Elsass-Lothringen, seine Vergangenheit-seine Zukunft [Zweite Aufl. Reprint 2019]
 9783111598239, 9783111223247

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Zur zweiten Auflage
Inhalt
1875
1876

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Elsaß-Lothringen, Seine Vergangenheit - Seine Zukunft.

Zweite Auflage.

Straßburg.

Verlag von Karl I. Trübner. 1877.

Buchdruckerei von G. Otto in Darmstadt.

Der Titel dieser Schrift spricht nur von der Ver­

gangenheit und der Zukunft des Reichslandes.

Eine

Gegenwart, bei der man verweilen mag, hat das Land

nicht; solche gleicht vielmehr dem leeren Blatte in der Bibel zwischen dem alten und dem neuen Bunde.

Die

Erscheinungen, die sich uns jetzt bieten, müssen wir

ans der Vergangenheit des Landes zu begreifen suchen;

wir werden dann unmittelbar auf die Nothwendigkeit einer besseren Zukunft gebieterisch hingewiesen. Einer solchen stellen sich aber Hindernisse entgegen, worunter

nicht

das

geringste

der

unduldsame Doktrinarismus,

welcher bei uns mich in politischen Dingen herrschsüchtig auftritt, und von anderen Einflüssen vortrefflich mrsgenützt wird.

Alls dem gelehrten wie dem politischen

Doktrinarismus ist fiir das Leben noch nie etwas Gutes entstauben. — Sollte diese Schrift mich mir den Leser für die Ansicht gewinnen, daff der Politiker, wie Baeo

von Verulam voir sich sagt „ein Freund der Wahrheit aber keines Systems" sein muß, so wäre ihr Zweck schon erreicht. —

Baden-Baden

im Oktober 1876.

Zur zweiten Auflage. Börne meinte, es sei sehr deutsche Art sich unter

„Präsidium"

oder

„Ministerium"

etwas

gründlich

schweres, etwas fester haftendes zu denken, als unter

„Präsident" oder „Minister".

Es ist ferner jüngst im

Deutschen Reichstage vom grünen Tische aus behauptet worden, daß dem Deutschen Alles Unbehagen bereite, was „geheim und anonym" sei. Hält man diese beiden Anschauungen zusammen,

so mag man sich etwa erklären, warum soviel Wider­ wille gegen ein „anonymes Ministerium" für ElsaßLothringen besteht und warum die staatsrechtliche „Ano­ nymität" des Reichslandes die Gemüther nicht zur Ruhe

kommen läßt. In der elsaß-lothringischen Frage liegt aber auch im Kerne das ganze deutsche Staatsrecht, die ganze deutsche Reichspolitik.

des Reichslandes

Die staatsrechtliche Entwicklung

und seine scheinbar untergeordneten

Verwaltungsftagen beanspruchen aus diesem Grunde

das Interesse des ganzen deutschen Vaterlandes.* * ES ist daher schwer zu begreifen, warum die „Nordd. Allg." (Nr. 278, Leitartikel vom 25. Nov.) in der Besprechung der OrganisationSsrage eine be­ sondere Absicht wittert, über welche sie verstimmt ist, noch unbegreiflicher aber, warum gerade dieses Blalt den Vorschlag deS Kaiserlandes, mit dem sich doch jeder deutsche und preußische Patriot sollte befreunden können, geradezu gering-

V

Der Vorschlag, aus dem Reichslande ein Kaiser­ land zu machen, war vom Verfasser absichtlich nur als

Skizze hingeworfen worden; auch jetzt noch scheint es besser, den Gedanken einstweilen nicht weiter auszuführen. Im Verlaufe

des jüngsten Meinungsaustausches

über die staatsrechtliche Stellung von Elsaß-Lothringen und seine Organisation ist nemlich — und zwar nicht

nur in der deutschen Presse — eine solche Staubwolke

von verworrenen Begriffen aufgewirbelt worden, daß

sich darüber jeder deutsche Patriot

geradezu entsetzen

muß. Gerade die Frage landes

scheint

über die Zukunft des Reichs­

bestimmt,

die Verhältnisse

zu klären.

Darum mag der Gedanke des Kaiserlandes einstweilen

ruhig für sich weiter arbeiten. Der Verfasser kann sich darüber nur freuen, wenn man sagt, der Gedanke des Kaiserlandes sei zu einfach

um neu sein zu können.

Wenn etwas so einfach und

überzeugend ist, daß man es nicht mehr für neu halten

schätzig abfertigt. Von einem deutschen Blatte, welches notorisch der „Rordd. Allg.- nicht gerne widerspricht, abgesehen, hat diesen Ton bisher nur ein demokratisches Blatt aus dem Oberelsaß und die „Zeitung für Lothringen" in Metz vernehmen lassen. Der Berliner Correspondent der letzteren vollführt aber derartigen staatsrechtlichen Spektakel, daß man die Ordnungsliebe der „Kölnischen Zeitung" nur bewundern kann, die solchem Manne auch noch heim­ leuchtet — Die plumpe zänkische Art der „Rordd. Allg." erinnert an ein ähnliches Vorkommniß in England, wo ein Blatt, nachdem es nicht mehr als infpirirt gelten konnte, in die Rolle der „greatest grumblers4 mit einigem anfänglichem Ungeschicke sich hineinfinden mußte. Ein Blatt, daS innerhalb weniger Wochen dem deutschen Publikum die Gegensätze: „Reichs­ politik und Landesverwaltung" — dann „Regierung und Verwaltung", hieraus aber „politische und technische Verwaltung" als Varianten über ein und dasselbe Thema vorführt, hat jeden Anspruch auf Vertrauen verscherzt. Schlimmer als die politische Hetz-Phrase, welche die Menge der Mühe deS Denkens überhebt, ist jene hohle Phrase, die dem Denkenden das Vertrauen raubt.

VI

kann, so bedarf es offenbar keiner geistigen Anstrengung um den Gedanken zu begreifen; das heißt aber: der

Gedanke ist richtig — und das genügt. — Wie jeder politische Borschlag, so müßte auch dieser

Gegner finden; mit Gegnern läßt sich aber rechnen, sie mögen nun in Berlin, im Reichslande oder im sonstigen Deutschland sein.

Dadurch, daß der Kaiser sich dreimal in der Reihe der deutschen Fürsten befinden würde, als Kaiser, als König von Preußen und als erblicher Landesherr von Elsaß-Lothringen würde keineswegs „der ganze Bau der

bisherigen Reichsverfassung aus den Fugen gehen."* War denn der Kaiser nicht schon viermal unter den deutschen Fürsten, nämlich als Kaiser, dann als König von Preußen, ferner als Herzog von Lauenburg und endlich als thatsächlicher Souverän von Waldeck? Da­

bei kann nicht in Betracht kommen, daß in Folge eines geschichtlichen Zufalls die lauenbnrgische Stimme im Bnndesrathe nicht zur Ausübung kam, wie auch die Stimme für Waldeck durch Verzicht verschwunden ist. Das Princip der Personalunion widerspricht der deutschen Reichsverfassung nicht.

Wenn aber Deutschland dazu

bestimmt sein soll, ein Einheitsstaat zu werden, jo würde auch durch die Schaffung eines Kaiserlandes diese Lösung der deutschen Frage nicht präjudizirt; ans

dem Wege der successiven Personalunion könnte man

* Dieser staatsrechtliche Arianismus der „Nordd. Allg." wird noch über­ troffen durch die Unterstellung, der Verfasser halte es für möglich, „daß ein Statthalter in Straßburg im Gegensatze zur Politik des Reichskanzlers regieren könne; oder daß der Kaiser in einen Widerspruch treten dürfe zum erblichen Landesherrn von Elsaß-Lothringen." Eine innerlich unrichtige Behauptung wird nicht glaubwürdig durch nachdrückliche Energie oder Pomphaftigkeit des Vortrages. Bei wem soll das verfangen?

VII

ebenso zum „decentralisirten Einheitsstaate" gelangen,

wie man auf dem Wege der successiven Realunion zum „centralisirten Einheitsstaate" gelangen würde. — Die kleinen Staaten aber haben, wir wiederholen

es,

kein Interesse

am

Fortbestehen der Theorie des

Reichslandes; sie werden sich auch noch mit einer Ver­ stärkung der Stimmen des Bundespräsidiums versöhnen.

Wenn man das Reichsland als Ausdruck der Unfertig­

keit des Zukunftsprogramms bezeichnen kann, so kann man auch das Kaiserland als den staatsrechtlichen Aus­

druck des Bundesstaates bezeichnen. — Unberührt durch diese Frage wird daher das deutsche

Reich dieser oder jener Zukunft entgegengehen, welcher

durch die Schaffung des Käiserlandes nicht vorgegriffen würde. — Die Übertragung der Landesherrlichkeit von ElsaßLothringen an die Kaiserkrone würde im Reichslande viel Anklang finden, weil diese Theorie verständlich, die

des Reichslandes dagegen unverständlich ist; der Land­ mann in seiner politischen Einfalt hat längst kurzweg den Kaiser als Landesherrn betrachtet. — Die monarchische Gesinnung im Reichslande ist noch so überwiegend, daß der deutschen Mission nichts

Schlimmeres begegnen könnte, als die Restauration des Kaiserreichs in Frankreich. — Man hat geglaubt im deutschen Reichstage ausrufen zu sollen, daß jene Deutschen

unglückliche Leute seien, die an einen persönlichen Gott nicht glauben können.

Nun denn, die Conservativen

mögen solche Gedanken auf die Politik anwenden. Glaubt man etwa das Reichsland werde sich mit einem persön­

lichen Herrscher weniger rasch befreunden als mit einem unpersönlichen? Wie der abstrakte Gott als Gemüths­ postulat unzureichend ist, so auch der juristische Monarch.

VIII

Der staatsrechtliche Polytheismus als Ausnahmszustand

für das Reichsland wird so wenig gute Früchte tragen

als der selige deutsche Bund. — Die Elsätzer, wie die ungeduldigen Unitarier und vorsichtigen Partikularisten in Deutschland können sich

mit dem „Kaiserlande" zufrieden geben; unversöhnlich werden sich dem Vorschläge gegenüber

nur die Repu­

blikaner und Demokraten im ganzen Reiche und viel­

leicht jene Leute in Berlin verhalten, welche, obwohl sie keineswegs der Hinneigung zur Centrumspartei be­ schuldigt werden können, doch den nach Berlin pilgern­ den Elsäßern eindringlich vorstellen, wie man es in Berlin dem Landesausschusse ernstlich verargen müsse,

„daß er nicht mehr Opposition mache".

1875* Seite

Borurtheile und Enttäuschungen. — DaS Nationalität-princip. — Zurück­

getretene

Sympathieen. —

Stimmung-berichte. — Die deutsche

Presse................................................................................................................... 3

Der junge deutsche Nationalstolz. — Der Elsäßer in Frankreich. — Derwälschuug. — Der katholische Klerus als Vertheidiger der deutschen

Sprache. — Der Glsäßer in Deutschland............................................... 8 Nationale und administrative Centralisation. — Der Absolutismus. — Provinzielle und sociale Reste. —

Die Verwirrung nach dem

Friedensschluffe. — Die Option. — Die alten Parteigänger. —

Die Protestanten. — Straßburg. — Lothringen. — Der elsäßische PartikulariSmu-................................................................................................ 13

Die Emanzipation vom Empire und seinen Agenten. — Die deutsche Ver­

waltung. — Der LandeSauSschuß............................................................. 25 RechtSeinheir und Ordnungssinn. — Deutscher Reformeifer. — Deutsche

Ziele. — Deutsche Centralisation. — Die Umbildung der Parteien. — Deutsche Pflichten.................................................................................... 31

* Der — 1876 — überschriebene Theil dieser Schrift war schon im Jnli 1876 in Form von Briefen an die .Allgemeine Zeitung- (Nr. 202, 203, 206, 206 und 209) unter dem Titel: „AuS Elsaß-Lothringen" erschienen; der Verfasser glaubte daran nicht- ändern zu sollen; wa-

im

Juli 1875 wahr schien, scheint auch noch im Oktober 1876 wahr — und die Wahrheit wird nie alt.

1876. Seite Deutscher Chauvinismus........................................................................................... 41 Die Annexion als nationale und administrative DecentraMation betrachtet.

— Die französischen Derentralisten. — Die Befürchtungen

43

der

Eentralisten. — Pari- und die Provinz. — Da- Nancyer Projekt.

DaS Arrondissement. — Die -rei-direktoren. — Die Areisordnung .

.

61

Die Jsolirung der Gemeinde. — Listenwahl und Einheit-wahl. — Egois­

mus und Intrigue in der Provinz. — Die Hierarchie der Intelligenz. — Die Decentralisation in der Presse und Literatur. — Die Revue d'Alsace. — Der internationale wiffenschaftliche Congreß in Straß«

bürg. — Die cftteries locales Da- decentraliflrte Elsaß-Lothringen. Monsteur Loyal. — Die

...............................................................54 Politischer Dilettantismus. —

drei Departements. — Die Eigenart

Lothringens. — Die Teutonen in Lothringen. — Straßburg alneue Hauptstadt................................................................................................ 63

Die Widerstandskraft gegen Deutschland. — Die Anziehungskraft Deutsch­

lands. — Die Wiederbelebung der Gemeinde. — Der Partikulari-mu-.

72

Die nationale und administrative deutsche Eentralisation. — Berlin als

Hauptstadt. — Ministerium oder Reichsamt in Berlin. — Beruf der Landesverwaltung. — Unhaltbare Zustände. — Die Zukunft

de- Reich-lande- im Reiche. — Die Reich-mitgliedschaft. — Landes­

ausschuß und Reichstag. — LandeSauSschuß und BundeSrath. — Die Autonomie.................................................................................................77 Reichstag — BundeSrath — LandeSauSschuß — Der Kaiser — Ein Kaiser­

land — Monarchische Erziehung — Die Republikaner

....

86

Elsaß-Lothringen.

1

Wie Hr. v. Franqueville in seinem Buch

über englische

Einrichtungen mittheilt, erzählte der frühere preußische Gesandte v. Bülow in London: er sei nach dreiwöchigem Aufenthalt in England ganz bereit gewesen ein Buch über das Land zu schreiben,

nach drei Monaten habe er die Sache schon nicht mehr für so leicht gehalten, und nach drei Jahren eingesehen, daß sie vollend­

unmöglich sei.

Aehnlich verhält es sich auch mit Elsaß-Lothringen.

Diese

vermeintliche Einfachheit und Klarheit der Dinge hängt immer mit einer vorgefaßten oberflächlichen Meinung zusammen, womit

wir an die Dinge treten, und da handelt es sich eben darum

den ersten Irrthum rechtzeitig zu erkennen. Die meisten Deutschen wohl kamen mit der festen Ueberzeugung ins Land, daß das Bylk noch urdeutsch und nur oberflächlich wälsch übertüncht sei, und daß es höchste Zeit sei da aufzuräumen;

daß

eS

aber

genügen müsse dem Volke seine deutschen wohlbewahrten Eigen­

thümlichkeiten nur wieder recht zum Bewußtsein zu bringen, um

eS wieder zu gewinnen; so betrachteten wir Elsaß-Lothringen als ein Dornröschen, das die ganze Zeit hindurch geschlafen.

Wir

brachten viel herzliche Bereitwilligkeit mit ins Land und allen

gutmüthigen Optimismus unserer sehnsüchtigen Rheinlieder. Man hielt die Sache für weiter gar nicht complicirt und für so aus­

gemacht, daß alle Schwierigkeiten sich recht bald würden beseitigen lassen; man wies sich entzückt in alten Chroniken unwiderlegbare

Beweisstellen dafür, daß das Volk auch heute noch ganz deutsch sein und deutsch fühlen müsse — am Rhein, an der Mosel und

im Wasgau.

Wie lange hatten wir unS des Stückes Rhein ge1*

4 freut das uns geblieben, wie eines Torso, dessen übrigen Stücke leider abhanden gekommen; dann aber, als alles wieder beim Rechten war, vergaßen wir die Jahrhunderte deutscher Ver­ stümmelung ganz und gar, und knüpften in unseren Gedanken unmittelbar an den westfälischen Frieden wieder an. Das Volk am Rhein hatte aber inzwischen manches erlebt — manet idem fluminis nomen, aqua transmissa est. Getäuschter Optimismus schlägt ganz naturgemäß in das Gegentheil um; das ist das Ende jeder Gefühlspolitik; wir hatten geglaubt die Elsäßer müßten unS verstehen, unser guter Wille müßte sicher und müßte rasch unwiderstehlich wirken, und jetzt — nach vier Jahren schon — gibt es Leute, welche die Flinte mißmuthig inS Korn werfen, weil die Sympathien im Lande nicht so rasch wachsen als die tägliche Ungeduld es erwartet hatte — weil das Entgegenkommen nicht sogleich erwidert wurde. Wir müssen uns eben darein ergeben, daß politische Anschauungen nicht wachsen und reifen wie Aepfel. Der Cult der Nationalitäten hat in ganz Europa irrige Anschauungen über die Bedeutung der Bluts- und Sprachgemein­ schaft hervorgerufen. Sehr richtig hat der Deputirte VillevierS auf die berühmte Rede von Thiers über die Nationalitäten im März 1867 entgegnet: man möge sich da keinen Täuschungen hingeben; die Bluts- und Sprachgemeinschaft begründe wohl die Race, die Nationalität aber werde durch die politische Zusammen­ gehörigkeit gebildet. ES gibt, mit anderen Worten, eine ererbte Nationalität, deren Merkmale wir in Sitte und Sprache finden, daneben aber eine anerzogene Nationalität, das Product des Zusammenlebens in einem Staate, gemeinschaftlich erlebter großer Ereignisse, gemeinschaftlichen Ruhmes, gemeinschaftlichen Unglücks. Wenn die Elsäßer und die Deutsch-Lothringer uns anheimelten, weil sie die deutsche Sprache und vielfach deutsche Sitte und Eigenart bewahrt hatten, so war doch der Schluß falsch: daß sie deßhalb auch noch durchweg deutsch fühlen müßten. Große Erinnerungen verbanden das Land mit Frankreich, die gemeinsam erkämpften Errungenschaften der großen Revolution, der Ruhm des ersten und nicht minder des zweiten Kaiserreiches. Was ist nun stärker und dauerhafter — die politische Tra­ dition oder die Abstammung, Sprache und Sitte? DaS wird

5 sich zeigen. Dabei dürfen wir aber nicht vergesse», daß die poli­ tischen Traditionen, die das Land in Beziehung zu Deutschland bringen, verblaßt und, soweit sie nicht vergessen, nicht immer er­ quicklich sind, und wir müssen die Fähigkeit des Deutschen in Rechnung bringen sich einem fremden Volke zu assimiliren, wenn wir auch anerkennen müssen, daß der allemannische Elsäßer und

der Moselländer diese Fähigkeit viel weniger dargethan als etwa der Pfälzer oder der Rheinländer. Die französische Regierung hatte tut vorigen Jahrhundert ohne jeden Erfolg Kleiderordnungen für Straßburg erlassen. Die Frauen dort trugen hartnäckig deutsche Tracht, obwohl ihre Brüder und Söhne längst unter französischen Fahnen kämpften. SaintJuste und Lebas trafen das richtige mit ihrer Proklamation vom 15. November 1793: „Die Bürgerinnen von Straßburg sind ein­ geladen die deutsche Tracht zu verlassen, weil ihre Herzen statt« zösisch sind". Das war auch der Fall; nur hatte man'S ihnen noch nicht gesagt. Die Wülste und Wickelkleider verschwanden wie durch Zauber; in demselben Jahre noch opferten die Bürgerinnen 1061 goldene und 424 silberne Schneppenhauben auf dem Altare des Vaterlandes. ES hat mancher hier Enttäuschungen erlebt und mißt nun die Schuld nicht seinen fehlerhaften Berechnungen, sondern allen Dingen und jedermann, nur nicht sich selber, zu. So macht sich entschieden ein Pessimismus geltend, der auch in der deutschen Presse zu Tage tritt und seinen Weg schon 6i6 in den Reichstag gefunden hat. Gieng es ja uns Deutschen genau so mit dem PhilhelleniSmuS — zuvor überspannte Erwartungen — dann ge­ täuschte Hoffnungen und unheilbarer Bruch. Der Reichsländer verdient aber das Schicksal der Griechen keineswegs. Auf die erste Begeisterung ist eine gewisse Kühle eingetreten. DaS ist be­ dauerlich und gefährlich. Vom Mißverständniß bis zur Ent­ fremdung ist nicht weit — im menschlichen Leben wie in der Politik. Dieser Gedanke drängt sich auf, wenn man die Haltung der elsäßischen und der deutschen Presse bei Besprechung der An­ gelegenheiten deS Reichslandes betrachtet. Man mag über diese oder jene Kundgebung in der Presse, ja man mag über ganze Kategorien von Mittheilungen, deren Genesis man kennt, gering­ schätzig denken, man darf aber ihre Bedeutung nicht unterschätzen;

6 der letzte unverzeihlich schlecht informirte Penny-a-liner arbeitet

mit an dem großen wirren Gewebe, daS wir öffentliche Meinung nennen.

Montaigne, der von seiner Studirstube aus seine Zeit

und seine Welt so richtig beurtheilte, sagt: der Irrthum des

Einzelnen schaffe den Irrthum der Menge, und dieser hinwiederum

bedinge den Irrthum des Einzelnen. ES hängt eng

zusammen mit dem ersten voreiligen Opti­

mismus und den darauf folgenden Enttäuschungen, wenn man

zur Zeit in Europa über Vorgänge und Stimmung in Montenegro

und Serbien schier besser unterrichtet ist als über Elsaß-Lothringen; in der That gibt es wohl in ganz Europa kein Land, in welchem

man über Elsaß-Lothringen so widersprechende Urtheile liest als gerade Deutschland.

Ein östreichischer Correspondent der All­

gemeinen Zeitung hat jüngst ausgesprochen: daß die pessimistischen Anschauungen damit zusammenhängen, daß so wenig Oesterreicher

über Oesterreich schreiben; dieses Urtheil trifft auch hierzulande zu; aber nicht nur bei eingewanderten Deutschen hier begegnen

wir einer bedauerlichen Verkennung der Zustände, wie sie einmal liegen, auch die Landesbewohner verstehen die Deutschen nicht,

mißkennen ihre Absichten, mißtrauen

allen und beweisen oft in

dem Augenblicke, wo sie sich zu verständigen suchen, daß sie un­

gar nicht verstehen. Ist wirklich seit 1871 eine Verschlimmerung der Stimmung eingetreten? Man staunt oft über die plötzlichen Wandlungen der öffent­

lichen Meinung in Frankreich;

weiß man aber auch

ob die

Stimmung des Landes über deren Umschlag man staunt, in den Berichten der Journale und Behörden richtig erfaßt war? Ein ehe­

maliger Prokurator des zweiten Kaiserreiches versicherte einmal dem Verfasser: das Unglück der französischen Regierung seien von jeher

die periodischen Stimmungsberichte gewesen;

die Berichte der

Präfccten und Unterpräfecten, Friedensrichter und Gendarmerie­

offiziere, der Bürgermeister und Staatsanwälte seien immer binnen kurzem zu schablonenmäßigen inhaltslosen Rapporten ausgeartet;

nicht nur weil man die Mühe gescheut und den Geist nicht be­ sessen ordentlich in die Dinge zu schauen, sondern weil man genau

wußte, daß man im Ministerium mit der officiösen Meinung über die Stimmung längst fertig war, bevor die Berichte ein-

7

trafen, und nur Material zur Bestätigung daraus zog. So be­ trog 1870 die Regierung sich selbst wie die öffentliche Meinung über die kriegerische Stimmung im Lande. Aber nicht nur für den KreiSdirektor und Landwehrbezirks­ commandanten (auch militärische Stimmungsberichte gehen nämlich nach Berlin), sondern auch für den unabhängigen Reporter hält eS schwer, sich in diesem Walde zurecht zu finden, und für den Widerstreit der Anschauungen die Diagonale, für die wider­ sprechendsten Erfahrungen die man hierzulande täglich sammeln kann, immer die Lösung zu finden. Dazu spiegelt sich in den Berichten, welche ihren Weg in die deutsche Preffe finden, der ganze liebe deutsche Parteihader getreulich wieder, und neben den Zerwürfniffen, welche die poli­ tische Umgestaltung Deutschlands und der Kulturkampf mit sich brachten, tobt da noch der Streit der Leute die dasselbe wollen, über die anzuwendenden Mittel aber sich entzweien. Wer daheim vormärzlich und reichsfeindlich gesinnt ist, beklagt die Unter­ drückung des Volkes — die liberalen Reichsfreunde aber finden, man gehe nicht streng genug vor, und rufen: „Landgraf, werde hart!" Mancher Elsäßer, welcher sich redlich bemühte, unsere märchenhafte Parteipolitik zu studiren, ist wieder davor zurück­ geschreckt, wie vor dem Studium einer Keilschrift. Daß so gegenseitige Mißverständnisse zwischen Deutschen und Elsäßern, die zur Klärung der Berichte und Mittheilungen au- dem Reichslande nicht beitragen, sich täglich ergeben, liegt auf der Hand. Als die Deutschen ins Land kamen, da war allen alles neu; so hielt sich jeder für berufen, über das was er täglich sah und erlebte, in die Heimath zu berichten ; aus der bloßen An­ wesenheit im Lande leitete man den Anspmch auf eine gewifle Glaubwürdigkeit ab und urtheilte mit gottergebener Dreistigkeit über alles, mit keiner weiteren Autorität als etwa der von Leuten, die beim Gedränge um ein Kunstwerk demselben näher zu stehen kamen als die übrigen. Was hier leichthin ausgefaßt und leichthin nach Hause berichtet wurde, ward über dem Rhein auch leichthin geglaubt. Sollten wir Deutsche als Sieger wirklich un- der selbstbewußten Oberflächlichkeit hingeben wollen, die wir sonst an den Feinden tadelten? Mit Recht erheben sich schon elsäßische

8 Blätter gegen dieses Unwesen und staunen nicht minder über die robuste Glaubenskraft des deutschen Publikums als über die Keckheit und Oberflächlichkeit gar mancher Reporter-, von dem sich angesehene deutsche Blätter bedienen lasten. Nicht nur ultramontane und sozialdemokratische Organe, auch reichsfreundliche liberale Blätter bringen regelmäßig schwarzgallige, übelwollende Berichte, welche Straßburg in Berlin verklagen und aus welchen zu ersehen wie ganz und gar nichts im Lande vor­ wärts gehe, sondern vielmehr alle- rückwärts schreite, und daß diese- widerspänstige Land einer ganz andern Behandlung bedürfe; andere Korrespondenten wieder sind beständig damit beschäftigt nach den ersten sprießenden Veilchen zu spähen und nach den ersten FrühlingSschwalben auszulugen, und melden jede Entdeckung jubelnd nach Hause. Eigenthümlich ist, daß in diesen Berichten regelmäßig von der Beflerung oder Verschlimmerung der Stimmung, von den Sympathien, die sich noch immer nicht zeigen wollen, oder welche sichtlich zu Tage treten, die Rede ist. Lassen wir das doch ruhig wachsen, ohne täglich die junge Pflanze aus dem Boden zu ziehen, um zu sehen ob sie nicht über Nacht etwa neue Wurzeln angesetzt; wie kann eS überhaupt in einem Land eine allgemeine Stimmung geben, in welchem sich noch keine Parteien gebildet haben? Diese Art die Dinge aufzufasten, beweist, daß wir keine Eroberer von Fach sind — und das ist ja gut. Die Sympathien wünscht man fast wie eine Rechtfertigung der Reannexion, während der richtige Eroberer sich blutwenig darum kümmert. Es beweist aber auch, daß wir noch himmelweit entfernt sind vom rechten, ruhigen Nationalstolze; in diesem Gefühl sind wir eben noch Neu­ linge. Es ist daher auch kein Wunder, wenn die ersten Anfänge des Nationalstolzes hin und wieder in einem unreifen und ziemlich ungehobelten Chauvinismus sich zeigen — eine Eigenschaft die doch uns Deutschen vor kurzem noch ganz fremd war, die aber jetzt rasch sich in unerquicklicher Weise breit macht und in uuliebenSwürdigen Formen auftritt; bald ist eS ein chronisches Säbelge­ raffel in der Preffe, das uns bei allen Völkern den Ruf über­ müthiger händelsüchtiger Raufbolde bereitet; bald ist eS die hin und wieder durchschimmernde teutonische Ueberhebung, welche summarisch alle Franzosen für Menschen von hochgradiger Ver­ kommenheit und logischer Unzugänglichkeit erklärt — Symptome

v eines durch den Krieg geschärften NationalhafleS. Goethe sagt von sich: er sei im Elsaß vom Franzosenthum curirt worden; in der

That gibt es keinen günstigeren Ort für solche Cur; aber in der Reconvalescenz wird man manchmal üppig.

So ist es recht be­

dauerlich, daß man in den Garnisonen wie im Cantonnement und

Quartier noch dann und wann etwas allzu feldmäßigem Gebühren begegnet, daß noch immer Osficiere gegen Anwendung der Landes­

gesetze an Kaiser und Reich appelliren; auch unter Beamten findet

man hin und wieder die Erfahrung bestätigt, daß ein absolutes Regiment auch winzige Subalterne zu kleinen Absolutisten macht.

Hier müssen wir die Regierung besonder- darauf aufmerksam

machen, wie nothwendig eine strengere Aufsicht auf die isolirten sich selbst überlassenen Beamten ist; es dringen nicht alle Klagen bis zur Oberbehörde.

Freilich geschieht auch von anderer Seite viel diesen Chau­ vinismus zu wecken und uns die Galle zu erregen. Roch betrachtet

der Franzose den Deutschen als Barbaren, der die ganze Civili­ sation bedrohe, und der nach seinem ganzen Bildungsstande gar

nicht würdig war die große Nation, welche ja Gott selbst besonders liebe und welche die Sympathien aller groß und frei denkenden

Völker besitze, zu besiegen.

Schon 1867, als man eine russisch­

preußische Allianz fürchtete, erschienen in Paris Flugschriften wie:

„Gare aux barbares!“

„La Civilisation compromise“ u. s. w.

Seitdem dem Land von Frankreich und dem Centrum im

Deutschen Reichstage so sehr geschmeichelt wird, hat sich das Gefühl der Superiorität nur noch gesteigert. Man begegnet im Land, wenn ein Act der Milde der Regierung besprochen wird, häufig der Auffassung: es werde deßhalb nicht allzu streng regiert,

weil man in Berlin sich scheue, angesichts der zuschauenden euro­

päischen Civilisation, sich seinen despotischen Trieben hinzugeben. Als die deutsche Sprache bei Aemtern und Gerichten eingeführt

wurde, konnte man den Wunsch hören: Deutschland möge aus Achtung vor der großen Nation die französische Sprache als offi-

cielle Sprache anerkennen, etwa wie die Langobarden aus Respect vor Rom die römische Sprache angenommen haben.

Wer da wissen will wie der Franzose über Deutschland denkt, der mag das in der „Alsace“ von Edmond About, in „La race prussienne“ von Quatrefages, in den „Odeurs de

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Berlin,“ in Victor Tiffots „Voyage au pays des Milliarde,“ in den „VeillSes alsaciennes“ von Erdmann, und in jedem beliebig französischen Journal lesen. Die französischen Blätter arbeiten da so fleißig, daß die Vorstellungen über Deutschland und die jüngsten Ereignisse bereits mit dem Schleier der Legende über­ zogen sind. ES kann einen nun allerdings verdrießen, wenn man täglich gedruckt liegt, daß wir, „das Volk der Denker," nur die modernsten Barbaren sind, der Politiker darf aber darüber nicht die Besonnenheit und die Ruhe des Urtheils verlieren. So schlimm wie der Franzose, urtheilt allerdings der Elsäßer nicht über den deutschen Nachbar. Es gibt zwar in Elsaß Leute welche glauben: der Volksstamm sei erst durch die Bereinigung mit der »großen Nation" gehoben und geadelt worden, und denen wälscheS Wesen und Bildung fast identische Begriffe sind. Doch daS gilt nicht allgemein. Napoleon I. sagte: wenn man den Russen etwas abkratzt, so kommt gleich der Kosake zum Vorschein — und so kommt man auch, wenn man dem verwälschten Elsäßer etwa» abkratzt, auf den wirklichen Elsäßer — dieser ist aber gleichwohl, wenn auch kein Verächter des Deutschen, vom Grunde deS Herzens Franzose, und nur um so eifriger darauf bedacht, daß mau ihn dafür halte. Uns Deutschen fällt es schwer dies zu begreifen — weil wir erst anfangen zu erfahren, was es heißt, einem großen mächtigen Vaterland anzugehören, daS auf dem Gebiete der Politik wie der Sitte die Hegemonie besessen. Wir stecken noch tief in den durch die NationalitätSpolitik geschaffenen Irrthümern und haben unS von Anfang an nicht darein gefunden, daß ein deutsch sprechendes Volk von deutscher Abstammung anders als deutsch fühlen könne; als man aber gegentheilige Erfahrungen machte, erklärte man dies flugS für bösartige Verstellung, für eine Leistung katholischer Pfarrer und französischer Journalisten — und nichts weiter. Sollen gerade die kosmopolitischen Deutschen so urtheilen? Waren etwa Schauenburg, Ney, Luckner, Rapp, Kleber u. s. f. nicht Franzosen vom reinsten Wasser? War vielleicht Minister Humann deßhalb weniger Franzose weil er sprach: tous mes brochets ont 6t6 des truites (tous mes projets ont öiö d&ruits); war der Deputirte Schützenberger etwa nicht französisch gesinnt, wenn auch sein elsäßischer Dialekt so verrätherisch war, daß er es nicht

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wagte als Redner aufzutreten?

Glauben Sie ja^nicht, daß der

reiche Rentier 3E., von dem die Straßburger erzählen:

er habe

zur Hochzeitsfeier seiner Tochter Bonbons aus Paris, aus der

maison du fidel berger, kommen lassen, und die Gäste zum Zugreifen aufgemuntert: „Ils sont de Fiedelberger ä Paris“ — glauben Sie ja nicht, daß der Mann deßhalb deutsch fühlt, weil er schlecht französisch spricht.

Wenn er seit der Option ab

und zu mit seinen Damen wieder in Straßburg erscheint, da rauschen diese, schwarzgewandet, vestalische Strenge in den Zügen,

mit arsenikhaltigen Blicken an den Uniformen auf dem Broglie vorüber.

Jener alte Herr, der immer so verdrossen sich an den

Deutschen vorbeidrückt, ist mit ganzer Seele Franzose, wenngleich seine Landsleute ihn herzlos verspotten,

weil er in Gesellschaft,

als von den Vorzügen der deutschen und der französischen Sprache die Rede war, meinte: alle Sprachen seien schön: bourvu qu’on

les barle pien. ES hieße höchst oberflächlich urtheilen, wollte man aus diesen

täglichen Erfahrungen über die unverwüstliche Eigenart in Sprache und Sitte voreilige Schlüsse auf einen Rest deutscher politischer

Gesinnung ziehen, oder, wie dies in der That wiederholt ausge­

sprochen worden, darin mit echt germanischer Hartnäckigkeit be­ wahrte deutsche Sympathien erblicken, die sich noch verschämt

zurückztehen. Mit dieser Anschauung würden wir in die sonderbare Lage

gerathen, dem katholischen Klerus die Rolle zuschreiben zu müssen,

auS politischen Gründen für die deutsche Sache gekämpft zu haben. In der Diaspora in Lothringen, wo die Leute heutzutage

noch bilingues sind, wie sie im 13. Jahrhundert schon ein Chronist

genannt hat, und nicht minder im Elsaß, mußte der Klerus, um seinen Einfluß nicht auf das Spiel zu setzen, für die Beibehaltung der deutschen Sprache eintreten; der katholische und der protestan­ tische Klerus wetteiferten in Förderung des deutschen Sprach­ unterrichts in Kirche und Schule; ja, der Bischof in Nancy gründete

daS kleine Seminar in Vinstingen vorzüglich zu dem Zweck um junge Kleriker in beiden Sprachen auszubilden; in der Diöcese

Metz war es Domcapitular Thomas, der den Dörfern deutsche Lehrer und Pfarrer wieder verschaffte. Es war sicherlich seitens der französischen Regierung unklug

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gehandelt, als? sie etwa von 1851 ab einen Feldzug gegen die deutsche Sprache im Elsaß eröffnete; es hat dies nur unnütze Erbitterung hervorgerufen; dies beweist recht deutlich eine 1867 veröffentlichte Schrift des Ehrenkanonikus am Münster und Pfarrers zu St. Johann, L. Cazeaux in Straßburg, über die Beibehaltung der Deutschen Sprache im Elsaß. Der Verfasser widmet die Schrift dem Bischöfe Räß in Straßburg, „dem Meister deutscher Sprache im Elsaß," und verwahrt sich und seine Anhänger gleich Eingangs gegen den Verdacht als seien sie keine guten Franzosen, weil sie an der Ausrottung der deutschen Sprache nicht mirkwirken wollen — »als träumten sie gar vom Rückfalle des Elsaßes an Deutsch­ land, ober als wünschten sie solche Rückkehr und — was noch unbegreiflicher — als seien sie Willens die Verwirklichung dieses Wunsches durch alle möglichen Mittel zu fördern." Natürlich ist Cazeaux Anhänger des Zweisprachensystems und meint, man könne, unbeschadet einer ordentlichen Ausbildung wie der patrioti­ schen Gesinnung, beide Sprachen lernen; nun, wir Deutschen wissen, waS dieser Dualismus in den Schulen für Früchte getragen hat. — Cazeaux sagt: als volksthümlische Sprache könne die deutsche Sprache int Elsaß nicht, als literarische dürfe sie nicht verbannt werden, und es sei dies wever nöthig um den Elsäßern einen besseren Accent zu verschaffen, noch um die Bande fester zu schlingen, die sie mit Frankreich längst vereinigen; die französische Regierung habe nicht nöthig die Vorgänge in Polen und Ungarn nachzu­ ahmen. „Wer die deutsche Sprache bekriegt, vergreift sich gewisser­ maßen an der Religion, an der Moral und somit an der Ge­ sittung im Elsaß." Der Verfasser kommt zum Schluffe: „daß weniger Zeit erfordert wird um die Elsäßer gehörig deutsch und französisch sprechen und richtig schreiben zu lehren, als um das Französische auf Kosten des Deutschen, volksthümlich zu machen." Er erwähnt noch daß er ans allen Theilen des Elsaßes zahlreiche Zustimmungserklärungen erhalten. Wer aber möchte behaupten, daß diese Elsäßer keine guten Patrioten gewesen? Darauf war aber der Elsäßer immer stolz, daß er der Mittler zwischen beiden Nationen sei. — Man kann erst ermessen, welches ungeheure Ver­ dienst der Klerus, ohne es zu wollen, der deutschen Sache geleistet hat, wenn man betrachtet, wie radikal seit 1850 in den Asylen und Mädchenschulen die Schulschwestern mit dem Deutschen da auf-

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geräumt haben, wo davon nur mehr vereinzelte Reste in den Dörfern noch vorhanden waren. Als 1859 die Depeschen vom italienischen Kriegsschauplatz in Straßburg eintrafen, ließ sie der Präfect in beiden Sprachen an den Mauerecken anschlagen, und man bemerkte — nach einem französischen Berichte — daß drei Viertheile des Publikums sich um die deutschen Placate drängten; der Jubel in den deutschen Gruppen war aber deßhalb nicht geringer. ES gibt aber Deutsche, welche die Träger deutscher oder verwälschter Namen durchaus nur für Talmi-Franzosen gelten lassen wollen, und die da meinen, eS genüge die Vereinigung mit Deutschland, um die nur einge­ schlummerte Liebe zum alten Vaterland wieder zu erwecken. Es reizt nun allerdings zum Spotte, wenn man diese gallisirten, deutschen oder tschechischen Namen hört, wie z. B. Seinguerlet (Zingerle), Sainte Eve (Sintef), QuimpLre (Schimper), Calba (Kalbach), Säphöle (Zöpfl), Lardel (Schartl), Seichepine (Seiden­ spinner), Offcard (Hopfgarten), Agröment (Ackermann), Haffenvrat (Haflenfratz), Honverzat (Unverzart), oder, wenn sich Ihnen schließlich gar ein Anatole Phymaire (Viehmaier) vorstellt. Aber was ist weiter daraus zu schließen, als daß diese Leute eben, vielleicht seit Generationen, total verwälscht sind, und das kann man ihnen doch wahrhaftig nicht verübeln.

Wir müssen den umgekehrten Weg einschlagen, wir müssen uns sagen, die Leute, wie wir sie vorgesunden, haben zum größten Theil deutsche Sprache und Sitte noch beibehalten, sind aber gleichwohl mit geringen Ausnahmen von Herzen französisch ge­ sinnt. WaS hat sie nun zu Franzosen gemacht? Wie haben sich im Zusammenleben mit dem französischen Bolt und unter dem Einflüsse der französischen Verwaltung ihre Anschauungen ge­ ändert und umgebtldet? Wie kann und wird die rückgängige Bewegung eintreten? Wo ist der Hebel anzusetzen? Wir werden dann zu positiven, tragfähigen und erfreulicheren Resultaten kommen, als wenn wir immer nach zweifelhaften Sympathien uns umsehen, oder gar endgültig urtheilen, bevor, so zu sagen, das Rad seine erste Drehung vollendet hat.

14 Elsaß wie Lothringen haben sich anfangs nur mit Wider­ willen der französischen Herrschaft gefügt. Man wird ungefähr daS Richtige treffen, wenn man sagt, daß eine allgemeine, auf­ richtige, rückhaltslose Sympathie sich erst in der Zeit der Re­ volution bildete; daS französische Königthum hatte in diesen Ländern nicht recht Wurzel zu schlagen vermocht. Als aber der Elsäßer sich als freier Bürger der großen Republik fühlte und seine Lage mit der der Nachbarn verglich, die noch für kleine Herren frohndeten, da ging ihm ein ganzer und rechter Stolz auf. Beffere und treuere Soldaten hatte der große Kaiser nicht als seine Elsäßer und Lothringer. Wenn auch auf die stolze Kaiserzeit die klägliche Restauration folgte, so fühlte sich der Elsäffer doch als Bürger einer einigen großen Ration, weit erhaben über den deutschen Bruder. Bei aller gewaltthätigen Energie hatte die französische Herrschaft doch immer etwas von der großmüthigen mansuetudo Imperii Romani, und dieser entsprach die gloria obaequii. Das Volk wußte, was eine Invasion bedeute, und die Ueberzeugung, daß ein mächtiges Land seine Fittige schützend bis zur Gränze breite, den Nachbarvölkern ihr Verhalten dictire und stark genug sei, günstige Handelsverträge zu erzwingen, mußte jeden Gedanken an die deutsche Vergangenheit ertödten. Nun ist daS Land wieder losgeriffen von dem Staate, mit dem «S ge­ treulich manch gute und schlechte Zeit verlebt hatte, und ist mit dem deutschen Reiche wieder vereinigt, das erst seine Proben ab­ zulegen hat, und das in der letzten Zeit seiner früheren Gestaltung doch wahrhaftig bei Gott und der Welt nicht sehr beliebt war. Noch gibt eS viele Leute in Europa, die an den Bestand der neuen Ordnung der Dinge, an eine deutsche Hegemonie nicht glauben wollen; wir Deutsche selbst tragen dazu alles bei; gab es wohl je auf der Welt eine Nation, deren Angehörige den eigenen natio­ nalen Aufschwung so scheelsüchtig betrachteten, deren Kinder so schlecht von der Mutter sprächen, wie dies täglich noch in Deutsch­ land geschieht? Bon diesem schlechten Rufe der politischen Un­ zuverlässigkeit und Haltlosigkeit müssen wir unS erst befreien. Dafür daß Vertrauen zum neuen Reich erwachse, muß im Reiche selbst Sorge getragen werden. Bis zur Stunde bietet Deutschland den neuen Brüdern für die Trennung von einem mächtigen reichen Land mit seiner welt-

15 beherrschenden Industrie und seinem reichen Markt noch keinen ausgleichenden Ersatz; das Reichsland tritt in eine neugebildete Staatengemeinschaft ein, gegen welche sich noch wüthender Partei­ kampf auslehnt; eS hat Handelsbeziehungen in einem Lande zu suchen, welches für ein verhältnißmäßig arme- Publikum, unter dem Drucke von ungünstigen Handelsverträgen, möglichst billig zu produciren genöthigt ist; der elsäßische Fabrikant vermißt die gewohnten soliden, coulanten Handelsusancen, die Annehmlich­ keiten eines durchgebildeten MünzsystemS — und was Anfangs aus Deutschland an Pionieren des Handels und Gewerbe- über den Rhein kam, war nicht geeignet, den neuen Brüdern hohe Begriffe von deutscher Solidität beizubringen; unwillkürlich er­ innert man sich an die Worte, mit welchen TacituS die ersten kecken Ansiedler charakterisirte, die über den Rhein zogen, um in den agri decumates sich niederzulassen — leviasimus quisque ac inopia audax. Das hat sich nun allerdings schon wesentlich gebessert, und das solide deutsche Capital beginnt mehr und mehr dem Landfrieden zu trauen und sich herüberzuwagen. ES steht da eine große Ausgabe vor Deutschland: Schutz und Hebung seiner Industrie und seines Handel-, um neben der politischen Einheit und der Armee noch eine breite solide Basis der Macht zu gewinnen. Für die Reich-gesetzgebung, und nicht minder für unsere Handelsgremien und Gewerbekammern, eröffnet sich ein weites schöne- Feld der Thätigkeit. Da- Reichsland scheint berufen, da als Sauerteig zu wirken; seine Fabrikate und LandeSproducte machen den Deutschen schon allenthalben empfind­ liche Eoncurrenz — und eS erklärt sich daraus manche Polemik in deutschen Blättern gegen hiesige Einrichtungen. Um so unver­ ständlicher ist es aber, wenn die Berliner Handel-zeitung den elsäßischen Kaufmann-stand, wie jüngst bei Besprechung der Frage über die Handelsgerichte geschehen, mit ehabby gentility be­ zeichnet. Wenn wir untersuchen wollen, waS die Elsäßer zu Fran­ zosen gemacht, müssen wir auch die französischen Staat-maximen betrachten. In den letzten Decennien beschäftigten sich einsichts­ volle französische Politiker vielfach mit der Natur und Wirkung der Centralisation; unter dieser theoretischen Bezeichnung verstand man nebenbei die Napoleonische Despotie; wa- damals verschwiegen

16 wurde, können wir jetzt offen aussprechen und die Frage auf­ werfen: „Welchen Einfluß äußerten Centralisation und Abso­ lutismus in Frankreich, und was haben wir daraus für ElsaßLothringen zu lernen?" Für uns Deutsche ist diese Studie um so mehr von Jntereffe, als wir die Wirkungen der Centralisation noch nicht kennen gelernt haben. In seinem Buch über die Demokratie in Amerika bemerkte Tocqueville sehr richtig: daß die Revolution in Frankreich gegen die alten provinziellen Einrichtungen nicht minder gerichtet war, als gegen das Königthum; sie war daher gleichzeitig republicanisch und centralistisch, und man kann die Centralisation eben so gut eine republikanische wie eine cäsarische Erfindung, eine admini­ strative und eine nationale Errungenschaft nennen. Die nationale Centralisirung erfreute fich immer der größten Popularität, während man über die administrative Centralisirung und ihre absolutistische Natur anderer Ansicht war; die französische Regierung wollte unter Decentralisirung nie Gewährung der

Autonomie verstehen, und selbst die ihr von der öffentlichen Meinung abgerungenen Decrete von 1852 und 1861 verdienen nicht die Bezeichnung Decentralisation; denn nicht in der Dislocirung von Befugniffsn allein, sondern in der freieren Beivegung der Unterbehörde, der Provinz und der Gemeinde liegt daS Wesen der Decentralisation. Nunmehr ist die deutsche Einheit an Stelle der französischen getreten. DaS ist nun einmal so, und die Leute, die sich dareingefunden haben, verlangen, daß man wenigstens administrativ decentralisire; würde das Reichsland immerfort von Berlin aus regiert werden, so wäre eben der ganze Unterschied der: daß an Stelle des französischen ein deutsches Kaiserreich getreten; so argumentirt man.

Der französische Absolutismus hat den politischen Character verdorben , den Sinn für Selbständigkeit in Provinz und Ge­ meinde fast vernichtet und die radikalste Reaction provocirt; der Centralisation war es aber auch 1870 noch nicht gelungen, ihr Ziel zu erreichen. Wo ein großes Volk zum Gedanken der Einheit sich ausschwingt und provinzielle Traditionen zerstört, da gibt eS immer Reste, wie eS sociale Reste gibt, wenn die politische Gleich­ heit durchgeführt ist. In England sagt man: in jedem Hause sei ein Schrank, in welchem ein Gespenst. Auch Frankreich hatte

17 sein Gespenst im Schranke.

So warnt Gobineau seine Lands­

leute: sie mögen ja nicht glauben, daß das Volk vor den Thoren von Paris dasselbe sei, wie innerhalb der Manern, ein Abgrund liege zwischen der Hauptstadt und der Provinz; wer da glaube, die politische Einigung habe auch schon die Ideen in der Provinz

geeinigt und eine Blutmischung herbeigeführt, der gäbe sich be­ denklichen Täuschungen hin; das französische Volk habe wenig Zusammenhang mit seiner Oberfläche, die Civilisation schwebe über

unheimlichen Tiefen, und die stillen Wasser da unten würden einmal

wild heraufbrausen;

die großartigsten und blutigsten Ereignisse

hätten sich im Lande schon abgespielt, ohne daß das Landvolk daran, mehr theilgenommen,

als so

weit es

eben gezwungen

worden. « Von der sogenannten öffentlichen Meinung, von der Herr­

schaft der Phrase, die in Frankreichs gebildeten Kreisen so con-

tagiös wirkt und so tyrannisch gebietet, ist das Landvolk auch zur Zeit des Plebiscits noch unberührt geblieben.

Der elsäßische

und lothringische Bauer gesteht jetzt offen: er hätte damals für den

Frieden zu stimmen geglaubt, er sei eben von Bürgermeister und Bannwart, von Gendarmen und Unterpräfecten übertölpelt worden.

Darum lehnt auch der Bauer jede Verantwortung für den Krieg ab und schickt sich unbefangener in seine Folgen.

Despotie und Centralisation haben das Volk mundtodt ge­ macht; es ist ihnen jedoch nicht gelungen, jede provinzielle Re­

gung, jedes Sondergelüste zu ersticken. Die Staatsidee hat aber in Frankreich alles provinzielle Fühlen, alle Selbständigkeit

des Individuums wie der Gemeinde dermaßen absorbirt, daß nach der WiederloSreißung von Frankreich der Elsässer und der Loth­ ringer nicht mehr wußten, als was sie sich jetzt fühlen sollten.

Selbst in Kreisen, die sich der Einsicht nicht verschließen, daß die Annexion für die Dauer bestehen werde, sind alle Gedanken und Vorstellungen noch französisch.

Es ist dieses in gleichem Grade

die Wirkung der Anhänglichkeit an das große Vaterland — wie

der völligen Hülflosigkeit einer politisch stets bevormundeten Be­

völkerung.

Der Gedanke an eine neue eigene Landesangehörigkeit

war den Leuten fremd und unfaßbar — und dieß erklärt vielleicht,

warum der Begriff des Reichslandes dem

läufig wurde als uns Deutschen selbst. Elsaß-Lothringen.

Elsäßer schneller ge­

Eine Reihe von Vor2

18

kommnissen- von welchen nur einzelne erwähnt werden sollen, müssen wir von diesem Standpunkt aus betrachten. Der gewöhnliche Mann optirte für sich und Familie ohne be­ sonderen Haß gegen Deutschland, weil er gar nicht fassen konnte, was aus den „armen Kindern" außerhalb Frankreichs weiden solle; die Eltern, welche Geschäft oder Besitz an die Scholle fesselten, lassen ihre Kinder in Frankreich erziehen, weil sie es für unmöglich halten, daß sie anderwärts auch Carriöre machen können. So sind jetzt die Familien in der bedauerlichsten Weise zerrissen und zersplittert — zwar ist die Contreoption jetzt fast so stark ge­ worden wie die erste Bewegung; aber die Zukunft der Kinder ist vielfach compromittirt. Die alten Parteien im Lande, die Republicaner, die Legitimisten, die Demokraten und Bonapartisten, knüpften so­ fort die abgerissenen Fäden in Frankreich wieder an; zu welchem unmittelbaren Parteizweck? das fragt man sich vergeblich. Die Ereignisse hatten den Leuten die Karten so durcheinander ge­ worfen, daß sie das alte Spiel hätten aufgeben sollen. Da irrlichtern aber noch verständige Leute und tragen ihren Bonapartismus und Legitimismus getreulich herum, mit dem sie doch im Lande nichts mehr anzufangen wissen, können sich aber von der verlegenen Waare nicht trennen. Die Nepublikaner und die Liberalen verfielen in Utopien und verlangten Neutralität für eine Republik Elsaß-Lothringen oder (gestützt auf das Gespräch von H. Joh. Dollfuß von Mülhausen mit dem Reichskanzler im Januar 1871) Vereinigung von Mülhausen und seinem Jndustriebezirke mit der Schweiz; andere, und zwar ernsthafte Männer, wünschten unter sofortiger Bezugnahme auf den Vertrag von Verdun, daß man die Schweiz mit dem Reichslande, Luxemburg und Belgien zu einem austrasischen Reiche zusammenschweißen möge, wie 1867 und jüngst wieder Emil Girardin ein neutrales bel­ gisches Königreich, vergrößert durch das linksrheinische Holland, Rheinbayern, Rheinpreußen und Rheinhessen zu schaffen, empfohlen. Die oberelsäßischen Demokraten, die endlich auch das Zelt ver­ ließen, in welchem sie so lange gegrollt, debütirten später mit dem Programm: „Pflege demokratischer Ideen als internationales Gemeingut". Die demokratische und liberale Partei sind noch weit entfernt sich zu vereinigen; was sie einander nähern sollte.

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ist die Uebereinstimmung in den Fragen der innern Landesvet-

waltung; was sie entzweit, ist das hartnäckige Festhalten der De­ mokraten an ihren theoretischen Problemen, an dem archimedischen Punkte, der in Frankreich liegt, und von welchem auS das Reichs­ land in die deutschen Geschicke eingreifen soll — es ist die Scheu vor dem Aussprechen der letzten Consequenz, vor dem Geständnisse, daß man elsäßische und nicht französische Opposition machen müsse. Die Demokraten halten eine Verstärkung der Minderheit im Reichstage für eine schönere und edlere Mission, wenn auch das Land darunter leiden sollte, als die Bildung einer liberalen Mehr­ heit im Lande. Laborant, cum ventum ad verum est. Kann und darf man jetzt schon in der demokratischen Partei Begeisterung für die Autonomie des Landes suchen? Die Neubildung der Parteigruppen, die Reconstruction der zerstörten öffentlichen Meinung auf dem Boden der Thatsachen, das alles liegt noch in weitem Feld. DaS baut sich auch nicht so rasch auf, wie man nach dem Kriege zerstörte Häuser wieder aufbaut. Man darf aber die Hoffnung nicht aufgeben, daß die libe­ ralen Elemente sich noch vereinigen und dann durch Parteigänger verstärken werden, die sich zur Stunde noch von der Oeffentlichkeit zurückziehen, weil sie der Meinung sind, ihre Zeit sei noch nicht gekommen. Aber auch in anderen Punkten zeigen sich noch die Nach­ wehen des centralistischen Regiments und der Gewöhnung an den Absolutismus. Edgar Quinet macht den französischen Protestanten den Vor­ wurf, daß ein unverbesserlicher unpraktischer Idealismus sie ver­ hindert habe, eine freiere Kirchenverfassung zu erlangen. In der That ist die Oberaufsicht deS Staates den Protestanten gegenüber schärfer, die Intervention markirter als in den Beziehungen zur katholischen Kirche. Ein französischer Rechtslehrer sucht den Grund hierfür darin, daß die protestantische Disciplin nicht dieselbe Garantie der Ordnung gewähre, wie die katholische, während ein anderer Autor mit Recht darin fortlebende Reminiscenzen an die französische Staatsreligion erblickt. Die protestantischen Dörfer im Elsaß sind von den tüchtigsten Elementen bevölkert, und jetzt noch kann man es begreiflich finden, warum 1801 beim Verkaufe der Nationalgüter im Elsaß die Speculanten für eine Domäne 2*

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von 3000 Fr. Renten 50,000 Fr. boten, wenn sie in einer lutherischen, 30,000 wenn sie in einer katholischen Gemeinde lag. Die elsäßischen Protestanten wären berufen gewesen, den Kampf gegen die Traditionen der Staatsreligion zu führen, aber man litt immer an der Furcht vor dem Verdacht unsranzösischer Ge­ sinnung. Für die elsäßischen Protestanten lag in der Vereinigung mit Deutschland eine wahre Emancipation, aber es dauerte nicht lange, so erwachte wieder die alte Furcht vor dem Staate — vor dem Gespinste der Union — das durch das plötzliche Auf­ tauchen des 1871 vom Generalgouverneur berufenen MissionsJnspectors Fabri heraufbeschworen worden war. In protestantischen Kreisen findet man auch manchmal weniger Neigung für die Autonomie des Landes, als man voraussetzen möchte, weil die Landesvertretung, so rechnet man, der großen Mehrheit nach ultramontan werden würde, während eine solche Vertretung im Reichstage majorisirt sei. Warum aber verzichtet man muthloS auf den Kampf, da doch das Land im Februar 1871 neunzehn freisinnige Abgeordnete nach Bordeaux geschickt hat? UnS Deutschen ist es schwer verständlich, daß man in der Bürgerschaft von Straßburg so selten Verständniß dafür findet (und zwar schon vor Einsetzung der gegenwärtigen Stadtver­ waltung fand), daß die Stadt jetzt Hauptstadt eines ansehnlichen Landes geworden, die sich für ihre bedeutendere Zukunft doch etwas vorbereiten müsse. Der Charakter der declassirten Pro­ vinzialstadt steckt recht tief in Straßburg, und wir begegnen in der Bürgerschaft einer (allerdings auch mit erfreulicher geschäft­ licher Solidität verbundenen) kleinstädtischen Auffassung der Dinge, die sich kaum in einer deutschen Provinzialstadt mit etwa einem Viertheile dieser Bevölkerungsziffer finden ließe; es hält schwer sich mit einem solchen Geiste zu befreunden, in welchem wir kaum rudimentäre Spuren eines reichsstädtischen Epigonenstolzes mit einigem guten Willen entdecken können. Das sind die Wirkungen der Centralisation. In der großen Straßburger Theaterfrage ist im Grunde viel mehr municipaler als politischer Widerstreit zwischen Stadt und Regierung angeregt worden, wenn man's auch nicht eingestand.

21 Das Reichsland bildet zur Zeit eine Bereinigung von drei Departements mit einheitlicher Verwaltung, aber ohne gemein­ schaftliche Landesvertretung. Seit der Trennung von Frankreich zeigte sich, wie wenig Berührungspunkte die beiden'elsäßischen Bezirke mit Lothringen haben. Lothringen, das ganz andere mercantile Interessen und geschichtliche Ueberlieferungen und in seiner jetzigen Gestalt keine Vergangenheit hat, fühlte sich sofort isolirt und vernachlässigt. Man findet es dort unbillig, daß man zu den Kosten der elsäßischen Canal- und Rheindammbauten, deS Straßburger Theaters, der Sternwarte, überhaupt aber der in Elsaß liegenden Landesanstalten gleich dem Elsaß beitragen müsse; man verlangt, daß das weite und allzu großartige Gewand der französischen Finanzverwaltung dem kleinen Land mehr auf den Leib zugeschnitten werde. Letzterer Wunsch verdient aller­ dings Berücksichtigung; man könnte ja der Stadt Metz etwa eine höhere militärische Bildungsanstalt, eine Münzstätte u. s. w. geben; man verbinde die kleinen Provinzialstädte, die noch immer ihren Markt über der Gränze suchen, durch Bahnlinien mit Metz; man vermehre die Garnisonen an der Gränze und subventionire die Gemeinden für den Ausbau eine- Straßensystems nach den ge­ änderten VerkehrSbedürfniffen, welchem sich das französische KriegSministerium mit Rücksicht auf die Vertheidigung von Metz und der Seille-Linie immer widersetzt hatte; man bilde an der Gränze beider Bezirke Kreise mit gemischtem Gebiet aus Elsaß und Lothringen — ein Mittel das schon Baco von Verulam, der praktische Unionspolitiker, zur besseren Vereinigung von Schott­ land mit England empfohlen hat. Diese particularistischen Regungen in Lothringen sind recht bemerkenSwerth; sie haben den ersten Anstoß zur Bildung eines LandesauSschuffeS gegeben. Lothringen hat sich von Anfang an für so stiefmütterlich behandelt gehalten, daß sich im Volke der Glaube bildete: Deutschland denke nicht daran daS französische Sprachgebiet zu behalten, und deßhalb verwende man auch kein Geld dafür. Dieser lothringische ParticularismuS ist neu und durch die Verhältnisse geschaffen; er beweist, daß zwei Provinzen, welche keine andern Berührungspunkte gehabt als ein gemein­ schaftliches politisches Centrum, sich trotz der langjährigen Nach­ barschaft fremd bleiben konnten, und Elsäßer und Lothringer sind

22 sich in der That jetzt noch so fremd wie vor dem westfälischen

Frieden.

In den unteren Claffen findet man an der Gränze oft

eine merkwürdige Abneigung zwischen Elsätzern und Lothringern;

um den Grund befragt, geben die Leute an: daS sei immer so

gewesen, und werde wohl aus der Zeit der Bauernkriege datiren. Damals nämlich richteten die lothringischen Herzoge und Herren

unter den elsäßischen Bauern gräuliche Metzeleien an, wie sie auch später, der spanischen Politik dienend, die Reformation im Elsaß mit Feuer und Schwert bekämpften.

Anders als in Lothringen liegen die Dinge im Elsaß, dessen

zwei Bezirke ihre geschichtliche Gestalt und damit ihre Traditionen besser bewahrt hatten.

Dort blieben die Erinnerungen an die

elsäßische, wenn auch nicht an die deutsche Vergangenheit immer mächtig und waren den Leuten lieb und werth.

Elsäßische Ge­

lehrte waren immer bemüht dem Volke seine localen Traditionen vorzuführen, während ihre französischen Brüder nach celtischen,

römischen und gallischen Denkmälern und Erinnerungen im Elsaß forschten.

Die Centralisation ist mit den provinziellen Resten im Elsaß

nie ganz fertig geworden. Von Zeit zu Zeit tauchten Reminis­ cenzen an die reichsfreie Unabhängigkeit der Städte, an die Be­ ziehungen zur freien Schweiz auf. Jetzt freilich stellt man in Abrede, daß Elsaß bis 1870 den Kampf für die geistige Zu­

sammengehörigkeit mit Deutschland gegen französisches Wesen ge­ kämpft hat.

Jeder Elsäßer aber, der den Ereignissen näher ge­

standen, weiß, daß der langwierige Streit wegen freierer Ge­

staltung der protestantischen Kirchenverfaffung, wegen Regulirung des Simultaneums in den Dörfern, die Fehden des „Rieder­ rheinischen Kuriers" mit der klerikalen und officiellen Presse, dem

„Alsacien" und „Jmpartial du Rhin," die Bedeutung von Mo­ menten aus dem nie ausgeglichenen Conflict zwischen dem deutschen

und dem wälschen Culturelement halten, der auch auf literarischem Gebiete gar manchmal recht heftig entbrannte.

der alten Straßburger Schule

Die Gelehrten

hatten eine Doppelseele — ihre

Reihen sind aber stark gelichtet, und das geistige Erbe der alten

Straßburger Universität wird nur noch von wenigen bewacht, die noch den Geist

der alten gelehrten Straßburger „Kränzei" be­

wahren, in denen Arbogast, Schweighäuser, Oberlin, Herrmann,

23 Lombard, Brunk, Koch u. s. w. zu Anfang unseres Jahrhundert­ gewirkt, jenen unabhängigen deutschen Gelehrtensinn, über dessen Auffindung an der äußersten Landesgränze der Akademiker Camus so erstaunt war, daß er keine andere Erklärung dafür fand als die Klugheit der Pariser Akademie, die es nicht verschmäht hatte diese Provinzialen zu correspondirenden Mitgliedern zu machen. Goethe hatte in gleichem Grade den Deutschen Heimweh nach dem Elsaß wie den Elsäßern Achtung vor deutschem Geistesleben erweckt. Die Wiedererrichtung der Universität Straßburg war ein Meistergriff. Die französische Regierung hatte diese elsäßischen Eigen­ thümlichkeiten nie unterschätzt, aber den bestehenden Antagonismus ausgebeutet, um Zwietracht zu stiften; aus diesem Grunde z. B. hat sie die vielfachen Streitigkeiten über Eigenthum und Ver­ waltung des protestantischen Kirchen- und Stiftungsvermögens nie ausgchen lassen. Gar manchmal hat ein elsäßischer Ge­ meinderath trutzig auf den Schild geklopft und von der fran­ zösischen Regierung mehr Aufmerksamkeit verlangt. Es ist sehr bezeichnend, daß gerade in Elsaß und Lothringen daS sogenannte Nancyer Programm von 1865 aufgestellt wurde, welches Schutz der Industrie, Decentralisation, Autonomie der Gemeinden und freiere Verwaltung der Einnahmen und Ausgaben für Gemeinden und Departement verlangte. Lauter als anderwärts hat man im Elsaß Decentralisirung der Creditinstitute, Verwendung der Credit­ fonds, um dem Ackerbau und der kleinen Industrie Geld zuzu­ führen , verlangt. Die großen Industriellen des Elsaß haben jederzeit besondere Begünstigungen und Schutz vor der englischen Concurrenz verlangt und unter Louis Philipp manches erreicht. Erst als er sich nach dem italienischen Kriege stark fühlte, hat Napoleon III. es gewagt an eine Aenderung der französisch-eng­ lischen Handelspolitik zu gehen. Von den durch das Gesetz vom

1. August 1860 der Industrie gewährten Darlehen, die ihr er­ möglichen sollten das Fabrikmaterial zu erneuern und zu ver­ bessern, um die durch die Handelsverträge geschaffene Concurrenz zu bestehen, ist ein nicht unbeträchtlicher Theil nach Elsaß ge­ flossen. Man hat es int Elsaß nicht allein als strategische Noth­ wendigkeit, sondern als Wirkung dieser marksaugenden Centrali­ sation empfunden, als die Kanonengießerei aus Straßburg und

24 die Klingen- und Waffenfabriken in den Vogesen tiefer inS Land verlegt worden sind. In einer 1802 in Paris erschienenen Reis^beschreibung im Elsaß heißt es: Les Alsaciens dtaient peu en liaison avec le teste de la France, oü ils etaient r4put4s du pays conquis

— hors des barriSres; das war nun 1870 nicht mehr so wahr; die nationale Centralisirung hatte stark gewirkt, aber der Ge­ danke spukte doch immer in den Köpfen — und als das ge­ flügelte Wort „Glacis" im Lande bekannt wurde, fragte man sich: ob eS denn Deutschland mit dem Reichsland auch nicht besser meine als Frankreich. Dieses eine Wort genügte um die elsäßische particularistische Selbstgenügsamkeit wieder wach zu rufen; man glaubte sich vom Reiche preisgegeben und bestimmt als Reichsdomäne zu dienen, und nun machte man sich trotzig selbst an die Arbeit. Der Berfaffer der eben citirten Reise­ beschreibung machte die recht treffende Bemerkung: die Elsäßer hätten le prSjUgi ou l’erreur de croire qu’ils se suffissent ä eux memes, qu’ils ont chez eux tout ce qu’il leur saut et qu’ils pourraient se passer de leurs voisins. Dieser Stolz lebt auch jetzt noch im Land, und er wird dazu dienen unsere neuen Brüder vorerst zu Elsäßern und auf diesem Wege zu Deutschen zu machen. Politischer Müßiggang trägt immer schlechte Früchte; wenn das Land sich mit seinen eigenen An­ gelegenheiten selbständig beschäftigen wird, dann wird es auch an den Gedanken sich gewöhnen, daß die Ereignisse von 1870 ernste und unwiderrufliche Folgen hatten. Die administrative Centralisation hat sich in den französischen Provinzen wenig Sympathien erworben; die deutsche Verwaltung gerieth mitten in die Reaction dagegen und hat die vorgefundenen Verwaltungsgrundsätze bis auf weiteres adoptirt; die Reaction gegen diese Centralisation ist nun um so lebhafter, weil das po­ litische Centrum jetzt in Berlin liegt. Der elsäßische Particularismus, auf dessen erste Blüthen man in Deutschland so gespannt ist, wird aber ein ganz anderer, versöhnlicher und liebenswürdiger sein als etwa der Württembergische oder bayerische; das Land tritt ohne dynastische und kleinstaatliche Traditionen in die deutsche Gemeinschaft. Wenn einmal die Zeit gekommen sein wird dem Land eine Vertretung zu geben, so wird man die Erfahrung

25 machen, daß es sich mit der nationalen Centralisirung vielleicht rascher aussöhnen wird als irgend ein kleiner Duodezstaat. Je straffer aber in Berlin centralisirt werden wird, desto fester wird der Anschluß an den deutschen ParticulariSmuS sein.

Wie das despotische Empire auf die öffentliche Moral bis hinunter in die Dorfverwaltungen gewirkt, wie in Verbindung mit dem Klerus die Imperialisten sich der Leitung der Dinge in der Gemeinde wie im Departement bemächtigt haben, diese Studie bietet besonders reichhaltigen Stoff zum Nachdenken.

Kaum war der Frankfurter Friede unterzeichnet, so hörte man in den Dörfern: die Imperialisten hätten Elsaß-Lothringen an Deutschland verkauft; bat man sich nähere Erklärung auS, so hieb es: „Sehen Sie denn nicht wie die Bürgermeister und Agenten des Empire sofort sich an die Kreisdirectoren gemacht haben, als wären sie nie französisch gewesen?" Die psychologischen Räthsel der Volksstimmung, so absurd sie sich oft äußern, sind immer beachtenswerth. Man konnte damals von deutschen Be­ amten oft hören: das Interesse an den öffentlichen Angelegen­ heiten sei merkwürdig rege und wirke ausgezeichnet auf die öffent­ liche Laune. Man erklärte sich dieß ungefähr so: Optimus post malum principem dies primus; später als der Zudrang derer, die ihren Rath anboten, sich etwas legte, sprach man von der Verstimmung der Bevölkerung, von den Wirkungen der endlosen französischen Hetzereien, und wurde schließlich selbst verstimmt. Es hat da bedauerliche Mißverständnisse gegeben. In jedem Dorf gab es damals Leute, welche den Wechsel der Herrschaft als günstige Gelegenheit begrüßten um diese oder jene alte Prä­ tension wieder hervorzuholen, um einem verhaßten Bürgermeister, einem tyrannischen Gemeinderath alte Sünden zu vergelten. Man hatte ja so manches auf dem Kerbholz. Wie bei jeder Um­ wälzung gab es Versuche die allgemeine Verwirrung zu benützen um im Trüben zu fischen und im Kleinen auch zu annectiren. Der Müller spannte das Wasser oder stellte seinen Fach­ baum nach Belieben. Die Bauern singen ihm das Wasser ab. Die Großbegüterten hielten sich an keine Weide-Ordnung, die

26 Kleinbegüterten trieben Handelsvieh, das die Juden einstellten,

auf Felder und Wiesen der Großbegüterten; gegen den Fiscus erneuerte man längst abgewiesene Ansprüche auf Holzrechte, Wald­

weide, Streubezug u. s. w.

Es spielten sich genau die Vorgänge

von 1848 in erneuter Auflage ab.

Pfarrer, Bürgermeister und

Schullehrer geriethen sich in die Haare über Civilgeläute, Kirchen­ bänke, Ernennung des Küsters; in den paritätischen Gemeinden

neckte und bedrohte man Intoleranz.

sich wie zu den Zeiten der blühendsten

Während des Krieges waren in mehreren Dörfern

die katholischen Hetzereien so bedenklich, daß die deutschen Truppen

um Schutz angegangen werden mußten.

Die Reichen nnd früheren

Tonangeber hatten sich an den Gemeindewahlen von 1871 wenig betheiligt, und die kleinen Leute, die nun am Ruder saßen, gingen mit Eifer ans Reformiren.

Der Mißbräuche gab es aber auf

der anderen Seite in der That sehr viele.

waren die Großbegüterten im

Seit Jahrzehnten

Gemeinderathe gesessen, und da

war es mitunter recht bunt hergegangen.

Bei der Repartition

der Steuercontingente, bei der Einschätzung der Steuerpflichtigen,

bei der Vertheilung der Wegefrohnden, bei der Classirung von

Wegen u. s. w. war der Unfug zu Gunsten der Reichen nicht selten. Es gieng eben im Kleinen wie im Großen, im Gemeinde­ rath wie im Generalrath, auf der Mairie wie in den Cabineten der Präfekten und Minister, in den Dörfern wie in den Tuilerien.

Die Reichen hatten e- immer vortrefflich verstanden die An­

sprüche der Kleinen niederzuhalten und

bei den Behörden als

Symptome kommunistischer Gelüste zu verdächtigen, gegen welche als Repräsentanten der Ordnung auszutreten sie sich berufen hielten.

Der Unterpräfect und der Präsect untersuchten da nicht leicht allzu

genau; entweder war eben eine Wahl vorüber, für welche man

dankbar sein mußte, oder es stand eine Wahl bevor, welche Vor­ sicht erforderte, mib gar einem Generalrath Unrecht zu geben, hat ein Unterpräfect oder Präfect so

leichthin nicht gewagt — die

Generalräthe waren immer die Advocaten ihrer Wähler bei der

Regierung.

Stereotyp waren gleich zu Beginn der deutschen Ver­

waltung die Anträge auf Vermessung der Gemeindewege, deren Areal links und rechts

seit undenklichen Zeiten von den An-

gränzern annectirt worden war, oder Eigenthumsstreit über Baum­ pflanzungen an öffentlichen Wegen; die Kleinen verlangten Rück-

27 gäbe des Gemeinde-Eigenthums und Verkauf zu Gunsten der meist an einer Kirchen- oder Pfarrhof-Bauschuld siechenden Gemeinde­ finanzen; ebenso regelmäßig war das Verlangen nach Revision der Listen für die Nutzung an Gemeindegütern oder Holzloosen; in diesen Listen prangte gar oft die ganze Sippe und das Ge­

sinde des Bürgermeisters und seines Anhanges, und in den Nollen

für Schulgeldbefreiung

und Verpflegung durch den Armenarzt

Iras man mitunter die Namen recht behäbiger Familien.

Man

kann sagen, daß sich in den Dörfen die Temoralisirung des kaiser­ lichen Regiments

oft in der häßlichsten und

gemeinsten Form

Die Kunst schöne Virements zu machen

zeigte.

und eine caisse

noire zu führen, verstand man in den Dörfern so gut wie in den

Präfecturen und in Paris. Der deutschen Verwaltung

war da ihr Weg klar vorge-

zeichnet — unerbittlich strenge Rechtlichkeit und die Geradheit einer

starke» Regierung,

welche sich keine Stimmen zu kaufen braucht.

Den Ruf der Redlichkeit hat sich die deutsche Verwaltung auch rasch erworben; der Landmaun weiß jetzt, daß der Bescheid so ausfallen wird wie die Sache liegt und das Gesetz spricht, und

nicht darnach wie der Mann oder sein Gegner kürzlich gewählt, wie sie sich

haben.

mit Pfarrer und Bürgermeister zu stellen gewußt

Mißverständnisse und Fehler sind aber, wie gesagt, da

nicht ausgeblieben; es war schwer in diesen Wirren immer die

richtige Stellung zwischen Bürgermeister und Gemeinderath, zwischen diesem und der Gemeinde zu finden und festzuhalten; es war

nicht leicht zu sehen auf welcher Seite das Recht — schwerer noch war es aber Freund und Feind zu unterscheiden.

Falsche Popularitätssucht und Sympathien-Jägerei haben da manchen Fehler begangen.

Es waren nicht immer gerade die

Besten, die sich an die Kreisdirectoren und Präfecten, an General­

gouverneur und Civilcommissär mit Bitten und guten Rathschlägen

drängten; unter diesen Leuten sah man gar häufig die Gestalten

anrüchiger Bürgermeister des Empire, discreditirter Plebiscitmacher und jener rüstigen Jntriguanten, welche jeden Verfassungswechsel

überdauern.

Man konnte da wohl im Volke manchmal das Be­

dauern aussprechen hören, daß die neue Regierung es gerade so mache wie die alte, und diesen Mouchards und Dorftyrannen ein

geneigtes Ohr leihe.

Die Kreisdirectoren kannten eben ihre Leute

28 noch nicht hinlänglich; die Behörden wurden bald angegangen um als Werkzeuge in kleinen Dorfintriguen zu dienen — bald appellirte man an vorausgesetzte junkerliche Sympathien um wirk­ lich begründete Ansprüche zurückzuweisen. Unter denen, die jetzt grollen, ist mancher der früher im Generalgouvernement und Civilcommissariat häufig antichambrirend getroffen werden konnte, und etwa nach einigen Mißerfolgen „den deutschen Bären" den Rücken wendete. Erst später näherten fich bessere Elemente der Regierung. Wenn man jetzt liest, daß die anfängliche gute Stimmung der Bevölkerung durch fortgesetzte Fehler der Regierung in Unzufriedenheit sich verwandelt habe, so mag vielleicht das eben Gesagte bis zu einem gewissen Grad als Beitrag zur Erklärung dienen. Die deutsche Verwaltung hätte durch die Pflege imperialisti­ scher Traditionen nur sehr unzuverlässige Eroberungen gemacht; ein ebenso undankbares Geschäft wäre eS gewesen, sich um die Gunst der zahlreich auftauchenden politischen Größen zu bewerben, worunter Leute die vor dem Kriege gar nicht daran hätten denken können als Candidaten aufzutreten. Hierzuland wiegt ein ordent­ licher Dorfbürgermeister schwerer als ein Dutzend problematischer Naturen und jener Leute, für die es keine andere Bezeichnung gibt als daS französische Wort „Poseur“. Durch die Option oder unthätige Zurückhaltung der Notabeln ist nun einmal das Land etwas demokratisirt worden. Jede Anekdote über ein französisches Charakterstück in Straßburg oder Mülhausen kann man mit einem Dutzend Erzählungen über Beweise guten Einvernehmens zwischen Behörden und Landvolk erwiedern. WaS ließ sich auch großes erwarten von Politikern, die sich um Mandate für den Kreis- oder Bezirkstag bewarben, um solche sofort niederzulegen und die That nach Frankreich zu melden, von Reichstagsabgeordneten, die in französischen Blättern erklären, daß sie nicht nach Berlin gehen werden, und warum, daheim aber dem gläubigen Landvolk Ver­ tretung ihrer Kirchthumsintereffen oder Privatangelegenheiten in Berlin versprechen und keine Gelegenheit vorübergehen lassen, um als unantastbare Tribune aufzutreten? von Geistlichen, die stch bei der Regierung um gute Stellen bewerben — und, im Besitze der­ selben, sofort Kanzel und Altar zu Demonstrationen benützen? re. Wüßte man in Deutschland immer wie über manchen Spee-

29 takelmacher die eigenen Landsleute vor und nach dem Plebiscit — das in der Schätzung der Leute vielfach Epoche machte — dachten, wie mancher Eidesverweigerer lediglich auS Verlegenheits­ wahlen hervorgieng, so würde man auch in der deutschen Presse nicht über jeden Vorfall so viel Lärm schlagen. In diesem Punkte hat sich schon viel geklärt; man weiß jetzt, daß die Intriguen des Empire vorüber; schon bei den Kreis- und Bezirkswahlen war ein merklicher Umschwung bemerkbar. In den Reihen der Ver­ treter der Bezirke, die durch so viele Nachwahlen, so zu sagen, durchgessebt worden sind, begegnet man jetzt jener ernsten nüchternen Auffassung der Mandate und jenem Sinne für selbstlose und prunklose Erfüllung der Pflichten gegen die Gesellschaft, welchen man unter den früheren Matadoren der Napoleonischen Schule so selten traf, die aus jeder administrativen Frage eine politische Intrigue machten, und so die Besserdenkenden von der Theilnahme an de» öffentlichen Geschäften zurückscheuchten. Es gehörte viel moralischer Muth dazu dem Terrorismus der Presse und der öffentlichen Meinung entgegenzutreten und sich mit den Interessen deS Landes zu beschäftigen, statt, wie die anderen, elegisch zu klagen oder eitle Demonstrationen zu machen. Die da unerschrocken ausharrten, haben bewiesen, daß ihnen die ganze gute Sache am Herzen liegt und nicht nur der Canton oder ihre Person. Im Landvolk hört man jetzt die Hoffnung aussprechen, daß nun endlich einmal das Land Vertreter haben werde, die ihre Mission nicht darin erblicken werden sich zu einflußreichen Männern zu machen und sich zwischen Volk und Regierung zu drängen, nicht darin arme Schulmeisterlein versetzen zu lassen, Straßen auf ihre Güter, Subventionen für Kirchenbauten u. s. w. zu erhalten. Das hofft das Volk, und dazu weiß es, daß das deutsche Regiment nicht das Napoleonische ist. Man hört unter den Bezirksräthen darüber Klage führen, daß sie noch wenig Fühlung mit den Be­ hörden haben; die Annäherung wird aber nicht ausbleiben, wenn auch einerseits noch die Scheu besteht der Kategorie egoistischer Wettermacher beigezählt zu werden, und andrerseits trübe Er­ fahrungen eine gewisse Zurückhaltung dictirt haben. Die deutsche Verwaltung kann nicht in die Fußstapfen der französischen Re­ gierung treten, wohl aber auf die Erfahrung und den Rath von Männern sich stützen, die das Vertrauen ihrer Mitbürger besitzen.

30 Die Vertretungen der Bezirke sind zu Stande

gekommen ohne

Zuthun der Intransigenten, die damals Wahlenthaltung gepredigt

hatten, wie ohne Beihülfe des Klerus und der Demokraten, welche erst durch die Neichstagswahlen in Bewegung gesetzt worden sind,

und das gestaltet Hoffnungen für die Zukunft. stehen, läßt sich jetzt schon sagen:

Wie die Dinge

daß. Dank dem Auftreten der

Neichstagsabgeordneten, dem Landesausschuß — so

Befugniffe sind -

gering seine

um so mehr Bedeutung für das Land inne­

wohnt, als die Deputirten in Berlin solche zu gewinnen nicht verstanden haben.

In diesem Maße scheint der Landesausschuß

befähigt, die Bedeutung der Landesvermaltung dem Reichskanzler­ amt und Bundesrath gegenüber zu erhöhen. Zum erstenmal sieht

das Land eine gemeinschaftliche Vertretung, welche ohne Protest

sachlich debattirt und, die politische Unzufriedenheit zurückdrängend, untersucht, ob das Land Grund zur administrativen Unzufriedenheit habe.

Die Mitglieder dieser Vertretung müssen jetzt unter sich

so gut wie mit der Regierung und dem Lande selbst erst Fühlung

suchen, von welchem sie keine Jmperativmandate angenommen, und dessen weit auseinander gehende Anschauungen sie zu schonen

haben. Die elsäßischen Blätter schweigen auf Verabredung, um die Unabhängigkeit der Debatten durch Stimmen von draußen nicht zu stören; in dieser Unabhängigkeit liegt auch die ganze Kraft der Versammlung, und die Versagung der Antragsrechle kommt ihr zu statten, da sie sonst für die gestellten wie für die

unterlassenen Anträge zur Rechenschaft gezogen würde.

Andrerseits

lastet aber auf der Versammlung das Bewußtsein, daß die Mit­ glieder nur in den Bezirksrath durch ihre Wähler berufen waren, und daß manche dieser Wahlen aus Minderheiten hervorgegange«,

daß sie daher persönlich und nicht solidarisch mit den Wühlern für das Gelingen oder Mißlinge» des Experiments haftbar sind,

welches eine gewisse Aehnlichkeit mit dem Angebot der sibyllini­ schen Bücher hat. Jedenfalls aber werden die Debatten anregend

auf die Beschäftigung mit den öffentlichen Angelegenheiten wirke», und vielleicht wird sich das Land jetzt die Frage stellen: ob cs

denn auch genügend im Reichstag vertreten sein wird, wenn dem­ nächst

bei

Besprechung

Schutzzollsystems und

der Eisenzollfrage die

die Frankreich

zu

stigungen zur Erörterung kommen werden.

Principien

des

gewährenden VergüiDer Landesausschuß

31 wird seine Aufgabe, die konstitutionelle Aera einzuleiten, gut er­ füllen; es ist eine alte Erfahrung, daß auf legqjem Boden, und

sei es auch nur in einem Provinziallandtag oder Landcsausschuß,

ruhiger und sachlicher gesprochen wird als in der Opposition in den Salons, im Club oder in der Presse.

Das ist die versöhnende

Wirkung, die im Bewußtsein der Mitarbeit und der Verantwortung

liegt; man wende nicht ein, daß eine Versammlung die nur mit-

rathet und nicht Mitthäter, dieses Gefühl nicht besitze, und daß

daher die Wünsche niatzloser, die Kritik herber sein werden.

Die

Versammlung weiß, daß ihr Rath von Bedeutung ist; der Einblick

in die Angelegenheiten, wie sie in der That und nicht in der Vorstellung sind, die persönlichen Berührungen sind ganz geeignet

den Ernst zu fördern und die Schärfen zu mildern. Rein mensch­ lich gesprochen, muß vom ersten Augenblick an in der Versamm­ lung das Bestreben entstehen die Befugnisse über die eng gezogenen Schranken hinaus zu erweitern; diese Erwartung dictirt der Ver­

sammlung ihre Haltung,- und

jo wird auch der Regierung das

Programm dictirt; man kann einen Landesanöschuß wieder auf­

lösen, aber man kann nicht bei dieser Einrichtung stehen bleiben.

Nachdem wir manche Schattenseite der Centralisation und des Absolutismus besprochen, soll auch eine Lichtseite der Cen­

tralisation nicht unerwähnt bleiben.

Sie

hat den Geist der

Autorität, den formalen Sinn für Gesetz und Ordnung geschaffen

und gewahrt.

Die französische Gesetzgebung ist noch in innigem

Zusammenhang mit den Grundsätzen, welche die Vertreter der

ersten Republik aufgestellt haben.

So groß war die Achtung vor

diesen Gesetzen, so groß die Popularität dieser vom Volke ge­ wonnenen Errungenschaften, daß ihre Grundsätze jeden Verfassungs­

wechsel überdauert haben; jede Regierungsform machte sich eine

conservattve Achtung derselben zur Pflicht.

Es ist aber nicht nur

die langjährige Gewöhnung, die ein Volk mit der Gesetzgebung,

so zu sagen,

aussöhnt, nicht nur die Erinnerung, daß sie un­

mittelbar aus dem Volk hervorgegangen — sind denn unsere con-

stitutioiiellen Gesetze immer populärer als autoritative Verord­

nungen?

Das, was vorzüglich den Franzosen die Gesetze der

32 Republik wie des ersten Kaiserreichs werth machte, war das Be­

wußtsein, daß sie vom Geiste der Gleichheit dictirt sind, daß auch

der Kaiser dieses

republicanische Princip nicht verletzen konnte.

DaS Bewußtsein von der Gleichberechtigung und Gleichachtung der Confessionen hat z. B. die französischen Israeliten zu den

treuesten Staatsbürgern gemacht, und man würde sehr irren — und der Irrthum war ziemlich verbreitet — wenn man bei ihnen

wegen ihrer sonstigen kosmopolitischen Ansichten Gleichgültigkeit gegen Frankreich voraussetzte.

Für das ganze große Land galt

ein Recht; der Franzose lebte unter denselben Einrichtungen in jeder Provinz wie in der Hauptstadt, am Senegal wie in Algier.

Diese großartige Erscheinung

verschaffte dem

Gesetz

Achtung,

während der Deutsche z. B. in den Polizeigesetzen seines Heimath-

ländchens, die schon der Nachbarstaat nicht mehr anerkennt, nur

den komischen Zug findet, den alles Kleine hat; aber nicht allein daher rührt die Mißachtung vor dem Gesetze. In welchem deutschen

Land hat man so gemeinfaßlich geschriebene, gut und ökonomisch redigirte, gut codificirte Gesetze; in welchem Land Deutschlands sprechen Gesetzgeber und Juristen eine so einfache und von allem

gelehrten Apparat emancipirte sorbonnische Sprache, wo wird so

viel Sorgfalt auf eine unwandelbare Terminologie verwendet? Vergleicht man damit ältere und jüngere deutsche legislatorische Produkte, selbst die jüngsten Reichsgesetze, so kann man sich eines lebhaften Bedauerns nicht erwehren.

Diese einheitlichen Gesetze wurden in Frankreich auch einheitlich vollzogen. In der ganzen

Verwaltung herrschte Uniformität, die freilich manchmal in starren Formalismus ausartete, jedenfalls aber die Autorität erhöhte,

während im Reichslande z. B. von einer Einheit des Vollzuges noch wenig zu erblicken ist; da wächst noch Vieles recht wild

durcheinander; in jedem der drei Bezirke hat sich eine andere Praxis gebildet, nach welcher regiert wird, so in Sachen der Ge­

meindeverwaltung, der OrtSpolizei, der Schule, des Sprachzwanges, der Option u. s. w.

Das ist aus den Umständen recht erklärlich:

auS verschiedenen Ländern berufene Beamte, welche fremde Ge­

setze und Einrichtungen vorfanden, arbeiteten natürlich, vielfach auf sich selbst angewiesen, ungleich, während eS in den höheren Behörden auch keine dienstlichen Traditionen gab, außer etwa

jene, die man von daheim mitgebracht.

ES wirkt dieß ungünstig

im Volke, das diese Ungleichheit wie eine Rechtsunstcherheit fühlt. Die deutsche Verwaltung verdankt eS dem Ordnungssinn im

Volke, daß von allem Anfang an so ruhig verwaltet werden konnte, als hätten die Maires seit Jahren unter KreiSdirectoren gelebt.

So weit nun die neugeschaffenen Beziehungen zum Reiche dieß nicht durchaus nöthig machen, sollte man daher an die Landes-

gesetze nicht Hand anlegen. Aenderung von Gesetzen

Eine Periode von Versuchen, durch

und Verordnungen

haben wir schon glücklich hinter uns.

zu germanisiren,

Die Gefahr liegt aber

nahe, daß sich solche Versuche wiederholen. DaS Reichseinkommen genügt schon nicht mehr für die Reichsausgaben, und man wird ohne Zweifel die Schaffung neuer Reichssteuern der Erhöhung

In Berlin scheint man der

der Marticularbeiträge vorziehen.

Ansicht zu sein: diese Gelegenheit sei zu benützen, um überhaupt im Steuerwesen des Reichslandes aufzuräumen; so hält man eS schon für ausgemacht,

daß

mit

einem Reichsstempelgesetz daS

Enregistrement fallen müsse, und daß das städtische Octroi kein

rechter Existenzrecht mehr habe, nachdem in Deutschland Mahlund Schlachtsteuer aufgehoben worden.

Die nothwendige Ton­

sequenz wäre eine völlige Umgestaltung der direkten Steuern und

der Gemeinde-Finanzverwaltung. ES wurde jüngst in einer Denkschrift über die Verwaltung in Elsaß-Lothringen ausgeführt, die Reform des Steuerwesens im Reichsland im Sinne der preußischen Gesetzgehung sei ein unab­

weisbares Postulat, und das sicherste Mittel, den kleinen Mann zu gewinnen; ja, die Sache sei so dringend, daß damit nicht ein­ mal gewartet werden könne, bis eine Landesvertretung gebildet

sein würde.

Seitdem die Wiflenschaft über die elementarsten

Grundsätze des Steuerwesens wieder uneins geworden, ist doppelte Vorsicht geboten.

Mag aber auch die deutsche Gesetzgebung besser

sein — ist das schon ein ausreichender Grund,

führen?

Das Beste ist der Feind des Guten.

sie hier einzu­ Die Finanzen

eines Landes aber ohne Zuziehung einer Vertretung radikal zu ändern, das wäre ein Act theoretischer Barbarei. Von jeher waren

es Bureaukraten und Ideologen, welche

mit der abscheulichen

Maxime, daß man das Volk auch wider Willen glücklich machen müsse, das meiste Unheil anstifteten. Elsaß-Lochringen.

„Seulement pas de zMe“, 3

34

ist der unübertreffliche Rath Talleyrands in solchen Dingen. Wir haben in Deutschland Reichstheoretiker, welche Gesetzesreformen mit nervöser Unduldsamkeit und ästhetisirender NivellirungSsucht behandeln. Elsaß-Lothringen ist keine Reichsdomäne, eS ist aber auch nicht die Domäne deutscher Theorie, die nicht berufen ist, hier gleichsam am Phantom Experimente zur Nutzanwendung für daS Reich zu machen. Regierung und Reichstag werden sich wohl hüten, mehr als nöthig Odium auf sich zu lasten, und eine Ver­ antwortung auf sich zu nehmen, vor der noch jedes Regiment selbst in dem Augenblicke zurückschreckte, wo es sich am stärksten fühlte — die Erhöhung der Grundbesteuerung.

ES ist unmöglich, so lange sich eine öffentliche Meinung im Lande noch nicht gebildet hat, so lange keine Partei zur Geltung gekommen, die sich erreichbare Ziele gestellt, über die gegenwärtige Stimmung wie über die nächste Zukunft deS Landes sich ein Urtheil zu bilden. ES kann aber gleichwohl kein Zweifel darüber walten, welche Wege die Regierung einzuschlagen hat; ihre Ziele sind klar. Ihre Zwecke sind deutsche Zwecke, und diese sind ernst und ruhig zu verfolgen; ihr Wahlspruch kann nur sein: Recht thun und Nie­ manden scheuen, weder hüben noch drüben; mild in der Form, aber streng in der Sache verfahren. Nur Sympathien nachjagen und darüber die deutschen Ziele aus den Augen verlieren, wäre nicht bloß etwa eine schwache, sondern überhaupt gar keine Politik; damit würden der deutschen Sache täglich und stündlich empfind­ lichere Verluste beigebracht, als durch eine Reihe verkehrter Maß­ regeln. Die sogenannte gute Stimmung ist keineswegs, wie man so oft annimmt, das Ergebniß einer guten Verwaltung, welche Behagen um sich verbreitet; die reichen Ernten der letzten Jahre, die vorjährige gute Weinlese haben mehr dazu beigetragen, gute Laune zu schaffen, als der Regierung je möglich gewesen wäre. Wir sind überhaupt an das Vielregieren so gewöhnt, daß wir die Regierung verantwortlich machen für Dinge, die außerhalb ihres Machtbereichs liegen. Herrschte früher über das Land eine Dynastie, die sich der

35 öffentlichen Meinung gegenüber

beständig zu Concessionen be­

quemen mußte, um sich den Thron zu sichern, die durch heuch­ lerische Proclamationen die Menge irreführte, so herrscht jetzt über das Land das starke Deutsche Reich, welches die Kraft in sich selbst hat, seine Eroberung zu schützen, und mit der Großmuth des Starken, der nichts zu fürchten hat, und mit der Sicherheit, die das Bewußtsein, das Rechte zu wollen, verleiht, gerade vor­ wärts gehen und mit Festigkeit und Gelaffenheit die Wege ver­ folgen wird, die zu dem einmal vorgesetzten Ziele führen, daS Land Deutschland wieder näher zu bringen. In Berlin aber möge man bedenken, wie unmündig die Centralisation das Volk gemacht hat, und daß Einfluß auf das Volk nur dann gehofft werden kann, wenn man mit dieser Centralisation bricht. Das Land sieht jetzt, daß Deutschland seine politischen und Cultur­ zwecke ernst und ruhig verfolgt, und wird vor dieser neuen starken Art zu regieren, vor diesem Streben gut und ohne Rebenrücksichten zu verwalten, Achtung gewinnen; so werden die Sympathien, auf welche man in Deutschland so ungeduldig wartet, von selbst kommen; sie werden aber dann im Bewußtsein des Volkes wurzeln, und nicht etwa nur auf die Dankbarkeit einer begünstigten Camarilla sich gründen. Wird im Land eine Partei erstehen, auf welche die Re­ gierung sich wird stützen können, wird insbesondere eine Fusion der demokratischen und liberalen Partei möglich sein? Das läßt sich noch nicht absehen; es wird davon abhängen, ob die einzelnen Parteien vorerst einmal sich constituiren und über populäre er­ reichbare Programme sich verständigen werden; es wird da­ von abhängen, ob sie es verstehen werden, Vertrauen im Land­ volke zu gwinnen, ob sie mit ,er hochmüthigen französischen Parteipolitik brechen werden oder nicht, welche die Leitung der öffentlichen Angelegenheiten als ein Privilegium von Notabeln und Journalisten betrachtet, und gewohnt ist, das Land­ volk als gefügige Wähler anzusehen, für deren Gewinnung kurz vor der Wahl einige Phrasen genügen. Seit dem Plebiscit ist das Volk mißtrauisch geworden gegen die Monopol sten der Politik, denen es sich immer blind ergeben hatte; und dieses Landvolk, welches früher im Land des allgemeinen Stimmrechts und der Gleichheit von imperialistischen wie republicanischen Parteiführern 3*

36 nie als mündig behandelt worden war, hat in aller Stille sich emancipirt. Die Auswanderung der Notabel» bei der Option, das sinnlose Programm der Wahlenthaltung bei den Gemeinde­ wahlen, bei den Wahlen zu den Kreis- und Bezirkstagen, die beständigen Demissionen und Eidesverweigerungen, die endlosen Nachwahlen, der Strike der Abgeordneten im Reichstag, das alles wird im Landvolk ganz anders aufgefaßt, als man sich in der französischen Presse träumen läßt. Das Volk fühlt, daß es führerlos geworden und von den früheren Größen preisgegeben ist. Es construirt sich seine eigene Anschauung der Dinge, und hat sich längst von Leuten abgewendet, welche noch immer glauben ihr Erscheinen werde genügen, demnächst die Wähler um sich zu gruppiren. Die früheren Parteiführer werden vielleicht plötzlich wie Generale ohne Armee dastehen — wenn sie nicht dem Land­ volk sich wieder nähern, das jetzt längst zur Erkenntniß gekommen ist, daß die Wähler auch Programme biedren können, und zwar sachliche, phrasenlose Programme. Diese Annäherung wird jetzt durch Concessionen zu erkaufen sein. Man hat sich bereits dem Landvolk entfremdet und steht schon ziemlich isolirt. Desto näher stehen jetzt dem Volke die Männer, die im Landesausschuß seine Angelegenheiten besprechen. Politische Charaktere nützen sich rasch ab und kommen aus der Mode, wenn sie keine Erfolge aufzuweisen haben; proble­ matische Naturen aber, Hamlete, die zu keinem Entschlüsse ge­ langen, erfreuen sich nie dauerhafter Sympathien. Die Catone, denen die besiegte Sache besser gefällt, werden von der Menge bald verlassen. So wird aus einer politischen Partei eine Partei von Personen, und das wird um so rascher eintreten, wenn diese Partei dadurch, daß sie auf erreichbare Erfolge verzichtet, frei­ willig die Physiognomie einer Minderheit annimmt, der nichts gelingt. Würde unter den Vertretern im Landrsausschuß ein liberales elsäßisch-patriotisches Parteicomito sich bilden, und würde ein dem bisherigen Verhalten entsprechendes Programm aufgestellt werden, es würde den Delegirten gelingen, sich zu Meistern der Lage zu machen, und die Parteigänger des „Elsäßer Journals oder des „Jndustriel Alsacien" wären gezwungen sich anzuschließen oder sich zurückzuziehen. Ein Wahlpublicum das sich zweimal düpirt gefunden, beim

37 Plebiscit wie bei den Reichstagswahlen, muß endlich mißtrauisch werden, und wird sich um andere Leute umsehen; je länger die liberalen Elemente im Reichsland zögern werden sich zu vereinigen, desto sicherer werden sie die Wähler in die weit geöffneten Arme

der katholischen Geistlichkeit treiben. Die Altrepublicaner und Demokraten werden und müffen zur Einsicht kommen, daß sie für ihre französischen Traditionen keinen Absatz und keine Verwerthung im Lande finden, und daß sie nichts gewinnen, und alles ver­ lieren werden, wenn sie sich nicht zu einer Fusion mit den libe­ ralen Elementen entschließen. Sie werden dann ihre Aufmerk­ samkeit Deutschland zuwenden; Frankreich selbst arbeitet daran ihnen die Trennung zu erleichtern. Die politische Heuchelei und die erniedrigende Herrschaft des Klerus greifen in Frankreich in einer Weise um sich, von der man sich in Deutschland schwer einen Begriff macht, wenn wir auch selbst nicht auf Rosen ge­ bettet sind. Die Lage der Dinge in Frankreich berechtigt zu den düstersten Befürchtungen, und das Reichsland wird einmal noch als Asyl denen dienen, welche Katastrophen aus dem Wege gehen

werden. Die Trennung von Frankreich vollzieht sich allmählich; die engherzige Stellung, welche die französische Industrie der elsäßischen Concurrenz gegenüber jetzt schon einnimmt, stimmt recht schlecht mit den überschwänglichen Freundschaftsbetheuerungen. Man wird im Elsaß immer mehr zur Ueberzeugung kommen, daß man in Frankreich in erster Linie die Revanche und Metz und erst in zweiter Linie Elsaß meint. Deutschland wie Frankreich werden gedrängt zum Schutzzollsystem zurückkehren, und das wird ein­ schneidende Folgen haben. Frankreich wird, wenn es etwa nach einem zweiten punischen Kriege sich unmächtig fühlen wird das Reichsland wieder zu gewinnen, die Brüder in Elsaß und Lothringen mit cynischer Ruhe ihrem Schicksal preisgeben. In den untern Volksschichten hat diese Entfremdung bereits begonnen; die Enttäuschungen der Optanten, der Fremdenlegionäre und al­ gerischen Colonisten, welche täglich wieder zurückkehren, haben eine Erbitterung zurückgelaffen, die man täglich offen aussprechen hört. Die nie ganz überwundene Abneigung des Franzosen gegen den fleißigen strebsamen Elsäßer und die hochmüthige Gering­ schätzung des nie als rechten Nationalen anerkannten Gränz-

38

stammes sind nach dem Krieg noch so lebendig wie vor dem Krieg, da man sprüchwörtlich sagte: „la bordure ne vaut pas

le drap,“ und da Balzac, About und die ganze Journalisten­

welt in den Komödien und Romanen dem Elsäßer die Rolle zu­

Diese

gewiesen, die in Athen der Mysier und Böotier spielten.

jetzt zurückgedrängten Erinnerungen werden alle wieder aufleben,

dann wird der Straßburger den Titel „Schwob," den ihm der Franzose gab,

nicht mehr über den Rhein weiter begeben.

In

Frankreich denkt man daran in einem bevorstehenden Krieg einen

Volksausstand in Elsaß-Lothringen zu organisiren, wie zur Zeit der deutschen Angriffe auf die junge Republik, wie 1813 unter

General Brice — schon die ersten Versuche werden mißlingen. Noch sträubt sich das Land und kann nicht glauben, daß

seine Geschicke sich schon erfüllt haben sollen; wenn es aber auf der einen Seite keine Hoffnung mehr, auf der andern Seite den

ernsten starken Entschluß sehen wird das Land wieder deutsch zu machen, wie es gewesen; wenn es sehen wird wie diesem Ziele mit unerschütterlicher Festigkeit entgegengestrebt

Sie,

daß

dieß

ohne

wird, glauben

Einfluß auf die schwankende

steuerlose

Stimmung im Lande sein wird? Des Rathes Kraft ist die Seele des Volkes, sagte ein hellenischer Staatsmann. Aber nicht nur die Reichs- und die Landesregierung, das ganze deutsche Volk,

das deutsche Heer, die Vertreter deutscher Wiffenschaft, die libe­

ralen politischen Parteien, und — nicht in letzter Linie — die deutsche Presse haben Pflichten zu erfüllen um dar Land zu ge­ winnen.

Wenn auch die Wandlungen in den Anschauungen sich

nur langsam vollziehen werden, und die Magnetnadel ihren Pol

noch nicht gefunden hat, so möge man darüber den Gleichmuth

nicht verlieren.

Den

Zweiflern

und

Kleinmüthigen

sei mit

Machiavell gesagt: Was möglich ist, geschieht; was unmöglich ist — wird geschehen.

1876.

Während die ultramontanen und socialdemokratischen Zei­ tungen in Deutschland fortfahren über die Bedrückung deS Reichs­ landes im Style französischer Blätter zu klagen, hat sich jene Bewegung in der liberalen Presse Deutschlands, welche von der versöhnlichen und ruhigen Haltung der Landesverwaltung Schä­ digung der deutschen Interessen befürchtet und immer entschiedener schärfere Maßregeln verlangt, nur gesteigert. Es ist dies eine betrübende Erscheinung. Was soll man z. B. davon halten wenn, wie kürzlich geschehen, sogar die „Norddeutsche Allgemeine Zeitung" e- für angemessen hält, einen Schmerzensschrei deutscher Unter­ beamten aus einem lothringischen Grenzdorfe, welche klagen, ihre Nationalehre werde durch daS System der Milde in unerträg­ licher Weise beleidigt, als bedeutsames Zeichen der Stimmung abdruckt? Es dünkt uns, die deutsche Presse habe alle Ursache dafür zu sorgen, daß das übrige Europa nicht glaube, Deutsch­ land müsse seinem Naturell Zwang anthun, um nicht aus der Rolle ruhiger Sicherheit zu fallen, welche einer großen starken Nation ziemt. Wir haben das mit den Waffen eroberte Land uns angeeignet, weil es deutsches Land war. Soll nun die Mit­ welt in Yen Glauben versetzt werden, das Land sei so durch und durch französisch und zwar trotz aller gegentheiligen Betheuerungen, daß wir auf die Mission, das Land Deutschland wieder näher zu bringen, verzichten und damit uns begnügen müssen, es zu be­ herrschen? Wir müssen doch auch auf unseren guten Ruf sehen. — Durch Größe und Großmuth der politischen Gedanken, nicht durch polizeiliche Maßregeln und büreaukratische Kniffe wird eine Bevölkerung gewonnen. Warum empfiehlt man solche Mittel?

42 Lautet es doch fast, als hätte man Solches daheim bewährt ge­

funden!

Waren etwa das die Mittel, durch welche die deutschen

Stämme geeinigt worden sind?

Man ist in der deutschen Preffe so weit gegangen zu sagen,

die autonomen Bestrebungen der Elsäßer seien Egoismus und eine Gefahr für das Reich, dem der Partikularismus über den Kopf wachse; man jage Phantomen nach, wenn man glaube die Be­

völkerung gewinnen zu können.

Wenn man sagt, die autonomen

Bestrebungen seien eine Gefahr für das deutsche Reich, das nicht im Stande sein sollte, sich die Bevölkerung des Reichslandes zu assimiliren und gefügig zu machen, so ist dieses eine Beleidigung gegen da- große starke Reich, wie sie verletzender, sarkastischer kaum ein Franzose hätte ersinnen können!

Und dabei hält man

sich für national gesinnt und nennt sich liberal?

Wohin treiben

wir denn? DaS also wäre unser Nationalstolz! Wie kleinlich und schwächlich nehmen sich solche Anschauungen aus gegenüber der Hochherzigkeit, mit welcher der Reichskanzler den Eintritt des Reichs­

landes in's deutsche Reich begrüßt hat. — Wenn sich nun autonome Regungen als erstes Zeichen der Versöhnung zeigen, sollte doch jeder noch so gesinnungstüchtige und rechtgläubige Deutsche in

dem ehemaligen Franzosen zum mindesten einen gesitteten Europäer erblicken, der früher nicht gerade der letzten unter den Nationen angehört hat. Wir wollen kein „Polen oder Venetien" über dem

Rheine heranziehen.

Die Elsaß-Lothringer sollen nicht Deutsche

zweiten Ranges bleiben — die Autonomie ist die unerbittliche Con­ sequenz der Annexion.

Würden solche Anschauungen nur die Neigungen einzelner

Individuen oder ganzer Stände wiedergeben, so wäre die Sache wohl schlimm, sie wird aber noch schlimmer dadurch, daß diese

Anschauungen beginnen,

in eine wirklich politische Doktrin auS-

zuarten, wie das so zu geschehen pflegt.

Diese Doktrin aber

beruht auf der Mißachtung der geschichtlichen oder provinziellen

Eigenthümlichkeit einer Landes, auf der Mißachtung des geschicht­ lichen Werdens wie des geschichtlich Gewordenen, sie beruht auf

dem Kult der „Mache".

Man glaubt, daß eS nur eines be­

stimmten Grades von Energie und Verschmitztheit bedürfe, um Dieß

und Jenes im Volksleben zu „machen". Die Natur macht nie Kunst­ stücke und darum sollte auch der Staatsmann keine machen.

Das

43 war seyst nicht deutsche Art und sollte es auch nicht werden. Da­ mit allen Glücksgütern gesegnete schöne und nahrhafte ElsaßLothringen muß andere Leute und Anschauungen hervorbringen als etwa eine ärmliche nordische Provinz. Darüber kann man sich nicht hinwegklügeln; das darf man auch nicht einfach miß­ achten. Wenn ein so reiches kräftiges Land, daS wir geschaffen, von uns Autonomie verlangt, so ist die Sache nicht damit abge­ fertigt, daß die deutsche Presse von „partikularistischen Vellejitäten" spricht. Wir müssen uns gestehen, daß in den deutschen Staaten und Stämmen der offene und latente Partikularismus noch stärker ist, als wir gewöhnlich zu glauben scheinen; die Größenverhältnisse machen da keinen Unterschied. Warum verlangen wir nun gerade von den Elsäßern und Lothringern, daß sie andere Wege gehen und sofort sich als Gesammtdeutsche fühlen sollen? Die Natur macht keine Sprünge; man kann sie auch einem Volke nicht zumuthen. DaS national geeinigte und administrativ centralisirte Frank­ reich hat die provinziellen Sondergelüste im Bewußtsein seiner staatlichen Kraft einfach negirt und hochmüthig unterschätzt — dafür zeigte sich in der französischen Provinz bei jeder Umwälzung ein merkwürdiger Haß gegen die Hauptstadt. — Wenn Deutsch­ land die ersten Regungen eines elsaß-lothringischen PartikulariömuS mit derselben Geringschätzung beantwortet, wie das national geeinigte Frankreich, so begeht eS einen noch größeren Fehler, weil ihn« der Rückhalt einer geschichtlich schon fertigen und unbestrittenen nationalen Einigung fehlt, für die daS Land erst zu gewinnen ist. Man wird entgegnen, es dürfe gerade deßhalb kein weiterer Partikularismus geschaffen werden und darauf können wir nur erwidern, daß eine andere Lösung als durch den Par­ tikularismus als Durchgangsphase undenkbar ist.

Wir möchten alle deutschen Chauvinisten freundlichst einladen, uns auf einer politischen Studie über die französische Centrali­ sation zu begleiten. Eine Untersuchung darüber, waS die Cen­ tralisation aus der Provinz gemacht, aus welchen Gründen und in welcher Richtung die Provinz die Decentralisation gewünscht hat,

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waS ihre Gegner eingewendet, was für Folgen sie von solchen Maßregeln befürchtet, hat noch ein weiteres und unmittelbares Interesse. Fassen wir die Lostrennung der drei Departements, aus denen wir das Reichsland gebildet haben, zunächst als Decentralisation auf, so ist das wohl der richtige Name für die Sache. Das Land hat sein nationales Centrum verloren, und von diesem Augenblicke an hatten die abgelösten Theile zwar ein gemein­ schaftliches Geschick, jedoch so wenig zweckdienliche Zusammenge­ hörigkeit, als etwa abgetrümmerte Stücke einer Kugel. Diese Untersuchung ist keine müßige. Wenn wir nämlich sehen, daß die Erscheinungen, die uns jetzt entgegentreten und uns mißmuthig stimmen, schon zu französischer Zeit, und zwar als die Folgen einer administrativen Decentralisation vorausgesehen und prophe­ zeit worden sind, so werden wir auch zur Einsicht kommen, daß solche Erscheinungen natürliche, daß sie rein menschliche sind, daß sie nicht erst durch nationalen Haß allein entstanden, nicht durch Widerspenstigkeit gegen die Eroberer allein bedingt, nicht bloß durch Hetzerei hervorgerufen, sondern durch die nationale Trennung nur geschärft worden sind — und dann müssen wir — im selben Athemzug — uns fragen, ob wirklich die Regierung genöthigt ist, solchen Erscheinungen gegenüber mit erhöhter Strenge aufzu­ treten, oder ob es nicht genüge, ruhig zu beobachten, rechtzeitig lenkend einzugreifen, Ziele und Grenzen zu weisen und das Uebrige der Zeit zu überlassen. Da und dort besteht nämlich Neigung zu soldatischer Strenge in der Politik und die großartige Energie des Reichskanzlers wird in verkleinertem Maßstabe vielfach un­ glücklich copirt. Consilio, non impetu! Es würde zu weit führen, wollten wir uns in der ganzen reichhaltigen französischen Literatur über die Frage der Centrali­ sation umsehen; es dürfte genügen, auf einige Kundgebungen uns zu beschränken, die gerade aus Elsaß-Lothringen stammen. Ganz besonders sind hervorzuheben, die in Metz und Nancy erschie­ nenen Schriften, z. B. des Deputirten Bechard: Essai sur la Centralisation administrative 1845, ferner anonyme Flug­ schriften, wie: Decentralisation et Regime repr^sentatif (Metz 1863) — La D4centralisation ä l’oeuvre (Metz 1863) — Guerrier de Dürnast: Le Pour et le Contre sur la r4surrec-

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tion des Provinces (Nancy 1835) —; in Nancy und Metz

waren etwa seit 1860 unter den Titeln „Varia“ und „Francs propos“ zahlreiche Flugschriften erschienen, welchen der Courrier

du Dimanche nach Kräften sekundirte, die gegen die wachsende Allmacht des Staates und die Allgegenwart der Präfekten jener

empereurs au petit pied, wie sie Napoleon I. genannt hatte, gerichtet waren; der Inhalt dieser Schriften ist zusammengefaßt

in dem Projekte einer Decentralisation, welches von den Redac­

teuren der Varia in Nancy — einer Gesellschaft von 19 Mit­

gliedern (wären es 20 gewesen, so hätten sie staatlicher Genehmi­ gung bedurft) aufgestellt worden ist und im Elsaß lebhaften Bei­ Was uns auf den ersten Blick auffällt, ist,

fall gefunden hat.*

daß alle Parteien ohne Ausnahme dem Projekte zugestimmt haben. Die hervorragendsten Politiker, Deputirten und Rechtsgelehrten dieser Zeit, 58 an der Zahl, haben den Verfaffern des Projektes

ihren Beifall zu erkennen gegeben, und wir finden da nebenein­ ander die Namen

Guizot und Odillon Barrot — I. Simon

und de Falloux — I. Favre und Berryer — Montalembert und

Pelletan — Broglie und Carnot — Laboulaye und Perier — Haussonville und Lafayette — und Alle stimmen dem Projekte

auf's Wärmste zu — es ist also kein Parteiprogramm, sondern ein Vorschlag, um die Gesellschaft aus einer Calamität zu retten.

Am 24. Juni 1863 hatte der Kaiser an Minister Rouher ge­ schrieben: „Die Centralisation hat ihre Vortheile, wir reglementiren

aber zu viel;

da bleibt noch viel zu beffern; gleichgültige Ge­

meindeangelegenheiten

von untergeordnetem Interesse

brauchen

zwei Jahre zur Erledigung, weil eilf verschiedene Behörden sich

'damit befassen; je mehr ich darüber nachdenke, desto mehr bin ich vom Bedürfniß einer Reform überzeugt." Man kann, so sagte damals der Herzog von Morny, in Frankreich keinen Stein um­

wenden, keinen Brunnen graben, keine Werkstätte errichten, man

kann sein Hab und Gut nicht genießen oder vergeuden, ohne Er­ laubniß und Controls des Staates. — Aber wenn der Kaiser

und seine Räthe glaubten, mit Erweiterung der Befugnisse der

* Un projet de decentralisation Nancy 2öme edit. Wagner 1865. AlS 1866 in Nancy die Säkularfeier der Vereinigung Lothringens mit Frankreich gefeiert wurde, soll der Kaisef auö Verdruß über dieses partikularistische Pro­ jekt der Feier fern geblieben sein.

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Präfecten sei abgeholfen, so gab man sich im Lande damit nicht zufrieden. Die Opposition verlangte Decentralisation zu Gunsten der Generalräthe; daß auch die Anhänger des Grafen Chambord in der Presse diese Saiten anschlugen, diente aber dazu, das Pro­ jekt zu diskreditiren. — Das Gesetz vom 18. Juli 1866 über die Erweiterung der Befugnisse der Generalräthe trug den For­ derungen der öffentlichen Meinung nur wenig Rechnung, so wenig als es die Derentralisationsdekrete von 1852 und 1861 gethan hatten, für welch' Letzteres man überdies vorsichtiger Weise eine vom StaatSrath wiederholt gerügte unconstitutionelle Form ge­ wählt hatte, wie man auch beide Decrete durch eiligst nachgesandte Vollzugsvorschriften sofort wieder gelähmt hatte. — Das Land ging in seinen Wünschen weiter — und nach anderer Richtung. — Das Land war erschreckt über die „Blutarmuth in der Provinz", welche daS marksaugende Paris verursacht hatte; es sei himmel­ schreiend, das Volk wie „Zöglinge eines orthopädischen Institutes" zu behandeln, welche schließlich selbst dahin kommen mußten mit dem Gedanken sich zurechtzufinden, welchen ganz Europa als Dogma längst angenommen, daß Frankreich für die Freiheit un­ fähig sei. Wie, so schrieb man damals, der französische Bürger, der sich einen Kaiser wählen kann, sollte nicht befähigt sein, sich einen Bürgermeister und sogar einen Bannwart zu wählen? DaS Land sollte durch seine Vertreter ein Jahresbudget von zwei Milliarden, in der Gemeinde aber nicht die geringste Ausgabe selbständig votiren können? Man verargte der Hauptstadt, daß sie Alles an sich ziehe, und die Pariser, welche dem Projekte von Ranch zu­ stimmten, hatten alle Mühe, der Provinz vorzustellen, Paris sei nicht ihr Feind, sondern liege im selben Spitale und sei mehr geknechtet, als alle Departements zumal, am meisten aber gerade von seinen Munizipalbeamten; die Hauptstadt scheine zu ewiger Sklaverei geradezu verdammt. Paris verjage wohl manchmal Monarchen, aber die Provinz berufe Nachfolger. Tas war aber für die Provinz ein schlechter Trost. Alles zog nach dem Cen­ trum, die Reichen des Vergnügens wegen, die Intelligenten aus Ehrgeiz, die Arbeiter aus Gewinnsucht; „durch diese intellektuelle und moralische Absorption magerten die Extremitäten ab, ünd auf einen schwachen Körper wurde ein überfülltes Haupt gesetzt, auf die Gefahr hin, den ganzen Körper jenen periodischen apo-

47 plektischen Zufällen auszusetzen, die man Revolutionen nennt." — Paris war Alles, die Provinzen glichen jenen Kindern, die man den Ammen übergiebt, bei welchen sie an Atrophie langsam dahin­ siechen, dieweil die Mutter in der Hauptstadt ihren Intriguen und ihrem Vergnügen nachgeht. Die Intelligenz in der Provinz, wollte sie zur Geltung kommen, mußte auswandern. Dagegen hat die Provinz immer gekämpft. Die Jmperativmandate sind der Ausdruck des Unmuthes der Provinz gegen die Alleinherrschaft der Hauptstadt; in der Provinz, nicht in der Hauptstadt sind sie

entstanden. DaS Land jammerte darüber, daß die Revolution, welche an Stelle der zerstörten Provinzen die Staatsidee und Rational­ einheit aufgestellt hatte, und daß die Despotie, welche dieses Erbe übernommen und die Beamtenherrschaft der Constitution vom Jahre VIII. weiter ausbildete, aus der Nation ein „peuple d’administrds“ gemacht, „daß die Nation zu Individuen pulverisirt worden", daß man aus ihr das gemacht hat, was einmal ein römischer Imperator und nach ihm in fast wörtlicher Ueberein­

stimmung Herr von Persigny „Sand ohne Kalk" rühmend ge­ nannt hat.* — Dadurch eben war jede Coalition unmöglich gemacht, jede Widerstandskraft gebrochen. — Der Kaiser und seine Präfekten brauchten nur nach dem erprobten römischen Muster zu verfahren und ab und zu einige allzu keck wachsende Mohnköpfe abzuschlagen. Dann war immer schnell Ruhe ge­ schaffen, eS ging wie in Rom: Ex ferocibus universis singuli metu 8uo obedientes fuere. So gewöhnte sich die Provinz an

die lautlose gleichgültige Hinnahme alles dessen, was, vom Pariser Himmel herabregnen mochte — und glaubte schließlich selbst an ihre unverbesserliche organische Unfähigkeit zur Selbstverwaltung; wie man sich daran gewöhnte, den Staat als eine Maschine zu betrachten, die von selbst gehe und von deren Reparatur Laien nichts verständen. Daher die „fast allgemeine Abneigung gegen administrative Ehrenämter"; der Staatsbürger hatte dabei doch

• 1864 in einer zu St. Etienne gehaltenen Rede: En dehors de la hi^rarohie administrative qui constitne ä eile seule tont Forganisme politique de notre dlmocratie, il n’y a plus qne des grains de sable sans cohlsion, sans adh&ence.

48 immer das Gefühl, daß er nur an der Nase herumgeführt werde; es waren nur Stufen für den aufstrebenden politischen Ehrgeiz. Man verglich damals die Provinz unter ihren Lokalbehörden mit dem erwachenden Gulliver, der an jedem Gliede einen Strick fühlte und am Ende jedes Strickes ein kleines Herrchen erblickte, das einen Knoten schürzte — während das Land unter der Cen­ tralgewalt den weiteren Traum des armen Gulliver darstellte, der zwischen Daumen und Zeigfinger einer riesigen Faust erwachte, die ihn zu erwürgen oder fallen zu lassen drohte. Soweit aber auch die französischen Decentralisten gegangen sind, nie ist es ihnen eingefallen die drei Cardinalpunkte der Nationaleinheit, wie sie I. Simon genannt hat, Gesetz, Staats« schätz und Armee anzugreifen. Auch die „Neunzehn" aus Nancy waren gute Patrioten und haben keineswegs ausschweifende, unerfüllbare Wünsche ausgesprochen. Es sind praktische Politiker, die das Project aufgestellt haben — und darin liegt sein Werth und seine Bedeutung. — Man wollte die politische Centralisation, aber die administrative Decentralisation. Was man in Metz und Nancy wie im Elsaß verlangte, wollen wir möglichst kurz zusammenfassen: 1. Stärkung der Ge­ meinde, die von der Vormundschaft des Präfekten befreit werden soll, dessen Aussichtsbefugnisse Ausschüssen aus dem Kantonal­ rathe und dem Generalrathe übertragen werden, wobei allerdings nicht genügend zwischen den rein munizipalen, natürlichen, und den politischen, übertragenen Eigenschaften der Gemeindebehörde unterschieden war, während man gleichwohl den Bürgermeister „als Agenten, der Regierung" von letzterer aus dem Schooße des Gemeinderathes ernennen lassen, nicht direkt von den Bürgern gewählt wissen wollte. 2. Der Kanton soll als Verwaltungs­ bezirk neu geschaffen werden; das Arrondissement, „eine admini­ strative Supersötation" soll wegfallen; für solche größere Be­ zirke bestehe schon kein Interesse mehr in den Gemeinden; die Kantone sollten als groupes ruraux umgebildet werden, (ähnlich den Munizipalitäten der Constitution vom Jahre III.); der Kan­ tonrath sollte das richtige Gegengewicht gegen die selbstsüchtigen Dorfintriguen bilden, er sollte den Wegebau, Weide-, Feld- und Wasserpolizei beaufsichtigen — sein Gutachten abgeben, wo es bisher der Unterpräfekt ertheilte, juristische Persönlichkeit und An-

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tragsrechte erhalten.

Der Kantonalrath sollte aus 8—12 Dele-

girten nicht der Gemeinde als solcher, sondern aus 4—6 Sektionen

von Gemeinden gebildet, und alle drei Jahre zur Hälfte erneuert

werden; die laufenden Geschäfte sollte ein Ausschuß mit einem

besoldeten Sekretär besorgen; Städte von mehr als 6000 Ein»

wohnern sollten vom Kantonalrathe unabhängig sein.

Von ver­

schiedenen Seiten war sogar vorgeschlagen, den Ortsbürgermeistern

nur die Stellung von Adjunkten des Kantonalbürgermeisters zu

geben. 3. Ueber dem Kanton soll unmittelbar dar Departement stehen; die Begrenzung der Departements soll aber eine ver­ ständigere sein; gar manche

derselben

haben

keine ordentliche

Hauptstadt, keine gemeinschaftlichen Erinnerungen, keine gemein­ schaftlichen Existenzbedingungen; dasselbe gelte von den Kantonen,

die durchweg zu vergrößern seien; Nachbardepartements sollten das Recht haben sich gegenseitig Kantonaldelegirte zu Berathungen über Angelegenheiten von gemeinschaftlichem Interesse zu schicken.

— Zur Erhöhung der Einnahmen der Departements wird vor­

geschlagen, die Zuschläge für ordentliche Ausgaben (10,5 Cent, für obligatorische, 14,5 als Maximum für fakultative Ausgaben)

nicht nur von der Grund-, dann der Personal- und Mobiliar­

steuer, sondern vom Principale der vier direkten Steuern, wie

für die Specialcentimen (5 für Wege, 2 für Unterricht) zu er­ heben. — (Der Grund ist einleuchtend; denn als die Einnahmen für die Departements geschaffen wurden, bestanden die Patent-,

dann Thür- und Fenster-Steuer noch nicht.)

des Staatsbudgets

zu

schaffende Virement

Dar zu Ungunsten sollte ausgeglichen

werden durch einen Abzug von den ordentlichen Departements­

zuschlägen zu Gunsten der Staatskasse.

Die Eintheilung der Zu­

schläge nach Kategorieen sollte dann aufhören, und nur ein ein­ heitliches Maximum (bis zu 40 Cent.) bestehen bleiben, inner­

halb dessen das Departement frei wäre. Der Fonds commun de rtitat, der nur die Bettelei der Departements und der Ge­ meinden großziehe und aus welchem meistens jene Departement-

Gewinn ziehen, die mehr unternehmen, als sie leisten können, sollte

wegfallen.

Die

allgemeinen Landes-Ausgaben für Bis-

thümer, Geschworne, Tribunale, Präfekturen und Gendarmerie

sollte der Staat tragen. — Diese Vorschläge sind noch sehr mäßig gegenüber anderen, welche das ganze Erträgniß der PrinzipalElfaß-Lolhrlngen. 4

6Ö eontingente den Kantonen und Departements zuweisen und den Staat auf die Zuschlagscentimen zu den 4 direkten Steuern be­ schränkt wissen wollen. Im Falle einer Widerstandes sollte nicht der Präfekt, son­ dern der gesetzgebende Körper die Einsetzung der verweigerten Centime- in das Budget „von Amtswegen" beschließen können. Der Generalrath sollte beschließen könne«, wo er nur berathen konnte. Die Ausgaben für Geisteskranke und unterstützte Kinder sollten fakultativ werden wie die für arme Kranke, Taubstumme, Blinde u. s. w. — Die Ausführung der Beschlüsse des General­ rathes soll nicht dem Präfekten, sondern einem ständigen Aus­ schüsse von 5 Mtgliedern zustehen. Dieser letztere Vorschlag ist schon von Minister Recker gemacht worden, der aber damit nichts Neues schaffen, sondern die alten durch eine königliche Deklaration vom 7. Dezember 1758 garantirten Aufsichtsrechte der Provinzial­ stände retten wollte. Ein solcher Ausschuß hätte dieselben Befugnisse, wie die Provinzialdeputationen in Belgien, welche die französischen Präfekturräthe nahezu ersetzen. Dieser ständige Ausschuß sollte BüreauS für die einzelnen BerwaltungSzweige unter seiner Auf­ sicht errichten — und Instanz in den administrativ-contentiösen Sachen sein. — Richt als sollten alle diese Vorschläge empfohlen werden — sie sind zu großem Theile unsystematisch und skizzenhaft, wenn sie auch beherzigenSwerthe Grundsätze und Einzelheiten enthalten — eS paßt auch nicht Alles für ein deutsches Reichsland, was für eine französische Provinz passen würde — sondern deßhalb schienen diese Vorschläge erwähnungswerth, weil sie zeigen, bis zu welchem Grade und in welchen Punkten ganz besonders der Unsegen der Centralisation empfunden wurde. — Man glaube nicht, daß die Neunzehn von Naucy allein standen mit ihren Wünschen; in Metz hatte man sich ebenso aus­ gesprochen; ganz ähnliche Vorschläge hatte schon die constituitende Versammlung von 1848 gemacht, welche den Kanton wiederher­ stellen wollte. Auch die dreißiger Commission der gesetzgebenden Versamm­ lung, welche 1851 unter dem Vorsitz des Generals Lamoriciäre ein Decentralisationsprojekt berieth und in welcher sich als Mit­ glieder Emm. Arago, der Herzog von Broglie, Chasseloup-Laubat,

51 de VatimeSnil, de Laboulie, Emancipation der Gemeinden Kantone und Kantonalräthe ments verlangt. Die am 2.

de Larcy u. s. w. befanden, hatte und Departements, Schaffung der und Unterdrückung der ArrondisseJanuar 1870 eingesetzte, mit dem

Studium eines Decentralisationsprojektes beauftragte parlamen­ tarische Kommission — begegnete sofort in der Presse ähnlichen Wünschen. — Wir haben es also einerseits nicht mit vereinzelten absonderlichen provinziellen Neigungen, sondern mit einer Frage zu thun, für welche eine ganze Literatur eingetreten — anderer­ seits aber auch nicht mit einer politischen oder administrativen Parteifrage, sondern mit einem socialen Probleme. Neben be­ geisterten Republikanern und Legitimisten, tritt z. B. auch der Imperialist Ant. Arago für die Decentralisation ein;* neben

Imperialisten und Legitimisten verficht auch mancher Republikaner die Sache der Centralisation — als der besten Garantie der Freiheit, ähnlich wie im Nationalconvent die Bergpartei gegen die Girondisten aufgetreten.** Man hat im Streiten für und wider die Reformen sogar den Satz aufgestellt, die Decentrali­ sation mache die Provinz widerstandsfähiger und erhöhe ihren Patriotismus gegen den äußeren Feind. Im Falle einer dritten Invasion würde sich wohl zeigen, wie widerstandslos die Pro­ vinz sei. — Drei Gegenstände beanspruchen vor Allem unsere Aufmerk­ samkeit, — der merkwürdige Haß gegen das Arrondissement, welches geradezu verächtlich behandelt wird — die Behauptung des gänzlichen Mangels an Zusammenhang zwischen den Ge­ meinden, welcher durch die Kantone erst groß gezogen werden müsse, — und die auffallende Bedeutung, welche den gemeind­ lichen Intriguen, den Coterien in Dorf und Stadt, beigemessen wird. — Man enthüllt da vor unsern Augen eine Kluft zwischen Staat und Gemeinde, Gemeinde und Individuum, welche uns Deutschen ganz unbegreiflich ist, wenn wir damit unsern PartikulariSmuS einerseits, und die Vollendung der Staatsidee und Nationaleinheit in Frankreich anderseits, vergleichen. —

* Pr&ectures gWrales et soasprdfectures par canton Paris 1861. *♦ Dupont*White, La Centralisation. Paris 1860;

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Von den 58 Politikern, Rechtslehrern und Staatsmämterrt,

die das Nancyer Projekt beantwortet haben, sprechen nur etwa

drei für Beibehaltung der Arrondissements und zwar sozusagen nur aus Gutmüthigkeit, weil sie glauben, daß die beiläufig 300

Arrondissementshauptorte durch eine solche Degradation empfindlich

verletzt, Himmel und Hölle in' Bewegung setzen würden. Wenn das Arrondissement in der öffentlichen Meinung keine Bedeutung

gewonnen hat, so hängt das mit der Unbeliebtheit des Institutes der Unterpräfekten zusammen, welche nur politische Agenten der Präfekten und deren Zwischenorgane für den Verkehr mit der

Gemeinde — bottes aux lettres — wie man sie nannte, waren; erst seit 1861 besaßen sie eigene Zuständigkeit in geringfügigen

Dingen; es ist dies ferner in Zusammenhang zu bringen mit der geringen Bedeutung der Arrondiffementsräthe, welche nicht eine mit juristischer Persönlichkeit auSgestattete Körperschaft, sondern

nur Steuergebiete vertraten.

Dies Alles ist recht belehrend für

die Auffassung, die der Heuer von Berlin aus vorgelegte Kreis»

ordnungSentwurf im Landesausschufle erfahren hat; man glaubte in Berlin, mit diesem Entwurf des Segens Fülle über das Land

zu ergießen, die Sympathien der Decentralisten im Sturme zu erobern; es war ein Irrthum, ähnlich dem der ReichStagScommission für Elsaß-Lothringen, welche glaubte das Institut der Finanzcontroleure im Interesse einer zu steigernden Autonomie

der Gemeinden verwerfen zu sollen; man möge daraus die Lehre

ziehen, wie sehr man in Berlin und zwar in parlamentarischen wie in büreaukratischen Kreisen der Gefahr doktrinären Irrthum-

ausgesetzt ist;

wenn man aus solcher Entfernung Fürsorge üben

will, verfällt man leicht in Irrthum. — Der LandeSausschuß

hat

den

Entwurf

der

Kreisordnung

land wird man nun wohl, einem

abgelehnt;

in

Deutsch­

ersten Irrthum einen zweiten

zufügend, daraus folgern, daß den Anhängern der Decentralisation

sogar daS Verständniß des Wesens der Autonomie fehle. Sache stellt sich aber anders.

Verkleinerung

Die

Der Kreis umfaßt selbst in der

die das Arrondissement erfahren hat, nicht die

gemeinschaftlichen Existenzbedingungen, welche in diesem Rahmen

das Gefühl der Zusammengehörigkeit und das

Bedürfniß der

Autonomie nothwendig Hervorrufen; die Kreisdirectoren betrachtet

man als

Nachfolger

der unbeliebten

und

mißachteten Unter-

53 Präfekten, deren Ausstattung mit höheren Befugnissen ebenso auf­ gefaßt wird, wie früher die Delegirung von Befugnissen der Minister auf die Präfekten; die Kreisdirectoren find zur Zeit und durch die Verhältnisse in viel höherem Grade politische als administrative Beamte geworden; ihre Zuständigkeiten bringen sie mit den empfindlichsten Seiten deS öffentlichen Lebens und der politischen Verhältnisse in eine nicht immer sanfte Berührung und in Beziehungen von akuter persönlicher Natur, welche selbst die Huma­ nität und die reife Besonnenheit eines erfahrnen, leidenschaftslosen, mit Leuten und Dingen vertrauten, von jeder Voreingenommenheit freien Beamten, täglich und stündlich auf eine harte Probe setzen. Man sah recht wohl ein, daß so kräftigen Behörden gegenüber Kreistag und Ausschuß noch weniger würden ausrichten können als zu französischer Zeit; ein Kreistag hätte ferner natürlich mit der politischen Thätigkeit der Beamten nichts zu thun gehabt, und für diese besonders wünschte man eine Herabminderung. — Man fürchtete, und hat es auch offen ausgesprochen, daß durch die Kreisordnung die Bedeutung der Bezirkspräsidien und damit die der Generalräthe herabgedrückt würde, in welchen letzteren man der Tradition, wie einem natürlichen Zuge folgend, einen Rückhalt suchte, wie man auch in den BezirkSpräsidien „eine sociale Garantie" fand; nebenbei fürchteten die Lothringer, es würde durch eine Kreisordnung der erste Anfang zur Aufhebung der Bezirkspräsidien geschaffen, welche man wenigstens als Symbol eines lothringischen Partikularismus nicht missen möchte. — Aus diesen Gründen betrachtet man die KreiSordnung als ein vorsichtig anzufassendes Danaergeschenk; daß man die Ge­ wöhnung der Bevölkerung an direkte Wahlen betonend, sich gegen die indirekten Wahlen im Entwürfe ausgesprochen hat, ist nur in zweiter Linie in Betrachtung zu ziehen; ist ja doch der Landes­ ausschuß selbst aus solchen Wahlen hervorgegangen. Man wußte ferner recht gut, welche Erfahrungen man in Preußen mit so ungenügender Verwirklichung Gneist'scher Ideale gemacht hatte. Zu einer sachlichen Kritik des Entwurfes ist es gar nicht gekommen. Sie wäre wohl nicht günstig ausgefallen; wir wollen nur auf einen Fehler — aber einen wahren Herzfehler des Entwurfes aufmerksam machen; er schließt die Ausschußmitglieder, also die Vertrauensmänner und dabei auch die Mehrzahl der Körperschaft

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von der Thätigkeit in den Bezirkstagen aus, welche doch zur Zeit die Pflanzschule deS Landesausschuffes bilden! Man mag aus dem Borgesagten ersehen, wie durchaus ver­ früht und unzeitgemäß auch eine tadellose Kreisordnung wäre; man muß bei der Gemeinde beginnen, wenn man das öffentliche Leben wieder aufbauen will, die Gemeinde ist „die Einheit im Zahlensysteme"! — Was die französischen Centralisten über die völlige Jsolirung der Gemeinden, über den gänzlichen Mangel an Zusammenhang zwischen den Gemeinden eines ArrondiffementS oder Departements sagen, scheint uns auf den ersten Blick so überraschend, daß wir glauben möchten, wir hätten es mit einer von den vielen politischen Phrasen zu thun, die einmal aufgestellt, ungeprüft wie falsche Banknoten weiter eirculiren, bis einmal Einer die Fälschung ent­ deckt. Die Sache verhält sich aber in der That so, wie sie ge­ schildert wird. — Wir prüfen solche Behauptungen am Besten an den Ver­ handlungen der Nationalversammlung über die Listenwahl in den letzten Jahren. Bekanntlich handelt es sich darum, ob der Wähler einen Candidaten für das Arrondissement oder eine Liste von zehn Candidaten für daS Departement wählen soll. Der Streit über Vorzüge und Nachtheile der Listenwahl ist schon wiederholt entbrannt und bis auf die Diskussion über die Wahlgesetze von 1817 und 1820 zurückzusühren. Nach dem Listenwahlsysteme hatte Frankreich 1848, 1849 und 1871 gewählt. Alle Gegner der Listenwahl stimmen nun darin überein, daß die an sich guten Zwecke des Systems unerreichbar bleiben wegen des Mangels an Fühlung zwischen den unmittelbar sich berührenden Kantonal­ wahlbezirken; „die Bauern in den Dörfern kennen wohl die Notabilitäten des Kantons, vielleicht noch des einen oder anderen Nachbarkantons, vom Sehen etwa noch den Präfekten, Divisions­ general, Bischof oder Generalvikar, darüber hinaus aber höchstennoch vom Hörensagen die Namen einiger Pariser. Die Dorfbe­ wohner würden ohne fremde Beihilfe nie eine Liste für das De­ partement fertig bringen." Man meinte, die Listenwahl würde zu einer Agiotage, einer Lotterie ausarten, ebensogut, meinte 1848 der Deputirte Maurat-Ballange, könnte man von den Bauern verlangen, sie sollten ein EpoS verfassen; Lamartine sagte damals.

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die Listenwahl bedeute ungefähr eben so viel, als ob man die Bauern für die 25 Buchstaben des Alphabets votiren lassen wollte. „Die Wahlcourtiers", so sprach sich der verstorbene Herzog von Broglie aus, „würden den Bauern Listen zuschicken, welche den einen oder andern bekannten Vertrauensmann neben deren politischen Gegnern enthalten würden, so daß letztere unter solcher Deckung durchgeschmuggelt würden, und so sei die Listenwahl dar beste Mittel, um dahin zu kommen, daß neun Zehntheile der Wahlen gegen die Absichten von neun Zehntheilen der Wähler ausfallen würden." — Wan wende nicht ein, das seien einseitige Entstellungen dieser oder jener Partei. Bekanntlich hat Thiers zwischen 1873 und 1875 seine Ansicht über die Frage urplötzlich geändert, und das könnte fast auf diese Vermuthung führen. Thier-, im vorigen Herbste von einem Mitgliede der Linken über den Grund dieser Wendung befragt, antwortete: „Die ArrondisiementSwahl sei besser, wenn man die Macht bewahren, die Listenwahl aber besser, wenn man die Macht erst erringen wolle." Aehnlich erklärte Gambetta im vorigen Jahre einem Correspondenten der Times gegenüber, „er und seine Freunde würden lieber mit der Listenwahl sich gegen das feindseligste Ministerium vertheidigen, als mit einem voll­ kommen ergebenen Ministerium ArrondiffementSwahlen riskiren." Um dqS Bild zu vervollständigen, wollen wir noch anführen, daß auch der Exminister Rouher im Vorjahre in Marseille und Ajaccio für die Listenwahl auftrat. Alle Parteien geben also zu, daß in den Händen geschickter Parteileiter mit der Listenwahl Aller er­ reicht werden könne; diese Ansicht beruht auf einer richtigen Wür­ digung der Unwissenheit und Indolenz der Wähler und ihrer völligen Jsolirung. So werden auch die überraschenden, wider­ sprechenden Wahlresultate erklärlich, die in Frankreich so unter» piittelt und verblüffend aufeinander folgen. Wir können uns nicht mehr darüber wundem, daß Lord Derby das Plebiscit einen Sprung in der Finsterniß genannt hat. Im Reichslande selbst haben wir Aehnliches erlebt; bei den Wahlen für die Nationalversammlung in Bordeaux im Februar 1871 äst es der geschickten von Klerus und Regierung unbehelligten Leitung der Republikaner im Reichslande gelungen, ihre Listen durchzusetzen; bei der Reichstagswahl, deren Modus derselbe ist, wie bei den Arrondissementswahlen, konnten die Republikaner nur

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durch eine Allianz mit dem Klerus einige Candidaten sich sichern. — Und doch glauben die Republikaner im Lande jetzt noch, die Emancipation vom kaiserlichen Regime habe genügt, das Volk republikanisch zu stimmen! — Es kann uns nicht mehr Wunder nehmen, wenn wir sehen, daß die Centralisten von der Lockerung einer staatlichen Einheit ein plötzliches Ueberwuchern der provinziellen und localen Sonder­ bestrebungen fürchteten. Eine solche Jsolirung mußte nothwendig den Gemeinsinn ertödten. Egoismus und Herschsucht mußten sich auf engere Kreise beschränken. Die Cöteries locales, wie das Schlagwort lautete, mußten in der That gefährlich erscheinen — und man hat geradezu von drohender Anarchie gesprochen. — Als 1851 die Erweiterung der Befugnisse der Generalräthe verhandelt wurde, rief Dufaure einem Deputirten zu: „Ihr wollt die Unabhängigkeit Frankreichs opfern, um eure localen Interessen zu vertheidigen." — Es gibt in Frankreich Politiker die Menge, welche es für fraglich halten, ob die nationale Einheit, nachdem das alte Königthum die politische Zerstückelung, die Revolution aber die administrative und fiscalische Zerfahrenheit durch lange Kämpfe beseitigt, nachdem die Staatsidee zur Herrschaft gelangt — schon soweit gediehen sei, daß eine Decentralisation rathsam er­ scheine, welche weiter ginge, als etwa das Gesetz vom 18. Juli 1866 über die Generalräthe. Man fürchtete, Gemeinden und Departements, mit freien Verwaltungsbefugniffen ausgestattet, würden ihre Kassen geleert haben, wenn der StaatsfiscuS Anspruch darauf erheben würde; man besorgte von der Decentralisation „eine Umgestaltung der politischen Sitten des Volkscharakters und der ganzen geschichtlichen Entwicklung des Landes." — Nehmen wir einen Augenblick, in die Zukunft uns versetzend, an, Deutschland sei seit etwa 200 Jahren Einheitsstaat; würden wir da nicht in provinziellen Sonderbestrebungen bedenkliche Anklänge an den staatlichen Partikularismus der Gegenwart erblicken? Eine solche Betrachtung versetzt uns ungefähr in den Gedankenkreis der Cen­ tralisten. Lassen wir einen praktischen Verwaltungsbeamten und lang­ jährigen Präfecten* sprechen, der die französische Provinz kennen * De la Centralisation administrative par Paul Cfere. Paris Dentu 1865*

57 mochte: „Eine, wenn auch nicht weitgehende Decentralisation hätte keine andere Folge, als die, die Macht der cöteries locales, jener offenen Wunde der Provinz, zu erhöhen und die Kirchthurms­ tyrannis im kleinlichsten Style zu fördern. Die öffentliche Ord­ nung würde gefährdet und im Augenblicke einer Krisis wäre die Sicherheit des Landes bedroht. Diese Schlüffe sind auf tiefe

Ueberzeugung gegründet, welche nicht Theorieen entlehnt ist, sondern den Erfahrungen einer ziemlich bewegten politischen Laufbahn".... „Die Klippe, an welcher die meisten Präfecten gescheitert, sind diese localen Intriguen, die sie nicht zu behandeln verstanden, die ihnen bald über den Kopf wuchsen und von deren Charakter und Bedeutung man sich in Paris nie eine rechte Vorstellung zu machen gewußt hat." — Um solche Zustände zu verstehen, muß man sich daran er­ innern, wie unfrei die Preffe war, welche das richtige Gegenge­ wicht hätte bilden können. Um jedoch nicht den Vorwurf zweckdienlicher Auswahl unter den Gewährsmännern uns auszusetzen, wollen wir noch E. von Girardin* hören, auf den man zwar nicht immer gut zu sprechen ist, der jedoch zum Mindesten kein Freund des Empire und überdieß Deputirter des Bas-Rhin gewesen. Er stellt als These auf: „Die Centralisation ist unverträglich mit dem Municipalsysteme — die Decentralisation ist unmöglich, weil wir keine Hierarchie der Intelligenz haben".... „Das ist unser ganzes Unglück: die allgemeine Ignoranz macht die administrative Centralisation ewig nothwendig; die Ausbreitung der ersteren ist die Stärke der letzteren. Jeder vorzeitige Angriff auf die Centralisation wird erfolglos und gefährlich sein; denn sollte eS auch gelingen, alle Traditionen des Monopols zu zerstören, so ist doch die Ignoranz der großen Mehrheit der Steuerzahler so groß, daß die Sub­ stitution der Municipalverwaltung unmöglich wäre. Ohne allge­ meine Verbreitung des Elementarunterrichts ist die Dccentralisation deßhalb unmöglich, weil es keine Hierarchie der In­ telligenz geben würde; alle Reformvorschläge werden der Routine unterliegen." —

De rinstruction publique en France.

Paris 1842 3me &1.

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Damit ist die Sache auf ein anderes Feld gebracht — und auf diesem Gebiete — der Volksbildung — war ja Elsaß dem übrigen Frankreich immer weit überlegen — und hat den der Provinz so oft gegebenen Rath, zu lernen und zu arbeiten, um der Hauptstadt gleichzukommen, immer beherzigt. Man hat 1848 in ganz Frankreich von der Nothwendigkeit gesprochen, die Preffe zu decentralisiren, um dem literarischen Monopole der Hauptstadt ein Gegengewicht zu schaffen. Die in den dreißiger Jahren ge­ gründete Revue d'Alsace war an allgemeiner TheilnahmSlosigkeit dahingestecht; ihre Mitarbeiter hatten nur detaillirte Localforschung gepflegt — man nannte sie mitleidig die fossoyeurs. Nun wollte man auch im Elsaß die Allmacht der Hauptstadt bekämpfen — sich als würdige Nachfolger der Humanisten zeigen; man wollte sich emancipiren von den intoleranten Schlagworten, welche die Hauptstadt ausgab und die Provinz mit schwachem Widerhall nachrief. Damals ermahnte ein Elsäffer, dessen Namen einen guten Klang hat, Levrault, seine Landsleute, sie möchten vor­ sichtig sein in ihren Hoffnungen; die vollständige Decrntralisirung der Provinz müffe eine Chimäre bleiben; ihre Durch­ führung wäre ein öffentliches Unglück und gleichbedeutend mit der Rückkehr zur Barbarei, eine schmähliche Aera von VandaliSmuS und Anarchie; dazu sei in der Provinz noch nicht ge­ nügend Bildung verbreitet. Aber es könnte einmal über Paris das Fajum hereinbrechen — Paris könnte seinen Zauber ver­ lieren; darum müffe die Provinz arbeiten, und mehr als jede andere sei dazu das Elsaß berufen und befähigt wegen deS un­ erschöpflichen Stoffes- für nationalökonomische Studien und wegen der historischen Mission des Elsaß, Frankreich die Früchte deutschen Geiste- zugänglich zu machen; und sollte es sich auch mit der be­ scheidenen Rolle eines UebersetzerS begnügen, Ruhm und Verdienst könne dabei genug gewonnen werden; die Revue d'Alsace werde warme Freunde, begeisterte Mitarbeiter in Deutschland finden, nur möge sie nicht einzig und allein die ausgetretenen Pfade localer Forschung wieder und wieder betreten, sondern sich mehr der Allgemeinheit widmen, damit Elsaß nicht in den Ruf gerathe, eS sei der großen wissenschaftlichen Bewegung ferne geblieben. Diesen Rath hat man im Elsaß so wenig befolgt, als da­ mals im Herbst 1842, da auS dem von Frankreich und Deutsch-

59 land beschickten wissenschaftlichen Kongreß in Straßburg eine encyklopädische rheinische Gesellschaft gebildet werden sollte — als Bindeglied zwischen deutscher und französischer Wissenschaft. Straßburg hat damals gleich nach der ersten Begeisterung dafür gesorgt, daß nur Elsäßer in den.Ausschuß gewählt wurden, und dieser Ausschuß, eigener Neigung oder einem gewissen Hochdruck folgend, beschloß, die deutschen Mitarbeiter hätten ihre Mit­ theilungen für die Revue vorerst einer französischen Uebersetzung zu unterziehen; so ging die Sache in die Brüche — und die Revue, welche von Paris wie von Deutschland unabhängig bleiben wollte, ist elsäßisch geblieben. Also auch auf diesem neutralen Gebiete hat Elsaß sich weder von Paris zu emancipiren noch den Localgeist zurückzudrängen vermocht — es war nicht nur nationaler Stolz, es par auch elsässische Eifersucht im Spiele. Die Beschränkung des Gemeinsinnes und des ThatentriebeS auf so enge Kreise hat das fertig gebracht. Von diesem Stand­ punkte aus müssen wir es verständlich finden, wenn in Mülhausen, wie kürzlich geschehen, ein Redner, die stolze Devise des Hauses Ro­ han parodirend, seinen Mitbürgern zurief: „Fran^ais ne puis, AUemand ne daigne, Alsacien suis“, wenn ein Anderer die beste Zukunft des Reichslandes in einer mittelalterlichen ReichSunmittelbarkeit erblickt, die in Berlin Lehen nimmt, wenn ein oberelsäßischeS Blatt dem Barreau empfiehlt, sich die mittelalterlichen Fürsprecher zu Muster zu nehmen, die heimischen Gerichts- und Kontraktprotokolle zu studiren und bei Gericht die Sprache von Brandt, Murner, Gailer, Fischart, Moscherosch u. s. w. wieder zu Ehren zu bringen — das französische sei einmal unzulässig, hochdeutsch aber zu lernen sei gar schwer, und so biete sich von selbst dieses Mittel . . . pour reconstituer au moyen de notre patois une langue d’affaire purement alsacienne. Dieser Localgeist gewann aber bald eine andere häßliche Seite man kriegte bald heraus, daß die Regierung, um die Provinz für die vorenthaltene Betheiligung an den größeren Interessen zu ent­ schädigen und bei guter Laune zu erhalten, Zugeständnisse aller Art machen müsse. Man bewarb sich in die Wette um Gunst­ bezeugungen, man suchte sich den Rang abzulaufen und überbot sich an -Egoismus und Wohldienerei. In Frankreich hat man

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viel gelacht, als eine elsäßische Gemeinde durch die Erhöhung einer Nachbargemeinde zum Kantonalhauptorte in ihrer geschicht­ lichen Bedeutung bedroht, an Ludwig XVIII. mit einer Bittschrift sich wendete, welche also anhub: „Unser -Stabilem hat die Ehre gehabt, vom Marschall von Turenne erst gebrandschatzt und so­ dann verwüstet zu werden," .... und doch sang man dort damals noch in den Spinnstuben ein altes Volkslied, worin Turenne als Mordbrenner und Teufelsbraten in die tiefste Hölle verflucht wird. Die ganze Politik der Provinz ging früher darauf hinaus, durch GefinnungStüchtigkeit und Wohlverhalten da und dort etwas zu erreichen, was man euphemistisch „un b6ndfice 61ectorala zu nennen keinen Anstand nahm. — Man bedenke dazu noch die Verderbtheit der Agenten des zweiten. Kaiserreiches, welche diese Lokalintereffen hegten und pflegten und Macht und Einfluß, Willkür und Straflosigkeit denen gewährten, welche mit ihnen gingen — so wird das Bild voll­ ständig sein. Sie waren durchaus nicht selten, jene Bürgermeister und Notabeln, jene „Vorkämpfer der moralischen Ordnung", wovon uns der vor dem Tribunale von Niort 1861 verhandelte Skandalproceß Plassiart ein Beispiel vorführt.* Der Mann war Bürgermeister und Generalrath und ein vollendeter unum­ schränkter Tyrann; im Lause deS Processes kam auch ein an seinen Polizei-Commiffär geschriebenes Billet zur Verlesung: er höre, daß die Hühner deS H. G .., der immer schlecht von der Regierung rede, beständig auf dem Markte und in den Gassen unterwegs seien . . . ayez i faire cesser cet 6tat des choses, et ne confondez päs les volailles des amis avec celles des ennemis du gouvernement ... — Wenn ein französischer Präfekt uns solche Erscheinungen vorführt, um unS zu zeigen, wie die localen Coterien ohne die Vormundschaft deS Staates Alles überwuchern würden, so fehlt auch nicht das Gegenstück. Elias Regnault widmet zwei Kapitel seiner trefflichen Schrift über die Provinz der „Geschichte eines Dorfes", um uns zu zeigen, wie diese Bevormundung in den Dörfern wirke. Pfarrer, Bürgermeister, Architekt und Unter­ nehmer hatten einen Gemeinderath durch trügerische Pläne und • Mitgei heilt in der oben citirten Schrift von Gere.

61 Voranschläge über einen Kirchenbau zu übereilten Schritten ver­ leitet und in unabsehbare Schulden gestürzt — die alte Geschichte,

von der wohl jedes dritte Dorf zu erzählen weiß. Der Präfekt Hilst dem gestnnungstüchtigen Bürgermeister immer wieder durch; da stellt sich an die Spitze der Unzufriedenen ein Gemeinderath und ehemaliger Batonnier und treibt die Sache ohne Erfolg bis an den Minister; der Bürgermeister wird unmöglich, der Prä­ fekt immer eigensinniger. Die Gemeindewahlen kommen — eine Staatsunterstützung wird in Aussicht gestellt — die Intriguen beginnen. Der Präfekt begünstigt als künftigen Bürgermeister einen armen Teufel, der weder lesen noch schreiben kann — das wollen aber die Gemeinderäthe gerne statt seiner thun — und schließlich ernennt der Präfekt den Menschen zum Bürgermeister wie Caligula seinen Gaul zum Senator. Dir Gemeinde ist ruinirt, aber ruhig — und hat prächtig gewählt! Bei den letzten Wahlen für die Senatsdelegirten haben die Republikaner vom Cher ein Jmperativmandat für die Kandidaten aufgestellt, welches in unmittelbarer Anreihung an die Punkte, welche die Regierungsform betrafen, folgende Forderungen ent­ hielt: Die Gemeinden ernennen ihre Bürgermeister und Ad­ junkten selbst — der Bürgermeister ernennt den Bannwart — ohne Zustimmung des Gemeinderathes kann kein Lehrer und keine Lehrerin ernannt oder versetzt werden — sie müssen alle diplomirt sein und sollen nicht mit Ertheilung von ReligionSuntericht be­ helligt werden; — der Bischof darf keinen Pfarrer gegen den Willen der Gemeinde versetzen; — die Kleriker dürfen nicht Po­ litik treiben; — die Errichtung von Schenkwirthschaften ist frei, Schließung durch die Präfekten unstatthaft; — die Jagdkarten werden monatlich, nicht für das Jahr ausgegeben; — kein Senator darf für einen Krieg im Interesse des Papstes stimmen u. s. w. Man mag darüber lächeln — die Republikaner vom Cher kennen aber Leute und Dinge und die Kriegslisten der Präfekten.

62 DaS ist die französische Provinz; das war, bis zu einem gewissen Grade Elsaß, das aber doch niemals zur Be­ deutungslosigkeit irgend eines französischen Departements herab­

gesunken ist.* Seine Eigenart hatte eine innere und geschichtliche Berechtigung.

Göthe sagt von den Elsäßern:

wundene die Hälfte seines Daseins

„Wenn der Ueber-

nothgedrungen verliert,

so

rechnet er sich'S zur Schmach, die andere Hälfte freiwillig aufzu­ geben; er hält daher an Allem fest, was ihm die vergangene

gute Zeit zurückrufen und die Hoffnung der Wiederkehr einer

glücklicheren Epoche nähren kann."

Frankreich gegenüber trieb

man elsäßische Opposition und pochte auf die Stammeseigenthüm­ lichkeit, welche eine gewisse Berücksichtigung

beanspruchen könne,

Elsaß dürfe nicht behandelt werden, wie jedes andere französische

Departement.

Deutschland gegenüber beruft man sich auf fran­

zösische Ueberlieferung und Gewöhnung des Volkes und

sprucht dafür Beachtung

und

Sonderrechte.

So

lange

bean­ man

französisch war, that man sich viel zu Gute auf die Kenntniß zweier Sprachen; mit Deutschen spricht der Elsäßer jetzt französisch,

aber nicht nur aus Demonstration, sondern wohl auch, weil er sich

seines deutschen Dialektes schämt, wie er vor Franzosen seine

schlechte französische Aussprache schamhaft zu verhüllen bestrebt war. So ist es auch recht possierlich anzusehen, wie die Straßburger Jungen, die unter Parisern keine hervorragende Rolle spielen würden, in Gegenwart von Deutschen sich geberden, um diesen als französisches Vollblut zu erscheinen.

Als kurz vor dem Kriege

der Präfekt in Straßburg einem elsäßischen Bürgermeister vor­

hielt, eS setze ihn in Erstaunen, wie er ein öffentlicher Amt habe übernehmen können, da er doch nicht französisch rede,

antwortete

ihm der Bürgermeister frischweg und deutsch, es habe ja doch auch der Herr Präfekt feine Stelle angenommen, obgleich er nicht deutsch rede. — Vor etwa zwanzig Jahren rühmte Victor Cousin,

* In einem Vorschläge die Departements zu Regionen mit einem durch Industrie, Intelligenz oder Ackerbau hervorragenden Centrum zu vereinigen und so 18 Provinzen aus Frankreich zu machen, erscheinen Straßburg und Kolmar neben Marseille, Toulouse, Lyon, Bordeaux, Lille, Nancy, Dijon, Besan-on, Grenoble, Rouen, Nantes, Rennes, Poitiers, Limoges, Tours und Orleans als solche Proviuzialhauptstädte.

63 Straßburg werbe bald nichts Originelles mehr haben, al- seinen

Münsterthurm; damals lehnten die Straßburger dieses Compliment dankend ab; jetzt aber wird alle noch vorhandene deutsche Origi­ nalität verleugnet. Die Klagen über den Sprachzwang müssen von diesem Standpunkte aus betrachtet werden. —

Der Elsäßer wird fich auch noch daran gewöhnen, wenn der

Deutsche im Umgänge mit franzöfisch redenden Elsäßern die Lehre befolgt, welche Lessing dem Fräulein von Barnhelm in den Mund

legt,

daß

man

nämlich in Deutschland mit Franzosen deutsch

sprechen müsse. — Wenn die Elsäßer bald deutsche bald franzö,

sische Art geltend machten, so

sind sie jenem Hauptmann in

JmmermaunS Oberhof vergleichbar geworden, der sich abwechselnd

bald in sein deutsches, bald in sein französisches Gemach grollend zurüHog. — Der deutschen Kultur war der Elsäßer entfremdet,

die französische Kultur hat er nie ganz in fich

ausgenommen;

der Elsäßer eignet sich jetzt noch viel mehr zur Aufnahme deutscher

Kultur — und er wird zu dieser Ueberzeugung noch selbst kommen.

Für Elsaß-Lothringen hatte die Lostrennung von Frankreich

die Wirkung und Bedeutung einer plötzlich eingetretenen Decentralisation mit dem Unterschiede freilich, der die Lage nothwendig schärfte, daß diese Trennung dem Lande aufgrdrungen ist, daß

eS fich seiner Nationalität entäußern mußte, daß das neue Cen­ trum in Berlin liegt und daß das Land nicht mehr gleiche Ge­ schicke mit französischen Nachbardepartements theilt. —

Zwei Dinge hatten früher das Gefühl der Zusammenge­

hörigkeit mit dem übrigen Frankreich immer wach erhalten, die nationale Einheit und die administrative Centralisation; erstere

ist weggefallen; soll nun letztere allein schon genügen, in den ab­

getrennten Gebietstheilen das Bewußtsein der Zusammengehörigkeit in dieser neuen Gestaltung zu erwecken und auszubilden?

Alle

Bedenken, welche man den Decentralisten entgegengehalten, sind in Elsaß Lothringen um so mehr in Erfüllung gegangen, als daS

Gegengewicht — die nationale Einheit — nicht mehr besteht Md in veränderter Gestalt erst wieder zu schaffen ist. —

«Die bedenkliche Zerfahrenheit, der wir auf Schritt und Tritt

64 begegnen, mußte eintreten; eS ist eine staatliche Kinderkrankheit, deren Verlauf abzuwarten ist. Der Elfäßer muß zur Ueber­ zeugung kommen, daß er, wie er in Frankreich mit seiner Eigenart keine Rolle gespielt hat — und seine ganze Existenz in der Frank­ reichs aufging, — auch Deutschland gegenüber keine sranzöstsche Eigenthümlichkeit wird geltend machen können, sondern im natio­ nalen Leben seinen Halt suchen muß. Die Erscheinungen, die sich uns bieten, wenn wir von diesem Punkte aus die Entwicklung der Dinge im Reichslande betrachten, sind nicht erfreulich, aber verständlich — und darum dürfen wir die Geduld nicht verlieren. Es ist im Allgemeinen dafür gesorgt, daß die Bäume nicht in den Himmel wachsen, diese Sorge hat also zunächst Niemand weiter zu übernehmen. Wenn wir bedenken, welche politische Schule die Provinz früher durchgemacht, und wie die Option sie der Mehrzahl ihrer früheren Führer beraubt hat, so dürfen wir uns nicht wundern, daß jetzt in den Kreisen, welche zum ersten Mal sich mit öffent­ lichen Dingen zu beschäftigen beginnen, dann und wann ein ur­ wüchsiger politischer Dillettantismus uns überrascht. Für die Provinz war früher der Generalrath die Hochschule der Volks­ vertretung, weiter brachten's nur Einzelne; die Opposition aber hat es immer verschmäht, sich im Generalrath zu tummeln und hat sich stets Paris oder der Presse zugewendet. Kleine Interessen, so sagt EliaS Regnault,* indem er von der französischen Provinz spricht, machen kleine Geister. Die Politik der Provinz drehte sich früher um den auch in England jederzeit üblichen Nothruf: „Localities are in danger.“ Hüten wir uns, über diesen politischen Dilettantismus un­ liebenswürdig zu urtheilen, so weit wir gutem Willen begegnen. Haben wir nicht in Deutschland ähnliche Erfahrungen da gemacht, wo der Clerus den schlummernden Genius der Politik aufrüttelnd, recht sonderbare Aposteln der Freiheit erweckt hat? Das sind die unausbleiblichen Folgen einer mehr als siebenzigjährigen Ent­ wöhnung von der Selbständigkeit. — Tacitus entsetzte sich-über die Folgen einer fünfzehnjährigen Entwöhnung von der Freiheit! Manchmal freilich tritt dieser Dilettantismus nicht mehr gutmüthig. ♦ La proyince, ce qu’elle eßt, ce qu’elle doit etre.

Paris 1861.

65 sondern gemeinschädlich auf — und da wird ihm entgegenzutreten sein. Zu solchen Erscheinungen sind z. B. gewiffe Correspondenzen aus dem Oberelsaß zu rechnen, welche daS Land über die deutsche Verwaltung ausklären wollen. Mit schülerhafter Dreistigkeit und Oberflächlichkeit werden da Finanzen und Verwaltung des Reichs­ landes erörtert, und wird dem Deutschen jede Befähigung zur Verwaltung und jede- Verständniß für elsäßische Verhältnisse ab­ gesprochen. Mit den von der Regierung mitgetheilten Budget­ ziffern hantirt dieser Politiker so unvorsichtig, wie ein Sonntags­ jäger mit dem Schießgewehr; ein Unglück im Publikum ist bald

angerichtet und nicht wieder gut gemacht, wenn man nachträglich die „Loyalität" der Absicht betheuert. Es erinnert dies an den Gerichtsvollzieher „Loyal" in Moliöre's Tartüffe, der unter loyalen Redensarten und biderben Betheuerungen die Leute aus den Häusern herauszuwerfen suchte. Der Dichter läßt Dorine über ihn sagen: „Ce Monsieur Loyal porte un air bien d&oyal.“ Es gibt nämlich im Reichslande Leute, welche die höheren Ver­ waltungsämter längst unter sich getheilt haben — und unter Autonomie vor Allem die Entfernung der deutschen Verwaltung verstehen, die einstweilen discreditirt werden müsse, besonders aber im Reichstage; das ist die Aufgabe, die die klerikalen Reichstags­ abgeordneten übernommen haben; daher ist man auch in diesen Kreisen so schlecht auf den Landesausschuß zu sprechen, der durch seine Gefügigkeit solche Ziele vereitelt. Einer dieser tonsurirten Abgeordneten hat kürzlich offen ausgesprochen — „dieser Landes­ ausschuß .... verdirbt alles wieder, was die Abgeordneten im Reichstage gut gemacht!" Man kann zur Stunde noch vom Fort­ bestehen einer Allianz der Demokraten und Klerikalen seit den Reichstag-wahlen sprechen. Gewisse klerikale Budgetreden im Reichstage haben, so geht im Lande das Gerücht, den demo­ kratischen Verfasser der eben erwähnten Correspondenzen zum Autor und sind sodann in freier Uebersetzung im Reichstage deutsch vor­ getragen worden. Diese Reden sind hierauf als deutsche Beilagen des französischen „Jndustriel Alsacien" in Mülhausen von den katholischen Pfarrhöfen aus in den Dörfern kolportirt und überdieß vom katholischen „Volksfreund" vor den Ergänzungswahlen in Buchform verbreitet worden. — Das ist ein Beispiel vom politischen Dilettantismus der elsäßischen „Demokraten". — Wir Elsaß-Lothringen. 5

66 Wolle« eS bei diesem Beispiele bewenden laffen. — Die Protest­

politik mußte eine Art von politischem Synkretismus schaffen. — Wenn die Gemeinden des Arrondiffements unter sich keine Fühlung hatten, so ist es erklärlich, daß auch die Departements

unter sich solche nicht gewonnen haben.

Als im Landesausschufle

von der Autonomie des Reichslandes und seiner Vertretung im

BundeSrathe die Rede war, wurde in besonderer Weise betont, diese Rechte müßten ertheilt werden auf Grund der Untheilbarkeit

des Reichslandes, der staatlichen Einheit von Elsaß-Lothringen. Bei den letzten Er-

Dieß mag im ersten Augenblicke befremden.

gänzungSwahlen zum Bezirkstag, als zum erstenmal ein Mitglied

des Gemeinderaths von Metz als Kandidat mit dem Programme aufgetreten ist, ohne Protest die Interessen der Stadt Metz ver­

treten zu wollen, konnte man schon deutlicher sehen; es hieß, Metz als

Hauptstadt von Lothringen müsse seine Stellung wahren;

früher habe Metz immer hinter Nancy zurückstehen müssen, jetzt müsse es darnach streben, daß nicht Straßburg Alles an sich reiße; Metz würde sonst die Berechtigung verlieren, die Leitung der Dinge für Lothringen zu übernehmen. — Solche separa­

tistische Tendenzen sind in Lothringen schon wiederholt ausgetreten; es gibt dort Leute, welche eine eigene Regierung für Lothringen, ein zweites Oberpräsidium in Metz für nöthig halten, also ein

zweites Reichsland wünschen.

Was man dabei sich denkt, ist

freilich nicht recht klar, aber es mag uns dies beweisen, bis zu

welchem Grade Lothringen der Fühlung mit dem Elsaß entbehrt; eS ist nicht nur eine unglückliche Hegemonische Eifersüchtelei, es ist die völlige Fremdartigkeit beider Provinzen, welche hier zu

Tage tritt, nnd wenn wir der Sache auf den Grund gehen, so scheint diese provinzielle Abneigung geradezu als eine nationale. Rach dem Friedensschlüsse hieß es in Lothringen, die Elsäßer

seien immer Deutsche gewesen, die mögen annexirt bleiben, es ge­ schähe ihnen ganz recht, anders aber verhalte eS sich mit dem

durch und durch französischen Lothringen.

In den zu Lothringen

gehörigen deutschen Gebietstheilen, welche zum Theil erst durch den Lüneviller Frieden zu Frankreich gezogen

worden sind, ist

heutzutage noch die Bevölkerung erpicht darauf, dem Fremden klar zu machen,

Lothringer sind.

daß sie von Rechtswegen Elsäßer und nicht



6?



Diese Kluft zwischen Elsaß und Lothringen, welche auch int

Landesausschuße mehrmals offenkundig geworden, ist viel bedeu­ tender, als man gewöhnlich annimmt. Auch in deutschen An­ schauungen spiegelt sich der Unterschied zwischen beiden Landes­ theilen wider. In der That wird der Deutsche in Lothringen, wo die Bevölkerung zwar eben so ruhig ist, als die elsäßische, wo aber der Deutsche nur französischem Wesen iii Sprache, Sitte und Anschauung begegnet, und zwar in unliebenswürdigen ärger­ lichen Formen, mit der Zeit reizbar gestimmt und über die Mög­ lichkeit, das Reichsland deutsch zu machen, eine ganz andere und zwar auf wirkliche Erfahrung gegründete Meinung gewinnen, als der Deutsche im Elsaß. Es kommt wohl daher, wenn so viele Deutsche in Lothringen glauben, man müsse immer die schroffere Seite herauskehren; diese Anschauung ist sehr verbreitet. Hört man Ansichten aus Lothringen, so möchte man meinen, ein richtiger deutscher Patriot müsse zeitig aufstehen und jede freie Viertelstunde nützen, um einem Franzmann etwas am Zeug zu flicken und das Land zu säubern; man sagt, die humane und versöhnliche Haltung der Regierung werde im Publikum als Zag­ haftigkeit und Schwäche aufgefaßt. Offenbar beginnt man die unter allen Umständen so nöthige Gelassenheit zu verlieren. Die Behörden können es doch wahrhaftig nicht treiben, wie jene emsige Hausfrau, die, wenn sie gerade nichts Ernstliches zu schaffen fand, wenigstens die Stirne runzeln zu sollen glaubte! Es läßt sich wohl sagen, daß die Germanisirung des Elsaß durch die Verhältnisse in Lothringen, welche eine fortwährende Berücksichtigung erfordern, verzögert wird; dieselbe Beobachtung kann man in kleineren Verhältnissen machen; eine französisch sprechende Gruppe von Gemeinden in einem deutschen Kreise wird immer ein Hinderniß der Durchführung einer beliebigen Maß­ regel bleiben. — ES hätte verdient, wohl erwogen zu werden, ob nicht Metz mit dem französischen und gemischten Sprachgebiete von allem Anfang an mit dem preußischen Regierungsbezirke Trier zu einer „Moselprovinz" vereinigt hätte werden können, die dann von der Rheinprovinz abzutrennen gewesen wäre. Vielleicht wird einmal das deutsche Reich auf friedlichem Wege Luxemburg erwerben, und dann würde sich eine Vereinigung Lothringens mit Lnxemö»

68

bürg als natürlicher Ausweg bieten, um einerseits Lothringen eine

den Berkehrsintereffen wie den geschichtlichen Erinnerungen mehr entsprechende Stellung zu geben, anderseits die durch Lothringen

gebundene Entwicklung deutschen Wesens im Elsaß frei zu machen. In der Politik wie in der Wissenschaft, muß man sich manchmal

trennen, um sich dann wieder zusammen zu finden.

Der Widerspruch zwischen den deutschen Anschauungen im Elsaß und denen in Lothringen, könnte auch einmal im Reichs­

tage empfunden werden. Die Meinungen aus Lothringen könnten um so leichter zur Geltung kommen, als man geneigt sein könnte,

darin eine Rechtfertigung für strengere Maßregeln zu erblicken;

darunter würde nur Elsaß leiden und das ganze Reichsland nicht-

gewinnen.

Man könnte auf den Gedanken kommen, ob nicht die

Vermischung Lothringens mit Elsaß durch die

längst

geplante

Aufhebung der Bezirkspräsidien gefördert werden könnte, welche dazu führen würde, daß die Kreise unmittelbar unter der Landes­

verwaltung in Straßburg zu stehen kämen; dies würde wohl zu weiterer Zerbröckelung Lothringens führen, aber, wenigstens in absehbarer Zeit, nicht zu einer Heranziehung an das Elsaß, die sich nicht hinein administriren läßt.

Dies führt uns auf die Bedeutung und Anziehungskraft Straßburgs, als Hauptstadt für Elfaß-Lothringen, und auf die Frage, ob nicht von diesem Centrum aus die Vermischung beider

Stämme bewirkt werden könne — da eröffnen sich für die nächste Zukunft nur ziemlich trübe Aussichten. — Der Stadt Straßburg fehlt jetzt noch durchaus das nöthige

Uebergewicht, wie der traditionelle Zauber, welche die moralische Herrschaft über die Provinz sichern.

Straßburg ist nicht etwa

erst seit der Option, wie man den Deutschen immer glaube«

machen möchte, auf sein jetziges Niveau herabgesunken; es ist

auch nicht erst durch die Auflösung des Gemeinderathes in seinem Aufschwung gehemmt worden, es war schon zu französischer Zeit

ganz und gar eine Provinzialstadt. — Als man etwa vor einem

halben Jahre in der Bürgerschaft Schritte unternahm, um von der Regierung die Wiederwahl des Gemeinderaths zu erbitten, brachte man keine Liste fertig, weil die Majorität der Candidaten gleichzeitig sich gegen die Stadterweiterung, die projektirte Wasser­ leitung u. s. w. aussprach.

Richt

einmal bei dieser Gelegenheit

69 konnten sich die Autonomisten und Protestmänner zusammenfinden: als man den Reichst« gSabgevrdneten und ehemaligen Bürger­ meister Lauth damals mahnte, er möge endlich einmal nach Berlin gehen, es sei hohe Zeit dort seine Pflichten zu erfüllen, erfuhr man nur Hohn von allen Seiten. Wir würden eS nicht sagen, hätte die Sache nicht ein Altstraßburger damals der „Patrie" anvertraut. Die Gegner der Stadterweiterung sind, wie damals in Mainz, die Hausbesitzer, welche einen Rückgang der unnatürlich in die Höhe geschraubten Miethpreise fürchteten, oder in Grunderwerbungen sich verspekulirt hatten. Jetzt erst ist einige Ruhe eingetreten, weil die Grundbesitzer Syndikate gebildet und für die Kaufversprechen die Einhaltung eine- bestimmmten Tarifeverabredet haben. Nie hat sich die Münsterthurmpolitik Straß­ burgs in so fatalem Lichte gezeigt; hat man doch den Vorschlag gemacht, das Projekt der Verlegung de- Stadtbahnhofes dem LandeSausschufle zur Begutachtung vorzulegen! — Straßburg ist bis zur Stunde als neue Hauptstadt kaum im Stande dem Ober-Elsaß Concurrenz zu machen, geschweige Lothringen anzuziehen, das zu Straßburg so wenig Beziehungen hatte, als etwa zu Grenoble oder Rouen. Straßburg ist sogar im Unter-Elsaß selbst noch wenig angesehen. — Minister und Präfekt hatten selten Gelegenheit mit dem Straßburger Gemeinderathe zufrieden zu sein; ganz dynastisch treu unter dem ersten Kaiserreich, pflegte Straßburg unter den Bourbonen republikanischen Sinn und napoleonische Traditionen, unter dem Bürgerkönigthum hielt der Gemeinderath die Fahne der Republik hoch; immer aber, und ganz besonder- unter dem zweiten Kaiserreiche hatten die Opposition und die inneren Zer­ würfnisse als Ausgangspunkt eine städtische oder confessionelle Frage. Durchliest man die Listen des Straßburger Gemeinde­ raths und des Generalrathes des Niederrheins der früheren Jahrzehnte, so begegnen wir durch Generationen fortwährend den Namen derselben Familien oder deren Agnaten, ein untrügliches Kennzeichen hochgradiger Kleinstädterei. Die sogenannten Ver­ söhnungslisten, die man vor jeder Wahl aufstellte, trugen immer nach hergebrachtem Zahlverhältnifle einen ängstlich paritätischen Charakter. Der Sturz dieser Geschlechterherrschaft ist nicht der letzte Grund munizipaler Unzufriedenheit. Die gegenwärtige

70 Unterbrechung der munizipalen Verwaltung wird einer Umbildung der Dinge beschleunigend vorarbeiten; alle alten Stadtfragen werden inzwischen eine unparteiische sachliche Lösung finden; hätten wir jetzt einen Gemeinderath, so spricht man im kleineren Bürger­ stande Straßburgs, so dürsten wir wohl wie früher mitsprechen und opponiren, geschehen aber würde nie etwas. — Straßburg ist schon seit langer Zeit täglich gesunken; die Auswanderung der Notabeln, welche für Frankreich optirt haben, hat diesen Niedergang nur beschleunigt. Die Stadt ist auf dem Punkte angelangt, durch neue Notabeln aus provinziellen Kreisen oder durch andere Stadtgeschlechter oder endlich durch deutsche Elemente sich auffrischen zu müssen um ihrer Stellung als Haupt­ stadt genügen zu können. Der deutschen Einwanderung erwachsen hier Rechte wie Pflichten. ES ließe sich über diesen Punkt manches Kapitel schreiben. „Die Hauptstadt", sagt Dupont White, „ist eine Macht neben den andern Mächten im Staate — sie ist im politischen Körper jene Lebenskraft, welche die Physiologen im menschlichen Körper nicht entdecken können, die sie aber erkennen als etwas Höheres und alle sichtbaren Funktionen Beherrschendes." — Dieser Einfluß der Hauptstadt entsteht aber nicht schon durch ein Dekret, durch welches eine Stadt zur Hauptstadt des Landes erhoben wird; wenn dieser Stadt die materiellen und moralischen Elemente fehlen, welche die Herrschaft über die Provinz sichern, sind sie der Stadt zuzuführen; vor Allem aber ist der neuen Hauptstadt die ge­ bührende Ehre nicht zu versagen; wenn man ein administratives Centrum in Berlin schaffen würde, so würde Straßburg neuer­ dings sinken und nie in den Stand gesetzt, vor dem Ober-Elsaß den Vorrang zu gewinnen und Lothringen anzuziehen. — Die Provinz ist ihrer Natur nach eifersüchtig auf die Hauptstadt; die Girondisten z. B. sprachen von einer Aristokratie der Hauptstadt, die noch unleidlicher sei, als die Aristokratie der Stände; was aber die Gemüther versöhnt und vereinigt, ist die Vaterlands­ liebe, die in der Hauptstadt das Symbol der nationalen Einheit erblickt. Berlin muß politisches Centrum bleiben; das Reichsland ist aber noch nicht reif und gar nicht in der Lage auch in anderen

71 Beziehungen in Berlin die Hauptstadt zu erblicken.

Doch wenden

wir uns zu näher liegenden Dingen.

Für die eingewanderten deutschen Industriellen und Handels­

leute wird es vor Allem nöthig werden, sich ihre Stellung durch Vertretung in der Handelskammer, den Gewerbegerichten u. s. w. künftig

auch im Gemeinderathe

aber

zu sichern.

Die früher

herrschenden Geschlechter werden dann mit der neuen Ordnung

der Dinge sich abfinden oder zurücktreten müssen;

das

ist der

Gang der Welt. — Ob nun der Hauptstadt Straßburg aus der Provinz und aus Deutschland das nöthige Kapital an Geld und

Intelligenz zufließen wird, das ist eine Frage, ckuf die eS vorerst

keine Antwort gibt.

erweiterung

Soviel

ist sicher,

daß

mit

der Stadt­

allein nicht geholfen sein wird; wenn nicht noch

Weiteres geschieht, sind sogar gewisse Bedenken ganz gerechtfertigt. Straßburg ist keine industrielle Stadt und wird es wohl schwer

werden, dagegen könnte es Mittelpunkt für manchen Handels­

zweig werden.

Es dürfte wohl nur eine Tarisresorm sein, durch

welche Straßburg so gut wie Mannheim zu einem Getreidedepot

für Süddeutschland gemacht werden könnte, wenn der Rheinkanal einst gebaut werden sollte; ein Kanal nach Lauterburg könnte auch viel holländischen Export abfangen.

Die Errichtung eines

Viehhofes in Straßburg, ähnlich wie in Berlin, würde zur Folge

haben, daß der bedeutende Export aus Deutschland und Oester­

reich-Ungarn nach Frankreich in Straßburg stationiren und von

den französischen Händlern aufgesucht werden müßte; der elsäßische Hopfenhandel könnte durch ein Syndikat in Straßburg geleitet

werden; Straßburg sollte ferner als Waffen- und Rüst-Platz mit allen militärischen Jndustrieen versehen werden, eine Unteroffiziers­ schule und seine Münzstätte wieder erhalten, wenn man nicht vor­ ziehen sollte, letztere in Metz wieder zu errichten.

Sollte die

Landesverwaltung sich der Tabakmanufaktur entäußern wollen, so könnte diese einer aus Straßburger Arbeiterkreisen zu bildenden

Genossenschaft übergeben werden.

Ein Polytechnikum und Kunst­

handwerksschulen würden sicher Schüler aus dem Lande sammeln. — Wenn ein Lagerhaus in Mannheim und Basel rentirt, warum

sollte eS in Straßburg nicht

rentiren?

Wenn aber Straßburg

als Hauptstadt das Land an sich ziehen soll, so soll es vor Allem

72 wirtliche Hauptstadt sein und nicht Sitz einer von Berlin aus bevormundeten Unterbehörde.

Wenn man überdenkt, was das Reichsland war, was es

zur Zeit ist und was ferner noch daraus werden soll, so dürfen wir weder den Gleichmuth über die im Lande bestehende Zer­

fahrenheit verlieren, noch die Hoffnung aufgeben, daß eS sich zum Besseren wenden, daß das Land für Deutschland gewonnen werden kann. —

Der alte Epiktet hatte Recht: das, was die Menschen er­ schüttert und durch einander rüttelt, sind nicht so fast die Er-

eigniffe selbst, als die Umgestaltung der Meinungen,

verbunden ist. land.

die damit

In diesem Stadium befindet sich noch das Reichs­

DaS mußte so kommen.

Es erklärt sich so, daß die Ver­

wirrung und Mißstimmung jetzt theilweise ärger ist, als 1871. DaS Land hat von Deutschland noch märchenhafte Begriffe, die sich noch läutern werden; seine Zukunft in Deutschland ist ihm

ein ungelöstes Räthel; dieses Räthsel muß gelöst werden, dann

wird sich auf natürlichem Wege die Sache bessern. —

Die Widerstandskraft des Landes

gegen das Eindringen

deutscher Anschauungen ist nicht unüberwindlich.

der

Widerstand nie

Vor Allem wird

eine religiöse Färbung annehmen; Elsaß-

Lothringen ist wie Deutschland selbst ein paritätisches Land, seine

Gesetzgebung macht den Erlaß von Kirchengesetzen überflüssig. Die Sitten sind nur in den Städten überwälscht, in den elsäßischen Dörfern

noch

kerndeutsch;

die

geschichtlichen deutschen

Ueber­

lieferungen sind nicht ausschließliches Eigenthum gelehrter Städter und sind besonders im protestantischen Landvolk noch recht lebendig;

die politischen Ueberlieferungen sind französisch und mit einer ge­

wissen Romantik überkleidet; die republikanische Idee hat aber das Landvolk noch viel weniger ergriffen, als man glauben sollte; sie hat erst wieder Nahrung durch die Vorgänge in Frankreich

gewonnen.

Die größte Widerstandskraft liegt in der durch die

73 Option, nicht minder aber durch die offenbar verfrühte Einführung der leichteren Auswanderungsnormen (deS Gesetzes vom l.Juni 1870

für Minderjährige unter 17 Jahren) geschaffenen unseligen Zer­

splitterung der Familien; die Gegenbewegung ist aber längst im Gange.

Den Elsäßer treibt das Heimweh immer wieder zurück;

auf die leichtsinnigen Optionen folgen nun Naturalisationsgesuche

Diese Erscheinung ist

in wachsender Anzahl.

wieder eine ganz

natürliche; die Getäuschten kehren zurück, diejenigen, deren ge­ schäftliche vermögensrechtliche oder Familienbeziehungen

stärker

sind als der Terrorismus der öffentlichen Meinung; eS sind Rene­

gaten, die sofort mit den französischen Hetzern in der Heimath in Konflikt gerathen werden. Der Sprung über die Grenze erfolgt

leichtsinnig, kopfüber; zurück kommt man einzeln mit Bedacht und

Ueberlegung, aus Leichtsinn aber so wenig, wie aus Demonstration. In Berlin scheint man derselben Ansicht zu sein; beim wie vor

einiger Zeit die Straßburger Zeitung gemeldet hat,

hat der

Reichskanzler bestimmt, zurückkehrende Optanten seien als einwan­ dernde Ausländer, nicht als zurückkehrende Deutsche zu betrachten

(was sie ja eigentlich sind), und seien, wenn sie das 27. Lebens­ jahr noch nicht überschritten haben sollten, der Ersatzreserve zu­

zuweisen; in Folge dieser Erleichterung haben sich die Naturali­ sationsgesuche erheblich gemehrt.

Mit Recht hat der Landesaus-

schuß die Landesverwaltung auf diese Gegenoption aufmerksam

gemacht und Erleichterung der Einwanderung verlangt; es sind keine Politiker, sondern meist kleine Leute, welche zurückkehren

und nicht immer freundliche Erinnerungen aus Frankreich heim­

bringen. Die

Anziehungskraft Deutschlands

auf

das

Reichsland

haben wir in Händen; die Wehrpflicht wirkt schon sehr merklich,

und was der Bevölkerung daran besonders gefällt, ist, daß Reich und Arm dienen muß.

Die Schule wirkt ruhig und stetig fort.

Große Erfolge sind schon auf begt Gebiete des höheren Schul­

wesens aufzuweisen.

Im Jahre 1871 betrug die Schülerzahl der

höheren Schulen (Gymnasien, Realgymnasien und Realschulen)

1086, worunter 694 Eingeborene;

1875 schon 5392, worunter

3554 Eingeborene; die Verpflanzung der Kinder in französische Schulen hat bedeutend abgenommen.

Was uns aber besonders

merkwürdig erscheint, ist die Verhältnißziffer der evangelischen

74 und

katholischen Schüler der höheren

Lehranstalten; während

80 Procent der Bevölkerung des Reichslandes katholisch sind und

nur 16,5 evangelisch, sind in diesen Anstalten etwa 3000 prote­ In ersterer Zahl

stantische und 2000 katholische Schüler.

sind

freilich die Söhne von Eingewanderten einbegriffen und letzterer kann man etwa 1200 in Frankreich studirende junge Leute zu­

rechnen.

Der Berfaffer des unten citirten Artikels meint, die

prot.stantische Bevölkerung

Intelligenz; sie gewinne

besitze

schon

aber auch

da- Uebergewicht der

sichtlich den bedeutendsten

Einfluß auf die Geschicke des Landes; mit anderen Worten: die

Elemente, welche sich deutschem Wesen am schnellsten

anschließen

werden, sind auch schon im Begriffe, den Vorrang zu erwerben.

Ganz besonders aber wünschen wir der Regierung Glück, daß sie die Realschulen zu den höheren Unterrichtsanstalten rechnete***

und in dem Kampfe der humanistischen gelehrten Bildung gegen die moderne bürgerliche Bildung richtig Stellung genommen hat.

Die Realschulen sind Kinder der Gegenwart; in Deutschland be­

streitet man ihnen noch gerne die Ebenbürtigkeit, und doch sind sie berufen, die gähnende Kluft zwischen gelehrter und bürgerlicher Bildung zu überbrücken.

Tiefer, als man in Deutschland ge­

meiniglich glaubt, ist in Frankreich das Gefühl der Gleichberech­ tigung aller Klaffen der Gesellschaft in das Volk gedrungen; da­

sind nicht demokratische Theorien — das ist längst in Sitte ver­

wandeltes Gesetz.

Die uns Deutschen geläufigen Scheidungen

zwischen Ständen und Berufsarten achtet der Elsaß-Lothringer noch weniger, als der Pfälzer und der Rheinländer, und diesem

Bewußtsein von der Fähigkeit eines Jeden

auch auf unregel­

mäßigen Wegen jede gesellschaftliche Stufe zu erreichen, trägt die Stellung der Realschulen Rechnung, welche überdieß der ober­

flächlichen Durchschnittsbildung der französichen Colleges und 6coles libres und dcoles professionnelles

ein höheres Ziel weisen.

Damit wird die Hierarchie her Intelligenz, deren Abwesenheit

E. Girardin beklagt, entschieden gebessert. — Durch diese Schulen

* Zeitschrift für Gymnasialwesen 1876. 3. Heft.

Da» höhere Schul­

wesen in Elsaß-Lothringen von Reg.-R. Dr. Baumeister.

** Verordnung de» Reichskanzler» vom 10. Juli 1873 zum Schulgesetze vom 12. Fedr. 1873.

75 sollen die Landeskinder auch zum Staatsdienste herangezogen

werden; man beginne mit Subalternstellen, die doch auf die Dauer nicht durch Nachschub aus Deutschland besetzt werden können.

Will das deutsche Reich Elsaß-Lothringen gewinnen, so muß

vor Allem auf dem Gebiete deutscher Handelspolitik und Handels­

gesetzgebung gewirkt, und mit drakonischen Artikeln gegen die Un­ solidität im Verkehr gewirkt werden.

Eine deutsche Kultur, wenn

sie nicht eine bloß gelehrte sein soll, bedarf als Grundlage eines

deutschen Wohlstandes — und der muß vorbereitet werden. Im Sonstigen aber möge man jederzeit bedenken, daß die

Einführung deutscher Gesetze an sich noch nicht assimilirend wirkt; eine kluge Enthaltsamkeit ist da sehr am Platze; soweit das

deutsche Interesse nicht im Spiele ist, möge man abwarten. — DaS öffentliche Leben ist noch immer zerstört und verwüstet,

und muß von unten auf wieder construirt werden; man muß bei der Gemeinde beginnen; man räume der Gemeinde das Recht

ein, ihren Bürgermeister zu wählen, und behalte der Regierung das

Bestätigungsrecht vor; das sieht gefährlich aus, ist «S aber in der That nicht; die Thätigkeit der Kreisdirectoren wird dadurch

erheblich erleichtert werden;

die Regierung muß immer, so viel

möglich, Odium von sich abwälzen; ein Bürgermeister der seinen

Wählern und nicht einer Coterie verantwortlich ist, wird in Gemeindeangelegenheiten dem

stehen.

Ein Kreisdirektor,

allgemeinen Jntereffe immer

näher

der einem mißliebigen Bürgermeister

zur Schärpe verhalfen hat, setzt seinen ganzen Einfluß auf'S

Spiel; er ist falsch berichtet worden, oder er hat sich persönlich geirrt und die Gefahr liegt sehr nahe, daß er diesen Irrthum

ignorirt; die Gemeinde wird dann keine Gelegenheit versäumen, mit dem Kreisdirektor ein Hähnchen zu pflücken.

Diese Erwägung

hat sogar das zweite Kaiserreich bestimmt, die Bürgermeister nun­

mehr aus dem Gemeinderathe zu nehmen. Der oben erwähnte Präfekt Paul Cöre gesteht selbst zu, daß die Lokalintriguen gerade da besonders üppig in's Kraut schießen, wo der Bürgermeister der Gemeinde nicht behagt. — Die Oeffentlichkeit der Sitzungen würde

das allgemeine Interesse in hohem Grade beleben. die Wahlperiode und

Man kürze

lasse in größeren Gemeinden neben dem

Gemeinderathe noch Gemeindebevollmächtigte wählen, welche den Rath controliren. — Ist einmal das Jntereffe an öffentlichen An-

76 -elegenheiten in Bewegung gekommen, so brauchen wir uns auch nicht mehr der Befürchtung hinzugebeu, welche Guizot aus franzö­ sischen Erfahrungen schöpfend ausgesprochen hat, das Gefühl der Berantwortlichkeit sei nur ein individuelles, es gehe verloren, wenn eS sich theilen müsse; in einem Kollegium wie ein Gemeinde­ rath oder Kantonalausschuß werde es nie recht lebendig werden. — Ist dann dieser Versuch gemacht, so warte man erst die zu gewinnenden Erfahrungen ab. —

Man kann sich der Ueberzeugung nicht verschließen, daß diese Neuconstruirung des öffentlichen Lebens schließlich zu einem kräftigen PartikulariSmuS führen muß. — Das ist ein Durch­ gangsstadium, welches nicht zu vermeiden ist. Bevor wir in dem Lande das Gefühl der Zusammengehörigkeit mit dem deutschen Reiche erwecken können, müssen wir erst daS Gefühl der Landes­ angehörigkeit in den einzelnen Theilen deS Landes in'S Leben rufen. — Darauf schien man früher gefaßt; der Reichskanzler hat diese Entwicklungsstufe als Etappe zum Deutfchthum begrüßt; zu diesem Zwecke hat man den LandeSauSschuß eingesetzt und kürzlich die Erweiterung seiner Befugnisse in Aussicht genommen. Und doch hört man jetzt Stimmen, welche dringend mahnen, die ersten auf­ sprießenden Keime so rasch als nur möglich wieder in den Boden zu stampfen. — Man hat gesagt, ein solcher PartikulariSmuS dürfe nicht groß gezogen werden, weil dadurch ein Präjudiz für die künftige Gestaltung deS Reiches geschaffen würde, die Theorie eines loosen FörderativsystemeS könne dadurch neue Nahrung gewinnen, und in der That — man darf das nicht übersetzen — es könnten sich mit der Zeit auch noch andere autonome ReichSländer ergeben, z. B. Braunschweig. — Vergleichen wir jedoch mit dieser deutschen Auffassung eine französische, d. h. den Borwurf, den die Protestmänner den Auto­ nomisten im LandeSauSschuß gemacht haben, als Vertretung des Lande- im BundeSrathe verlangt wurde. Der französische Patriot, so hieß es, in Straßburg wie in Paris, dürfe den durch

77 den Friedensvertrag geschaffenen Zustand ander- nicht denn alInterim betrachten; durch die Autonomie aber würde dieser Zu» stand staatsrechtlich festgestellt und so völkerrechtlich sanktionirt; gerade der Ausnahmszustand des Reichslandes, daS Unterthan des Reiches sei, müsse festgehalten werden, um dieses Interim dar» zustellen; mit der Autonomie aber wäre daS europäische Völker­ recht befriedigt, weil sich die Bevölkerung selbst mit den Ereignissen zufrieden gegeben. — Wir werden auf die Versöhnung zwischen beiden Auffassungen noch zurückkommen und wollen uns zunächst mit der admini­ strativen Centralisation in Berlin beschäftigen.

Alle Kundgebungen für eine Centralisation in Berlin sind bisher auS Berlin oder aus Beamtenkreisen gekommen, und da­ dürste vorsichtig stimmen. Man glaubt jetzt, eS müsse nach fran­ zösischem Muster und zwar in Berlin centralifirt werden, um daBewußtsein der nationalen Zugehörigkeit herauSzubilden. Ein unglückseliger Irrthum! Man hat diese Ansicht damit begründet, die Bevölkerung sei einmal feindlich gesinnt und könne nur durch die Gewalt an das deutsche Reich gefesselt werden. Gegen so allgemeine Vorwürfe müssen wir da- Land in Schutz nehmen. Verschwörer sind die Elsäßer und Lothringer nicht. Früher diente allerdings die Centralisation dazu, das Ge­ fühl der nationalen Zusammengehörigkeit immer lebendig zu er­ halten ; diese nationale Einheit existirt aber nicht mehr und läßt sich zu Gunsten Deutschlands nicht durch Centralisation ersetzen. Bei aller Bedeutungslosigkeit der Provinz hatte diese doch immer daS Bewußtsein, daß sie den andern Departement- nicht nach­ stehe. DaS Reichsland aber wird zur Zeit von den deutschen Stämmen im Reichstage und im BundeSrathe von den deutschen Fürsten regiert. Der Reichsländer ist nicht Bollbürger, sondern Deutscher zweiten RangeS, er ist Unterthan de- Reichs. Daran hat die Einführung der ReichSverfaffung und die Vertretung der Elsaß-Lothringer im Reichstage nichts geändert; der Reichsländer mag in Reichsangelegenheiten mitsprechen; der Reichstag ist aber auch Landtag für Elsaß-Lothringen und da sitzt der reichsländische

78 Abgeordnete neben College», die Herren und Gebieter des Landes sind, das er mit ihnen vertritt. — Das Gefühl der Zusammen­

gehörigkeit kann erst mit dem Bewußtsein der Gleichberechtigung entstehen.

Die Centralisation in Frankreich hat die Freiheit ge-

tödtet, die Gleichheit aber aufrecht erhalten.

Eine Centralisation

für daS Reichsland in Berlin würde aber nur die Ungleichheit

schroffer aussprechen.

Das ist der Unterschied zwischen der Cen­

tralisation in Paris und einer solchen in Berlin.

Dieser Unter­

schied ist aber so erheblich, daß man füglich sagen kann, die Cen­

tralisation in Berlin würde alle jetzt eingetretenen Folgen der Decentralisation, die ganze Haltlosigkeit und Zerfahrenheit der öffentlichen Meinung in Permanenz erklären, ohne dafür eine

Remedur zu bieten. — Die Stimmen für ein Ministerium in Berlin traten an­

fänglich fast schüchtern und mit jener tastenden Zaghaftigkeit auf, welche die

öffentliche Meinung erst befühlen will; gleichzeitig

sprach sich der Landesausschuß fest und bestimmt gegen

solche

Vorschläge aus; unmittelbar darauf erfolgte die Abtrennung der früheren Abtheilung von Elsaß-Lothringen vom Reichskanzleramte

und die Ausstattung des Dirigenten mit der Befugniß der Stell­ vertretung des Reichskanzlers als Unterstaatssekretär.

Auf dieses

hin wurde die Tragweite dieser Maßregel in Berliner Blättern abgeschwächt, während man gleichzeitig in anderen Blättern mit der Ansicht, Regierung und Verwaltung müßten in Berlin cen-

tralisirt werden, immer offener hervortrat.

Dann kam der Etats­

entwurf über die Reichsbehörden, wodurch, wie die erläuternde Denkschrift sagt, eine unter der Verantwortlichkeit des Reichs­ kanzlers stehende, selbstständig organisirte oberste Behörde für die

Landesverwaltung mit dem Sitze in Berlin gebildet würde.

Als

nun die elsäßische Presse auf die neue Gefahr hinwies, antwortete die „Prov. Corresp.": an der Landesverwaltung wie der Stellung

und den Befugnissen des Oberpräsidiums als höchster Landesver­ waltungsbehörde würde nichts geändert und die „Norddeutsche All­ gemeine" bezeichnete die Thätigkeit eines NeichsamteS in Berlin als

Regierung, der Behörde in Straßburg als Verwaltung. — Man mag

von solchen staatsrechtlichen Anschauungen halten was man lvill, so­ viel geht aus diesem schrittweisen Vorgehen und den verschleierten Be­

griffsbestimmungen unzweifelhaft hervor, daß man in Berlin leb»

Tti hast wünscht, Verwaltung und Regierung deS Reichslandes in die Hauptstadt des Reiches zu ziehen.

Das Mittel: unhaltbare Zu­

stände schaffen, um die Nothwendigkeit einer weiteren in Aussicht

genommenen Reform von selbst entstehen zu lassen, ist nicht neu. Jetzt schon besteht ein Zustand, in welchem, um mit Guizot zu

sprechen, „kein Ding an seinem Platze und nicht Platz für jedes Ding da ist." —

ES ist schon schwer, sich zwischen dem Oberpräsidenten von Elsaß-Lothringen, der politischer Beamter sein muß, und dem Reichskanzler einen vermittelnden Bureaudirektor zu denken; noch undenkbarer aber

ist

zwischen Beiden

ein

vermittelnder poli­

tischer Beamte; ein Drittes aber gibt es nicht.

Run hat man öffiziös gesagt, ein ReichSamt für ElsaßLothringen in Berlin müsse zwischen dem Reiche und der LandeS-

verwaltung vermitteln.

Das hieße also daS Reich bedarf einer

Behörde, welche controlirt,

daß zwischen den Interessen deS

Reiches (als Bundesstaat) und der Landesverwaltung (die der

Kaiser durch seinen Reichkanzler ausübt) keine Conflikte entstehen. Diese Behörde soll das ReichSamt sein.

DaS ReichSamt selbst

aber, dessen vom Reichskanzler übertragene Befugnisse ministerielle

wären, wäre wohl subjektiv eine Reichsbehörde, objectiv aber (nach Zweck und Inhalt) eine Art von Landesministerium; es würde also eine Behörde, deren Thätigkeit in der Landesver­ waltung bestehen

würde,

nebenbei

eine Vermittlung zwischen

Landesverwaltung und Reich übernehmen. Oder soll sie die Vermittlung übernehmen, zwischen dem Oberpräsidium als oberster

Landesverwaltungsbehörde und dem Reichskanzler als verant­

wortlichem Minister; dann wäre es keine Vermittlung mit dem

Reiche. Eine Vermittlung zwischen dem Reichskanzler als solchem, und dem Reichskanzler als Landesminister durch eine solche Be­

hörde ist ganz unfaßlich.

Wenn «ine Vermittlungsbehörde beab­

sichtigt ist zwischen Reich und Landesverwaltung, so ist sie höher zu verlegen, nämlich zwischen daS Reich und den Reichskanzler, alS Minister für Elsaß-Lothringen.

Wäre der Reichskanzler nicht

Minister für Elsaß-Lothringen, so wäre die gesuchte Behörde, gerade der Reichskanzler

oder ein Unterstaatssecretär desselben,

der aber an der Landesverwaltung selbst unbetheiligt sein müßte.

Ein Reichsministerium in Berlin war schon einmal in Aus-

80 sicht genommen, 1871, als zur Zeit der Abberufung des Civil-

commiffärS die Abtheilung für Elfaß-Lothringen im Reichskanzler­ amte gebildet wurde; diese Behörde sollte wohl in ähnlicher Weise

organisirt werden, wie es später der Reichskanzler im Reichstage mit ein paar flüchtigen Strichen skizzirt hat — ein Ministerium,

dessen Chef dem Reichskanzler und so mittelbar dem Kaiser ver­ antwortlich wäre. Man ist aber damals zur Einsicht gekommen,

daß ein

Ministerium nicht nur regieren, sondern auch verwalten müsse,

daß eben daS Land besser im Lande selbst verwaltet werde,

wie

die Motive zum Gesetze vom 30. December 1871 es deutlich aus­ gesprochen haben.

Jetzt stellt man die Unterscheidung zwischen

Regierung und Verwaltung auf, regiert müsse in Berlin werden, verwalten könne man in Straßburg.

Diese Unterscheidung

be­

weist, daß wir noch nicht vor einem durchdachten zur Ausführung reifen Projekte, sondern vor Wünschen stehen, für welche noch nicht

einmal die richtigen Worte gefunden sind; kein Theoretiker, und kein Praktiker wird für eine solche Scheidung der Befugnisse eine erschöpfende Kasuistik aufstellen können.

In dem RegierungSent-

wurfe zum DecentralisationSdekrete vom 13. April 1861 ist etwas

Aehnliches gesagt: Regieren kann man aus der Entfernung, ver­

walten nur in der Nähe; es ist dies ein Gegenstück zum bekannten

Unterschiede zwischen r6gne und gouvemement. Das sind alles Phrasen — nichts weiter. Regierung und Verwaltung sind unauSscheidbare Begriffe. Das beweist recht lehrreich die Haltung, welche das französische Ministerium jenem Dekrete gegenüber ein­ genommen hat und wovon wir schon gesprochen.

Ein hervor­

ragender Pariser Jurist meinte damals, nach dem Stande der französischen Gesetzgebung sei die Unterscheidung zwischen Regierung

und Verwaltung mehr subtil als reell; diese Scheidung der Ge­ walten erfinde der menschliche Geist, um diese Frage, indem er

sie theile, leichter zu lösen; daraus könne nur Confufion ent­ stehen; es verhalte sich damit ähnlich, wie mit der Unterscheidung

zwischen Civil- und Handelsrecht. —•

Diese Ministerialfrage hat wohl ihren ersten EntstehungSgrund in dem Wunsche des Reichskanzlers, von seiner riesig großen Verantwortung entlastet zu werden.

Würde der Reichskanzler

jetzt mehr in den Hintergrund treten,

so wäre dies um so mehr

81 zu bedauern, als die Geschicke des Reichslandes mit der Per« sönlichkeit des Reichskanzlers sozusagen geschichtlich verwachsen sind. ES sind wohl zunächst geschäftliche Rücksichten gewesen, welche zur Trennung der Abtheilung für Elsaß-Lothringen vom ReichSkanzleramte geführt haben; damals aber war schon voraus zu sehen, daß zwischen dem überlasteten Reichskanzler als dem dem Kaiser verantwortlichen Minister und der höchsten Landesbehörde in Straßburg immer ein Büreau sich werde einschieben müssen, sei eS ein Ministerium, sei es ein Reichsamt; mit einer solchen Organisation läßt sich von Berlin auS wohl eine längst vereinigte preußische Provinz, aber nicht das Reichsland leiten. Das Gefühl der Unhaltbarkeit solcher Zustände hat den Landesausschuß bewogen, die bekannten Wünsche auszusprechen. Wenn dabei in der Versammlung hin und wieder das Wort Ministerium für eine Verwaltungsbehörde in Straßburg gefallen ist, so lag eben gerade kein anderes Wort zur Hand. Das Land wünscht einfach, daß man bei der Ein­ richtung stehen bleibe, welche das Gesetz vom 30. December 1871 geschaffen und daneben der Landesbehörde weitere Verwaltungs­ befugnisse übertrage, die in der That in Berlin nicht immer durch Organe des Reichs auSgeübt werden können. Die Staat-Handbücher weisen z. B. keine Techniker in der Abtheilung für Elsaß-Lothringen auf und doch werden nothwendig technische Fragen durch sie entschieden; da mag noch eine Anleihe bei der Ver­ waltung der Reichseisenbahnen gemacht werden; in Forstsachen aber, die dem Reichskanzler vorbehalten sind, und in Bergwerks­ sachen hilft man sich, wie in Kreisen von Reichstagsabgeordneten verlautet, indem man sich Hilfeleistung beim preußischen Finanz­ oder Handelsministerium ausbittet. Das sind doch offenbar keine gesunden Zustände. Vor der Bildung einer „obersten Landesverwaltungsbehörde" in Straßburg, welche „dem Reichskanzler unmittelbar unter­ geordnet" worden, bestand im Reichs-Kanzleramt eine Abtheilung für Elsaß-Lothringen, welche dazu bestimmt gewesen zu sein scheint, eine Art Ministerium zu werden. Diese Abtheilung hätte mit dem Gesetze vom 30. Dezember 1871 folgerichtig verschwinden sollen; denn wenn der Oberpräsident von Elsaß-Lothringen als alter ego des Reichskanzlers gedacht werden muß, dem die nicht vorbehaltenen Angelegenheiten übertragen sind, so besteht kein GeElsaß-Lothringen. 6

82



setz, wonach solche nicht vorbehaltene Angelegenheiten einer Ab­

theilung für Elsaß-Lothringen übertragen sind, für deren recht­

liche Existenz höchstens

keine Zuständigkeit begründet. ein Bureau

der aber

ein Etatstitel aufzuführen ist,

Nun kann der Reichskanzler ohne

nicht gedacht werden.

Was aber diesem Bureau

sofort den Charakter einer mit Aufsichtsrechten

und Initiative

versehenen Behörde verleiht — ist die geschäftliche Fiktion der Vertretung, welche z. B. ein Richter kaum anerkennen würde, der eine Urkunde prüfen

kanzlers

bedarf.

Würde

soll, die der Unterschrift des Reichs­

nun

gar

der

Bureaus unter eigener Firma zeichnen,

vollständig verwischt;

son

des

der Proceß wodurch

Reichskanzlers

losgelöste

Chef

eines

solchen

so wäre diese Fiktion eine von

der Per­

Zwischenbehörde

geschaffen

wird, wäre fertig, d. h. aus dem Reichsamt für Elsaß-Lothringen

wäre thatsächlich das gemacht, was man 1871 daraus zu machen unterlaffen, wofür man vielmehr eine oberste Landesverwaltungs­

behörde in Straßburg geschaffen hat. Man muß geradezu glauben, die Abtheilung für Elsaß-Lothringen habe sich immer schon für

eine verwaltende Zwischenbehörde gehalten, wenn man versichern

hört, eine Neuerung würde durch die Bildung eines Reichsamtes nicht eintreten, welches zwischen Landesverwaltung und Reichs­

kanzler vermitteln soll. — Gewisse Aeußerungen im LandesanSschuß scheinen deutlich darauf hinzuweisen, daß die Sachlage nach den Gesetzen vom 9. Juli und 30. Dezember 1871 so aufzufassen

wäre: La loi change — les bureaux restent. Man hält es im Lande platterdings für unmöglich, daß

sich das Reichsland und eine ministerielle Behörde in Berlin in die Landesverwaltung theilen und verständigen könnten.

Straß­

burg und Berlin liegen weit auseinander, so weit — man gestatte

den Vergleich — wie die beiden Taillenknöpfe John Websters, von welchen

Boz Dikens

klagte,

sie

feien wie durch stillen Zwist

getrennt, dermaßen weit von einander abgestanden, daß man sie

beide mit einem Blicke nicht zu übersehen vermochte, zweimal

Hinsehen

mußte,

wodurch

sondern

das Auge des Beschauers

ermüdet und sein Gemüth verstimmt wurde. — Ein nicht zu unterschätzender Faktor in der Politik ist das Mißverständniß; es entsteht zwischen Regierung und Volksver­

tretung, wie zwischen Behörden und Untergebenen — und wird



83

es nicht sofort ausgeglichen, so sind die

schlimmen Wirkungen

unausbleiblich; Irrthümer müssen rechtzeitig erkannt, freimüthig

eingestanden und unmittelbar wieder gut gemacht werden, sonst würden sie zu einer Quelle von Verstimmung und Fehlgriffen; ist einmal die Verstimmung da, so untersucht man nicht mehr,

ob sie Berechtigung hat, sondern man handelt in der Verstimmung weiter.

Jede Regierung wird zunächst die Richtschnur für ihr

Verhalten ihren Ueberlieferungen entnehmen und davon erst ab­ gehen, wenn sie maßgebende Erfahrungen aus der Volksvertretung,

der Presse oder den Parteien gewonnen haben wird; wenn aber

die Reichstagsabgeordneten nicht nach Berlin gehen, die Partei­

bildung sich nicht vollzieht, die Presse haltlos ist, so wird die Regierung wohl in Zwischenräumen Anlauf zu einer Verständigung nehmen, in der Regel aber wieder zu ihren Ueberlieferungen zu­

rückkehren — und mit ihr die Behörden. — Das fürchtet man

im Lande, welches nicht unter dem schweren Uebel leiden will, das Kaiser Nicolaus I. den Fluch der Entfernung genannt hat.

Mit der Ruhe, die zu einer stetigen Entwicklung der Dinge gehört,

wäre es wieder einmal vorbei.

würden unmittelbar entstehen.

Die Mißverständnisse

Das wieder erwachende Leben im

Reichslande wird sofort einen scharfen Charakter annehinen, weil

viel alter Haß der Parteien zu Tage gefördert werden wird; die Elemente eines heißen Parteikampfes sind vorhanden; vielleicht wird auch der Klerus seine zuwartende

die Action

eintreten.

Das Land

Stellung verlassend in

bedarf während dieser Zeit

einer starken, aktionsfähigen, aus objectiver unmittelbarer An­ schauung ihre Motive schöpfenden, von persönlichem Vertrauen

getragenen leitenden Behörde im Lande selbst, die ihren Rückhalt

im Landesausschuß suchen muß, einer Behörde, deren Beruf ist, unter unausgesetzter

Aufmerksamkeit eine

Minorität zu

führen. Glaubt man etwa, daß eine solche Minorität durch engere Verbindung mit Berlin erstarken würde? Dies wird schon aus dem Grunde unmöglich sein, weil die Partei, welcher Deutsch­ land den Sieg wünschen muß, sich würde nachsagen lassen müssen :

man will in Berlin nichts von euch wissen, sonst hätte nicht die

Regierung, eure Wünsche mißachtend, ein Reichsamt in Berlin geschaffen.

Die Partei würde dann ohne Programm sein; der

LandeSausschuh würde

zu der Bedeutungslosigkeit herabsinken,

6*

84





aus welcher so mancher Teutone ihn so ungerne herauswachsen

sieht. — Die erste Frage, die einem Resormprojecte entgegenzuhalten Besteht für die Reform eine zwingende, ge­

ist, ist immer die:

bieterische Nothwendigkeit?

Wir fragen nun, welche zwingenden Gründe bestehen dafür, dieses aus guten Gründen schon einmal verworfene Projekt einer Centralisirung in Berlin wieder hervorzuholen, und neuerdings

vorzuweisen?

Wenn man uns sagt, die Bestrebungen des Landesausschusses sind unbequem, weil sie zur Entscheidung unreifer Fragen drängen

und die Reichsregierung in die Lage bringen, in einem unge­ eigneten Augenblicke eine für die ganze Gestaltung der Reichs-

verfassung bedeutungsvolle Frage zu lösen, so ist daS zwar poli­ tisch gedacht, und so wird es begreiflich, daß das kräftige Wachs­ thum deS LandeSausfchuffeS

mit mißgünstigen Augen betrachtet

wird; eS ist unter Umständen klug, Wasser in den Wein zu gießen, die unmittelbare Folgerung wäre aber die: so lasse man eben den gegenwärtigen Zustand bestehen.

Es herrscht zur Zeit in der

Berliner Presse eine eisig kühle Temperatur in Angelegenheiten

Wir sind mitten in jener Atmosphäre von

deS Reichslandes.

Mißverständnissen, wovon wir gesprochen. Welcher Abstand zwischen den officiellen Actenstücken von 1871 und jetzt! Was hat sich im Lande geändert? lich eingetreten;

Diese Temperatur ist nicht plötz­ nur eine von langer

diese Stimmung kann

Hand vorbereitet«

sein und

wird

fortwährend genährt durch

die Schmerzensschreie in der deutschen Presse, daß gegen dieses widerspenstige Volk

nicht strammer vorgegangen werde!

Man

ist nicht müde geworden, in Berlin Pessimismus zu predigen;

man stellt die Fortsetzung der bisherigen Annäherungsversuche als eine Gefahr für die deutsche Sache hin; die richtige Form für diese Aenderung des Standpunktes sei gefunden, wenn man die

Leitung der Dinge wieder nach Berlin ziehe! Wir wollen über diesen Gegenstand eine Aeußerung aus

angesehenen einheimischen Kreisen bringen, die uns

recht

be-

achtenswerth scheint: .... „Zugegeben — augenblicklich würde

die Autonomie im Reichslande unabsehbare Verwirrung schaffen — die Besten im Lande sehen das ein — nur der römische

85 Klerus würde Nutzen daraus ziehen; ein Ministerium in Berlin aber

würde

neben

einer ähnlichen Verwirrung überdieß

eine

allgemeine Abneigung schaffen, der man doch auS dem Wege gehen sollte.

Ein so hell

und weit sehender Staatsmann

wie

der Reichskanzler, deffen hervorragendste Eigenschaft die ist, daß er mit den Doktrinären und Bureaukraten nicht-

gemein hat,

wird auch von Berlin aus'immer daS Nichtige finden; er scheint aber fast sein früheres Wohlwollen für das Reichsland nicht mehr

zu befitzen.

Wer stellt sich zwischen ihn und uns?

Sehen Sie,

was wir hier im Lande fürchten, instinktiv fürchten, das sind die

Traditionen der Bureaukratie in Berlin. Wir haben eS als Franzosen sattsam erfahren, was es heißt, wenn Zukunft und Entwicklung eines

Landes immer vom Gelingen oder Mißlingen der ehrgeizigen Intri­

guen eines Thronprätendenten abhängen; wir würden uns aber un­ säglich degradirt fühlen, wenn unsere Zukunft nunmehr abhängig sein

sollte von der Lösung hierarchischer Fragen, wofür wir weder Herz noch Verständniß haben können .... Wir wollen den Reichs­

kanzler nicht drängen, die 1871 gegebenen Versprechen zu erfüllen; dazu ist die Zeit noch nicht gekommen; aber ein Ministerium in

Berlin würden wir als Zeichen auffaffen, daß wir keiner erträg­ lichen Zukunft entgegen gehen.

Was würde daraus entstehen?

Magnae irae sileniium ....

Wir hätten wieder statt eine-

Landes drei Departements; wir kämen wieder in die Periode der Maffendemissionen; all' die wackeren Leute, die dem TerroriSmuS der einfältigen Protestmänner Trotz geboten, wären com-

promittirt und unmöglich, weil man sie in Berlin verspottet; bei den nächsten Wahlen könnte man die Kandidaten einige Bildungs­

Doch, so weit wird es wohl nicht kommen. Bismarck ist ein guter elsäßischer Patriot; er weiß, daß der stufen tiefer suchen.

unzufriedene Elsäßer ein schlimmer Partikularist sein wird, der zufriedene Elsäßer aber nur so weit, als daS Reich eS erlaubt...

Ich hoffe noch das Beste..

Und das mag das ganze Reichs­

land hoffen; auf diese düsteren Anschauungen sind wohl die jüngst von der Revue britannique gebrachten Betrachtungen über „die

Naturgeschichte der Geheimräthe" nicht ohne Einfluß geblieben.

88 Wir sind offenbar mit dem „Reichsland" in eine Sack gaffe gerathen. Man kann unmöglich dem Reichslande als letzte Antwort sagen: Ein Reichsamt oder Ministerium in Berlin ist nothwendig, weil wir die Frage der Verantwortlichkeit noch nicht lösen können; man kann ebenso wenig sagen: die Autonomie ist unmöglich, kann also auch für gar keinen mit unbewaffnetem Auge ersichtlichen Zeitpunkt in Aussicht gestellt werden. — Es ist richtig, daß die Gewährung der Autonomie und Reichsmitgliedschaft für das Reichsland ein juristischer Gräuel wäre, welcher in die Ver­ fassung eine ähnliche Verwirrung bringen würde, wie eine Heirath unter Verwandten in die Verwandtschaftsgrade. Der Politiker muß sich aber gleichwohl die Frage stellen, was soll und kann aus diesen Verhältnissen werden; er darf nicht am Boden der Thatsachen haften bleiben, wie der Jurist, der ein Hüter des Bestehenden ist; er muß ein wenn auch fernes Ziel sich wählend, prüfen, ob dieses des Erstrebens würdig und erreichbar ist. In der Wahl dieses Zieles muß er sich bestimmen lassen durch die öffentliche Meinung und durch die Staatsräson, zwischen welchen Vermittlung zu suchen ist. Der Ausgangspunkt, das Reichsland sei jetzt schon als ein den übrigen Bestandtheilen des deutschen Reiches gleichgeartetes Gebilde zu betrachten, eine Art Staat, ein Bundesglied, welchem Vertretung im Bundesrathe zukomme, ist ein irrtümlicher; die darauf gegründeten staatsrechtlichen Ausführungen leiden noth­ wendig an logischen Verrenkungen. Dabei aber dürfen wir nicht stehen bleiben. Die Unhaltbarkeit des staatsrechtlichen Zustandes, in welchem sich das Reichsland dermalen befindet, macht sich immer mehr geltend. Das Reichsland ist ein eigenartiges geschichtliches Ge­ wächse, ein Produkt politischer Verlegenheit; in den Rahmen der Reichsverfaffung ist es schwer einzuzwängen; wir dürfen aber nicht für unausführbar halten, was augenblicklich unausführbar scheint. Schon einmal haben wir in der kurzen Geschichte des Reichslandes erlebt, daß die öffentliche Meinung mit einem Ge­ danken sich abgefunden, mit welchem sie sich kurz zuvor nicht vertraut hatte machen können. Stärker als die Theorie ist die Macht der Verhältnisse. Als das Reichsland dem Reiche ein­ verleibt worden, hielt man es für unmöglich die Reichs-

87 Verfassung

einzuführen,

dadurch

weil

Aenderungen

bezüglich

des Bundesrathes nothwendig geworden wären, und weil man

selbst

die

Zulassung

von

Elsäßern

mit konsultativem Votum

für bedenklich hielt; ein paar Jahre darauf hat man die Ver­ fassung eingeführt ohne Vertretung des Reichslandes im Bundes­

rath — wie in Lauenburg — und das entsprach den Verhältnissen wie sie eben lagen.

Das durch den Gesetzentwurf über die Landesgesetzgebung projectirte unmittelbare Zusammenwirken des LandeSausschufles mit dem Bundesrath wird als Endergebniß die Ueberzeugung von

der

Entbehrlichkeit

des

als

Bundesrathes

gesetzgebenden

Faktors haben, wie die Ueberflüssigkeit des Reichstages in der

Landesgesetzgebung sich schon ergeben hat.

Denn

wenn

schon

der Reichstag, in welchem daS Land vertreten ist, bei Seite ge­ setzt werden kann, um wie viel mehr der Bundesrath, in welchem

daS Reichsland nicht vertreten sein kann. Der Landesausschuß und der Bundesrath sind so heterogene

Elemente, daß ihr Zusammenwirken als gesetzgebende Faktoren

aus

die Dauer nicht bestehen kann.

Wie der Landesausschuß

durch die unmittelbare Beziehung zum BundeSrath den Charakter einer wirklichen

Volksvertretung,

eines Landesparlamentes ge­

winnen wird, wird das Bedürfniß entstehen, die Staatsraths-

befugnifle des Bundesrathes

einer vom Kaiser gebildeten und

vom Kaiser durch Kommissare beschickten Kommission als Staats­

ratb für Elsaß-Lothringen zu übertragen. — Bundesrath und Reichstag

aus, so

sind kann

untrennbar zu

denken;

tritt

der andere nicht bleiben;

der eine Faktor

durch den

Entwurf

aber würden die legislativen Befugnisse des Reiches den deutschen Fürsten und freien Städten einerseits und dem Landesausschuß ander­

seits übertragen; das deutsche Reich würde seine Rechte dem deutschen

Stamme in Elsaß-Lothringen, noch mehr aber — wie die Sachen stehen — der Regierung übertragen, da der Landesausschuß eben kein Parlament ist. —

Sollten also Reichstag und Bundesrath, die dem Reichs­ lande als Gevatter zur Seite standen, zurücktreten — wir sind

in diesem Fahrwasser — so wäre die Autonomie unausbleiblich.

Run wäre aber ein autonomes Reichs land als Parti­ kularstaat nach unserer Reichsverfassung unmöglich, da das Reich

88 nicht zugleich Mitglied des Reichs als Souverän

von Elsaß-

Lothringen sein kann; eine Abänderung der Reichsverfaffung zu Gunsten eines autonomen Reichslandes wäre nicht nur schwierig,

sondern würde den Charakter

des Bundesstaates

empfindlich

alteriren. — Auf ewige Zeiten aber werden wir dem Reichslande die

Autonomie nicht versagen können, wenn fie auch zur Zeit staats­

rechtlich unmöglich und überdieß verfrüht wäre.

An den Grund­

vesten der Reichsverfassung dürfen wir nicht experimentiren — — wir müssen daher eine andere Lösung suchen. Durch den Entwurf über die Landesgesetzgebung find die

Dinge in eine rückläufige Bewegung gebracht, die aber nicht aus der Abficht einer Rückkehr, sondern im Gegentheile aus der Ab-

stcht entstanden ist, das Land auf der Bahn der Selbstverwaltung weiter

zu

führen.

Würden Landesausschuß

und

Bundesrath

legislative Faktoren, so wären wir ungefähr auf demselben Stand­ punkte wie vor Einführung der Reichsverfaffung, als der Kaiser

zur Ausübung der Gesetzgebung nur an die Zustimmung

Bundesrathes gebunden war.

des

Der Unterschied wäre der, daß

als begutachtende Körperschaft der Landesausschuß neu hinzutreten

würde, und daß der Reichstag wie er früher im Hintergründe

stand, für den Fall der Aufnahme einer Anleihe oder der Ueber­ nahme einer Garantie, die das Reich belasten könnte, jetzt noch eintreten kann, wenn Regierung und Landesausschuß sich nicht in

Uebereinstimmung befinden sollten. Da aber der Landesausschuß keine Initiative hat wie der Reichstag, sondern die Regierung ihre Entwürfe nach Belieben einbringen, zurückziehen oder mobb ficiren kann, so würde die Uebereinstimmung die Regel bilden,

und eS würde wohl nur der Etat Schwierigkeiten bieten, die unter Umständen der Reichstag mit dem Bundesrathe zu ent­ scheiden hätte. — Früher war dieser Zustand bestimmt bis zur Einführung

der Reichsverfaffung zu gelten; der durch den Entwurf projektirte

Zustand kann nur gedacht werden, als Uebergangsstadium — bis zur Umwandlung deS LandesauSschuffes in einen Landtag für

Elsaß-Lothringen.

Wenn aber schon das Zusammenwirken von

Landesausschuß und Bundesrath als gesetzgebende Faktoren nur als AuSnahmszufland, als Experiment gedacht werden kann, so

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kann das Zusammenwirken des Bundesrathes mit einem wirklichen Landtage nicht mehr als ordnungsmäßiger Zustand gedacht werden denn hätte Elsaß-Lothringen ein Parlament, so wäre zum Zu­ sammenwirken mit demselben als Mitinhaber der Staatsgewalt in Elsaß-Lothringen nicht mehr der Bundesrath berufen; sonst würde sich die Vertretung des Reichslandes Elsaß-Lothringen mit den Delegirten der Fürsten und freien Städte in die staatliche Souveränetät über das Reichsland theilen. Eine solche Zusammen­ wirkung wäre undcfinirbar. — Die Autonomie ist der Punkt, von welchem bisher ein Theil der deutschen Presse bei der Betrachtung des emporstrebenden LandeSauSschusses sich achselzuckend und unmuthig abgrwendet hat. Und gerade da müssen wir anknüpfen. Eine Situation, die mißlich scheint, muß vor allem zu Ende gedacht werden. Wenn der Reichstag für die Ausübung der Staatsgewalt im Reichsland entbehrlich gedacht wird und anderseits der BundeSrath nicht zum Zusammenwirken mit einem Landtag berufen erscheint — so ständen sich schließlich nur der Landtag von ElsaßLothringen einerseits, und der Kaiser anderseits gegenüber, welcher Namens des Reiches die Staatsgewalt in Elsaß-Lothringen auSübt. Der Landesausschuß ist durch die Natur der Dinge dazu bestimmt, unaufhaltsam und viel rascher, als man sich bei seiner ersten Berufung gedacht haben mag, an Bedeutung fortwährend zu gewinnen. DaS ist nicht mehr zu ändern, man müßte denn die Institution wieder zerstören. Wenn so der Schwerpunkt immer mehr vom Centrum des Reichs weg verlegt wird, so erfordert es auch daS Interesse des Reichs, daß ein Gegengewicht geschaffen werde, damit die Bäume nicht in den Himmel wachsen. Ein solches ausreichendes Gegengewicht, welches daS Land beständig an seine Zusammengehörigkeit mit Deutschland, wie daran er­ innern muß, daß eS außerhalb Deutschlands und in sich selbst allein keine Zukunft suchen kann und finden wird, wäre nur in der Person des Deutschen Kaisers gegeben, der in nähere staats­ rechtliche Beziehungen zum Lande treten müßte, dessen Landesherr er nicht ist, in welchem er nur die Staatsgewalt Namens des Reichs ausübt. — AuS der Lage, die der Friedensvertrag und das Gesetz vom

90 9. Juni 1871 geschaffen, kann man nur heraustreten, indem man das Reichslanh zum Kaiserland macht. —

Elsaß-Lothringen sollte durch Personalunion mit der KaiserKrone vereinigt werden, die im Hause Hohenzollern erblich ist,

indem daS deusche Reich — der Reichstag mit den deutschen Fürsten und freien Städten — dem deutschen Kaiser die Souverünetät und Landesherrlichkeit über Elsaß-Lothringen in erblicher

Weise übertragen würden.

Der deutsche Kaiser als Landesherr

könnte daS Land durch einen Statthalter als alter ego regieren,

welchem ein

bittet

dem

Kaiser

sterium zur Seite stehen würde.

verantwortliches Landesmini­

Das Reich würde seiner Staats­

gewalt in Elsaß-Lothringen sich entäußern,* der Staat Elsaß-Loth­

ringen würde unter die deutschen Staaten als gleichberechtigtes Mitglied treten; er würde mit ihnen Subject der Reichsgewalt

werden, nicht mehr Object der Reichsgewalt sein; der Kaiser als

Souverän des Landes würde in dieser neuen Eigenschaft in die Reihe der deutschen Fürsten treten. —

Die Frage der Autonomie des Reichslandes wäre emanzipirt von der Frage über die Abänderung der Grundsätze, auf welche

die Reichsverfafluug gebaut ist, und wäre nicht mehr beherrscht von der Auffaffung, daS Gefühl der Zugehörigkeit zum Reiche

könnte durch die Autonomie geschwächt und gefährdet werden. Die Autonomie wäre staatsrechtlich und politisch möglich geworden; die Frage über Vertretung des Landes im Bundesrathe durch die vom Kaiser zu

ernennenden Mitglieder aus dein Lande hätte

einen anderen Charakter gewonnen.

Das

Gespenst des Reichs­

ministeriums in Berlin würde verschwinden — der Stadt Straß­

burg wäre daS nöthige Uebergewicht als Hauptstadt des Landes

gegeben.

Elsaß und Lothringen würden sich zusammenfinden.

Diese Lösung der Dinge entspricht Wünschen, die in dieser

* Man könnte — au- begreiflichen Gründe» — in einem Gesetze über die Lande»versassung von Elsaß-Lothringen den Vorbehalt machen, daß mit Zustimmung de» Kaiser» al» Lande»herrn innerhalb einer bestimmten Frist da» Gesetz einer Revifion durch da» Reich unterzogen werden kann. Die Un­ regelmäßigkeit eine» solchen Vorbehalte» wäre nicht größer al» die de» Acceffion»vertrage» vom 18. Juli 1867, der eine Zeitpacht der Souveränelät von Waldeck durch.Preußen enthält. —

91 oder jener Gestalt längst im Lande circuliren, das lieber auto­

nomes Kaiserland als Reichsland ohne Autonomie sein würde und in der Person des deutschen Kaisers bisher immer den Träger

der Souveränetät des Reiches erblickt hat.

Würde man den

niederelsäßischen Landleuten, die den Kaiser so warm begrüßt haben, sagen, der Kaiser sei nicht als Landesherr gekommen, und

sie hätten ihn nur als Unterthanen des deutschen Reiches, be­ grüßt — sie würden das nicht verstehen.

Es mag anderwärts besprochen werden, welche Bedenken

im Reiche selbst über ein solches Projekt entstehen würden.

Die

Verstärkung der Stimmen des Präsidiums im Bundesrath könnte in zufriedenstellender Weise ausgeglichen werden. nur

kurz darauf aufmerksam machen,

Wir möchten

daß gerade die kleinen

Staaten kein Interesse am Fortbestehen der Theorie eines ReichSlandeS haben können.

Durch die Befestigung der republikanischen

Verfassung in

Frankreich sind neuerdings wieder die republikanischen Neigungen

und Erinnerungen erstarkt.

Am Empire und der darauffolgenden

Küsterwirthfchaft hatte man kein Gefallen; jetzt aber ist die Un­

lust über die Trennung von Frankreich in ein neues Stadium getreten; die Republikaner und Demokraten drücken sich dahin aus, daß sie jetzt erst recht fühlen, wie viel man an Frankreich

verloren, da man am Triumph der Republik uicht theilnehmen

könne. — Man betrachtet sich in gewissen Kreisen noch gerne als „eine Art Republik" — und mancher autonome Wunsch hängt gewiß noch mit unklaren Vorstellungen hierüber zusammen.

DaS

Land muß eine monarchische Schule durchmachen; daS Gefühl der

Zugehörigkeit zum Reiche wird dadurch sicherer großgezogen werden, als durch den theoretischen Begriff des Reichslandes, welchem

eine menschenwürdige Zukunft im Reiche von der Theorie in bün­ diger Weise bereits abgesprochen worden ist.

Aenderungen in

der Hierarchie der Behörden und Schaffung einer theoretischen

Hauptstadt in Berlin sind keine Mittel, daS Volk an Deutschland heranzuziehen — das läßt die Menge besten Falles gleichgültig;

92 das ist Caviar für daS Volk; in der That aber würde dadurch nur Abneigung hervorgerufen werden. Befruchtend und fortbildend läßt sich auf die öffentliche Meinung in dieser Weise nicht ein­ wirken. ES wäre eine Versündigung am Volksgeiste. Monarchisch und deutsch würde daS Volk so nicht erzogen; die deutschen Stämme, die zur Zeit die Souveränetät über das Reichsland besitzen, werden, so lange so tiefgehende Spaltungen in den Parteien herrschen werden, das Reichsland nicht dem Reiche gewinnen; dazu müßte das Reich erst in sich einig sein. Als Reichsland mit so trüben Aussichten, wird EtsaßLothringen nie zur Ruhe und zu einer stetigen gedeihlichen Ent­ wicklung gelangen. Die Stärke jeder Politik ist immer die Aktua­ lität; diese Eigenschaft hat den Politikern in Frankreich immer gefehlt — wir begegnen ihr auch im Reichsland nur selten. Wie früher in Frankreich nach diesem oder jenem Umsturz zuvörderst die Neugierde entstand: Wer oder was wird wohl jetzt wieder­ kommen und auf das augenblicklich Bestehende folgen? — wie in Frankreich die unterlegenen Parteien sich nie mit dem Gedanken vertraut machen konnten, daß das Bestehende einen anderen Zweck haben könne, als den, demnächst wieder umgeworfen zu werden — so werden auch die Elsäßer und Lothringer — so lange ihre Stellung im Reiche ihnen jede Aussicht auf Befferes benehmen wird, in beständigen Erinnerungen, Hoffnungen und Befürchtungen steuerloS umhertreiben. Dem Kaiserlande wären Bahn und Ziel genau vorgesteckt — hätte das Land den mächtigen deutschen Kaiser als Landesherrn, der ihm dereinst Autonomie wird ver­ leihen können, dann würde man mit einer unabänderlichen Zu­ kunft sich abfinden, welche die bisher versagte Selbstständigkeit und Gleichberechtigung gewähren würde. Die völlige Undefinirbarkeit einer Zukunft des Reichslandes im Reiche ist ganz dazu angethan, durch unzeitgemäße und ausschweifende Vorstellungen die öffent­ liche Meinung zwischen überschwänglichen Wünschen und völliger Apathie zwischen Hoffnung und Enttäuschung beständig schwankend zu erhalten. Mit dieser Unklarheit hängt nothwendig eine gewisse Zuchtlosigkeit der Anschauungen zusammen. Die Republikaner im Reichslande, welche tüchtige Elemente des Landes zu den Ihrigen zählen, werden sich mit der Idee des KatserlandeS nicht befreunden, wohl aber mit der in Aussicht

93

gestellten parlamentarischen Zukunft.

Wenn sie sich aber von

ihren republikanischen Erinnerungen und Idealen nicht los sagen

werden, so werden sie als politische Partei, wie die Anhänger deS Protestes — zu Grunde gehen.

währte Satz erfüllen:

Auch hier wird, sich der be­

„Wir Alle leben von der Vergangenheit

und gehen an der Vergangenheit zu Grunde".

jenigen Platz machen müffen,

Man wird Den­

auf welche man als Neulinge und

Uebrrläufer mit vornehmer Geringschätzung herabsieht, welche aber

die Träger einer neuen Aera sein werden.

Elsaß-Lothringen wird

mit der nationalen Vergangenheit brechen müffen, wie Deutschland mit seiner politischen Vergangenheit gebrochen hat.

Elsaß-Lothringen ist aber auch anderseits berufen, neue,

schätzenSwerthe Elemente in unsere Rechtsanschauungen zu bringen. Solchen Einflüssen gegenüber wird man in Deutschland sich nicht ablehnend verhalten dürfen.

Der Schaden wird so groß nicht

sein, wenn wir mit diesen oder jenen überkommenen Grundsätzen und geschäftlichen Ueberliefernngen aufräumen.

Der Geist der

Dinge ändert sich, die Form bleibt; man bewahrt nicht den Geist der Dinge, indem man an der Form festhält.

So müffen wir

auch den altehrwürdigen Satz auffaffen, daß jedes Regiment durch die Mittel erhalten werde, durch die es geschaffen worden. Seneca rechnete es zu den Grundübeln seiner Zeit, daß Alles nach Vor­

bildern und Ueberlieferungen aus der Vergangenheit lebte. —

Wir Deutsche könnten es nur aufrichtig bedauern, wenn Elsaß-Lothringen Viele seiner Besten bei der Arbeit für die Neu­ gestaltung deS Landes miffen sollte.

Die Republikaner nehmen

aber jetzt schon die Haltung einer Minorität ein, welche abdankt, nicht einer Minorität, die eine Zukunft vor sich hat. Wir Deutsche

mögen aber auch, in die Zukunft schauend, gelassen und ruhig bleiben, wenn diese Leute jetzt, ihre Thüren schließend, vor den

Prinzipien von 1789, wie vor geflüchteten Penaten HauSandacht

verrichten, oder wenn sie in den öden Tempeln nach den ent­ schwundenen alten Göttern rufen — alieni jam Imperii deosl