Normalismus und Antagonismus in der Postmoderne: Krise, New Normal, Populismus [1 ed.] 9783666370724, 9783525370728

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Normalismus und Antagonismus in der Postmoderne: Krise, New Normal, Populismus [1 ed.]
 9783666370724, 9783525370728

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Jürgen Link

Normalismus und Antagonismus in der Postmoderne Krise, New Normal, Populismus

Jürgen Link

Normalismus und Antagonismus in der Postmoderne Krise, New Normal, Populismus

Mit 27 Abbildungen

Vandenhoeck & Ruprecht

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.de abrufbar. © 2018, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG , Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: Rico Lins Satz: textformart, Daniela Weiland, Göttingen Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISBN 978-3-666-37072-4

Für Ulla und David

Inhalt

1. Einleitung: Die Problemkonstellation Normalismus – Antagonismus – Digitalarbeit – Globaldemographie – Populismus in der Eingangskrise des 21. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . . 17 2. »Multitude« als Symptom: operativer Begriff für innergesellschaftliche Antagonismen im 21. Jahrhundert oder »Plastikbegriff«? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25 2.1 Multitude vs. Normalmasse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28 2.2 Semantik der Multitude . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29 2.3 Multitude vs. Klasse, Proletariat, historischer Block . . . . . . . 30 2.4 Multitude vs. Volk . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32 2.5 Multitude vs. Masse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34 2.6 Multitude vs. Bevölkerung / Population . . . . . . . . . . . . . . 35 2.7 Multitude: ein operatives oder ein sem-dialektisches Konzept? 36 KS 2 (Nicht) normale Fahrten und Antagonismus: Beispiele

eines literarischen Faszinationstyps als Kontext-Supplemente . . . . 36

3. Fundamentale Strukturen moderner Gesellschaften: extremer Spezialismus, Kopplung zwischen Spezialdiskursen (Interdiskurse) und das Verhältnis Spezialismus / Macht . . . . . . . . 41 3.1 Spezialismus, Spezialpraktiken und Spezialdiskurse . . . . . . . 41 3.2 Spezialdiskurse und Interdiskurse – (inter)diskursive Positionen 45 3.3 Zwei leitmotivische Beispiele dieser Studie: Schlaf und Massenstimmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47 3.4 ›Horizontale‹ Achse des Wissens und ›vertikale‹ Achse der Macht 49 3.5 Ein zweidimensionales Schema für Wissen und Macht . . . . . 50 KS  3.1 (Nicht) normale Fahrt und Antagonismus: Der Antagonismus ist nicht von dieser Welt (Stephen King, Insomnia) . . . . . . . . . . . 52 KS  3.2 »Normalität« als »natürliche« Ressource bei Luhmann . . . . . 54

4. Was ist semsynthetisches Denken? Heidegger als Musterfall . . . . . 57 4.1 Heideggers Semsynthesen sind interdiskursiv . . . . . . . . . . 57 4.2 Heidegger vs. Freud . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65 4.3 Heideggers anti-normalistische und »realogrüne« Diskurspositionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66

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Inhalt

4.4 Zu ästhetischen Interdiskursen, zur Kritik der Semsynthese und zur kulturrevolutionären Funktion spezifischer Semsynthesen an den Grenzen philosophischer Diskurse . . . . 67 KS  4 (Nicht) normale Fahrt und Antagonismus:

Der Absturz aus der Normalmasse des Man in die Eigentlichkeit der Front (Heideggers Sein und Zeit) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 70

5. Sem-dialektisches Denken als die historizistische Spielart des semsynthetischen Denkens (sein Prototyp Hegel) . . . . . . . . . 74 KS  5 Ideologie und / oder Interdiskurs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79 6. Digitalarbeit, Multitude und Normalmasse – Zyklologie, Generativismus und antagonistische Tendenzen . . . . . . . . . . . . 83 6.1 Eine generative »Tiefenstruktur« muss nicht dualistisch (geistestypologisch) sein . . . . . . . . . . . . . 83 6.2 Zyklologie: Zyklen ersten, zweiten und dritten Grades . . . . . 85 6.3 Antagonismen in zyklologischer Fassung – am Beispiel Multitude bzw. Digitalarbeit . . . . . . . . . . . . . 87 6.4 Das Theorem von der »Zeit-losigkeit« der »immateriellen Arbeit« 89 6.5 Phäno-antagonistische Tendenzen von Digitalarbeit, digitaler Maschinerie und Normalmasse . . . . . . . . . . . . . 93 KS  6 Antagonismus im »Positivismusstreit in der deutschen Soziologie« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 94

7. Voraussetzungen für ein operatives Konzept von Antagonismen und Antagonismus: Zyklologie, zyklologisches Kombinat und Normalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97 7.1 Das zyklologische Kombinat der Moderne . . . . . . . . . . . . 98 7.2 Recycling als Modellfall von Zyklologie . . . . . . . . . . . . . . 102 7.3 Marx denkt zyklologisch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 7.4 Monetarismus und Zyklologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104 7.5 Sprache und Diskurs zyklologisch denken . . . . . . . . . . . . 105 7.6 Zyklologie des Wissens (Bourdieu und Althusser) . . . . . . . . 106 7.7 Zyklologie des medialen Zyklus (Hartmut Winklers Theorie des »Prozessierens«) – vom Flussdiagramm zum Algorithmus . . . . . . . . . . . . . . 110 7.8 Das Beispiel des Normalschlafs: zirkadiane Rhythmen . . . . . 111 7.9 Weder semdialektisch noch antagonismusblind – Postmoderne heißt Post-Antagonismus . . . . . . . . . . . . . . 113 7.10 Antagonismus und Krise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114

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7.11 Sind Geno-Antagonismen nicht operativ fassbar? Zur Analyse geno-antagonistischer Knoten (»überdeterminierter Antagonismus«) . . . . . . . . . . . . . . . 115 7.12 Ein zyklologisches Modell der antagonismusaffinen »(nicht) normalen Fahrten« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 KS  7.1 Auch Luhmann denkt zyklologisch … aber . . . . . . . . . . . 119 KS  7.2 Franco Morettis »Normalliteratur« –

zyklologisch und generativ zu ergänzen . . . . . . . . . . . . . . . . . 120 8. Was ist der springende Punkt bei den »Post-Gesellschaften«? Im toten Winkel der Aufmerksamkeit: Verdatung und Normalismus 122 8.1 Semantischer Kern von Postmoderne und anderen »Postismen«: Post-Antagonismus, also Antagonismuslosigkeit . . 122 8.2 Auf dem Weg zur Theorie des Normalismus . . . . . . . . . . . 125 8.3 Wichtige Klarstellung: Normalismus und Normativismus sind prinzipiell verschieden. Womit Normalismus nicht verwechselt werden darf (sechs Ungleichungen) . . . . . . . . . 127 8.4 Normalismus und Antagonismus: Resümee der Fragestellung . . 128 9. Am Leitfaden des Normalismus: Umrisse einer operativen Fassung der Kategorie Antagonismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131 9.1 Geno-Antagonismen und Phäno-Antagonismen, Polarisierungskonflikte und zyklologische Insistenz . . . . . . . 131 9.2 Intrazyklische und interzyklische antagonistische Tendenzen . . 133 9.3 Das Kriterium der Massenbreite . . . . . . . . . . . . . . . . . . 134 9.4 Antagonismus und Kontinuität, Kompromiss, Wachstum . . . 136 9.5 Antagonismus: »objektiv« vs. »subjektiv« . . . . . . . . . . . . . 139 9.6 Am Beispiel von Schlaf und Stimmung . . . . . . . . . . . . . . 142 9.7 Grenzen »objektiver« antagonistischer Aspekte . . . . . . . . . 142 9.8 Steckt in der Digitalarbeit ein Antagonismus? . . . . . . . . . . 144 9.9 Kairologische Skizze des aktuellen Knotens von Phäno-Antagonismen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 9.10 Die Kategorie des Geno-Antagonismus operativ gefasst: der präexplosible (fatale) geno-antagonistische Knoten . . . . . 147 KS  9.1 (Nicht) normale Fahrt und Antagonismus:

In der entgegengesetzten Richtung werden die Anormalen sichtbar (Thomas Bernhard, Der Keller. Eine Entziehung) . . . . . . . . . . . . 149 KS  9.2 Wenn die Diskurs-Kategorie fehlt: Zum Integrationsproblem von »objektivem« und »subjektivem« Antagonismus bei Jean-Paul Sartre . . . . . . . . . . . 152

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10. Normalismus: Aktuell problemrelevante Elemente der Theorie . . . . 155 10.1 Notwendige, aber nicht hinreichende Bedingung des Normalismus: die verdatete Gesellschaft . . . . . . . . . . . 155 10.2 Verdatung und Statistik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 156 10.3 Verdatung des historischen Prozesses der Moderne und die Wachstumskurve . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 158 10.4 Die Antwort auf das Problem des »exponentiellen« Wachstums in der westlichen Moderne heißt Normalismus . . . . . . . . . . 159 10.5 Die beiden normalistischen Basiskurven (Normalverteilung und Normalwachstum) und die normalistische Kurven-Familie . . . . . . . . . . . . . . . . . 160 10.6 Anteil des Normalismus am Spezialismus: Bildung homogener spezieller Normalfelder, Ausklammerungen, Atomisierung und normalistische Konkurrenzen . . . . . . . . 165 10.7 Potentiell antagonistische Tendenzen in der Kurvenlandschaft: tendentiell irreversible Polarisierungen und wachsende Hiate (»sich öffnende Scheren«) 167 11. Das normalistische Kontinuitätsprinzip und der Antagonismus: Auguste Comte und Eduard Bernstein – Kontinuierung durch Um-Verteilung – Protonormalismus vs. flexibler Normalismus . . . . 171 11.1 Auguste Comte und das normalistische Kontinuitätsprinzip . . 171 11.2 Eduard Bernstein und der »soziale Rhombus« . . . . . . . . . . 174 11.3 Kontinuierung mittels Um-Verteilung, normalistischer Kompromiss und normalistische Reformen . . . . . . . . . . . . 177 11.4 Der paradoxe Status der Normalitätsgrenzen zwischen Kontinuität und Diskontinuität und die Denormalisierungsangst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179 11.5 »Horizontale« Diskontinuität, »horizontale« Normalitätsgrenze und Entdifferenzierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 180 11.6 Zwei idealtypisch polare Strategien normalistischer Kontinuierung: Protonormalismus und flexibler Normalismus 180 12. Die normalistische Kurvenlandschaft in den Medien – Subjektivierung »objektiver« Daten – Arbeit an der Normalisierung von Antagonismen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 184 12.1 Ein diskursives Quadrupel-Netz . . . . . . . . . . . . . . . . . . 184 12.2 Die Infographik als Kondensat der normalistischen Kurvenlandschaft . . . . . . . . . . . . . . 185 12.3 Kollektivsymbol, Analogie und Kollektivsymbolsystem . . . . . 186 12.4 Die Krise von 2007 ff. als Autofahrt . . . . . . . . . . . . . . . . 190

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12.5 Kollektivsymbolische Feindbilder, Wir vs. Die, »Hass« und Antagonismus . . . . . . . . . . . . . . 192 12.6 Kollektivsymbolsystem und Katachresen-Mäander . . . . . . . 194 12.7 Die Kurvenlandschaft als medialer Bildschirm und der »innere Bildschirm« des Normalsubjekts . . . . . . . . 196 12.8 Die »Sprache der Märkte« als Kondensat des medialen Bildschirms und die »psychologische Wirkung« der Kurvenlandschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199 12.9 Grenze der Sagbarkeit und Antagonismus: Funktion der apokalyptischen Narrative . . . . . . . . . . . . . 202 12.10 Die Unfragbarkeit des generativen Prozesses und der normalistische Orpheus-Komplex . . . . . . . . . . . . . . . 204 12.11 Normalistischer Orpheus-Komplex, transzendentale Dublette und Positivismus . . . . . . . . . . . . 207 KS  12 (Nicht) normale Fahrt und Antagonismus: Die fatale Proliferation in das Massensterben und in den totalen Notstand (Albert Camus, La peste) . . . . . . . . . . . 209

13. Normalistische Prognostik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 214 13.1 »Prophete rechts, Prophete links«: Produktion und Funktion prognostischer Szenarien im Normalismus zwischen Gelassenheit und apokalyptischem Alarm . . . . . . . 214 13.2 Normalistische Prognostik vs. Prävention und Planung . . . . . 221 13.3 Normalistische Frühwarnung und normalisierend um-verteilende Antizyklik (normalistische »Reformen«) . . . . 222 KS  13. (Nicht) normale Fahrt und Antagonismus: Simulationsbasiert und in kynisch-ironischem Ton die fatale Proliferation in den irreversiblen Notstand erzählen (Sibylle Berg, Ende gut) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 224

14. Normalismus als interdiskursives und interpraktisches Kopplungs-Dispositiv: Konturen eines idealtypischen Modells . . . . 227 14.1 Wissen und Macht, Spezialisierung und Interdiskurs . . . . . . 227 14.2 Normalismus als interdiskursives Kopplungsdispositiv . . . . . 229 14.3 »Wissen ist Macht«: Wissensmonopole, Experten und Laien im Normalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 231 14.4 Die Elementarkultur als basaler Interpraxis-Interdiskurs und der normale Alltag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233 14.5 Flexibel-normalistische Elementarkultur, das normalistische »Fun-and-Thrill«-Band und der »Basso continuo sincopato« . . 236

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15. Die »atomisierte« Normalmasse und das Massen-Subjekt – Grenzen der Normalisierbarkeit und antagonistische Tendenzen der Masse . . 238 15.1 As-Sociation, Dis-Sociation und Antagonismus . . . . . . . . . 239 15.2 Das Modell der Normalmasse als Population aus »frei durchschüttelbaren« Atomen (Kügelchen) im »Geklimper« perfekter Konkurrenz . . . . . . . . . . . . . . 240 15.3 Leistungskonkurrenz und normalistische Verpunktung . . . . 244 15.4 Francis Galtons Fanatismus der Verpunktung im Rahmen seines paradigmatischen Normalismus-Konzepts und die ›Galtonnadel‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 245 15.5 Galtonbrett und »Galtonsieb« als Simulatoren von atomisierten Normalmassen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 248 15.6 Galtons Kampf gegen die drohenden Antagonismen der Demographie: Regressionskurve, differentielle Geburtenrate und Eugenik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 250 15.7 Demographische Antagonismen? Neogaltonismus und Aktualität der Eugenik . . . . . . . . . . . 252 15.8 Der Sport als reales Modell einer normalistischen Kultur universeller Verpunktung (Rankings, Ratings) . . . . . . . . . . 253 16. Aktualität I : Globalisierung und Normalisierung . . . . . . . . . . . . 256 17. Aktualität II : Die große Krise von 2007 ff. zwischen Denormalisierung und Normalisierung . . . . . . . . . . . 261 17.1 Phasen der Krise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 261 17.2 Krisen-Narrative und Forward Guidance . . . . . . . . . . . . . 262 17.3 Normale vs. anormale Krisen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 262 17.4 Die Krise von 2007 ff. in 10 Phasen . . . . . . . . . . . . . . . . . 264 17.5 Was meint »Megakrise«? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 269 17.6 Die Analogie mit der Krise von 1929 ff. . . . . . . . . . . . . . . 270 17.7 Brüning 2.0 oder Griechenland als »Krisenlabor« . . . . . . . . 273 17.8 »Gekaufte Zeit« und ein Megaexperiment ohne Präzedenz . . . 275 17.9 Gelungene Normalisierung oder Krise in Permanenz? . . . . . 276 17.10 Krise, Denormalisierung / Normalisierung und Antagonismus 279 KS  17 New Normal . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 280

18. Aktualität III : Verdatungsrevolution durch Big Data? Die Folgen für den Normalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 282 18.1 Automatische Vollverdatung und Data Mining: Was bedeutet die Analysierbarkeit von Mikrodaten für den Normalismus? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 283

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18.2 Zwei exemplarische Fälle: Prävention und Proliferation. . . . . 289 18.3 Konkrete Utopie oder konkrete Dystopie: Eine automatisch vollständig verdatete und normalisierte Gesellschaft? Das Modell totaler Verpunktung in China . . . . 292 KS  18 (Nicht) normale Fahrt und Antagonismus: Mit dem digitalen ultraflexiblen Normalismus in die protonormalistische Kontrolldiktatur? (Gary Shteyngart, Super Sad True Love Story) . . . 293

19. Atomisierte Normalmasse vs. As-Sociation aus Singularitäten (singularitätische Masse) . . . . . . . . . . . . . . . 296 20. Grade der Normalisierung – Antagonismus – politische Normalität 301 20.1 Das politische Normalitäts-Dispositiv . . . . . . . . . . . . . . . 304 20.2 Das (exemplarisch) »deutsche« politische Normalitäts-Dispositiv und seine Bewährungsprobe in der Populismuskrise . . . . . . 305 20.3 Die (positive) Populismus- und Antagonismustheorie von Ernesto Laclau und / oder Chantal Mouffe als Bezugspunkt 309 21. Normalisierung des Globus? Fünf Normalitätsklassen und ihre Dynamik . . . . . . . . . . . . . . 315 21.1 Was sind Normalitätsklassen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 316 21.2 Hierarchische Modelle des Globus . . . . . . . . . . . . . . . . . 317 21.3 Ein Fünf-Weltenmodell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 320 21.4 Fünf Kriterien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 324 21.5 Das Paradox der Normalitätsklassengrenze und die (womöglich antagonistischen) Aporien einer globalen Normalisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 332 21.6 Stabilität statt Demokratie, gestufte Souveränität und die (womöglich antagonistischen) Aporien von »Empire« . . . . 334 KS  21 (Nicht) normale Fahrt und Antagonismus:

Auf der Katabasis in die unteren Normalitätsklassen werden Geno-Antagonismen sichtbar (Jean Marie Gustave Le Clézio, Le Déluge und Le Livre des fuites) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 336

22. Notstand als Grenzfall im Normalismus: »Ausbruch« des Antagonismus – Militarisierung des Systems der Normalitätsklassen – neue (»postdemokratische«) Notstandsregime? 345 22.1 Carl Schmitts notständischer Normalitätsbegriff: Diktatur statt Hegemonie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 345 22.2 Niklas Luhmanns Replik auf Carl Schmitt: Mehr als ein geistreiches Bonmot? . . . . . . . . . . . . . . . . . 348

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22.3 Präventiver Notstand und das Konzept der »Schock-Normalisierung« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 349 22.4 Notstandsregime und Normalitätsklassen . . . . . . . . . . . . . 350 22.5 Die Militarisierung des globalen Systems der Normalitätsklassen oder der »Ausbruch« globaler Antagonismen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 350 22.6 Terror statt Krieg – Scheitern des Versuchs, den Krieg zu normalisieren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 353 22.7 Bellisierung der unteren Normalitätsklassen und Massenflucht 354 22.8 Die Aporien eines flexibel-normalistischen Notstands und die Regime gespaltener Normalität . . . . . . . . . . . . . . . . . 355 22.9 Gespaltene Normalität und Invisibilisierung der Notstandszonen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 357 22.10 Das Phantasma eines »postdemokratischen« Kontinuums und die Aporie flexibel-normalistischer Notstandsdiktaturen . . . . 358 22.11 Subjekttypologische und as-sociative Dimensionen »postdemokratischer« Notstandsregime . . . . . . . . . . . . . . 359 KS  22 (Nicht) normale Fahrt und Antagonismus:

Die allernichtnormalste Fahrt nach Auschwitz (Jonathan Littell: Les bienveillantes) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 361

23. Tendenzen der Normalmasse zwischen flexibel-normalistischen Eventmassen, vor- und protonormalistischer Blockung und transnormalistischen potentiellen Multitudes . . . . . . . . . . . . . . 367 KS  23 Jacques Rancières n’importe qui und die Normalmasse . . . . . 373 24. Vor den letzten Grenzen der Normalisierbarkeit? Drei prognostische Szenarien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 374 24.1 Globales Szenario I: Gekaufte Zeit – bis wann? (Gedehnte Normalisierung als Modell New Normal USA : »gestärkt aus der Krise hervorgehen« oder »Japanisierung«?) . . 376 24.2 Globales Szenario II : Ausverkaufte Zeit – was dann? Oder: Wie wäre ein mittelfristiges Scheitern der Normalisierung der globalen Krise von 2007 ff. (eine mittelfristig irreversible Denormalisierung) vorzustellen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . 378 24.3 Die europäische Massenflucht (»Flüchtlingskrise«) von 2015 ff. – eine »Generalprobe«? . . . . . . . . . . . . . . . . 383 24.4 Irreversible Bellisierung? Apocalypse in our time? . . . . . . . . 391 KS  24 (Nicht) normale Fahrt und Antagonismus:

Den Islam flexibel normalisieren? Utopie oder Dystopie? (Michel Houellebecq, Soumission) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 393

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25. Szenario III : Transnormalistische Fluchtlinien? . . . . . . . . . . . . . 397 25.1 Der Doppelsinn von »Nachhaltigkeit«: New Normal oder antagonistischer Transnormalismus (»Polyeurhythmie«) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 397 25.2 Nachhaltigkeit als De-growth, Grenze des Normalismus und der »Wille zum Abschalten« im Zyklenkombinat . . . . . . . . . 400 25.3 Die zwei Schatten des flexiblen Normalismus und die Hegemoniekrise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 402 26. Über transnormalistische Alternativen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 405 26.1 »Wille zum Wachstum«, »Wille zur Normalität« und »Black Box«: Zur Geschichtsaxiomatik des Normalismus . . . . 405 26.2 Über transnormalistische Alternativen . . . . . . . . . . . . . . 408 26.3 1968 als spontanes transnormalistisches Experiment . . . . . . 411 26.4 Das Problem der offensiven Denormalisierung und das Konzept des langdauernden kulturrevolutionären »Marsches durch die Institutionen« (Rudi Dutschke) . . . . . . 413 26.5 Von 1968 nach 2011 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 415 26.6 Welche As-Sociationen für transnormalistische Auswege aus der Krise? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 418 26.7 Befreiung der Verdatung vom Normalismus . . . . . . . . . . . 419 26.8 Befreiung der Massenmedien vom Normalismus und vom TINA-Prinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 420 26.9 Öffnung des Bannkreises von Normalwachstum und Normalverteilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 422 26.10 Umdifferenzierung und Elementarkultur . . . . . . . . . . . . . 423 26.11 Konkrete Tendenzen einer transnormalistischen Aktionsmasse: Transversales Prekariat und transversale ingeniöse Klasse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 426 26.12 Fatale vs. polyeurhythmisierende Tendenzen und Proliferationen im Fluchtpunkt der Eingangskrise zum 21. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 427 KS  26 Simulation eines alternativen Szenarios für Griechenland 2015 429

Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 432 Abbildungsnachweis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 438

1. Einleitung: Die Problemkonstellation Normalismus – Antagonismus – Digitalarbeit – Globaldemographie – Populismus in der Eingangskrise des 21. Jahrhunderts Die vorliegende Studie verbindet zwei Dimensionen: eine kulturwissenschaftlich-theoretische und eine gegenwartsdiagnostisch-aktualhistorische (kairologische). Die aktualhistorische fragt nach der Signatur des geschichtlichen Moments (Kairos), der als Resultat der Krisenverkettung seit 2007 (oder schon seit 2001) im Laufe des zweiten Jahrzehnts des 21. Jahrhunderts entstanden ist. Er versucht also eine Antwort auf die häufig gestellte Frage: »In was für einer Zeit leben wir eigentlich?«1 Er verwendet bei diesem Versuch die Kategorien Normalismus und Antagonismus, durch welche die kulturwissenschaftlich-theoretische Dimension impliziert ist. Der in den USA entstandene mediale Neologismus eines »New Normal«2 (neue Normalität) lässt sich als Symptom für die enge Verknüpfung beider Dimensionen lesen: Er setzt ja voraus, dass eine »alte Normalität« durch den Krisenschub zu Eingang des 21. Jahrhunderts verlorengegangen ist, dass also eine Denormalisierung stattgefunden hat. Wenn diese Denormalisierung aber das »Ende der Normalität« überhaupt bedeuten sollte, wie es der langjährige Herausgeber des Handelsblatts, Gabor Steingart, alarmistisch prognostizierte3, was käme danach? Was würde ein »Post-Normalismus« bedeuten? Diese Frage, die allerdings weder Steingart noch andere radikal zu stellen in der Lage waren, würde ja implizieren, dass auch das New Normal ein bloßes Provisorium und also so etwas wie eine definitive Denormalisierung zu denken wäre. Ist eine moderne oder postmoderne Gesellschaft ohne Normalität denkbar? Das scheint eine geschichtsphilosophische, gar »dialektische« Frage zu sein, die Kategorien wie »Apokalypse«/»Dystopie« und / oder »Utopie« ins Spiel bringen könnte. Die vorliegende Studie versucht statt dessen einen dritten Weg mithilfe der Kategorie des Antagonismus. Dieser aus der Dialektik stammende Begriff soll mittels normalismustheoretischer Instrumente operativ gefasst und als irreversible Denormalisierung neu definiert werden.

1 Vgl. etwa Jacques Rancière, En quel temps vivons-nous? Conversation avec Éric Hazan, Paris 2017. 2 S. dazu das Kontext-Supplement zu Kapitel 17 (KS 17). 3 Gabor Steingart, Das Ende der Normalität. Nachruf auf unser Leben, wie es bisher war, München u. Zürich 2011.

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In der aktualhistorischen (kairologischen) Dimension der Studie erweist sich die Problematik eines New Normal als sowohl systematisch wie chronologisch teilidentisch mit der übergreifenden Problematik einer »Postmoderne«4 bzw. »Posthistorie«5. Für diese Problematik dient Francis Fukuyamas These vom »Ende der Geschichte« trotz ihrer vielseitigen Relativierung bzw. behaupteten Obsoleszenz als heuristischer Schlüssel6. Man sollte diese These, formuliert nach den Ereignissen von 1989/1990 (Kollaps des Ostblocks mit Wegfall der Systemkonkurrenz und globale Ausdehnung des »demokratischen Kapitalismus«, Wiedervereinigung und Etablierung Deutschlands als eine der führenden Weltmächte, erster Hightechinterventionskrieg der proklamierten Neuen Weltordnung um Kuweit, Rassenkompromiss in Südafrika) nicht banal interpretieren und dann durch die Kriege und Krisen seither bereits als offensichtlich widerlegt betrachten. Versteht man Fukuyamas geschichtsphilosophisch und dialektisch, also antagonismusaffin begründete Auffassung von Postmoderne bzw. Posthistorie als mitteldauernde Übergangsepoche, in der noch bestehende Antagonismen schrittweise erlöschen, dann ist sie in operativer Fassung identisch mit dem Konzept eines »langen« und definitiven, sozusagen nachhaltigen New Normal7. Anders formuliert: Es geht um die Frage, ob die historische Tendenz zu Beginn des 21. Jahrhunderts in Richtung einer definitiven Normalisierung des Globus zeigt, was identisch wäre mit schrittweisem definitivem Erlöschen historischer Antagonismen  – oder ob diese Tendenz die Insistenz von Antagonismen impliziert und damit in Richtung einer definitiven Denormalisierung weist. Damit ist sowohl kulturtheoretisch wie kairologisch die Frage nach Normalismus und Antagonismus im 21. Jahrhundert gestellt. Antagonismus stellt sich als eine Art Komplementärbegriff zu Normalismus heraus, insofern Normalismus (die Gesamtheit aller diskursiven und praktischen ›Klaviaturen‹ zur Produktion und Reproduktion soziokultureller »Normalitäten«) auch als Dispositivnetz zur Vermeidung oder sogar Beseitigung von Antagonismen be 4 Die Anführungszeichen bei Postmoderne und Posthistorie werden im weiteren Verlauf weggelassen. Es versteht sich, dass diese Begriffe hoch problematisch sind und in der folgenden Studie durchgängig kritisch verwendet werden, nicht nur im Sinne des bekannten Einwands, bei der Postmoderne handle es sich lediglich um eine modifizierte Moderne. 5 Posthistorie (bzw. frz. Posthistoire) kann aufgrund der implizierten Antagonismuslosigkeit mit Postmoderne enggeführt werden (S. Lutz Niethammer, Posthistoire  – ist die Geschichte am Ende? Reinbek 1989). Dieses Kriterium weitet die Begriffe also über Kunst und Kultur im engen Sinne hinaus auf Soziokultur im weiten Sinne aus. S. exemplarisch Peter Zima, Moderne / Postmoderne, Tübingen / Basel 1997, sowie: Andreas Reckwitz, Das hybride Subjekt. Eine Theorie der Subjektkulturen von der bürgerlichen Moderne zur Postmoderne, Weilerswist 2010 (2006). 6 Francis Fukuyama, The End of History and The Last Man, New York 1993. 7 Vgl. dazu die geschichtsphilosophische (letztlich auf »Semdialektik« gegründete, wie zu zeigen sein wird) Verteidigung Fukuyamas bei Henk de Berg, Das Ende der Geschichte und der bürgerliche Rechtsstaat. Hegel – Kojève – Fukuyama, Tübingen / Basel 2007.

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griffen werden kann. Obwohl die beiden Dimensionen der kulturtheoretischen Systematik und der Aktualgeschichte in der folgenden Studie insgesamt enggeführt werden, überwiegt in einzelnen Kapiteln entweder die eine oder die andere Dimension. Kulturtheoretisch wird das im Versuch über den Normalismus8 systematisch wie historisch entwickelte Konzept des Normalismus expliziter, als bisher geschehen, in einen weiteren Kontext gestellt. Kategorien wie Interdiskurs, Spezialismus, Kairologie, Zyklologie, Generativismus, Semsynthese / Semdialektik und As-Sociation wurden bisher zwar bereits fallweise im Zusammenhang mit einzelnen Aspekten oder Konkretisierungen des Normalismuskonzepts verwendet. Es handelt sich dabei aber um ein Ensemble kohärenter Rahmenkategorien, dessen Relevanz über den Normalismus hinausgeht und, wie im folgenden entwickelt wird, zur Analyse weiterreichender Problematiken wie der einer konsistenten Epoche Postmoderne und ihres globalisierten und kulturenpluralistischen Weltsystems im 21. Jahrhundert einschließlich ihrer Entwicklungstendenzen beitragen kann. Eine Vorbemerkung zur Kairologie: Dieser Begriff bezieht sich allgemein auf die Aktualität des historischen Moments (Kairos) mit seinem Ereignis-Charakter zwischen szientifischer, tendentieller Gesetzhaftigkeit und kontingenter Singularität. Im besonderen Sinn bezieht er sich in der vorliegenden Studie auf die Problematik einer operativen Gegenwartsanalyse. Foucault erklärte zum einen das Paradox einer Archäologie der Gegenwart für unmöglich, praktizierte zum anderen aber durchaus implizit und zuweilen explizit eine Genealogie aktueller Tendenzen. Die folgende Studie bemüht sich explizit um eine »sagittale« (Foucault9) und zugleiche operative (im Sinne tendentieller Gesetzmäßigkeiten) Annäherung an den Kairos der zweiten Dekade des 21. Jahrhunderts. Antagonismen erweisen sich als historisch in der Konfrontation menschlicher Kollektive. Als Terminus für solche Kollektive wird der Begriff der Masse favorisiert, weil in diesem Begriff eine »objektive« (tendenzdynamische)  mit einer »subjektiven« (akteuriellen) Seite aufs engste verknüpft ist. Als Idealtyp normalistischer Kollektive wird die Kategorie einer »atomisierten Normalmasse« entwickelt. Die Reziprozität von Normalismus und Antagonismus lässt sich an dis-sociativen Prozessen der Normalmasse und Tendenzen alternativer As-Sociationsbildungen (wie etwa »populistischer«) verfolgen. Deshalb dient eingangs und kursorisch der von Antonio Negri und Michael Hardt vorgeschla 8 Verf., Versuch über den Normalismus. Wie Normalität produziert wird, 5. Aufl. Göttingen 2013 (1. Aufl. Wiesbaden 1996); künftig kurz: Versuch. 9 Michel Foucault, »Q’est-ce que les Lumières?« in: Dits et écrits IV (1980–1988), ­679–688, hier 681 (»On voit affleurer une nouvelle manière de poser la question de la modernité, non plus dans un rapport longitudinal aux Anciens, mais dans ce qu’on pourrait appeler un rapport ›sagittal‹ à sa propre actualité. Le discours a à reprendre en compte son actualité, d’une part, pour y retrouver son lieu propre, d’autre part, pour en dire le sens, enfin, pour spécifier le mode d’action qu’il est capable d’exercer à l’intérieur de cette actualité«.)

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gene Begriff einer »Multitude« für den neuen as-sociativen Antagonismus des 21. Jahrhunderts als eine Art heuristischer Schlüssel. Lässt sich das Konzept einer Multitude und ihres unterstellten Antagonismus gegenüber einem Empire »operativ« (mit szientifischer, d. h. sicherer Anschlussfähigkeit an Praxis und Empirie) begründen – oder handelt es sich um ein »semdialektisches« Konzept, bei dem der Vektor von Diskurs auf Praxis suggestiv bleibt? Dabei wird also die (antagonistische)  Multitude mit dem normalistischen Konzept einer (antagonismuslosen) Normalmasse konfrontiert. Bei der neu gerahmten, neu akzentuierten und erweiterten Fassung des Normalismus-Konzepts dient Foucaults hier operativ gelesene Diskurs- und Dispositivtheorie als wichtigster Bezugspunkt10. Die folgende Studie betrachtet demnach die kairotische11 Krisenkaskade von 2007 ff. als epochale »Denormalisierung«, als schwere Störung bis hin zum Kollaps der tragfähigen Reproduktion von Normalitäten durch die normalistischen Dispositive. Sie versucht, die sich aus einer epochalen, u. U. irreversiblen Denormalisierung entwickelnden Tendenzen operativ einzugrenzen. Die zu entwickelnde These lautet: Antagonistische Tendenzen in der Postmoderne sind identisch mit Tendenzen irreversibler Denormalisierung. Da sich beide Tendenzen als plural erweisen werden, ist demnach das Postulat eines großen Antagonismus (im Singular) von vornherein nicht konsistent – statt dessen muss es um die Analyse pluraler empirischer Antagonismen und ihrer eventuellen Kopplungen und Verknotungen gehen. Im Vorgriff auf ein systematisches Resümee der Kategorie (s. Kapitel 9) sei bereits hier zwischen Phäno-Antagonismen und Geno-Antagonismen unterschieden: Wenn man das Kriterium massenhafter Gewaltsamkeit seiner Austragung (typischerweise als Krieg oder Bürgerkrieg) vorläufig als Symptom eines Antagonismus gegenüber einem bloßen Konflikt oder Widerspruch auffassen mag, dann handelt es sich bei allen entsprechenden massenhaft-gewaltförmigen Phänomenen mindestens um Phäno-Antagonismen. Was der hegemoniale mediale und aktualhistorische Diskurs also gegen Fukuyamas These einwendet, ist eine Liste von kairotischen Phäno-Antagonismen: Westblock (USA und Verbündete) vs. islamischer Krisenhalbmond; parlamentarische Demokratien vs. Diktaturen; gewaltsame Kollisionen zwischen Nationen, Ethnien, Religionen, Kulturen. Geno-Antagonismen sind demgegen 10 Dabei geht es in erster Linie um Anschlüsse des Normalismus-Konzepts (bzw. der Normalismus-Konzepte: Protonormalismus vs. flexibler Normalismus) an Foucault und nicht um Foucaults generellere Konzepte wie die von Gouvernementalität, Biomacht und Biopolitik. Für den Zusammenhang zwischen Normalismus (mit Bezug auf die hier weiterentwickelte Theorie) und Gouvernementalität bzw. Biopolitik s. ausführlich Ulrich Bröckling, Gute Hirten führen sanft. Über Menschenregierungskünste, Frankfurt / Main 2017 (künftig Gute Hirten) sowie Ders./S. Krasmann / T. Lemke (Hg.), Gouvernementalität der Gegenwart. Studien zur Ökonomisierung des Sozialen, Frankfurt / Main 2000. 11 »kairotisch« meint die empirische Faktizität der Ereignisse (Kairoi) – »kairologisch« ihre szientifische (Re)Konstruktion.

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über, wie im folgenden zu entwickeln bleibt, zyklologisch und generativ-strukturell begründet. Fukuyama müsste Phäno-Antagonismen nicht bestreiten, wohl aber Geno-Antagonismen, woraus sich seine Prognose des schrittweisen Erlöschens ergibt. Phäno-Antagonismen sind also, anders gesagt, ›auflösbar‹, ›kompromissfähig‹ und ›versöhnbar‹, das heißt normalisierbar – an Geno-Ant­ a­gonismen scheitert der Normalismus. Was ein solches Scheitern aber bedeuten würde – ob außer fatalen12 Alternativen auch solche eines nachhaltigen Auswegs13 kairologisch erwartet werden können – darum geht es am Schluss der Studie. Was soeben als phäno- oder geno-antagonistische »Krisenkaskade« zu Beginn des 21. Jahrhunderts bezeichnet wurde, insbesondere verdichtet seit der globalen Finanz- und Wirtschaftskrise von 2007 ff. bis hin zur Flüchtlings- und Populismuskrise von 2015 ff., dient der Studie durchgängig als empirische Probe aufs Exempel ihrer theoretischen Überlegungen. In dieser »Megakrise«, wie es auch heißt, verknoten sich (möglicherweise antagonistisch) die wichtigsten Reproduktionszyklen der Moderne und Postmoderne wie Wissen und Technik, kairotisch in Gestalt der exponentiell wachsenden Digitalisierung, Ökonomie unter der volatilen Dominanz einer finanziellen Globalisierung, Demographie unter der Drohung einer »Bevölkerungsexplosion« und globaler »Völkerwanderungen«, Ökologie an den »Grenzen des Wachstums« sowie Militär in Gestalt global ausufernder »neuer Kriege«14. Die Problematik von Normalismus und Antagonismus erweist sich als Schlüssel zu einer operativen Analyse dieses Krisenknotens zwischen ›apokalyptischen‹ Prophetien und normalistischen Entwarnungen, denen zufolge die Krise vorbei und alles im Rahmen eines New Normal wieder normal sei und bleiben werde. Generell bezieht sich die Studie sowohl auf hegemoniale (wie zum Beispiel Fukuyama, Luhmann und andere) wie auf nicht-hegemoniale Theorien (wie Negri / Hardt, Laclau / Mouffe und weitere). Sie lehnt die (normalistische) Filterung mittels des (medial banalisierten) »Ideologie«-Etiketts als Erkenntnishindernis ab15. Die Kontraproduktivität dieser Art Filterung erweist sich insbesondere dann, wenn die Kategorie des Antagonismus a limine stillschweigend als »ideologisch« ausgeschlossen wird. Allerdings muss diese Kategorie operativ statt semsynthetisch bzw. semdialektisch begründet werden. Es erweist sich dabei, dass das Ensemble der Rahmenkategorien und damit die Epistemologie der Studie in präzisem Sinne pluralistisch ist: Sie beschreibt die normalistischen 12 Fatal im Sinne von Jean Baudrillard, Les stratégies fatales, Paris 1983 (massenhafte Katastrophe; der Begriff ist bei Baudrillard mit dem von unheimlichen, ambivalenten Massen verbunden: »schweigende Mehrheiten« und »schwarze Löcher«.) 13 Im Sinne einer »Fluchtlinie« (ligne de fuite) bei Gilles Deleuze / Félix Guattari, L’AntiOedipe. Capitalisme et schizophrénie, Paris 1972, 440, 458 passim (künftig L’Anti-Oedipe). 14 Herfried Münkler, Die neuen Kriege, Reinbek 2002. 15 Zur in dieser Studie nicht verwendeten Kategorie der Ideologie s. das Kontext-Supplement zu Kapitel 5 (KS 5).

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Dispositive als interpraktisch-interdiskursive Instrumente der Kopplung zwischen verschiedenen Reproduktionszyklen wie szientifische und technologische Wachstumszyklen der Moderne (Wachstum des Wissens), kapitalistische, monetär akkumulierende Ökonomie, »Fortschritt« der durchschnittlichen sozialen Lagen, der medialen und politischen Transparenz, der rechtlichen (sowohl staatsintern wie international) wie schließlich der militärischen Sicherung. Die normalistische Messung der einzelnen Wachstums- und Fortschrittskurven auf statistischer Basis dient sowohl der Kopplung zwischen den einzelnen Reproduktionszyklen wie ihrer interdiskursiven Bündelung zu einer integrierten großen Fortschrittskurve der Moderne. Der sowohl vage wie suggestive Begriff der Moderne (wie der davon abgezweigte einer Postmoderne) erhält so ein konsistentes Profil16: Moderne erweist sich als kulturelles Regime unter Zwang zum »Wachstum« (käme ein Alien auf die Erde, so müsste ihm sehr rasch die hohe Frequenz des Signifikanten »Wachstum« im mediopolitischen Diskurs auffallen). Dabei erweist sich, dass Fukuyamas These vom Erlöschen des Antagonismus bei Fortsetzung des modernen Wachstums die Normalisierung aller Wachstumskurven, ihre Verwandlung in ein Bündel gekoppelter Kurven mit Normalwachstum impliziert. Nur so wäre antagonismuslose Moderne denkbar, die dann (identisch mit einem auf Dauer gestellten, sozusagen nachhaltigen New Normal) mit Fug und Recht Postmoderne heißen dürfte17. 16 Die Literatur zum Konzept der »Moderne« ist uferlos. Für eine gute Zusammenfassung s. Peter Wagner, Soziologie der Moderne. Freiheit und Disziplin, Frankfurt / Main u. New York 1995 sowie ders., Modernity. Understanding the present, Cambridge UK 2012. Unter den vielen Theorien zur Moderne wird insbesondere die diskurstheoretisch fundierte von Michel Foucault vorausgesetzt (Les mots et les choses. Une archéologie des sciences humaines, Paris 1966; dt. Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften, Frankfurt / Main 1974). Niklas Luhmanns Moderne-Konzept wird unter dem Aspekt Normalismus mehrfach diskutiert; Anthony Giddens’ Gegenkonzept punktuell einbezogen: The Consequences of Modernity, Stanford 1990. 17 Eine solche These vertritt der bekannte Soziologe der Erlebnisgesellschaft, Gerhard Schulze, mit explizitem Rückgriff auf die Kategorie des Normalen. In seinem Buch Die beste aller Welten prognostizierte er für die »Postmoderne« eine Art weiche Landung des endlosen »Steigerungsspiels«, d. h. der okzidentalen Wachstums- und Fortschrittskurve, in definitiver Normalität: »Was heißt Kultur? Gemeint ist das Normale: […] genau in dieser Bedeutung taucht das Wort oft in der Umgangssprache auf, wenn etwa von ›Unternehmenskultur‹, ›Konsumkultur‹ und ›multikultureller Gesellschaft‹ die Rede ist. […] Meine folgende Verwendung des Kulturbegriffs zielt auf die Hauptsache ab, auf den gemeinsamen Nenner aller Definitionen – auf das Normale« (Die beste aller Welten. Wohin bewegt sich die Geschichte im 21. Jahrhundert? Frankfurt / Main 2004, 332 f.) Als hätte er eine zum Konzept des Normalismus ›antagonistische‹ Theorie entwickeln wollen, definierte Schulze in seinem Buch zur Krise von 2007 ff. die Normalität (in den zwei Spielarten einer »Normalität des Aufenthalts« und einer »Normalität der Transformation«) als anthropologisch-transhistorisch, woraus er eine ›gelassene‹, ›anti-alarmistische‹ Sicht auf die aktuellen Krisen ableitet, sozusagen ein definitives New Normal (Krisen. Das Alarmdilemma, Frankfurt / Main 2011). Diese Sicht impliziert Antagonismuslosigkeit, wie sie auch der Erlebnisgesellschaft bereits zugrunde liegt.

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Die Engführung von theoretischer und aktualhistorischer Dimension entfaltet sich im Kontext einer Schritt für Schritt erweiterten, aber identischen Problemkonstellation: Die Entwicklung eines operativen Antagonismusbegriffs im Rahmen der Normalismustheorie wird kontinuierlich und leitmotivisch bezogen auf Fragen nach den historischen Konsequenzen der großen Ver-unsicherungen18 durch die Eingangskrisen zum 21. Jahrhundert. Was bedeutet das »Kippen« von Massenstimmungen wie im Fall der »Populismen«? Signalisieren solche Stimmungsumschwünge Phäno- oder sogar Geno-Antagonismen und welche? Welche Rolle spielt dabei die Elementarkultur (der »Alltag«, die »Lebensweise«) als normalistisches Integral der Spezialkulturen und als Generator von massenhaften Stimmungen19? Was ist eine Normalmasse und welche Gefahren oder welche positiven Auswege folgen aus ihrer womöglich antagonistischen Polarisierung? Wie verhält sich eine Normalmasse zu einem Konzept wie »Volk« (Populismuskrise)? Wie verhalten sich normalisierende und denormalisierende Tendenzen innerhalb der normalistischen Kernländer zu den entsprechenden auf globaler Ebene (Konzept der Normalitätsklassen, Kapitel 21)? Das im folgenden leitende Modell einer Kopplung von Reproduktionszyklen, insbesondere mittels normalistischer Dispositive, ist pluralistisch, insofern es konkurrierende Kopplungsmodelle kritisiert, denen die Vorstellung monoto­ ner »Ableitung« von einem fundamentalen Quell-Zyklus zugrunde liegt. Das sind die Ismen zwischen diversen Technizismen (einschließlich Militärtechnizismen), Ökonomismen, Politizismen und Kulturalismen. Der akademische Mainstream (die intellektuelle Hegemonie)  kritisiert vor allem alle Spielarten eines unterstellten Ökonomismus auf »orthodox-marxistischer« Basis. Er vertritt seinerseits nur allzu oft explizit oder meistens implizit eine Spielart von Technizismus, Politizismus oder Kulturalismus. So leitet Fukuyama den Kapitalismus monoton von der Technologie ab und montiert diesen Technizismus diskontinuierlich mit einem Politizismus (der wachsenden »Anerkennung« nach Hegel). Demgegenüber sagt die folgende Studie: WNLIA (Weder-Noch, lieber irgendwie anders). Ich habe, und nicht bloß als Initiator und Herausgeber der Zeitschrift kultuRRevolution. zeitschrift für angewandte diskurstheorie20 und Verfasser des Romans Bangemachen gilt nicht auf der Suche nach der Roten Ruhr-Armee. Eine Vorerinnerung21, nie ein Hehl daraus gemacht, dass ich mich weder an hegemoniale noch an dissidente Sagbarkeitsgrenzen gebunden fühle. 18 Die basale Funktion des Normalismus kann man als multiple Ver-Sicherung begreifen – Denormalisierung dementsprechend als Ver-un-sicherung. 19 Die auffällig häufig aktualisierte Kategorie der »Stimmung« dient der Studie als ein leitmotivischer exemplarischer Fall. Auf Massen bezogen kann sie normalistisch gefasst werden und kennzeichnet die Subjektivierung von Graden der Normalität (als eine Art Bilanz von Normalisierung und Denormalisierung) des Alltags (zum Alltag s. ausf. u. 14.4). 20 Essen 1982 ff., im folgenden kRR (S. www.zeitschrift-kulturrevolution.de). 21 Oberhausen 2008.

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In meinem Roman erzähle ich insbesondere auch das Scheitern von Achtundsechzig am Normalismus aus Normalismusblindheit: Niemand bekommt, wie schon Althusser  – doch längst vor ihm Kafka  – wusste, einen Antagonismus »letzter Instanz« zu fassen. Was aber keineswegs bedeutet, dass es keine Antagonismen (mehr) gibt. Dem versucht die konzeptuelle Orientierung der folgenden Überlegungen zu entsprechen. Das sehr detaillierte Inhaltsverzeichnis soll auch Lektüren nach spezifischen Präferenzen erleichtern, die von der Linearität abweichen22. So würde es sich für Leserinnen ohne Vorkenntnisse der Normalismustheorie empfehlen, mit den Kapiteln 10 bis 14 zu beginnen. Die philosophischen Kapitel 4 und 5 sind zum Verständnis der übrigen nicht unabdingbar. Im Anschluss an einzelne Kapitel folgen »Kontext-Supplemente« (KS), die bestimmte theoretische Debatten (wie exemplarisch die mit Niklas Luhmann) vertiefen. Insbesondere finden sich in den Kontext-Supplementen Kurzessays zu Romanen (von Sibylle Berg, Thomas Bernhard, Albert Camus, Michel Houellebecq, Stephen King, Jean Marie Gustave Le Clézio, Jonathan Littell, Gary Shteyngart), die unter dem Aspekt der literarischen Darstellung bzw. Darstellbarkeit aktueller Antagonismen ausgewählt wurden.

22 Häufiger zitierte Referenztitel werden von der zweiten Nennung an gekürzt (Beispiel: Verf., Versuch statt: Versuch über den Normalismus. Wie Normalität produziert wird usw.). Die vollständigen Titel finden sich auch im alphabetischen Literaturverzeichnis.

2. »Multitude« als Symptom: operativer Begriff für innergesellschaftliche Antagonismen im 21. Jahrhundert oder »Plastikbegriff«? Wie sich zeigen wird, ist die explizite These vom wenn auch schrittweisen Erlöschen des Antagonismus in der Postmoderne wie bei Fukuyama eher selten. Häufig wird die Frage ignoriert, allenfalls implizit gestreift (etwa bei Niklas ­Luhmann). Eine explizite Gegenthese scheint nur in dissidenten Diskursen möglich. Exemplarisch ist der von Antonio Negri und Michael Hardt23 ins Spiel der Diskurse gebrachte Antagonismus zwischen Multitude24 und Empire. Die folgende Studie fragt heuristisch, ob dieser Begriff dazu taugt, innergesellschaftliche Antagonismen womöglich neuen Typs operativ zu »treffen« und in welchem Grade sein Anspruch, solche Antagonismen »besser« als Proletariat (im Sinne von industrielle Arbeiterklasse), Masse, Volk, Nation, Bevölkerung, hegemonialer bzw. historischer Block oder As-Sociation zu bezeichnen, begründet ist. Der Begriff einer (antagonistischen) Multitude bietet sich als Anknüpfungspunkt zudem deshalb an, weil er nah bei dem zu entwickelnden Konzept einer (antagonismuslosen) »Normalmasse« zu liegen scheint. Im Vorgriff auf genauere Begriffsbestimmungen sei unter Antagonismus vorläufig im Anschluss an die (besonders marxistische)  Dialektik ein langdauernder und massenhaft ausgetragener (historischer) unversöhnlicher, gewalt-, revolutions- oder kriegsgenerierender Widerspruch zwischen zwei Polen einer gemeinsamen Struktur verstanden25. Gleichbedeutend damit ist die De 23 Die drei grundlegenden Publikationen von Michael Hardt und Antonio Negri werden im folgenden nach den englischen Ausgaben mit E (Empire), M (Multitude) und C (CommonWealth) plus Seitenabgabe zitiert. E: Empire, Cambridge (Mass.) /London 2000; M: Multitude, New York 2004; C: CommonWealth, Cambridge (Mass.) /London 2011. 24 Fremdsprachliche substantivische Begriffe, die bereits internationalisiert sind, werden nach deutscher Regelung mit Majuskel geschrieben. 25 Die basale Definition bei Marx findet sich im klassischen Vorwort zur Kritik der Politischen Ökonomie von 1859: »Die bürgerlichen Produktionsverhältnisse sind die letzte ant­ agonistische Form des gesellschaftlichen Produktionsprozesses, antagonistisch nicht im Sinn von individuellem Antagonismus, sondern eines aus den gesellschaftlichen Lebensbedingungen der Individuen hervorwachsenden Antagonismus, aber die im Schoß der bürgerlichen Gesellschaft sich entwickelnden Produktivkräfte schaffen zugleich die materiellen Bedingungen zur Lösung dieses Antagonismus. Mit dieser Gesellschaftsformation schließt daher die Vorgeschichte der menschlichen Gesellschaft ab« (MEW Bd. 13, 9). Wie der Kontext zeigt, ist »Lösung des Antagonismus« synonym mit »eine Epoche sozialer Revolution«.

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finition, nach der ein definitiver, den Antagonismus auflösender Kompromiss zwischen seinen Polen unmöglich sei26. (Die Kategorie des Kompromisses spielt für die Normalismustheorie eine basale Rolle; Kompromissfähigkeit heißt häufig Normalisierungsfähigkeit.) Im Sinne der vorläufigen Unterscheidung in der Einleitung haben wir es also bei der marxistischen Fassung des Begriffs mit Geno-Antagonismen, in der generativen Basis der Struktur situierten, nicht mit bloßen, möglicherweise kompromissfähigen, Phäno-Antagonismen zu tun. International ist der Musterfall der interimperialistische Antagonismus, d. h. der kriegsgenerierende Interessenkonflikt zwischen zwei oder mehr Imperien oder Weltmacht-Nationen. Innergesellschaftlich ist der exemplarische Fall der Ant­ agonismus zwischen Kapital und Arbeit, zwischen kapitalistischer Bourgeoisie und Proletariat, der nach Marx mit historischer Notwendigkeit Revolutionen generieren soll. Die »dialektische« Fassung des Antagonismus impliziert dabei dreierlei: die Vereinheitlichung womöglich mehrerer »Widersprüche« zu einem einzigen durchschlagenden Antagonismus (im Singular) – dementsprechend die Formation langer Epochen auf der Basis je eines epochenspezifischen durchschlagenden Antagonismus – sowie die Reihung epochaler Antagonismen auf einer einzigen implizit teleologischen historischen »Linie des Fortschritts«, wobei der je frühere Antagonismus in einer revolutionären Krise in den späteren »umschlägt«, der spätere also die revolutionäre Lösung des früheren voraussetzt27. Bekanntlich gilt diese Kategorie eines dialektischen Antagonismus, endgültig seit den Ereignissen um 1989, in hegemonialen Diskursen als definitiv depotenziert, die soziologische Dialektik demnach als definitiv widerlegt. Zweitens Hegemonie: Sie hat (in der marxistischen Fassung Antonio Gramscis28) ebenfalls eine internationale und eine innergesellschaftliche Dimension: Marx sieht die moderne Lage also als die vor einer letzten Periode radikaler, inclusive gewaltförmiger, Revolutionen. Das Konzept einer antagonismuslosen Postmoderne geht auf diese Stelle zurück – der Unterschied zu Fukuyama (und bereits zu seinem Inspirator Alexandre Kojève) besteht nur darin, dass diese die »Lösung des Antagonismus« bereits durch den »demokratischen Kapitalismus« bewirkt sehen (dazu ausf. de Berg, Das Ende der Geschichte, s. o. Fußn. 7). 26 S. das Lemma »Antagonismus« von Wolfgang Fritz Haug im Bd. 1 des Kritischen Wörterbuchs des Marxismus (297–309). Dort werden die hier verwendeten Kriterien vielfach, auch in der weiteren marxistischen Diskussion, belegt. Insbesondere ist festzuhalen, dass Antagonismus lediglich eine – durch »Unversöhnlichkeit« gekennzeichnete – Teilmenge von »Widerspruch«, »Gegensatz« oder Konflikt darstellt: »Wenn jeder A einen Gegensatz darstellt, so nicht jeder Gegensatz einen A. Und wenn Widersprüche immer Gegensätze enthalten, so bilden deswegen nicht alle Gegensätze Widersprüche« (300). Ein Defizit des Artikels bildet das Fehlen einer Unterscheidung zwischen »objektiven« und »subjektiven« Antagonismen und ihres Zusammenhangs. 27 Zur Problematik des Verhältnisses »objektiver« und »subjektiver« Aspekte des Antagonismus s. ausf. 9.5. 28 Gramscis über die gesamten Gefängnishefte verstreute Erörterungen zur Hegemonie sind insbesondere in den »Notizen über Machiavelli« systematisch konzentriert: »Noterelle

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International meint sie die faktische Vorherrschaft eines Staats (im Sinne einer Art von Verhandlungsübermacht mit exklusivem Vetorecht) in einer Region (Hegemonie Deutschlands in Europa)  oder in der Welt (USA). Innergesellschaftlich meint sie analog dazu die faktische Vorherrschaft eines stabilen Machtnetzes von miteinander verflochtenen wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Eliten (»Entscheidungseliten«) unabhängig von formellen Gleichheitsrechten. Empirisch erweist sich die Hegemonie als faktische Exklusionsmacht einer »Intelligenz« im doppelten Sinne von medialer Kultur und deren Personal gegenüber grundsätzlichen (womöglich antagonistischen) Alternativen zum hegemonialen Machtnetz. Diskurstheoretisch wäre eine hegemoniale mediale Kultur als Diskurssystem und insbesondere als Interdiskurssystem zu fassen, das grundsätzliche Alternativen und vor allem die entsprechenden Fragestellungen als solche unsichtbar, unsagbar und unwissbar macht. Aus sehr anderen Gründen als Fukuyamas Theorem vom Ende der Geschichte erscheint auch die Theorie der Multitude gegen Ende der 2010er Jahre als nur noch beschränkt aktuell. Die vorliegende Studie betrachtet das diskursive Ereignis »Multitude« dennoch als Symptom für wesentliche Problematiken einer Analyse der durch eine Serie von »Post«-Kategorien (zwischen »Postmoderne«, »Posthistorie«, »Postindustrialismus«, »Postmarxismus« über »Postkolonialismus« bis hin zu »Postdemokratie«) bloß suggestiv gekennzeichneten Lage. Als Kern dieser Problematiken sieht sie die Frage nach dem Antagonismus (im Sinne von Geno-Antagonismus). Sind »postmoderne« Bevölkerungen Mengen von Individuen ohne sowohl interne wie externe (globale) Antagonismen (sei es zwischen Klassen, sei es zwischen Nationen, sei es zwischen Kulturen)? Und wie hängen empirisch fassbare Teile von Bevölkerungen (Klassen, Schichten, Gruppen, Gendergruppen, Eliten, Massen) mit abstrakten polarisierenden Strukturmomenten (Kapital / Arbeit; Wissen / Unwissen; verschiedene Kulturen und Subjektivitäten) zusammen? Solche abstrakten Strukturmomente werden im folgenden »zyklologisch« als relativ konsistente Reproduktionszyklen (Wissen / Technik, Ökonomie / Kapital, Soziales, Politik, Kultur u. a.) behandelt, die jeweils Massen bzw. As-Sociationen29 generieren. Die Krisendynamiken in den sul Machiavelli«, in: Istituto Gramsci, V. Gerratana (Hg.), Antonio Gramsci, Quaderni del carcere Bd. 3, Torino 1975, 1553–1652 (dt. Philosophie der Praxis. Eine Auswahl, Frankfurt / Main 1967, 282–375). Außer dem Konzept der Hegemonie gehören auch Gramscis Konzepte des kollektiven »Willens«, des »historischen Blocks«, des »historischen Kompromisses« und der »normalen Demokratie« (Quaderni Bd. 3, 1609 passim) zu den Inspirationsquellen der vorliegenden Studie (vgl. dazu Verf./Ursula Link-Heer, Literatursoziologisches Propädeutikum, München 1980, 280 ff., 330 ff.). 29 Diese Schreibung betont die Bildung von Socii (Sozialkörpern, Kollektiven) sowie den Prozesscharakter aller historischen Kollektive, wobei alle As-Sociationen ständig von DisSociationen begleitet sind. Es gibt keine ein für allemal »stabilen« historischen Kollektive; Stabilität ist, operativ gesehen, stabile zyklische Reproduktion, die in der Moderne selten langdauernd sein kann.

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ersten Dezennien des 21. Jahrhunderts haben – wenn auch selten unter diesen Begriffen – die Relevanz der Problematik von Antagonismen und antagonistischen As-Sociationen erneut erwiesen. So wirft die Populismuskrise die Frage nach einem womöglich antagonistischen »Volk« auf. Das Konzept der Multitude statuiert ein antagonistisches Kollektiv in Abgrenzung nicht bloß gegen »Volk«, sondern auch gegen Klasse und Masse. Die vorliegende Studie beruht auf der Hypothese, dass eine operative Analyse der mit Antagonismus oder Antagonismuslosigkeit verbundenen Problematiken den Normalismus als eines der wichtigsten Dispositivnetze aller hegemonialen Theorien wie Praktiken für ein vorgeblich antagonismusloses Management sozialer Konflikte berücksichtigen sollte. Wenn Postmoderne Antagonismuslosigkeit impliziert und New Normal Krisenüberwindung, dann hängt eine konsistente Postmoderne nicht nur am New Normal, sondern damit per definitionem auch am Normalismus. Die folgenden Eingangskapitel situieren das Normalismuskonzept zunächst in Rahmenkategorien wie Interdiskurs und Zyklologie, bevor die Konstellation des Titels der Studie ab Kapitel 9 systematisch und kairologisch entfaltet wird.

2.1 Multitude vs. Normalmasse Das Konzept einer Multitude soll in der folgenden Studie gegen das normalismustheoretische einer Normalmasse gelesen werden. Eine Normalmasse (eine überwiegend normalisierte Masse) ist das Modell eines vollständig »atomisierten« oder »individualisierten«, tendentiell zufallsverteilten Gesamt-Kollektivs, einer Gesamt-Population aus »frei durchschüttelbaren Ich-AGs« (bzw. allenfalls flexiblen Paarbildungen oder kleinfamilialen Partnerschaften) ohne fixe as-sociative Bindungen. Flexibel-normalistische Gesellschaften, so wird sich zeigen, bewegen sich tendentiell in Richtung Normalmasse, wenn sie deren Idealtyp auch nie erreichen können. Da in einer Normalmasse idealiter keine stabilen Teilkollektive (Stabilmassen oder andere bindungsstarke As-Sociationen) mehr existieren (sie sind sämtlich in frei-mobile Individuen bzw. allenfalls flexible Paare oder Kleinfamlien aufgelöst), gibt es darin per definitionem auch keine antagonistischen Kollektive mehr. Wie sich ferner erweisen wird, teilt das Konzept der Multitude mit der Normalmasse eine Reihe von Eigenschaften wie hohe Auflösung (viele »Singularitäten«), hohen Differenzierungsgrad, hohe individuelle und kollektive Mobilität. Im Unterschied zur Normalmasse umfasst eine Multitude jedoch nicht das gesamte Kollektiv (etwa einer Nation), sondern begründet einen Antagonismus gegen das Teilkollektiv eines »Empire« bzw. einer »globalen Aristokratie« dieses Empire, impliziert also eine vorgängige Spaltung der Normalmasse. Eine vergleichende Analyse von Multitude und Normalmasse verspricht also Annäherungen an die Problematik von Normalismus und Antagonismus in der Postmoderne.

Semantik der Multitude

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Mit »Normalmasse«, also normalisierter »Masse«, ist zugleich bereits eine terminologische Wahl für Bezeichnungen großer Kollektive getroffen, die etwa von Negri und Hardt abgelehnt wird. Was durchaus als problematisch betrachtet werden könnte, ist gerade ein wichtiges Motiv für diese Wahl: die Uneindeutigkeit von »Masse« zwischen, wie es traditionell heißt, einer »objektiven«, physikanalogen Masse, und einem »subjektiven«, handlungsfähigen (»agentiellen« oder »akteuriellen«) Großkollektiv, also einer Aktionsmasse bzw. einem großen Wir-Subjekt. Diese Uneindeutigkeit darf allerdings nicht überspielt werden, sondern muss operativ in ein reziprokes Verhältnis zwischen kollektivgenerierenden Strukturen (Kollektivgeneratoren oder As-Sociatoren) und handlungsfähigen Kollektiven übersetzt werden. Das klassische Beispiel ist das reziproke Verhältnis zwischen »Klasse an sich« (etwa den Kollektivgeneratoren Kapital und Arbeitskraft und ihrem Personal) und »Klasse für sich« (einem akteuriellen Gegeneinander, etwa bei einem Streik)30. Diesem Parallelismus entspricht bei Negri und Hardt das Verhältnis von »immaterieller« bzw. »biopolitischer Arbeit« auf der »objektiven« und Multitude auf der »subjektiven« Seite (s. ausf. 9.5, 9.8).

2.2 Semantik der Multitude Eine Diskursanalyse des Komplexes Multitude setzt am besten bei der Semantik an. Dabei beziehen sich die folgenden Überlegungen hauptsächlich auf die synchronische (aktualhistorische) Dimension, also die Basierung der Kategorie auf eine unterstellte neue tendentiell dominante Form von Arbeit  – die »immaterielle« bzw. »biopolitische Produktion«, großenteils mit der Digitalarbeit identisch  –, während die diachronische (historische)  Dimension bis auf einzelne Diskursbegründer des Normalismus (Comte, Bernstein, Galton) außer Acht bleibt31. Negri und Hardt berufen sich auf (lat.) »multitudo« bei Spinoza und Hobbes32. Für ihre Begriffsprägung relevant ist dabei der unterstellte ant­ agonistische Kontrast zu »populus«: »multitudo« betone die immanente Macht einer empirischen multiplen Bevölkerung, während populus eine künstliche und transzendente Einheit suggeriere, deren Effekt die an einen (zum Beispiel monarchischen) Staatsapparat veräußerte »Souveränität« sei. Diese Souveränität befinde sich in einem latenten Antagonismus gegen die multitudo. Die späteren 30 Dazu Peter Schöttler, Nach der Angst. Geschichtswissenschaft vor und nach dem ›linguistic turn‹, Münster 2018, 76–84 und passim. 31 Zur Geschichte des Normalismus seit dem 18. Jahrhundert s. ausf. Versuch. 32 Eine vorzügliche und detaillierte Begriffsgeschichte bei Spinoza gibt Étienne Balibar, »Spinoza, l’anti-Orwell. La crainte des masses«, in: ders., La crainte des masses. Politique et philosophie avant et après Marx, Paris 1997, 57–99. Balibar setzt Multitude mit Masse gleich und zeigt deren fruchtbare »Aporien« bei Spinoza, die gerade heute erneut aktuell seien.

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Versuche, den Begriff in den Konflikten der englischen Revolution des 17. Jahrhunderts zu begründen, scheitern eingestandenermaßen begriffsgeschichtlich33 und laufen theoretisch mit der Gleichsetzung von Multitude und »den Armen« die Gefahr der ahistorischen Anthropologisierung34. Dieser binäre Gegensatz dient jedenfalls als Modell für die aktuelle Begriffsbildung. Deshalb ist die englische (und frz.) Version (»multitude«) der adäquateste Signifikant für das Konzept (gegenüber lat. multitudo oder it. moltitudine). Gänzlich irreführend war die deutsche Version »Menge« in der Übersetzung von Empire. Abgesehen von den störenden interdiskursiven semantischen Quertrieben der Mengenlehre und des Mengenrabatts fehlt in »Menge« das konstituierende Sem (semantische Element) »multi-« mit seinen Konnotaten »multiethnic« und »multiracial«, »multilingual« und »multicultural«  – ebenso wie die Konnotation »multipler« sozioökonomischer Lagen. Anders gesagt: Zum Begriff der Multitude gehört eine nicht reduzierbare Pluralität von Teilen (»Singularitäten«). Wie im Modell von Spinoza und Hobbes befindet sich die Multitude in antagonistischem Gegensatz gegen eine »souveräne« Instanz, die Negri und Hardt im Begriff eines (supranationalen, globalen) »Empire« zu fassen suchen. Im zweiten Band ihrer Trilogie (Multitude)  resümieren die beiden Autoren eingangs die Gründe für ihre Favorisierung von Multitude in Abgrenzung gegen konkurrierende traditionelle Begriffe wie »Volk«, »Massen« und »Arbeiterklasse« (M, XIV f.). Es zeigt sich dabei sogleich (wie bereits in Empire) eine Doppeldeutigkeit der Kategorien: Sie dienen sowohl als analytische (operative) Instrumente wie als Selbstbezeichnungen kollektiver Subjekte (Wir-Subjekte) im Konflikt (»Wir sind das Volk«). Traditionell war auch die Rede von »objektiven« und »subjektiven« Kollektiven (»Klasse an sich« vs. »Klasse für sich«). Für beide Aspekte gleichermaßen gilt, dass diese Kategorien jeweils Kollektive (As-Sociationen) jenseits einzelner Klassen, Schichten oder Bevölkerungsgruppen, gerade auch jenseits einer intern dominierenden Klasse, bezeichnen, wobei diese Makro-Kollektive aber nicht die gesamte Bevölkerung umfassen, sondern lediglich eine große Mehrheit, die sich in einem Antagonismus gegen eine herrschende Minderheit von Eliten befindet.

2.3 Multitude vs. Klasse, Proletariat, historischer Block Die Theorie der Multitude weiß sich als postmarxistisch im doppelten Sinne: sowohl der Kontinuität wie einer als gleichwohl zuspitzend verstandenen Revision. Die Revision bezieht sich – kongruent mit einer Vielzahl hegemonialer und nichthegemonialer Theorien des Postindustrialismus  – zunächst auf die Stellung der klassischen industriellen Arbeiterklasse. Insofern die Kategorie 33 C, 41. 34 C, 39–55 (»The Multitude of the Poor«).

Multitude vs. Klasse, Proletariat, historischer Block

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des Proletariats bei Marx tendentiell mit dieser Klasse identifiziert werde, falle sie ebenfalls unter die Revision (z. B. M, 106 f.). Die Funktion und damit die von Marx prognostizierte historische Rolle dieser Klasse sei nicht gewachsen, sondern geschrumpft. Auch qualitativ habe sie ihre Hegemonie unter den vom Kapital eingekauften Klassen eingebüßt. Insofern also das Konzept eines Proletariats mit dieser Klasse identifiziert worden sei, sei auch dieses Konzept überholt und eben durch das Konzept einer Multitude zu ersetzen. Diese Kritik ist einleuchtend: Empirische Makro-Kollektive »von unten« umfassen mehr und mehr soziologische Einheiten außerhalb der Industriearbeiter: große Teile der Angestellten und Beamten, die Mehrheit der Intelligenz, darunter eine neue Massenintelligenz von »Digital Natives« und ein wachsendes multiples »Prekariat«. Die beiden letzten Kollektive decken sich weitgehend mit der »immateriellen« bzw. »biopolitischen Arbeit« nach Negri und Hardt. Darauf wird zurückzukommen sein. Grundsätzlich muss das empirische Kriterium des (positiven oder negativen) Wachstums, also der Massenbreite, einer soziologischen Einheit (wie des Proletariats oder des Prekariats) als Symptom für die Frage nach einem möglichen Antagonismus berücksichtigt werden. Jedenfalls wird das neue Konzept der Multitude in einem ersten Aspekt durchaus materialistisch im Sinne von Marx begründet: und zwar paradoxerweise durch die Kategorie einer »immateriellen Arbeit« bzw. später einer »biopolitischen Arbeit«. So wie die klassische industrielle Arbeit die materielle Basis der Klassenkonstitution eines Proletariats war, so soll nun paradoxerweise die »immaterielle Arbeit« die materielle Basis der neuen Nicht-Klasse der Multitude sein. Für die weitere gedankliche Orientierung der vorliegenden Studie relevant ist die Feststellung, dass sich die Theorie der Multitude aufgrund dieser materialistischen Komponente also als durchaus operative Theorie versteht: Sie reklamiert empirische Gültigkeit und Falsifizierbarkeit wie auch daraus folgende empirische prognostische Kapazität und aktive Operativität – im Gegensatz zu einem bloß ›spekulativ-philosophischen‹ und konkret »dialektischen« Status: Such a political project (i. e. the constitution of the multitude, J. L.) must clearly be grounded in an empirical analysis that demonstrates the common conditions of those who can become the multitude (M, 105).

Inwiefern es sich bei der Multitude tatsächlich um ein operatives Konzept handelt, soll im folgenden untersucht werden. Diese Frage führt heuristisch hin zur Problematik eines vorgeblich erloschenen Antagonismus in postmodernen und posthistorischen, nach Fukuyama »demokratisch-kapitalistischen« Gesell­ schaften. Als konstitutives Element dieser Problematik wird sich dann die Funktion des Normalismus als des Dispositivnetzes zur Produktion und Reproduktion von Normalitäten erweisen. Wie sich dabei zeigt, besteht die für postmodern-posthistorische Gesellschaften unverzichtbare Operativität des Normalismus allerdings nur dem Anspruch nach im Management von Krisen

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und Konflikten bereits definitiv antagonismusloser Lagen – tatsächlich dagegen in einem solchen Management mit dem Ziel, latente Antagonismen aktiv am »Ausbruch« zu hindern. Für diese dominante Problematik der Studie – also die Konstellation von »postindustriellen« Gesellschaftstypen, Antagonismusfrage und Normalismus – dient die Problematik der Multitude zwischen Operativität und »Dialektik« also als heuristischer Schlüssel. Während Negri und Hardt die Kategorie Proletariat im engen Sinne von Industrieproletariat ablehnen, sehen sie die Multitude umgekehrt durchaus als radikale Entwicklung eines bei Marx in die Zukunft projizierten universellen Proletariats. Wenn dieses sozusagen »ultimative« Proletariat bei Marx jedoch noch immer (mit militärischen Konnotationen) als gigantische globale »Armee« von Arbeitern gigantischer globaler Fabriken und einer entsprechenden gigantischen globalen »Reservearmee« von arbeitslosen Fabrikarbeitern vorgestellt sein sollte, dann unterscheidet sich die Multitude davon als ebenso globale, aber stark dezentralisierte, aus vielfältigen »Singularitäten« (darunter vor allem digitalen »Bricoleuren« [»Bastlern«] bzw. »Ingeniösen«, aber insbesondere auch »affektiven« Arbeiterinnen eines expandierten »Caring«) gefügten Masse. (Wobei Negri und Hardt aber auch die Kategorie »Masse« ablehnen.) Der Antagonismus ergibt sich daraus, dass die Produktivität dieser Vielfalt sämtlich vom Kapital gekauft wird. Am ehesten ließe sich die Multitude also als universelles lohnabhängiges (inclusive Scheinselbständigkeit) Prekariat fassen.

2.4 Multitude vs. Volk Hier treffen Negri und Hardt dezisionistisch eine einseitige Wahl zwischen zwei historisch wie aktualhistorisch gleichermaßen legitimen Signifikaten: zwischen dem Nation-Volk und dem Plebs-Volk, wie sich sagen ließe35. Nur das NationVolk postuliert die unterstellte semantische Tilgung der Pluralität und damit des Antagonismus, integriert kontrafaktisch alle Differenzen innerhalb der gesamten Bevölkerung eines Staats und veräußert die vielfältigen Machtformen an die eine, transzendente Macht der Souveränität des Nationalstaats. Diese Bedeutung von Volk befand sich in allen massendynamischen Prozessen und vor allem in allen Revolutionen der Neuzeit im (antagonistischen) Streit mit der Bedeutung Plebs-Volk (menu peuple, einfaches bzw. niederes Volk, arbeitendes bzw. werktätiges Volk, armes Volk36). Das Plebs-Volk ist im mediopolitischen Diskurs der Neuzeit bzw. der Moderne durch das metonymische Symbol der 35 Zu den zahlreichen historischen und begriffsgeschichtlichen Verzweigungen im semantischen Feld »Volk« s. Balibar, La crainte des masses. 36 Indem der Versuch einer begriffsgeschichtlichen Rekonstruktion in CommonWealth beim »armen Volk« landet (C, 39–56), beißt sich die Katze in den Schwanz.

Multitude vs. Volk

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»Straße« bezeichnet: Im Gegensatz zum »Haus« symbolisiert die »Straße« das potentiell aufrührerische (antagonistische) Volk, das »auf die Straße geht«. Dieses Plebs-Volk aus sozusagen erwachsenen »Straßenkindern« ist semantisch deutlich vom symbolisch unter dem Dach eines Parlaments versammelten Nation-Volk unterschieden, dessen erste und wichtigste Aufgabe in jeder Revolution es ist, »das Volk von der Straße zu bringen«. Es war das Plebs-Volk, das von den Autoren des Sturm und Drang, und allen voran von dem so sehr zu unrecht als Nationalist verleumdeten Herder als kollektive Quelle vielfältiger Kreativität entdeckt wurde. In der aktuellen Debatte um Multitude hat Jacques Rancière das Symbol der Straße mit seinem Theorem der demokratischen Einforderung eines »Anteils der Anteillosen« verknüpft. Am Beispiel der Leipziger Montagsdemonstrationen von 1989 und ihrer empirisch kontrafaktischen Parole »Wir sind das Volk« zeigt er das antagonistische Potential eines auf die Straße gehenden (Plebs-)Volksteils auf37. Man könnte dabei auch mit Hölderlin von einer »Stimme des Volks« sprechen: als Stimme des anteillosen und (womöglich auch trotz Stimmrechts) stimmlosen Volks. Das Leipziger Beispiel kann ebenfalls exemplarisch die Verwandlung eines Plebs-Volks in ein Nation-Volk illustrieren, die mit der Verwandlung der Parole »Wir sind das Volk« in die neue Parole »Wir sind ein Volk« begann38. Fazit: Nur mit dem Nation-Volk ist das Konzept einer Multitude inkompatibel, nicht mit dem Plebs-Volk. Gerade auch analytisch (erster Aspekt) ist das Plebs-Volk, etwa in der Zeit der Revolutionen des 18. und 19. Jahrhunderts, soziologisch plural: Es besteht aus mehreren Klassen (aus allen nicht-akkumulationsfähigen Klassen: Arbeiter, Handwerker, Kleinkommerz, 37 »Volk oder Multitudines? Gespräch zwischen Eric Alliez und Jacques Rancière« (übersetzt von Jonas Hock), in: kRR Nr. 57/2009, 70–72. (»Ich verstehe es im Sinne des ›Wir sind das Volk‹ der Demonstranten in Leipzig, die offenkundig nicht das Volk waren, aber sein Aussagemoment (énonciation) zustande brachten und seine staatliche Verkörperung unterbrachen. Volk in diesem Sinne ist für mich ein Oberbegriff für die Gesamtheit aller Subjektivierungsprozesse, die das Prinzip der Gleichheit wirken lassen, indem sie die Formen der Sichtbarkeit des Gemeinschaftlichen zum Gegenstand einer Streitsache machen sowie die Identitäten, Zugehörigkeiten, Aufteilungen etc., die sie definieren […]. Das Interessante am Begriff Volk ist, wie ich finde, dass er die Ambiguität in Szene setzt. Politik, in diesem Sinne, ist die ausagierte Unterscheidung dessen, was sich in letzter Instanz unter dem Namen Volk abspielt: Die Operation der Differenzierung, die politische Kollektive herausbildet, indem sie die Inkonsistenz der Gleichheit oder die Operation der Identität, durch welche die Politik auf die Eigenschaften der Sozialkörper oder das Phantasma der glorreichen Körper der Gemeinschaft reduziert wird, zur Wirkung bringt. Politik, das ist immer ein Volk mehr als das andere, ein Volk gegen ein anderes. », 70). Das ist eine aktuelle Zusammenfassung der theoretischen Entwicklung in La Mésentente. Politique et Philosophie, Paris 1995 (dt. Das Unvernehmen, Frankfurt / Main 2002). Die »drei Völker« (126 f.) entsprechen tendentiell dem Nation-Volk, dem Plebs-Volk und einem grenzenlos transversal verstandenen »Proletariat«. 38 Nicht zur reden von der zweiten, noch weitergehenden Konversion der Parole bei der neorassistischen Pegida-Bewegung während der großen Denormalisierung der zweiten Dekade des 21. Jahrhunderts.

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Bauern, marktabhängige Intelligenz, Tagelöhner). Auch subjektiv identifiziert sich das Volk meistens mit diesen subalternen Klassen (im Gegensatz zur Nation, die die herrschenden Klassen auf der anderen Seite des Antagonismus einschließt). Vom subjektiven Aspekt des Plebs-Volks geht die (positive) Populismustheorie von Laclau / Mouffe aus, die »Volk« und (explizit) »Antagonismus« von der Kategorie der »Forderung« aus konstruiert. Es wird darauf zurückzukommen sein39. Was als innertheoretische Kontroverse erscheinen könnte, ist allerdings durch die Populismuskrise auch praktisch höchst relevant geworden: Falls das Volk der Populismen antagonistisch sein sollte – wäre dann jede Spielart eines solchen populistischen Antagonismus notwendigermaßen und gleichermaßen »fatal«? 40 Negri / Hardts negativierende Gleichsetzung von »Volk« mit »Nation« hat dazu beigetragen, die aktuellen Debatten im Kontext der Populismuskrise zu desorientieren. Demgegenüber wird hier die These zu entwickeln sein, dass eine Antagonismusanalyse der Populismen auf eine Kategorie Volk verwiesen bleibt. Die erneute Relevanz dieser Kategorie signalisiert die erneute Relevanz von Ant­ agonismen (s. ausf. Kapitel 20 über politischen Normalismus und Populismen).

2.5 Multitude vs. Masse Ähnlich wie der Signifikant des Volks ist der Signifikant der Masse mehrdeutig. Weil in dieser Studie ausführlich von einer »normalisierten Masse« (oder »Normalmasse«) zu handeln sein wird, ist eine vorgängige Klärung besonders wichtig. Zu unterscheiden ist zunächst zwischen statischen und dynamischen Konzepten von Masse: Für das erste kann Freuds, für das zweite Canettis Begriffsbildung als Muster dienen. Freuds Masse ist durch eine quasi-familiale Bindung aller Individuen, aus denen sich die Masse zusammensetzt, an die gleiche symbolische Vater-Figur (Monarch, Führer, Gott) gekennzeichnet (Abb. 1). Wie seine Modelle Armee und Kirche zeigen, denkt er an über lange Zeiträume 39 Die Ablehnung des »Volks«-Begriffs kann auch rein philosophisch begründet werden: Man unterstellt dem Begriff dann eine metaphysische und konkret naturalisierende Implikation – Volk setze eine prädiskursive holistische Substanz voraus. Das trifft empirisch für das Plebs-Volk meistens nicht zu. Wie sagte Brecht? »Außerdem wünscht das Volk nicht tümlich zu sein.« (Berliner und Frankfurter Ausgabe, Bd. 23, 556; Allerdings entschieden sich die Herausgeber im Gegensatz zur früheren Suhrkampausgabe dazu, diesen Abschnitt wegen doppelten Quellenskripts nur im Kommentar zu zitieren.) Oder ausführlicher: »Der Begriff volkstümlich selber ist nicht allzu volkstümlich. Es ist nicht realistisch, dies zu glauben. Eine ganze Reihe von ›Tümlichkeiten‹ müssen mit Vorsicht betrachtet werden. Man denke nur an Brauchtum, Königstum, Heiligtum […].« Dennoch solle der Begriff Volk in der Bedeutung »die Masse der Produzierenden« Richtschnur bleiben (Berliner und Frankfurter Ausgabe, Bd. 22.1., 407). 40 Im Sinne von Baudrillard, Les stratégies fatales.

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Multitude vs. Bevölkerung / Population

stabile, im Fall der katholischen Kirche jahrtausendelange Kollektive. Obwohl Freud eingangs auch an die seinerzeit modisch omnipräsente Massentheorie von Le Bon anknüpft, spielt dessen dynamische Sicht auf das kurzzeitige Ereignis einer Massenbildung und ihrer Proliferation (mit dem Musterfall moderner Revolutionen als Volksaufständen) bei ihm keine konzeptuelle Rolle. Sartres Modell der »Serie« (mit der Konnotation einer mathematischen »Reihe«) erweckt die Vorstellung von Eindimensionalität wie in seinem Beispiel einer Warteschlange41. Es erscheint der atomisierten Masse inadäquat, die vielmehr besser durch das dreidimensionale Modell eines Krugs voller durcheinandergeschüttelter Kügelchen symbolisiert wird. Ein solcher dreidimensionaler Container dient bekanntlich der mathematischen Statistik als Modell zur Illustration von Wahrscheinlichkeiten (mittels verschiedenfarbiger Kügelchen). Falls die Kügelchen menschliche Individuen symbolisieren, simuliert der Krug eine statistische »Population«.

Abb. 1: Sigmund Freud, Studienausgabe, Bd. 9, 108

2.6 Multitude vs. Bevölkerung / Population Brecht schlug im Zuge seiner Polemik gegen den »völkischen«, also rassistischen Volks-Begriff des Dritten Reiches (eine »puristische« Radikalisierung des Nation-Volks42) vor, statt dessen einfach »Bevölkerung« zu sagen. Wie bei der Multitude sollte dieser Signifikant die Pluralität implizieren. Allerdings umfasst die Bevölkerung eines Territoriums alle Klassen (die für Brecht ja nicht infrage standen) und damit also auch die Klassen diesseits und jenseits des Ant­ agonismus (der für Brecht ebenfalls evident gegeben war). Diese Aporie wird noch deutlicher, wenn man die lateinisch-romanische Version der »Population« einbezieht: Dieser Terminus wurde bekanntlich von der (normalistischen) Be­ völkerungsstatistik als Fachterminus adoptiert, der eine statistische Masse (»Grundgesamtheit«) bezeichnet, deren Verteilungs- und Streuungsstrukturen es zu analysieren gilt. Die Elemente der Population sind per definitionem unter Abstraktion von möglichen »qualitativen« Eigenschaften konstituiert, also als 41 Jean-Paul Sartre, Critique de la raison dialectique, T. 1 Théorie des ensembles pratiques, Paris 1960, 308 ff. Dazu ausf. KS 9. 42 Aktueller Musterfall Pegida: »Wir sind das (reine, nicht islamisierte) Volk«.

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qualitativ gleichwertige, aber je autonome, in der Bedeutung von frei-bewegliche, un-gebundene »Atome« in »freier Durchschüttelbarkeit«, deren Eigenschaften vergleichend gemessen werden können. Dieses Modell der »freien Durchschüttelbarkeit« liegt insbesondere auch dem Normalismus zugrunde; es spielt also für die weiteren Überlegungen eine bedeutende Rolle. Da die Population von »Qualitäten« abstrahiert, abstrahiert sie dementsprechend auch von allen irreduziblen »Singularitäten« sowie von allen denkbaren oder unterstellbaren »Antagonismen«.

2.7 Multitude: ein operatives oder ein sem-dialektisches Konzept? Die Liste alternativer Begriffe für potentiell antagonistische As-Sociationen werden auch unabhängig von ihrer Beurteilung bei Negri und Hardt im weiteren Verlauf dieser Studie eine Rolle spielen, etwa bei Phänomenen wie Popu­lismus (Kapitel 20). Wenn dabei nicht auf den Begriff der Masse verzichtet werden kann, dann sowohl wegen seiner Neutralität bezüglich eines möglichen Antagonismus wie wegen seiner Doppelfunktion zur Bezeichnung sowohl objektiver historischer Dynamiken wie subjektiver Wir-Aktionen. Das Konzept Multitude stellt sich dann als das einer spezifischen Masse dar, die sich aus einer objektiven Lage heraus (als globales Prekariat immaterieller bzw. biopolitischer Produktion) bildet und notwendig zum subjektiven kollektiven Akteur (agent), zu einer historischen Aktionsmasse, zu einem Wir-Subjekt, wird. Wie ist diese Notwendigkeit gedacht? Zwecks Beurteilung gilt es nicht zuletzt, den (weitgehend impliziten) Antagonismusbegriff zu berücksichtigen. Offenbar soll der zwischen Multitude und Empire (globaler Aristokratie)  herrschende Antagonismus die revolutionäre Prognose begründen. Zu prüfen ist die implizierte Notwendigkeit, was durch die Operativierung des Antagonismusbegriffs mittels des Normalismuskonzepts versucht werden soll. Als Fazit wird sich erweisen: Bei dem Konzept der Multitude handelt es sich um ein Kombinat von operativer Strukturanalyse und semdialektischen (dazu Kapitel 5) Komponenten, die vor allem in der historischen Dimension und insbesondere in deren prognostischen Elementen eine wichtige Rolle spielen.

KS 2 (Nicht) normale Fahrten und Antagonismus: Beispiele eines literarischen Faszinationstyps als Kontext-Supplemente In mehreren der folgenden Kontext-Supplemente (KS) wird die literarische Arbeit an Antagonismen thematisiert. Die entsprechenden Romane erweisen sich dabei als eine besondere Spielart des Faszinationstyps der »(nicht) normalen

KS (Nicht) normale Fahrten und Antagonismus

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Fahrt«, eines basalen Narrativs in der Moderne, das sich im Kontext des Normalismus entwickelte43. Für alle erzählenden Künste war die Emergenz des Normalismus in mehrfacher Hinsicht ein epochaler Einschnitt: – Es entstand ein neuer Typ des Protagonisten: der »Normalmensch« als statistisch begründeter Massenmensch, sowie sein Gegensatz, der »Anormale«. – Es entwickelte sich eine neue Kollektivsymbolik der »Lebensreise«, und zwar typischerweise in technischen Vehikeln (Eisenbahn, Auto, Motorrad)  und innerhalb des modernen Massenverkehrs. – Es entstand ein neuer Typ von Narrativ, die normalistische Fallgeschichte, die zuerst in Medizin und Psychiatrie entwickelt wurde, insbesondere über »anormale« Individuen. – Es entstand ein neuer Typ von »realistischer« Erzählung: das Epos einer Denormalisierung, als Spielart der realistischen Katabasis (Niedergang, im Sinne einer Desillusionierung durch ›harte Realität ganz unten‹). – Es entstanden neue Formen der Perspektive: Ich-Erzählungen »normaler« oder »anormaler« Protagonisten mit den entsprechenden Sprachformen von Jargons und Slangs. Die Kombination dieser aus dem Normalismus entspringenden neuen Verfahren generierte den Faszinationstyp der »(nicht) normalen Fahrt«. Idealtypisch ist das die Kombination von Fahrten in technischen Vehikeln mit der Geschichte einer großen Denormalisierung. Die Fahrt beginnt in der Normalität und »weicht« dann schrittweise oder plötzlich »ab« (de-viance) in die Anormalität. Die Fahrt ist idealtypisch die (Auto-)Biografie. Protagonisten sind Normalmenschen, dominante Probleme sind die normalistischen Komplexe: Sexualität und ihre »Abweichungen«, Kriminalität, Psychopathologie, Sucht, Wahnsinn, ­Suizid. Auf der Ebene des symbolischen Vehikels entspricht der Denormalisierung symbolisch der Unfall, der Crash. Der Unfall symbolisiert darüber hinaus den Zufall, die Kontingenz, als typisch normalistische Form der narrativen Verkettung. So entsteht eine a-teleologische und an-entelechische Narration. Nahezu idealtypisch verwirklicht ist dieser Faszinationstyp in Louis-Ferdinand Célines Roman Voyage au bout de la nuit (1932). Der Held ist ein Arzt, der beruflich mit verschiedenen Anormalitäten zu tun hat, und dessen Leben immer wieder scheinbar zufällig mit dem eines Kriminellen verbunden wird. Die Reise der Denormalisierung geht durch viele Länder, darunter Afrika und die USA , und endet mit einem Mord im Auto im Pariser Massenverkehr. Es handelt sich um eine Icherzählung des Protagonisten in »coolem«, zynischem

43 S. Verf., Artikel »Normalismus«, in: Roland Borgards u. a. (Hg.), Literatur und Wissen. Ein interdisziplinäres Handbuch, Stuttgart / Weimar 2013, 203–207.

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Multitude« als Symptom

Slang-Ton. Céline war ein wichtiges Modell für Jack Kerouacs On the Road (1957), das wiederum das Genre der Road Stories und Road Movies inspirierte. Hier zeigt sich die enge Symbiose zwischen E- und U-Kultur, die für alle normalistischen Narrative typisch ist. Einzelne Motive der (nicht) normalen Fahrt wie wilde Auto- und Motorradfahrten, darunter Verfolgungsjagden, mit Sackgassen, Verirren und Unfällen, sind – in Kombination mit Kriminalität, Psychopathologie und anderen Anormalitäten – typische Komponenten der populären, »trivialen« Massenkultur. Dabei hat der Film längst eine größere Wirkung als die Literatur. Exemplarisch sei Henri-Georges Clouzots Le salaire de la peur (mit Yves Montand: Frankreich 1953) erwähnt, in dem es um eine ständig von tödlicher Explosion bedrohte Fahrt über abenteuerliche Wege in Verbindung mit der Psychologie von vier nicht-normalen Protagonisten geht. Die große Explosion wird zwar vermieden, aber dennoch kommen alle vier durch teils kontingente Unfälle zu Tode. Nur in einer Teilmenge der (nicht) normalen Fahrten geht es zusätzlich um Antagonismen. In den folgenden Kontext-Supplementen werden exemplarische Texte unter den Aspekten der jeweiligen Kapitel in kurzen Essays analysiert (von Sibylle Berg, Thomas Bernhard, Albert Camus, Martin Heidegger, Michel Houellebecq, Stephen King, J. M. Gustave Le Clézio, Jonathan Littell, Gary Shteyngart). Da ein historischer Antagonismus notwendig massenhafte Kollisionen, typischerweise in Kriegen und Bürgerkriegen bzw. Revolutionen, impliziert, erfüllt die Biographie einer individuellen Denormalisierung als solche noch nicht diese Bedingung. Es geht also um die Kombination von Denormalisierung und Massendynamik, typischerweise erzielt mittels Narremen44 der Proliferation: also massenhafte Infektion, Epidemie, einschließlich diskursiver Epidemien. Der klassische Text solch antagonistischer Zuspitzung von Denormalisierung ist Die Pest von Albert Camus (s. u. Kapitel KS 12). Auch in Célines Reise ans Ende der Nacht45 beginnt die Geschichte der irreversiblen Denormalisierung mit einer Ansteckung: Der Icherzähler sitzt im August 1914 in einem Pariser Straßencafé, als eine Truppe von Kriegsfreiwilligen vorbeimarschiert, die ihn mit ihrem Nationalismus ansteckt, so dass er ihnen folgt: in den Krieg und in eine Kaskade von Antagonismen der Nachkriegszeit (Kolonialismus in Afrika, Einwanderung und Fließbandausbeutung in den USA , medizinische und psychiatrische Kliniken, Sex und proletarisches Elend in Paris). Scheinbar völlig kontingent werden proto-normalistische »Fälle« (lauter isolierte normalistische ›Kügelchen‹) gereiht, die aber in der objektivistischen Perspektive des Berichtenden den Effekt des Kalt-Absurden und der »Indifferenz« (Peter

44 Als Narrem sei die kleinste Einheit einer narrativen Fabel bezeichnet (z. B. eine Kopulation oder ein Mord). 45 Dazu die ausführliche Darstellung in Versuch, 311–318.

KS (Nicht) normale Fahrten und Antagonismus

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Zima46; Jean Baudrillard47) zeitigen (Inspirationsquelle des Existanzialismus). Überall drängen sich epidemische, darunter paranoide Proliferationen auf. Célines Ausgangssituation im Straßencafé liest sich als Alltag im Frieden (elementare Kultur) und darüber hinaus als Normalität. In der elementaren Kultur herrschen Entdifferenzierung und Interdiskurs, die ironisierten (medizinischen usw.) Spezialdiskurse sind in dieser Normalität weitgehend suspendiert. Die folgenden Beispiele antagonistischer (nicht) normaler Fahrten umfassen neben einigen Prototypen wie Camus, Littell und Thomas Bernhard vor allem aktuelle Reaktionen auf die postmoderne Lage und ihre Denormalisierungskrisen. Dabei geht es um prognostische Simulationen im nahen Zukunftshorizont zwischen einem Jahrzehnt und einer Generation. Darüber hinausgehende Zukunftshorizonte, die sich notwendig mit SF -Elementen kombinieren, bleiben wegen ihrer utopischen (bzw. dystopisch-apokalyptischen, fatalen) Basis außer Betracht, obwohl sie meistens aktuelle Normalitäten und Antagonismen extrapolieren (Gesellschaft aus flexiblen Normalmonaden, flexiblen Paaren und flexibel-normalen Familien, Antagonismus zwischen Diktatur und Demokratie). Der Zeitsprung über die Reichweite »realistischer« normalistischer Prognostik mythisiert die SF - und apokalyptischen Narrative und reduziert ihr Applikationspotential (neben dem bloß spielerischer Unterhaltung) auf Frühwarnungen mit dem Ziel gesteigerter Bereitschaft für Normalisierung. Wie die folgenden Beispiele zeigen, endet die (nicht) normale Fahrt typischerweise mit dem Ausbruch von Antagonismen ohne Simulation eines post-ant­ agonistischen Zustands. Wie schon beim Prototyp Céline dominieren kynischironische oder existenzialistische Töne. Die konkreten Antagonismen sind vor allem die digitalkulturellen, ökologischen, politisch-»populistischen« und die zwischen den globalen Normalitätsklassen. Die realistische Fiktion des nahen Zeithorizonts schöpft ihre Situationen und Narrative notwendigerweise aus pragmatischen prognostischen Simulationen vor allem des medialen Interdiskurses (teilweise gestützt auf spezialdiskursive Prognosen). Die (nicht) normalen Fahrten münden auf diese Weise in einen spezifischen Typ interdiskursiver Simulation, der pragmatische Simulation mit Spielarten ästhetischer Simulation kombiniert48. 46 Peter Zima, Der gleichgültige Held. Textsoziologische Untersuchungen über Camus,­ Moravia und Sartre, Stuttgart 1983 (kurz: Der gleichgültige Held). 47 Jean Baudrillard, Le paroxyste indifférent, Paris 1997 (mit Verweisen auf frühere Publikationen). 48 Jean Baudrillard hat die Postmoderne als Kultur der »Simulation« beschrieben, wobei er operative Analyse (in Wirtschaft, Politik und Militär entsteht eine »Hyperrealität« durch die »Implementierung« [technische Applikation] vorgängiger digitaler Simulationen) mit semsynthetisch-geschichtsphilosophischer Spekulation kombiniert: L’échange symbolique et la mort, Paris 1976, 110 ff. Vgl. auch Claus-Artur Scheier, Ästhetik der Simulation, Hamburg 2000.

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Multitude« als Symptom

Eine Teilmenge solch aktueller Simulationen antagonistischer Denormalisierung kombiniert den realistischen nahen Zeithorizont mit mythischen Narrativen (etwa pararealistischen, ›transzendent‹ paranoiden Horrorwelten der Popkultur wie bei Stephen King). Dabei erfüllt das Kippen einer realistischen Simulation in die pararealistische Transzendenz die Funktion der Verfremdung von Denormalisierung und Antagonismus mit dem Effekt der Stabilisierung von Unsagbarkeit und Unwissbarkeit. Ein auffallend dominantes mythisches Motiv ist die Zombiemasse (wie auch in Thomas Pynchons 9/11-Roman Bleeding Edge und bereits in Vineland; Dietmar Dath mythisiert den klassischen marxschen Antagonismus als Kampf gegen Zombiemassen: Für immer in Honig, 2008). Symptomatisch ist die Applikation dieses antagonistischen Mythos in der medialen Narrativierung der Krise von 2007 ff.: Die letzten Phasen 9 und 10 der Krise erscheinen darin als die Phasen der Zombifizierung des noch nicht normalisierten Sektors (Zombie-Banken und Zombie-Unternehmen; dazu Abschnitt 19.4).

3. Fundamentale Strukturen moderner Gesellschaften: extremer Spezialismus, Kopplung zwischen Spezialdiskursen (Interdiskurse) und das Verhältnis Spezialismus / Macht Wie bereits in der Einleitung signalisiert, wird das Normalismuskonzept in den folgenden Überlegungen in einem weiteren Rahmen entwickelt, der durch die Kategorien Spezialismus, Interdiskurs und Zyklologie gekennzeichnet ist, und dabei gleichzeitig spezifiziert, erweitert und aktualisiert. Dabei wird das andernorts entwickelte diskurstheoretische und genauer interdiskurstheoretische Instrumentarium je nach konkreter Fragestellung punktuell rekapituliert und spezifiziert. Allerdings müssen einige basale Elemente zuvor in Erinnerung gerufen werden.

3.1 Spezialismus, Spezialpraktiken und Spezialdiskurse Dazu gehört zunächst das Element des gesellschaftlichen Spezialismus, der sich seit spätestens der Zeit der altorientalischen Kulturen (in der klassischen Soziologie unter dem Begriff der »Arbeitsteilung«) entwickelte und in der westlichen Moderne eine unübersehbare Dominanz erreichte. Ob als Arbeitsteilung, Rollenpluralität oder systemische funktionale Differenzierung gefasst, besteht über die fundamentale Bedeutung gesellschaftlicher Spezialisierung zwischen aktuellen hegemonialen und nichthegemonialen Theorien kein Dissens. Die folgende Untersuchung spricht von Spezialdiskursen und Spezialpraktiken. Diese Terminologie geht von Michel Foucaults Begriffen Diskurs und Dispositiv aus. In einer Art faktischer Konkurrenz zur Diskurstheorie Foucaults und ihren Anschlusstheorien hat Niklas Luhmann die früheren teils soziologischen (etwa Talcott Parsons), teils biologischen Systemtheorien unter den Kategorien Kommunikation, operative Schließung, Autopoiesis, Kommunikationsmedium und Code originell eng- und weitergeführt49. Im Unterschied zu Foucaults Diskurstheorie umfasst Luhmanns Theorie die Mehrzahl der soziologischen und kulturellen Spezialfelder (Wissenschaft, Wirtschaft, Recht, Politik, Religion, Kunst usw., mit weiteren Unterteilungen), gliedert dafür umgekehrt jedoch gröber in

49 Die folgenden Belege, soweit nicht anders angegeben, nach Niklas Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, Frankfurt / Main 1997.

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Fundamentale Strukturen moderner Gesellschaften 

spezielle Teilsysteme50. So umfasst das Teilsystem Wissenschaft enorm viele Spezial- und Interdiskurse. Die im folgenden verwendete, frei an Foucault anschließende Interdiskurstheorie wird schrittweise und je problembezogen näher expliziert. Wie die Präposition »inter« andeutet, geht es dabei um die Kombination von Spezialdiskursen, wofür der Terminus Kopplung benutzt wird51. Von Kopplung spricht auch Luhmann, und eine Abgrenzung kann zur Verdeutlichung dienen. Luhmann unterscheidet »operative«, entweder »lose« oder »strikte Kopplung« von »struktureller Kopplung«. Die »operative« bezieht sich auf einen eher banalen Sachverhalt, und ist eigentlich synonym mit Kombination52 (so etwa die »lose gekoppelte Menge solcher Wörter, die dann ihrerseits zu strikt gekoppelten Formen, nämlich Sätzen, verknüpft werden«53). Die »strukturelle Kopplung« begegnet in zwei Spielarten: zwischen dem Gesellschaftssystem insgesamt und seiner Umwelt (dabei ist der wichtigste Fall die Kopplung zwischen Gesellschaft und psychischen Systemen bzw. dem Bewusstsein von Personen54) und zwischen einem speziellen ausdifferenzierten Teilsystem, etwa der Politik, und dessen »gesellschaftsinterner Umwelt«, etwa der Wirtschaft55. Vom ersten Typ der strukturellen Kopplung übernimmt der zweite die Unfähigkeit, Informationen aus der Umwelt zu entnehmen. Die strukturelle Kopplung macht 50 Die Subsumtion von Foucault und Luhmann unter der Kategorie des Spezialismus folgt einem sozusagen panoramatischen Blick und diskutiert also nicht die luhmannsche Epistemologie mit ihrer Unterscheidung zwischen Spezialisierung (Differenzierung) allgemein und der Sonderstellung »operativ geschlossenener funktional ausdifferenzierter autopoietischer Teilsysteme«. Deren dominante Funktion in modernen Gesellschaften wird aber als empirische spezialistische Gegebenheit auch in dieser Studie vorausgesetzt. Kurios ist der Umstand, dass Luhmann – obwohl ganz sicher bestens informiert über Foucaults Theorie – sich häufig auf Bachelard, Derrida, Paul de Man, Lyotard, Bourdieu, Serres, Girard, ja sogar Deleuze bezieht, Foucault aber zu scheuen scheint. Wie ein Alibi wirkt Fußnote 55 (629), die Foucault lakonisch als speziellen Historiker von »Pathologien« erwähnt. Insbesondere lässt Luhmann die foucaultsche Fassung des Diskurs-Begriffs (er erwähnt nur den habermasschen, in leicht ironischem Licht) und den Dispositiv-Begriff links liegen, kanzelt sie füglich aber auch nicht ab. (Stopp! Es gibt noch eine Fußnote [934, Fußn. 114], in der allerdings die Fehllektüre der Historisierung »des Menschen« übernommen und lakonisch ironisiert wird.) 51 Zu verschiedenen historischen Formen der Kopplung zwischen (kapitalistischer) Ökonomie und sowohl Politik wie Sozialordnung vgl. Tino Heim, Metamorphosen des Kapitals. Kapitalistische Vergesellschaftung und Perspektiven einer kritischen Sozialwissenschaft nach Marx, Foucault und Bourdieu, Bielefeld 2013, 313–429. Mitteldauernd relativ stabile Formen solcher Kopplung werden auch als »Regulationen« (des Kapitalismus) bezeichnet (etwa: »Fordismus«, »Neoliberalismus«). Ähnlich wie die vorliegende Studie, die von Praktiken-Diskursen (jeweils Spezial- und Inter-) handelt, kombiniert Heim einen diskurstheoretischen Ansatz nach Foucault mit einem praxeologischen nach Bourdieu. 52 »Lose Kopplung von Elementen […], auf der einen Seite und feste Kopplung temporärer Art, also Formen von Kombination […] auf der anderen Seite.« (356) 53 220 54 103. 55 776 ff., besonders 781 ff.

Spezialismus, Spezialpraktiken und Spezialdiskurse

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sich nur in je systeminternen »Irritationen« bemerkbar56. Konsequenterweise wird »Integration« zwischen Teilsystemen abgelehnt57. Luhmanns Verständnis von struktureller Kopplung schwankt demgemäß zwischen dem theoretischen Axiom von Teilsystemen als füreinander fensterlosen Monaden und der praktischen Arbeit mit quasi kombinatorischen Relationen zwischen Teilsystemen (etwa »Kopplung von Politik und Wirtschaft […] durch Steuern und Abgaben«58). Die zweite Verwendung nähert sich dem Konzept des Inter­diskurses bzw. der Interpraxis59. Eine bekannte Folge der Spezialisierung ist die enorm mächtige Stellung der Experten bzw. »Technokraten« mit ihren speziellen Wissensmonopolen. Auch dabei spielt der Normalismus eine wichtige, häufig übersehene Rolle. Experten können als das jeweilige Definitions- und Entscheidungspersonal eines Spezialpraxis-Spezialdiskurses bestimmt werden. Sie stehen der jeweiligen Masse von »Laien« des entsprechenden Spezialdiskurses gegenüber. Die Experten sind also Träger eines Wissensmonopols, und jedes Monopol ist gleichbedeutend mit einer Kumulation von Macht. Während Luhmann die Macht als ein besonderes spezielles »Medium« betrachtet, das er hauptsächlich im politischen Teilsystem platziert, ist Macht, Foucault zufolge, wie unter 3.3 genauer ausgeführt wird, in allen Spezialpraktiken-Spezialdiskursen das Resultat von »Dispositiven«, in denen Disponierende (Experten) mit Disponierten (Laien) verknüpft sind, wobei beide Seiten Machteffekte produzieren60. Der Normalismus betrifft Experten und Laien verschiedener Spezialitäten wie Richter und Sträflinge, Ärzte und Patienten, Lehrer und Schüler, Medienproduzenten und Medienkonsumenten oder Ingenieure bzw. Manager und Arbeiter. Normalismus ist demnach keine spezialdiskursive, sondern eine interdiskursive Struktur: der Verdatung, der Kontrolle und der Regulierung mit dem Ziel der Produktion und Reproduktion von Normalitäten (Normalisierungen).61 56 789 ff. 57 778 f. 58 781. 59 Denn interpraktische-interdiskursive Kopplungen setzen keinerlei gesamtgesellschaftliche Integration voraus, wie Luhmann es (zurecht) an Parsons kritisiert. Es handelt sich um Dispositive, die je partiell zwischen zwei oder mehr Spezialpraktiken-Spezialdiskursen installiert sind und sich parallel mit deren zyklischer Reproduktion zyklisch reproduzieren. Luhmanns Beispiel der Steuern ist ein klassischer Fall eines solchen Kopplungsdispositivs zwischen Wirtschaft und Politik, ein anderes wäre die Staatsschuld. Der Normalismus ist ein ganzes Dispositiv-Netz, das eine Vielzahl (doch keineswegs die Gesamtheit) der modernen Spezialpraktiken-Spezialdiskurse koppelt. 60 S. Verf., »Dispositiv und Interdiskurs. Mit Überlegungen zum ›Dreieck‹ Foucault  – Bourdieu – Luhmann«, in: Clemens Kammler / Rolf Parr (Hg.), Foucault in den Kulturwissenschaften. Eine Bestandsaufnahme, Heidelberg 2007, 219–238. 61 Näheres ausf. in den Kapiteln 10–14, die auch direkt im Anschluss an dieses Kapitel 3 gelesen werden können.

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Fundamentale Strukturen moderner Gesellschaften 

Normalistische Verdatung setzt spezielle Datenfelder, technisch »Dimensionen« genannt, voraus: Um eine Massenverteilung und deren Struktur (also Spreizungen, Durchschnitte, Nähe zur Normalverteilung – schließlich Normalspektren und Normalitätsgrenzen) bestimmen zu können, müssen die Daten systematisch in einem speziellen Feld, das deshalb »Normalfeld« heißen soll, erhoben werden. »Leistung« ist etwas anderes als »sexuelle Befriedigung«, Fertilität (Geburtenhäufigkeit) etwas anderes als Einkommen. Die populäre Warnung davor, »Äpfel mit Birnen zu vergleichen«, illustriert sehr schön die Bedingung von Spezialismus für Normalismus. Tatsächlich hätte Darwins Vetter Francis G ­ alton, einer der wichtigsten Diskursbegründer des Normalismus (s. u. Abschnitt 15.4– 15.7), die Herstellung einer Quasi-Normalverteilung auch an diesen Beispielen erklären können: Legen wir die Äpfel eines massenhaft tragenden Baums nach ihrem Durchmesser einzeln in eine Reihe von klein nach groß, so wird der mittlere Wert (»Median«) so liegen, dass rechts und links von ihm exakt gleich viele Exemplare zu liegen kommen, wobei die jeweilige Anzahl einer bestimmten Größe grob gesehen in Richtung beider Extreme abnimmt (bis zuletzt eventuell nur noch eins übrig ist). Es ist evident, dass eine Mischung mit Birnen unsinnig wäre, dass die Früchte eines Birnbaums vielmehr eine eigene separate Verteilung erfordern würden. Jedes Normalfeld setzt also die Homogenität seiner Massenelemente als notwendige Bedingung zwingend voraus; nur durch die Homogenität einer Spezialität ist die Vergleichbarkeit garantiert  – andernfalls würden eben »Äpfel mit Birnen« verglichen. Diese Bedingung ist bei vielen gesellschaftlich enorm »machtvollen« Normalfeldern keineswegs so unproblematisch wie bei Äpfeln und Birnen. Besonders prekär ist die Homogenität von Normalfeldern wie »Leistung«62, »Lebensstandard«, »politische Normalität« und »Intelligenz«. Es zeigt sich, dass Normalfelder mit komplexen und nur indirekt messbaren Massenobjekten (wie typischerweise »Intelligenz«) erst das Resultat einer »sophistizierten« (sophisticated)  normalistischen Produktion sein können. Diese Produktion beruht auf statistischen Verfahren, die sich teilweise einem methodischen Zirkelschluss verdanken. Man setzt voraus, dass es ein Massenobjekt gibt, das homogen und zufallsverteilt ist – dann muss es konsequenterweise annähernd normalverteilt sein. Daraufhin ändert man sowohl die Definition des Objekts wie die »Messbatterien« so lange, bis man eine annähernde Normalverteilung zu sehen glaubt. Bei diesem Verfahren muss man sehr viel »ausklammern«: sowohl mutmaßliche »Eigenschaften« des Objekts wie sogenannte »Ausreißer« in den Daten. Im Laufe der aktuellen Krise von 2007 ff. verbreitete sich die Überzeugung, dass z. B. die Existenz eines Normalfeldes der Aktienpreise und ihrer

62 Dazu Nina Verheyen, Die Erfindung der Leistung, Berlin 2018 (und die dort verarbeitete Literatur).

Spezialdiskurse und Interdiskurse

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Bewegungen mit keineswegs »ideologischen«, sondern sehr gut wissenschaftlich begründeten Einwänden grundsätzlich bestritten werden kann (Problem der »schwarzen Schwäne«63).

3.2 Spezialdiskurse und Interdiskurse – (inter)diskursive Positionen Nun lässt sich der Prozess der diskursiven Produktion und Reproduktion keineswegs allein von der Tendenz zur Spezialisierung her begreifen. Neben der stets zunehmenden Tendenz zur Spezialisierung und Differenzierung existiert eine gegenläufige, entdifferenzierende, partiell reintegrierende Tendenz der Wissensproduktion, die ich in Systematisierung foucaultscher Hinweise die interdiskursive64 nenne. Auf einer zunächst elementaren Ebene lassen sich in allen wissensgeteilten Bereichen, bis hin zu den eigentlichen Spezialdiskursen, eine Fülle von Diskursparzellen beobachten, die mehreren Wissensbereichen und darüber hinaus dem sog. Alltagswissen (dem Elementardiskurs), gemeinsam sind. Zu solchen Wissenskomplexen mit spezialdiskursübergreifender Verwendbarkeit gehören neben tragenden Grundbegriffen etwa Exempel, symbolische Modelle, Analogien, systematische und narrative Schemata. Während die Normalität (und Anormalität) in Spezialdiskursen wie Medizin und Psychologie operativ definiert wird, sind etwa »politische Normalität« oder »religiöse Normalität« interdiskursive Querschnittbegriffe, die psychologische Konnotate einschließen, aber ebenso soziologische und vor allem elementar-kulturelle (Konnotationen von »Alltag«). Typisch für Interdiskurse ist eine konstitutive Rolle von Kollektivsymbolen wie im Fall der Normalität solche homöostatischer Körper und Maschinen (Gleichgewicht, Autofahrt bei grüner Ampel vs. durch Nebel usw.). Diese gegen die Tendenz zur Wissensspezialisierung gegenläufige, entdifferenzierende, partiell reintegrierende Tendenz der Wissensproduktion führt also zur paradoxen Konstitution eigener Diskurse, deren Spezialität sozusagen die Nicht-Spezialität ist und die ich Interdiskurse zu nennen vorgeschlagen habe65. Bekannte Bei 63 Nassim Nicholas Taleb, The Black Swan. The Impact of the Highly Improbable, London 2008. 64 Ich definiere »interdiskursiv« also (wie Foucault) bezüglich der ›horizontalen‹ Achse der Wissensteilung. Ein Beispiel wäre die »Fairness zwischen den Geschlechtern« als Kombinat aus Sport und Sozialpolitik. Anders und gerade umgekehrt meint der Begriff des »interdiscours« bei Michel Pêcheux eine Interferenz auf der ›vertikalen‹ Achse (Les vérités de La Palice, Paris 1975). 65 Vgl. Verf., »Literaturanalyse als Interdiskursanalyse. Am Beispiel des Ursprungs lite­ rarischer Symbolik in der Kollektivsymbolik«, in: Jürgen Fohrmann / Harro Müller (Hg.): Diskurstheorien und Literaturwissenschaft, Frankfurt / Main 1988, 284–307.

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Fundamentale Strukturen moderner Gesellschaften 

spiele sind Populärreligion, Populärphilosophie, Populärgeschichte, Pädagogik, Publizistik, Konversation (heute Talkshows), Kunst und Literatur, später dann Popu­lärwissenschaft, Mediopolitik und Mediounterhaltung. Offensichtlich können moderne differenziert-spezialistische Kulturen sich nicht ausschließlich auf spezielle Wissensbereiche beschränken, sondern benötigen zu ihrer Reproduktion zusätzlich umgekehrt als eine Art Korrelat bzw. Kompensation immer auch reintegrierende Wissensbereiche, die zwischen den Spezialitäten vermitteln und ›Brücken schlagen‹. Diese reintegrierenden Wissensbereiche oder Interdiskurse sind nicht etwa als wirkliche Totalisierungen von Spezialwissen misszuverstehen. Solche Totalisierungen, wie sie die Humboldts oder Hegel und die Bildungsidealisten sich noch vorstellen konnten, sind heute schlicht unmöglich. Die wesentliche Funktion von Interdiskursen besteht demnach nicht in professionellen Wissenskombinaten, sondern in selektiv-symbolischen, exemplarisch-symbolischen, also immer ganz fragmentarischen und stark imaginären Brückenschlägen über Spezialgrenzen hinweg für die Subjekte. Je differenzierter das moderne Wissen und je weltkonstitutiver seine technische Anwendung, um so wissensdefizitärer, wissensgespaltener, orientierungsloser und kulturell peripherer sind moderne Subjekte. Wenn Luhmanns Theorie zu implizieren scheint, daß die Ausdifferenzierung die jeweiligen Anteile der »Personen« mehr oder weniger friktionslos auf die Teilsysteme verteile, so dass es eigener symbolisch reintegrierender66 Instanzen strukturell und funktional gar nicht bedürfe, so scheint mir das wenig plausibel. In operativer Absicht sollte statt dessen grundsätzlich zwischen speziellen und symbolisch-partiell integrierenden Wissensbereichen (zwischen Spezial- und Interdiskursen) unterschieden werden (was eine Kritik an der theoretischen Gleichbehandlung beider Wissenstypen bei Luhmann impliziert: »Religion«, »Kunst«, »Massenmedien« oder gar »Liebe« wären dann wegen ihrer interdiskursiven Basis strukturell-funktional von »Wirt­ schaft«, »Wissenschaft« und »Recht« prinzipiell zu trennen67). Weil Interdiskurse also je selektives Material aus wiederum selektiv beschränkten Spezialdiskursen integrieren, sind sie so etwas wie Vehikel kultureller Subjektivitäten (Wir-Subjektivitäten). Jeder Interdiskurs bündelt bestimmte thematische »Diskursstränge« (Siegfried Jäger68) und legt dabei aktualhisto­ rische Dominanzen fest. Der Normalismus stellt einen solchen epochalen, langdauernden dominanten (hegemonialen) Diskursstrang in den modernen Interdiskursen dar. Ein solcher hegemonialer Diskursstrang ist also nahezu ›unausweichlich‹ allen Sprecherinnen vorgegeben – er lässt jedoch typischerweise 66 Nicht zu verwechseln (wozu Luhmann tendiert) mit totalisierenden! 67 Theorieimmanent erweist sich diese prinzipiell irrige Gleichbehandlung der dominant spezialdiskursgestützten und der dominant interdiskursgestützten »Teilsysteme« in den notorischen Dissensen über die »Medien« und »Codes« der letztgenannten. 68 Siegfried Jäger, Kritische Diskursanalyse. Eine Einführung, Duisburg 1999, 188–201.

Zwei leitmotivische Beispiele dieser Studie

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zwei entgegengesetzt wertende Diskurspositionen zu. So wird sich im folgenden Kapitel 4 zeigen, dass etwa Heidegger den Normalismus negativ wertet, also eine anti-normalistische Diskursposition einnimmt.

3.3 Zwei leitmotivische Beispiele dieser Studie: Schlaf und Massenstimmung Im Kontext der Krise von 2007 ff. wuchs das Interesse an jenen Normalfeldern, mit denen möglicherweise dominante Ursachen dieser Krise begriffen oder gar gemessen werden könnten. Mit normalismustheoretischen Begriffen gesagt: Es wuchs das Interesse an Normalfeldern, die Indizes oder Symptome für die gesellschaftliche Gesamtnormalität zu präsentieren schienen, so dass ihre krisenhafte Denormalisierung (Verminderung bis zum Verlust von Normalität) möglicherweise Aufschlüsse über die gesamtgesellschaftliche Denormalisierung liefern könnten. Dazu gehören allerdings gerade solche Normalfelder, deren normalistische Kartierung noch problematischer ist als die bereits hoch problematische von Normalfeldern wie »Intelligenz« und »Leistung«. Es wird sich erweisen, dass diese Schwierigkeiten großenteils auf die prekäre Spezialität des Feldes zurückzuführen sind. Das ist besonders deutlich bei dem zweiten der im folgenden zu Zwecken der Illustration leitmotivartig eingeblendeten Normalfelder: der »Stimmung«. Ein Indikator für die »subjektive« Dimension von Krisen scheint das Schwanken der Massenstimmung zwischen »Optimismus« und »Pessimismus« zu sein. Die Problematik einer Spezialität »Stimmung« erweist sich normalistisch in der Schwierigkeit, eine relevante Skala für Befragungen zu entwickeln. »Glück« erwies sich schnell als unbrauchbar, weil ausgerechnet die befragten Subjekte »objektiv« extrem elender Lagen in Ländern wie Bangla Desh sich als ausgeprochen glücklich rankten. Weitere Vorschläge für Skalen (»Stimmungsbarometer«) sind »Befindlichkeit« oder »Lebenszufriedenheit« (Sozioökonomischer Panel = SOEP). Eines der operativ stärksten »Stimmungsbarometer« ist (die schon lange etablierte)  »Kauflaune« bzw. das »Konsumklima«, das in Deutschland seit 1935, seit dem Hitlerboom, von der Gesellschaft für Konsumforschung (GfK) in Nürnberg erhoben wird69. Die »Kauflaune« als Maß für die »Stimmung« ist allerdings ein bloßes Segment des ökonomischen Spezialpraxis-Spezialdiskurses und blendet die evident wichtigen interdiskursiven Aspekte von »Stimmung« (zwischen Heidegger und Bude70) aus. 69 Zu den Gründern der GfK gehörte der spätere »Vater der sozialen Marktwirtschaft«, Ludwig Erhard. 70 Es geht hier ausschließlich um indirekt verdatbare Massenstimmungen, also nicht um die hermeneutisch zu erschließende »Stimmung« eines individuellen Kunstwerks als Evokation der Atmosphäre eines Milieus (dazu Hans Ulrich Gumbrecht, Stimmungen lesen, München 2011).

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Auch der Schlaf scheint als Segment des medizinischen Spezialpraxis-Spezial­ diskurses relativ einfach zu verdaten zu sein (etwa durch Erfassung der Schlafdauer), aber auch dabei fehlen dann die interdiskursiven Aspekte (wie verhält sich der biologische zum psychologischen und soziologischen Anteil?), die gerade für Krise und Denormalisierung (Schlafstörungen, Depressivität) entscheidend sind. Nicht nur das statistisch erfragte hohe Glücksgefühl in Bangla Desh ist im Kontext der Stimmung paradox, vielmehr auch die Kurve der »Lebenszufrieden­ heit« des Sozioökonomischen Panels für Deutschland (Abb. 271): Diese Kurve steigt nämlich seit Beginn der Krise von 2007 ff. fast ununterbrochen an und LEBENSVERHÄLTNISSE erreicht für 2017 den höchsten Wert seit der Wiedervereinigung. Unter der Fragestellung Denormalisierung und Antagonismus ergibt sich dabei eine fatale »Schere« (wachsender Hiat) im Vergleich zu Südeuropa (dazu ausführlich s. u. Abbildung 1 Kapitel 17 und 24–26).

Mittlere Lebenszufriedenheit1 in Deutschland Skala von 0 bis 10 mit 95 %-Konfidenzintervall 7,5

Fukushima Finanzkrise

Rot-Grüne Koalition

7,0 Wiedervereinigung

9/11, Afghanistankrieg Große Koalition Agenda 2010

6,5

1990 1992 1994 1996 1998 2000 2002 2004 2006 2008 2010 2012 1 Um Wiederholungsbefragungs-Effekte korrigierte Schätzung. Die Schätzung der Werte für 2013 erfolgte auf Basis eines vorläufigen Gewichtungsverfahrens (ohne die Berücksichtigung von 2013 erstmals im SOEP befragten Erwachsenen). Quellen: SOEP v30; Berechnungen des DIW Berlin.

Abb. 2: Lebenszufriedenheit in West- (o.) und Ostdeutschland (u.)

© DIW Berlin 2014

Geschichtliche beeinflussen die Lebenszufriedenheit. 71 Quelle: M.Ereignisse Priem / J. Schupp, Alle zufrieden – Lebensverhälntisse in Deutschland, korr. Version, DIW Wochenbericht Nr. 40/2014.

häufigsten? Sind Menschen in den alten Bundesländern

Republik Differen in Westd der mittl ren nach Folge der gen im O der Abst null, das heitsnive Ende der zufrieden punkte t auf.7 Seit denheite der Absta biert hat Zufriede deutschla erreicht, hohe We messen.8 gnifikan telwerte

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›Horizontale‹ Achse des Wissens und ›vertikale‹ Achse der Macht

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Die beiden leitmotivischen Beispiele wurden wegen ihres stark interdiskursi­ ven Anteils gewählt – womit sie zum einen als Symptome für problematische Grenzen des Normalismus dienen können und zum anderen in den engeren Kompetenzbereich eines Literatur-, Medien- und Interdiskursforschers fallen (dazu die Kurzessays zur Simulationsliteratur in den Kontext-Supplementen). Die Schwierigkeit der Messung stark interdiskursiver Normalfelder wie Schlaf und Stimmung ist immer gleichzeitig ein Symptom von Entdifferenzierung (Luhmann), einer typischen Krisenfolge (s. u. Kapitel 17).

3.4 ›Horizontale‹ Achse des Wissens und ›vertikale‹ Achse der Macht Die wohl wichtigste Differenz zwischen Foucaults und Luhmanns Denkansätzen betrifft den Aspekt der Macht. Bei Luhmann ist das Modell von Macht die »Personalmacht«, d. h. die Macht eines Alter über ein Ego im Sinne der Einschränkung von Egos Entscheidungsfreiheit: Es geht wesentlich um Entscheidungen. Unter modernen Verhältnissen sei Macht im politischen Teilsystem konzentriert72. Foucaults Konzept der Macht (pouvoir, mit der Konnotation von Können) unterscheidet sich in mehrfacher Hinsicht davon: Macht wird generiert durch »Dispositive« (der Modellfall ist Expertenmacht)73. Die Generierung von Macht ist stets zweidimensional: Die Macht des Disponierenden kann nur wachsen, wenn auch der Disponierte Macht gewinnt. Die politisch zentralisierte Macht (bei Luhmann dominant) ist abgeleitet und partiell. Dispositive, die nach Foucault stets molekulare Machteffekte produzieren, sind gerade nicht auf bestimmte Spezialpraktiken-Spezialdiskurse bzw. Teilsysteme beschränkt, sondern streuen horizontal quer über die Gesellschaft: Justiz / Polizei-Krimineller, Arzt-Patient, Psychiater-Neurotikerin, Pädagoge-Zögling, Manager / IngenieurArbeiter. Gegenüber dem Spezialdiskurs betont Foucaults ergänzender Begriff des Dispositivs also dreierlei: Er kombiniert das Wissen verschiedener Spezialdiskurse (z. B. Medizin, Recht und Politik im Fall des gutachtenden Experten im Strafprozess), er koppelt Diskurs und Praxis, einschließlich praktischer Apparate (z. B. Gefängnisse, Schulen, Fabriken), und er produziert Subjektivitäten mit je spezifischem Macht-Wissen (Experten-Laien). Ein Dispositiv lässt sich also als interpraktisch-interdiskursives institutionelles Element definieren. Damit orientiert sich die foucaultsche Machttheorie genau umgekehrt wie 72 Niklas Luhmann, Macht, 4. Aufl. Konstanz und München 2012 (unverändert zur 1. Aufl. Stuttgart 1975). Es handelt sich also um eine sehr kurze und skizzenhafte Theorie aus der ›vor-autopoietischen‹ Phase. 73 Dazu ausf. Andrea Bührmann / Werner Schneider, Vom Diskurs zum Dispositiv. Eine Einführung in die Dispositivanalyse, Bielefeld 2008, sowie Siegfried Jäger, Kritische Diskursanalyse. Eine Einführung, 6. vollständig überarbeitete Aufl. Münster 2012, 50–52; 112–119.

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die luhmannsche: Sie zielt nicht auf Spezialisierung (Ausdifferenzierung) eines Mediums, sondern betrachtet vertikale, souveräne bzw. juristische Machttypen als Instanzen sekundärer, oft parasitärer Zentralisierung bloß eines Teils der in den Dispositiven produzierten Macht. Da auch die Disponierten Wissen und Subjektivität produzieren, verfügen sie immer auch über Macht, die in der Regel dem Funktionieren der Institutionen dient, sie ›am Laufen hält‹, die aber auch resistent und zur Gegenmacht werden kann. Dispositive der Macht vernetzen sich historisch zu dominanten Machttypen wie der Diszipinarmacht und der Biomacht. Für beide historischen Machttypen liefert der Normalismus als Dispositivnetz der Verdatung, Kontrolle und Regulierung eine konstitutive Teilstruktur. Die Biomacht als Macht zur Stimulation und Regulierung produktiver Bevölkerungen (Populationen) setzt Verdatung, Wachstumsförderung und ggf. Um-Verteilung, also Normalismus, voraus. Sie beruht auf der Macht zahlreicher Experten dieser Funktionen.

3.5 Ein zweidimensionales Schema für Wissen und Macht Im folgenden dient ein zweidimensionales Modell der groben Orientierung: (Abb. 3)

Abb. 3: Zwei-Achsen-Schema Wissen und Macht

Ein zweidimensionales Schema für Wissen und Macht

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Das Schema beruht auf einer symbolischen (metaphorischen) Topik, einem Raumschema, das bereits eine lange, wenn auch großenteils verwirrende Geschichte besitzt. Diese Topik läßt sich am bequemsten anhand der luhmannschen Version einer soziologischen Systemtheorie erläutern. Diese Theorie kennt be­ kanntlich für die neueren Zeiten zwei fundamental verschiedene Spielarten sozialer Differenzierung: die hierarchische Stratifikation (Schichtenbildung, einschließlich Kasten-, Stände-, Klassenspaltung) und die funktionale Ausdifferenzierung. Im 18. Jahrhundert habe im Westen ein Dominanzwechsel von der ersten zur zweiten Spielart stattgefunden. Damit will Luhmann sicher nicht behaupten, daß es vor dem 18. Jahrhundert keine funktionale Differenzierung und danach keine Klassenspaltung gegeben habe und gebe74, obwohl er häufig in diesem absurden Sinne rezipiert wurde und wird. Freilich wird man es als ein Defizit der Theorie werten müssen, daß sie das synchrone Verhältnis zwischen funktionaler Differenzierung und hierarchischer Stratifikation nirgends ausführlich und prinzipiell diskutiert, zumal nur auf der Basis einer solchen expliziten Klärung der Synchronie die diachrone These vom Dominanzwechsel im 18. Jahrhundert plausibel gemacht werden könnte. Insbesondere fehlt bei Luhmann eine ausführliche und prinzipielle Darstellung des Verhältnisses zwischen Stratifikation / Funktionsdifferenzierung einerseits und Wissen / Macht anderseits. Z. B. tendiert die bereits erwähnte absurde Luhmannrezeption dazu, Macht nur der Stratifikation zuzurechnen und dann die funktionale Differenzierung als machtfrei zu behandeln75. Im Schema ist die Stratifikation (entsprechend einer uralten Tradition) als symbolisch »vertikal«, die Funktionsdifferenzierung komplementär dazu als symbolisch »horizontal« bezeichnet. Die mangelnde Klärung des Verhältnisses der zwei ›Dimensionen‹ sozialer Differenzierung ist kein Luhmannsches Spezifikum, sie geht vielmehr bis auf Rousseau, den eigentlichen ›Erfinder‹ der Problematik von »Arbeitsteilung« (also Spezialisierung, als ›Vorläufer‹-Kategorie von Funktionsdifferenzierung) und Klassenspaltung, zurück76. Insbesondere hat auch Marx das Verhältnis nicht systematisch geklärt. Offensichtlich sind zunächst alle Auffassungen irrig, die die zwei ›Dimensionen‹ bzw. ›Achsen‹ voneinander isolieren möchten: Es handelt sich stets um ein synchronisches Kombinat beider Achsen, und gerade auch im Fall unserer heutigen westlichen, modernen oder postmodernen, »demokratisch-kapitalistischen« Gesellschaften. Es ginge dann also darum, die je konkrete Struktur, Funktion und Verknüpfung der beiden Achsen in jeder konkret-historischen 74 »Mit dem Umbau von Stratifikation auf funktionale Differenzierung wird zwar die Differenzierungsform der Gesellschaft geändert, keineswegs aber Schichtung beseitigt« (usw.; 772 f.). 75 So extrem bei Norbert Bolz, Das konsumistische Manifest, München 2002. 76 Vgl. Verf., »Kulturwissenschaft, Interdiskurs, Kulturrevolution«, in: kRR 45/46 (2003), 10–23.

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Fundamentale Strukturen moderner Gesellschaften 

Kultur zu analysieren. Nicht weniger irrig aber sind auch all jene Auffassungen, die ein einseitiges Determinationsverhältnis monotoner Ableitung zwischen den Achsen postulieren – so als ob die Kultur, also das Wissen und die verschiedenen wissensgestützten Funktionen (›horizontale Achse‹), eine abhängige Variable der Klassenstruktur wäre: »bürgerliche Gesellschaft« macht »bürgerliche Kultur« incl. »bürgerliche Wissenschaft«, »bürgerliche Technik«, »bürgerliche Religion«, »bürgerliche Musik« usw. Wiederum kann erst die Analyse der je konkreten Struktur, Funktion und Verknüpfung der beiden Achsen in einer bestimmten Kultur aufweisen, was an einer Religion usw. ggf. bürgerlich ist und was nicht und durch welchen Prozess der Interferenz zwischen den beiden Achsen ein ggf. bürgerliches Element generiert wurde. Ich nehme demnach an, daß es in jeder hochkulturellen Gesellschaft Wissensteilung (›horizontal‹) und Machtteilung (›vertikal‹) gibt und daß beide zwar prinzipiell verschieden und damit auch prinzipiell voneinander unabhängig sind, daß sie aber notwendig interferieren müssen und dadurch historisch je verschiedene Kopplungen und Interdependenzen ausbilden. Es kann im Extremfall machtloses Wissen und unwissende (ignorante)  Macht geben, in der Regel generieren Wissensmonopole Macht und Machtmonopole Wissen (siehe Hegels Herrn und Knecht).

KS  3.1 (Nicht) normale Fahrt und Antagonismus:

Der Antagonismus ist nicht von dieser Welt (Stephen King, Insomnia)

Stephen King ist der Meister des neoromantischen Horrorthrillers, der wie schon in der Schwarzen Romantik auf einer narrativen Kippschaltung zwischen alltäglich-realistischer und wunderbar-pararealistischer Welt beruht. Dabei liefert ein aktualhistorischer Phäno-Antagonismus den Schaltknopf zwischen beiden Welten. In Insomnia77 ist das der in den postmodernen USA längst vor Trump tendentiell dominante Antagonismus zwischen Abtreibungsgegnern und liberalen Feministinnen. Dieser Antagonismus ist aus mehreren gebündelt, darunter aber vor allem bestimmt von dem epochentypischen zwischen Proto­ normalismus (enge und strikte Normalitätsgrenzen) vs. flexibler Normalismus (weite Toleranzengrenzen und Diversity besonders in Sex und Gender). Dieser Antagonismus also (typischerweise massengewaltbedrohlich) bricht in Kings bekannte, ultranormale Middleclassstadt Derry in Maine ein. Der Einbruch und Ausbruch ereignet sich als eskalierende Denormalisierung des Alltags. Parallel mit der Mobilisierung der beiden Parteien für eine große Demonstration, bei der es zum Clash kommen wird, breitet sich in einer normalen Nachbarschaft, 77 Stephen King, Insomnia, London 1994.

KS (Nicht) normale Fahrt und Antagonismus

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wo man in der Porch sitzt und das normale Leben beobachtet, Schlaflosigkeit aus. Opfer dieses denormalisierenden Prozesses ist auch und in erster Linie der (siebzigjährige, vor kurzem verwitwete) Protagonist, aus dessen Perspektive in inneren Monologen und erlebter Rede erzählt wird. Er wird immer früher wach, ohne wieder einschlafen zu können (die genau quantifizierten Zeiten rücken unerbittlich nach vorn). Als Konsequenz verschlechtert sich natürlich seine gesamte Lebensqualität, und Angst geht in Panik über: When things reached a certain degree of wrongness, he was discovering, they could no longer be redeemed or turned around; they just kept going wronger and wronger. […] What he had never suspected was how long that wrong road could be. (27)

Die lange Straße der (nicht) normalen Fahrt. Literatur ist Interdiskurs, und Insomnia legt die Struktur exemplarisch offen, indem sie spezialdiskursives Wissen über Schlafstörung und Schlafforschung in die Erzählung einspeist (Schlaflabor, REM-Schlaf, Träumen, Therapien zwischen Pharmaindustrie, Hausmitteln und Akupunktur; Kopplung mit Depression und Suizidgefahr). Das geschieht mit den seit Zola üblichen narrativen Verfahren: Der Held liest Bücher und wird von einem Spezialisten informiert. Die Verschlimmerung geht über zunächst kurze, dann zunehmend längere »Halluzinationen« (Wahrnehmung von »Auren«, vergleichbar mit LSD, wie es heißt) im Wachzustand. Dabei wird deutlich, dass der Antagonist, ein jüngerer Nachbar, der seine Frau immer brutaler schlägt und sich als führendes Mitglied der militanten Abtreibungsgegner herausstellt, unter der gleichen Schlaflosigkeit leidet, bloß schon länger, und sozusagen einen ›Vorsprung‹ besitzt, der ihn bereits in offensichtliche Wahnzustände und brutale Gewaltausbrüche geführt hat. Dieser Antagonist reproduziert das klassische protonormalistische Narrativ von Genie und Wahnsinn, denn es handelt sich um einen hochbegabten Chemiker in einem Spitzenforschungs-Labor. Bis dahin sind die Kippereignisse noch im Rahmen einer realen pathologischen Denormalisierung lesbar. Der irreversible Kipp in die pararealistische Horrorwelt beginnt mit der Wahrnehmung pararealistischer Wesen, die den Protagonisten in ein apokalyptisches Drama zwischen zwei transzendenten Parteien verwickeln. Dieser Strang der Narration läuft nach den trivialen Konfigurationen und Kollisionen des Horrorgenres ab. (Diese biblischen und esoterischen Mythen, also vornormalistische Interdiskurse, fungieren gegenüber der postmodernen Elementarkultur als ein weiterer Pseudo-Spezialdiskurs, der besonders bei den evangelikalen Abtreibungsgegnern im Schwange ist.) Der Antagonist plant im Auftrag der bösen Mächte, die wie Herodes das messianische Kind töten wollen, einen massenmörderischen Kamikaze-Luftangriff (eine der vielen fiktionalen Vorwegnahmen von Nine Eleven) auf die feministische Kundgebung. Der Protagonist rettet mithilfe einer ebenfalls schwer schlafkranken und bereits im transzendenten Stadium angelangten Protagonistin (Nachbarin, neue Liebe) das Kind und die

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Fundamentale Strukturen moderner Gesellschaften 

große Masse der Feministinnen, obwohl dennoch viele Opfer zu beklagen sind. Am Schluss können die Protagonisten wieder schlafen und kehrt die Stadt zur Normalität zurück (der Terminus »normal« spielt, wenn auch sicher nicht geplant, eine wichtige Rolle: besonders 431 f., 713: »slipping back down to their normal place in the scheme of things« am Schluss). Sie vergessen die Pararealität und erinnern sich nur an eine psychophysische Denormalisierung. Die »schirmartige« dunkle Todeswolke über der Stadt (473 f.) wird wieder als Symbol einer Stimmung kollektiver Depression lesbar. Damit ist die Struktur von Insomnia präzise analog zu der massenmedialen mediopolitischen Narrativierung des Antagonismus in der Postmoderne: Das Motiv eines Antagonismus ist nur als letztlich stets reversible Denormalisierung sagbar: An der Stelle des (unsagbaren) realen »Ausbruchs« eines Antagonismus steht der Kipp in ein apokalyptisches Narrativ: »Armageddon was averted« titelte CNN nach dem Lehman-Crash im Herbst 2008).

KS  3.2 »Normalität« als »natürliche« Ressource bei Luhmann Luhmanns Systemtheorie hat sich bekanntlich im Laufe ihrer Ausarbeitung in wichtigen Aspekten geändert, und nicht nur durch die von der Rezeption Maturanas stimulierte Einfügung der Autopoiesis. Eine andere Modifikation ist die in den 1990er Jahren endlich in eine nahezu kodominante Position gerückte »Sprache«78 (gegenüber dem dennoch weiter insgesamt dominanten, unscharfen »Sinn«), ferner die bis in den Interdiskurs diffundierte Privilegierung von »Inklusion / Exklusion«. Nicht geändert hat sich dagegen die Verwendung von »Normalität«, so dass das früher dazu Gesagte gültig bleibt79. Es bleibt bei der ahistorisch-panchronischen Verwendung, so dass die Emergenz der spezifisch modernen normalistischen Dispositive im toten Winkel der Aufmerksamkeit verharrt. Weder die Kennzeichnung einer Situation als »ganz normal« (221, 694, 837 und häufig) noch als »Normalfall« (827, 844, 1103, 1140) wird näher bestimmt. Wie die folgenden Kontexte zeigen, gilt als implizites Synonym so etwas wie Alltäglichkeit bzw. Störungsfreiheit (in der Terminologie dieser Studie: normal prozessierende Elementarkultur): »Alltagssituationen der normalen Lebensführung« (237), »die Normalverweisungen des täglichen Lebens, die Zwecke und Nützlichkeiten« (353), »gesellschaftliche Normalwertungen« (366), »Normalbalance von Vergessen und ausnahmsweisem Erinnern« (800), »soziale Normalität scharfer Meinungsunterschiede zwischen den Generationen« (852), »Fortschritt als Normaltrend« (1004), »Normalität und Geläufigkeit« (1018) – »Im Ergebnis 78 Die Gesellschaft der Gesellschaft, 205 ff. 79 Dazu ausführlich Versuch, 158–171.

KS »Normalität« als »natürliche« Ressource bei Luhmann

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verfällt die Gesellschaft in eine Art statistische Normaldepression« (1099; sic, J. L.). Sowohl bei der Elementarkultur (dem Alltag) wie bei den konkreten Kontexten geht es also um Interpraxis-Interdiskurs, nicht um SpezialpraktikenSpezialdiskurse, und die dankbar registrierte Normalität ist (jedenfalls in der Moderne) in Wahrheit das Resultat von Normalisierungen mittels der auf Verdatung gestützten normalistischen Dispositive. In krassem Gegensatz gegen den ansonsten statuierten radikalen Epochenbruch im Übergang zur Moderne gibt es einen solchen Bruch (im 18. Jahrhundert) für die »Normalität« bei Luhmann nicht – vielmehr geht die moderne Normalität bruchlos aus einer bereits in der Antike beobachteten Normalität hervor: Somit ist der Zusammenhang von Reichtum und Tüchtigkeit oder Geburt und Verdienst bei Aristoteles und allen, die ihm folgen, als normal [Hervorhebung N. L.] vorausgesetzt mit der Konsequenz, daß Abweichungen kenntlich und eliminierbar sind; er entspricht der Natur.80

Zwar ist diese ›Natürlichkeit‹ im Kontext kritisch negiert – aber wie verhält sich dazu die ständige Berufung auf »ganz normal« in modernen Gesellschaften? Die »Normalfälle« bei Luhmann sind, wie es scheint, immerhin deutlich unterschieden von der Normativität. Aber selbst diese Unterscheidung wird gerade in annähernd definitorischen Kontexten unscharf: Damit hängt alle Variation ab von einer vorgegebenen Semantik, vom Gedächtnis des Systems, das alle Kommunikationen darüber informiert, was bekannt und normal ist, was erwartet werden kann, und was nicht. Gerade das, was auffällt, wird also gesteuert durch schon etablierte Strukturen. Diese Voraussetzung hat um so mehr Gewicht, als sie unbemerkt wirkt. Die Einheit der Unterscheidung von erwartet / unerwartet, normal / abweichend wird nicht selbst zum Thema (470 f.).

Da diese Unterscheidung im gleichen Kontext mit »konform und abweichend« identifiziert wird, wird hier also »normal« als »konform« definiert. »Konform« aber schillert zwischen »erwartet« und »normativ«: Normalerweise entwickelt sich ein normativer Apparat zur Unterdrückung von Abweichungen (616)  – Während die älteren Gesellschaften mit einer Unterscheidung von Ethos und Verhalten, von normal-normativen [sic, J. L.] (natürlich-moralischen) Regeln und daran orientiertem (konformem oder abweichendem) Verhalten ausgekommen war [sic, J. L.], müssen die Identifikationsgesichtspunkte jetzt stärker auseinandergezogen werden […] (771) – Die einst als Natur verstandene Normativität der Moral wird mehr und mehr als faktisch übliche Verhaltensweise definiert, Normativität wird durch Normalität ersetzt, und ›uso‹, wie man jetzt [ab dem 17. Jh., J. L.] sagt, wird als zeitabhängig, als Mode gesehen (946) – diese Wende zum Nationalbewußtsein mit teils fiktiver Normalität, teils normativen Forderungen (1049). 80 Die Gesellschaft der Gesellschaft, 691.

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Fundamentale Strukturen moderner Gesellschaften 

Dieser Widerspruch zwischen der offensichtlich unumgehbaren ›Ressource‹ Normalität und dem Fehlen einer Theorie der Normalität erklärt sich aus dem Fehlen einer Theorie von Nicht-Spezialitäten (Interpraktiken-Interdiskursen). Es gibt kein ausdifferenziertes Teilsystem Normalität (auf der Basis eines Codes normal / anormal), weil Normalität in vielen Teilsystemen auftaucht und also nicht speziell ist. Dass die Normalität also wie der entwendete Brief bei Poe und Lacan offen da liegt und dennoch übersehen wird, ist Symptom der nicht gelösten Problematik der Interdiskursivität. Zu dieser Annahme passt der Umstand, dass das Konzept der »Irritation« dazu dient, eben diese Problematik zu lösen (Teilsysteme sind fensterlose Monaden füreinander, sie können einander aber wenigstens »irritieren«) – und dass »Irritation« sich sehr präzise als Denormalisierung übersetzen lässt. Der Begriff der strukturellen Kopplung erklärt schließlich auch, daß Systeme sich zwar völlig eigendeterminiert, aber im großen und ganzen doch in einer Richtung entwickeln, die von der Umwelt toleriert wird. Die Systeminnenseite der strukturellen Kopplung läßt sich mit dem Begriff der Irritation (oder Störung, oder Perturbation) bezeichnen (118).

Dieses »im großen und ganzen« ist eigentlich das größte Problem, wenn man Interdiskursivität ausschließt. Es beruht dann auf … »Normalreproduktion« (455), die durch Irritation sowohl in Gang gehalten wie gestört wird. Sehr schön heißt es über das paradoxe, gerade neu emergente Teilsystem »Protestbewegungen« (847 ff.): Mit der Form des Protestes wird sichtbar gemacht, daß die Teilnehmer zwar politischen Einfluß suchen, aber nicht auf normalen Wegen (Hervorhebung N. L.). Dies Nichtbenutzen der normalen Einflußkanäle soll zugleich zeigen, daß es sich um ein dringliches und sehr tiefgreifendes, allgemeines Anliegen handelt, das nicht auf die übliche Weise prozessiert werden kann (852 f.).

Anders gesagt: Dass es möglicherweise um einen Antagonismus gehen könnte – und dass Normalismus und Antagonismus an den Grenzen der besten hegemonialen Diskurse der Postmoderne wie Zwillingsgespenster auftauchen.

4. Was ist semsynthetisches Denken? Heidegger als Musterfall

Unter einem »Sem« sei mit Algirdas Greimas81 ein elementares semantisches Merkmal verstanden. Dementspechend können in einem sprachlichen Signifikat (»Wort«) im Kontext mehrere Seme enthalten sein und sind dort üblicherweise auch enthalten: so »weiß« in »Schnee« (nach der Probe »schneeweiß«); so »grün« in »Gras« (nach der Probe »grasgrün«); so »kalt« in »Eis« (»eiskalt«), so »rund« in »Kügelchen« = »Kugel, klein« = ›Ding, rund, klein‹ (nach der Probe ›kugelrund‹)82. Als Sem-analyse seien demnach jene strukturalen Semantiken verstanden, die (wie exemplarisch diejenige von Greimas, aber auch Teilaspekte der »Rahmenanalyse« nach Fillmore83) Wort- und Wortkomplexbedeutungen in empirischen Äußerungen natürlicher Sprachen als Kombinate oder Derivate ›atomarer‹ semantischer Einheiten zu konstruieren versuchen.

4.1 Heideggers Semsynthesen sind interdiskursiv Als Sem-Synthese sei nun das Verfahren einer je neuen Komposition von Semen bezeichnet. Es handelt sich also um ein spezifisches Verfahren der Produktion spezifischer Neologismen. Seit jeher sind Literatur und Poesie die auf alle Verfahren von Sem-Synthese spezialisierten Diskurse: Sie lassen sich als Diskurse beschreiben, die in systematischer Weise polysemische (mehrdeutige)  Worte, Wortkomplexe, Sätze und Texte produzieren. Die rhetorische Tropenlehre kann 81 Algirdas J. Greimas, Sémantique stucturale, Paris 1966. 82 »federleicht«, »messerscharf«. Solche statistisch eher seltenen Beispiele sollen das Prinzip der Semanalyse eher suggestiv verdeutlichen. Im sprachlichen Regelfall geht es dagegen um Kombinationen zwischen je selektiv akzentuierten Wort-Semen und Semen des Kontexts (»Klassemen« nach Greimas). 83 Klaus-Peter Konerding hat die »Rahmen« (Frames) nach Charles Fillmore für eine Diskursanalyse als semantische Kontextanalyse spezifiziert (»Themen, Rahmen und Diskurse  – Zur linguistischen Fundierung des Diskursbegriffs«, in: Ingo Warnke (Hg.), Diskurslinguistik nach Foucault. Theorie und Gegenstände, Berlin / New York 2007, 107–139. Die »Sortenhierarchien« gliedern Makrokontexte (parallel zu, aber nicht identisch mit Isotopien), die »Makro-Rollen« untergliedern Lexeme, z. B. in »wesentliche Eigenschaften« und »wesentliche Mitspieler« (parallel zu, aber nicht identisch mit Semen). Man mag von der KI-Linguistik Kompatibilisierungen (oder auch gänzliche Neuansätze) erwarten. Hier geht es um spezielle Wissensachsen (Isotopien) als Elemente von speziellen Diskurssträngen und schließlich Spezial­diskursen.

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Was ist semsynthetisches Denken?

in Teilen als generatives Instrumentarium für semsynthetische Verfahren betrachtet werden84. Heidegger hat dieses ›quasi-poetische‹ Verfahren nicht in die Philosophie eingeführt, er besaß vielmehr insbesondere in Hegel einen kongenialen Vorgänger, dessen spezifisches Verfahren der Semsynthese als Semdialektik bezeichnet werden kann: Es wird im nächsten Kapitel 5 näher darauf eingegangen, weil die Frage nach der Multitude als entweder operativ oder dialektisch sich zur Alternative »semdialektisch« spezifiziert. Der Prozess einer Semsynthese schließt zu Beginn auch Semanalyse ein. Es liegt nahe, sich die entsprechenden analytischen und synthetischen Prozesse mit Semen in Analogie zu einem ›chemischen‹ Modell vorzustellen. Ein erster exemplarischer Fall in Sein und Zeit85 ist das »Zeug«. Im alltäglichen Standarddeutsch des 20. Jahrhunderts trägt das »wertlose« bzw. »dumme Zeug« ein ›dingliches‹ und ein negativ wertendes Sem. Wie die höchst übliche Aufforderung »red’ kein dummes Zeug« belegt, ist Zeug zunächst nicht, wie Heidegger voraussetzt, auf dinghafte Objekte beschränkt. Heidegger beginnt also semanalytisch, indem er ein Signifikat *zeug extrahiert, dem er das Sem ›Artefakt‹ (»Zuhandenheit«) zuschreibt. Er stützt diese Zuschreibung durch die Serie »Schreibzeug, Nähzeug, Werk-, Fahr-, Meßzeug« (68). Damit konstruiert er *zeug als gemeinsames (und zwar dominantes) Sem dieser Serie. Wie ich im Versuch ausführlicher gezeigt habe, soll die Semsynthese zu ›zuhandenes Artefakt‹ ein »Wesen« konstruieren, und zwar ein relativ ahistorisches Wesen. Dieser Effekt wird insbesondere dadurch bewirkt, dass der terminologische Neologismus sich als konnotative interdiskursive Synthese erweist: Schreibzeug konnotiert den Diskurs der Autorschaft, Nähzeug den des Familialismus, Werkzeug den des Handwerks und / oder des Industrialismus, Meßzeug den des Szientismus / Technologismus (sowie, wie sich zeigen wird, auch des Normalismus). In Fahrzeug ist ein ganzer Roman der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, also der Zeit der Weltkriege, »entborgen-verborgen« (Heideggers Terminologie für Semanalyse-Semsynthese): Denn nicht nur ist das emblematische Fahrzeug der Zeit das Auto (vgl. 78), sondern vor allem das Flugzeug (eine Kehre fliegen). Nach der »Kehre« wird das Zeug in den umfassenderen Terminus des »Gestells« integriert. Dessen semsynthetische Struktur lässt sich relativ einfach als die folgende interdiskursive Synthese schematisieren: Philosophie

Technologie

Ökonomie

Psychologie/ Subjekttheorie

Militär

vor-*stell-

her-*stell-

be-*stell-

ein-*stell-

auf-*stell

84 Dazu Jacques Dubois u. a., rhétorique générale, Paris 1970. 85 Seitenangaben nach der 16. Aufl. Tübingen 1986 (1927).

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Heideggers Semsynthesen sind interdiskursiv

Wie schon beim Zeug erweist sich wieder eine (wohl kaum gänzlich unbewusste) »Verbergung« der militärischen Konnotate: Immerhin gehörte zu den Urerlebnissen des jungen Heidegger der Stellungskrieg mit seinen Gestellungsbefehlen und Entstellungen. Es ist, als ob der militärische Anteil am Ge-stell im Dunkel bliebe, weil er vielleicht not-wendig wäre? Explizit dient die Sem­ synthese Ge-stell bekanntlich der Wesenskonstruktion der modernen Technik als »seinsgeschichtlich-geschickhafter« Konsequenz eines vor-stellenden und damit seinsvergessenen und seinsverlassenen Denkens. Explizit dominiert in der Synthese der technologische Diskurs, und als dessen Kern der kybernetische Komplex der »Steuerung«86, der wiederum implizit und konnotativ mit dem Fahrzeug-Komplex verbunden ist. Der kybernetische Komplex wird bereits in Sein und Zeit am Beispiel eines modernen technischen Fahr-zeugs, des Autos, und zwar des seinerzeitigen ausfahrbaren Richtungsanzeigers, illustriert: Dieses Zeichen ist ein Zeug, das nicht nur im Besorgen (Lenken) des Wagenführers zuhanden ist. Auch die nicht Mitfahrenden – und gerade sie – machen von diesem Zeug Gebrauch […] (78).

Hier ist der kybernetische Komplex (qua »Zeugzusammenhang von Verkehrsmitteln und Verkehrsregelungen«) in das fundamentale Existenzial der »Sorge« integriert: Lenken ist »Besorgen«. Die Semsynthese der Sorge (*sorg-) beruht auf folgender interdiskursiver Synthese: Ökonomie

Sozialstaat

Recht

Politik-Militär

Versorgung Versorgungsbetrieb

Fürsorge

Sorgerecht

»für Ordnung sorgen«

Wie das Zeug entbirgt-verbirgt auch die Sorge ihre zeitgenössischen Konnotate der staatskapitalistisch-normalistischen »Versorgungs«-Ökonomie mit ihren »Versorgungsunternehmen« und des (normalistischen) »Vorsorgestaats« mit seinen ambivalenten Institutionen (»Fürsorgeheim«) in den Familialismus (Vater als »Versorger« und »fürsorgliche Mutter«) und in die Poesie (Faust II ) hinein. Nahezu gleichbedeutend mit der Sorge ist die Semsynthese Ver-sicherung (*sicher-), insbesondere als (negativ gewertete) bloße »Bestand-sicherung des Lebens« (GA Bd. 65, 31587), wie es polemisch gegen Nietzsche heißt. Der »Be-stand« ist bekanntlich eine Art Ground Zero des Gegen-stands und damit der äußerste Verfall des Seins. Ebenfalls eng vernetzt mit der Sorge ist schließlich die Semsynthese »Be-trieb« (*trieb-): 86 Martin Heidegger, Die Technik und die Kehre, Stuttgart 1962, 16, 27 87 Martin Heidegger, Gesamtausgabe, Bd. 65 (Vom Ereignis), 3.  Aufl. Frankfurt / Main 2003 (1989).

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Was ist semsynthetisches Denken?

Ökonomie

Kultur

Technik

Psychologie/ Subjekttheorie

Vertrieb

Betrieb

Antrieb

Geschlechtstrieb

Zunehmend erweist sich die heideggersche wesenssuchende und seinsgeschichtliche Semsynthese als entbergend-verbergend bezogen auf das dominante operative interdiskursiv-synthetische Dispositiv seiner Zeit, den Normalismus. Dabei vermeidet er symptomatisch (im Gegensetz zu den meisten Denkern der Zeit) den Terminus »Normalität« bzw. »normal«. Allerdings nennen »Durchschnittlichkeit« und »Gewöhnlichkeit« des »Man« nichts anderes als die Normalität – mit durchgängig abwertender Farbe. Und in der Tat war bereits zu konstatieren, dass sich Heidegger umgekehrt gerade vom Verlust der Normalität, von der Denormalisierung, fasziniert zeigt. Diese Faszination kulminiert in den Semsynthesen des Komplexes *not-. Die zeitgenössisch nächstliegenden und omnipräsenten Konnotationen des Not-Komplexes, also den Notstandsstaat und Notstandsputsch, hat Carl Schmitt theoretisch expliziert, während Heideggers Diskurs sich gänzlich auf der ›tieferen‹, ontologischen Ebene bewegt. Zitieren wir einen ›harten‹, aber typischen Heidegger: Das Seyn ist das von den Göttern Gebrauchte; es ist ihre Not, und die Notschaft des Seyns nennt seine Wesung, das von »den Göttern« Ernötigte, aber nie Verursachbare und Bedingbare. (GA Bd. 65, 438)

Anschließend heißt es geradezu definitorisch, (dass) »das Seyn die Notschaft des Gottes ist«. Die Semsynthese »Notschaft« (ein persönlicher Neologismus88) kombiniert das Sem *not- mit dem Sem *-schaft. Wie die Serie Gemeinschaft, Gesellschaft, Arbeiterschaft, Bauernschaft, Handwerkerschaft, Wissenschaft zeigt, signifiziert das Sem der Endsilbe *-schaft ein Kollektiv, eine Gesamtmenge und gleichzeitig deren »Wesen«. Dabei benennen die »Schaften« hauptsächlich gleichermaßen (auf der symbolisch vertikalen Achse der Macht-Teilung) soziale Klassen bzw. Gruppen und (auf der symbolisch horizonalen Achse der WissensTeilung) Diskursformen. (Verzichten wir auf die Belege aus der Lingua Tertii Imperii: NS -Frauenschaft usw.) Technologie

Ökonomie

Politik-Militär

Psychologie/ Subjekttheorie

generell

Notbetrieb Notfall

Notverordnung Notgeld

Notstand Notunterbringung

Notzucht Notdurft

Notlage Nötigung

Wiederum sind die aktualhistorischen Indizes nicht zu übersehen (zwischen der Brüningschen Notverordnungspolitik und den Notmaßnahmen des Führers). 88 Bis heute kein Eintrag im Duden.

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Heideggers Semsynthesen sind interdiskursiv

Wiederum aber werden sie in die Konnotation eines kaleidoskopartig köchelnden (»wesenden«) »Wesens«-Effekts gedrängt  – diesmal aber darüber hinaus sogar explizit als »unwesentlich« aus der Synthese eliminiert: Denn paradoxerweise wird die aktualhistorisch-gegenwärtige Lage als eine Lage der »Notlosigkeit« (GA Bd. 65, 11) definiert, die eine radikale »Not-wendigkeit« sowohl erfordere wie verhindere: Die Verweigerung [des Seyns und der Götter, J. L.] ist die innigste Nötigung der ursprünglichsten, wieder anfänglichen Not in die Not-wendigkeit der Not-wehr (ebd., 240).

Die Semsynthese (mit ihrem quasi ›alchimistischen‹ Spiel von Analyse und selektiver Neukombination) zielt also auf die Extraktion des fundamentalen (»ursprünglichsten, wieder anfänglichen«) Wesens-Kerns eines semantischen Komplexes oder Feldes. Der wird in diesem Fall vom Neologismus »Notschaft« erreicht. Die Aporie dieses Verfahrens ist evident (und wird von Heidegger auch ohne weiteres zugestanden, was ihn aber nicht hindert fortzufahren): Der semsynthetische Signifikant wäre vollständig leer (»nichtig«), wenn er nicht heimlich gefüllt wäre vom kaleidoskopartigen Köcheln der als unwesentlich eliminierten Seme mit ihren aktualhistorischen Indizes. Während die Notschaft »aufs innigste zu wünschen« ist und auch die konnotierten *schaften vermutlich überwiegend wie die »Volksgemeinschaft« ein positives Wertsem tragen, dient die »Machen-schaft« als Inbegriff aktiver, handelnder Seinsvergessenheit und Seinsvernichtung: Sie ist die zum Ge-stell und zum Be-trieb gehörige *schaft. Ökonomie

Politik

jüdische Machenschaften

parlamentarische Machenschaften

Was der Hiat von Machenschaft und Notschaft fordert, ist die »Kehre«: Familie

Ökonomie

Religion

Politik-Militär

Psychologie/ Subjekttheorie

Ein-kehr

Ver-kehr

Be-kehrung

»vaterländische Um-kehr«

Geschlechtsverkehr

Bis zur Ge-lassenheit als einer Art Kehre in der Kehre konnotiert die Sem­ synthese Kehre (*-kehr-) die Radikalität eines »revolutionären« Gestus89. Sie beruht am evidentesten auf Hölderlins Konzept einer »vaterländischen Umkehr«, in dem Heidegger zwar eine deutsche Version von Revolution richtig divinierte, das er aber gänzlich irrig im Sinne einer »deutschnationalen Revolution« ver 89 Vgl. Reinhart Maurer, Revolution und ›Kehre‹. Studien zum Problem gesellschaftlicher Naturbeherrschung, Frankfurt / Main 1975.

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Was ist semsynthetisches Denken?

kehrte (Brecht: »Ich frage mich: an was hat der gedacht?«90). In ihren Kontexten werden »kehrige« Bewegungen am ehesten als solche in der Luft suggeriert: als Bahnen von Göttern: »Zukehr und Flucht der gewesenen Götter« (Bd. 65, 408), »Wirbel der Kehre« (415), »Erklüftung der Kehrungsbahnen« (372). Im Duden ist von Kehren bei Skiabfahrten die Rede, aber auch von einer »ballistischen Kurve (Flug-, Geschossbahn)«, womit also u. a. ein Kampfflugzeug konnotiert wäre. Um ein Fazit zu versuchen: Das semsynthetische Denken Heideggers zielt auf die Konstruktion »wesentlicher« (»fundamentaler«, »ursprünglicher«, im Ergebnis ahistorischer bzw. auf eine ultralangdauernde »seinsgeschichtliche« Dimension gedehnter) Signifikanten. Dieser diachronischen Totalisierung entspricht eine synchronische, die gleichzeitig auf eine semantische »Mono­chromierung« des jeweiligen interdiskursiven Feldes hinausläuft: Wenn philosophisches »Vorstellen« und technisches »Her-stellen« den gleichen Wesenskern des »Ge-stells« besitzen, dann sind die materiellen Kopplungen und Friktionen der ganz verschiedenen praktisch-diskursiven Zyklen in der sprachlichen Alchimie untergegangen  – ebenso wenn Technik, Politik und Subjektivität gleichermaßen zur »Not-wehr nötigen«. Wir haben es also mit einem Fall von »expressiver Kausalität« (Althusser) zu tun: Der in der Semsynthese er-schlossene Wesenskern »drückt sich« in den verschiedenen Bereichen »aus«, die dadurch ihre semantische »Monochromie« erhalten, durch die sie zueinander passen. Diese semantische »Farbe« impliziert immer eine Wertung und einen Subjektappell: eine Wertung durch die positive oder negative Stellung zum »Sein« – einen Subjektappell für die positive und gegen die negative Stellung. Die Situation der »Not« nötigt zur Ab-kehr vom Ge-stell. Die synchronische Semsynthese nivelliiert jedoch nicht nur semantisch die praktisch-diskursiven Zyklen eines historischen Bereichs, sondern schiebt einzelne Zyklen von der Denotation in die Konnotation oder vergisst wichtige Zyklen ganz. Man kann diesen Effekt als »ideologisch« in einer spezifischen Bedeutung begreifen (dazu KS 5). Die Diskursanalyse kann also zeigen, dass die meisten semantischen Felder, auf denen das semsynthetische Verfahren operiert (Zeug, Ge-stell, Ge-fahr, Sorge, Not, Kehre), zum aktualhistorischen diskursiven Komplex des Normalismus zählen. Dieser Komplex wird »entborgen-verborgen«, das heißt explizit negiert, aber konnotativ paratgehalten. Genauer noch findet eine »Umwertung« im Sinne Nietzsches statt: Die ›positive‹ Seite des Normalismus (Versorgungsbetrieb, Vorsorgestaat, Fürsorge) wird abgewertet, während die ›negative‹, also die Seite der Denormalisierung und der Notstandsdiktatur, heimlich sämtliche »existenzialen Gesten« für die als »not-wendig« postulierte »Kehre« liefert. Mit dem semsynthetischen Terminus der »Notschaft« wird dieser Gestus des 90 Bertolt Brecht, Gedichte 1 (Berliner und Frankfurter Ausgabe Bd. 11), Frankfurt / Main 1988, 271 (»Über Schillers Gedicht Die Glocke«).

Heideggers Semsynthesen sind interdiskursiv

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Antinormalismus und der radikalen Denormalisierung schließlich zum Wesen des Seins selbst erklärt. Heidegger würde eine solche Diskursanalyse als Ver-gegen-ständlichung und konkret als ein Ge-stell zurückweisen91. Tatsächlich rekonstruiert sie lediglich operativ (also generativ) die empirischen sprachlichen Operationen. Wenn man in der Linguistik algorithmische »Sprachen« als ge-stell-hafte Modelle auffassen kann, dann haben wir es bei Heideggers Operationen auf der sogenannten »natürlichen« Sprache in der Tat mit gänzlich anderen Phänomenen zu tun. Allerdings ist es gerade die (Inter-)Diskursanalyse, die dieser Besonderheit gerecht wird, indem sie (und auch das ist operativ) die jeweilige aktualhistorische Markierung der Seme und damit die historische Singularität und Ereignishaftigkeit einer konkreten Semsynthese als Wissenssynthese freilegt. Das betrifft zunächst die rein sprachliche Komponente der heideggerschen Semsynthese, die ihr Autor selbst jedoch zunehmend als konstitutiv erkennt und anerkennt (»Die Sprache ist das Haus des Seins«). Sie soll jedoch ergänzt werden durch »existenziale Gesten« (um Brechts Konzept des »Gestus« zu verwenden): »angstbereite Ent-schlossenheit«, »Vorlaufen«, am Ende »Gelassenheit«. Solche Gesten verlaufen sich aber wiederum in bloße Applikationen sprachlicher »Vorgaben«, wobei sich im Bereich der Gesten der sprachliche semsynthetische Prozess wiederholt: Die Radikalität der Kehre mit ihrer »Ermächtigung des Seyns« (Bd. 65, 430) samt dessen »Stoß« (430) eliminiert die konkrete Radikalität der »Ermächtigung« der Notstandsdiktatur und des Krieges samt deren »Stoßtrupps«92, um den Gestus einer wesenhaften Ermächtigung und eines wesenhaftes Stoßes zu gewinnen  – der jedoch analog zum sprachlichen Prozess nur wiederum in ein kaleidoskopartiges Köcheln existenzialer Gestik verlaufen kann. Im Gestus verlautet eine paradoxe Prä-Sprache: der »Zu-Spruch des Seyns«, für den offenbar wiederum Hölderlins präsprachliche »Zeichen« der Natur die Anregung gaben. Heidegger verstand Philosophie emphatisch wie kaum jemand sonst als fundamentale Alternative zur und Kritik der hochspezialisierten Wissenskultur als Basis der technisierten Gesellschaft. Sein aporetisches Unternehmen, ›unter‹ die Spezialpraktiken-Spezialdiskurse bzw. ausdifferenzierten funktionalen Teilsysteme zu gelangen und ›dort unten‹ direkt mit dem »Seyn« verkehren zu können, erweist sich wie jede andere Spezialwissen integrierende Philosophie als selektiver und wertende Akzente setzender Interdiskurs, konkret als vom Normalismus abhängige und diesen abwertende interdiskursive Integration. Von gleichzeitigen Philosophien wie der Phänomenologie und sogar der Exis 91 Selbstverständlich auch die Begrifflichkeit der Spezialpraktiken-Spezialdiskurse, die ja mit dem Ge-stell identisch sind. 92 Das wurde formuliert, bevor ich bei François Rastier folgende Briefstelle an Jaspers las: »Ich werde ihm [einem Kollegen in Marburg, J. L.] – durch das Wie meiner Gegenwart – die Hölle heiß machen; ein Stoßtrupp von 16 Leuten […] kommt mit […]« (14.7.1923). (Schiffbruch eines Propheten. Heidegger heute, dt. Berlin 2017, 46).

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tenzphilosophie à la Jaspers unterscheidet sie sich dadurch, dass sie radikal jede Integration von spezialdiskursivem Wissen ablehnt. Genau diese Diskursstrategie zeitigt den »Wesens«-Effekt und wird als »Denken« bezeichnet (weshalb gilt: »die Wissenschaft denkt nicht«)  – und dieser Wesens-Effekt wiederum soll der bloß konnotativen interdiskursiven Integration mit ihrer selektiven Akzentsetzung inklusive der Ambivalenz des Militärischen zusätzliche »Stoßkraft« verleihen. Gilt das auch für die Ge-lassenheit? In seiner berühmten, bewusst populär formulierten, Rede von 1955 gibt Heidegger nur wenige semsynthetische Hinweise: die (technischen) Gegenststände »jederzeit loslassen« bzw. »auf sich beruhen lassen« können – das sei »die Gelassenheit zu den Dingen« (9322 f.): »Wir lassen die technischen Gegenstände in unsere tägliche Welt herein und lassen sie zugleich draußen […].« (23) Es geht also um einen paradoxen existentialen Gestus (Maschinenstürmerei wird explizit abgelehnt, die sogenannt friedliche Nutzung der Atomenergie wird ausdrücklich begrüßt), eine »bodenständige« *Läss-igkeit, die auch scheinbar banal als »Offenheit für das Geheimnis« (mit dem Hintergedanken Ge-*heim-nis, also Boden-ständ-igkeit, semsynthetisches Konnotat *Heim-at) definiert wird. Gerade auch hier gilt es demnach, das Spiel der konnotativen Semsynthesen zu rekonstruieren. Das semantische Spektrum *-lass ist im Deutschen dichotomisch gespalten in einen negativ und einen positiv gewerteten Bereich. Der negative erstreckt sich um ver-lassen (bis hin zum Tod Gottes bei Hegel: »Warum hast du mich verlassen?«) und unter-lassen (die negative Normativität). Dem steht ein (insgesamt schwächerer) positiver Bereich um zu-lassen gegenüber, aus dem Heidegger seine Semsynthese schöpft. Dabei spielt nach meiner Hypothese das über-lassen (als Opposition zum verschwiegenen unter-lassen) eine dominante Rolle: [Ökonomie]

[Politik]

Soziales

Psychologie/ Subjekttheorie

[Theologie]

dem Markt über-lassen laissez-faire

den technischen Experten über-lassen

auf Planung kein Ver-lass

los-lassen be-lassen

Ab-lass gewähren läss-liche Sünden

Man muss nicht soweit gehen, auch Foucaults Formel »leben machen, sterben lassen« oder gar das Prinzip der Ausbilder der Wehrmacht94 in das kaleidoskopartige semantische Köcheln einzubeziehen.

93 Martin Heidegger, Gelassenheit. Heideggers Meßkircher Rede von 1955. Mit Interpretationen von Alfred Denker und Holger Zaborowski, Freiburg / München 2014 (1959). 94 »das Denken den Pferden überlassen: die haben nen größeren Kopp«.

Heidegger vs. Freud

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Noch immer ist Heidegger also nicht versöhnt mit dem Normalismus, auf den kein Ver-lass ist und den »wir« deshalb »auf sich beruhen lassen« sollen. »Wir« sollen das Sein nicht auf die Folter unserer normalistischen Ge-stelle spannen (Bacon), sondern es »ge-lassen sein lassen«. Damit mündet Heideggers Semsynthese aber paradoxer- und aporetischer Weise genau in das orpheische Verbot des positivistischen Normalismus, sich (nach Eurydike, dem élan vital bzw. bei Heidegger dem Seyn) umzu-kehren (s. Kapitel 12).

4.2 Heidegger vs. Freud Heideggers Philosophie (sowohl vor wie nach der Kehre) dient im Vorfeld der folgenden Überlegungen als Modell semsynthetischen Denkens, und semsynthetisches Denken dient als Paradigma nicht-operativen Denkens. (Die latente weiterführende Frage lautet dabei, wie das Konzept der Multitude zwischen Operativität und Semsynthese zu situieren sein wird.) Nun würde Heidegger vermutlich zwar den Begriff der Operativität als hoffnungslos ge-stellhaft und »ontisch« zurückweisen, wohl aber für seinen Aufruf »Handlungs«-Status und »Wirklichkeit« reklamieren  – aber gerade eben von radikal nicht-operativem Typ. Operativ soll die Anschließbarkeit einer Kategorie an empirische generative Prozesse heißen – also genau der Typ von Anschließbarkeit, den die Semsynthese eliminiert. Um den Unterschied zu verdeutlichen, sei abschließend kurz eine weitere Spielart von Semsynthese gestreift: die »Traumarbeit«, wie Freud sie analysiert hat. Heidegger hat m.W. niemals Freud studiert, vermutlich nicht einmal stichprobenartig gelesen. Bei seinem engen Kontakt mit der Psychiatrie von Karl Jaspers ist allerdings anzunehmen, dass er dominante Thesen Freuds ›geahnt‹ und a limine verworfen haben mag (nicht nur wegen eines vermutlich unterstellten »jüdischen« Denkens über Sexualität). Hätte er etwa die Traumdeutung gelesen, so hätte er vor allem die rationale Rekonstruktion generativer Mechanismen der »Traumarbeit« schärfstens als »Ge-stell« abweisen müssen. Denn dieses »Ge-stell« implizierte nicht weniger als eine Art Majestätsbeleidigung des Seyns, indem damit eine elementar köchelnde Seins-Lichtung, ein elementarer »Zu-spruch des Seins« operativ rekonstruiert wurde. Aus dieser simulierbaren Kritik Heideggers lässt sich nun wie ein Metallteil aus seiner Gussform umgekehrt der Unterschied zwischen Semsynthese und Operativität entwickeln: Aus operativer Sicht handelt es sich bei der Semsynthese um eine Art von Vorgabe für Subjektbildung (Applikationsvorlage), die ihre generativen Bedingungen »verbirgt« – was in ein und demselben Prozess der »Entbergung« stets wieder mitverborgen wird, sind eben empirisch (wissenschaftlich) analysierbare Faktoren und Instanzen der Subjektbildung. Fundamentalontologie handelt von Subjektivierung und verkennt historische Subjektstrukturen (es gibt keine anderen) als »Seinsgeschichte«. Wie schon gesagt: Heideggers Funda­

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mentalontologie und Seinsgeschichte implizieren Handlungsappelle und (letztlich politische) Effizienz – um aber in die implizit intendierte »Richtung« gelenkt werden zu können, sind sie auf die interne Blockade von Operativität, auf die Opazität ihres generativen Mechanismus verwiesen. Wie die Analyse der heideggerschen Semsynthesen im Applikationsfeld des Normalismus gezeigt hat, liegt ihnen ein Gestus scheinbar »wesenhafter Radikalität« zugrunde, der aber stets den ›positiven‹ Normalismus des Sozialstaats verwirft und für den ›negativen‹ Normalismus des Notstandsstaats votiert. Damit aber orientiert er das wesenhafte Dasein auf eine antagonistische Parteinahme gegen den Status quo, aber gleichzeitig gegen den konkurrierenden »bolschewistischen« Antagonismus, den er per Semsynthese der normalistischen Hegemonie zuschlägt.

4.3 Heideggers anti-normalistische und »realogrüne« Diskurspositionen Wie zu zeigen war, ist Heideggers semsynthetischer Diskurs als fundamentalontologischer aporetisch, als spezifischer Interdiskurs aber effektiv. Als solcher selegiert er Konnotate normalistischer Diskursstränge aus verschiedenen dominanten modernen Spezialdiskursen und wertet sie negativ. Er konstituiert also eine anti-normalistische Diskursposition, die eo ipso subjektiv und parteilich ist, und zwar kollektiv-subjektiv (Wir-subjektiv) gerade in ihrem ontologischen Anspruch. Das gleiche gilt für den Interdiskurs der Ge-lassenheit nach dem Kollaps des Dritten Reiches. Er interveniert in einen hegemonialen populärwissenschaftlichen und dann auch mediopolitischen Interdiskurs, der sich um den Diskursstrang des ökonomischen Wachstums und des wissenschaftlichtechnischen Fortschritts dreht. Wiederum wird die hegemoniale (positive) Wertung umgekehrt, nun aber nicht mehr radikal wie beim Normalismus, sondern im Sinne einer »realogrünen« Diskursposition avant la lettre (bis hin zur Akzeptanz der »friedlichen Nutzung« der Kernenergie). Auch hierbei spielt der kollektivsymbolische Rahmen von Interdiskursen eine symptomatische Rolle: Die kollektivsymbolische Binäropposition ›Beton‹ vs. ›Wachstum‹ ist paradox, weil ›Wachstum‹ als pflanzliches zur »grünen«, als ökonomisches aber gleichzeitig zur hegemonialen Diskursposition gehört. Bei Heidegger ist ›Wachstum‹ (griechisch phýsis) sogar der seinsnächste ontische Begriff (statt lateinisch natura)!

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Zu ästhetischen Interdiskursen

4.4 Zu ästhetischen Interdiskursen, zur Kritik der Semsynthese und zur kulturrevolutionären Funktion spezifischer Semsynthesen an den Grenzen philosophischer Diskurse Je stärker ein philosophischer Diskurs semsynthetische Verfahren strukturell dominant setzt (und Heidegger ist der Extremfall, dem aber auch Derrida und die Dekonstruktion nahestehen), umso mehr gerät er in den Verdacht, Philo­ sophie und Literatur zu vermischen. Wie eingangs des Kapitels bereits erwähnt, ist die Semsynthese geradezu das Basisverfahren künstlerischer bzw. im weiten Sinne poetischer Diskurse. Auch diese Diskurse sind Interdiskurse, indem sie polyisotope Texte herstellen (poieîn), und auch diese polyisotopen Texte integrieren selektiv verschiedene Wissensbereiche, die wiederum verschiedene Spezial- und Interdiskurse konnotieren. Der exemplarische Fall ist das polyisotope Symbol und insbesondere das polyisotope Kollektivsymbol. Zur Illustration diene das Kollektivsymbol des Vulkans (Freitod des Helden durch Sturz in den Ätna) in Hölderlins Tragödie Der Tod des Empedokles: Naturhistorisch geo-logisch

historischkairologisch

philosophischtheo-logisch

Subjektgenerativ psycho-logisch

Vulkan als ätherische Eruption Rückkehr zur Natur

frz. Revolution volldemokratische Konstitution

neospinozistischer Monismus Rückkehr ins Hen kai Pân antike Mythen

autobiograph. Konnotate rousseauist.

Hölderlin dient als Beispiel, weil Heidegger bekanntlich sein »Denken« in wesentlichen Punkten als eine »Auslegung« des hölderlinschen »Denkens und Dichtens« verstanden hat95. Strukturell beruht diese enge Beziehung eben auf dem semsynthetischen Verfahren. Umso wichtiger ist die Bestimmung der Differenz. Der literarische (und allgemeiner der künstlerische) Interdiskurs prozessiert sein Wissen durch Subjekt-Applikation (Identifikation und Gegenidentifikation) der Rezipienten. Literarische Figuren und ihre Abenteuer, auch bloße figurale Perspektiven bzw. Stimmen in der Lyrik, werden (positiv oder negativ, totalisierend oder fragmentarisch) in die Subjektivität von Rezipienten injiziert (appliziert). Figuralität (als modellhafte Subjektivität) ist prinzipiell von Operativität entlastet; sie deckt sich in weiten Bereichen mit Fiktionalität. Insofern gehört Subjektivität (subjektive Perspektive) ästhetischer Interdiskurse zu den kulturellen Evidenzen. Das semsynthetische sprachliche Verfahren ist dabei 95 Vgl. Beda Allemann, Hölderlin und Heidegger, Freiburg 1954.

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mit der Figuralität, Fiktionalität und Applikationsstruktur strukturell unlöslich verbunden. Es geht um eine Art Spielen des Subjekts mit Subjekt-Modellen, weshalb die ästhetischen Verfahren immer wieder als spielerisch begriffen wurden. In diesem Spiel mit Subjektmodellen wird das applizierende Subjekt selektiv im Zyklenkombinat seiner Kultur positioniert. Insofern wirkt die künstlerische Semsynthese direkt subjektgenerativ. Als von Operativität entlasteter Interdiskurs prozessiert sie ein Wissen außerhalb des (operativen) Wissens über seine eigene generative Zyklologie. Psychoanalytisch gesprochen, verläuft der Prozess weitgehend unbewusst und über Lust und Unlust gesteuert. Symptomatisch ist die negativ-ästhetische Reaktion der Unlust, die zum Abbrechen der Rezeption führt (»gefällt mir nicht«, »langweilig«, »zu schwer«, »zu pessimistisch« usw.). Die ästhetische Positionierung des Subjekts ist selbst Moment im zyklischen Reproduktionsprozess der kulturellen Subjektivitäten. Sie weist dem individuellen Ich eine Position in einem kulturellen Wir zu. Diese Positionierung kann eine bereits vorgängige Position in einem hegemonialen Wir verstärkend reproduzieren, sie kann eine solche vorgängige Position aber auch irritieren und ggf. verschieben – in Extremfällen bis in eine Grenzposition des hegemonialen Wir. Ent­ identifizierung (Michel Pêcheux96) hieße ›Herausfallen‹ (Apostasie) aus einem hegemonialen Wir und wäre ein individuell-kulturrevolutionäres Ereignis, eine »Rückung« im musikalischen Sinne. Ein solches Ereignis ist eng verknüpft mit der Kategorie des Antagonismus: Die Entidentifizierung kann zur Identifizierung mit einem gegen das hegemoniale Wir bereits existierenden antagonistischen Wir führen (Konversion), oder in eine Position der Isolation auf der Suche nach einem noch zu bildenden neuen antagonistischen (utopischen) Wir. Seit die zunächst naturwissenschaftlichen, dann auch die sozial- und kulturwissenschaftlichen Spezialdiskurse Operativität postulieren, stehen semsynthetische Verfahren außerhalb der ästhetischen Praxis in der Kritik. Das gilt besonders für philosophische Diskurse. Die teilweise Beschränkung dieser Diskurse auf Logik und Sprachanalyse (analytische Philosophie), auf Wissenschaftstheorie und Epistemologie sowie auf kritische Philosophiegeschichte und normative Ethik ist symptomatisch. Dagegen haben Heidegger und die Dekonstruktion auf der einen, Adorno, Horkheimer, Bloch, Sartre und die dialektische Geschichte auf der anderen Seite nichts von ihrer Faszination eingebüßt. Die Ursache dafür liegt in ihrer kairologischen und subjektorientierenden (einschließlich politischen) Dimension, die den positivistischen Philosophien weitgehend fehlt. Deshalb ist die logisch-positivistische Sprachkritik an Heideggers Diskurs (etwa bei Rudolf Carnap97) unzureichend, da sie das semsynthetische Spiel mit 96 Michel Pêcheux, »Zu rebellieren und zu kämpfen wagen! Ideologien, Widerstände, Klassenkampf«, in: kRR Heft 5 (1984), 61–75, hier 64 ff., und kRR Heft 6 (1984), 63–66. 97 »Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache«, in: Erkenntnis 2, 219–241.

Zu ästhetischen Interdiskursen

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den kairologischen (aktualhistorischen, szientifischen und politischen) Zyklen nicht erfasst. Heideggers semsynthetischer Diskurs integriert, wie zu zeigen war, selektiv bestimmte Praktiken-Diskurse und markiert dabei aktualhistorische Antagonismen, ohne sie als solche (und nicht einmal als allgemein historische) sichtbar zu machen. Er invisibilisiert sie also, indem er sie übergeneralisiert als ontologische (»seinsgeschichtliche«), wobei er die üblichen, häufig »ideologisch« genannten, Übergeneralisierungen (Ahistorisierung, Naturalisierung, Anthro­ pologisierung) noch übertrumpft. Mit der Invisibilisierung der aktualhisto­ rischen Zyklen und Antagonismen invisibilisiert er gleichzeitig die direkten unbewussten Applikationsappelle, also die impliziten Subjektappelle für kairologische Ich- und Wir-Positionen. Er verfährt dabei analog zur ästhetischen Semsynthese und speziell analog zu Hölderlin, postuliert aber überhistorische ontologische, als philosophisch reklamierte, Wahrheit. Zyklologisch betrachtet, integriert die heideggersche Semsynthese eine Selektion aus dem Zyklenkombinat und unterstellt dieser Selektion Totalität. Der gleiche Sachverhalt lässt sich auch so formulieren: Der semsynthetische Diskurs invisibilisiert das Nichtwissen über unbekannte Zyklen im Rückgriff auf das Sein als totalen Generator aller Zyklen. Diese invisibilisierte Integration des Nichtwissens (= Glauben) ist konstitutiv für religiöse Interdiskurse und deren Semsynthese. Da die Funktion religiöser Interdiskurse in der Bildung eines stabilen Wir-Subjekts durch ritualisierte Applikation besteht, stimuliert auch die heideggersche Semsynthese die Bildung eines  – gleichwohl invisibilisierten  – Wir-Subjekts. Dieses Wir-Subjekt positioniert sich, wie zu zeigen war, antagonistisch gegen den Normalismus und verhält sich solidarisch mit Tendenzen radikaler Denormalisierung. Dazu zählte kairologisch nicht nur, aber auch der Nazismus. Eine operative Lektüre Heideggers rekonstruiert mithin seine generativen Mechanismen und macht deren invisibilisierten Resultate sichtbar. Solche Kritik impliziert die Einsicht, dass operatives Denken sich stets in offenen zyklologischen Kombinaten bewegt, die offen sind zu unabsehbaren und ständig ›nachwachsenden‹ neuen Zyklen, neuen Spezialpraktiken-Spezialdiskursen mit neuem Nichtwissen – dass also Totalisierung unmöglich ist. Man kann es auch so sagen: Das Sein lässt sich nun einmal nicht in die Karten schauen. Daraus ergibt sich die anhaltende Legitimität philosophischer Diskurse: Sie beruht im wesentlichen auf einer kulturrevolutionären Funktion  – in Beiträgen zur Überschreitung der hegemonialen Sagbarkeitsgrenzen, wie sie durch die nicht eingestandene Beschränktheit der kulturellen Interdiskurse gezogen werden. Solche Diskurse sind also umso fruchtbarer, je besser sie die jeweiligen hegemonialen interdiskursiven Synthesen kritisch transparent machen (gerade auch unter Rückgriff auf spezialdiskursives Wissen) und je deutlicher sie ihre eigenen Grenzüberschreitungen und Explorationen außerhalb der hegemonialen

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Was ist semsynthetisches Denken?

Sagbarkeitsgrenzen formulieren. Dazu gehört unbedingt die Markierung der unabsehbaren Räume des Nichtwissens bzw. Nochnichtwissens auch außerhalb des eigenen Diskurses und also die Kritik jeder Totalisierungstendenz, wozu semsynthetische ontologische Spekulationen stets gezählt werden müssen. Die kulturrevolutionäre Funktion der Kritik und Überschreitung von Sagbarkeitsgrenzen (einschließlich Sichtbarkeits-, Fragbarkeits- und Wissbarkeitsgrenzen) steht im Zentrum von Michel Foucaults Diskurstheorie. Sie beruht dabei weitestgehend auf spezialdiskursivem Wissen und hat insofern die Philosophie bereits verlassen. Solche Überschreitung von Sagbarkeitsgrenzen lässt sich gleichzeitig als eine Art Pionierarbeit für Entdifferenzierung und Umdifferenzierung bestehender Zyklenkombinate und ihrer Dominanzen begreifen (s. u. Kapitel 26). Jacques Rancière betont in diesem Kontext insbesondere die Sichtbarkeitsgrenzen durch Kritik der Invisibilisierung: Jede Gesellschaft besitzt eine (öffentliche, staatliche und / oder parastaatliche) »Bühne«, auf der sie sich als Gesamtheit sichtbar macht. Diese Sichtbarkeit (die Sagbarkeit einschließt: als legitimes Reden) schließt aber große Teile der Gesamtheit aus der Sichtbarkeit und Sagbarkeit aus, und vor allem die Arbeitenden und Armen. Unter modernen Verhältnissen etwa impliziert die »Privatheit« der Fabriken ihre öffentliche Unsichtbarkeit. Für Rancière besteht das Wesen von Politik (in einem engen Sinne) im Brechen dieser Unsichtbarkeit durch je historisch ereignishafte Einforderungen nach einem »Anteil der Anteillosen«, einem Stimme-Erheben von Subjekten, deren Äußerungen von der öffentlichen Bühne aus als bloßes »Geräusch« (»Rauschen«) denunziert und invisibilisiert werden98.

KS  4 (Nicht) normale Fahrt und Antagonismus:

Der Absturz aus der Normalmasse des Man in die Eigentlichkeit der Front (Heideggers Sein und Zeit) Die semsynthetische Struktur von Sein und Zeit betrifft nicht nur die polysemische Konstitution der fundamentalontologischen Kategorien, sondern erstreckt sich auch auf ein quasi-biographisches Narrativ, das ich deshalb als einen im Schatten des Diskurses mitlaufenden ›Roman‹ beschreiben konnte99. Diese Quasi-Biographie beginnt im zirkulären alltäglichen Verkehr und der Medialität des »Man« (s. u.): In der Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel, in der Verwendung des Nachrichtenwesens (Zeitung) ist jeder Andere wie der Andere (126). 98 Jacques Rancière, Le partage du sensible. Esthétique et politique, Paris 2000, dt. zuerst »Die Aufteilung der sinnlichen Welt«, in: kRR Doppelheft 41/42 (2001), 122–135 (meine Übers.). 99 Versuch, 294–299. Seitenangaben Sein und Zeit nach der Ausgabe in Fußn. 85.

KS (Nicht) normale Fahrt und Antagonismus

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Das symbolische Aussteigen aus der Eisenbahn oder der Tram des Man beschreibt Heidegger als »Vorlaufen in die unüberholbare Möglichkeit des Todes«. Diese eigenartige, »ekstatisch-horizontale« (369) Bewegung wird als »Vorlaufen«, also nicht als Fahren, gekennzeichnet. Es geht ihr aber darum, sich selbst dadurch »einzuholen«, dass sie – als »Sich-Vorweg« – an der »unüberholbaren« Möglichkeit des Todes »zerschellt«. Sicher konnotierte das »Ein- und Überholen« in den 1920er Jahren auch noch die traditionale Bewegung von Läufern – stärker aber die des modernen sportlichen Konkurrenzkampfs. Noch kairotisch typischer aber war das Überholen mit ganz neuen »Zeugen«, nämlich »Kraftfahrzeugen«: Nur Seiendes, das wesenhaft in seinem Sein zukünftig ist, so daß es frei für seinen Tod an ihm zerschellend auf sein faktisches Dasein sich zurückwerfen lassen kann […], kann, sich selbst die ererbte Möglichkeit überliefernd, die eigene Geworfenheit übernehmen und augenblicklich sein für ›seine Zeit‹. (385)

Können Fußgänger und Sportler »zerschellen«? Die ›dunkle, nächtliche Farbe‹ von Heideggers im Schatten des Diskurses konnotiertem Roman der »Eigentlichkeit« ist völlig unübersehbar: Die Entschlossenheit wurde bestimmt als das verschwiegene, angstbereite Sichentwerfen auf das eigene Schuldigsein. Ihre Eigentlichkeit gewinnt sie als vorlaufende Entschlossenheit. In ihr versteht sich das Dasein hinsichtlich seines Seinkönnens dergestalt, daß es dem Tod unter die Augen geht, um so das Seiende, das es selbst ist, in seiner Geworfenheit ganz zu übernehmen. (382, Hervorhebung J. L.)

Es fällt schwer, als die den Zeitgenossen des Dezenniums nach 1918 »durchschnittlich« sich aufdrängende konkrete Anschaulichkeit solcher Formulierungen nicht das »Fronterlebnis« von 1914 zu begreifen. Dort hatte dieses »Vorlaufen« tatsächlich millionenfach stattgefunden, und dort war das Dasein in Vehikeln wie Autos, Panzern und Flugzeugen buchstäblich einsam »zerschellt«. Und auch der faschistoide Infanterist war verschalt in einen »Körperpanzer«, wie Klaus Theweleit gezeigt hat100. Selbstverständlich meint Heideggers spezifischer philosophischer Diskurs mit dem »Vorlaufen« ein »Existenzial«  – als solcher aber funktioniert er nur mittels ›schattenhaft‹ konnotierter Polysemien und Symbole. Die gemeinschaftliche Anschaulichkeit von »Geworfenheit«, »Sich werfen«, »Ent-fernung«, »Vorlaufen«, »unüberholbar«, »Zerschellen«, »Unheimlichkeit« (Un-heim-lichkeit) usw. ist ein projektilartiges Vehikel, ein projektilartiges »Zeug« – ein »Flug-Zeug«: Die aufgezeigten Phänomene der Versuchung, Beruhigung, der Entfremdung und des Sichverfangens (das Verfängnis) charakterisieren die spezifische Seinsart des Verfallens. Wir nennen diese ›Bewegtheit‹ des Daseins den Absturz (178). 100 Klaus Theweleit, Männerphantasien, 2  Bde. Frankfurt / Main / Basel 1977/1978.

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Was ist semsynthetisches Denken?

Das am intensivsten beredete »Zeug« des »Fronterlebnisses« wie auch der 1920er Jahre war das Flugzeug, und Heidegger konnte auf dieses geheime Einverständnis mit seinen »Mitseienden« gerade dann bauen, wenn er jede Explizitheit vermied. Indem er das »Verfängnis« (mit der Konnotation Ge-fäng-nis) ins »Man« explizit als »Absturz« definiert, verkehrt er zudem absichtlich die beiden Seiten der (nicht) normalen Fahrt: Sehr konkret gesagt, wird Trambahnfahren als Absturz gekennzeichnet, während das Zerschellen des einsamen Fliegers in seiner »Geworfenheit« und seinem »Vorlaufen« dieser Explizitheit entbehrt. Gerade so aber gelingt es dem heideggerschen Diskurs, ein »fundamentales« projektilartiges Vehikel zu imaginieren, das präzise weder Flugzeug noch U-Boot noch Auto oder Panzer suggeriert, sondern lediglich die »fundamentale«, semantisch querschnittartige »Stimmung« all dieser (nicht) normalen Fahrten. Der als konnotierte ›Begleitstimme‹ von Sein und Zeit mitlaufende ›Roman‹ erweist sich als der Mythos von der (nicht) normalen Fahrt an die Front, wie sie etwa von Céline in der Reise ans Ende der Nacht, und noch umrissschärfer, weil ›trivialer‹, von Joseph Kessel in L’Équipage erzählt worden ist: Diese Fahrt beginnt z. B. nach Ende eines Fronturlaubs im normalen Eisenbahnzug, bis die normalen Fahrgäste vor Erreichen der Frontzone alle aussteigen und nun das einsame Dasein im Dunkel der Angst an die Front »vorläuft«, bevor es einsam das Flugzeug besteigt, mit dem es zerschellen wird. Dass Heidegger tatsächlich genau diese Situation konnotativ ›mitklingen‹ lässt, beweist eindeutig seine Anspielung auf die (in der »Judenzählung« von 1916 kulminierende) »Drückebergerei«: Die ergriffene Endlichkeit der Existenz reißt aus der endlosen Mannigfaltigkeit der sich anbietenden Möglichkeiten des Behagens, Leichtnehmens, Sichdrückens zurück und bringt das Dasein in die Einfachheit seines Schicksals (384).

Diese Beschreibung ist unter dem Aspekt von Normalismus und Antagonismus um die folgenden Präzisierungen zu ergänzen. Zunächst handelt es sich bei der Ausgangssituation des Narrativs, dem »Man« eines »durchschnittlichen« Daseins, präzise um die Normalmasse. Heidegger vermeidet (im Gegensatz zu seinen Zeitgenossen) den Begriff des Normalen und der Normalität wegen seiner lateinischen Herkunft. Dennoch konnotiert nicht nur die »Durchschnittlichkeit« den statistischen Normalismus, sondern auch die »Geworfenheit« den Würfelwurf und damit die Kollektivsymbolik des Massenatoms und des normalistischen Kügelchens. Als Atom der Normalmasse ist das Dasein »verfallen« in die Austauschbarkeit, in die Kontingenz des massenhaften Durchgeschütteltwerdens (»ist jeder Andere wie der Andere«). Da die Normalmasse keinen Ant­ agonismus kennt, geht die notwendige und notwendig mit Denormalisierungsangst verbundene Denormalisierung nicht eigentlich dem Tod, sondern dem Antagonismus »unter die Augen«. Denn nicht eigentlich der individuelle Tod, der genauso massenhaft und austauschbar wie die Normalmonade ist, befreit aus dem »Verfängnis« des »Man«, sondern der antagonistische Tod bzw. der

KS (Nicht) normale Fahrt und Antagonismus

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tödliche Antagonismus – exemplarisch im modernen Krieg. Genau in diesem Narrem des antagonistischen Endes der (nicht) normalen Fahrt aber lag eine Aporie, die zu den Motiven der »Kehre« gezählt werden muss. Diese Aporie dröhnte Heidegger und seinen »Mitseienden« nahezu täglich in die Ohren101: »eine Kugel kam geflogen / Gilt sie dir oder gilt sie mir?« Das zur Eigentlichkeit befreite Projektil-Kügelchen trifft den »Vorlaufenden« mit der absoluten Kontingenz der Normalmasse, und kann ein bloß individueller innerlicher »Wille« aus solchem »jeder Andere wie der Andere« ein »Schicksal« machen? Das ist eine Frage für die Antagonismus-Analyse, die zunächst konstatieren muss: Es gibt keinen individuellen Antagonismus – wenn schon von Schicksal die Rede sein soll, so kann nur ein Massenschicksal historischer Antagonismus sein. So drängte die konzeptuelle Schwäche des Mit-Sein-Kapitels aus Sein und Zeit (es ist die Normalmonade, die in der Normalmasse lediglich »mit« anderen Normalmonaden »da ist«) zum historischen Antagonismus, der bereits 1927 implizit der nationalistische von 1914 war, was Heidegger dann seit der Kehre auch explizit ausformulierte und auf den von 1933 und 1939 applizierte.

101 Und dröhnt nicht nur den Soldaten der Bundeswehr, pardon Soldatinnen und Solda­ ten, sondern auch ihren deutschen Mit-Seienden seit den 1990er Jahren erneut in die Ohren.

5. Sem-dialektisches Denkenals die historizistische Spielart des semsynthetischen Denkens (sein Prototyp Hegel)

Die heuristische Frage, wie die Theorie der Multitude sich zwischen Sem­ synthese und Operativität situiert, spezifiziert sich zur Alternative Semdialektik und Operativität. Als Semdialektik erweist sich die von Hegel begründete Spielart semsynthetischen Denkens, die die Semsynthese mit einer unterstellten immanenten historischen Prozess-»Logik«, »Dialektik« genannt, kombiniert. Dass schon Hegel semsynthetisch denkt, wurde bereits erwähnt – und in der Tat begegnen in teilweise verblüffender Weise die meisten bekannten semsynthetischen Signifikanten Heideggers bereits bei Hegel. Im Fall des »Wesens« etwa lassen sich zwei abweichende Semsynthesen exemplarisch konfrontieren: Während Heidegger von »an- und ab-wesen« her analysiert und synthetisiert, geht Hegel von der Perfektform »ge-wesen« aus: Was nunmehr die sonstige Bedeutung und den Gebrauch der Kategorie des Wesens anbetrifft, so kann hier zunächst daran erinnert werden, wie wir uns im Deutschen beim Hilfszeitwort sein zur Bezeichnung der Vergangenheit des Ausdrucks Wesen bedienen, indem wir das vergangene Sein als gewesen bezeichnen. Dieser Irregularität des Sprachgebrauchs liegt insofern eine richtige Anschauung vom Verhältnis des Seins zum Wesen zugrunde, als wir das Wesen allerdings als das vergangene Sein betrachten können, wobei dann nur noch zu bemerken ist, daß dasjenige, was vergangen ist, deshalb nicht abstrakt negiert, sondern nur aufgehoben und somit zugleich konserviert ist (Bd. 8, 232102).

Hegel hat die Semsynthese noch nicht wie Heidegger durch systematische Verwendung des Bindestrichs formalisiert. Er führt zwar in manchen Fällen (der bekannteste ist die »Aufhebung«) den semsynthetischen Komplex definitorisch ein und rekurriert dabei explizit auf die Sprache und die »Etymologie«, überlässt aber die semsynthetische Neufassung eines Signifikanten in der Regel Ad-hoc-Signalen des Kontexts. Wollte man Hegel mit heideggerschen Bindestrichen ausflaggen, so ergäbe sich nahezu eine komplette Serie seiner Grundbegriffe: Be-wusst-sein, Wissen-schaft, Wahr-nehmung, Be-griff (zu er-greifen), Er-schein­ung, Er-innerung, Eigen-schaft, Ge-setz, Ent-wicklung, Ent-fremdung, Emp-findung, Ver-mitt-lung, Be-fried-igung, An-erkennung. Wie bereits erwähnt, ist der klassisch gewordene Musterfall die Auf-hebung: 102 Suhrkamp Theorie: Werkausgabe, Frankfurt / Main 1970.

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Es ist hierbei an die gedoppelte Bedeutung unseres deutschen Ausdrucks aufheben zu erinnern. Unter aufheben verstehen wir einmal soviel wie hinwegräumen, negieren, und sagen demgemäß z. B., ein Gesetz, eine Einrichtung usw. seien aufgehoben. Weiter heißt dann aber auch aufheben soviel als aufbewahren, und wir sprechen in diesem Sinn davon, daß etwas wohl aufgehoben sei. Dieser sprachgebräuchliche Doppelsinn, wonach dasselbe Wort eine negative und eine positive Bedeutung hat, darf nicht als zufällig angesehen noch etwa gar der Sprache zum Vorwurf gemacht werden, als zu Verwirrung Veranlassung gebend, sondern es ist darin der über das bloß verständige Entweder-Oder hinausschreitende spekulative Geist unserer Sprache zu erkennen (Bd. 8, 204 f., ähnlich Bd. 5, 114).

Diese beiden Bedeutungen stehen also explizit für die dialektischen Schritte Negation und Negation der Negation; ergänzend wird auch zusätzlich die Bedeutung »erheben« für die dialektische Aufwärtsspirale verwendet. Kurios sind (möglicherweise als humoristisch konnotierte Fälle von »List der Vernunft«) »Volksetymologien« (wenn nicht »Etymogeleien«) von der Art »Wohl«: Wohl, das Gesetzte meiner subjektiven besonderen Befriedigung. Die Menschen wollen, daß es ihnen wohl werde. – Wohl – volo – dies ist es, was ihr Wollen ist – in Sprache so dies zusammenhängend, Wohl zum wesentlichen Willen gemacht. (Bd. 7, 227)

Hier implantiert Hegel also das Sem *will in das Wort Wohl – unter dem Vorwand, es daraus zu extrahieren. Solche gewaltsamen Semsynthesen gehen bis zur Synthese zwischen »Meinung« (Doxa) und »mein«: Die Mein-ung sei nur »meine« subjektive Ansicht (Bd. 3, 86), ähnlich die »Zucht« (zu »auf-ziehen«, »hoch-ziehen«). Wie funktioniert nun die Dialektisierung (also Prozessuierung, Historisierung) der Semsynthese, von Hegel als »spekulatives Denken« bezeichnet? Dazu wäre eigentlich eine Rekonstruktion des Fundaments der Spekulation, also der Begründung des »Geists« als »absolutes Bewusstsein an und für sich« notwendig, also einer gedanklichen Substanz, die sich, um real zu sein, notwendig in empirisches, zeitliches Sein ent-äußern bzw. ent-fremden und sodann als bewusst wiederfinden muss. Diesen Prozess will die hegelsche Spekulation sprachlich rekonstruieren. Sie steht also vor dem enormen Problem, buchstäblich aus einem Nichts per Semsynthese Alles zu entwickeln – genau das bezeichnet Hegel als »Logik«. Die »Logik« besteht in relativ abstrakten triadischen Formeln (an sich – für sich – an und für sich; Position – Negation – Negation der Negation; Allgemeines  – Besonderes  – Einzelnes; Extrem  – Mitte  – Extrem; Qualität  – Quantität – Maß usw.), ergänzt durch binäre Antithesen (äußerlich – innerlich; abstrakt  – konkret), durch deren wechselnde Kombination mit wechselnden Semsynthesen es gelingt, den Effekt eines frenetischen semantischen Gewimmels zu erzielen, das dann mit dem ganzen historischen Reichtum empirischer Phänomene neuerlich gemixt und sozusagen gesättigt wird.

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Einige Beispiele (vom noch bloß »Besonderen« langer Dauer zum im engeren Sinne Historischen): Übergang vom Recht in Moralität […] Das Verbrechen und die rächende Gerechtigkeit stellt nämlich die Gestalt der Entwicklung des Willens als in die Unterscheidung des allgemeinen an sich [seienden] und des einzelnen, für sich gegen jenen seienden [Willens] hinausgegangen dar und ferner, daß der an sich seiende Wille durch Auf­ heben dieses Gegensatzes in sich zurückgekehrt und damit selbst für sich und wirklich geworden ist. […] Nach seinem Begriffe ist seine Verwirklichung an ihm selbst dies, das Ansichsein und die Form der Unmittelbarkeit, in welcher er zunächst ist und diese als Gestalt am abstrakten Rechte hat, aufzuheben […], somit sich zunächst in dem Gegensatze des allgemeinen an sich und des einzelnen für sich seienden Willens zu setzen und dann durch das Aufheben dieses Gegensatzes, die Negation der Negation, sich als Wille in seinem Dasein, daß er nicht nur freier Wille an sich, sondern für sich selbst ist, als sich auf sich beziehende Negativität zu bestimmen. Seine Persönlichkeit, als welcher der Wille im abstrakten Rechte nur ist, hat derselbe so nunmehr zu seinem Gegenstande; die so für sich unendliche Subjektivität der Freiheit macht das Prinzip des moralischen Standpunkts aus (Bd 7, 198).

Bekanntlich behauptet Hegel, dass der Verbrecher durch seine Strafe als frei konstituiert werde – aber eben bloß »an sich« und de facto, nicht »für sich«, also bewusst. Dieser dialektische Schritt bedeute den Übergang von der bloß faktisch juristischen in die selbstbewusst »moralische Sphäre«. In der zitierten Formulierung wird dieser Übergang zunächst relativ ahistorisch dargestellt – die Systematik der Theorie funktioniert jedoch stets so, dass ein solcher dialektischer Schritt eine historische Dimension impliziert: Auch im historischen Prozess wird sich also das bloße (»positive«) Recht zeitlich vor der Moral entwickeln. Als exemplarischer Fall für die historische Dialektik im engen Sinne soll die Emergenz und historische Rolle der modernen »atomistischen« Gesellschaft dienen. Dieser Fall bietet sich deshalb an, weil er auch thematisch zur leitenden Fragestellung der Untersuchung zurückführt: Wie verhält sich die Multitude zu einer »atomisierten Masse«, und ist eine »atomisierte« identisch oder teilidentisch mit einer »normalisierten Masse« (Normalmasse)? Das »Atom« bildet einen exemplarischen Fall für die Wiederkehr einer semsynthetischen Kategorie auf verschiedenen Stufen der Entwicklung. Zuerst begegnet es bereits in der Natur, also im entfremdeten Geist, weshalb es auch in der frühgriechischen Naturspekulation erfunden wurde. Innerhalb der Geschichte, die von Hegel als dialektisch gestufte Selbst-Wiederfindung des Geistes in der Äußerlichkeit konstruiert wird, erscheint das »Atom« zunächst in der Gestalt der »abstrakten Person« im römischen Recht und im römischen Staat: Das den Griechen fehlende Moment der Innerlichkeit fanden wir bei den Römern […]. Dies Element der Innerlichkeit ist dann weiter realisiert als Persönlichkeit der Individuen, welche Realisierung dem Prinzipe adäquat und so abstrakt und formell, wie dieses ist. Als dieses Ich bin ich für mich unendlich, und das Dasein meiner ist

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mein Eigentum und meine Anerkennung als Person. Weiter geht diese Innerlichkeit nicht; aller weitere Inhalt ist darin verschwunden. Dadurch sind die Individuen als Atome gesetzt; zugleich aber stehen sie unter der harten Herrschaft des Einen, welche als monas monadum die Macht über die Privatpersonen ist. Dies Privatrecht ist daher ebenso ein Nichtdasein, ein Nichtanerkennen der Person, und dieser Zustand des Rechts ist vollendete Rechtlosigkeit. Dieser Widerspruch ist das Elend der römischen Welt. Das Subjekt ist nach dem Prinzipe seiner Persönlichkeit nur zu dem Besitze berechtigt, und die Person der Personen zum Besitz aller, so daß das einzelne Recht zugleich aufgehoben und rechtlos ist. Das Elend dieses Widerspruchs ist aber die Zucht der Welt. (12, 187 f.)

Wie bei jedem beliebigen anderen Textausschnitt bei Hegel haben wir es mit einem textum im emphatischen Wortsinne zu tun: Wie bei einem Gewebe ist der thematisch-syntaktische Prozess quasi in den Canevas der semdialektischen Schematermini eingefügt: »äußerlich – innerlich«, »abstrakt – konkret«, »Widerspruch«, »Anerkennung«, »aufgehoben«, »Zucht«. Mittels dieses »vibrierenden« Netzes semdialektisch wiederkehrender und dabei die Plätze tauschender Semkomplexe werden ein historischer Ort und ein historisches Ereignis markiert und gleichzeitig als gesetzmäßig-notwendig konstruiert. Dieses römische Ereignis ist die erste historische Emergenz des »Atoms« als einer ersten Erscheinung des innerlichen, also für sich seienden »Subjekts«, das aber noch nicht wirklich »an und für sich« ist, weil »abstrakt«. »Abstrakt« bedeutet »unbestimmt«, ohne wesentlichen Inhalt als selbstbewusste persönliche Freiheit (die dann auf der nächsten Stufe vom Christentum sozusagen in das abstrakte Atom eingefüllt wird, wodurch es »organisch« wird). Wieso dann aber der gleiche Zyklus »abstrakt-konkret« auf angeblich höherer Stufe von neuem und neuem beginnt, muss man nachlesen und kann dabei die hegelsche »List der Vernunft« bewundern. Jedenfalls taucht dann in der ersten und zweiten (1830) französischen Revolution das »Atom«, zwar semantisch angereichert, aber dennoch verblüffend ähnlich, erneut auf: Nicht zufrieden, daß vernünftige Rechte, Freiheit der Person und des Eigentums gelten, […] setzt der Liberalismus allem diesen das Prinzip der Atome, der Einzelwillen entgegen: alles soll durch ihre ausdrückliche Macht und ausdrückliche Einwilligung geschehen. Mit diesem Formellen der Freiheit, mit dieser Abstraktion lassen sie nichts Festes von Organisation aufkommen. Den besonderen Verfügungen der Regierung stellt sich sogleich die Freiheit entgegen, denn sie sind besonderer Wille, also Willkür. Der Wille der Vielen stürzt das Ministerium, und die bisherige Opposition tritt nunmehr ein; aber diese, insofern sie jetzt Regierung ist, hat wieder die Vielen gegen sich. So geht die Bewegung und Unruhe fort. Diese Kollision, dieser Knoten, dieses Problem ist es, an dem die Geschichte steht und den sie in künftigen Zeiten zu lösen hat. (12, 534 f.)

Genau wie in Rom ist nun in der Moderne (und die zuletzt zitierten Formu­ lierungen grüßen sozusagen bereits Luhmann) das »Atom« wieder »formell«,

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»abstrakt« und »unorganisch«  – muss also erneut einen »Widerspruch« lösen (durch erneute »Konkretisierung«, wie wir bereits wissen können). Ganz ähnlich wie bei Heidegger erweist sich auch die semdialektische Synthese als konnotativ vom Interdiskurs gespeist. Das ist bei Hegel sogar sehr viel transparenter als bei Heidegger, weil man nur die diachronische Stufung synchronisch lesen muss: (Diskurse) Naturwissenschaft: physikalisches Atom; Psychologie: Willens-Atom; Recht: Eigentümer-Atom; Politik: Wähler-Atom.

Der Effekt einer philosophischen Wesens-Konstruktion stellt sich also wie bei Heidegger als Konstruktion konnotativ interdiskursiver Synthesen heraus. Die historische Applikation der semsynthetischen Begriffe wäre gar nicht möglich, wenn diese Begriffe wirklich rein »logisch« wären. Das erweist sich besonders klar am Beispiel der Ver-mitt-lung, nicht bloß bei Kojève dem dominanten Begriff überhaupt103. Dabei ist die deutsche Synthese von *mitt-e und *mitt-el in andere Sprachen gar nicht telle quelle übersetzbar104. (Diskurse)  Technik: Mittel; Ökonomie: Mittel, s. mittellos; Soziales, Recht, Politik: Ver-mitt-lung (Kompromiss105); Religion: Jesus der Mittler; Kunst: Mitte (Symmetrie).

Man wird insbesondere die interdiskursive Integration von Ökonomie und Religion im Kontext des neuen Zyklenkombinats um 1800 analysieren müssen. Das Beispiel des Atoms bot sich jedoch nicht zuletzt deshalb als Musterfall an, weil es direkt mit dem um 1830 höchst aktuellen normalistischen Komplex (Massendaten, Wahrscheinlichkeitsrechnung, Bestimmung von »Normalitäten«) zusammenhängt. Hegel war davon ohne Zweifel nicht nur unterrichtet, sondern auch fasziniert. Er handelt davon auf semdialektische, nicht operative Weise in seinen »logischen« Ausführungen über Quantität und Qualität, über das Eins und die Serie (woran Sartre anschließt: dazu KS 9). Auch die materialistische Semdialektik bei den »linken« Junghegelianern der nächsten Generation mit ihrer »Logik« des Umschlags und des Um-stürzens (»vom Kopf wieder auf die Füße Stellens«) ist vom hegelschen Diskurs sozusagen bereits paratgehalten. Überall, wo das hegelsche begriffliche Gerüst (an sich – für sich – an und für sich, Position – Negation – Negation der Negation, Extrem – Vermittlung – Extrem usw.) den Diskurs trägt und die positiven (»materiellen«) Daten und Fakten in dieses Gerüst lediglich eingefügt werden, wird die Semdialektik fortgeschrieben. Wie Louis Althusser sehr präzise (und diskursanalytisch avant la lettre) ausgeführt hat, gilt das auch noch für den frühen 103 Alexandre Kojève, Hegel. hg.v. Iring Fetscher, Frankfurt / Main 1975. 104 Frz. médiation (bei Kojève, Hippolyte, Sartre, Merleau-Ponty u. v. a.) konnotiert eine andere, stark vom »Medium« bestimmte (und damit modernere) Semsynthese. 105 Vgl. die (allerdings »chemisch« ironisierte) Mittler-Figur der Wahlverwandtschaften.

KS Ideologie und / oder Interdiskurs

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Marx vor seinem »epistemologischen Einschnitt« von 1845 und weitgehend für Engels. In Abschnitt 7.3 dieser Studie wird die These vertreten, dass der eigentliche »epistemologische Einschnitt« bei Marx in der Entwicklung einer zyklologischen Theorie der Ökonomie und programmatisch-unausgeführt auch der anderen Teilsysteme (des »Überbaus«) liegt.

KS  5 Ideologie und / oder Interdiskurs Der Ideologiebegriff wird schon bei Marx und Engels in verschiedenen Bedeutungen (mit der Dominanz eines durch Klassen-»Interesse« deformierten Wissens) verwendet, die dann bei späteren Autoren noch weiter divergieren106. Unter diesen Bedeutungen lässt sich jedoch eine diskurstheoretisch sehr präzise eingrenzen: als ein bestimmter, u. a. von Hegel repräsentierter, Typ von Interdiskurs. Dieses Konzept klingt schon im Titel einer »deutschen Ideologie« (im Gegensatz zu einer »englischen« und »französischen«) an. Worin besteht der Unterschied zwischen den drei ›nationalen‹ Ideologien? Kollektivsymbolisch darin, daß die »englische« und die »französische Ideologie« der »irdischen Basis« »näher« stehen als die »deutsche Ideologie«: Die erste geschichtliche Tatsache ist (…) die Erzeugung der Mittel zur Befriedigung dieser Bedürfnisse, die Produktion des materiellen Lebens selbst (…). Das Erste also bei aller geschichtlichen Auffassung ist, daß man diese Grundtatsache in ihrer ganzen Bedeutung und ihrer ganzen Ausdehnung beobachtet und zu ihrem Rechte kommen läßt. Dies haben die Deutschen bekanntlich nie getan, daher nie eine irdische Basis für die Geschichte und folglich nie einen Historiker gehabt. Die Franzosen und Engländer, wenn sie auch den Zusammenhang dieser Tatsache mit der sogenannten Geschichte nur höchst einseitig auffaßten, namentlich solange sie in der politischen Ideologie befangen waren, so haben sie doch immerhin die ersten Versuche gemacht, der Geschichtsschreibung eine materialistische Basis zu geben, indem sie zuerst Geschichten der bürgerlichen Gesellschaft, des Handels und der Industrie schrieben. (MEW 3, 28) – Während die Franzosen und Engländer wenigstens an der politischen Illusion, die der Wirklichkeit noch am nächsten steht, halten (sic), bewegen sich die Deutschen im Gebiete des »reinen Geistes« und machen die religiöse Illusion zur treibenden Kraft der Geschichte. (ebd., S. 39)

Zuvor hatten Marx und Engels ein wörtlich »positives«, an den Naturwissenschaften des 19. Jahrhunderts orientiertes, also positivistisch-szientistisch (empi­risch) gefasstes Wissenschaftsmodell auch für die Geschichte als bindend 106 Eine sehr gute Analyse gibt Étienne Balibar, »La vacillation de l’idéologie dans le marxisme«, in: La crainte des masses, 167–279. Häufig wird auch die im Kapital entwickelte Kategorie gesellschaftlich-objektiver »Fetische« mit den Ideologie-Konzepten vermengt: zu unrecht.

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erklärt. (Die Historiker der Annales sollten dem folgen.) Bei solchen positiven Wissenschaften handelt es sich also um Spezialdiskurse. Demgegenüber geht es bei sämtlichen »Ideologien« wie Religion, Philosophie, besonders Populärphilosophie, Politik und (»sogenannte«, d. h. interdiskursive)  Geschichte um typische Interdiskurse, oder, wie der späte Engels einmal mit wünschenswerter Deutlichkeit formuliert, um »Wissenschaften vom Gesamtzusammenhang«: In beiden Fällen (Natur und Gesellschaft, J. L.) ist er (der moderne Materialismus, J. L.) wesentlich dialektisch und braucht keine über den anderen Wissenschaften stehende Philosophie mehr. Sobald an jede einzelne Wissenschaft die Forderung herantritt, über ihre Stellung im Gesamtzusammenhang der Dinge und der Kenntnis von den Dingen sich klar zu werden, ist jede besondere Wissenschaft vom Zusammenhang überflüssig. Was von der ganzen bisherigen Philosophie noch selbständig bestehen bleibt, ist die Lehre vom Denken und seinen Gesetzen – die formelle Logik und die Dialektik. Alles andere geht auf in die positive Wissenschaft von Natur und Geschichte (MEW Bd. 19, 207).

Abgesehen vom Reizwort Dialektik dürfte dieses Programm das Herz jedes Positivisten höher schlagen lassen. Diskurstheoretisch übersetzt: Interdiskurse sind überflüssig, und wir schließen ferner: »Ideologie« meint in ihrem Sachgehalt Interdiskurs. Dabei wird das häufig für »Ideologien« postulierte Kriterium der (›horizontal‹-enzyklopädischen) »Totalität« sozusagen in eine ›Verti­ kale‹ (Basis-Überbau) projiziert: Es geht im wesentlichen um die Integration der Spezialdiskurse Wirtschaftsgeschichte, Rechtsgeschichte, politische Geschichte und Kulturgeschichte. Die jeweiligen »Ideologien«, d. h. Interdiskurse, werden unterschieden nach dem jeweiligen dominanten Diskurs, von dem die anderen »abgeleitet« werden: Je »entfernter« dieser Ableit- und Leitdiskurs des jeweiligen Interdiskurses ist von der materiellen »Basis«, wie sie der »positive« ökonomische Spezialdiskurs von Marx rekonstruieren möchte, um so »ideologischer« im Sinne von »nebelhafter« ist der entsprechende Interdiskurs. Als funktionale Kategorie der Kopplung zwischen den Diskursen im materialistischen Sinne dient auch hier wie in den anderen Spielarten des Ideologiebegriffs das »Interesse« in der Bedeutung Klasseninteresse: Mittels dieser Kategorie ist die jeweilige Funktion der ›entfernteren‹ Diskurse für die ökonomische Basis herauszuarbeiten – im Maße, in dem das »Interesse« vergessen wird, werden die ›entfernten‹ Diskurse mehr oder weniger stark »ideologisch«. Deshalb hält die »deutsche Ideologie« den Rekord, weil ihr Leitdiskurs, die Philosophie bzw. die Kulturgeschichte, schon selbst ein Interdiskurs ist und die Ideologie damit ins Quadrat erhoben wird. Deutlich ist das dominante Modell der »deutschen Ideologie« – wegen der Betonung der historischen Dimension – Hegel. Dabei besteht die »Illusion« also in drei Aspekten fehlerhafter interdiskursiver Integration des Spezialwissens: Erstens Fehler in der Bestimmung des dominanten Spezialdiskurses. Dieser Fehler kennzeichnet auch die »englische« und »französische Ideologie«:

KS Ideologie und / oder Interdiskurs

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Dort wird der politische Spezialdiskurs dominant gesetzt. Zweitens Fehler in der Totalisierung: Das Spektrum der Spezialdiskurse ist fragmentarisch, wird aber als total gesetzt (Hegels Unkenntnis vieler Naturwissenschaften). Drittens Monotonie der Ableitung: Die subdominanten, abgeleiteten Diskurse wiederholen einfach per Kollektivsymbolik die Konstituenten des dominanten (bei Hegel philosophischen) Spezialdiskurses. Wie verhält sich nun diese Intuition einer Interdiskursanalyse zur Denkfigur Illusion-Interesse? In der Privilegierung der »englischen« und »französischen« gegenüber der »deutschen Ideologie« erweist sich, dass auch in der »Ideologie« ein »positives Wissen« stecken kann (was für die interdiskurstheoretische Sicht trivial ist). Nur auf extrem reduktionistische Weise kann dieses in der »Ideologie« auftauchende Wissen mit dem Interessetheorem integriert werden: Das (bourgeoise) Klasseninteresse der »Engländer« und »Franzosen« ist dann weniger »illusionär« als das »kleinbürgerliche« Klasseninteresse der »Deutschen« – lauter höchst unplausible Reduktionen als Folgelasten einer fehlenden Intelligenz- und Hegemonietheorie, wie sie später Antonio Gramsci entwickeln sollte. Das deutlichste Symptom dieser Defizite besteht nun in einem Überhang an kollektivsymbolischen, vor allem dualistischen metaphorischen Modellen wie Erde vs. Himmel, Basis vs. Überbau, Pflaster vs. Nebel / Wolken, dick vs. dünn, fest vs. gasförmig, Pfundskerl vs. Gespenst usw., deren (»ideologische«! mithin unbewusste) Funktion darin besteht, die theoretischen Defizite im Wortsinne zu »verschleiern«. Ein Ensemble optischer Modelle von Illusionen und Halluzinationen wie täuschende bzw. deformierende Reflexe in Spiegeln oder auf Nebeln, verschleierte Körper, verkehrte Bilder in der Camera obscura, gespenstische Erscheinungen der Fata Morgana usw. suggerieren die »Ideologie« als irreführendes, illusionäres Abbild der jeweiligen zugrunde liegenden »materiellen« Wirklichkeit. Der dualistische Grundzug dieser Kollektivsymbolik, der sich gegen auch monistisch lesbare Metaphern wie Überbau, Sublimat oder (Hirn-)Gespinst durchsetzt, dematerialisiert in paradoxer Weise alle »ideologischen« Phänomene, also alle Diskurse (vor allem alle Interdiskurse) und alle diskursiven Effekte wie Wissen, Wissens-Macht, Körperprägung, individuelle und kollektive Subjektivierung und As-Sociation als Rhythmisierung der Körper. Auf Foucault bezogen: Der Komplex der »Ideologie« signalisiert ein para­ doxes Defizit an Materialismus der Diskurse und Subjektivitäten bei Marx, das Foucault mit seiner Archäologie und Genealogie, insbesondere mit seiner immer die Körper einbeziehenden Dispositiv- und Subjektivierungstheorie gefüllt hat107. Die Achse der Wissensproduktion, die mit ihren Entdeckungen und Inventionen einer Logik ›horizontaler‹ Spezialisierung folgt, ist prinzipiell autonom gegenüber der ›vertikalen‹ Achse der Macht herrschender Eliten, aber auch der 107 Vgl. Verf., »Wissen und Macht statt Ideologie und Interesse. Plausibilitäten und Defizite in Foucaults Marx-Kritik«, in: Prokla 152 (2008), 442–457.

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Gegenmacht beherrschter Gruppen, in Klassengesellschaften. Die Achse der Wissensproduktion ist demnach keine (per »Interesse«) abhängige Variable der Achse der Stratifikation. Damit wird – und das zu begreifen ist der springende Punkt  – keineswegs die empirisch-historisch weitestgehende Funktionalität der Wissens- für die Machtachse geleugnet. Jedoch ist diese Funktionalität des Wissens für die Macht stets als Resultat (ex post) »strategischer« Prozesse zu begreifen und nicht als Sich-Durchsetzen eines (ex ante bereits alle Wissensproduktion bestimmenden) Klasseninteresses innerhalb der Diskurse. An einem exemplarisch einleuchtenden Beispiel: Es wäre offensichtlich absurd, die Modulationen und Instrumentalisierungen bei Beethoven aus einem »bürgerlichen Klasseninteresse« »ableiten« zu wollen. Es ist aber nicht weniger absurd, den »klinischen Blick« in der Medizin des 19. Jahrhunderts daraus »ableiten« zu wollen usw. Grundsätzlicher gesagt: Die interdiskursive Wissensintegration mittels selektiver Synthesen aus dem je historischen, ›horizontalen‹ Wissensfächer der Spezialdiskurse (allgemeiner Stand der Wissenschaft und Technik) ist notwendig für die Subjektivierung des Wissens und ist notwendig fragmentarisch und perspektiviert – diese Selektivität ist jedoch nicht aus einer ›vertikalen‹ Position (Klasseninteresse) ableitbar, sondern kombiniert sich ex post damit. So erklären sich die vielfältigen Überschneidungen verschiedener Diskurspositionen auf der Basis gleichen oder weitgehend ähnlichen spezialdiskursiven Wissens. Der Ideologiebegriff tendiert in seinem Gebrauch meistens zur kurzschlüssigen pauschalen Ableitung der interdiskursiven Synthesen aus einem Klasseninteresse statt sie generativ auf die Spezialdiskurse und die Unmöglichkeit ihrer Totalisierung zu beziehen.

6. Digitalarbeit, Multitude und Normalmasse – Zyklologie, Generativismus und antagonistische Tendenzen

Bereits bei der (Inter)Diskursanalyse der heideggerschen Semsynthese wurde dessen Verfahren mit einem »operativen« konfrontiert, für das sichere Anschließbarkeit an empirische Prozesse sowie insbesondere an die Rekonstruktion generativer Mechanismen postuliert wurde. Geht es dabei um ein posi­ tivistisches Konzept (und Foucault bekannte sich ja zu einem »glücklichen Positivismus«108)? In der Tat spielen »positive« (empirisch erhobene) Daten so wie in den »positiven« Natur- und Sozialwissenschaften auch für das Konzept der Operativität eine konstitutive Rolle. Aber es endet nicht dabei (ein Verfahren, das bei der Erhebung, Analyse, Extrapolation und technischen Nutzung empirischer Daten endet, mag man unterscheidend »operational« nennen).

6.1 Eine generative »Tiefenstruktur« muss nicht dualistisch (geistestypologisch) sein Um die Differenz zu verdeutlichen, soll Foucaults Kritik am hermeneutischen »Tiefen«-Modell, mit dem das generative »Tiefen«-Modell Noam Chomskys unglücklicherweise den Namen zu teilen scheint, ihrerseits kritisch ergänzt werden. In seinen methodologischen Schriften kritisiert Foucault am hermeneutischen »Kommentar« das Bemühen, »unter« dem »äußeren« Oberflächen-Text einen »inneren« Tiefen-Text enthüllen zu wollen: Aber andererseits hat der Kommentar, welche Methoden er auch anwenden mag, nur die Aufgabe, schlussendlich (enfin) zu sagen, was tief unten (là-bas) schon verschwiegen artikuliert war.109

Wenn Heideggers Denken nach Gadamer als wesentlich hermeneutisch begriffen werden muss, dann stellt das semsynthetische Verfahren den Musterfall solchen Entbergens-Verbergens einer Tiefen-Wahrheit dar: Die moderne »exakte« Wissenschaft beruht auf der »Feststellung von Tatsachen«?  – »Fest-stellung« /  »Vor-stellung« / »Dar-stellung« / »Ein-stellung« / »An-/Abstellung« usw. – »Ge-stell«! 108 Michel Foucault, Die Ordnung des Diskurses, Frankfurt / Main (Fischer) 1991, 44. Frz. Paris (Gallimard) 1971, 72. 109 Die Ordnung des Diskurses, 19; frz. 27 (Übersetzung teilweise modifiziert).

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Digitalarbeit, Multitude und Normalmasse

Heideggers Diskurs ist insofern »kommentierend« im Sinne Foucaults, als er eine solche Semsynthese differenzierend entfaltet und vor allem historisch  – durch die hermeneutische Feinlektüre paradigmatischer Philosophen (etwa des Descartes) – fundiert. Foucault hat Chomskys generative Grammatik mit ihren »Tiefenstrukturen« nur peripher gestreift und nicht eigens auf ihren epistemologischen Status hin reflektiert. Das ist insofern bedauerlich, als er im generativen Modell eine grundsätzliche Alternative zur hermeneutischen Dichotomie Oberfläche-Tiefe hätte entdecken können. Denn Foucault destruiert zwar radikal die »Tiefe«, bleibt aber mit seiner Favorisierung der »Positivitäten« (insofern diese als »Oberfläche« erscheinen) noch teilweise der Dichotomie verhaftet. Die favorisierten empirischen »Serien« diskursiver Ereignisse sollen auf ihre Diskontinuitäten und Streuungen hin analysiert werden. Als »atomares« diskursives Ereignis gilt Foucault die »Aussage« in einem spezifischen Sinn. Eine solche Aussage könnte etwa lauten: »Die moderne Technik auf naturwissenschaftlicher Basis ist ein Ge-stell«. Die erste »Emergenz« dieser Aussage lässt sich eindeutig in Heideggers Diskurs »feststellen«. Sie bildet einen Bruch (Diskontinuität) gegenüber anderen Aussagen über diese Art Technik. Wo sie dagegen so oder ähnlich wiederholt wird (wie etwa bei Friedrich Kittler), zeichnet sich eine »Serie« ab. Die »positive« Beschreibung dieser Serie zwischen diskontinuierlicher Emergenz, Wiederholung und Transformation erlaubt (zusammen mit anderen parallelen Aussagen) die Konstitution einer diskursiven Einheit »seinsgeschichtliche Technikphilosophie«, wobei weder ein einheitliches Autor-Subjekt noch ein einheitlicher GeistesTyp auf einer »Tiefen«-Ebene impliziert ist. Dennoch aber beschränkt sich diese Diskursanalyse nicht wirklich auf eine »positive (Ober-) Fläche«, wie es bereits Begriffe wie »Emergenz« oder »Mutation« verraten110: Das sind Modellvorstellungen der neodarwinistischen Evolutionsbiologie, mit der die foucaultsche Diskursanalyse also eine »Kopplung« herstellt111. Der Neodarwinismus ist ein Beispiel für einen operativen Diskurs, der epistemologisch jenseits der hermeneutischen Dichotomie von empirischer »Oberfläche« und »wesenhafter Tiefe« verfährt. Im folgenden wird vorgeschlagen, einen solchen epistemologischen Status mit dem Begriff des Generativismus zu bezeichnen. Am generativen Modell der Sprachtheorie Noam Chomskys 110 Gehäuft etwa bei der Darstellung des großen »Bruchs« (»rupture«) bzw. der großen »Diskontinuität« um 1800 in Les mots et les choses, Kapitel VIIff. 111 Philipp Sarrasin (Darwin und Foucault. Genealogie und Geschichte im Zeitalter der Biologie, Frankfurt / Main 2009) hat auf solche Symptome seine These begründet, dass Foucaults Historiographie epistemologisch ganz fundamental Darwins Evolutionstheorie verpflichtet sei. Für die Ablehnung von Historizismus und Teleologie ist das plausibel. Begriffe wie »Mutation« werden aber nicht spezifisch verwendet. Sehr viel evidenter ist bei Foucault die Epistemologie der Annales-Schule, explizit in der Einleitung zu L’archéologie du savoir (dazu Ulrich Brieler, Die Unerbittlichkeit der Historizität. Foucault als Historiker, Köln u. a. 1998).

Zyklologie: Zyklen ersten, zweiten und dritten Grades

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lässt sich (unabhängig von seiner empirischen Tauglichkeit, also Operationalität) aufweisen, dass sich eine »positivistische« Beschränkung auf Daten einer empirischen Oberfläche aufheben lässt, ohne dass dadurch irgendein (implizit dualistisches) »Tiefen«-Phantasma postuliert werden müsste: Alle Transformationsstufen einer generativen Grammatik sind gleichermaßen »positiv«  – die »Tiefen«-Struktur der generativen Grammatik (in der Tat ein unglücklicher Ausdruck) ist, um es paradox zu formulieren, reine »Oberfläche«. Das gleiche gilt nun aber für alle Produktionsprozesse sowohl natürlicher wie sprachlicher wie künstlicher Objekte.

6.2 Zyklologie: Zyklen ersten, zweiten und dritten Grades Daraus folgt, dass eine »Serie« als das Resultat eines Reproduktionskontinuums, also eines Kontinuums ununterbrochener Reproduktionszyklen begriffen werden muss. Nur wenn das jeweilige Zyklusmoment des abgeschlossenen Produkts (Outputobjekt) von den anderen Momenten seines generativen Zyklus getrennt und isoliert den früheren, gleichzeitigen und späteren fertigen Produkten gegenüber gestellt wird, ergibt sich eine »Serie«. Eine solche Serie besteht also nur scheinbar bloß aus positiv zu konstatierenden Fakten bzw. Daten. Diese Posi­tivität ist das Resultat einer Abstraktion vom Produktionszyklus, dessen einzelne Phasen nichts mit einer latent dualistischen hermeneutischen »Tiefe« (etwa einer ontologischen Substanz »Geist«) zu tun haben, sondern ebenso positiv sind wie die resultierenden Phänomene. Im folgenden wird zu zeigen sein, dass auf einer Zeitachse geordnete »Serien« vergleichbarer (homogener) Daten (z. B. Anzahl der Autos 1900, 1901, 1902 ff. oder der Mobiltelephone 1992 ff., 1996 ff. Nokia, 2007 ff. iPhone) »Kurven« (Evolutionskurven) konstituieren. Damit erweisen sich solche Serien als integrale Bestandteile von Verdatung und Normalismus. Statt einer Kurve reiner Quantitäten (von Autos oder Mobiltelephonen) könnte auch der Wechsel der Typen zeitlich in Serien geordnet werden: Der paradigmatische Fall dafür sind die Kurven der biologischen Evolution nach Darwin (z. B. der Aufstieg der Säuger bis zum Menschen, etwa als Serie der Gehirnvolumina). Analog wäre eine Evolutionskurve der Pkw-Autotypen zwischen Kutschenmodell und SUV oder der Mobiltephontypen mit dem Wechsel von GSM zu UMTS und der Revolution des iPhone. Auf längere Sicht können einzelne Evolutionskurven ein wellenförmiges, also latent zyklisches Pattern aufweisen. Der Musterfall ist das Auf und Ab einer Mode zwischen »klassisch« und »romantisch«. Für den Normalismus fundamental ist die Kurve des Normalwachstums, die sich als Integration einer linearen Steigung und einer periodischen Welle schematisieren lässt (s. u. Abschnitt 10.4). Wir haben es demnach mit verschiedenen Begriffen von »Zyklus« zu tun, die im Rahmen einer zyklologischen Theorie zu unterscheiden sind:

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Digitalarbeit, Multitude und Normalmasse

Zyklen ersten, zweiten und dritten Grades (Primärzyklen, Sekundärzyklen, Tertiärzyklen). Warum soll die Serie der Auto- oder Mobiltelephontypen »dritten Grades« heißen? Die Elemente dieser Zyklen sind Designtypen, allgemeiner Stiltypen, die sich etwa analog zu Moden zyklisch zwischen viel und wenig Ornament oder (bei Autos) zwischen rundlichem und länglichem Design bewegen. Solche historischen Stiltypen, vergleichbar einer neuen Species in der biologischen Evolution, sind seltener als Ausprägungen eines Stils (vergleichbar einem neuen Genotyp) und viel seltener als einzelne Produkte (Individuen). Als Zyklen zweiten Grades seien demnach wellenförmige Kurven von Stilausprägungen bezeichnet. Man kann die Elemente solcher Kurven als analog zu Mutationen in der biologischen Evolution auffassen. In der Geschichte der Mobiltelephone würde die Einführung des Apple iPhone als erster Typ eines Smartphone im Jahre 2007 den Musterfall einer solchen Mutation darstellen. Ein verbreiteter interdiskursiver Begriff für solche Zyklen zweiten Grades ist der der »Generation«, worin die Kategorie des Generativismus semsynthetisch bewahrt ist. Seither ist an die Stelle der Generation die simple Nummerierung getreten: zunächst in den Produkten der Digitalwirtschaft, dann sehr generell als Industrie 1.0, 2.0, 3.0, 4.0 usw. Zyklen ersten Grades schließlich sind die generativen (Re)Produktionszyklen des einzelnen konkreten Produkts (biologisches Individuum112, einzelnes Auto, einzelnes Mobiltelephon) selbst. Der Zyklus ersten Grades läuft also von der tabula rasa zum fertigen Objekt, anschließend von erneuter tabula rasa zum nächsten Objekt usw. Die einzelnen Elemente (zeitlich Phasen) des Zyklus ersten Grades sind die ›Stufen‹ der Produktion, anders gesagt ihr generatives Schema oder Modell. Dieses Modell kann man sich als eine Art Flussdiagramm (Datenflussdiagramm, data flow diagram) vorstellen: Es läuft von einem Input von Material über verarbeitende Zwischenstufen zu einem Output und beginnt dann von neuem mit neuem Material. Der Musterfall solch zyklischer (Re)Produktion ist die industrielle Massenfertigung und deren Musterfall wiederum die Fließbandproduktion eines Autos. Das Fließband ist das materialisierte Flussdiagramm: am Anfang die Inputs aus Halbfabrikaten (die ihren eigenen generativen Produktionsprozess schon hinter sich haben), dann stufenweise die Montage, bis am Schluss als Output das fertige Auto vom Band rollt – und dann quantitativ seriell das jeweils folgende. Jede operative Modellierung bzw. Simulation der Phänomene, die hermeneutisch und geistestypologisch mithilfe der Dichotomie von ›Oberfläche‹ und ›Tiefe‹ beschrieben werden, was stets einen ontologischen Dualismus impliziert, mag er auch wie bei Heidegger explizit geleugnet werden, muss zyklologisch ver 112 Das fundamentale Modell sind die Körperzyklen, und insbesondere seit seiner Entdeckung durch William Harvey 1628 der Blutkreislauf, der bei Quesney direkt das Modell des ersten ökonomischen zyklologischen Modells inspirierte.

Antagonismen in zyklologischer Fassung

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fahren. Nur so lassen sich die generativen Prozesse (die ›Tiefenstruktur‹) operativ rekonstruieren. Nur so lässt sich aber auch die konstitutive Spezialisierung moderner Gesellschaften (in Spezialpraktiken-Spezialdiskurse bzw. gröber gefasst in Teilsysteme) operativ modellieren. Die für jede statistische Verdatung konstitutive Bedingung der Homogenität der Daten einer speziellen »Dimension« – damit nicht »Äpfel mit Birnen verglichen werden«  – ist das Resultat eines je besonderen Produktionszyklus: Eine erfolgreiche oder gescheiterte Therapie ist Produkt des medizinischen Spezialpraxis-Spezialdiskurses (mit den zyklischen Stationen Arztausbildung – Arztprüfung – Diagnose – Therapie), die friktiv an den Kapitalzyklus gekoppelt ist. Zyklus in der hier verwendeten zyklologischen Bedeutung unterscheidet sich also, um zu resümieren, von bloßer Periodik oder Rhythmik: Epistemologisch konstitutiv ist der Zyklus ersten Grades als Zyklus der (Re)Produktion von Produkten, also als generativer Zyklus. Die Zyklen zweiten und vor allem dritten Grades lassen sich, falls sie losgelöst von ihren Zyklen ersten Grades betrachtet werden, auch als bloße periodische Wellen, als Rhythmen oder als Kurven auffassen. Als solche lassen sie sich im Rahmen des Normalismus verdaten und zu Elementen normalistischer »Kurvenlandschaften« verarbeiten (dazu ausf. Kapitel 12).

6.3 Antagonismen in zyklologischer Fassung – am Beispiel Multitude bzw. Digitalarbeit Das zyklologische Denkmodell bildet demnach zunächst ein konstitutives Element des epistemologischen Rahmens der vorliegenden Studie (Begriff der Operativität im Gegensatz zur Semsynthese). Es dient darüber hinaus aber auch der aktualhistorischen Analyse der mit dem Konzept Postmoderne gekennzeichneten Epoche und insbesondere der Problematik des Antagonismus und im Zusammenhang damit des Normalismus. Antagonismen können zyklologisch entweder als irreversible Denormalisierungen innerhalb des Zyklus eines Spezialpraxis-Spezialdiskurses bzw. eines Teilsystems gefasst werden oder als eine irreversible Denormalisierung der Kopplung zwischen Praktiken-Diskursen. Der erste Typ von Antagonismus soll intrazyklisch heißen, der zweite interzyklisch. Die dialektische Tradition einer Antagonismusanalyse hat sich im wesentlichen nur mit intrazyklischen Antagonismen befasst, worin sich die Übermacht des marxschen Modells (intra-sozioökonomischer Antagonismus Kapital vs. Arbeitskraft) manifestiert. Die These einer antagonismuslosen Postmoderne stützt sich auf die These von der definitiven Implosion dieses Antagonismus um 1989. Es wird sich aber zeigen (s. u. Kapitel 9), dass isolierbare intrazyklische (Phäno-) Antagonismen eher normalisierbar sind als interzyklische, weshalb gerade die Analyse der letztgenannten neue Erkenntnisse verspricht.

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Digitalarbeit, Multitude und Normalmasse

Die These von der Emergenz einer antagonistischen Multitude ist ebenfalls in einem solchen zyklologischen Kontext operativ zu situieren. Dabei bezieht sich die Teilthese von der immateriellen bzw. biopolitischen Arbeit (Digitalarbeit) auf einen technischen Zyklus, der an einen ökonomischen Zyklus (Kapitalismus) gekoppelt ist. Das gesamte Phänomen einer zu einem Empire antagonistischen Multitude muss als Resultat mehrerer eng gekoppelter aktualhistorischer Zyklen gefasst werden, deren gebündeltem Reproduktionsprozess die Diagnose der Nicht-Normalisierbarkeit gestellt wird. Es geht dabei also gerade auch um interzyklische antagonistische Verknotungen. Empirisches Datenmaterial liefert die globale Krise von 2007 ff., die deshalb ein ständiges Leitthema der vorliegenden Untersuchung und außerdem Thema mehrerer gesonderter Kapitel ist. Diese Krise, die ja auch im hegemonialen mediopolitischen und medioökonomischen Diskurs unter der Fragestellung »zyklische Krise oder nicht« diskutiert wird, drängt sozusagen von selbst zu einer zyklologischen Betrachtung. Bereits hier lässt sich sagen, dass es sich bei der diskutierten Zyklik (Zyklus der Finanzströme, Zyklus der ökonomischen Konjunktur, Zyklus der Kapitalakkumulation und der Einkommensverteilung) um Zyklen zweiten Grades handelt, deren Integral die unendliche Schlangenkurve des Normalwachstums ist, die im Rahmen des Normalismus erörtert wird (s. u. Kapitel 10–14). Wie bereits erwähnt, geht es im Unterschied dazu bei der immateriellen bzw. biopolitischen Arbeit um einen Zyklus ersten Grades. Negri und Hardt reklamieren, wie bereits erörtert, für ihre Theorie der Multitude durchaus einen »empirischen« und damit operativen Status. Ebenso deutlich lehnen sie an vielen Stellen sowohl für ihr Konzept der Multitude wie für den unterstellten »Antagonismus« (E, 61) zwischen Multitude und Empire einen »dialektischen« Status ab: On the contrary, our reasoning here is based on two methodological approaches that are intended to be nondialectical and absolutely immanent: the first is critical and deconstructive, aiming to subvert the hegemonic languages and social structures and thereby reveal an alternative ontological basis that resides in the creative and productive practices of the multitude; the second is constructive and ethico-political, seeking to lead the processes of the production of subjectivity toward the constitution of an effective social, political alternative, a new constituent power. (E, 47)

Das marxsche Postulat einer tendentiell notwendigen Subjektivierung der objektiven Verelendungstendenz einer zum Selbstverkauf gezwungenen Arbeitskraft (Proletariat) wird als obsolet erklärt: In the cold placidness of postmodernity, what Marx and Engels saw as the co-presence of the productive subject and the process of liberation is utterly unconceivable. (E, 64)

Marx hatte im Kapital eine als operativ intendierte Theorie der zyklischen Repro­duktion von Kapital und dadurch mitgerissener Reproduktion nackter

Das Theorem von der »Zeit-losigkeit« der »immateriellen Arbeit«

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Arbeitskraft entworfen, in der ein tendentiell »explosiver« Antagonismus operativ induziert sein sollte. Bei Negri und Hardt scheint der Nexus zwischen objektiver und subjektiver Tendenz gelöst und auf den ersten Blick ein unscharf flottierendes Nebeneinander »subjektiver« und »objektiver« Faktoren zu herrschen: New figures of struggle and new subjectivities are produced in the conjuncture of events, in the universal nomadism, in the general mixture and miscegenation (Rassen­ mischung) of individuals and populations, and in the technological metamorphoses of the imperial biopolitical machine (E, 61).

Nur beim letztgenannten Faktor haben wir es mit »objektiven«, möglicherweise operativ modellierbaren Prozessen zu tun: eben mit der Digitalarbeit. Neue Subjektivitäten und als deren Produkt die Multitude scheinen dem ersten Anschein nach jedoch relativ unabhängig davon direkt aus antagonistischen »Ereignissen« zu emergieren. In Empire wird eine Serie von sechs eingestandenermaßen heterogenen und weitgehend lokal wie temporal isolierten Ereignissen aufgezählt: »Beijing, Nablus, Los Angeles, Chiapas, Paris, Seoul« (E, 54) – also Tiananmen 1989, Intifada 1989, die kalifornischen Riots 1992, die Zapatistas 1994, die französischen Streiks 1995 und die koreanischen 1996. Seither wurden in den weiteren Publikationen weitere Ereignisse (wie die Bewegung gegen den Irakkrieg 2003) hinzugefügt. Es handelt sich dabei um eine »Serie« von Ereignissen, deren »Positivität« gegenüber Foucault noch gesteigert erscheint, da ihnen explizit eine reproduktive Zyklizität im Sinne von Marx abgesprochen wird: Perhaps precisely because all these struggles are incommunicable and thus blocked from travelling horizontally in the form of  a cycle, they are forced instead to leap vertically and touch immediately on the global level (E, 55).

Da eine globale »Ebene« nicht anders als »horizontal« vorgestellt werden kann, ist das Modell aporetisch. Festzuhalten ist jedenfalls, dass die direkte Emergenz einer Multitude als Subjekt die Kennzeichen Globalität, Heterogenität und Resistenzenergie besitzt.

6.4 Das Theorem von der »Zeit-losigkeit« der »immateriellen Arbeit« Wie verhält sich dazu nun der »objektive« Faktor der »immateriellen Arbeit«? Ihre Definition geht von der Kategorie »Dienstleistung« aus: Since the production of services results in no material and durable good, we define the labor involved in this production as immaterial labor – that is, labor that produces an immaterial good, such as a service, a cultural product, knowledge, or communication. One face of immaterial labor can be recognized in analogy to the functioning of a computer. […] The computer and communication revolution of production has

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Digitalarbeit, Multitude und Normalmasse

transformed laboring practices in such a way that they all tend toward the model of information and communication technologies. Interactive and cybernetic machines become a new prosthesis integrated into our bodies and minds and a lens through which to redefine our bodies and minds themselves. (E, 290 f.).

Mit den Kategorien Dienstleistung und ICT (Information and Communication Technologies) bewegt sich die Theorie der Multitude nicht nur auf paradigmatisch operativen Achsen (Anschließbarkeit an Theorien der Dienstleistungsgesellschaft und der Digitalisierung von Ökonomie, Gesellschaft und Kultur), sondern konkret im Rahmen zyklisch-reproduktiver und potentiell generativer Modelle. Ob die (auch von Lyotard favorisierte) Kategorie des »Immateriellen« einer strengen Analyse standhält (Körper wie Prothesen, auch Gehirne sind alles andere als immateriell), kann hier offen bleiben – im Verlauf wird sie in das »Biopolitische« überführt113. Dabei spielt eine zusätzlich zur Digitalisierung postulierte zweite Innovation der immateriellen Arbeit eine fundamentale Rolle: Die neue Arbeit generalisierter Dienstleistung impliziere die Produktion von »Affekten« (Modell sind alle Berufe des Caring) und beruhe notwendig auf freier, »spontaner« (E, 294), nicht vom Kapital organisierbarer bzw. erzwingbarer Kooperation. Da­ rüber hinaus sei die neue biopolitische Arbeit direkt as-sociativ (As-Sociation mitproduzierend und umgekehrt untrennbar von As-Sociation abhängig). All diese Faktoren gemeinsam laufen auf die m. E. entscheidende These hinaus, dass immateriell-biopolitische Arbeit jede Kommensurabilität mit der Zeit (Arbeitszeit) im Sinne von Marx verloren habe, so dass auch ihre monetäre Bewertung so völlig arbiträr wie die eines künstlerischen Produkts geworden sei. Diese These wird in operativer Absicht in dem »Exkursus 1« von Multitude resümiert: For Marx, exploitation is defined in terms of quantities of labor time, just like the theory of value. The degree of exploitation corresponds to the quantity of surplus labor time, that is, the portion of the working day that extends beyond the time necessary for the worker to produce value equal to the wage he or she is paid. Surplus labor time and the surplus value produced during that time are the key to Marx’s definition of exploitation. […] But today, in the paradigm of immaterial production, the theory of value cannot be conceived in terms of measured quantities of time, and so exploitation cannot be understood in these terms. Just as we must understand the production of value in terms of the common, so too must we try to conceive exploitation as the expropriation of the common (M, 150). 113 »The labor involved in all immaterial production, we should emphasize, remains material – it involves our bodies and brains as all labor does. What is immaterial, is its product. We recognize that immaterial labor is a very ambiguous term in this regard. It might be better to understand the new hegemonic form as »biopolitical labor«, that is, labor that creates not only material goods but also relationships and ultimately social life itself« (M, 109). Damit wäre die »immaterielle Arbeit« eigentlich widerlegt, weil ja auch das »Produkt«, nämlich die Sprachen in weitesten Sinne und die Affekte der Konsumenten ihrerseits Körper und Gehirne transformieren.

Das Theorem von der »Zeit-losigkeit« der »immateriellen Arbeit«

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Diese These ist deshalb in gewisser Hinsicht die Dominante der gesamten Theorie der Multitude, weil auf ihr der Nexus zwischen »objektivem« Prozess (wo Operativität greifen kann) und der Subjektivierung der Produzenten eben als Multitude beruht. The critique of political economy […], including the Marxist tradition, has generally focused on measurement and quantitative methods to understand surplus value and exploitation. Biopolitical products, however, tend to exceed all quantitative measurement and take common forms, which are easily shared and difficult to corral (einzäunen) as private property (C, 135 f.).

Empirisch zeigt sich allerdings, dass gerade die »Billiglöhne«, die nicht nur in den neuen Weltfabriken der südlichen Hemisphäre dominieren, sondern sich zunehmend auch in den Zentren des Empire ausbreiten, traditionell quantitativ monetär gemessen werden nach der Zeitmenge zum Erwerb des in die je einzelne und identifizierbare Arbeiterin investierten Wissens und nach der Dauer der ebenfalls individuellen Arbeitszeit. Die Schwankungen dieser Löhne lassen sich durchaus weiter aus den Fluktuationen der Märkte um den mittelfristigen und großregionalen Durchschnitt erklären. Zu diesen Fluktuationen von Angebot und Nachfrage gehört unter dem messenden Gesichtspunkt auch die Resistenz der Arbeiter in Form von mikroskopischen bis hin zu makros­ kopischen Weigerungsaktionen (Streiks). Überall, wo Massen vergleichbarer Prozesse vorliegen, können Daten erhoben werden, kann also gemessen werden. Es ist richtig, dass die Logik der Transformation zwischen den reproduktiven Zyklen des gesamten generativen Prozesses in operativer Opazität (Black Box) verharrt und dass auch Marx diese Logik (zwischen Wertschöpfung und Preisbildung) nicht schlüssig rekonstruieren konnte. Das ändert aber nichts daran, dass die statistischen Daten und die daraus generierten »Kurvenlandschaften« (als »Oberflächenstrukturen«) sinnvollerweise als Resultate eines geschlossenen Transformationsprozesses vorgängiger generativer Instanzen (»Tiefenstrukturen«) begriffen werden müssen. Die Zeit ist eine fundamentale zyklologische Kategorie: Der Unterschied zwischen Zyklen mit langer Periode (longue durée in der Annales-Schule)  sowie mittlerer und kurzer Periode ist hoch relevant, gerade auch für Normalisierungen und Denormalisierungen – ebenso wie Prozesse krisenhafter Zeitkontraktion oder umgekehrt normalisierender Zeitdehnung. Dafür hat die Krise von 2007 ff. (s. u. Kapitel 17) einschlägiges Material geliefert. Die zeitliche Struktur der Zyklen bildet prinzipiell die Möglichkeit von Messung und Operativität. Auch bei Marx ist die einzige empirisch zugängliche Messgröße zusätzlich zur Arbeitszeit (einschließlich Ausbildungszeit) das Geld. Auf den vorgängigen generativen Reproduktionszyklus (den »Wert«) kann nur von der monetären Messung des Lohns heuristisch und quantitativ bloß hypothetisch zurückgeschlossen werden (weshalb die hegemoniale kapitalistische Ökonomik diesen

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Digitalarbeit, Multitude und Normalmasse

vorgängigen Zyklus eben für empirisch inexistent erklärt). Auch bei der hoch repetitiven traditionellen Fabrikarbeit (Musterfall Fließband)  abstrahiert die massenhafte Messung und Durchschnittsbildung (Taylorismus) von residualer Kreativität. Es gilt hier, die in der empirischen Zyklologie des Kapitalismus wirksame Abstraktion (die auch Marx ja nicht affirmativ, sondern kritisch-operativ beschrieb) in ihrer messbaren sozialen Objektivität zur Kenntnis zu nehmen114. Nun ist ferner zu konstatieren, dass auch die »immaterielle« bzw. biopolitische Produktion, gerade weil sie Massencharakter hat und tendentiell zunimmt, der statistischen Messung einschließlich des Durchschnittskalküls zugänglich ist. Auch die Entlohnung der neuen »kreativen«, auf ständige Innovation des Produktionsprozesses verwiesenen Arbeiterinnen bildet dabei keine Ausnahme: Abgesehen von epochalen Erfindungen, die qua Mega-Singularitäten kein historisches Novum darstellen, geht es dabei um viele kleine Neuerungen, die der Durchschnittsbildung in der Masse zugänglich sind (man denke an die »Verbesserungsvorschläge« des klassischen Industrialismus und die ›kleinen‹ Patente). Gleiches gilt für die neue Arbeitsbedingung der »Teamfähigkeit« und sogar auch der Affektproduktion. So wie die Ingenieursarbeit schon immer (wiederum nach dem Grad ihrer Vergleichbarkeit und Massenhaftigkeit) eine durchschnittliche Entlohnung erhielt, die man nach dem Paradigma des monetarisierten Wissenserwerbs heuristisch als das n-fache eines Facharbeiterlohns auffassen konnte, so gilt das auch für die Entlohnung noch so kreativer digitaler Developer, sobald sie en masse proliferieren. Aus der monetären Messbarkeit von eingekaufter Arbeitskraft per Durchschnittsbildung ergibt sich ein zweiter, gerade für eine normalismustheoretische Betrachtung entscheidender Aspekt: die individuelle Zurechenbarkeit. Nicht erst eine neue biopolitische Arbeit, sondern jede kapitalistische Lohnarbeit hat seit jeher den wesentlich as-sociativen Charakter der industriellen Produktion ausgeblendet, indem sie ausschließlich individuell identifizierbare »Leistungen« maß. Diese Art Messung war mittels der individuellen Zurechenbarkeit von Bildungszeit und Arbeitszeit möglich – sie diente der systemnotwendigen Konstitution der individuellen Arbeiterin als »Atom« im Gestöber der massenhaften Konkurrenz um individuelle »Leistungen«. Das hatte fundamentale subjektivierende Konsequenzen: Das proletarische »Atom« konnte als »Besitzerin von je differenter Arbeitskraft« und als Trägerin je differenter »Leistung« vom System »angerufen« werden. Gerade dieser Aspekt erscheint in der Digitalarbeit ins Extrem gesteigert: Erst unter biopolitischen Auspizien wurde so etwas wie eine »Ich-AG « erstmals nicht bloß denkbar, sondern empirisch operational und real. Die seit geraumer Zeit in bestimmten Produktionsverfahren favorisierte Teamarbeit (Toyota-Modell) widerspricht der Grundstruktur monetärer Atomisierung nicht: Die Leistung der 114 Sartre prägte dafür den Begriff des »Praktisch-Inerten« (pratico-inerte); dazu ausführlich KS 9.

Phäno-antagonistische Tendenzen von Digitalarbeit

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Teams wird monetär auf die beteiligten Individuen reduziert, wobei lediglich der Verteilungsschlüssel teilweise kollektiv mitbestimmt wird. Die gleiche letztlich monetäre Reduktion gilt auch für kleine produzierende Kollektive im ITC Bereich der Digitalarbeit, soweit sie auf kapitalistisches Wachstum zielen wie die normalen Start-ups.

6.5 Phäno-antagonistische Tendenzen von Digitalarbeit, digitaler Maschinerie und Normalmasse Statt »immaterieller« bzw. »biopolitischer« Arbeit wird ab jetzt der »objektivere« Begriff Digitalarbeit (populär »Clickwork«) benutzt. Ihr tendentiell exponentielles Wachstum geht Hand in Hand mit einer ebenso exponentiell wachsenden Digitalisierung der Maschinerie (»Industrie 4.0.«, »intelligente« Maschinerie und Robotik, s. u. Kapitel 18), die bei Negri und Hardt noch nicht genügend berücksichtigt ist. Die Digitalisierung der Maschinerie bedroht nicht bloß weitere industrielle Arbeitsplätze, sondern nun auch massiv Dienstleistungsarbeit, etwa im Finanz-, aber auch im Billiglohnsektor. Obwohl die Prognosen sich widersprechen, scheinen die neu entstehenden Kontrollfunktionen nicht mit dem Verlust einfacher Digitalarbeit schritthalten zu können. Damit taucht die seit der Zeit von Marx in Abständen wiederholte Prognose von der Verdrängung der menschlichen durch die automatische Maschinenarbeit und eine wachsende Massenarbeitslosigkeit wieder auf. Das wäre eine erneute Virulenz des klassischen sozioökonomischen intrazyklischen Antagonismus Kapital vs. Arbeitskraft und ein fatales New Normal. Es würde sehr bald einen Rückfall in die lange Krise von 2007 ff. auslösen bzw. einen solchen Rückfall verschärfen. Negris und Hardts Prognose der Bildung einer Multitude auf Basis der Digitalarbeit signalisiert in jedem Fall kritische und vermutlich antagonistische Tendenzen in der Normalmasse. Denn normalismustheoretisch formuliert, lautet diese These schlicht und einfach: In Gestalt der Multitude emergiert mit historischer Notwendigkeit eine prinzipiell nicht normalisierbare und daher gegen Empire antagonistische, epochal neue Subjektivität und eine prinzipiell nicht normalisierbare epochal neue As-Sociation. Wie sich allerdings zeigte, ist das Theorem von der Nicht-Messbarkeit der Digitalarbeit nicht operativ. Zutreffend bleibt dennoch die zyklologische Inkonsistenz einer Normalmasse: Dieser auch bisher höchst prekäre normalistische As-Sociationstyp wird bereits jetzt und verstärkt in nächster Zukunft (in den 2020er Jahren) vielfachen, teils tendentiell antagonistischen Polarisierungen und Dis-Sociationen ausgesetzt, woraus sich u. a. »populistische« As-Sociationen verschiedener Art entwickeln werden (s. u. Kapitel 20 ff.).

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Digitalarbeit, Multitude und Normalmasse

KS  6 Antagonismus im »Positivismusstreit

in der deutschen Soziologie«

Schon in diesem berühmten Streit der 1960er Jahre zwischen Adorno und ­Popper, Habermas und Albert sowie weiteren Repräsentanten von »Dialektik« gegen »Positivismus«, wie es hieß, monierten viele Teilnehmer wie Dahrendorf, dass die Kontrahenten völlig aneinander vorbeiredeten. Das lag hauptsächlich daran, dass Popper logisch und wissenschaftstheoretisch über die Gültigkeit von Sätzen sprach statt eine positivistische Soziologie zu explizieren. Es fehlte sozusagen noch ein Luhmann als Kontrahent Adornos, was erst in der späteren »Habermas-Luhmann-Debatte« teilweise nachgeholt wurde. So wurden die soziologisch relevanten Fragen an Adornos weit überlegen reflektierte Interventionen gar nicht gestellt. Das betraf gerade auch die Kategorie des Antagonismus im Rahmen der Dialektik, die in den positivistischen Repliken symptomatischerweise gar nicht vorkam. Wenn Adorno von der »antagonistischen Beschaffenheit der Gesellschaft« (23) sprach: Meinte er mit Marx emphatisch einen kompromissunfähigen Strukturkonflikt oder mit Hegel jede Art von »Widerspruch«, etwa den »Widerspruch von Rationalität und Irrationalität« im gleichen Kontext oder »die Kluft zwischen Allgemeinem und Besonderem, in welcher der fortwährende Antagonismus sich ausdrückt« (24)? Dialektik möchte dem Szientismus auf dessen eigenem Feld begegnen insoweit, wie sie die gegenwärtige gesellschaftliche Realität richtiger erkennen will. Sie möchte den Vorhang vor dieser durchdringen helfen, an dem Wissenschaft mitwebt. Deren harmonistische Tendenz, welche die Antagonismen der Wirklichkeit durch ihre methodische Aufbereitung verschwinden läßt, liegt in der klassifikatorischen Methode, ohne alle Absicht derjenigen, die sich ihrer bedienen. Sie bringt wesentlich Ungleichnamiges, einander Widerstreitendes, durch die Wahl der Begriffsapparatur und im Dienst von deren Einstimmigkeit, auf den gleichen Begriff (24).

Konkret geht es hier um das normalistische Verfahren von Verdatung und statistischer Aufbereitung. Adorno hatte in den USA in seiner Kooperation mit Lazarsfeld selbst mit Fragebögen und ihrer statistischen Auswertung gearbeitet, er kannte diesen positivistischen Königsweg in und auswendig (vgl. 84 f.). Seine Kritik zielt auf zweierlei Aspekte: Erstens auf die Differenz zwischen »subjektiver« Meinung von Betroffenen und ihrer »objektiven« Lage: Brächte auch etwa eine Befragung die statistisch überwältigende Evidenz dafür bei, daß die Arbeiter sich nicht mehr für Arbeiter halten, daß es so etwas wie Proletariat überhaupt noch gibt, so wäre der Beweis für die Nichtexistenz des Proletariats keineswegs geführt. Es müßten vielmehr solche subjektiven Befunde mit objektiven, wie der Stellung der Befragten im Produktionsprozess, ihrer Verfügung oder Nichtverfügung über die Mittel der Produktion, ihrer gesellschaftlichen Macht oder Ohnmacht verglichen werden (98).

KS Antagonismus im »Positivismusstreit in der deutschen Soziologie« 

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Hier stellt sich die Frage (die von den Positivisten nicht gestellt wurde), ob und inwieweit nicht auch die objektiven Faktoren verdatet werden könnten (immerhin »Einkommen«, »Vermögen« usw. und mit einiger sophistication auch »Macht«). Aber zweitens zielt die Kritik grundsätzlicher auf das Prinzip der Homogenisierung und Kontinuierung der Daten in eng dimensionierten Normalfeldern, also auf die Quantifizierung des Qualitativen. Dabei ist die Kritik an »Ausklammerungen«, offensiver Tilgung von »Ausreißern«, zirkelschlüssigen und manipulativen Dimensionierungen von vornherein zutreffend – wichtiger aber ist das Problem der mit differenten Normalfeldern gegebenen Spezialisierung von Praktiken-Diskursen bzw. Teilsystemen: Die Kategorie ›arbeitsteilige Gesellschaft überhaupt‹ ist höher, allgemeiner als die ›kapitalistische Gesellschaft‹, aber nicht wesentlicher, sondern unwesentlicher, sagt weniger über das Leben der Menschen und das, was sie bedroht, ohne daß doch darum eine logisch niedrigere Kategorie wie ›Urbanismus‹ mehr darüber besagte (83).

Wieder muss man die Abwesenheit eines Luhmann in dieser Debatte bedauern: Offensichtlich ist »arbeitsteilige Gesellschaft« weitgehend synonym mit spezialistische, »funktional ausdifferenzierte Gesellschaft«. Will Adorno diese Struktur moderner Gesellschaften leugnen? Jedenfalls widerspricht deren Annahme ja keinesfalls der eines kapitalistischen ökonomischen Teilsystems, das mit allen anderen Teilsystemen mehr oder weniger eng und womöglich als Dominante gekoppelt sein könnte. Genau an diesem Punkt der Debatte ging es um die dialektische Kategorie der »Totalität« bei Adorno, die er tatsächlich zwischen marxianischer Zyklologie und hegelscher Semdialektik gleitend benutzte. Sollte Totalität monotone Ableitung aller Sektoren und Konflikte der Gesellschaft aus dem Antagonismus zwischen Kapital und Arbeitskraft und noch fundamentaler zwischen Gebrauchs- und Tauschwert bedeuten, wie es der von Althusser bei Lukács kritisierte Begriff des »Ausdrucks« und des »Ausdrückens« nahelegen könnte? Gleichwohl sind die Einzelphänomene, die das Allgemeine ausdrücken, weit substantieller, als wenn sie lediglich dessen logische Repräsentanten wären (50) – wer nicht primär an sozialen Phänomenen das Gesellschaftliche wahrnimmt, das sich in ihnen ausdrückt, kann zu keinem authentischen Begriff von Gesellschaft fortschreiten (66).

Das Plädoyer für »physiognomische« Studien im Anschluss an Benjamin statt positivistisch-»empirischer« riskiert ebenfalls semdialektische Kurzschlüsse wie im Fall des »Jazzsubjekts«: Jazz sei durchweg ein symbolischer Vollzug, in dem dies Jazzsubjekt vor kollektivem, vom Grundrhythmus repräsentierten Anforderungen versagt, stolpert, ›herausfällt‹, als herausfallendes jedoch in einer Art Ritual als allen anderen Ohnmächtigen Gleiches sich enthüllt und, um den Preis seiner Selbstdurchstreichung, dem Kollektiv integriert wird (59).

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Digitalarbeit, Multitude und Normalmasse

Hier wird ein musikalisches Genre zur symbolischen Pictura einer sozialen Subscriptio, wobei die materielle Heterogenität zwischem dem autonomen musikalischen (dazu s. u. Abschnitt 14.5) und dem ebenfalls autokonsistenten sozialen Reproduktionszyklus nicht zu ihrem Recht kommt. Der hegelsche semdialektische Term der »Vermittlung« (Ver-mitt-lung) statt des in dieser Studie benutzten Dispositivs einer friktiven Kopplung schafft im paradoxen Gegensatz gegen die Intention, positivistische Homogenisierung zu vermeiden, eine semantische (sprachliche) Homogenität der gesellschaftlichen »Totalität«. Ebenfalls semdialektisch ist dann der mögliche Umschlag zwischen »Wesen« (ant­ agonistische Gesamtgesellschaft) und »Erscheinung« einzelner Phänomene, der wiederum mit einem Ideologiebegriff des »notwendigen Scheins« einhergeht. Solche Umschläge lassen sich operativ aus der Autokonsistenz gekoppelter Zyklen und ihren Kopplungsfriktionen erklären. Soweit, wie es das obige Zitat vom zu durchdringenden »Vorhang« neben vielen anderen (meistens mit »Schleier«) nahelegt, eine wesenhafte ›Tiefe‹ gegen eine scheinhafte ›Oberfläche‹ gestellt wird, wird der zyklologisch-generative (bzw. von Adorno im Zusammenhang mit Marx durchaus intendierte »genetische«) Prozess durch dualistische Semsynthese ersetzt. Statt von Totalität wird hier also vom friktiv gekoppelten zyklologischen Kombinat der Moderne gehandelt. Damit wird gleichzeitig ein Missverständnis des Positivismusstreits vermieden: Die Positivisten verstanden Totalität als ›Geschlossenheit‹ der Gesamtgesellschaft und unterstellten teilweise ›Totalitarismus‹. In Wirklichkeit meinte Adorno bloß den Umstand der notwendigen reziproken Kopplung aller Sektoren des Ganzen – sein entschieden prozessualhistorischer Ansatz und seine Unterstellung von Antagonismen implizierte notwendig ein Plädoyer für eine substantiellere »Offenheit« der Entwicklung als die von Popper reklamierte kapitalistisch affirmative, angeblich bereits vorhandene. Allerdings entsprach der semdialektischen homogenen Totalität bei Adorno eine operative der »Herrschaft« einer »Verwaltung« des bloßen (also monopolkapitalistischen und staatssozialistischen) Status quo. Diese tatsächlich auch politisch totalitäre Tendenz war bekanntlich Adornos ›pessimistische‹ Konsequenz aus seinem Konzept. In diesem seinem Begriff der »Verwaltung« bilden die normalistischen Dispositive evidenterweise den operativen Kern.

7. Voraussetzungen für ein operatives Konzept von Antagonismen und Antagonismus: Zyklologie, zyklologisches Kombinat und Normalismus Wie bereits in den bisherigen Kapiteln kurz und vorläufig definiert, geht es in der vorliegenden Studie um Geno-Antagonismen im Sinne von langdauernden (historischen) unversöhnlichen, kompromissunfähigen, gewalt-, revolutionsoder kriegsgenerierenden Widersprüchen entweder zwischen zwei Polen einer gemeinsamen Struktur (intrazyklisch) oder zwischen zwei oder mehreren gekoppelten Zyklen (interzyklisch). Die »dialektische« Fassung des Begriffs dient dabei nur als Ausgangspunkt, und zwar als Frage, nicht als Antwort. Wenn man den von Marx postulierten Antagonismus zwischen Kapital und Arbeitskraft als Modell begreifen kann, dann scheint er eine strukturnotwendig wachsende binäre Polarisierung, so etwas wie ein fatales Nullsummenspiel bis zur QuasiNull der einen Seite (Verelendung), also den »Ausbruch« einer irreversiblen Diskontinuität im normalistischen Kontinuum (dazu u. 11.1), zu implizieren. Ein solches Modell scheitert aber bereits am stürmischen Wachstum der Gesamtstruktur, das Raum für interne Um-Verteilung schafft. Wie sich zeigen wird, gehören solche Um-Verteilungen zu den basalen Dispositiven des Normalismus. Mit seiner Prognose der notwendig sinkenden Profitrate (also sinkenden Kapitalwachstums) suchte Marx das Quasi-Nullsummen-Modell zu behaupten, ohne dass sich diese Prognose bisher plausibel bewährt hätte. Was die interzyklische Dimension betrifft, so wird sie bei Marx der intrazyklischen unter­ geordnet: Der sozioökonomische Antagonismus Kapital vs. Arbeitskraft wirkt wie ein allmächtiger Attraktor, der andere Zyklen (etwa den politischen) in den Status monotoner »Ableitung« zu zwingen scheint. Ein »dialektisches« Konzept des Antagonismus müsste nicht unbedingt semdialektisch (hegelianisch) gefasst sein, und das marxsche Postulat einer »materialistischen« scheint in Richtung einer nicht semdialektischen Spielart von Dialektik zu zielen. Faktisch aber beherrschte die Semdialektik die Entwicklung der materialistischen Dialektik seit Engels (und in umstrittenem Umfang auch seit einem zumindest subdominanten Marx selbst). Das betrifft in entscheidendem Maße gerade das Konzept des Antagonismus: Alle Figuren des »Umschlags« eines epochal monotonen Antagonismus sind offen oder latent teleologisch und daher auch semdialektisch.

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Zyklologie, zyklologisches Kombinat und Normalismus 

7.1 Das zyklologische Kombinat der Moderne Die vorliegende Studie lässt diese (keineswegs irrelevante)  marxexegetische Problematik115 auf sich beruhen und schlägt unabhängig davon ein operatives Konzept der Kategorie Antagonismus vor. Auf der empirischen Ebene wird zu zeigen sein, dass sich Antagonismen normalismustheoretisch als irreversibel denormalisierende Tendenzen charakterisieren lassen. Solche Tendenzen setzen aber operativ denknotwendig ein zyklologisches Modell voraus, als dessen empirische (verdatbare, idealiter messbare)  Resultate die denormalisierenden Prozesse und Tendenzen (ggf. als Phäno-Antagonismen) aufgefasst werden müssen. In diesem Modell werden Antagonismen und das Antagonistische als besondere Tendenzen in soziohistorischen bzw. kulturell-historischen Reproduktionszyklen verstanden. Sie setzen biologische und protoanthropologische Reproduktionszyklen (zweigeschlechtliches, sprachbegabtes, selbstbewusstes, inventives und kollektiv as-sociiertes Säugetier) voraus, sind an sie gekoppelt, aber unterscheiden sich davon durch ihre dominant kulturelle Verfasstheit. Kulturell ist genauer als diskursiv (einschließlich interdiskursiv) zu bestimmen. Da es in dieser Studie um aktualhistorische Prozesse geht, sei das Modell exemplarisch an seiner »modernen« Gestalt (qua »westliche Moderne« seit dem 18. Jahrhundert) dargestellt. Wir haben es also mit bekannten Reproduktionszyklen wie dem Zyklus des Wissens (in Form von Diskursen) und der daran gekoppelten Technik, dem Zyklus des akkumulierenden Kapitals und der daran gekoppelten Massenprodukte, dem Zyklus sozialer und nationaler Strukturen usw. zu tun. Da all diese Zyklen notwendig wechselseitig aneinander gekoppelt sind, kann man sie insgesamt als ein Kombinat (als das zyklologische Kombinat der Moderne) bezeichnen. Die Bandbreite der luhmannschen ausdifferenzierten Teilsysteme des gesellschaftlichen Systems deckt sich (von wichtigen Ausnahmen 115 Vgl. dazu die Diskussion und Kritik der hegelschen Dialektik bei Marx und Engels und ihrer »historizistischen« Implikationen im Rahmen der althusserschen Seminare zur Lektüre des Kapitals (Louis Althusser u. a., Lire le Capital, 2 Bde. Paris 1967). Wo Hegel bloß »vom Kopf auf die Füße gestellt« werde, ohne die epochale Monotonie aller Spezialitäten (»WesensEinschnitte« zwischen Epochen) aufzugeben, werde ein monoton »geistiges« Wesen bloß als »in letzter Instanz materiell« erklärt, ohne dass das etwas an der teleologischen Mechanik monotoner Epochen ändere. Hegels »geistige« Wesen sind operativ eben interdiskursive SemSynthesen  – und wo »feudalistisch«, »kapitalistisch«, »sozialistisch« analog funktionieren, handelt es sich in der Tat ebenso um historizistische Semdialektik. Althussers plausible und präzise quellengestützte Hauptthese lautet nun aber, dass Marx nach dem »epistemologischen Einschnitt« von 1845 und definitiv im Kapital mit dieser Art Historizismus radikal gebrochen habe. An die Stelle eines Denkens in Wesens-Epochen trete ein Denken in »strukturalen Kausalitäten« (Bd. 2, 166 ff.) bei der Epochenbildung. Althusser sieht die strukturale Kausalität jedoch als nicht »operativ« (Bd. 2, 20, 146, 157 f.)  – weil er ihr generatives und zyklologisches Funktionieren ›übersieht‹.

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wie dem fehlenden militärischen Zyklus abgesehen) in etwa mit der Bandbreite des zyklologischen Kombinats der Moderne. Foucaults Diskursanalyse der Humanwissenschaften beschreibt einen dominanten Ausschnitt des Kombinats (die Humanwissenschaften und ihre Praktiken) paradigmatisch präziser. Mit diesem Unterschied hängt grundsätzlich die Frage nach der Abgrenzung von Zyklen zusammen. Luhmanns Kriterium der »Autopoiesis« ist selbst wiederum problematisch  – ebenso wie seine Kriterien von Medium und Binärcode. Zyklologisch gilt statt dessen das Kriterium einer selbständigen kontinuierlichen Reproduktion auf der Basis spezifischer materieller (einschließlich diskursi­ ver) Dispositive. Dabei ist die Moderne durch ständige Neu-Differenzierung gekennzeichnet, wobei Teilzyklen eigene reproduktive Dispositive entwickeln und sich so aus vorgängigen Zyklen ausdifferenzieren. Aktuelle Beispiele sind die Ausdifferenzierung eines eigenen subdominanten oder kodominanten ökologischen Zyklus, die Emergenz eines »digitalen Zyklus« innerhalb aller wissensbasierten technischen Zyklen sowie die Tendenz des finanziellen Teilzyklus der Ökonomie zur Autopoiesis. Für die folgenden Überlegungen kann und muss das zyklologische Kombinat, das für das normalistische Diskurs- und Dispositivnetz relevant ist und dem dieses Netz als Kopplungsdispositiv dient, nicht im einzelnen und komplett beschrieben werden. Zu seinen relevanten Zyklen gehören außer den bereits genannten (Wissen / Technik, Kapital / Massenproduktion, Sozialstruktur, Nationalstruktur / internationale Struktur) mindestens: Demographie, Ökologie, Politik, Recht, Militär, Kunst, Religion, Medizin, Sport, Massenmusik, Massenmedien, individuelle und kollektive Subjektivität im Sinne von Subjektstruktur (einschließlich Sexualität). Alle Zyklen reproduzieren sich gleichzeitig in national-regionalen und in globalen Räumen. Die »Autopoiesis« (Luhmann) der einzelnen Zyklen ist problematisch – ein operatives Kriterium für Autopoiesis wäre jeweils zyklologisch zu begründen. Grob gesagt, lassen sich SpezialpraktikenSpezialdiskurse (die in der Liste zuerst genannten) und Interpraktiken-Interdiskurse (die direkt subjektformierenden »kulturellen« Zyklen) unterscheiden. Dieses Kombinat ist pluralistisch aufzufassen: Die einzelnen Zyklen sind notwendig wechselseitig gekoppelt, es gibt aber keinen Fundamental- oder Basiszyklus, von dem alle anderen nur monotone Ableitungen wären (wie es in der sogenannt »orthodox« materialistischen Lektüre von Marx, aber auch in vielen technizistischen, militaristischen, nationalistischen116 usw. Modellen postuliert ist). Das heißt nicht, dass solche Ableitungen als eine Form der Kopplung zwischen begrenzten Teilspektren von Zyklen nicht häufig begegneten: So ist die Externalisierung ökologischer und anderer Folgelasten aus dem Kapitalzyklus in die politischen und sozialen Zyklen der Musterfall einer monotonen Ablei 116 Ableitung aller Zyklen aus dem der Nation (die »Rasse« ist davon eine radikale Spielart); ebenso Ableitung aller Zyklen aus der Militärtechnik usw.

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tung, während umgekehrt die Progressivsteuer eine Ableitung aus Politik und Sozialem in den Kapitalzyklus ist – so war das Zensuswahlrecht eine Ableitung der Politik aus der Sozialstruktur, und die wiederum aus dem Kapitalzyklus – so der Sportunterricht der meisten Nationalstaaten des 19. und 20. Jahrhunderts eine Ableitung aus dem Militär. Die Interdependenzen im zyklologischen Kombinat ändern sich historisch: am stärksten durch Emergenz neuer Zyklen (wie des naturwissenschaftlichen Wissenszyklus der Moderne und des Zyklus der Kapitalakkumulation in der Ökonomie), ebenso aber auch durch die je wechselnde ›Bilanz‹ der Ableitungen: Dominante, kodominante und subdominante Zyklen haben ein größeres Ableitungspotential als umgekehrt dominierte. In mittlerer Dauer haben wir es mit historisch spezifischen zyklologischen Kombinaten zu tun (Beispiele wären wechselnde Typen der »Regulation« des Kapitalismus wie der »Fordismus«, wenn sie auf das gesamte Kombinat erweitert werden könnten)117. Seit der großen historischen Diskontinuität von 1989 (also der Stabilisierung der Postmoderne genannten Epoche) sind im zyklologischen Kombinat der finanzielle, der ökologische und der digitale Zyklus autopoietisch stabilisiert und in eine dominante bzw. subdominante Position gerückt. Was die pluralistische Auffassung demnach von der Annahme eines Fundamentalzyklus unterscheidet, ist dreierlei: Ableitungen sind nicht durchschla­ gend durch das gesamte Kombinat, sondern partiell – sie sind zeitlich begrenzt – sie sind nicht univektoriell (immer von Kapital oder vom Militär oder der Religion usw. ausgehend), sondern können auch umgekehrt verlaufen. Eine Konsequenz dieser pluralistischen Auffassung des zyklologischen Kombinats ist die Unvereinbarkeit mit Modellen einer Geschichte aus monotonen Epochen, die von Althusser und Foucault (aber auch von Popper) als »historizistisch« kritisiert werden. Der Musterfall einer solchen Auffassung ist Hegels Geschichte des Weltgeists, der in jeder Epoche eine monotone Dominante besitzt (in der Moderne etwa »Freiheit«). Bei Hegel und seinen Fortsetzern ist die jeweilige epochale Dominante mit einem monoton fundamentalen »dialektischen« Antagonismus verknüpft. Dabei folgt die Einheit (Einzahl) eines solchen Ant­ agonismus aus der Monotonie der Ableitungen. Wie wäre demgegenüber so etwas wie ein »Widerspruch« bzw. Antagonismus im zyklologischen Kombinat operativ vorzustellen? Offensichtlich wäre beim empirischen Prozess der zyklischen Produktion und Reproduktion anzusetzen: Ob diese Reproduktion ›glatt‹ verläuft oder ›gestört‹, ob es sich um identische Reproduktion handelt oder (positiv vs. negativ) wachsende. Da jeder Reproduktionszyklus materiell ist (auch die Diskurse haben nach Foucault ihre Materialität), gibt es keinen Zyklus ohne materielle »Friktion« – was Clausewitz 117 S. Joachim Hirsch / Roland Roth, Das neue Gesicht des Kapitalismus. Vom Fordismus zum Post-Fordismus, Hamburg 1986.

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speziell für den militärischen Zyklus entwickelte, gilt für jeden Zyklus. Aus dieser Friktion ergeben sich stets kleine Störungen, die durch ›Stauungen‹ zu größeren Störungen führen können; größere Störungen ihrerseits können Blockaden der Reproduktion (und damit empirische »Widersprüche«) auslösen. Ein solches Modell von Zyklen, Friktionen, Störungen, Stauungen und Blockaden lässt sich anschließen an das Modell der Blockaden von hydraulischen »Flüssen« (flux) bei Deleuze und Guattari, das allerdings partiell semsynthetisch auf »Flüsse« des Unbewussten (der Libido und ihrer – hydraulischen – »Wunschmaschinen«) bezogen wird118. Die Störungen der zyklischen Reproduktion können sich erheblich verstärken in (positiv oder negativ) wachsenden Zyklen. Den Musterfall einer zyklologischen Analyse stellte 1972 die Studie Limits to Growth des Club of Rome dar. Sie prognostizierte einer Reihe von ökologischen Teilzyklen die notwendige asymptotische Minderung und schließlich zuerst das Ende des Normalwachstums (exemplarisch »Peak Oil«), und danach sogar negatives Wachstum bis zu einem Nullpunkt. Da sie die Zyklen als ein gekoppeltes Kombinat auffasste, prognostizierte sie wachsende Kopplungsfriktionen und schließlich dem seinerzeit und noch heute dominierenden zyklologischen Kombinat (mit der durchgehenden Kopplung der ökologischen Zyklen an den Zyklus notwendig wachsender Akkumulation des Kapitals) den Kollaps. Dabei waren die prognostizierten wachsenden Störungen von zweierlei Art: zyklusintern (indem das Wachstum wachsende ökologische Schäden und Kosten zeitigen werde) – und interzyklisch kopplungsgeschuldet, indem »Scheren«-Tendenzen (»sich öffnende Scheren«) zwischen Zyklen beschrieben wurden. Solche »Scheren« werden im folgenden als tendentiell antagonistische Hiate bezeichnet. Beide Tendenzen lassen sich als antagonistisch in einem empirisch-anschließbaren und also operativen Verständnis auffassen. Einer der Zyklen war der demographische (symbolisch als »Bevölkerungsexplosion« bekannt), dem eine Scherentendenz gegen den Nahrungszyklus zugeschrieben wurde. Der antagonistische Hiat zwischen demographischem Zyklus und dem der Agrarproduktion wurde bereits 1798 im Essay on the Principle of Population von Thomas Robert Malthus postuliert. Die statistisch-empirische Begründung der Prognosen des Club of Rome war, wie in Kürze deutlich werden wird, normalistisch: Sie stellte dem zyklologischen Kombinat der Moderne die Diagnose einer Tendenz zum Kollaps des ihr zugrunde liegenden Normalwachstums. Insofern handelte es sich gleichzeitig um die Diagnose operativ antagonistischer Tendenzen. Da diese Diagnose aber als normalistische »Frühwarnung« gedacht war, waren auch die Reaktionen darauf exemplarisch für den Zusammenhang zwischen Antagonismus und Normalismus in der Moderne bzw. Postmoderne: Die Spaltung zwischen »fundamentalistischen« und »realpolitischen« Reaktionen (typisch von den grünen 118 Gilles Deleuze / Félix Guattari, L’Anti-Oedipe.; dies., Mille Plateaux, Paris 1980.

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Bewegungen und Parteien ausgefochten) folgten aus einer verschiedenen Einschätzung der antagonistischen Tendenzen. Während die »Fundamentalisten« diese Tendenzen als insgesamt und mittelfristig irreversibel und füglich nicht normalisierbar auffassten, setzten die »Realos« auf die Normalisierbarkeit  – diese Unterstellung von Normalisierbarkeit impliziert jedoch die Negierung eines Geno-Antagonismus. Der springende Punkt dabei ist das globale Wachstum der Produktion, von dem das Wachstum eines verteilbaren Profits und damit des Kapitals abhängig ist. Eine notwendig sinkende Globalproduktion wäre daher ein Geno-Antagonismus. Insofern ist die ökologische Realoposition genuin postmodern: Sie unterstellt eine potentiell antagonismuslose Gesellschaft. Diese Position avancierte bekanntlich seither zur global hegemonialen Position (sie wurde von den hegemonialen Parteien übernommen): Mittels eines reformistischen schrittweisen »Umstiegs« auf erneuerbare Energien und mittels ingeniöser neuer Kopplungen mit dem Kapitalzyklus wie dem Emissionshandel oder der Elektromobilität sollen das globale Wachstum und das Wachstum des Kapitals verstetigt und die in dieser Sicht bloß scheinbar antagonistische Tendenz mittelfristig umgekehrt werden. Den beiden grünen Positionen zu Ant­ agonismus und Normalismus entsprechen ebenso zwei verschiedene Konzepte von Nachhaltigkeit: ein normalistisches und ein transnormalistisches. Soweit das transnormalistische (dazu s. u. Abschnitt 25.1–25.2) für den Normalismus und seine Möglichkeiten blind bleibt statt eigene operative Konzepte sozusagen durch ihn hindurch zu entwickeln, gerät es in den Sog einer monotonen Zusammenbruchshypothese (Kollaps) und damit in den eines monotonen dialektischen Antagonismus.

7.2 Recycling als Modellfall von Zyklologie Seit der Ausdifferenzierung eines ökologischen Zyklus und seit dieser Zyklus eine subdominante Position im Kopplungs-Kombinat der Postmoderne gewonnen hat, ist das Kollektivsymbol des »grünen Punkts« in Gestalt zweier sich in kontinuierlicher Rotation kreisförmig drehender Pfeile überall im Alltag verbreitet. Dieses Bild symbolisiert ausgezeichnet jeden Prozess, dessen Ende mit dem Anfang eines neuen »Durchlaufs« durch den Prozess strukturell identisch ist: A11 → A12 → … A1i … A1n = A21 → A22 → … A2i … A2n = A31 usw. (Rohstoffe → chemische Produktion → Plastikprodukt → Gebrauch → Einsammeln → Einschmelzen zu Rohstoffen → neue chemische Produkton usw.). Im Sinne des deutschen Kreislaufwirtschafts- und Abfallgesetzes von 1996 beschränkt sich das Recycling allerdings nur auf den Teilzyklus nach dem ersten Gebrauch, weshalb dabei auch von Wiederaufbereitung, Gewinnung von Sekundärrohstoffen bzw. Sekundärprodukten oder Wiederverwertung die Rede ist. Die obige Integration dieses ›parasitären‹ Teilzyklus in die Gesamtproduktion soll zeigen, dass

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darüber hinaus jedoch jede Produktion zyklisch verläuft (vgl. oben in Kapitel 6 der Standardfall der Produktion von Autos). Die universelle Gültigkeit einer generativ-zyklologischen Betrachtung lässt sich auch am Beispiel der Massenproduktion schriftlicher (diskursiver) Produkte (Bücher und Zeitungen) illustrieren: Als Recycling ist dabei das Einsammeln von Altpapier nach Gebrauch und die Wiederaufbereitung zu neu verwendbarem Papier bekannt. Aber auch die je vorgängige Produktion eines Buches oder einer Zeitung verläuft zyklisch: Am Anfang werden materielle und sprachlich-diskursive Ausgangsstoffe kombiniert und dann in zyklischen Quantitäten (Auflage) über Phasen wie Setzen, Layouten, Drucken, Korrigieren, Binden / Heften zu Endprodukten verarbeitet, danach verkauft und in einem Leseprozess verbraucht. Jede Produktion eines neuen Buches bzw. einer neuen Zeitung durchläuft den gleichen zyklischen Prozess und durchlief ihn bereits vor der Erfindung des Recycling von Altpapier, als alles Papier aus frischem Holz gewonnen werden musste.

7.3 Marx denkt zyklologisch Obwohl Marx nicht bloß in früheren Schriften, sondern auch im Kapital den Antagonismus stellenweise semdialektisch fasst, denkt er im Kapital primär zyklologisch119.  – Die eigentliche epistemologische Revolution im Kapital ist nicht, wie Foucault in der Ordnung der Dinge annahm, eine (dann in der Tat gegenüber Ricardo unoriginale)  Evolutionskurve (»dialektische« Fortschrittskurve), also ein Zyklus dritten Grades, sondern die Rekonstruktion des kapitalistischen Akkumulationsprozesses auf der Basis eines Zyklus ersten Grades, also eines generativen Zyklus. (Dabei hatte Marx nur einen Vorläufer: Quesney.) Die berühmte Formel (MEW Bd. 24, 56) G – W