeitskalküle kein „Bewußtsein von einem Gesollten, sondern von einem Seienden" voraus. Normative Erwartungen werden als Seiendes, das Sollen wird als Sein erwartet und beobachtet. Es handelt sich um die „mehr oder minder detaillierte Vertrautheit mit der tatsächlichen Rechtslage in der Gesellschaft", d. h. um die Möglichkeiten, rechtliche Relevanz rechtzeitig zu identifizieren. Die Sicherheit, mit der man sich in rechtlich relevanten Situationen bewegt, kann größer oder geringer sein, und das Risiko, daß man wider Erwarten mit seinen Erwartungen im Unrecht ist, läßt sich nicht aus der Welt schaffen. Während der Straßenverkehr als solcher im Straßenverkehr in den Blick gerät, ist er im Zusammenhang eines juristischen Falles nicht mehr relevant. Aus juristischer Sicht müssen Betroffene in den jeweiligen Einzelfällen mit Schuldzuweisungen rechnen, die sie zuweilen beim besten Willen nicht einzusehen vermögen. Mit Hilfe von formalisierten Schuldzuweisungen wird den Betroffenen im nachhinein klar, welche juristischen Risiken sie eingegangen sind, ohne sich dessen bewußt gewesen zu sein. Eine Rechtsordnung kann nach Geiger das äußere Zusammenleben einer „bunten Allgemeinheit von Bürgern diskrepanten Wertdenkens nicht auf der Grundlage innerer Verbindlichkeit regeln". 83 Der „Antagonismus der Wertsetzungen" führt bei fortschreitender sozialer Differenzierung zu wachsender Entfernung der Mentalität und geistigen Lebensform der sozialen Funktionsgruppen. Es entsteht ein von der Sozialstruktur abhängiges „Schisma der Moral", das den „Bankrott des Wert- und Moralobjektivismus" in den Vordergrund stellt. Man muß sich damit abfinden, daß „Gottheit gegen Gottheit, Offenbarung gegen Offenbarung, Metaphysik gegen Metaphysik" besteht. Die Natur kann uns kein Naturrecht und keine allgemeingültige Moral mehr schenken.84 Wir können in ihrem Namen für oder gegen den „englischen" Garten argumentieren 85 oder den Walzertakt in sie 82 Ebd., S. 415. 83 Ebd., S. 336. 84 Sie kann uns höchstens „a very second rate Turner" oder „exquisite Monets and entrancing Pissaros" geben. Oscar Wilde, The Decay of Lying, in: De Profundis and Other Writings, Harmondsworth / Middlesex 1977, S. 79 f.

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hinein projizieren, wir können aber ihr keine Universalisierungskriterien abgewinnen. 86 Die Schwierigkeiten liegen nicht in der Universalisierbarkeit, sondern in der Pluralisierung derselben. 87 Dieses „Schisma der sozialen Moral" betont den streitentfachenden und konfliktträchtigen Charakter von Moral und zwingt damit auch zu der Konsequenz: Soweit die Moralkonzeptionen innerhalb des differenzierten Gesellschaftsintegrats divergieren, ist Moral als „sozialer Regulator" nicht brauchbar. Die Sozialordnung muß „durch andere Ordnungsgefüge und Mechanismen" geregelt werden. In einer „mehr und mehr institutionalisierten Gesellschaft" kommt dem Moralischen „sinkende Bedeutung" zu. Die zunehmende Veranstaltlichung der äußeren Lebensordnungen erzeugt „abgekühlte sittliche Gleichgültigkeit" und gestattet den Individuen nicht „den Luxus", in den verschiedenen Funktionsbereichen „moralisch nach eigener Fasson zu leben". 88 Die potentielle Inhaltsdiskrepanz der von „sittlich autonomen Subjekten selbst auferlegten Normen macht diese Normen als Richtlinien sozialer Gebarenskoordination wertlos". Normen, die rechtlichen Charakter haben, erheben Anspruch darauf, für sämtliche Adressaten verbindlich zu sein. Die „Rechtsordnung setzt ihrem Wesen nach allgemeine Verbindlichkeit ihrer Normen für deren sämtliche Adressaten voraus". Das Rechtsleben „einer antagonistisch differenzierten Gesellschaft mit diskrepantem sittlichem Wertdenken" erlegt dem einzelnen angesichts seiner persönlichen Moralauffassung bestimmte Handlungsmöglichkeiten auf. Der einzelne kann handeln: ,,a) rechtlich korrekt in Übereinstimmung mit seiner Moral — b) rechtlich korrekt außerhalb jeder Beziehung zu seiner Moral — c) rechtlich korrekt im Streit mit seiner Moral — d) widerrechtlich um seiner Moral willen (aus Gewissensgründen) — e) widerrechtlich und entgegen seiner Moral — f) widerrechtlich in einer von seinem Moralstandpunkt aus sittlich indifferenten Weise". 89 Unabhängig davon, ob die Rechtsordnung mit spezifisch rechtlichen oder mit moralischen Geltungsansprüchen auftritt, setzt sich das Rechtsleben „letzten Endes nicht kraft des inneren Respekts der Bürger" von den Rechtsnorminhalten durch, sondern dank einem „tatsächlichen Sachverhalt", d. h. dank dem „äußeren Faktum der sozialen Interdependenz". 90 Nachdem sich die Moral durch ihre „Verinnerlichung" und „Spiritualisierung" selbst „als soziale Lebensordnung ad absurdum" geführt hat, wird in einer wertnihilistischen Gesellschaft die „unverblümte soziale Interdependenz" die ordnende Kraft sein. 91 85 Rudolf Arnheim, Order and Complexity in Landscape Design, in: Paul G. Kuntz (Hrsg.), ebd., S. 153-166, 156. 86 Gottfried Keller, Der grüne Heinrich. Mit einem Nachwort und Anmerkungen von Helmuth Nürnberger, München 1978, S. 159. 87 , As the Marquis de Sade understood, even experiments in sensation, if deliberately repeated, presuppose a morality." Harold Rosenberg , The Tradition of the New, London 1962, S. 38, 64 f. 88 Geiger , Vorstudien, S. 306 ff., 312 f.; Luhmann (§ 1 Fn. 27), S. 318. 89 Geiger, Vorstudien, S. 326, 332. 90 Ebd., S. 334, 328. 91 Ebd., S. 300 ff., 335; Geiger (§ 3 Fn. 11), S. 55 ff., 67 ff., 188.

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Sachregister Aktions- und Reaktionsnorm 33 f., 46 ff., 54, 58, 62, 91 f., s. subsistente Norm - Gleitende Verschiebung der 55 Aktions- und Reaktionsnormhypothesen 46 ff., 49, 92, 234 Aktionsnormhypothesen, konfligierende 49 f., 94, 200, s. subsistente Normsuppositionen Aktionsnormen, Beschreibungen von 99 f. -als Kommunikationskonstrukte 52, s. subsistente Aktionsnorm, subsistente Norm / Kommunikation Argumentation, juristische 147 f., 155, s. Rationalität Asymmetrisierung von Beziehungen 10 - von Rechtskommunikation 22 Atomgesetz 100 Aushandlungsprozesse / Interorganisationsbeziehungen 109

Entscheiden, staatsanwaltliches 63, 66 f., 69 f., s. Staatsanwaltschaft Entscheidungsdeterminierung, normative 15 f. Entscheidungsnorm 54, 72, s. informale Entscheidungsregel Entscheidungsorganisation 26 ff., 31 f., 53, 60, 140 ff. -als Kommunikation 31, 143 Entscheidungsprobleme 15, s. Lösbarkeit von Entscheidungsproblemen - Zerlegung von 60 Enttäuschungsabwicklungen, Normierung von 46 ff. Erwartbarkeit, Ersetzen durch Risiko 236 - Generalisierungsfähigkeit von 216 Erwartungskalkül, normatives, s. Gesetz, s. normativ, s. synchron

Beweisprobleme 64 f. Bewußtsein/Kommunikation 171, 210, s. Gleichzeitigkeit Bewußtseinslatenz s. Kommunikation bindend/nicht bindend 109,221, s. kollektiv bindend Bindung 23,26,31 f., 52,79, 87,106,110, 143, 146, 207, 237 ff., 252 f.

focal organization 122 f. Folgeprobleme 84, 115, 152 ff., 156, 158

Codierung/Kommunikation 109, 198, s. Gleichzeitigkeit Darstellungsregeln, offizielle 42 Deduktion aus dem Gesetz 14 f., 22, 148 Derogation /Geltung 13 f. Einzelfallentscheidungen / Geltung 22, 222 ff., 251 Einzelfallentscheidung, ΒindungsWirkung von 132 ff., 149, 235, 241 Entscheidung/Zeit 140 f., 143, s. zeitliche Dekomposition

Geltung/Aufsichtsverwaltung 107 -/Beobachtung 104 -/Bewußtsein 250f. -/Disparität von Sein und Sollen 16 -/Einzelfallentscheidung, s. Einzelfallentscheidung Geltung, formale 9 - / Genese 226 -/Gericht 82 -/gestaltende Verwaltung 107 - / Innovation 251 Geltung, intersubjektive / interobjektive 167 f. - i n Interaktionssystemen 192 - logische 167 f., 228 Geltung / Nichtgeltung 229 ff. - / N o r m und Erkennen/Denken 229 - / opinio necessitatis 229

Sachregister

-/Risiko 237 Geltung als Selektion 228 ff. - / Staatsanwaltschaft 63 Geltungsfrage, aktuelle 54, 225 ff. -substantielle 91, 226 - / Systemreferenz 229 -/Universalität 233 Geltung, wirkliche, faktische, formale/ Wirksamkeit 9, 87, 95, 214, 223, 227 Geltungsanspruch 103, 134, 226, 254 Geltungs- und Normierungsebenen 18, 226 ff. Geltungsgrund des positiven Rechts 11 · -eines Rechtsaktes 16 Geltungskraft, verschiedene 9 Geltungsquelle/Inhaltsquelle 222 ff., 250 Geltungssymptom 55 Geltungsumfang 20, 56 Gesetz als Normsatzform 55, 111, 133, 230 -als Programm 27, 59, 69, 100f., 107, 123, 134, 147, 149, 182 f. - als Relationspunkt 238 ff. -als Selektionskriterium 218 Gesetz und Staat /Gesellschaft 106 Gesetz/Argumentation 148 - / Enttäuschungsabwicklung 46 -/Handeln 62 - Individualverfassungs- 12 Gesetz, s. Metanormen, s. Verfassung - Kategorie des 50 -/normatives Erwartungskalkül 238 ff. - / Norminhalt 55, 90 f., 224 f. -/Organisation 107 Gesetz/Problemorientierung 154 ff. -/Regelsystem/Systemreferenz 242 - / Risiko 253 -/Spielregeln 183 -/Staatsanwalt 62 -/Ungewißheit 183 -/Verfahren 62 f., 66, 74, 78, 187 -/Vorhersehbarkeit 108 f. Gesetzesanwendung als Kommuniktionssystem 19 ff., 122 f. Gesetzesauslegung 22, 160 Gesetzesbegriffe 148 Gesetzesbindung 59, 70, 79, 109 Gesetzesproduktion / Gesetzesanwendung 122 f., 154, 157

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Gesetzestext 15 f., 25 ff., 52, 62 f., 154, 185, 225 Gesetzestextgebundenheit 25, 62 f. Gesetzesvollzug 18 f., 26 ff., 122 ff., 149 Gesetzesvollzugssystem 26 ff., 122 ff. Gesetzesvorrang 148 f. Gesetzesziele 27, 106, 148, 154 Gesetzgeber/Richter 26, 50, 149, 222 ff. Gesetzgebung 10, 12, 14, 19, 25, 58, 98, 110, 226, 230 -/Vollziehung 14 gesetzliche Ermessensermächtigung 155 - Handlungsermächtigung 148 - Normformulierung 44 f., 50 f., 62 f., 66 -Primär- und Sekundärnorm 51 f., 234 Gesetzmäßigkeit 10, 83, 148 f. - Prinzip der 148 Gewohnheit / Institutionalisierung 224 Gewohnheitsregeln 51 f. Gleichzeitigkeit/Systemreferenz 196 f., 211, 231 Gleichzeitigkeit der Rechtserzeugung und Rechtsanwendung 15 - konfligierender Normhypothesen 48 ff. - von Bewußtsein und Kommunikation 160 - von differenten Erwartungscodierungen 109 - von Formalität und Informalität 29 - in Interaktionssystemen 192 ff., 203,211 - v o n Interdependenz und Independenz 134 - v o n Kooperation und Konkurrenz 121 - von Normkommunikation und Normbeobachtung 89 - v o n Selbst- und Fremdreferenz 171 Grundnorm 247 Identifikationsproblem, doppeltes 96 informales Kommunikationsnetz 32 Informalität/Rationalität 114 Informationsbeschaffung / Informationsverarbeitung 60, 99 f., 107, 131 Institution 19, 24 f., 34, 76, 94, 178, 245, 249 Institution/Erfahrung 66 -/Motivation 181 - / Organisation 25 - als sekundärer Machtfaktor 62 Institutionalisierung 24 ff., 34 f., 87,175 f.

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Sachregister

- rechtliche, als strukturelle Gesamtverursachung 223, s. Gewohnheit Institutionalisierung / Semantik 201 Institutionalisierung von Entscheidungszusammenhängen 144 - von Enttäuschungsabwicklungen 46 - v o n Machtfaktoren 177 f., 181 - v o n Spielen 188, 190 Interaktion, Eigengesetzlichkeit der 207, s. Gleichzeitigkeit Interorganisationsanalyse 122 Interorganisationsbeziehungen 63, 70, 72, 79, 101, 105, 109, 119, 122 ff. Intersubjektivität 172 f. Jurist/Soziologe 157 juristische Berufsrollen/Kommunikation 189 juristisches Instanzen- und Rollenspiel als Kommunikationssystem 225 kollektiv bindende Entscheidungen 133 Kollisionsregeln 13 Kommunikation/Gedächtnis 160 -/Organisation 118, 124, 126 Kommunikation, informale 33, 146, 244, s. Macht Kommunikation über Zitierwahrscheinlichkeit von Rechtsnormen 232 - und Verfahrensprogramme 81 Kommunikations- und Orientierungsereignisse 202 Kommunikationslatenz / Be wußtseinslatenz 89, 136 Kommunikationsgeschichte 24 f., 34, 45 Kommunikationsgrenzen, apriorische Unbestimmtheit von 127 Kommunikationsnetz 19, 21, 29 f., s. informales Kommunikationsnetz Kommunikationssysteme, konkrete 26 ff. Kommunikationstheorie 14 f., 211 Konditionierung, normative 62 Konformität/Reaktionsrisiko 221 Konkurrenz rechtlicher Problemlösungen 251 Kontingenz, doppelte 17 Konvertierung von Ungewißheit in Risiko 227

Kybernetischer Regelkreis von Handlungsmotivation und institutioneller Steuerung 21, 181 latente Norm 89, s. Bewußtsein, s. Kommunikationslatenz Lernen/Norm 175 Lösbarkeit von Entscheidungsproblemen 152 f., 157 ff. Machtgebrauch/Norm 178 f., 243, 246 f. Macht/Zwang 174 Macht als Kommunikationsmedium 174 Machtkommunikation 176, 178, 244, 247 Metanormen des Umgangs mit Gesetzen 189 Mindest-Drei-Ämter-Strukturen 60 Modalitätsprobleme 127 Normen s. Lernen, s. Machtgebrauch, s. Metanormen, s. Wortnormen - Berufsnormen 23, 49, 53 - Immissions- und Produktionsnormen 101 -Umweltqualitätsnormen 101 - der Anwendung 50 - bedingende/bedingte 16 ff. -generell abstrakte/individuell konkrete

12, 16

-technische 100 f. - Zitieren von 128,222,231 f., s. Kommunikation Norm/Normalität 41 ff., 209, 217, 221 -/Rolle 34f. -/Situation 41 ff., 225 - / soziale Ordnung 86 f, 185 -/Verfassung 148 - / Z e i t 94ff. Norm als Programm 27, 32, 39 - und Meßbarkeit 104 normatives Erwartungskalkül 50 f., 56 ff., 72, 143, 187, 239 f. normatives/kognitives Erwarten 35, 46 ff., 52, 60, 208, 232, 253 Normativität der Normwidrigkeit 227, s. Gleichzeitigkeit Normativität/Geltung 18, 20, 226 ff. Normauslegung, juristische 38, 157

Sachregister

Normen/Fakten 16, 38, 64, 67 ff., 70 f., 216 -/Kommunikation 19, 21, 86f., 254 Normenadressat 19, 226 Normenbenefiziar 226 Normenhierarchie 10, 20 f. Normenplatonismus 249 f., 252 Normenpyramide 21 Normenskeptizismus 209 ff., 216 f. Normenstiftung 50 Normformulierung 44, 185 Normieren 11, 36 f., 226 normierende Wissenschaften 111 Normierung/Institutionalisierung 86, 226 Norminhalt 92,216,222 ff., 237,250,253, s. Gesetz - außergesetzlicher 226 - verbindlicher 57 - Neudeutung des 224 f. Norminhalt/Institutionalisierung 216 - / Z e i t 94ff. Normirrtum 56 ff. Normkonkretisierung 12, 108 Normkonstitution/Normoffenbarung 88 f. Normlogik 13 Norm-Neubildung 253 Normorientierung 41, 46 ff., 48, 81, 134, 185, 231 f. Normprogramm 88, 223 Normsatz 49 f., 60, 86 f., 89 ff., 92, 94 ff., 157 ff., 225 ff., 237 ff., s. Wortnorm - deklarativer 54, 92 ff. - proklamativer 54, 92 ff. - Inkrafttreten des 94 f. Normsatz/subsistente Norm 89 ff., 222 ff., s. subsistente Norm Normsetzung/Normanwendung 21, 57 f., 61, 74, 84, 94 f., 100, 103, 108, 226 ff. Normtexte 25 normtypisches Verhältnis 55 Normunterstellungen 40 ff., 92, s. Aktionsnormhypothesen, s. Reaktionsnormhypothesen Normverletzung 36, 46 ff.

Organisation 19,22 f., 25,28,47,83,98 f., 101, 112, 138, 166, 208, 215 f., 231, 234 f., s. Gesetz

273

-formale/informale 29, 33 f., 62f., 81, 114 ff., 134, 178, 227, 230 f., s. Gleichzeitigkeit -staatliche/nicht-staatliche 26, 30, 32, 98 f., 101 ff., 123, 152 - / relevante Kommunikationsgrenzen 126 ff. -/Umwelt 116 ff., 144ff., 150 f., 157 f. Organisationsgebundenheit des Rechts 19, 122 Organisationsgrenzen der Verwaltung 115 Organisationssegmente 72, 123 f., 126, 130, 132 f. Organisationssoziologie 28 f., 138, 178 Organisationstheorie 31,70,119,138,175 Organisationstypen / Umwelttypen 126 organization-lag 125 organization-set 122 f. Person/Zeit 161 Problem der Latenzerhaltung 136, s. Kommunikationslatenz Problematisierung der Kommunikation 185 Problematisierungsalternativen 152 Problembereiche, Beherrschung von 189 Problembezogenheit von Kommunikation 130, 150 Problemdefinitionen, Wettbewerb um 61, 64 f. Problemerfahrung 28, 113, 130, 150, 179 problemgebundene Kommunikation/juristische Argumentation 155 problemgebundene Rationalität 114, 150 Problemkomplexe der Verwaltung 113 ff., 134 Problemspezifikationen 150 problemspezifische Verwaltungssprache 112

Problemstellungen / Problemlösungen 60, 80, 100, 113 f., 135, 150 ff., 179, 191, 228, 244, s. Stopregeln Problemstellungen/Macht 144 f. Problemtransformationen 109 f., s. Systemprobleme Problemüberlagerung 84 Problemverkleinerung, Mechanismen der 113 Problemzerlegung, themenbezogene 72 f.

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Sachregister

Probleme der Rechtswissenschaft 32 - der Soziologie 32 -der Unsicherheit 102 - zweiten Grades 73 Programmierung von Rechtskommunikation 95, 101 f., s. Zeitindifferenz Rationalität, s. Gesetz, s. Informalität/Rationalität, s. Symbol für Entscheidungsrationalität, s. problemgebundene - aposteriorische, des Instanzen- und Rollenspiels 59 - apriorische, der Entscheidungsprogrammierung 59 -des Systems, offizielle 126 - gesetzeswidrige 157 -instrumenteile 124 - im Rechtsbetrieb 65 f., 112 -juristische 50 ff., 58 ff. - der juristischen Argumentation 148 Rationalität / Kommunikation 163 Reaktionsnorm s. Aktionsnorm, s. Norm - spontane 48, 52 f. Recht/Gesetz 59, 249 rechtliche und rechtsdogmatische Problemkonzeptionen 102 f. Recht, verbindliches 223 f., 252 -halbverbindliches 104 Rechtsanwendung als zu entdeckendes Kommunikationssystem 79 Rechtsbildung/Staat 98 ff., 103 ff. Rechtsbewußtsein 251, s. Richter Rechtscharakter von Normen 222 ff. Rechtsquellen 9 f., 16 -/Einzelentscheidung 225, 238 -/Gesetz 22 - formelles System von 226 - Hierarchie von 9, 17 f., 22 - Identifikation von 22 - Lehre von 222 f., 250 - metaphysischer Begriff von 222 - primäre/sekundäre 22 Rechtskommunikation 15, 18 f., 21, 24, 29 ff., 46,51,60, 62 f., 81 f., 114, 118, 217, 232 f., s. Programmierung - Asymmetrisierung von 22 Rechtskriterium als Institutionalisierungsproblem 216, 224, 235 Rechtsnorm 10, 16, 19, 22, 99, 217, 221

-determinierende 21 - / Rechtsverhältnis 19 f. Rechtsnormen als Konstanten 21 Rechtsstaatlicher Idealtypus 108 Rechtsstaatlichkeitsprinzipien 136 f., 148 f., s. Staatsrecht Regel/Abweichung 192, 213 f., s. situationsgemäße Zurechnungsregeln -Erfahrungsregeln 188, 237, 242 -Erzeugungsregeln 12 f., 14 f. - informale Regeln der Entscheidung 70 f., 76, 82, 111, 116, 120 - Zuständigkeits- und Verfahrensregeln 28, 30, 72, 81, 136, 149, 187 Regel/Macht 177 f., 236, 244 f. Regel/soziale Ordnung 86, s. systemimmanente Zurechnungsregeln - / Wiederholung 95 Regelbildung, nachträgliche 41, 51 Regelformulierungen, alltagsweltliche 44 Regelmäßigkeit 35, 60, 72, 178, 225 Regeln/ Ungewißheitsquellen 181, 236 Regeln der Normtransformation 22 - der Technik/Regeln des Rechts 100 f. -des Umgangs mit Regeln 61, 69, 242 - / Programmkonstruktion 96 Regelrelativismus 214 f. Regelsetzung/ Regelbefolgung 62, 79, 102, 172, 181, 209 Regelskeptizismus 209 ff., 213 f. Regelsuppositionen 37, 40 f., 51 ff., 74, 209, 214, 234 Regelsystem 174, 181, 184 f., 187 f., 216 f., 241 -/konstitutive Spielregeln 242, 251, s. Spielregeln - / Ungleichartigkeit von Regeln 242 Regelung des Machtgebrauchs 178 Relationierung von normativen Erwartungskalkülen 193 f. Ressourcenprobleme 119 Richter 11, 24, 26, 39, 49 ff., 53 f., 56 f., 67 ff., 75, 90, 222 ff., s. Gesetz - als Automat 90 - Durchsetzungskalkül vom 240 - einzelner /richterliche Instanz 94 -Entscheidungsfreiheit des 15 - Hintergrundskenntnisse des 82 - / Juridifizierungsmöglichkeiten 227

Sachregister

- Rechtsbewußtsein vom 93, 252 - / Rechtswissenschaft 241 - / Semantik 234 -/Staatsanwalt 67ff., 71 -/Norminhalt 92 -/Parteien 82ff. - / Parteivertreter 82 ff. Richterjurisprudenz 187 Richterrecht, Renaissance von 21, 58 Richternorm 53 richterliche Alltagtheorien 66 richterliche Fallentscheidung 10, 14 f., 22 f., 38, 56 f., 61,67 ff., 221,225,230, 238 f. - Verfahrensgrundsätze 30 -Festsetzung von Aktionsnormhypothesen 49, 234 - Rechtsfortbildung 58 Risikobegriff 236 f. Risiko der Entscheidung/Risiko der Betroffenheit 57, 88, 142 f., 237 ff., 240 f., 243, 253, s. Gesetz, s. Konformität/ Reaktionsrisiko Risiko der Normadressaten 155 -der Normbetroffenen und Normbenefiziare 236 - der Orientierungssicherheit 220 f. Risiko / Macht / Polykontexturalität 243 Risiko/Ungewißheit s. Konvertierung Risikoidentifikation, Informationen über 143 Risikosensibilität 142 f. Risikozonen, soziale 221 Rückwirkung 24 ff., 148 Sachverhalt, Feststellung vom 49 - als Kommunikationssystem 56 Sachverhaltshypothesen, Subsumtion von 49, 65 Sachverständigerorganisationen 102 Sanktionsnormen 108 Selektionszwang 23 Selektivitätszurechnung 166 Semantik/Norm 25, 201, 232 f. - staatsbezogene, 233, s. Richter Sinn, normativer 174 Situation/Institutionalisierung 40, 43 situationsgemäße Zurechnungsregeln 43 Situationsregelung, supponierte 41 ff.

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Situationshypothesen 35 f. Sollensnormen, Transformation von 20 f., 22 Sozialnormen 20 f. Sozialstaatlichkeit 148 Spielgesetzlichkeit 184 Spielregeln 121 f., 127, 133, 183 ff., 188, s. Gesetz Staat 10 f., 21 f., 26,103 ff., 188,220,235, 242, 246 f., 250 -/Gesellschaft 62, 98 f., 101 f., 106 -/Industrie 100 - / Privatunternehmen 103, 114, 122 f. -/Recht 245 - / Schiedsgerichtsbarkeit 103 -/soziale Differenzierung 142 -/Verwaltung 102, 110 ff., 123, 130, 149 f., 188, 215 -/Wirtschaft 107, 109 Staatsakte, bedingende und bedingte 11 Staatsanwaltschaft 26, 37 f., 62 ff., s. Zeitpunkt ihrer Einschaltung - Anklageerfordernisse der 64 - Erledigungspolitik der 63 f., 66 f., 70 f. - als Anklagebehörde und Ermittlungsinstanz 66, 69 ff. -/Polizei 64ff., 80, 187 - / Unbekanntsachen u. beweisschwierige Verfahren 64, 66 - als Vollzugsinstanz 64 - / Verteidiger 76 - Wirklichkeitskonstruktionen der 64 f. staatliche Sanktionierungsmöglichkeiten, Orientierung an 220, 240 Staatsbezug 216 Staatsgewalt, Selbstbeschreibung der 148 f. · Staatsintervention 101 Staatsmacht/Macht 245 - / Volksbewußtsein 249 f. Staatsrecht/Rechtsstaat 246 f. staatsverwaltende Honoratioren 188 Steuergesetze 61 Steuerstaat 61 Stopregeln bei Problemlösungsmöglichkeiten 157 subsistente Aktionsnorm /Reaktionsnorm 49 ff., 52 f., 54, 56 f., 86 ff., 125 ff., 233 f.

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Sachregister

subsistente Norm 46, 58, 86 ff., 98, 137, 158, 183, 225 ff. subsistente Norm/Kommunikation 86 f. subsistente Normsuppositionen 57, 92 subsistente Richternorm 253 Symbol der Normativität 47 Symbole für Entscheidungsrationalität 188 synchrone und diachrone Erwartungskalküle 58 synchrone und diachrone konfligierende Zeitperspektiven im Rechtssystem 51 ff. system, honeycomb 128 systembezogene und entscheidungsbezogene Problemkonzeptionen 150 ff. Systemgrenzen als Problem 127 systemimmanente Zurechnungsregeln 28, 35, 60, 65, 69, 79, 134, 175 Systemprobleme 152 f., 154, 157 ff. - Transformation in juristische Entscheidungsprobleme 157 ff. Systemreferenz s. Gleichzeitigkeit Verbindlichkeit 21 f., 46, 87, 91 ff., 94 ff., 100, 103 f., 150, 155, 173, 221, 225, 237, 250 f., 254 - / Alternativ-Wirkungs-Schema 87 f. Grund der 226 -/Sanktion 87 - des Normsystems 22 Verbindlichkeitskalkül 46, 50 ff., 56 ff., 58 f., 67, 72, 104 Verbindlichkeitsquelle 122 f. Verbindlichkeitsumfang 178 f., 226, 238 f., 253 Verfassung/Gesetz 13 f. Verwaltung als Kommunikationssystem 110 f., 112 f. Vollstreckungszwang 220 Wenn-Informationen, Problem der Identifikation von 95

Wertgrundlage der Rechtsnormen 111 Wirksamkeit der Norm 47 Wirtschaftsrechtsnormen 103 Wortnorm 51, 86 ff. Zeit, als Machtfaktor vor Gericht 75 f., 179 ff. Zeit, Mehrfachmodalisierung der 196 f. Zeit und System/Umwelt 115, 209 f. Zeit/Ereignis 131 -/Geltung 167, 228, 252 - / L o g i k 199 -/Prozeß 198, 206 -/Schaltstellen in Organisationen 131 f. - / Situationskonstitution 165 - / Vorwegselektion 96 Zeitgrenzen 162 Zeitindifferenz des Entscheidungsprogramms 95 Zeitkosten 141 zeitliche Dekomposition von Entscheidungen 60 - Generalisierung 235 -Generalisierung von situationsgemäßen Normalformen 42 f., 215 zeitliche Komplexität 137 -Priorität 17 -Ressourcen der Behörden 31 - Vorgewißheit 179 zeitliches Nacheinander von Rechtsnormen 17 f. Zeitpunkt der Einschaltung der Staatsanwaltschaft 70 - der Entstehung des zu beurteilenden Lebensverhältnisses 226 - der Erwartungsenttäuschung 89 Zuschreibungszwang 48 Zwang s. Macht Zwang als Verhandlungsgegenstand 107 Zwangsmaßnahmen 99 Zwangsmittel, hoheitliche 107 Zweck-Mittel-Rationalität 141, 148