Nonverbale Kommunikation im Recruiting: Wie Sie passende Bewerber erkennen und für Ihr Unternehmen gewinnen [1. Aufl.] 978-3-658-25275-5;978-3-658-25276-2

Schärfen Sie mit diesem Buch Ihren Blick für nonverbale Kommunikation im Recruiting Fundierte Studien belegen, dass im B

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German Pages VIII, 368 [373] Year 2019

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Nonverbale Kommunikation im Recruiting: Wie Sie passende Bewerber erkennen und für Ihr Unternehmen gewinnen [1. Aufl.]
 978-3-658-25275-5;978-3-658-25276-2

Table of contents :
Front Matter ....Pages I-VIII
Einführung (Christian Bernhardt)....Pages 1-24
Die eigene nonverbale Kompetenz entwickeln (Christian Bernhardt)....Pages 25-50
Ursachen: Wie entsteht nonverbale Kommunikation? (Christian Bernhardt)....Pages 51-93
Auftritt des Bewerbers und erster Eindruck (Christian Bernhardt)....Pages 95-116
Status und Territorialverhalten (Christian Bernhardt)....Pages 117-148
Haltung (Christian Bernhardt)....Pages 149-167
Bewegungen (Christian Bernhardt)....Pages 169-188
Begrüßung und Handshake (Christian Bernhardt)....Pages 189-202
Augen und Blickkontakt (Christian Bernhardt)....Pages 203-226
Mimik und Emotionen (Christian Bernhardt)....Pages 227-268
Gestik (Christian Bernhardt)....Pages 269-314
Atmung und Stimme (Christian Bernhardt)....Pages 315-335
Beine und Füße (Christian Bernhardt)....Pages 337-350
Leitfaden (Christian Bernhardt)....Pages 351-368

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Christian Bernhardt

Nonverbale Kommunikation im Recruiting Wie Sie passende Bewerber erkennen und für Ihr Unternehmen gewinnen

Nonverbale Kommunikation im Recruiting

Christian Bernhardt

Nonverbale Kommunikation im Recruiting Wie Sie passende Bewerber erkennen und für Ihr Unternehmen gewinnen

Christian Bernhardt Lörrach, Deutschland

ISBN 978-3-658-25275-5 ISBN 978-3-658-25276-2  (eBook) https://doi.org/10.1007/978-3-658-25276-2 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Springer Gabler © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informationen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag, noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Lektorat: Stefanie Winter Illustrationen: Özlem Türk Springer Gabler ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH und ist ein Teil von Springer Nature Die Anschrift der Gesellschaft ist: Abraham-Lincoln-Str. 46, 65189 Wiesbaden, Germany

Inhaltsverzeichnis

1 Einführung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 1.1 Recruiting im „War for Talents“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 1.2 Kommunikation im Recruiting 2.0 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8 1.3 Warum nonverbale Kommunikation im Recruiting?. . . . . . . . . . . . . . . . 12 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22 2

Die eigene nonverbale Kompetenz entwickeln. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25 2.1 Engpässe bei der Entwicklung nonverbaler Kompetenz. . . . . . . . . . . . . 26 2.2 Die vier Phasen des Lernens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29 2.3 Die Neuentdeckung der nonverbalen Kommunikation . . . . . . . . . . . . . . 31 2.4 Die eigene Wahrnehmung entwickeln. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32 2.5 Grundprinzipien der nonverbalen Kommunikation. . . . . . . . . . . . . . . . . 40 2.6 Die eigene Körpersprache entwickeln. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44 2.7 Fazit: Die eigene nonverbale Kompetenz entwickeln . . . . . . . . . . . . . . . 46 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48

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Ursachen: Wie entsteht nonverbale Kommunikation?. . . . . . . . . . . . . . . . . 51 3.1 Biologische Ursachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51 3.2 Evolutionsgeschichtliches Erbe. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56 3.3 Embodiments: Wechselwirkung zwischen äußerer Haltung und innerem Empfinden. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 58 3.4 Neurobiologische Einflüsse. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 60 3.5 Psychologische Einflüsse. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69 3.6 Sozialpsychologische Einflüsse. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79 3.7 Kulturelle Einflüsse. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 84 3.8 Fazit: Ursachen: Wie entsteht nonverbale Kommunikation?. . . . . . . . . . 90 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91

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Auftritt des Bewerbers und erster Eindruck. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95 4.1 Entstehung und Einfluss des ersten Eindrucks. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95 4.2 Maßgebliche Faktoren für den ersten Eindruck. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97 V

VI

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4.3 Wirkung von Bekleidung, Accessoires und Make-up. . . . . . . . . . . . . . . 100 4.4 Verhältnis zum Raum. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 4.5 Spannungsgrad der Bewegungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108 4.6 Den eigenen ersten Eindruck optimieren. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110 4.7 Fazit: Bewerberauftritt und erster Eindruck. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 5

Status und Territorialverhalten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 5.1 Zusammenhang zwischen Territorium und Status. . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 5.2 Distanzzonen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120 5.3 Territorialverhalten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124 5.4 Ausprägungen von Territorium und territoriale Platzhalter. . . . . . . . . . . 125 5.5 Status. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 132 5.6 Statussignale . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 5.7 Eigenes Territorialverhalten und eigener Status . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 140 5.8 Fazit: Status und Territorialverhalten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 146

6 Haltung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149 6.1 Einführung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149 6.2 Haltung im Stehen – Implikationen und Wirkungen. . . . . . . . . . . . . . . . 151 6.3 Haltung im Sitzen – Implikationen und Wirkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 6.4 Kopfhaltung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155 6.5 Haltung der Schultern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157 6.6 Die eigene Haltung entwickeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159 6.7 Fazit: Haltung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 166 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 166 7 Bewegungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169 7.1 Einführung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 170 7.2 Bewegungen während des Gehens. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171 7.3 Rhythmus und Takt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 178 7.4 Kopfbewegungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 182 7.5 Rumpfbewegungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183 7.6 Eigene Bewegungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185 7.7 Fazit: Bewegungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 188 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 188 8

Begrüßung und Handshake. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189 8.1 Grüßen und Begrüßen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189 8.2 Händeschütteln/Handshake. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 192 8.3 Verabschiedung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 198 8.4 Der eigene Handshake. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 198 8.5 Fazit: Begrüßung und Handshake . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 202

Inhaltsverzeichnis

9

VII

Augen und Blickkontakt. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203 9.1 Geweitete und verengte Augen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203 9.2 Pupillen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 204 9.3 Blickkontakt. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 206 9.4 Blickvermeidung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 214 9.5 Blinzeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 216 9.6 Eigenes Blickverhalten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217 9.7 Fazit: Augen und Blickkontakt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 224 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225

10 Mimik und Emotionen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 227 10.1 Grundlagen Mimik, Emotionen und Mikroexpressionen . . . . . . . . . . . . 228 10.2 Signale der Mimik. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 231 10.3 Emotionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 240 10.4 Die sieben universellen Emotionen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 243 10.5 Mikroexpressionen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 258 10.6 Subtile Expressionen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 262 10.7 Eigene Mimik. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 263 10.8 Fazit: Mimik und Emotionen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 265 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 266 11 Gestik. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 269 11.1 Grundlagen und Funktionen der Gestik. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 269 11.2 Ebenen der Gestik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 274 11.3 Arme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 276 11.4 Finger. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 279 11.5 Aktive Gestik. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 281 11.6 Passive Gestik – Handstellungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 292 11.7 Eigene Gestik. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 302 11.8 Fazit: Gestik. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 312 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 313 12 Atmung und Stimme. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 315 12.1 Grundlagen Atmung und Stimme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 315 12.2 Stimme. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 320 12.3 Eigene Atmung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 323 12.4 Eigene Stimme. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 327 12.5 Fazit: Atmung und Stimme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 333 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 334 13 Beine und Füße. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 337 13.1 Grundlagen Beine und Füße . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 337 13.2 Die eigenen Füße. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 347 13.3 Fazit: Beine und Füße . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 349 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 350

VIII

Inhaltsverzeichnis

14 Leitfaden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 351 14.1 Konsolidierung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 351 14.2 Stolpersteine. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 361 14.3 Fehlentscheidungen entgegenwirken. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 363 14.4 Fazit: Leitfaden komprimiert. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 365 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 368

1

Einführung

Zusammenfassung

Kap. 1 beschreibt die sich verändernden Rahmenbedingungen, mit denen Unternehmen bei der Personalsuche aktuell konfrontiert werden. Es benennt die Anforderungen, die sich für das Recruiting und die am Auswahlprozess beteiligten Mitarbeiter ergeben, und untersucht die Möglichkeiten der Einflussnahme der Betriebe auf verschiedene Feldgrößen des Recruitings. Es beschreibt den Einfluss der Kommunikation auf die Qualität der Entscheidungsfindung und die Rolle der nonverbalen Kommunikation im Auswahlprozess, bei der Recruiter-Bewerberkommunikation sowie bei der Vorbeugung von Kommunikationsstörungen und Fehlwahrnehmungen. Daraus leitet es die Möglichkeiten ab, die sich aus der Entwicklung der nonverbalen Kompetenz im Recruiting ergeben, und verknüpft diese mit kommunikationspsychologischen und betrieblichen Größen.

1.1 Recruiting im „War for Talents“  Trailer Seine erste Berufserfahrung sammelte der frisch studierte Psychologe und spätere Nobelpreisträger Daniel Kahneman in den 50er Jahren als Recruiter bei der israelischen Armee. Er beurteilte die Eignung der zukünftigen Offiziersanwärter mit einem Test, der sich bereits bei der britischen Armee im Zweiten Weltkrieg bewährt hatte: Acht, einander nicht bekannte, Teilnehmer mussten, ohne Anführer, mithilfe eines Baumstammes eine 1,80 m hohe Mauer überwinden. Dabei durfte diese weder von den Kadetten noch vom Baumstamm berührt werden.

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 C. Bernhardt, Nonverbale Kommunikation im Recruiting, https://doi.org/10.1007/978-3-658-25276-2_1

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1 Einführung

Es gab mehrere Möglichkeiten, den Test erfolgreich zu bestehen, und während sich die Gruppe an der Aufgabe aufrieb und der Stress ihr wahres Naturell zum Vorschein brachte, beobachteten die Psychologen die Männer und bildeten sich ein Urteil über deren Charakter. Verschiedene Aspekte wie Gruppenverhalten, Durchsetzungsstärke oder der Umgang mit Zurückweisungen und Rückschlägen wurden mit Punkten bewertet, und Kahneman und seine Kollegen erkannten schnell, bei wem das Potenzial für eine zukünftige Führungsrolle vorhanden war und bei wem nicht. Überzeugt und einstimmig gaben sie eine klare Prognose ab. Doch es gab zwei Probleme. Alle paar Monate tauschten sich die Recruiter in Feedbacksitzungen mit den Kommandeuren der Offiziersschule aus und verglichen ihre Prognosen aus dem Baumstammtest mit den Beurteilungen der Kommandeure, die die Kadetten anschließend einige Zeit an der Schule beobachtet hatten. Das Ergebnis war immer wieder ernüchternd: Die ambitionierten Psychologen hätten genauso gut würfeln können. Ihre ursprünglichen Prognosen waren nur geringfügig besser als reine Zufallsergebnisse. Das Frappierende zeigte sich jedoch direkt beim nächsten Baumstammtest. Als die neuen Anwärter beobachtet und beurteilt wurden, schien das Ergebnis wieder genauso klar auf der Hand zu liegen wie bei den früheren Auswahlverfahren. Obwohl Kahneman wusste, dass er sich wieder täuschen würde, schien es offensichtlich, welcher der Teilnehmer geeignet war und welcher nicht. Das Wissen um die eigene Fehleranfälligkeit änderte nichts an der aktuellen Überzeugung, eine kompetente Auswahl zu treffen. Die Entscheidung fühlte sich einfach richtig an und Kahneman hatte seine erste kognitive Illusion entdeckt, die „Illusion der Gültigkeit“ [1].

Was das Recruiting anging, waren Kahneman und seine Kollegen damals Amateure. Der Staat Israel war erst sieben Jahre zuvor gegründet worden und die systematische Erforschung der Körpersprache begann erst ein gutes Jahrzehnt später. Dennoch sind die wichtigsten Erkenntnisse nach wie vor gültig: Wie beim Erkennen von Lügen, bei dem ungeschulte Beobachter ebenso würfeln könnten, gut geschulte Beobachter dagegen ihre Fähigkeit, Lügen zu entlarven, auf bis zu 90 % [2] erhöhen können, verhält es sich auch im Recruiting. Unser Gefühl dafür, ob ein Bewerber passt oder nicht, ist so verführerisch, dass wir ihm in der Regel vertrauen und uns davon überzeugen lassen. Im Gegensatz zu Kahneman erhalten nur die wenigsten Recruiter ein systematisches Feedback zur nachhaltigen Qualität ihrer Auswahl. Da sich das Ergebnis der Auswahl verzögert zeigt und nicht direkt erlebt wird, fällt es schwer, die Recruiting-Kompetenz intuitiv zu entwickeln. Da Recruiter darüber hinaus nur selten die Möglichkeit haben, sich die einzelnen Aspekte, die ihre Entscheidung prägen, bewusst zu machen, fiel es bislang schwer, auf diesem Weg die eigene Auswahlkompetenz gezielt zu verbessern.

1.1  Recruiting im „War for Talents“

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Von der Herausforderung, passende Mitarbeiter zu finden und nachhaltig zu gewinnen Der frühere Stanford-Professor Jim Collins untersuchte gemeinsam mit 100 anderen Wissenschaftlern in einer zehn Mannjahre [3] umfassenden Studie die wichtigsten Faktoren für den langfristigen Unternehmenserfolg. Die Ergebnisse waren eindeutig und belegten, dass das maßgebliche Kriterium, damit ein Unternehmen dauerhaft erfolgreich sein kann, die Qualität seiner Mitarbeiter ist sowie deren Passung zur zu besetzenden Position und dem Umfeld, in dem sie arbeiten. Die Erkenntnisse führten zum Management-Prinzip „Erst wer, dann was“ [4]. Bis ein neuer Mitarbeiter erfolgreich in ein Unternehmen integriert ist, ist es ein langer Weg. Um das Auswahlverfahren zu bestehen, muss er nicht nur zur Branche und zum Unternehmen passen, nicht nur zur Stelle und zum Team, sondern ebenso zum Recruiter und dessen, oft unbewussten, Erwartungen darüber, wie der ideale Bewerber auszusehen hat und sich ausdrücken, kleiden und verhalten sollte. Doch damit hat erst eine Seite Ja gesagt. In der Vergangenheit stellte die Zusage der anderen, der Bewerberseite, nur selten ein Problem dar – heute tut sie es immer öfter. Sind sich beide Seiten einig, bedeutet das aber noch lange nicht, dass tatsächlich die beiden Richtigen zueinandergefunden haben: 20 bis 25 % der neu geschlossenen Arbeitsverträge werden bereits in der Probezeit wieder aufgelöst [5]. Die Kosten einer Fehlbesetzung sind immens und liegen bei bis zu 15 Monatsgehältern, bei Großunternehmen sogar bei bis zu drei Jahresgehältern [6]. Während dabei die sichtbaren Kosten für Personalvermittler, Stellenanzeigen, Jobboards und Arbeitsaufwand vergleichsweise harmlos sind, untergraben die unsichtbaren Kosten einer falschen Auswahl die Substanz der Betriebe. Spitzenkräfte bringen ihren Unternehmen exponentiellen Mehrwert. Werden diese nicht erkannt und verpflichtet, ergibt sich ein doppelter Effekt: Das eigene Unternehmen wird geschwächt und gleichzeitig die Konkurrenz gestärkt. Falsch gewählte Mitarbeiter bringen Unruhe ins Team. Werden wiederholt die Falschen rekrutiert, geht der Teamgeist verloren: Das Team zerfällt in Einzelkämpfer und verliert durch innerliche oder tatsächliche Kündigungen an Substanz, Kreativität und Dynamik, die Leistung sinkt. Wenn die Verbleibdauer der neu eingestellten Mitarbeiter nicht ausreicht, um in den produktiven Bereich zu gelangen, steigt die Belastung der restlichen Mitarbeiter und führt zu sinkender Arbeitszufriedenheit und steigenden Fehlzeiten. Die Situation spitzt sich weiter zu, wenn die besten Mitarbeiter kündigen und wichtiges Wissen und Netzwerkpartner mit zur Konkurrenz nehmen. Übrig bleibt ein maroder Oberbau, dem eine tragfähige Basis fehlt und die notwendige individuelle Klasse, um die Konkurrenzfähigkeit des Unternehmens zu sichern. Belastung und Stress bei den Verbliebenen steigen weiter, während die sich ergebende sinkende Arbeitgeberattraktivität zu sinkender Qualität der neuen Bewerbungen führt, bei gleichzeitig steigendem Druck, neue, passendere Mitarbeiter einzustellen und endlich Ruhe ins Team zu bringen. Dieser Druck erschwert eine optimale, intuitive Entscheidungsfindung und begünstigt die später erläuterten defensiven Entscheidungen. Wird daraufhin eine weitere Fehlentscheidung getroffen, verschärft sich die Situation und der begonnene Teufelskreis geht

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1 Einführung

in die nächste Runde. Die gute Nachricht ist, dass die Betriebe durch die Verbesserung der Qualität ihres Recruitings diesem Kreislauf direkt entgegenwirken können und der Umschwung durch eine konsequente Neuausrichtung des Recruitings mittelfristig bewältigt werden kann [7]. Recruiting in Zeiten des Wandels Die Ursachen für die sich aktuell zuspitzende Situation im Recruiting gründen maßgeblich in veränderten Rahmenbedingungen, die dazu führten, dass Positionen, die noch vor wenigen Jahren ohne größere Probleme besetzt werden konnten, heute in vielen Betrieben zu Engpassstellen erklärt werden. Werfen wir nachfolgend einen Blick auf diese Veränderungen und ihre Auswirkungen auf die aktuelle Situation im Recruiting. Veränderungen des wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Rahmens Das Mooresche Gesetz von 1965 drückt grob formuliert aus, dass sich, bei sinkenden Kosten, die Kapazität von Prozessoren alle 18 Monate verdoppelt [8]. In Folge wuchs zunehmend der Einfluss der IT und führte 2011 zur vierten industriellen Revolution: Die ehemalige Industriegesellschaft entwickelte sich zur vernetzten Informationsgesellschaft, der Industrie 4.0. Während Erstere die Produktionsprozesse automatisierte und die Märkte internationalisierte, hebt Letztere sie durch die Möglichkeiten des virtuellen Raumes auf eine neue Ebene, löst sie von den klassischen Warenströmen und dynamisiert sie, über cyberphysische Systeme und disruptive Technologien, wie nie zuvor. Der Eintritt in diese neue Stufe ist noch frisch und so beeinflussen gravierende Veränderungskräfte die aktuelle Situation der Betriebe und stellen Unternehmer, Führungskräfte und Mitarbeiter vor Herausforderungen, bei denen die Lösungen der Vergangenheit nicht mehr funktionieren. Die ersten Unternehmen setzen bereits seit Jahren die Segel nach dem neuen Wind, andere versuchen noch, an der Vergangenheit festzuhalten und die Zeichen der Zeit auszublenden. Mittlerweile ist sich jedoch fast jeder darüber bewusst, dass die Veränderungen zu nachhaltig sind, um sie zu ignorieren, und dass das richtige Personal einen essenziellen Faktor bildet, um ihnen erfolgreich zu begegnen. Die Wissenschaft Stand 2016 geht davon aus, dass die nächsten acht Jahre über die Zukunft der meisten Unternehmen entscheiden werden [9]. Veränderung der Stellenprofile Die sich beschleunigende Vernetzung und Zunahme des globalen Wissens führten einerseits zu zunehmender Spezialisierung, verlangen jedoch gleichzeitig durch die steigende Zahl der Schnittstellen nach fachübergreifendem Wissen, wobei der Prozess noch lange nicht abgeschlossen scheint. Folglich werden die Fähigkeiten neuer Stellen- und Anforderungsprofile schneller benötigt, als sie in die Bildungspläne integriert werden können. Für die Personalabteilungen wird es zunehmend schwerer, die komplexen Stellen in ihrer Ganzheit zu erfassen, um sie passgenau mit den Bewerberprofilen abgleichen zu können.

1.1  Recruiting im „War for Talents“

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Veränderung der Altersstruktur  Parallel zur wirtschaftlichen Entwicklung veränderte sich die demografische Zusammensetzung unserer Bevölkerung. Aus der klassischen Bevölkerungspyramide entstand ein Gebilde, das an ein wackeliges Männchen mit Wasserkopf erinnert. Wo früher noch eine breite junge Basis die Gesellschaft trug und die Wirtschaft antrieb, müssen heute immer weniger Menschen immer größere Lasten stemmen. Der Bedarf nach flexiblen, belastbaren und dynamischen Mitarbeitern, um die beschriebenen Veränderungen erfolgreich zu bewerkstelligen, wächst – bei gleichzeitig sinkender Verfügbarkeit. Veränderung des Arbeitsmarktes  Besonders in Deutschland führte die gesellschaftliche Veränderung der vergangenen Jahre, der fiskalpolitische Rahmen sowie sukzessive wachsende Verpflichtungen und Belastungen der arbeitenden Bevölkerung dazu, dass sich mehr und mehr High Potentials attraktivere Alternativen im Ausland suchten. Dieses führte zum „Brain Drain“, der Auswanderung von Talenten und High Potentials. Schon 2008 besaßen 83 % der im Ausland arbeitenden Deutschen einen akademischen Abschluss, welche im Inland fehlen [10]. Damit gehen für den Großteil der Firmen und für die meisten Stellen sowohl die Bewerberzahlen als auch die Qualität der Profile seit Jahren zurück, bei gleichzeitig steigenden Vakanzzeiten. Für viele Unternehmen und Stellen hat sich der Arbeitsmarkt vom Arbeitgeber- zum Arbeitnehmermarkt gewandelt. Plötzlich sind es die Betriebe, die sich um die besten Mitarbeiter bemühen müssen, und wer als Bewerber die Wahl hat, benötigt Orientierung – es entstanden Bewertungsplattformen wie Kununu und Glassdoor, auf denen aktuelle oder ehemalige Mitarbeiter einen Blick hinter die Kulissen eröffnen und die dortigen Arbeitsbedingungen transparent machen: Unternehmen werden bewertet wie Hotels bei Booking.com, und Betriebe, die ihre Mitarbeiter und Bewerber nicht zeitgemäß behandeln, werden von guten Kandidaten gemieden. Wie Martin Gaedt beschreibt, bilden den Kern des empfundenen Fachkräftemangels vor allem eine nicht mehr zeitgemäße Kommunikation im Recruiting sowie der Mangel an kooperativen RecruitingStrategien [11]. Das Verhalten der Betriebe hat sich geändert Der für viele Berufsbilder gekippte Arbeitsmarkt, die Internationalisierung der Märkte sowie die Schwierigkeit, Schlüsselund Engpasssituationen zu besetzen, wirkten sich auf die Unternehmen aus. Seit 1998 Ed Michaels, damaliger Direktor von McKinsey, den „War for Talents“ aufziehen sah, begreifen die großen, global agierenden Konzerne die Ressource Mitarbeiter als strategischen Faktor. Sie etablierten Marketingmethoden im HR und erhöhten ihre Attraktivität als Arbeitgeber, um die besten Kandidaten zu gewinnen. In Folge entstanden neue Themenfelder wie Employer Branding, Candidate Experience und systematisches Talentmanagement sowie neue Recruiting-Verfahren wie Active Sourcing, Social Media Recruiting oder Crowd Sourcing. Personal wird vom Wettbewerber abgeworben und die Betriebe treten schon bei Stellen auf Facharbeiterniveau in immer stärkere gegenseitige Konkurrenz. Recruiting ist zur Chefsache und

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1 Einführung

Aufgabe jedes Mitarbeiters geworden. So rekrutierte Steve Jobs über 1000 Mitarbeiter über persönliche Direktansprache und Google stellt seine Mitarbeiter schon seit Jahren für die Teilnahme an Recruiting-Gesprächen frei und vergibt Prämien für Empfehlungen potenzieller neuer Mitarbeiter [9]. Das Phänomen beschränkt sich dabei nicht auf globale Großkonzerne oder die IT-Branche. Die Nachfrage regelt den Preis: Wo bislang horrende Handgelder der Spitzenclubs bei Spielerwechseln im Profifußball für Schlagzeilen sorgten, wurden 2016 auch von Kleinstbetrieben im deutschen Handwerk öffentlich Wechselprämien ausgelobt, um Mitarbeiter von der Konkurrenz abzuwerben [12]. Durch die starke Konkurrenz der Betriebe um neue Mitarbeiter können Fehler im Recruiting nicht mehr so einfach kompensiert werden wie in der Vergangenheit. Entsprechend wichtig ist es heute, passende Bewerber sicher zu erkennen und die vielfach Umworbenen für den eigenen Betrieb zu gewinnen. Dabei prägt der erste Eindruck, den der Bewerber vom Unternehmen gewinnt, seine Einstellung und kann später kaum oder nur schwer korrigiert werden. Als persönliche Repräsentanten des Unternehmens bilden die am Recruiting beteiligten Mitarbeiter eine immer kritischere Schnittstelle zum Bewerber. Die Kandidaten haben sich verändert, volatilere Arbeitsmärkte  Die so Umworbenen sind sich natürlich ihrer Begehrtheit bewusst. Die gefragte Generation „Y“ der nach 1980 Geborenen ist „wählerisch wie eine Diva beim Dorftanztee“ [13] und hat erheblich von ihren Vorgängergenerationen abweichende Werte und Ansprüche. Die Digital Natives sind als erste Generation mit IT groß geworden. Sie sind gut qualifiziert, bestens vernetzt und dadurch top informiert. Begehrt, wie sie ist, zeigt sich die junge Generation selbstbewusst und anspruchsvoll. Das wirkt zwar im Gespräch überzeugend, bedeutet aber nicht, dass sie anschließend die enormen Anforderungen und Erwartungen, die auf sie warten, auch erfüllen kann. Den Betrieben droht die Gefahr, sich durch das selbstbewusste Auftreten täuschen zu lassen und kompetente, aber schüchterne Bewerber zu übersehen. Gleichzeitig führten die mediale Gesellschaft sowie die verkürzten Feedbackschleifen der digitalen Fotografie und die breite Publikation psychologischer Erkenntnisse zu einem ausgeprägten Wirkungsbewusstsein. Industrieschauspieler und Blender spielen ihre Rolle in Vorstellungsgesprächen und Assessment Centern immer überzeugender und scheitern anschließend in der Praxis. Heutige Teams sind durch die Internationalisierung oftmals heterogener besetzt als in der Vergangenheit. Kürzere Arbeitsverhältnisse schwächen den inneren Zusammenhalt und machen aus Teams fragilere Gebilde, die sich in schwierigen Zeiten und unter dem schädlichen Einfluss falscher Mitarbeiter schneller zersetzen als früher. Im Extremfall sind ganze Unternehmen gefährdet. Wie können Betriebe auf die Veränderungen reagieren? Auf die globalen Veränderungen hat der einzelne Betrieb kaum Einfluss. Mit Ausnahme einer Neuorientierung, um sich neue Märkte zu erschließen, muss er sich den Rahmenbedingungen stellen. Der Zugang zum Fachkräftemarkt wird zwar schmaler, kann

1.1  Recruiting im „War for Talents“

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aber durch einen Paradigmenwechsel im Recruiting, vermehrte Anstrengungen und kooperative Strategien erhalten bleiben [14]. In Veränderungszeiten stellen die Agilität der einzelnen Mitarbeiter, aber auch die innere Stärke und der Zusammenhalt der Teams kritische Erfolgsfaktoren dar. Während die Unternehmensführung die Aufgabe hat, das passende Umfeld zu schaffen und die Mitarbeiter in Bezug auf deren Agilität und Kommunikationskompetenz weiterzuentwickeln, bergen die oben beschriebenen Fehlerquoten von bis zu 25 % erhebliches Potenzial für das Recruiting. Aussagen wie „Lieber keinen als den Falschen“ oder „Schlechte Mitarbeiter sind wie ein fauler Zahn, sie stecken die ganze Abteilung an“1 kennzeichnen den hohen Einfluss, den die Qualität der Bewerberauswahl für den Unternehmenserfolg bedeutet. Das Recruiting ist anspruchsvoller geworden und gleicht oftmals einer Gratwanderung: Im Gespräch müssen einerseits immer besser vorbereitete Bewerber hinsichtlich ihrer Eignung für immer komplexere Stellen und heterogenere Teams beurteilt werden. Andererseits muss die Verbindung zu ihnen gestärkt werden, um sich gegen den Wettbewerb durchzusetzen und sie für das eigene Unternehmen zu gewinnen. Entsprechend wachsen die Anforderungen an alle Mitarbeiter, die am Recruiting beteiligt sind. In den vergangenen Jahren wurden Softwares entwickelt, die den Recruiter unterstützen und Bewerber auf die verschiedenste Art und Weise durchleuchten: Vom Computer geführte Telefoninterviews, bei denen die Stimme der Bewerber analysiert und diese durch Algorithmen aussortiert werden, Big-Data-Analysen, Bewerbersuchmaschinen, die wie Amazon semantische Zusammenhänge verwenden, Parsing Softwares, die die Bewerbungsunterlagen auf Schlagworte untersuchen und automatische Absagen erteilen, sowie Dienstleister, die die mimischen Ausdrücke der Bewerber aus Skype-Interviews mithilfe der verschiedensten Methoden untersuchen, sind Realität geworden. Durch die technische Unterstützung scheint die Sicherheit bei der Auswahl zu steigen, gleichzeitig begünstigt sie jedoch auch bei der erfolgskritischen Aufgabe der Bewerberauswahl die von Gerd Gigerenzer beschriebenen defensiven Entscheidungen, welche die Betriebe mittelfristig und substanziell durch systematisch getroffene zweitbeste Entscheidungen schädigen [15]. Malcom Gladwell beschreibt die Überlegenheit von Expertenentscheidungen gegenüber technischen Auswahlverfahren [16]. Seine Erfahrungen werden durch António Damasio gestützt, der belegt, dass Menschen, die ihren Körper als ganzheitliches Entscheidungsorgan nutzen, schneller und richtiger entscheiden, als jene, die versuchen, ein Problem lediglich rational zu lösen [17]. Gigerenzer definiert diese intuitive Auswahl als ganzheitliche körperliche Intelligenz [18] und beschreibt, dass überwiegend Mitglieder des Top-Managements mit dieser Art der Entscheidungsfindung erfolgreich arbeiten, während das untere Management und Facharbeiter zu defensiven Entscheidungen neigen, mit denen sie sich selbst zwar absichern, die damit verbundenen Kosten jedoch auf die Organisation übertragen [19].

1Aussagen

von Geschäftsführern und Personalleitern in Beratungsgesprächen.

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1 Einführung

Die Etablierung einer positiven Fehlerkultur und die fachliche Entwicklung der am Recruiting beteiligten Akteure sind zwei kritische Herausforderungen, denen sich Betriebe zukünftig stellen müssen, wenn sie erfolgreich gute und sehr gute Mitarbeiter gewinnen wollen. Da sich das gesamte Feld nachhaltig verändert, muss sich auch der Recruiter weiterentwickeln. Hans Fenner [20] beschreibt die Rolle des Recruiters 2.0, der zusätzlich zu seiner bisherigen Tätigkeit als Berater und als Verkäufer fungiert. Im Innenverhältnis berät er die Manager der Fachabteilungen in Bezug auf den Arbeitsmarkt. Nach außen identifiziert er den optimalen Kandidaten, begeistert ihn wie ein guter Verkäufer für die zu besetzende Stelle und gewinnt ihn für den eigenen Betrieb. Im Bewerbungsgespräch erkennt er die relevanten Signale, um eine kritische und objektive Auswahl zu treffen und sich vor Fehlurteilen zu schützen. Durch die neuen Aufgaben werden die sozialkommunikativen Kompetenzen des Recruiters 2.0 zur kritischen Größe und führen zur Frage, welche spezifischen Fähigkeiten es zu entwickeln gilt, um den neuen Herausforderungen erfolgreich zu begegnen. Was zeichnet erfolgreiche Kommunikation im Recruiting aus?

1.2 Kommunikation im Recruiting 2.0 

„Wenn das schon so losgeht, dann verzichte ich gerne auf deren Angebot“. Es ging nicht ums Geld: Irritiert vom Verhalten der Betriebsvertreter, entschied sich ein Top-Bewerber aus meinem Bekanntenkreis gegen das Angebot eines renommierten Unternehmens und wechselte einige Wochen später aus seinem aktuellen Arbeitsverhältnis, bei dem er zuvor acht Jahre lang gute Arbeit geleistet hatte, zu einem anderen Unternehmen in dessen Konzernrechnungslegung. Die besten neuen Mitarbeiter kommen in der Regel aus bestehenden Arbeitsverhältnissen, haben mehrere Optionen und können es sich leisten, unangemessenes Recruiter-Verhalten mit Absagen zu sanktionieren. Wie enttäuschte Kunden teilen sie anschließend ihre negativen Erfahrungen in ihrem Netzwerk oder in den sozialen Medien und beeinflussen damit die Einstellung und Bewerbungsbereitschaft anderer potenzieller Kandidaten.

Wenn die Entscheidung näher rückt, treffen sich auch in Zeiten der digitalen Gesellschaft Recruiter und Bewerber früher oder später noch immer persönlich. Dabei gewinnt der Recruiter aus dem Verhalten des Bewerbers einen Eindruck über dessen Persönlichkeit und dem Bewerber dient die Atmosphäre im Gespräch als Indikator für das Betriebsklima, das ihn beim potenziellen neuen Arbeitgeber erwartet. Beide Seiten gewinnen Vertrauen zueinander oder gehen auf Distanz. Martin John Yate unterscheidet Interviewer in Profis und Amateure [21]. Friedemann Schulz von Thun definiert Professionalität als die Fähigkeit sich, rollen- situations- und zielgerecht zu verhalten, ohne sich dabei von der eigenen psychischen Dynamik aus der Balance bringen zu lassen [22]. An jeder Rolle hängen Erwartungen, deren Erfüllung durch das soziale Umfeld belohnt

1.2  Kommunikation im Recruiting 2.0

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und deren Nichterfüllung sanktioniert werden. Da sich die Rolle des Recruiters weiterentwickelt hat, muss er die neuen Erwartungen, die an ihn gestellt werden, kennen und bereit sein, sie zu erfüllen, wenn er professionell und erfolgreich arbeiten will. Rollengerechte Kommunikation: Erwartungen an den Recruiter 2.0 Die Kernerwartung an den Recruiter bleibt: Nach wie vor gilt es, den optimal passenden Bewerber für eine neu zu besetzende Stelle zu finden und Fehlentscheidungen zu vermeiden. Nachdem er im Vorfeld über die Auswahl der Bewerbungsunterlagen die fachliche Eignung weitestgehend bestimmt hat, vergleicht der Recruiter im Gespräch die Persönlichkeit und Motivation des Bewerbers mit den Anforderungen der Stelle und dem Feld des Teams und des Betriebes. Er schafft eine vertrauensvolle Gesprächsatmosphäre, die den Bewerber öffnet und ihn dazu bringt, sich ehrlich mitzuteilen, beleuchtet kritische Punkte der Vita des Bewerbers und erkennt dessen Täuschungsversuche, ohne dass dieser sein Gesicht verliert. Die Fähigkeit, Täuschungsversuche zu erkennen, hängt vom Wahrnehmungsvermögen des Recruiters ab und von seiner Fähigkeit, die relevanten Signale differenziert zu erfassen. Eine geschulte Wahrnehmung sowohl der äußeren als auch der körpereigenen Signale stellt eine Schlüsselgröße jedweder Kommunikation dar und determiniert auch im Recruiting die Qualität der Arbeit und der Entscheidungsfindung. Aus diesem Grund werden in Kap. 2 verschiedene Wege beschrieben, um die eigene Wahrnehmung zu entwickeln. Die neue Tätigkeit der Beratung verändert im Innenverhältnis den Status des Recruiters und die damit verbundenen Verhaltensweisen. Agierte der Recruiter früher als untergeordneter Dienstleister, der die Personalwünsche der Fachabteilungen erfüllte, fungiert er nun auf Augenhöhe oder als Experte für den Arbeitsmarkt, der die Geschäftsführung und die Fachabteilungen darüber berät, was machbar ist und was nicht und wie sich strategisch verhalten werden könnte. Um diese Rolle kompetent zu erfüllen, sollte neben kommunikations- und lernpsychologischen Aspekten das Verständnis für die mit der neuen Rolle verbundenen Statusimplikationen entwickelt werden. Hierbei unterstützen die Inhalte von Kap. 5. In seiner neuen Tätigkeit als Verkäufer wird vom Recruiter erwartet, den Bewerber, den er eben noch kritisch und distanziert musterte, nun für die neue Herausforderung zu begeistern und für den Betrieb zu gewinnen. Aus der Verlustaversion ergibt sich, dass Bewerber, die ihre alte Stelle aufgeben und sich für einen Wechsel öffnen sollen, den erhofften Gewinn, den die neue Position verspricht, als ungefähr doppelt so hoch einschätzen müssen wie den Verlust, den die Aufgabe der alten Stelle nach sich zieht [23]. Diese Einschätzung erfolgt subjektiv auf Basis der persönlichen Werte und Motive des Bewerbers. Um eine Wechselentscheidung zu unterstützen, gilt es, jenen Grad an Vertrauen herzustellen, der dem Bewerber genügend Sicherheit bietet, um das Alte loszulassen und gleichzeitig den Attraktivitätsgrad der neuen Herausforderung zu erhöhen. Hierzu sollte der Recruiter jene Motive erkennen, die den Bewerber antreiben und ihm den maximalen persönlichen Nutzen bieten. Dabei geht es nur selten um monetäre

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1 Einführung

Werte. Vermittelt der Recruiter die Merkmale der neuen Position so passgenau, dass sie den Motivkanal des Bewerbers treffen, bietet ihm das den als maximal empfundenen Nutzen und steigert die Attraktivität der neuen Stelle. In Folge erhöht sich das Verhältnis, mit dem Gewinn und Verlust bewertet werden, und begünstigt die Entscheidung zum Wechsel. Um die passende Basis für eine Entscheidung zugunsten des Betriebes zu schaffen, sollte der Recruiter die Qualität der Beziehungsebene zum Bewerber bewusst erfassen und in der Lage sein, sie zielgerichtet zu entwickeln. Dies umfasst die Fähigkeit, Kommunikationsstörungen schon im Ansatz zu erkennen und ihnen entgegenzuwirken, um ein Gesprächsklima zu generieren, auf dessen Basis sich der Bewerber öffnet und auf einen Wechsel einlässt. In Kap. 3 zu den Ursachen der nonverbalen Kommunikation werden die für das Geschäftsleben relevanten Motive vertieft. Das Erkennen von Gesprächsstörern und die Pflege der Beziehungsebene werden über das Buch verteilt jeweils bei den einzelnen Elementen der nonverbalen Kommunikation beschrieben. Durch die erweiterte Rolle muss der Recruiter sein Selbstbild und Verhalten anpassen, um sich stimmig in die neue Situation einzufügen und den neuen Erwartungen gerecht zu werden. Die Betriebe waren es lange gewohnt, aus einer großen Auswahl an Bewerbern zu selektieren. Mitunter konnten sie es sich sogar erlauben, auf Bewerbungen gar nicht zu reagieren. Auch heute noch stellt dieses bei Candidate-ExperienceBefragungen das meistmonierte Verhalten dar, was zeigt, dass offensichtlich oftmals noch verschiedene Ansichten über rollenadäquates Verhalten existieren oder zumindest unbewusst an alten Verhaltensweisen festgehalten wird. Doch ein Bewerber, dessen Bewerbung vor einem Jahr ignoriert wurde, wird sich zukünftig davor hüten, sich auf neu ausgeschriebene Stellen des Betriebes zu bewerben. Infolgedessen gehen dessen Bewerberzahlen mehr und mehr zurück und so stellt die eigene Kommunikation eine der Ursachen für den gefühlten Fachkräftemangel dar. Das Beschriebene gilt umso mehr für das Verhalten des Recruiters im Gespräch. Der Grat zwischen selbstbewusstem und überheblichem Verhalten ist schmal. Übertritte wirken direkt auf der Ebene des Selbstkonzeptes und geschehen überwiegend auf der nonverbalen Ebene. Doch wo früher Überheblichkeit zu einem gewissen Grad vom Bewerber hingenommen wurde, wird sie heute bestraft: Recruiter, die Selbstbewusstsein und Überheblichkeit nicht trennen können, stellen sich und ihren Betrieb ins Abseits. Doch wie entsteht Wirkung und wie kann der Recruiter diese konkret beeinflussen? Neben der psychologischen Komponente des Rollenverständnisses hängt die Wirkung zum Großteil von nonverbalen Elementen wie Status, Haltung, Rhythmus, Gestik, Timing und Blickkontakt ab. Diese werden in den einzelnen Kapiteln hinsichtlich ihrer Relevanz für die Rolle des Recruiters vertieft. Situationsgerechte Kommunikation im Recruiting 2.0 Schulz von Thun beschreibt zwei Dimensionen, die den Wahrheitsgehalt einer Situation bestimmen. Um in der Kommunikation das Ideal der Stimmigkeit zu erreichen, muss sowohl den eigenen Bedürfnissen als auch den Erfordernissen der Situation entsprochen

1.2  Kommunikation im Recruiting 2.0

11

werden [24]. Der Rahmen, in dem das Gespräch stattfindet, hat sich in den vergangenen Jahren vom Arbeitgeber- zum Arbeitnehmermarkt gewandelt und dabei auch die Erfordernisse der Situation verändert. Immer häufiger bewerben sich die Betriebe beim Bewerber, und wenn die Betriebsvertreter zunächst den Kandidaten umwerben, anschließend jedoch in die alten Verhaltensmuster zurückfallen, lösen sie Irritation aus. Ebenso enttäuschen sie die impliziten Erwartungen des Bewerbers, wenn ihr Verhalten sich von jenem unterscheidet, das er aus anderen Gesprächen gewohnt ist. Mitunter herrschen eklatante Missverständnisse darüber, wer sich gerade bei wem bewirbt und wer mehr auf den anderen angewiesen ist. Anzustreben ist der partnerschaftliche Kontakt auf Augenhöhe, bei dem ein gemeinsamer Rhythmus die harmonische Basis bildet, auf der Vertrauen entstehen kann. Ausschlaggebend ist, wie es sich konkret im aktuell stattfindenden Bewerbungsgespräch in Bezug auf die zu besetzende Stelle verhält: Wenn sich Betrieb und Bewerber einig sind, haben beide den notwendigen gemeinsamen Nenner, um zueinander zu finden. Wie später gezeigt wird, lässt sich aus dem Rhythmus zwischen den Gesprächspartnern erkennen, wer gerade wen umwirbt, um daraus die Erfordernisse der aktuellen Situation abzuleiten. Zielgerechte Kommunikation im Recruiting 2.0 Darüber hinaus haben sich die Ziele erweitert. Auch wenn sie sich für den Recruiter gut und richtig anfühlt, bietet die Qualität der Auswahl in den meisten Betrieben erhebliches Verbesserungspotenzial. Ergänzend muss der Recruiter 2.0. mehr und mehr den Markt sondieren, um neue Trends und Erwartungen in die Beratung der Fachabteilungen einzubringen. Im Kontakt mit dem Bewerber gilt es, die persönliche Verbindung zu stärken und den Kontakt verbindlicher und vertrauensvoller zu gestalten. Um die Qualität der Auswahl zu verbessern und Fehlentscheidungen zu reduzieren, gilt es, wenn nicht schon geschehen, ein strukturiertes, mehrstufiges Auswahlverfahren zu entwickeln und sich mit den Ursachen von Fehlentscheidungen auseinanderzusetzen. Die Qualität der Entscheidung hängt von der Menge und Qualität der Informationen ab, die der Recruiter im Gespräch erlangt, sowie von seiner Fähigkeit, relevante Informationen zu erkennen und zielgerecht zu interpretieren. Um die Informationsmenge zu vergrößern, sollte die Wahrnehmungsfähigkeit entwickelt und aufmerksamer beobachtet werden. Um darüber hinaus die Informationsqualität zu erhöhen, sollte das Bewusstsein für die verschiedenen Signale des Bewerbers entwickelt werden. Dies beinhaltet die Fähigkeit, positive und negative Botschaften gleichermaßen zu erkennen, zu berücksichtigen und angemessen zu bewerten. Mit steigender Deutungssicherheit lässt sich dann die Fehlerquote im Auswahlprozess senken. Die drei Ebenen der Kommunikation Kommunikation geschieht auf drei Ebenen und setzt sich aus dem Austausch von Signalen auf der verbalen, paraverbalen und nonverbalen Kommunikation zusammen. Der jeweilige Einfluss der drei Ebenen schwankt je nach Situation. Albert Mehrabian kam in seinen Studien zwischen 1968 und 1971 zu dem Ergebnis, dass unsere Kommunikation

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1 Einführung

zu 7 % von den verbalen, zu 38 % von den paraverbalen und zu 55 % von den nonverbalen Botschaften beeinflusst wird [25]. Da diese Ergebnisse sich auf spezifische Settings bezogen, markieren sie Extremwerte, die nicht undifferenziert auf die gesamte Kommunikation übertragen werden sollten. Dennoch weisen sie auf den hohen Einfluss der nonverbalen Kommunikation hin. In Anlehnung an das Eisbergmodell liefert eine 80/20-Aufteilung eine praktikablere Aufteilung: 20 % der Kommunikation erfolgt auf der verbalen Ebene: Der Inhalt dessen, was gesagt wird, ist uns bewusst und dient überwiegend der Gestaltung der Sachebene. Ungefähr 80 % der Kommunikation erfolgen jedoch non- und paraverbal durch unsere Körpersprache und Intonation und dadurch, wie, wann und warum wir etwas sagen [26]. Hier werden unbewusste Inhalte ausgedrückt und die Beziehungsebene gepflegt. Störungen auf der Beziehungsebene erschweren die Kommunikation auf der Sachebene, die Qualität der verbalen Kommunikation hängt von der nonverbalen Kommunikation ab [27]. Da ein Großteil der gesamten Kommunikation im non- und paraverbalen Bereich stattfindet, ergibt sich die Frage, wie diese Bereiche das Bewerbungsgespräch und den Erfolg im Recruiting beeinflussen.

1.3 Warum nonverbale Kommunikation im Recruiting? Nonverbale Kommunikation entscheidet über Zusage oder Absage Die Erfahrungen, die Kahneman bei der Beurteilung der Offiziersanwärter machte, wurden seither auf breiter Basis untersucht und führten zu eindeutigen Ergebnissen: Die nonverbale Kommunikation spielt eine maßgebliche Rolle für die Entscheidung der Recruiter. Schon 1967 zeigten Studien von Robert Carlson, dass unter verschiedenen Interviewern größere Übereinstimmung bei der Ablehnung als bei der Annahme geeigneter Bewerber besteht und ihre Entscheidungen dabei auf Intuition oder „common sense“ beruhten. Die Hinweisreize, die zur Entscheidung führten, lagen im nonverbalen Bereich und entzogen sich der Wahrnehmung des ungeschulten Interviewers [28]. Orman Wright zitierte 1969 zahlreiche Studien, welche die Bedeutung nonverbaler Kommunikation hervorheben, David Young und Ernst Beier zeigten 1977, dass 80 % der Beurteilungsvarianz im Bewerbungsgespräch auf das nonverbale Verhalten zurückgeführt werden kann [28]. Richard Arvey und James Campion legten 1982 ein umfangreiches Sammelreferat vor, das die bis dahin vorliegenden Forschungsergebnisse zusammenfasste und zusätzlich einen Überblick über eine Vielzahl bis dahin veröffentlichter Sammelreferate gab. Die Ergebnisse zeigten erneut, dass nonverbale Kommunikation einen signifikanten Effekt für den Eindruck des Interviewers und die anschließende Entscheidung hat [29]. Die aufgeführten Studien wurden seither regelmäßig bestätigt, beispielsweise 1999 von Siegfried Frey [30] oder 2017 von Alexander Todorov [31]. In den letzten Jahren belegt die Hirnforschung mit ihren bildgebenden Verfahren und der Messung von Hormonen und Neurotransmittern im Rahmen der Entscheidungsfindung auf biologischer Ebene,

1.3  Warum nonverbale Kommunikation im Recruiting?

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was die Psychologie zuvor empirisch erhoben hatte: Die Entscheidung erfolgt zum Großteil unbewusst sowie emotional und damit hängt auch die Entscheidung im Bewerbungsgespräch von bis zu 80 % von der non- und paraverbalen Kommunikation ab. Das gilt für beide Seiten: Auch das nonverbale Verhalten des Recruiters hat maßgeblichen Einfluss auf die Entscheidungsbildung des Bewerbers, dessen Zufriedenheit eine kritische Zielgröße bildet. Neben dem Marketing zog der Vertrieb in das Personalwesen ein und fordert vertriebsorientierte Kommunikation von den am Recruiting beteiligten Akteuren. Wie zahlreiche Publikationen der erfolgreichsten Verkäufer belegen, wird auch dort neben der Psychologie der Fokus auf die nonverbale Kommunikation gelegt, um neue Kunden zu gewinnen und zu binden. Das Gossensche Gesetz des abnehmenden Grenznutzens bedeutet im Bereich des Lernens, dass die ersten Lerneinheiten den größten Kompetenzzuwachs bringen. Da unsere nonverbale Kommunikation jedoch ihrem Wesen nach im unbewussten Bereich stattfindet und wirkt, wurde sie in der Vergangenheit oft vernachlässigt. Da belegt ist, dass die nonverbale Kommunikation sowohl den größten Teil unserer Kommunikation prägt, als auch für den Großteil der Wirkung, die wir bei anderen hinterlassen, und für die Qualität unserer zwischenmenschlichen Beziehungen verantwortlich ist, bietet sie den größten Hebel für Entwicklungen. Für Recruiter eröffnet die Entwicklung ihrer nonverbalen Kompetenz die effektivsten und effizientesten Möglichkeiten, um die Qualität der Auswahl zu erhöhen, kompetenter zu wirken und die Beziehung zum Bewerber zu stärken. Laut Gallup Institut verlassen Angestellte in erster Linie ihre Führungskräfte und nicht das Unternehmen [32]. Hat sich der Bewerber beworben, kann unterstellt werden, dass er sich das Unternehmen als zukünftigen Arbeitgeber prinzipiell vorstellen kann. Das bedeutet für das Recruiting, dass sich Bewerber neben örtlichen Präferenzen und Hygienefaktoren aus zwei Gründen für oder gegen einen Betrieb entscheiden: wegen der Atmosphäre im Gespräch und wegen der Beziehung, die sich während des Bewerbungsverfahrens zwischen ihnen und den Vertretern des Betriebes entwickelt. Beide werden maßgeblich durch die nonverbale Kommunikation bestimmt. Wertschätzende Kommunikation stärkt die Beziehungsebene und gewinnt den Bewerber Eine stabile Beziehungsebene ist essentiell für eine gelingende Kommunikation. Um diese positiv zu gestalten, sollte wertschätzend kommuniziert und eine kooperative Gesprächsatmosphäre entwickelt werden. Konflikte belasten die Beziehungsebene und gründen im Geschäftsleben zum Großteil auf Statusverletzungen und territorialen Übergriffen. Schon bevor diese ins Bewusstsein des Bewerbers gelangen, reagiert er nonverbal und sendet subtile Warnsignale. Wenn der Recruiter lernt, diese bewusst wahrzunehmen, kann er intervenieren, bevor sich der Kandidat über den beginnenden eigenen Rückzug bewusst wird. Dabei sind für das Gelingen der Kommunikation nicht die guten

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1 Einführung

Absichten des Recruiters maßgeblich, sondern, wie dessen gesendete Botschaften vom Bewerber aufgenommen werden. Kommunikation ist Wirkung und nicht Absicht [33]. Wertschätzende Kommunikation orientiert sich am kategorischen Imperativ und zeichnet sich durch ihre Umkehrbarkeit aus: So, wie A mit B spricht, darf auch B mit A sprechen [34]. Kommt uns jemand im Gespräch zu nahe, stellt allzu indiskrete ­Fragen oder behandelt uns von oben herab, ziehen wir uns zurück. Findet der Recruiter das eigene, in Richtung des Bewerbers gezeigte Verhalten passend, verbittet sich aber Entsprechendes in umgekehrter Richtung, fehlt die notwendige Wertschätzung, was in der Regel früher oder später zu Störungen in der Kommunikation führt. Diesen Störungen liegt ein tiefer liegender Rollen-Status-Konflikt zugrunde, der sich beispielsweise in nonverbalen Kommentierungen der Aussagen des Gesprächspartners äußert oder in territorialen Übergriffen. Dem Gesprächspartner Territorium zuzugestehen, gibt diesem dagegen die Freiheit zum selbstbestimmten Handeln und stellt damit Wertschätzung in höchster Form dar. In Kap. 5 über Territorium und Status werden die verschiedenen territorialen Ausprägungen vertieft, um das Bewusstsein für die damit verbundenen Konfliktpotenziale zu erhöhen. Intentionsbewegungen berücksichtigen  Um wertschätzend zu kommunizieren, sollten Intentionsbewegungen erkannt und berücksichtigt werden. Wir alle haben uns im Laufe unseres Lebens ein gewisses Bild über die Welt gemacht und damit darüber, wie die Dinge zusammenhängen und was wir in verschiedenen Situationen zu erwarten haben. Die Lernpsychologie bezeichnet dies als Systematik [35]. Lernfähigkeit ist eine essenzielle Eigenschaft, um in der Evolution zu bestehen, und entsprechend sind wir ständig bemüht, neue Informationen in unsere bestehende Systematik einzugliedern und unser Bild über die Welt zu erweitern. Kommt es hierbei zu Widersprüchen, hat deren Klärung Priorität. Auch wenn der Bewerber diese Klärung nicht offen einfordert, ist er innerlich irritiert und versucht, die Diskrepanzen in Einklang zu bringen. Wie im Web-Browser wird innerlich ein neuer Tab geöffnet, um das Thema gesondert zu recherchieren. In Folge fehlt die Konzentration für das Gespräch mit dem Recruiter. Systematik-Konflikte eröffnen im Bewerbungsgespräch wichtige Felder, über die gesprochen werden sollte, denn hier decken sich gemachte Erwartungen nicht mit der wahrgenommenen Realität. Wenn wir nach mehr Informationen verlangen, zeigt sich dies in subtilen Intentionsbewegungen wie einem kurzen verstärkten Einatmen, um in Aktionsbereitschaft zu treten, dem leichten Öffnen des Mundes und anderen, in späteren Kapiteln beschriebenen, Signalen. Wer über die Intentionsbewegungen des Gesprächspartners hinweggeht, impliziert, dass die eigene Position im Gespräch wichtiger ist als die des Gegenübers. Nonverbal drückt ein solches Verhalten aus, dass man besser weiß, was für den anderen gut ist, als dieser selbst. Ein hierarchisches Gefälle entsteht, der wertschätzende Kontakt geht verloren, der Gesprächspartner ordnet sich unter und zieht sich nach und nach aus dem Gespräch zurück. Erkennt der Recruiter dagegen Intentionsbewegungen und reagiert auf diese, fühlt sich der Bewerber wertgeschätzt und kann das Gespräch um für ihn relevante

1.3  Warum nonverbale Kommunikation im Recruiting?

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Punkte ergänzen. So können wichtige Aspekte der Entscheidungsfindung beleuchtet und die Konzentration im Gespräch gehalten werden. Die zusätzlichen Informationen ermöglichen dem Recruiter eine differenziertere Entscheidung. Darüber hinaus kann er den Bewerber durch eine individuellere Ansprache besser erreichen und für den Betrieb gewinnen. Dem Endowment-Effekt entgegenwirken Jack Knetsch führte in den 70er Jahren im Rahmen der Erforschung des Endowment-Effekts („Besitztumseffekt“) eine Studie durch, um herauszufinden, wie Menschen zu einer gemachten Entscheidung stehen: Während sie an einer Umfrage teilnahmen, sah eine Vergleichsgruppe einen Füllfederhalter, der anderen wurde dagegen eine Tafel Schokolade präsentiert. Als Dank für die Teilnahme an der Umfrage erhielt jeder Teilnehmer im Anschluss ein Exemplar des zuvor präsentierten Exponats als Geschenk. Dann erfolgte das eigentliche Experiment: Den Teilnehmern wurde das andere Geschenk gezeigt und sie erhielten die Möglichkeit zu tauschen. Das Ergebnis überraschte: Unabhängig davon, ob sie die Schokolade oder den Füllfederhalter erhalten hatten, zeigten sich lediglich 10 % der Teilnehmer zum Tausch bereit [36]. Auch im Alltag und im Berufsleben sind Menschen vor einer Entscheidung oft kritisch und zögerlich. Wenn sie sich aber einmal entscheiden haben, verteidigen sie ihre Entscheidung, teilweise sogar vehement.

Wenn das Kind in den Brunnen gefallen ist, ist es zu spät. Jack Knetschs und ähnliche Studien zeigen: Wer einmal bewusst eine Position bezogen hat, kann in der Regel nur mit hohem Aufwand zu einer Änderung bewegt werden. Durch den Aufbau unseres Organismus bedingt, reagiert unser Körper schneller als unser bewusster Verstand und antwortet zumindest mit einem Impuls auf empfangene Reize. Aufmerksame Beobachter registrieren ablehnende nonverbale Signale des Gesprächspartners schon im Ansatz. Dadurch erhalten sie einen Informationsvorsprung und können intervenieren, bevor es zu offener Ablehnung kommt. Die Entstehung von Fronten kann verhindert, Energie gespart und Frustration infolge negativer Antworten vermieden werden. Dadurch verhindern Recruiter enttäuschte Erwartungen auf der Bewerberseite, halten das Gespräch im spannungsfreien Bereich und unterstützen eine positive Entwicklung der Beziehung. Trügerische Kongruenz – Bewerbersignale differenziert beurteilen Intuitiv achten wir bei unseren Gesprächspartnern darauf, ob deren nonverbale, paraverbale und verbale Signale kongruent miteinander harmonieren oder sich inkongruent zueinander verhalten. Die Abwesenheit oder Unterdrückung einer der drei Ebenen wird im Zweifelsfall als Inkongruenz eingestuft, und während Kongruenz überzeugend wirkt, fehlt Inkongruenz die Glaubwürdigkeit. Wenn uns jemand mitteilt, dass er sich freut, dabei aber ein trauriges Gesicht zeigt, überzeugen uns seine Worte nicht, wir sehen, dass „etwas“ nicht stimmt. Je vertrauter uns ein Setting ist, desto sicherer fühlen wir uns. Wir kennen die expliziten und impliziten Erwartungen, die an uns gerichtet werden, sowie die üblichen Kommunikationscodes, die damit einhergehen. Infolgedessen erhöhen sich unsere Möglichkeiten, kongruent zu agieren. Das Bewerbungsgespräch stellt ein Setting dar, in

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1 Einführung

dem der Großteil der Bewerber nur wenig Erfahrung hat. Je nach Grad der Wichtigkeit, die der Bewerber dem Ausgang des Gesprächs beimisst, steigt sein Druck und führt zu Stress und Verkrampfung. Der Bewerber gerät in ein Dilemma: Seine Anspannung lässt ihn unattraktiv wirken, wo er doch gerade glänzen sollte! Dass das Gespräch auf einem für den Bewerber fremden Territorium stattfindet, bildet einen weiteren Unsicherheitsfaktor. Druck, Stress und Unsicherheit führen häufig zu Inkongruenz, und die Gefahr entsteht, dass der Recruiter durch diese Inkongruenzen die Aussagen des Bewerbers falsch interpretiert. Routinierte Blender, Industrieschauspieler und Selbstdarsteller sind dagegen gewohnt, sich überzeugend in Szene zu setzen. Ob es tatsächlich stimmt oder nicht, sie glauben weitestgehend, was sie sagen, treten dadurch kongruenter auf und kegeln so unsichere und selbstkritischere Bewerber unabhängig von der wirklichen Passgenauigkeit aus dem Rennen. Wenn der Recruiter den eigenen Bezugsrahmen erweitert und vermeidet, undifferenziert von Inkongruenz auf mangelnde Eignung oder Unaufrichtigkeit zu schließen, kann er, über die wahrgenommene Nervosität hinaus, mögliche Einflüsse erkennen und voneinander abgrenzen, um die Qualität seiner Auswahl zu verbessern. Erwiesenermaßen schätzen wir Menschen, die uns ähnlich sind, positiver ein als andere [37]. Dieser Effekt beginnt bei signifikantem Sympathieempfinden für Menschen mit dem gleichen Nachnamen oder Geburtstag und führt hin zu unbewussten Präferenzen für Menschen mit gleichen Hobbys und ähnlichem Habitus. Diese Präferenzen führen zum sogenannten Mirror-Bias, zur Verpflichtung von Menschen, die dem Entscheider zwar ähnlich sind, aber oft aus genau diesem Grund eben nicht für eine ausgeschriebene Stelle geeignet sind, weil diese ganz andere Stärken und Eigenschaften verlangt. Recruiter, die sich ihrer eigenen nonverbalen Signale und Gewohnheiten bewusst sind, fällt es leichter, zu erkennen, dass sie gerade Gefahr laufen, dem Mirror-Bias zu erliegen. Dementsprechend können sie bewusst gegensteuern und sich selbst hinterfragen, um ihre Auswahl zu verbessern. High- und Low-Involvement bei der Entwicklung der Einstellung erkennen Früher oder später müssen Recruiter und Bewerber Farbe bekennen und sich für- oder gegeneinander entscheiden. Auf dem Weg zur Entscheidung entwickeln sie nach und nach ihre Einstellung. Steigt das eigene Interesse, versuchen wir, die Entscheidung des Gegenübers zu unseren Gunsten zu beeinflussen. Die Sozialpsychologen Richard Petty und John Cacioppo entwickelten 1986 das Elaboration-Likelihood-Modell, welches beschreibt, auf welche Art und Weise Einstellungen gebildet und wie dabei Informationen verarbeitet werden. Je nach persönlichem Interesse, eigener Zielsetzung, dem Grad eventueller Ablenkungen und der Wiederholung der zentralen Kernbotschaft ergibt sich eine hohe oder niedrige Beteiligung – „High Involvement“ oder „Low Involvement“. Diese führen zu verschiedenen Arten der Informationsverarbeitung auf dem sogenannten zentralen oder peripheren Weg.

1.3  Warum nonverbale Kommunikation im Recruiting?

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High Involvement – Verarbeitung auf dem zentralen Weg Liegt sogenanntes High Involvement vor, werden Informationen zentral verarbeitet: Dabei wird kritisch hinterfragt, nachgerechnet und sich differenziert mit Inhalten auseinandergesetzt. Man gelangt auf dem analytischen, rationalen, kognitiven Weg zur Entscheidung. Die so gewonnene Einstellung ist relativ stabil gegen äußere Einflüsse und wir halten über einen längeren Zeitraum an ihr fest. Im Bewerbungsgespräch schauen sich also Recruiter oder Bewerber die Unterlagen genau an, hinterfragen kritisch, wägen ab, vergleichen, recherchieren und treffen schließlich eine sachlich gut begründete und objektiv nachvollziehbare, stabile Entscheidung. Low Involvement – Verarbeitung auf dem peripheren Weg Anders verhält es sich beim sogenannten Low Involvement. Hier werden Informationen peripher verarbeitet und weniger kritisch hinterfragt. Man bildet sich eher oberflächlich eine Meinung und öffnet dabei den klassischen Wahrnehmungs-, Beurteilungs- und Denkfehlern Tür und Tor. Auch die Einflüsse von Vorurteilen und Stereotypen sind wesentlich ausgeprägter. Recruiter und Bewerber lassen sich durch die nonverbale Kommunikation sowie den Grad der kognitiven Leichtigkeit (Salienz, d. h. der Auffälligkeit der gesendeten Signale und Informationen oder deren Vertrautheit) beeinflussen. Je mehr Wiedererkennungseffekte und Bekanntes es dabei gibt, desto eher wird eine positive Einstellung gebildet. Ein attraktives Bewerbungsfoto, ein kongruenter, entspannter Auftritt, starke Brands im Lebenslauf, gemeinsame Ähnlichkeiten und Gewohnheiten, übereinstimmende Fachbegriffe und soziale Codes – schon wird der Weg zur Entscheidung zugunsten des Bewerbers eingeschlagen. Auf dem peripheren Weg entstandene Einstellungen sind allerdings weniger stabil gegenüber äußeren Einflüssen und in Bezug auf die zeitliche Dauer. Sie haben gewissermaßen eine niedrigere Halbwertszeit als Einstellungen, die auf dem zentralen Weg gebildet werden. Dafür wird der periphere Weg häufiger herangezogen, da er weniger Energie verbraucht. Bedeutung für das Recruiting Das Elaboration-Likelihood-Modell wirkt im Recruiting in beide Richtungen: Erkennen wir den Weg, auf dem unser Gegenüber gerade die Informationen verarbeitet, können wir auf seine Beteiligung schließen und entsprechend unsere Art, Informationen zu senden, anpassen. Verarbeitet der Bewerber zentral, helfen Daten und Fakten auf der verbalen Ebene, um ihn zu überzeugen. Verarbeitet er peripher, lässt er sich leichter durch die nonverbal ausgedrückte Überzeugung und Begeisterung des Recruiters anstecken. Darüber hinaus können Recruiter die Art und Weise, mit der sie selbst oder ihr Interviewpartner gerade ihre Einstellung bilden, erkennen und kritisch hinterfragen: Beispielsweise überraschten Studien mit Richtern, welche zeigten, dass deren Entscheidung über Zusage oder Ablehnung eines Bewährungsgesuchs maßgeblich von der Uhrzeit und davon, ob sie volle Mägen hatten, abhing [38]. In anderen Untersuchungen entschieden sich Recruiter vermehrt für jene Bewerber aus Gesprächen, bei denen sie ein warmes Getränk in der Hand gehalten hatten [39]. Für eine objektive Auswahl sollte der

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1 Einführung

professionelle Recruiter 2.0 für alle Bewerber möglichst vergleichbare Bedingungen schaffen. Das Wissen um die Einflüsse und Mechanismen seiner Einstellungsbildung sollte zu der ehrlichen Frage führen: Wie entscheide ich gerade? Lasse ich mich blenden, überfliege ich den Lebenslauf lediglich oberflächlich oder hinterfrage ich einzelne Punkte kritisch? Suche ich nur nach Gründen, um meinen ersten Eindruck zu bestätigen? Wann ist meine Schwelle, konzentriert zu matchen, erreicht? Mit welcher Perspektive und Zielsetzung begegne ich dem Bewerber? Wann sichte ich seinen Lebenslauf? Wo stehe ich in meiner Tagesleistungskurve? Wann führe ich das Gespräch und beeinflusst womöglich gerade etwas meine unabhängige Entscheidungsfindung? High Involvement und Low Involvement bewusst zu erkennen ermöglicht, jene professionelle Distanz zum Prozess und zum Bewerber zu gewinnen, die notwendig ist, um spontane und überwiegend unbewusste Entscheidungen zu erkennen und zu vermeiden. Darüber hinaus verbessert es das Verständnis für und den Kontakt zum Bewerber: Wenn der geschulte Recruiter erkennt, dass der Bewerber gerade zentral verarbeitet und sich kritisch mit den Inhalten der Tätigkeit und dem Betrieb auseinandersetzt, wird er dies nicht als Ablehnung seines Betriebes oder seiner Person interpretieren, sondern einordnen, dass der Bewerber gerade High Involvement zeigt und versucht, zu einer verbindlichen Entscheidung zu gelangen, und sich dabei nicht einfach durch extrinsische Faktoren, wie Geld, blenden lässt. High und Low Involvement unterscheiden sich nonverbal beispielsweise durch unterschiedliche Pupillengröße, Timing, Pausen, Spannungsgrade der Bewegungen, Öffnungsgrade des Lendenwinkels, Gestik und Sitzhaltung. Die Fähigkeit, hohe oder geringe Beteiligung zu erkennen und zu unterscheiden, ermöglicht dem geschulten Recruiter, sich auf Rhythmuswechsel und die Bedürfnisse des Bewerbers sicher einzustellen. Dadurch kann er seine Beobachtungen vor einem erweiterten Bezugsrahmen relativieren und Fehlurteile reduzieren. Täuschungen vorbeugen und besser erkennen Obwohl wir unseren Mitmenschen nur selten unterstellen, dass sie uns vorsätzlich täuschen wollen, sind im Bewerbungsgespräch bis zu 83 % der Bewerber dazu bereit [40]. Es fällt Menschen umso leichter, andere zu belügen, je weniger Kontakt zu diesen besteht und je weniger sie sich ihnen gegenüber verpflichtet fühlen. Je stärker dagegen die Verbindung auf der Beziehungsebene ist, desto schwerer fällt es, die Unwahrheit zu sagen, und desto stärker wird das Unrechtsbewusstsein. Natürlich belügen Menschen dennoch auch jene, die ihnen nahestehen, doch baut sich dabei ein stärkerer innerer Druck auf, der sich in deutlicheren Signalen äußert und für geschulte Beobachter leichter erkennbar und sicherer interpretierbar ist. Eine offene Atmosphäre im Gespräch, die sicherstellt, dass partnerschaftlich über alles gesprochen werden kann, führt zu Informationsgewinnen. Gleichzeitig wird die Beziehung stabiler und das Gefühl, der Wahrheit verpflichtet zu sein, wächst. Kommt es nun zu kritischen Fragen, wird der Bewerber einerseits offener antworten und andererseits bei Täuschungsversuchen deutlichere Signale zeigen, die es dem Recruiter erleichtern, diese zu erkennen und, je nach Gesprächsstrategie, ins Gespräch zu integrieren. Gelingt es dem Recruiter, gleichzeitig

1.3  Warum nonverbale Kommunikation im Recruiting?

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die kooperative Atmosphäre zu erhalten und es dem Bewerber zu ermöglichen, in einer gesichtswahrenden Art und Weise nachzusteuern, kann er an für seine Entscheidung kritische Informationen gelangen und eine differenziertere Auswahl treffen. Intrinsische Motivation erkennen Wie entsteht Motivation? Unerfüllte Bedürfnisse führen zu Mangelempfinden und motivieren uns, dieses durch Handeln zu beseitigen. Ist das Ziel erreicht, lässt die Motivation wieder nach. In Bezug auf ihre Motivation im Bewerbungsgespräch lassen sich Bewerber somit grob in zwei Typen unterscheiden. Die erste Gruppe verfolgt die Befriedigung der unteren drei Stufen der Maslowschen Bedürfnispyramide. Arbeit dient ihnen dazu, physiologische Grundbedürfnisse, Sicherheitsbedürfnisse und soziale Bedürfnisse zu erfüllen. Vereinfacht ausgedrückt wird gearbeitet, um ein Dach über dem Kopf und genug zu essen zu haben, dazu Absicherung im Alter oder im Krankheitsfall sowie einen Platz in der Gesellschaft und ausreichende Chancen bei der Partnersuche. Die Motivation im Bewerbungsprozess ist in diesem Fall überwiegend extrinsisch geprägt: Das Ziel ist, einen sicheren Arbeitsplatz zu finden, um Geld zu verdienen. Die zweite Gruppe von Bewerbern strebt nach Erfüllung der oberen Hierarchiestufen und entspricht den von Jörg Knoblauch beschriebenen A-Mitarbeitern [41]. Für sie ist Arbeit ein Mittel zum Zweck, die ihnen ermöglicht, erfolgreich zu sein, zu wachsen und sich selbst zu verwirklichen. Der richtige Betrieb ist dabei ein Partner, um höhere Ziele zu verfolgen, die alleine nicht erreicht werden könnten. Die intrinsische Motivation dieser Gruppe führt zu nachhaltigem Engagement und in der Regel zu überdurchschnittlichem Wachstum des Betriebes. Die erste Gruppe hat nach einer erfolgreichen Bewerbung ihr Hauptziel erreicht. Wenn zwischenzeitlich nicht höhere Bedürfnisse entstanden sind, sinkt ihre Motivation mit jeder erreichten Sicherheitsstufe wie dem Bestehen der Probezeit oder der Entfristung des Arbeitsvertrages. Die zweite Gruppe fängt dagegen nach einer erfolgreichen Bewerbung erst richtig an zu arbeiten. Als kritisches Qualitätsziel im Recruiting leiten sich damit das Erkennen und Gewinnen der intrinsisch motivierten Bewerber ab sowie die Auslese lediglich extrinsisch motivierter Kandidaten. Während intrinsische Motivation sich hin zu Wachstum orientiert und auf der mittleren limbischen Ebene gründet, [42] die sich nonverbal ausdrückt und dem bewussten Zugriff entzieht, [43] ist extrinsische Motivation von außen gespeist und oftmals auf die Vermeidung von Mangel oder Abwendung von Sanktionen ausgerichtet [44]. Es entsteht bei extrinsischer Motivation eine Handlungsinhärenz zwischen Mittel und Zweck der Handlung [44]. Das kann sich im Bewerbungsgespräch durch formal korrekte verbale Antworten zeigen, welche jedoch nicht durch eine kongruente nonverbale Kommunikation gestützt werden. Bei intrinsischer Motivation stimmen Mittel und Zweck der Handlung mit den tieferen Teilen unserer Persönlichkeit überein und führen zu einer kongruenten verbalen, paraverbalen und nonverbalen Kommunikation. Auf die Frage „Warum sollten wir uns für Sie entscheiden?“ wird der Recruiter entweder lediglich, mitunter gut einstudierte, Lippenbekenntnisse hören oder zusätzlich leuchtende Augen und ähnliche, später beschriebene, nonverbale Signale sehen, die es ihm ermöglichen, intrinsisch motivierte Bewerber sicherer zu erkennen.

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Zugang zu felddynamischem Recruiting Neben den fachlichen Qualifikationen stellt die Zusammensetzung der Mitarbeiter einen kritischen Faktor für das Klima im Team dar und beeinflusst direkt die Kreativität und das produktive Potenzial der Gruppe. Wenn der neue Mitarbeiter von der Persönlichkeit her nicht ins Team passt und sich keine gemeinsame Schnittmenge mit dem sich dynamisch entwickelnden Feld der Gruppen- und Betriebsziele vereinbaren lässt, ist der Recruiting-Erfolg nur von kurzer Dauer. Eberhard Stahl baut das Gruppenfeld auf dem Riemann-Thomann-Modell auf und beschreibt, wie sich Felddynamik entwickelt, welche psychologischen und gruppendynamischen Rollen darin existieren und wie einzelne Gruppenmitglieder sich in freie Rollen im Gruppenfeld einfinden [46]. Entstehen zwischen einzelnen Mitarbeitern Auseinandersetzungen um die Besetzung einer Rolle, werden diese unter der Oberfläche des Arbeitsalltags ausgetragen und beeinflussen dabei die gesamte Gruppe. Die verbrauchte Energie fehlt dem betrieblichen Leistungsprozess: Kreative, kooperative und produktive Zusammenarbeit kann erst erreicht werden, wenn die übergeordneten Themen der Gruppe geklärt sind. Schulz von Thun beschreibt acht verschiedene Kommunikationsstile und deren psychologische Implikationen [47]. Einen Mehrwert für das Recruiting bietet die Möglichkeit, die verschiedenen Stile im Riemann-Thomann-Kreuz zu verorten und so in ein felddynamisches Recruiting zu integrieren. Hierzu gibt es zwei Möglichkeiten: Auf der schriftlichen oder verbalen Ebene können Persönlichkeitstests durchgeführt werden und die Bewerber im Riemann-Thomann-Kreuz verortet werden. Die nonverbale Methode setzt die Beherrschung des Riemann-Thomann-Modells und der verschiedenen Kommunikationsstile voraus und ermöglicht dem Recruiter die direkte Verortung während der aktuell stattfindenden Kommunikation. Auf diese Weise kann das Recruiting um eine zusätzliche Dimension erweitert werden, ohne begehrte Bewerber durch langwierige Tests vor den Kopf zu stoßen. Auch dieses Vorgehen wird im Vertrieb schon praktiziert. So klassifizieren entsprechend geschulte Empfangsmitarbeiter der luxemburgischen Firma Coplaning ihre Kunden und weisen ihnen einen passenden Ansprechpartner zu, auch die Texte der anschließend zugeschickten Angebote sind auf den individuellen Typ des Kunden angepasst [48]. Einblicke in die Persönlichkeit des Bewerbers gewinnen Laut Jürgen Hesse und Hans Christian Schrader besteht die Hauptaufgabe des Bewerbungsgesprächs darin, Einblicke in die Persönlichkeit (70 %) des Bewerbers zu gewinnen. Es folgen die Motivation (20 %) und die Bestätigung der fachlichen Kenntnisse (10 %) [45]. In guten Zeiten kommen kontraproduktive Aspekte unserer Persönlichkeit nicht zum Tragen: Wir verfügen über ausreichend Reserven und können unser „Sonntagsgesicht“ präsentieren. In stressigen Situationen des Berufsalltags, in anspruchsvollen Phasen der Veränderung oder bei zu hoher Belastung kann jedoch psychologisch gesehen der Vorgang der Regression einsetzen [49]. Bei diesem schaltet der Organismus „runter“ und greift auf stabilere Verschaltungsmuster zurück. Dabei aktiviert er die unteren, egoistischeren Ebenen unserer Persönlichkeit: Selbsterhalt geht

1.3  Warum nonverbale Kommunikation im Recruiting?

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über Arterhalt und nun zeigt sich mitunter eine ganz andere Seite. Je komplexer und dynamischer jedoch im heutigen Geschäftsleben die Herausforderungen werden, desto weniger können sie durch den Einzelnen bewältigt werden [50]. Wenn die Herausforderungen wachsen, hängt das Überleben der gesamten Organisation von den Synergieeffekten vereinter Kollektivleistungen und der Fähigkeit zur organisierten Kooperation ab. Gerade in kritischen Zeiten ist es also für den Betrieb entscheidend, das ganze Team geschlossen an Bord zu haben und nicht Energie in egoistisch-egozentrischen Scharmützeln zu verlieren. Es geht also darum, unpassende Persönlichkeiten zu erkennen und auszusortieren. Die Schwierigkeit liegt darin, dass das in einer Situation geschieht, in der sich die relevanten Seiten der Persönlichkeit nicht direkt und offen zeigen. Bisherige Gespräche fanden überwiegend auf der kognitiv-kommunikativen Ebene statt, die jedoch kaum an die Persönlichkeit des Bewerbers herankommt [51]. Intelligente Bewerber, die ihre Hausaufgaben gemacht haben, überzeugen so im Gespräch, nur lässt sich damit keine Einsicht in ihr späteres Verhalten in kritischen Zeiten gewinnen. Deshalb denken sich findige Personaler ständig neue Fragen oder Methoden aus, um doch noch an Einblicke in die tiefer liegenden Strukturen zu gelangen, das 2013 entwickelte Recruiting-Verfahren der niederländischen Brauerei Heinecken war dabei wahrscheinlich auch das medienwirksamste: Zusätzlich zum ganzheitlichen Ansatz erreichte es 500 Mio. Zuschauer auf Youtube und steigerte die Anzahl der Bewerbungen um Folgejahr um 317 % [52]. Gerhard Roth beschreibt 2015, wie sich unsere Persönlichkeit neurobiologisch aus vier Ebenen zusammensetzt, die in Kap. 3 vertieft werden [53]. Roth belegt ebenso, dass sich unsere Persönlichkeit überwiegend nonverbal ausdrückt und dass wir unsere verbale Kommunikation im Extremfall völlig losgelöst von ihr gestalten können [54]. Recruiter, die die nonverbale Kommunikation des Bewerbers bewusst erfassen, erhalten also wesentlich bessere Einblicke in dessen Persönlichkeit als jene, die sich lediglich auf die verbale Ebene beschränken. Differenzierte Analyse und Weiterentwicklung des Recruiting-Prozesses Die aufgeführten Themenkomplexe zeigen, wie vielschichtig über die nonverbale Kommunikation auf die Qualität des Recruitings eingewirkt werden kann. Solange ausreichend neue Bewerber vorhanden waren, wurde eine mangelhafte Qualität der Auswahl nur selten bemerkt oder gar infrage gestellt. Da sich die wahre Qualität der Auswahl zeitlich versetzt zeigt, entsteht erst bei wiederholten oder gravierenden Falschbesetzungen oder systematischem Controlling die Chance, dass Recruiting-Fehler ins Bewusstsein der Beteiligten gelangen und der Betrieb die Möglichkeit erhält, die eigenen Prozesse infrage zu stellen und zu entwickeln. Der Rückgang der Bewerberzahlen wird in der Regel dem Markt, den Bewerbern oder der starken Konkurrenz zugeschrieben, obwohl, wie aufgezeigt, durchaus Möglichkeiten zur Einflussnahme bestehen. Erfolge und Misserfolge in der Auswahl wurden allzu oft mit Glück und Pech begründet. Sollen die eigenen Prozesse analysiert und weiterentwickelt werden, kann dies nur geschehen, wenn man weiß, was man tut. Es gilt, sich die relevanten Faktoren ins Bewusstsein zu rufen. Da die Ebene der nonverbalen Kommunikation ihrer Natur gemäß

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1 Einführung

unterhalb der bewussten Wahrnehmung stattfindet, wurde sie trotz ihres weitreichenden Einflusses in der Vergangenheit regelmäßig vernachlässigt. Betriebe und Recruiter, die ihren Bezugsrahmen um diese Dimension der Kommunikation erweitern, erschließen sich effiziente Möglichkeiten zu differenzierteren Analysen und einer ganzheitlichen Weiterentwicklung der eigenen Prozesse, die den Anforderungen der veränderten Marktlage nicht nur standhalten, sondern neue Maßstäbe setzen und für den eigenen Betrieb einen kritischen Wettbewerbsvorteil im Kampf um die besten Talente bedeuten können. Das führt zu der Frage, wie die nonverbale Kompetenz am besten entwickelt werden kann und damit zum nächsten Kapitel.

Literatur 1. Daniel Kahneman: Schnelles Denken, langsames Denken, S. 259–262: Siedler Verlag, ­München, 2012 2. Jack Nasher: Durchschaut; S. 191; Wilhelm Heyne Verlag, München, 2010 3. http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/wirtschaft/die-sieben-steine-eines-weisen-11128530.html Aufgerufen am 10.08.2018, 06:00 Uhr 4. Jim Collins: Good to great, S. 41; HarperCollins books, New York, 2001 5. http://www.spiegel.de/karriere/probezeit-als-jobtest-bloss-raus-hier-a-1050199.html aufgerufen am 10.08.2018; 06:17 Uhr 6. Jörg Knoblauch: Die Personalfalle: Schwaches Personalmanagement ruiniert Unternehmen; Campus, Frankfurt am Main, 2011; https://www.tempus.de/downloads/281.pdf aufgerufen am 10.08.2018; 6:34 Uhr 7. Jörg Knoblauch: Die besten Mitarbeiter finden und halten, Hörbuch, Campus Verlag, Frankfurt am Main, 2009 8. https://de.wikipedia.org/wiki/Mooresches_Gesetz Aufgerufen am 17.08.2018 9. Jörg Knoblauch: Das Geheimnis der Champions: Wie exzellente Unternehmen die besten Mitarbeiter finden und binden; Hörbuch, Campus Verlag, Frankfurt am Main, 2016 10. Martin Gaedt: Mythos Fachkräftemangel; S. 38–39; Wiley-VCH Verlag & Co. KGaA, Weinheim, 2014 11. Martin Gaedt: Mythos Fachkräftemangel, S. 161–207; Wiley-VCH Verlag & Co. KGaA, Weinheim, 2014 12. Erzählung eines Arbeitsmarktmanagers der Agentur für Arbeit Bautzen im Seminar, Meissen, 2017 13. http://www.spiegel.de/karriere/generation-y-die-gewinner-des-arbeitsmarkts-a-766883.html Aufgerufen am 11.08.2018 um 12:39 Uhr 14. Martin Gaedt: Mythos Fachkräftemangel; S. 161–207 Wiley-VCH Verlag & Co. KGaA, Weinheim, 2014 15. Gerd Gigerenzer: Risiko, S. 79; C. Bertelsmann Verlag, München, 2013 16. Malcom Gladwell: Blink; Allen Lane, London, 2005 17. Maja Storch: Das Geheimnis kluger Entscheidungen, Hörbuch, Argon Verlag GmbH, Berlin, 2013 18. Gerd Gigerenzer: Risiko, S. 143; C. Bertelsmann Verlag, München, 2013 19. Gerd Gigerenzer: Risiko, S. 147–150; C. Bertelsmann Verlag, München, 2013 20. Ralph Dannhäuser (Hrsg): Praxishandbuch Social Media Recruiting, S. 485–487; Springer Gabler, Wiesbaden, 2015

Literatur

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21. Martin John Yate: Das erfolgreiche Bewerbungsgespräch, S. 9; Campus Verlag, Frankfurt am Main, 2005 22. Friedemann Schulz von Thun: Miteinander reden:3; S. 365; Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek bei Hamburg, 1998 23. Gesine Heeren: Neuronale Grundlagen der Verlustaversion, S. 7; Dissertation, Uni Bonn, 2018 24. Friedemann Schulz von Thun: Miteinander reden:3; S. 352; Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek bei Hamburg, 1998 25. Albert Mehrabian: Nonverbal Communication, S. 182; Aldine Transaction, Piscataway, New Jersey, 2007 26. Ferenc Nagy: Lernscript Kommunikationsmodelle im Vergleich, S. 13; Campus Akademie, Lübeck, 2013 27. Vera F. Birkenbihl: Signale des Körpers, S. 19; mvg Verlag, München, 2001 28. Wolfgang Hopp: Das Erkennen von Hochleistungsmotivation im Bewerbungsgespräch, Diplomarbeit, Freiburg, 1992 29. Wolfgang Hopp: Das Erkennen von Hochleistungsmotivation im Bewerbungsgespräch, S. 142; Diplomarbeit, Freiburg, 1992 30. Siegfried Frey: Die Macht des Bildes; Verlag Hans Huber, Bern, 1999 31. Alexander Todorov: Face Value; Princeton University Press, Princeton, 2017 32. https://www.wiwo.de/erfolg/beruf/gallup-studie-fuehrungskraefte-sind-der-wahre-produktivitaetskiller/19552634.html aufgerufen am 19.08.2018 – 15:05 Uhr 33. Wolfgang J. Linker: Kommunikative Kompetenz, S. 24; Gabal Verlag GmbH, Offenbach, 2010 34. Friedemann Schulz von Thun; Miteinander reden: 1; S. 187; Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek bei Hamburg, 1981 35. Uwe Joachim Kemp, Vortrag: Lernen als Prozess zwischen neurowissenschaftlichen Erkenntnissen und lernpädagogisch gestalteten Verfahren, Iphofen, 13.01.2016 36. Daniel Kahneman: Schnelles Denken, langsames Denken, S. 365; Siedler Verlag, München, 2012 37. Eskil Burck: Neue Psychologie der Beeinflussung, S. 71; BoD, Norderstedt 2016 38. Daniel Kahneman: Schnelles Denken, langsames Denken, S. 60; Siedler Verlag, München, 2012 39. Thalma Lobel: Du denkst nicht mit dem Kopf allein, S. 15; Campus Verlag, Frankfurt am Main, 2015 40. Jack Nasher: Durchschaut; S. 27; Wilhelm Heyne Verlag, München, 2010 41. Jörg Knoblauch: Die besten Mitarbeiter finden und halten, S. 33; Campus Verlag, Frankfurt am Main, 2013 42. Gerhard Roth, Alicia Ryba: Coaching, Beratung und Gehirn; S. 335; Klett-Cotta; Stuttgart, 2016 43. Gerhard Roth, Alicia Ryba: Coaching, Beratung und Gehirn; S. 131; Klett-Cotta; Stuttgart, 2016 44. http://lexikon.stangl.eu/1951/extrinsische-motivation/, aufgerufen am 29.12.2018 45. Jürgen Hesse, Hans Christian Schrader: Das erfolgreiche Vorstellungsgespräch; Hörbuch, Eichborn Lido, Frankfurt am Main, 2002 46. Eberhard Stahl: Dynamik in Gruppen, S. 301, Beltz Verlag, Weinheim, 2012 47. Friedemann Schulz von Thun: Miteinander reden 2, S. 65–293; Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, 2013 48. Jörg Knoblauch: Das Geheimnis der Champions: Wie exzellente Unternehmen die besten Mitarbeiter finden und binden, 122–128; Campus Verlag, Frankfurt am Main, 2016 49. Floyd Ruch, Philip Zimbardo: Lehrbuch der Psychologie. S. 368; Springer, Berlin-Heidelberg, 1974

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1 Einführung

50. Peter Kruse: next practice: Erfolgreiches Management von Instabilität, S. 59; Gabal Verlag GmbH, Offenbach, 2010 51. Gerhard Roth: Persönlichkeit, Entscheidung und Verhalten, S. 126; Klett-Cotta Verlag, Stuttgart, 2016 52. https://www.youtube.com/watch?v=IaHU-0WQkBE Aufgerufen am 17.08.2018 53. Gerhard Roth: Persönlichkeit, Entscheidung und Verhalten, S. 116–122, Klett-Cotta Verlag, Stuttgart, 2016 54. Gerhard Roth: Persönlichkeit, Entscheidung und Verhalten, S. 139; Klett-Cotta Verlag, Stuttgart, 2016

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Die eigene nonverbale Kompetenz entwickeln

Zusammenfassung

Das Kapitel beschreibt verschiedene Wege, um auf lernpsychologischer Basis die eigene nonverbale Kompetenz zu entwickeln. Dabei wird zwischen Senden und Empfangen nonverbaler Signale unterschieden und kritische Einflussfaktoren berücksichtigt, die bei der Entwicklung regelmäßig als Engpass auftreten und den weiteren Fortschritt erschweren. Als Grundlage dienen verschiedene Übungen, um eine differenziertere Wahrnehmung zu entwickeln. Vertiefend werden grundlegende Regeln und Gesetzmäßigkeiten beschrieben, denen nonverbale Kommunikation folgt. Darüber hinaus werden kritische Faktoren erläutert, die die Einordnung und Interpretation nonverbaler Signale beeinflussen. Abschließend werden Möglichkeiten beschrieben, um sowohl die Interpretationsfähigkeit unbekannter Signale als auch die nonverbale Sendekompetenz zu entwickeln und in die tägliche Praxis zu integrieren. Nachdem Kap. 1 den Einfluss der nonverbalen Kommunikation auf das heutige Recruiting behandelte, beschreibt Kap. 2 Wege, um die eigene nonverbale Kompetenz zu erhö­ hen. Mithilfe der Lernpsychologie lässt sich diese Entwicklung systematisch, individuell und effizient gestalten: Systeme wachsen stets bis zu einem kritischen Engpass, wird ­dieser nicht beseitigt, verhindert er die weitere Entwicklung [1]. Zunächst sollte also der eigene Standort bestimmt und der individuelle Engpass identifiziert werden, um ihn dann zu beseitigen. Dabei ist der erste Schritt oft der schwierigste: Vor der Anwendbarkeit lernpsychologischer Methoden liegt der kritischste Engpass häufig in der mangelnden Bereitschaft zur Veränderung. Bedingt durch die Plastizität unseres Gehirns bilden sich aus unseren Gewohnheiten auf neuronaler Ebene individuelle Raster, die unser Erleben und unsere Wahrnehmung prägen. Das tägliche Handeln auf Basis eben dieser Gewohnheiten prägt unseren Charakter, verstärkt diese Raster und führt somit zu einem sich selbstverstärkenden © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 C. Bernhardt, Nonverbale Kommunikation im Recruiting, https://doi.org/10.1007/978-3-658-25276-2_2

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2  Die eigene nonverbale Kompetenz entwickeln

Kreislauf. Der menschliche Organismus bevorzugt Effizienz und liebt Routinen, da diese nur wenig Energie beanspruchen. Entsprechend widerspenstig verhält er sich g­ egenüber Veränderungen, auch wenn diese nach einem kurzfristigen Energieaufwand einen langfris­ tigen Gewinn bringen. Gute Trainer schaffen es, ihre Teilnehmer eine Wahrheit begreifen zu lassen: Die Arbeit in der Praxis hat gezeigt, dass selbst gemachte Erfahrungen am besten helfen, die eigenen Ansichten zu erweitern, besonders wenn sie mit Aha-Erlebnissen einhergehen und durch Studienergebnisse gestützt werden. Auch wenn der Zugang im Buch über geschriebene Worte entsteht, wird die nonverbale Kompetenz am nachhaltigsten entwickelt, wenn sie über praktische Übungen selbst erlebt und im Körper verankert wird. Hierzu dienen die Übungen und bilden damit die Grundlage, um alte Muster aufzulösen und zu erweitern.

2.1 Engpässe bei der Entwicklung nonverbaler Kompetenz Die möglichen Engpässe, die die Entwicklung der nonverbalen Kompetenz üblicherweise erschweren, sind an die aktualisierte Fassung von Blooms Lernziel-Taxonomie angelehnt Abb. 2.1, welche den typischen sechsstufigen Weg beschreibt, dem die qualitative Entwicklung von Kompetenzen im Allgemeinen folgt [2]. 1. Stufe – Kennen  Mögliche Engpässe: Fachliche Defizite, mangelnde Kenntnisse der Elemente und möglicher Bedeutungen der nonverbalen Kommunikation. 

Behebung: In den Kap. 4, 5, 6, 7, 8, 9, 10, 11, 12 und 13 werden die für das Recruiting relevanten nonverbalen Signale benannt und erläutert.

Abb. 2.1   Lernzieltaxonomie nach Benjamin Bloom

2.1  Engpässe bei der Entwicklung nonverbaler Kompetenz

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2. Stufe – Verstehen Mögliche Engpässe: Mangelndes Verständnis evolutionshistori­ scher, kultureller, biologischer und sozialpsychologischer Zusammenhänge und ihrer Einflüsse auf die Kommunikation. 

Behebung: Kap. 3 beschreibt die verschiedenen Einflüsse, auf denen nonver­ bale Kommunikation gründet. Bei den einzelnen Signalen werden deren Ursachen und Hintergründe beschrieben, um das Verständnis zu vertiefen.

3. Stufe – Können Mögliche Engpässe: Vernachlässigung der gewonnenen Kenntnisse in der Praxis. Übertreibung: Anhand einzelner Signale wird zu viel interpretiert. Die Körpersprache wird zu offensichtlich beobachtet, die gesendeten nonverbalen Signale zu stark betont. So dringen diese in den bewussten Bereich der stattfindenden Kommunikation ein und veranlassen Rückzugsverhalten oder Wechselwirkungen, die zu komplexeren Kommunikationsschleifen höherer Ordnung führen. Mangelnde Wahrneh­ mungsfähigkeit für sehr kurze, subtile und komplexe nonverbale Signale. 

Behebung: Am Ende jedes Kapitels werden Wege beschrieben, um die behan­ delten Elemente in die eigene Kommunikation und den Auswahlprozess zu integrieren. Bei der Entwicklung der nonverbalen Kompetenz stellt die Wahrnehmung eine kritische Schlüsselkompetenz dar. Im gleichnamigen Kapitel werden relevante Elemente der Wahrnehmung beschrieben und Übungen aufgezeigt, um diese effektiv zu verbessern.

4. Stufe – Analyse  Mögliche Engpässe: Mangelnde Fähigkeit, neue, auch unbekannte Signale situations- und rollengerecht zu interpretieren. Mangelnde Fähigkeit, innerlich auf die Metaebene zu wechseln und das Gespräch aus ganzheitlicher Perspektive zu verfolgen. 

Behebung: Eine effektive Möglichkeit stellt der Austausch mit geschulten Kol­ legen nach gemeinsamen, strukturierten oder teilstrukturierten RecruitingGesprächen dar, ebenso die gemeinsame Auswertung von aufgezeichneten Skype-Interviews. Eine bislang selten verwendete, aber sehr effektive Möglichkeit bietet sich, wenn im Rahmen von Outplacement Trainings mit scheidenden Mitarbeitern eine Interviewsimulation durchgeführt wird. Sollte dies bei der eigenen Firma wegen der persönlichen Verflochtenheit nicht möglich sein, könnte die Interviewsimulation in Kooperation mit einem Partnerunternehmen erfolgen. Bei dieser kann der Recruiter dem Teilnehmer nach dem Gespräch seine Beobachtungen und Interpretationen schildern und im gemeinsamen Dialog erfahren, welche seiner Beobachtungen er ­treffend ­interpretiert hat

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2  Die eigene nonverbale Kompetenz entwickeln

und für welche es andere Einflüsse gab, die sich seiner K ­ enntnis entzogen. So wird der eigene Bezugsrahmen sukzessive erweitert. Für den inneren Wechsel auf die Metaebene und die ganzheitliche Betrachtung bedarf es Übung und Achtsamkeit sowie die Verfeinerung der eigenen Wahrnehmungsfähigkeit. Abschn. 2.4 beschreibt eine Methode, mit der das ­Verständnis für die Bedeutung unbekannter Signale entwickelt werden kann.

5. Stufe – Evaluation Mögliche Engpässe: Mangelndes Gefühl für die Wirkung der eigenen Kommunikation. Mangelnde Reflexion und Selbstaktualisierung, mangelndes Feingefühl für den stimmigen Einsatz nonverbaler Kommunikation. 

Behebung: Für die Entwicklung dieser Fähigkeit helfen regelmäßige FeedbackGespräche, nachhaltige und regelmäßig durchgeführte Übungen, VideoAnalysen, Verinnerlichung eines vertieften Rollen-, Situations- und Zielverständnisses, Übungen zur Selbstklärung und das Verständnis interdisziplinärer Einflüsse angrenzender Fachgebiete.

6. Stufe – Kreation Mögliche Engpässe: Mangelnde Freiheit, Bereitschaft oder Ausdauer, das individuelle Verhalten nachhaltig zu ändern, Rückfall in alte Kommunikationsmuster. Mangelnde Bereitschaft, individuelle Standards und Prozesse auf Organisationsebene zu entwickeln. 

Behebung: Dieser Punkt erfordert Interesse und Offenheit zur Persönlichkeits- und Bewusstseinsentwicklung, die in der Regel mit der Entwicklung der nonverbalen Kompetenz einhergeht. Der Umgang mit Rückschlägen, die im Rahmen von Veränderungsprozessen auftauchen, und der Entschluss, eigene Forschungen auf diesem Gebiet anzustoßen oder Methoden zu entwickeln, setzt neben breiter fachlicher Erfahrung eine vertiefte kommunikative Kompetenz und eine ausreichend hohe Unzufriedenheit mit dem Status quo oder proaktives Initiieren von Entwicklung voraus. Werden auf organisationaler Ebene dann zeitliche und finanzielle Ressourcen bereitgestellt, kann auch dieser Engpass beseitigt werden. Auf persönlicher Ebene verhindert oftmals der vorgegebene Handlungsrahmen die Entwicklung oder das Ausprobieren neuer Verhaltensweisen. Hier können beispielsweise Theaterworkshops oder die Teilnahme an einer Impro-Theater-Gruppe helfen.

2.2  Die vier Phasen des Lernens

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2.2 Die vier Phasen des Lernens Unabhängig von der qualitativen Entwicklung nach Benjamin Bloom durchlaufen wir beim Erwerb von Kompetenzen vier Phasen, die Albert Bandura erstmalig beschrieb [3]. Teilweise geschieht es wie von selbst, in anderen Fällen müssen wir einen längeren Weg zurücklegen, um eine neue Fähigkeit zu erwerben. Bandura unterscheidet zwischen zwei Dimensionen, in denen Lernen stattfindet. Die erste, horizontal ausgerichtete Dimension beschreibt das Spannungsfeld zwischen den Polen Inkompetenz und Kompetenz, die zweite, vertikal ausgerichtete Dimension das Spannungsfeld zwischen Unbewusstheit und Bewusstheit über den Grad der eigenen Kompetenz. Durch die Verschränkung der beiden Spannungsfelder ergeben sich vier Quadranten und damit vier Lernphasen, welche wir auf dem Weg vom Niveau der unbewussten Inkompetenz zu jenem der unbewussten Kompetenz durchlaufen (Abb. 2.2). Der Lernweg beginnt links unten, im Quadranten der unbewussten Inkompetenz (Phase 1): Wir handeln inkompetent, sind uns darüber jedoch nicht bewusst. Werden wir uns nun unserer Inkompetenz bewusst, tritt die Lernkurve in den oberen, linken Qua­ dranten ein, jenen der bewussten Inkompetenz (Phase 2): Wir bemerken, dass wir Fehler machen. Dadurch erhalten wir die Möglichkeit, unser Verhalten willentlich zu korrigieren, um in den oberen rechten Quadranten zu gelangen, in welchem wir die Dinge bewusst kompetent verrichten (Phase 3). Das fühlt sich zu Beginn noch ungewohnt an: Alte Gewohnheiten müssen abgelegt werden und man muss sich selbst regelmäßig reflektieren und zum kompetenten Verhalten anhalten, was mitunter Disziplin und Ausdauer erfordert. Zudem ist es anstrengend, kontinuierlich die Konzentration und das Bewusstsein auf Prozesse zu richten, die sonst automatisch und mühelos durchgeführt wurden. Feedback von dritter Seite und ein Umfeld, das diesen Schritt schon gegangen ist oder gemeinsam mitgeht, können hierbei helfen. Mit steigender Routine festigen sich

Abb. 2.2   Die vier Phasen des Lernens nach Bandura

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2  Die eigene nonverbale Kompetenz entwickeln

die neuen Gewohnheiten und schließlich geschieht unser Handeln automatisch: Wir sind in den unteren rechten Quadranten eingetreten, den Bereich der unbewussten Kompetenz (Phase 4). Der ein oder andere erinnert sich sicher noch an seine Fahrschulzeit. Damals half uns der Lehrer beim oft mühevollen Übergang von der Phase eins in Phase 1 und von Phase 2 in Phase 3. Die unbewusste Kompetenz der Phase 4 erwarben wir aber erst im Anschluss nach vielen selbst gefahrenen Kilometern. Machen wir beim Autofahren einen Fehler, merken wir es direkt, ebenso in der gesprochenen Sprache. Wie von Watzlawick [4] beschrieben, findet die verbale Kommunikation im bewussten Bereich statt, während die nonverbale Kommunikation im unbewussten Bereich geschieht. Im Gegensatz zur Entwicklung anderer Kompetenzen, wie dem Autofahren, gestaltet sich die Entwick­ lung der nonverbalen Kommunikation also durch die verschiedenen Ebenen, auf denen Kommunikation generell stattfindet, komplexer. Durch den analogen Charakter ihrer Elemente lässt sich nonverbale Kommunikation schwerer in Worte fassen als die verbale Kommunikation [5]. Von daher liegt es sowohl im Wesen der Kommunikation als auch unserer Art zu Lernen begründet, dass Betroffene sich oftmals über Jahre hinweg nicht darüber bewusst werden, woran es eigentlich liegt, dass es im Beruflichen, aber auch im Privaten immer wieder zu kommunikationsbedingten Störungen und suboptimalen Ergebnissen kommt. Dieses Buch soll den Leser in der Phase 1 abholen, ihn durch die Phase 2 führen und ihm ermöglichen, in die Phase 3 einzutreten. Hierzu werden die verschiedenen nonver­ balen Signale, Gesetzmäßigkeiten, Ursachen und Implikationen beschrieben und Entwicklungsmöglichkeiten aufgezeigt. Der Vorgang des Lernens von Körpersprache führt im Gehirn zur Bildung neuer Strukturen und stößt eine Positivspirale an: Die ausgepräg­ teren neuronalen Verknüpfungen verbessern die Verarbeitung nonverbaler Signale und ermöglichen eine verfeinerte Wahrnehmung, erhöhte Aufmerksamkeit und differenzierte Achtsamkeit. In deren Folge erweitern wir sukzessive den eigenen Bezugsrahmen, entwickeln nach und nach die Fähigkeit zur ganzheitlichen Kommunikation, erhöhen die Qualität unserer implizit gemachten Prognosen und erschließen uns erweiterte Handlungsmöglichkeiten. Dadurch sinkt der Stress im Gespräch und ermöglicht eine weitere Verbesserung unserer Wahrnehmung und Verarbeitung nonverbaler Signale sowie eine höhere Kontrolle über die Kommunikation im Recruiting. Die Recruting-Ergebnisse verbessern sich und das Unternehmen agiert durch eine passendere Belegschaft erfolgreicher am Markt. Druck und Fluktuation sinken, während das interne Klima, die Außenwirkung und infolgedessen sowohl Anzahl als auch die Qualität der neuen Bewerber steigen. Das produktivere, positivere Feld erleichtert die weitere Entwicklung der eigenen Fähigkeiten und führt die Positivspirale auf das nächsthöhere Niveau.

2.3  Die Neuentdeckung der nonverbalen Kommunikation

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2.3 Die Neuentdeckung der nonverbalen Kommunikation Die Entwicklung der nonverbalen Kompetenz ist eine Mischung aus dem Erwerb neuer Kenntnisse und Fähigkeiten, der Bewusstwerdung bislang unbewussten Verhaltens sowie dem Erinnern früheren Wissens. Bevor wir zu sprechen begannen, erfolgte unsere gesamte Kommunikation non- und paraverbal. Wer beobachtet, wie Kinder nachhorchen, ob ihren Eltern deren „Nein“ wirklich ernst ist oder ob es nicht doch noch eine Möglichkeit zum Nachhaken gibt, erkennt: Die non- und paraverbale Ebene liefert ihnen die Antwort. Als körperlich Unterlegene und mit weniger Wissen sowie Handlungsmöglichkeiten ausgestattet, sind Kinder auf zusätzliche Informationen angewiesen, um sich bestmöglich im Umgang mit Erwachsenen zu behaupten. Intuitiv bedienen sie sich jener 80 % der Kommunikation, auf die es maßgeblich ankommt. Im Laufe der Sozialisierung werden sie dann jedoch nach und nach auf die Sachebene der verbalen Inhalte geführt. Fähigkeiten, die wir früher schon einmal beherrscht haben, können wir später leichter wieder aktivieren als unbekannte Inhalte. Körpersprache zu „lernen“ ist, wie sich nach ein paar Jahren Autofahren wieder auf ein Fahrrad zu setzen oder zum Sportgerät oder Instrument der Jugend zu greifen: Am Anfang fühlt es sich noch ungewohnt an, aber mit zunehmender Übung erschließen wir nach und nach unsere früheren Fähigkeiten und erweitern diese mit den neu erlangten Kenntnissen. Das ist auch notwendig: Da das kindliche Lernen am Modell stattfand, kann es durchaus sein, dass wir in unserer Kindheit die eine oder andere kontraproduktive Verhaltensweise von einer unserer Bezugspersonen übernommen haben, die wir nun korrigieren möchten. Im Kleinkindalter kommunizieren wir überwiegend über Körpersprache und in dieser Phase auch zum Großteil mit der Mutter. Entsprechend hat sich der weibliche Orga­ nismus so entwickelt, dass er dieser wichtigen Aufgabe, der Kommunikation mit dem Nachwuchs, optimal nachkommen kann. Beispiele hierfür bieten das Wahrnehmungsvermögen und der Blickwinkel beim Sehen [6]. Frauen senden deutlich mehr und differenziertere nonverbale Signale und ihre Lesegenauigkeit für Körpersprache lag bei Studien mehr als doppelt so hoch wie die der ungeschulten Männer [7]. Weibliche Einstellungsverantwortliche werden von daher vermutlich öfter auf Inhalte stoßen, die ihnen intuitiv schon klar waren, und im Mittel wird es ihnen leichter fallen, das im Buch Beschriebene in ihr Kommunikationsportfolio zu integrieren. Dafür dürfen männliche Recruiter aus der Entwicklung ihrer nonverbalen Kommunikation einen deutlich höheren Gewinn für zukünftige Gespräche erwarten und sind dabei keinesfalls biologischen Begrenzungen unterworfen. Verschiedene Studien belegen für die verschiedensten Kompetenzen, dass sich durch Übung die Lücke zum anderen Geschlecht schließen lässt. Hierzu werden in den folgenden Kapiteln verschiedene Möglichkeiten beschrieben.

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2  Die eigene nonverbale Kompetenz entwickeln

2.4 Die eigene Wahrnehmung entwickeln Das später beschriebene ganzheitliche Wesen der nonverbalen Kommunikation­ impliziert, dass wir mit dem ganzen Körper aussagekräftige Signale an unsere Gesprächspartner senden. Ohne das Wissen, worauf wir unsere Wahrnehmung richten sollen, und ohne Übung übersehen wir dabei regelmäßig jene Signale, die die wirkli­ chen Wünsche unserer Mitmenschen ausdrücken und die Qualität der Beziehungsebene anzeigen. Im Übergang zur zweiten Phase des Lernens wird bislang Unbewusstes ins Bewusstsein gehoben. Die Grundlage hierfür bilden die Entwicklung der Fähigkeit zur bewussten Wahrnehmung und die Kenntnis dessen, worauf sich diese richten sollte. Unbewusst registrieren wir bereits die Körpersprache unserer Gesprächspartner. Durch die Bewusstmachung werden im Gehirn jedoch neue Verknüpfungen geschaffen und verstärkt, was uns ermöglicht, nonverbale Signale zunehmend präziser und differenzierter zu verarbeiten und die oben beschriebene Positivspirale anzustoßen. Pro Sekunde strömen ca. 100 Megabyte an Daten [8] auf unser Gehirn ein, so viel wie der Text aus 25 Bibeln. Das ist allerdings 200.000-mal so viel, wie wir bewusst verarbeiten können (ca. 0,5 Kilobyte, ungefähr einen Absatz). Unser Gehirn hat daraufhin begonnen, den eintretenden Informationsfluss automatisch zu filtern und zu vereinfachen. Die Auswahl des Wahrgenommenen wird dabei durch verschiedene Faktoren wie unsere Erfahrungen, Erwartungen, Einstellungen und Interessen beeinflusst. Die Fähigkeit zum Lesen der Körpersprache beschreibt eigentlich die Fähigkeit, Unterschiede zu erkennen und nicht über sie hinwegzugehen. Da wir im Alltag häufig dazu neigen, die nonverbalen Signale zugunsten des inhaltlichen Ausdrucks zu vernach­ lässigen oder gar zu ignorieren, stellt die erste und oftmals größte Herausforderung die Bereitschaft dar, Körpersprache bewusst wahrzunehmen. Passend hierzu die Antwort von Sherlock Holmes auf die Frage nach dem Geheimnis seines Erfolges: „Ich habe gelernt, das, was ich sehe, auch wahrzunehmen.“ [9]. Einflüsse auf unsere Wahrnehmung – Wahrnehmungsfehlern vorbeugen Wie Gerhard Roth beschreibt, ist die Wahrnehmungsfähigkeit ein zentrales Element menschlicher Intelligenz [10]. Wahrnehmung ist ein aktiver Prozess, der mit relativ wenig Aufwand entwickelt werden kann und der einen zentralen Schritt bei der Verbes­ serung der nonverbalen Kompetenz darstellt. Wahrnehmung unterteilt sich in die vier Bereiche Selektion, Akzentuierung, Strukturierung und Organisation [11]. Aus diesen vier Bereichen leiten sich verschiedene Einflüsse ab, die einer zielgerichteten Wahrnehmung im Wege stehen oder sie begünstigen können. Neben den im Rahmen der Lerntaxonomie beschriebenen Hindernissen und verschiedenen, in Kap. 3 beschriebenen kulturellen Einflüssen ergeben sich vier Themenfelder. 1. Intuitive Wahrnehmungsfehler aufgrund psychologischer Vereinfachungspro­ zesse  Die vertiefte Behandlung der interessanten psychologischen Einflüsse der Verhaltensökonomik würde an dieser Stelle den Rahmen sprengen. Die bekanntesten

2.4  Die eigene Wahrnehmung entwickeln

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Ursachen für Wahrnehmungs- und Entscheidungsfehler sind beispielsweise der Halo-­ Effekt, bei dem ein attraktives Äußeres auf charakterliche und persönliche Eigenschaften übertragen wird, der Pygmalion-Effekt, bei dem die eigene Einstellung das Ergebnis hochsignifikant beeinflusst, oder die Primacy- und Recency-Effekte, bei denen der erste und letzte Eindruck stärkeren Einfluss auf die Beurteilung ausüben als die Informationen in der Mitte des Gespräches. Darüber hinaus existieren Dutzende weitere Heuristiken, die unsere Wahrnehmung und Entscheidung beeinflussen [12]. Im Sinne einer objektiven Entscheidungsfindung sollte das Ziel sein, im Bewerbungsgespräch jedem Bewerber möglichst vergleichbare Rahmenbedingungen zu schaffen. Die größte Herausforderung besteht dabei oftmals darin, nicht der Verführung des ersten Eindrucks zu erliegen. Geschieht dies, verstärkt sich unsere anschließende selektive Wahrnehmung. Wir tendieren dazu, Signale, die unseren ersten Eindruck stützen, stärker zu gewichten und ihm entgegenstehende Informationen zu übersehen, zu relativieren, umzuinterpretieren oder schwächer in die Einstellungsbildung einzubeziehen. In den Kapiteln zum ersten Eindruck (Kap. 4), Territorialverhalten (Kap. 5), Haltung (Kap. 6) und Bewegung (Kap. 7) werden die diesbezüglich relevantesten Einflüsse vertieft. 2. Stress  Stress löst einen Schutzmechanismus aus, der die Selektion unserer Wahrneh­ mung auf Inhalte verlagert, die uns schaden könnten, und der dazu führt, dass wir Chancen und potenzielle Wachstumsmöglichkeiten übersehen [13]. Unsere Körperhaltung, mimischen Ausdrücke und unsere Bewegungen stehen in direkter Wechselwirkung mit unserem inneren Milieu, sie beeinflussen unser hormonelles Setting und damit die Ausrichtung unserer Wahrnehmung [14]. Eine kontrahierende, kleinmachende, nach innen gerichtete, verschlossene und verspannte Körperhaltung erhöht den Cortisolspiegel und das eigene Stressniveau, gegenteilige Bewegungen und Haltungen erzielen den gegentei­ ligen Effekt. Eine effektive Möglichkeit, um auf unser Stressniveau einzuwirken, bildet auch die Atmung. Alle drei Themengebiete werden in den Kapiteln zur Haltung (Kap. 6), zur Bewegung (Kap. 7) und zur Atmung (Kap. 12) vertieft. Unser endokrines System ist in zwei Teile unterteilt, die die Erregung des Organismus regulieren: das sympathische und das parasympathische Nervensystem. Während der Sympathikus die aktivierende Seite darstellt, die die Kampf- und Fluchtreaktion veranlasst und die Stressachse aktiviert, aktiviert der Parasympathikus die Entspannungsreaktion und die Erholungs- und Verdauungsreaktion. Bildlich gesprochen kann der Sympathikus als Gaspedal und der Parasympathikus als Bremse gesehen werden. Zentral ist dabei, dass jeweils nur einer der beiden aktiv sein kann. Der Sympathikus geht mit erhöhter Sauerstoffzufuhr und einem auf die Einatmung konzentrierten flachen Atemrhythmus einher, während der Parasympathikus über den auf die Ausatmung konzentrierten tiefen Atemrhythmus mehr verbrauchte Luft abtransportiert. Wenn wir uns darauf konzentrieren, bewusst auszuatmen, aktivieren wir den Parasympathikus und bauen Stress ab. Verschiedene Angst- und Traumatherapien setzen solche Techniken erfolgreich ein und auch die nachgewiesenen positiven Wirkungen von Meditation, Yoga und

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2  Die eigene nonverbale Kompetenz entwickeln

ähnlichen Methoden basieren zu einem großen Teil auf der bewussten Regulierung der Atmung [15]. Die Techniken funktionieren natürlich auch im stressigen Berufsalltag und ihr Vorteil ist, dass wir sie überall und unauffällig einsetzen können. Um Stress zu reduzieren, sollten Sie einen Atemrhythmus herbeiführen, der ungefähr die doppelte Zeit für die tiefe Ausatmung umfasst wie für die Einatmung. Dabei ist ein Atemrhythmus im 0,1-Hz-Bereich ideal, d. h. zehn Sekunden für einen Zyklus, der sich aufteilt in ca. 3,3 s für die Einatmung und ca. 6,6 s für die Ausatmung [16]. Vereinfacht ausgedrückt: wenn der Stress Sie zu überwältigen droht oder Sie sich nach einer hektischen Situation beruhigen wollen, sollten Sie sich auf eine bewusste, lange Ausatmung konzentrieren. In Folge erhöht sich auch die Kohärenz der Herzfrequenzvariabilität, was die Wahrnehmung zusätzlich verbessert [16]. Sein internes Stressmilieu kann der Recruiter über die wechselseitige Beeinflussung der eigenen Körpersprache hinaus versuchen, positiv zu regulieren, und dadurch seine Chancen verbessern, die für den Betrieb interessanten Potenziale des Bewerbers besser zu erkennen. Neben den oben beschriebenen Methoden bilden autogenes Training und Biofeedback-Trainings zur Verbesserung der Herzfrequenzvariabilität weitere wirksame Möglichkeiten, um Stress entgegenzuwirken. 3. Undifferenzierte Ausrichtung der Wahrnehmung, Unkenntnis relevanter Signale, mangelnde Routine in ihrer Wahrnehmung Die Studien der Harvard-Psychologin Nancy Etcoff belegen, dass Menschen, die dem verbalen Kanal weniger Bedeutung beimessen, erheblich besser Täuschungen registrieren als normale Interviewer [17]. Worauf sollten Recruiter im Interview also achten? Pflicht und Kür der Kommunikation  Michael Grinder unterscheidet die Ausrichtung der Wahrnehmung auf vier Ebenen und beschreibt die ersten beiden als die Pflicht und die letzten beiden als die Kunst der Kommunikation. Ebene 1 und 2 bilden die verbalen und nonverbalen Inhalte, was und wie etwas gesagt wird. Ebene 3 und 4 bilden die Wahrnehmung für das richtige Timing und die Aufnahmebereitschaft: Wann sollte ich etwas sagen und zu welchem Grad ist mein Gegenüber bereit, welche meiner Botschaften zu empfangen? [18]. Qualitative Kriterien systemischer Kommunikation  Vor dem Hintergrund einer systemischen Kommunikation kann das Gespräch nach verschiedenen qualitativen Kriterien differenziert werden: • Herrscht eine kooperative Atmosphäre oder stehen die Gesprächspartner in Konkurrenz zueinander? [19] • Wie ist die Rhythmuskonstellation zwischen den Kommunikationsparteien? [20] • Wie ist die Verbindung (Rapport) zwischen den Gesprächspartnern? [21]

2.4  Die eigene Wahrnehmung entwickeln

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Ob eine kooperative Atmosphäre im Gespräch vorherrscht, merkt jeder Beteiligte, der die Situation bewusst aus diesem Blickwinkel betrachtet und sich dabei die Frage stellt: Handeln wir gerade miteinander oder gegeneinander? Der damit verbundene gemeinsame Rhythmus wird in Kap. 7 beschrieben. Die Stärke der Verbindung (Rapport) zwischen den Gesprächspartnern lässt sich überwiegend anhand übereinstimmender Körperhaltung, Spiegelungen der Mimik, eines synchronen Atem-Rhythmus der Gesprächspartner und anhand gemeinsamer Bewegungen und eines sich aufeinander einschwingenden Rhythmus wahrnehmen. Deren konkrete Merkmale und Implikationen werden in den Kapiteln zur Haltung (Kap. 6) und zur Bewegung (Kap. 7) vertieft. Hinsichtlich einer ganzheitlichen Betrachtung des Gesprächspartners ermöglichen folgende Kriterien eine gezielte Ausrichtung der Wahrnehmung auf dessen qualitatives Gesprächserleben: • • • • • •

Wohlbefinden: Empfindet der Gesprächspartner Behagen oder Unbehagen? [22] Beteiligung: Zeigt er Interesse oder Desinteresse? Spannungsgrad: Ist er entspannt oder angespannt? [23] Öffnungsgrad: Öffnet oder verschließt er sich? Geschwindigkeit: Erfolgen seine Bewegungen schnell oder langsam? Kontrolle: Erfolgen die Bewegungen spontan oder kontrolliert?

Drei Ebenen der nonverbalen Kommunikation Johannes Galli [24] unterscheidet nach drei Ebenen, um nonverbale Signale nach dem Grad, zu dem sie dem Sender bewusst sind, zu kategorisieren: • Kopf (meist bewusst) • Rumpf und Arme (halb und vorbewusst) • Beine und Füße (meist unbewusst) Mit steigender Entfernung zum Kopf sinken unser Bewusstsein und unsere Kontrolle sowohl über die eigenen gesendeten als auch über die bei anderen wahrgenommenen nonverbalen Signale. Mimische Signale werden (mit Ausnahme der Mikromimiken) am stärksten kontrolliert und am häufigsten zu Täuschungen eingesetzt. So kann beispielsweise die Aussage, man melde sich nach einem Gespräch, von einem freundlichen Lächeln begleitet werden, obwohl innerlich bereits feststeht, dass kein weiteres Interesse vorhanden ist. Solche Notlügen stellen aber auch eine Form sozialen Kitts dar und sollten von daher nicht voreilig verurteilt werden. Mit unserer Gestik kommunizieren wir dagegen im vorbewussten Bereich und senden Signale über unsere Einstellung, die im Zweifel mehr verraten als gleichzeitig geäußerte Worte. So kann beispielsweise in der Diskussion über ein geplantes Projekt schließlich nach einigem Hin und Her verbal, um des lieben Frieden willens, scheinbare Zustimmung geäußert werden, während die Hände abfällig Staub vom Ärmel wischen, über die

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2  Die eigene nonverbale Kompetenz entwickeln

­ ischplatte fegen oder die Projektunterlagen achtlos in die Ecke des Schreibtischs werfen T und damit die eigentliche Einstellung zum behandelten Thema kommunizieren. Normalerweise gänzlich unbewusst sind wir uns über jene nonverbalen Signale, die unterhalb der Gürtellinie stattfinden. Die Signale der Beine und Füße geben von daher ungefilterte und in der Regel sehr wahrheitsgetreue Zusatzinformationen über das innere Befinden des Gegenübers. Joe Navarro beschreibt sie gar als den ehrlichsten Teil unseres Körpers [25]. Paul Ekman und Wallace Friesen filmten die verschiedenen Ebenen einer depressiven Patientin, die aus dem Krankenhaus entlassen werden wollte und vorgab, fröhlich und freundlich zu sein. Diejenigen Beobachter, die nur das Gesicht der Frau sahen, hielten sie tatsächlich für fröhlich und freundlich, während jene, die nur den Körper sahen, den Eindruck hatten, sie sei angespannt, nervös und seelisch gestört [26].

Im Gespräch können sich Signale aus den einzelnen Ebenen ergänzen oder widerspre­ chen. Bei widersprüchlichen Signalen sollte den weiter vom Kopf entfernten Körpertei­ len eine höhere Aussagekraft zugestanden werden. Natürlich kann im Recruiting nicht offensichtlich auf die Gesten oder Füße geschaut werden. Wir registrieren sehr genau das Blickverhalten des Gegenübers und wenn sich der Bewerber beobachtet fühlt, ergibt sich ein kontraproduktiver Effekt: Der Stress nimmt zu und das Bemühen, zu gefallen, verdrängt den natürlichen Ausdruck. In Kap. 6 zur Haltung im Sitzen wird beschrieben, wie sich verschiedene Fußhaltungen auf die Haltung des Oberkörpers auswirken und dadurch erkennbar werden, wenn der Tisch den direkten Blick auf die Füße verwehrt. Es gilt, den passenden Rahmen zu schaffen, diskret zu beobachten, und, da sich relevante Signale in Schlüsselsituationen zeigen, genau dann die Aufmerksamkeit für diese zu erhöhen. Im Folgenden wird beschrieben, welche Fähigkeiten hierzu erforderlich sind. 4. Mangelndes Wahrnehmungsvermögen in Bezug auf Sehstärke, periphere Wahrnehmung und die Wahrnehmung von Mikroexpressionen  Um diskret zu beobachten, sollte die Fähigkeit zur peripheren Wahrnehmung erhöht werden. Eine wirkungsvolle Übung dauert nur eine Minute, und wer diese regelmäßig durchführt, idealerweise während der ersten Wochen ein- bis zweimal täglich, kann sein Wahrnehmungsvermögen für Signale, die am Rande seines Sichtfeldes liegen, erheblich verbessern.  Übung: Periphere Wahrnehmung entwickeln [27]  Stellen Sie sich bitte so hin, dass um Sie herum in jede Richtung ausreichend Platz vorhanden ist, um ungestört die Arme auszustrecken. Strecken Sie nun beide Arme gerade nach vorne aus und richten Sie die Daumen nach oben, sodass sie sich ungefähr auf Augenhöhe befinden. Bewegen Sie nun beide Arme langsam seitwärts auseinander und wackeln Sie dabei mit den Daumen. Behalten Sie beide Daumen im Blick, während Sie aber weiterhin nach vorne schauen. Wenn das Maximum erreicht ist und die Daumen kaum noch wahrnehmbar sind, sollten Sie die Arme ein wenig nach vorne und hinten bewegen, um Ihre a­ ktuelle

2.4  Die eigene Wahrnehmung entwickeln

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Schwelle der peripheren Wahrnehmung zu justieren. Bewegen Sie nun die Arme leicht kreisförmig nach oben und unten, um die Grenzen Ihrer periphe­ ren Wahrnehmung auch im vertikalen Bereich zu trainieren. 

Der Geist ist willig, aber in der Regel neigen wir dazu, solche Übungen im Alltag zu vergessen. Vielleicht wollen Sie jetzt in Ihren Smartphone- oder Outlook-Kalender eine tägliche Erinnerung einfügen? Wenn Sie dann jeweils die Übung kurz durchführen, profitieren Sie langfristig.

Von dieser Übung können männliche Leser übrigens am meisten profitieren, Frauen verfügen, biologisch bedingt, bereits über eine bessere periphere Wahrnehmung [28]. Periphere Wahrnehmung und defokussiertes Beobachten Vielleicht haben Sie bei der Übung bemerkt, dass Ihr Blick mit steigendem Abstand der Daumen seinen Fokus verliert. Auch wenn es sich um zwei unterschiedliche Fähigkeiten handelt, stehen die periphere Wahrnehmung und das defokussierte Beobachten in Verbindung. Peripheres und defokussiertes Beobachten unterscheiden sich wie folgt: Die Fähigkeit zur peripheren Wahrnehmung ist eine Fähigkeit, die, einmal entwickelt, dauerhaft den Bereich ­unserer Wahrnehmung erweitert. Dadurch verbessern wir unsere Fähigkeit, aus den Augenwin­ keln grobe Veränderungen am Rande unseres Sichtfeldes zu erkennen, beispielsweise eine Neuausrichtung der Fußspitzen. Das defokussierte Beobachten ist dagegen eine Technik, die wir bewusst aktivieren, um die Wahrnehmung von Mikroexpressionen zu verbessern. Beide haben zum Ziel, die Wahrnehmung zu erweitern um zusätzliche nonverbale Signale des Gesprächspartners zu erfassen. Beim peripheren Sehen blicken wir jedoch nicht direkt in die Richtung, in der wir die Signale des Gesprächspartners wahrnehmen. So können wir beispielsweise im rechten Winkel zum Bewerber sitzen, gemeinsam einige Unterlagen durchsehen und gleichzeitig im peripheren Bereich dessen Körperver­ änderungen wahrnehmen. Der defokussierte Blick kann eingesetzt werden, wenn wir vor unserem Gesprächspartner stehen und ihm ins Gesicht schauen. Da wir uns dabei stärker auf dessen Augen konzentrieren, ist unsere Fähigkeit, andere Signale zu erkennen, einge­ schränkt. Mithilfe des defokussierten Beobachtens lösen wir unseren Blick, ohne diesen abzuwenden, und können so den Gesprächspartner besser in seiner Gesamtheit erfassen [29]. Wenn wir unseren Blick leicht defokussieren, wird ein einzelner Aspekt zwar weniger scharf gesehen, dafür aber das Gesamtbild im Auge behalten. Dadurch können wir ein kurzes Zucken der Mundwinkel oder ein Anspannen der Lippen erkennen, obwohl wir unserem Gesprächspartner in die Augen schauen. Die defokussierte Beobachtung sollte jedoch mit einem gewissen F ­ ingerspitzengefühl eingesetzt werden: Wird der Blick zu lange oder zu intensiv defokussiert, verändert sich der Ausdruck unserer Augen, da sie sich weniger bewegen. Wird das vom Gesprächspart­ ner bemerkt, kann er den Eindruck gewinnen, dass wir anderen Gedanken nachhängen und seinen Ausführungen nicht mehr folgen. Von daher sollte regelmäßig zum ­direkten

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2  Die eigene nonverbale Kompetenz entwickeln

Blickkontakt zurückgewechselt werden, um dem Gesprächspartner die ungeteilte Aufmerksamkeit zu vermitteln. Der defokussierte Blick gehört zum Komplex des Parasym­ pathikus und kann von daher auch eingesetzt werden, um diesen bewusst zu aktivieren und Stress abzubauen. 

Übung: Defokussierter Blick Um den Blick zu defokussieren, fixieren Sie im Geiste einen Punkt, der leicht vor oder hinter dem Gesprächspartner liegt. Dadurch sehen Sie diesen zwar etwas unschärfer, können durch das erweiterte Sichtfeld aber Mikroexpressionen besser erkennen.

Die Wahrnehmung von Mikroexpressionen verbessern Mikroexpressionen sind mimische Signale, die nur für den Bruchteil einer Sekunde auftreten und über die sich der­ Sender selbst nicht bewusst ist. Dadurch können sie nicht manipuliert werden und eröffnen einen kurzen, aber ungefilterten Einblick in die Emotionen des Gesprächspartners. Da sie sich nur kurz zeigen, werden sie von ungeschulten Beobachtern in der Regel übersehen. Das Thema Mikroexpressionen wird in Kap. 10 vertieft. Dort wird auch eine Partner-Übung beschrieben, um deren Wahrnehmung zu verbessern. Wer seine Wahrnehmungsfähigkeit ohne Partner erhöhen möchte, kann Online-Trainings oder Seminare bei verschiedenen Anbietern wie Paul Ekman, Dirk Eilert oder Jan-Christoph Wartmann absolvieren. Zudem hat sich gezeigt, dass Menschen, die regelmäßig meditieren, Mikroexpressionen besser erkennen können [30]. Darüber hinaus verbessert das Training der eigenen mimischen Ausdrucksfähigkeit unsere Fähigkeit, Mikromimiken wahrzunehmen und richtig zu interpretieren. Beim Interpretieren fremder Mimik imitieren wir diese unbewusst für den Bruchteil einer Sekunde (circa eine Drittelsekunde) und aktivieren dadurch das sogenannte faziale Feedback, um über die mit der Mimik verbundenen Gefühle einen besseren Einblick in die Innenwelt des Gesprächspartners zu erhalten [30]. Dieser Nachahmungsvorgang (Mimikry) kann umso genauer erfolgen, je beweglicher die Gesichtsmuskeln sind. Eine höhere Flexibilität der Gesichtsmuskeln erhöht damit das Einfühlungsvermögen und die Fähigkeit, empathisch zu kommunizieren. Eine Möglichkeit, die Gesichtsmuskulatur zu trainieren, besteht darin, die für verschiedene Ausdrücke relevantesten Muskeln bewusst anzuspannen und sich dabei mit einem Handspiegel zu beobachten. 

Übung: Erhöhung der eigenen mimischen Ausdrucksfähigkeit Für die folgende Übung sollten Sie sich etwas Zeit und Ruhe nehmen, ca. 10–15 min. Jede Mimik sollte zunächst für ca. 20–30 s gehalten werden, spüren Sie dann für einige Sekunden nach, ob noch in anderen Teilen Ihres Körpers (beispielsweise Bauch oder Nacken) Empfindungen oder Gefühle entstehen. Einige der Muskeln sind zu Beginn nicht leicht zu aktivieren, wenn Sie subtil mit den Fingerspitzen etwas nachhelfen, erhöhen Sie die Wahrnehmung für die entsprechende Stelle. Eilert empfiehlt das folgende Mimik-Training:

2.4  Die eigene Wahrnehmung entwickeln

• • • • • • • • • • • • • •

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Zusammenziehen der Augenbrauen Anheben der Augenbrauen Hochziehen der Innenseiten der Augenbrauen Anheben des oberen Augenlids Anspannen des unteren Augenlids Rümpfen der Nase Hochziehen der Oberlippe Zusammenpressen der Lippen Schürzen der Lippen wie bei einem Kussmund Vorschieben der Unterlippe durch Anheben des Kinnbuckels Einpressen der beiden Mundwinkel Runterziehen der Mundwinkel Seitliches Auseinanderziehen der beiden Mundwinkel Anheben der Mundwinkel zum Lächeln

Lassen Sie sich nicht entmutigen, wenn ein Ausdruck nicht auf Anhieb gelingt, mit steigender Übung werden sich Ihre Fähigkeiten verbessern. Fortgeschrit­ tene können versuchen, möglichst viele der aufgeführten Bewegungen zu kombinieren [32].

Die Bedeutung unbekannter Signale erschließen Die gängigsten Signale, die sich im Rahmen des Recruitings zeigen, werden in den späteren Kapiteln beschrieben, dennoch begegnen uns immer wieder Signale, deren Bedeutung wir noch nicht kennen. Die folgende Übung ermöglicht es, ein Verständnis für die Bedeutung bislang unbekannter ­Signale zu entwickeln. 

Übung: Unbekannte Signale interpretieren Eine effektive Möglichkeit, um die eigene nonverbale Kompetenz nach und nach zu verbessern und das Verständnis auch unbekannter oder schwer interpretierbarer nonverbaler Signale zu erhöhen, besteht darin, den unbewussten Vorgang der Mimikry ins Bewusstsein zu heben. Hierzu sollten Sie die zuvor beobachtete Mimik, Handstellung oder Gestik selbst ausführen und für ein bis zwei Minuten ­ halten. Dabei ist es wichtig, sich geistig nochmals in die Situation hineinzuversetzen und den Kontext, in dem das Signal beobachtet wurde zu erinnern. Über das faziale und körperliche Feedback entstehen dann die dazugehörigen Gefühle. Diese können zunächst vage sein, dennoch führt die konzentrierte Achtsamkeit nach und nach zu einem tieferen Verständnis für deren Bedeutung. Zunächst sollten Sie die Aufmerksamkeit nach innen richten, um sich besser auf die entstehenden Gefühle konzentrieren zu können. Bei einer wiederholten Durchführung kann ein Spiegel helfen, um einen zusätzlichen äußeren visuellen Eindruck zu erhalten. Je nach Komplexität und Fremdheit können mehrere Wiederholungen notwendig sein, aber in

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2  Die eigene nonverbale Kompetenz entwickeln

der Regel erschließt sich, nachdem eine Geste oder ein Gesichtsausdruck in drei verschiedenen Situationen und bei mehreren Gesprächspartnern wahrgenommen und danach bewusst nachbearbeitet wurde, dessen Bedeutung und lässt sich nun in Worte fassen.

2.5 Grundprinzipien der nonverbalen Kommunikation Nachdem die Wahrnehmung verbessert und gezielt ausgerichtet wurde, gilt es, die Verarbeitung des Wahrgenommenen zu strukturieren und zu akzentuieren. Wenn wir die Qualität unserer Deutung nonverbaler Signale erhöhen wollen, müssen wir einige Regeln und Grundprinzipien beachten, die gewissermaßen die Grammatik der nonverbalen Kommunikation bilden. 1. Baseline bestimmen: Welches Verhalten ist für diesen Menschen normal? Jeder Mensch ist unterschiedlich, unser Temperament wird durch die verschiedensten genetischen und epigenetischen Faktoren sowie prä- und postnatale und frühkindliche Erlebnisse geprägt [33]. Während ein phlegmatischer Typ nur selten hektisch wird, kommt ein cholerischer Typ nur schwer zur Ruhe. Vergleichbar einer Waage, die zunächst geeicht werden muss, um später aussagekräftige Wiegeergebnisse zu liefern, ist es notwendig, zunächst das Normalverhalten des Gesprächspartners zu erfassen, um die Aussagekraft einzelner Signale treffend einordnen zu können. Ohne diese Baseline fehlt die Bezugsgröße, zu der einzelne Signale ins Verhältnis gesetzt werden können, um ihre Aussagekraft zu bestimmen. 2. Ganzheitlichkeit beachten Nonverbale Kommunikation findet ganzheitlich statt. Descartes dualistischer Ansatz, Geist und Körper zu trennen, hat zwar unser westliches Denken nachhaltig geprägt, kann aber den neuen Erkenntnissen der Neurobiologie nicht standhalten. Denken, Handeln und Fühlen finden ganzheitlich statt und beeinflussen sich gegenseitig [34]. Der Mensch verfügt über ungefähr 650 verschiedene Muskeln. Diese gleichzeitig und koordiniert bewusst zu kontrollieren, um einen Ausdruck vorzutäuschen und eine beabsichtigte Wirkung zu erreichen, ist nicht oder kaum möglich. Unser Körper drückt die entstehenden Wünsche unserer unbewussten Persönlichkeit direkt aus und wird dabei lediglich von unserem sozialisierten Selbst gehemmt, welches mit dem Vorbewussten verbunden ist. Dieser natürliche Ausdruck ist zu harmonisch und fließend, um über die bewusste Ein­ flussnahme in seiner Ganzheitlichkeit nicht gestört zu werden. Wenn das innere ­Setting nicht dem entspricht, was außen ausgedrückt werden soll, ergeben sich subtile Verzöge­ rungen, Anspannungen oder zu schnell einsetzende oder zu abrupt endende Ausdrücke. Werden die vom Körper angestoßenen Impulse für ein geplantes Verhalten von unserem sozialisierten Selbst unterbunden, entsteht Spannung. Diese Spannung sucht sich, insofern sie nicht vollständig unterdrückt und verdrängt wird – was Sigmund Freud als

2.5  Grundprinzipien der nonverbalen Kommunikation

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eine der Ursachen für spätere Neurosen und andere Erkrankungen beschrieben hat – ihren Weg und baut sich an anderer Stelle im Körper ab [35]. Wo und wie sich diese unterdrückte Spannung äußert, hängt vom Kontext, der individuellen Veranlagung und den persönlichen Gewohnheiten ab. Das Bewusstsein um die Ganzheitlichkeit der Kommunikation und eine verfeinerte Wahrnehmung ermöglichen es jedoch, auftretende Signale bewusster zu registrieren und in der Kommunikation zu berücksichtigen. Was für den Einzelnen gilt, gilt ebenso für das gesamte Kommunikationsfeld. Wie Paul Watzlawick [36] beschreibt, gestaltet sich Kommunikation interpunktuell, d. h. kreisförmig, ohne bewussten Anfang und Ende – zu vielschichtig und dynamisch sind die Wechselwirkungen: Worte und Bewegungen des einen Gesprächspartners bedingen jene des anderen und umgekehrt. Es ergibt sich eine Verflechtung, die nur unter ganzheitlichen und systemischen Aspekten adäquat erfasst werden kann, will man der Subjektivität der einzelnen Akteure und der unbewussten Dynamik der Interaktion gerecht werden. Vor diesem Hintergrund sollte sich der Recruiter als Teil eines Kommunikationsfeldes verstehen, welches er sowohl mitgestaltet, dessen Wirkung er jedoch auch ausgesetzt ist und vielleicht schon in anderen Situationen in Form von Gruppenzwang erlebt hat. In diesem Feld stärkt die eigene innere Klarheit die Resistenz gegenüber auftretenden Störungen und den eigenen Einfluss auf die Zielerreichung. Fortgeschrittene Kommunikation sollte also über die Wahrnehmung einzelner Signale und Signalketten hinausgehen und den Charakter des gesamten Feldes umfassen. Da er selbst Teil des Feldes ist, dient dabei der ganze eigene Körper als Wahrnehmungsorgan. Wer die Wahrnehmung und das Bewusstsein für den eigenen Körper erhöht, verbessert seine Möglichkeiten, die stattfin­ dende Kommunikation unter ganzheitlichen Aspekten zu erfassen und zu pflegen. Das Empfindungsvermögen und die Differenzierungsfähigkeit für die Signale des eigenen Körpers lassen sich durch Methoden wie Meditation, Yoga, Tai Chi, Qigong oder Pilates entwickeln. Eine kognitive Möglichkeit, um das Bewusstsein für den eigenen Körper zu erhöhen, bildet die von Robert Masters entwickelte Neurosprache [37]. Wird das Kommunikationsfeld bewusst wahrgenommen, kann es anhand verschiedener zwischenmenschlicher Kriterien differenzierter erfasst werden. Ergänzend zu den vorstehend beschriebenen Kriterien kann die Wahrnehmung hierzu auf folgende Aspekte gerichtet werden: • Ehrlichkeit: Wirkt der Gesprächspartner aufrichtig oder täuschend? • Kongruenz: Sind die nonverbalen Signale kongruent oder inkongruent zum Gesagten? • Wirkung: Hinterlassen die Signale einen positiven, neutralen oder negativen Eindruck? • Intention: Schwingen Scherz oder Ironie mit? 3. Tells, Cluster und Signalketten: Eine Schwalbe macht noch keinen Sommer Bei der Interpretation nonverbaler Signale droht die Gefahr, einzelne Signale zu stark zu bewerten bzw. lediglich anhand eines einzelnen Signals auf eine direkte Bedeutung

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2  Die eigene nonverbale Kompetenz entwickeln

zu schließen. Diese Deutung einzelner Signale gelingt lediglich im Rahmen bewusst gesendeter Embleme, d. h. bei Signalen mit eindeutiger Aussage, wenn beispielsweise mit dem Zeigefinger an die Stirn getippt wird. Aber auch Embleme erhalten erst durch ein begleitendes charmantes Lächeln oder einen verächtlichen Gesichtsausdruck ihre ganze Bedeutung. Einzelne nonverbale Signale werden als Tells bezeichnet und sind vergleichbar mit Wörtern auf der verbalen Ebene. Auch Wörter nehmen je nach Zusammenhang verschiedene Bedeutungen ein und erst mehrere gemeinsam bilden einen aussagekräftigen Satz. Auch wenn einzelne Tells aussagekräftiger als andere sein können, sollten sie, wie einzelne Wörter im Satz, stets im Verbund, als gesamtes Cluster, gedeutet werden. Eine Schwalbe allein macht noch keinen Sommer und ein nonverbales Signal allein noch keine Botschaft. Erst mehrere Signale des Clusters, die in die gleiche Richtung weisen, bilden eine Signalkette und verstärken die Aussagekraft der gesamten nonverbalen Botschaft. Das einzelne Signal bietet aber einen Hinweis auf ein mögliches Thema, das unausgesprochen, und oftmals auch dem Sender unbewusst, im Hintergrund existiert. Dadurch eröffnet es im Gespräch die Möglichkeit, es mit dem Kontext, in dem es auftrat, abzugleichen und mögliche dahinterliegende Themen noch einmal neu zu beleuchten, zu relativieren oder zu klären. 4. Timing: Zeitliche Relevanz beachten Wurde ein Signal registriert, ergibt sich die Frage, welche Maßstäbe bei seiner Interpre­ tation angesetzt werden sollten. Neben der Aussagekraft der beschriebenen Signalketten und verschiedenen Kontextfaktoren bildet die zeitliche Nähe, in der ein Signal auftritt, einen Gradmesser für dessen Authentizität. Horst Rückle beschreibt die Reiz-ReaktionsZeit, die Dauer der Zeitspanne, die zwischen Reiz und natürlicher nonverbaler Reaktion entsteht, als maximal 2,5 s [38]. Durch ihre hohe Authentizität sind Signale, die innerhalb dieser Zeitspanne auf einen Reiz erfolgen, für den Dialogführenden besonders interessant. Da diese Signale unbewusst gesendet werden, besitzen sie durch ihre Unverfälschtheit einen hohen Wahrheitsgehalt. Wichtig ist hierbei, dass auch interne Auslöser wie Erinnerungen oder Gedanken zu einem anderen Thema eine Reaktion auslösen können. Da diese aber in der Regel mit Veränderungen der Blickrichtung einhergehen, bieten sich dem geschulten Beobachter auch in dieser Hinsicht gute Möglichkeiten, sie voneinander zu unterscheiden. Nimmt der Recruiter die subtilen Signale des Gesprächspartners wahr, kann er sich den relevanten Kontext vor Augen halten und zeitnah sowie adäquat reagieren, bevor sich das Gesprächsklima nachhaltig wandelt. Einzelne Signale und potenzielle Störquellen werden in den Kapiteln zu Rhythmus (Kap. 7) und Territorium (Kap. 5) vertieft. 5. Kontext berücksichtigen: Wie passt das Verhalten zum Setting? Neben dem zeitlichen Zusammenhang stellt die Beziehung nonverbaler Signale zur Situation und zum Kontext eine kritische Größe bei deren Interpretation dar. Um dem von Schulz von Thun [39] beschriebenen Wahrheitsgehalt der Situation zu erfassen und

2.5  Grundprinzipien der nonverbalen Kommunikation

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Körpersprache zuverlässig zu interpretieren, sollten zunächst mehrere Signale zeitnah erkannt, gesammelt und dann ins Verhältnis zum entsprechenden Rahmen gesetzt werden. Eilert [40] erläutert in Anlehnung an Ekman sieben Möglichkeiten, durch die der Kontext die nonverbale Kommunikation beeinflusst. Kontextfaktoren der nonverbalen Kommunikation

1. Art des Gesprächs 2. Art und Geschichte der Beziehung 3. Sender-Empfänger-Wechsel 4. Quelle des Auslösers 5. Kongruenz 6. Persönlichkeit 7. Kultur

Die Art des Gesprächs bleibt im Recruiting relativ konstant, auch wenn sich Abweichun­ gen ergeben können durch die sich verändernden Arbeitsmärkte und den unterschiedli­ chen Druck, den beispielsweise die Besetzung von Schlüssel- oder Engpassstellen mit sich bringt. Allgemein haben Einstellungsverantwortliche durch ihre Erfahrung aus der Praxis in der Regel ein gutes Gefühl dafür, welche Verhaltensweisen im Bewerbungsge­ spräch in welchen Situationen die Norm darstellen. Bereits bei der Art und Geschichte der Beziehung kann jedoch ein früherer Kontakt die Kommunikation und damit die Objektivität der Recruiter beeinflussen. Der Sender-Empfänger-Wechsel unterscheidet danach, ob sich nonverbale Signale zeigen, während der Gesprächspartner spricht oder während er zuhört. Die Quelle des Auslösers bestimmt, ob Signale als Reaktion auf den Partner auftreten oder durch die eigene Erinnerung und Gedanken ausgelöst werden. Die Kongruenz zwischen verbalen, para- und nonverbalen Signalen wurde zu Beginn dieses Kapitels erläutert, aber auch die Kongruenz innerhalb der nonverbalen Ebene gibt zusätzlichen Aufschluss über die Aussagekraft einzelner Signale. Gehen beispielsweise öffnende mit Interesse zeigenden Signalen einher, bilden Signalketten und verstärken sich, oder widersprechen sich einzelne nonverbale Signale, beispielsweise ein höfliches Lächeln mit einem sich zurückziehenden oder abwendenden Oberkörper? Wie beschrie­ ben gilt, dass mit steigender Unbewusstheit eines Signals dessen Aussagekraft steigt, da die Wahrscheinlichkeit abnimmt, dass es willentlich mit manipulativer Absicht gesendet wird. Der Einfluss der Kultur wird in Kap. 3 vertieft. Wie im Abschnitt zum Normalver­ halten beschrieben, bildet die Persönlichkeit ein elementares Kriterium bei der Beurtei­ lung der nonverbalen Kommunikation. Es gibt nun einmal einerseits eher ruhigere sowie andererseits impulsivere Typen, und zusätzlich belastet der Druck die Bewerber je nach persönlicher Situation unterschiedlich stark. Das erste Ziel im Gespräch sollte von daher

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2  Die eigene nonverbale Kompetenz entwickeln

darin bestehen, dem Bewerber zu helfen, seine situationsbedingte Nervosität abzubauen und zu seinem Normalverhalten zu finden.

2.6 Die eigene Körpersprache entwickeln Neben dem „Grundrauschen“ unserer Persönlichkeit prägen hauptsächlich vier Bereiche unseren Ausdruck: die innere Haltung, die Situation (wie wir diese wahrnehmen und uns in ihr verorten) sowie unser Denken und Fühlen. In Bezug auf die innere Haltung bilden das Selbstverständnis und ­Rollenverständnis des Recruiters 2.0 kritische Größen für dessen gesendete Körpersprache. Die verschie­ denen beschriebenen Wege, um die Wahrnehmung zu verbessern, ermöglichen dem Recru­iter zwar eine effektive Verbesserung der eigenen nonverbalen Kommunikation, bringen aber auch eine neue Herausforderung mit sich: Wenn im Gespräch ablehnende Signale, wie verächtliche Mikromimiken, wahrgenommen werden, die früher übersehen wurden, gilt es, sich nicht zurückzuziehen oder abgelehnt zu fühlen, sondern diese zu integrieren. Gelingt dies nicht und reagiert der Recruiter verstimmt, senkt seine ihm in die Quere kommende psychische Dynamik seine Professionalität [41]. Für den eigenen Ausdruck stellt das oben beschriebene Prinzip der Ganzheitlichkeit eine Schlüsselgröße dar: Unsere Gedanken bilden für den Körper eine reale Größe [42], die diesen lenken. Wenn wir uns etwas Schönes vorstellen, führt das zu Entspannung und umgekehrt zieht die Vorstellung von negativen Inhalten eine Verkrampfung des Körpers nach sich. Ein klares Motiv und eine klare Positionierung zur Kommunikationssituation bestimmen eine klare Körpersprache und führen zu Authentizität im Sinne einer Übereinstimmung von äußerer und innerer Haltung. Konstantin Stanislawski wies vor diesem Hintergrund seine Schauspieler an, für sich das Warum zu klären und damit die Gründe, Motivation und Intentionen, die sie mit einer Rolle verbanden. Die Leitfragen lauteten: Wer bin ich? Was tue ich? Wozu tue ich es? Warum tue ich etwas? Wer diese Fragen in Bezug auf die Rolle des Recruiters 2.0 oder vor wichtigen Gesprächen für sich klärt, tritt bewusster in diese ein und bildet damit die Grundlage, um auf ganzheitlicher Ebene zu überzeugen. 

Die Fragen „Warum führe ich das Gespräch?“, „Was will ich damit erzielen?“, „Welche innere Haltung verbinde ich damit?“ mögen auf den ersten Blick trivial erscheinen, die bewusste Auseinandersetzung mit ihnen und ihre reflektierte, idealerweise schriftliche Beantwortung eröffnen jedoch oftmals die notwendigen Einsichten, um eigene Blockaden zu erkennen und zu lösen und damit die Quelle unbewusster Gesprächsstörer zu beseitigen.

In den Kap. 4 bis 13 werden jeweils in einem Unterkapitel die eigenen Möglichkeiten zur Gestaltung der verschiedenen Kommunikationselemente behandelt.

2.6  Die eigene Körpersprache entwickeln

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Die eigene Empathie erhöhen Wenn wir zunächst bewusst wahrnehmen, erst danach interpretieren und anschließend die Richtigkeit unserer Interpretation überprüfen, trainieren und verbessern wir sukzessive unsere Fähigkeit zur intuitiven Einschätzung einer Gesprächssituation und schärfen unser Bauchgefühl. Je mehr Einfühlungsvermögen in die eigene Gefühlswelt ein Mensch dabei erlangt, desto besser kann er sich auch in andere hineinversetzen. Es ist erwiesen, dass nicht nur Gefühle die entsprechenden Gesichts- und Körperausdrücke verursachen, sondern dass auch umgekehrt unsere Körperhaltung und Mimik entsprechende Gefühle auslösen [31]. Spiegeln wir die Gesichtsausdrücke und Körperhaltung unseres Gegenübers, fällt es uns also leichter, uns in dieses hineinzuversetzen. Die Nachahmung ist ein automatischer empathischer Vorgang, der durch die sogenannten Spiegelneurone entsteht, die im eigenen Gehirn feuern, wenn eine Handlung bei einer Person beobachtet wird, zu der wir in Beziehung getreten sind und dann beispielsweise das ansteckende Gähnen auslösen. Die subtile Nachahmung signalisiert dem Gesprächspartner gleichzei­ tig, dass wir uns auf ihn einschwingen, um miteinander in Resonanz zu gehen. Dadurch verbessert sich die Beziehung, und die Sympathie, die dieser für uns empfindet, nimmt zu [43]. Gerade Männer, die üblicherweise eine sparsamere Mimik zeigen, können dieses Ausdruck etwas unterstützen. Dabei ist jedoch wichtig, angemessen und adäquat zur Situation und dem Gefühl des Gegenübers zu spiegeln. Die subtile Verstärkung des natürlichen Nachahmens sollte nicht ins Bewusstsein des Gegenübers gelangen und auf keinen Fall zum Nachäffen werden. Die Art und Weise, wie wir neue Informationen verarbeiten, beeinflusst unsere Lernfähigkeit maßgeblich. Lesen wir neue Informationen lediglich einmal durch, bleiben uns langfristig nur ca. 10 % erhalten, wiederholen wir sie aber selbst oder wenden sie aktiv an, können wir diese Quote auf bis zu 90 % steigern [44]. Nehmen wir spezifische Körperhaltungen selbst ein oder führen wir mimische Ausdrücke selbst durch, gewinnen wir ein nachhaltigeres Verständnis für das Gefühl hinter dem Ausdruck und erweitern die eigenen Deutungsmöglichkeiten. Wie oben beschrieben, kann dies auch in der Gesprächsnachbereitung erfolgen, wenn sich an spezifische Ausdrücke erinnert wird, diese nun selbst intensiv eingenommen werden und sich auf deren Wirkung im eigenen Körper konzentriert wird. Je regelmäßiger diese Übung wiederholt wird, desto feiner wird unsere Wahrnehmung für die eigenen Empfindungen und desto besser werden unsere Empathie sowie unsere Fähigkeit, die Körpersprache unserer Gesprächspartner zu deuten. Der über 2500 Jahre alte Appell am Apollotempel in Delphi hat ungemindert Bestand: „Erkenne dich selbst.“ Unsere Empathie entwickelt sich in dem Maße, in dem wir uns selbst besser kennenlernen. Dies führt zum abschließenden Punkt: Eine Hemmung und Zögern, die eigene Kör­ persprache zu entwickeln, werden teilweise damit begründet, dass es sich ungewohnt anfühle und man befürchte, seine Authentizität zu verlieren. Andere befürchten, sie könnten durch die Entwicklung ihrer nonverbalen Kompetenz ihre Mitmenschen manipulieren. Beides lässt sich mit dem Wechsel von Jeans und Pullover im privaten Umfeld zum Businessanzug mit Krawatte im Rahmen eines wichtigen geschäftlichen Anlasses

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2  Die eigene nonverbale Kompetenz entwickeln

vergleichen. Ob im Business oder im Privaten: Vor Treffen, die uns etwas bedeuten, richten wir intuitiv eine besondere Aufmerksamkeit auf unser Äußeres. Wer sich in diesem Zusammenhang an das Gefühl erinnert, das er empfand, als er seinen ersten Anzug trug, oder das sie hatte, als sie das erste Mal in Schuhen mit hohen Absätzen außer Haus ging, wird sich eingestehen, dass er und sie sich auch daran erst gewöhnen mussten. Wer sich weiter reflektiert, wird bemerken, dass mit dem eigenen damaligen Auftreten durchaus versucht wurde, auf die Reaktion des Umfeldes oder einer besonderen Person Einfluss zu nehmen oder einfach den gesteigerten Erwartungen gerecht zu werden. Ebenso treffen wir die Wahl unserer Worte mehr oder weniger bewusst und geschickt, um Einfluss auf einen Gesprächspartner zu nehmen. Sollten deshalb Personen, die mehr Erfahrung als andere im Auftragen von Make-up haben, ein schlechtes Gewissen bekommen, oder andere, die sich eine gehobenere Garderobe leisten können oder sich bei der Auswahl derselben von einer stilsicheren Person beraten lassen? Sicherlich nicht, und analog dazu stellt auch die Entwicklung der eigenen Körpersprache etwas dar, das wertfrei betrachtet werden sollte. Im Gegenteil: Sie verbessert den Kontakt zu unseren Mitmenschen und unterstützt, wie sich später zeigen wird, die Entwicklung unserer Persönlichkeit und den freien Ausdruck. Warum fühlen sich Veränderungen zunächst ungewohnt an? Unser Gehirn empfängt ständig Informationen über den Körper aus dem gesamten viszeralen System und gleicht diese Ist-Werte mit den aus der Vergangenheit gespeicherten Soll-Werten ab. Das übergeordnete Ziel ist der Erhalt der Homöostase, des inneren Gleichgewichts [45]. Hierfür sind im Gehirn die Körperzustände der Vergangenheit in Form verknüpfter Schaltkreise bzw. neuronaler Repräsentationen als Sollzustände hinterlegt. Weicht nun eine neu eingenommene Haltung vom bisherigen Verhalten ab, registriert unser Gehirn durch die ungewohnten somatischen Marker diese Veränderung und reagiert auf diese Andersartigkeit. Wachstum findet außerhalb der Bequemlichkeitszone statt: Änderungen gleich welcher Art kosten das Gehirn mehr Energie als den Erhalt des Status quo. Von daher reagiert es zunächst mit einer gewissen Unlust auf Änderungen, bis es sich an diese gewöhnt und nach ungefähr 21 Tagen als neue Soll-Repräsentation gespeichert hat [46]. Monika Matschnig empfiehlt, davon während der ersten beiden Tage bewusst und intensiv auf ein zu veränderndes Element der Körpersprache zu achten und sich regelmäßig zu korrigieren. Während der nächsten 19 Tage reicht es dann, von Zeit zu Zeit die Aufmerksamkeit auf die gewünschte Veränderung zu richten, um diese nach und nach zu verstetigen.

2.7 Fazit: Die eigene nonverbale Kompetenz entwickeln Was lässt sich zusammenfassend in Bezug auf die Entwicklung der nonverbalen Kompetenz festhalten? Im Gegensatz zur verbal gepflegten Sachebene wird die Beziehungsebene hauptsächlich über die nonverbale Kommunikation gepflegt. Im Gegensatz zu den quantitativen, digitalen Inhalten der verbalen Ebene vermittelt die nonverbale Ebene analoge, qualitative Inhalte. Der Schlüssel zur Erhöhung der eigenen nonverbalen ­

2.7  Fazit: Die eigene nonverbale Kompetenz entwickeln

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Kompetenz liegt darin, für die Signale des Körpers empfänglich zu werden und zu lernen, diese treffend in Worte zu fassen. Dafür ist die Arbeit am und mit dem eigenen Körper notwendig. In Folge verbessern sich sowohl die Wahrnehmung als auch das Verständnis für die gesendete und empfangene nonverbale Kommunikation und damit die Fähigkeit, die Qualität der Beziehung zum Gegenüber zu gestalten. Der Altmeister der nonverbalen Kommunikation Samy Molcho steht bereits seit 70 Jahren als Pantomime und Körpersprachetrainer auf der Bühne und dürfte wohl weltweit eine der Personen sein, die den beschriebenen Weg der Arbeit mit dem eigenen Körper am konsequentesten gegangen sind. Wo andere Autoren auf wissenschaftliche Untersuchungen und Studienergebnisse verweisen, geht Molcho in die Tiefe seines Erfahrungsschatzes und beschreibt die Welt der nonverbalen Kommunikation, wie sie sich ihm in jahrzehntelanger Arbeit eröffnet hat und wie sie sich auch jedem erschließen wird, der sich in vergleichbarer Tiefe mit ihr beschäftigt. Jeder, dem er auf diese Art und Weise den Spiegel vorgehalten hat und der sich darin auf frappierende Weise verstanden, durchschaut und mitunter entlarvt gefühlt hat, ist in der Regel fasziniert und beeindruckt von der tiefen, auch philosophischen, Erkenntnis, die Molcho durch die Arbeit am und mit dem eigenen Körper entwickelt hat. Seine Erkenntnisse und Empfehlungen bieten sich von daher als erstes Fazit sicher an und können oftmals als nonverbale Axiome postuliert werden. Prinzipiell sollte auf starke nonverbale Signale schnell reagiert werden. Molcho vergleicht diese mit Verkehrssignalen, die anzeigen, ob das Gegenüber aufnahmebereit ist, ausweicht oder sich zurückzieht [47]. Hierfür ist es notwendig, nonverbale Signale zunächst wahrzunehmen und sie für wichtig zu halten. Eine Veränderung im Körper signalisiert eine Veränderung in der Absicht. Das eröffnet uns einerseits die Möglichkeit, uns selbst zu beeinflussen, führt aber auch zu der Erkenntnis, dass der Körper zeigt, was der Mensch will. Keine körperliche Haltung oder Bewegung hat dabei eine exakte Bedeutung per se, Körpersprache und gesprochene Sprache sind stets voneinander abhängig. Zur Interpretation der Körpersprache hilft es, sich zu fragen: Was sind die Optionen einer Bewegung bzw. welche Möglichkeiten eröffnen sich aus ihr? Komplizierte Körpersprache hat ihren Ursprung in eingeübten Hemmungen. „Die Hemmung, unsere ursprüngliche Empfindung 1:1 zum Ausdruck zu bringen, zwingt den Körper, andere Interpretationen für die gleiche Aussage zu finden“ [48]. Signale sollten nie einzeln, sondern immer nur im Zusammenhang beurteilt werden. Im Mittelpunkt sollte das Bemühen stehen, ein Verständnis für das Zusammenwirken von Körpersprache, Sprache, Situation, Kultur, Ressourcen, Routine und das Verhältnis der beteiligten Gesprächspart­ ner zueinander zu entwickeln. Die beobachtete Körpersprache sollte bis auf wenige Ausnahmen nicht angesprochen, sondern stattdessen aufmerksam und diskret beobachtet und mit verschiedenen Instrumenten des aktiven Zuhörens reagiert werden, um entstandene Vermutungen zu bestätigen oder zu verwerfen. Einen wichtigen Schritt bildet die Entwicklung des Verständnisses universeller Verhaltensweisen, also jener Signale, die kulturübergreifend auftreten und bei allen Menschen biologisch durch die gleichen Ursachen ausgelöst werden. Die Ursachen und Ausprägungen dieser Grundbausteine der nonverbalen Kommunikation

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2  Die eigene nonverbale Kompetenz entwickeln

werden in den folgenden Kapiteln beschrieben und erleichtern die treffende Interpretation der beobachteten Körpersprache. Im Gespräch sollte zunächst das Normalverhalten des Gesprächspartners erfasst werden. Zu diesem kann das individuell beobachtete Verhalten ins Verhältnis gesetzt werden, um vor dem Hintergrund der Situation ein vertieftes Verständnis über dessen Persönlichkeit, Motive und Interessen zu entwickeln. Abweichungen vom Normalverhalten und plötzliche Verhaltensänderungen, die auf veränderte Gefühle, Gedanken und Einstellungen schließen lassen, bringen eine erhöhte Aussagekraft mit sich, ebenso Signalketten. Diese zeichnen sich durch gemeinsam auftretende oder kurz aufeinander folgende Signale aus, deren Grundaussage und Charakter einander entsprechen und in die gleiche Richtung deuten. Um den Beobachtungserfolg weiter zu erhöhen, sollte gelernt werden, falsche oder irreführende Signale zu erkennen. Die eigene verbal und nonverbal gesendete Kommunikation führt beim Gesprächspartner zu gewollten oder ungewollten Reaktionen. Um unsere kommunikative Kompetenz kontinuierlich zu entwickeln, sollten wir uns fragen, ob die erhaltene Reaktion so von uns beabsichtigt wurde und ob sie uns unserem Gesprächsziel näherbringen konnte. War dies nicht der Fall, haben wir die entstehende Spannung meist schon bemerkt, bevor wir zu Ende gesprochen haben. Wer sich in solchen Fällen die eigene paraverbale und nonverbale Kommunikation bewusst macht, findet leichter Optionen, um das Gespräch wieder in kooperative Bereiche zu lenken. Gelingt dies einmal nicht, kann anschließend reflektiert werden, welche der gesendeten Signale dem Gelingen entgegenstanden und was beim nächsten Mal besser gemacht werden kann, um so die eigene nonverbale Kompetenz sukzessive zu entwickeln.

Literatur 1. https://www.unternehmercoach.com/coach-unternehmer-coaching-brennendstes-problem-engpass-positionierung-strategie.htm Aufgerufen am 21.08.2018 um 08:06 2. (http://www.celt.iastate.edu/teaching/effective-teaching-practices/revised-blooms-taxonomy Aufgerufen am 05.05.2018-22:35) 3. https://www.leadion.de/2013/01/23/vier-phasen-des-lernens/ Aufgerufen am 21.08.2018 um 08:42 Uhr 4. Paul Watzlawick: Menschliche Kommunikation; S. 53; Verlag Hans Huber, Bern, 2007 5. Paul Watzlawick: Menschliche Kommunikation; S. 61; Verlag Hans Huber, Bern, 2007 6. Allan & Barbara Pease: Warum Männer nicht zuhören und Frauen schlecht einparken, S. 50; Ullstein, Berlin, 2002 7. Allan & Barbara Pease: Die kalte Schulter und der warme Händedruck, S. 27; Ullstein, Berlin, 2009 8. Manfred Spitzer: Lernen – Gehirnforschung und die Schule des Lebens, S. 53; Spektrum Akademischer Verlag, Heidelberg; Berlin, 2002 9. https://eilert-akademie.de/presse_referenzen/PK-02-2016-Eilert.pdf Aufgerufen am 09.05.2018

Literatur

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1 0. Gerhard Roth: Persönlichkeit, Entscheidung und Verhalten; S. 39; Klett-Cotta, Stuttgart, 2015 11. Helena Grabner: Die Beobachtung als wissenschaftliches Messinstrument: Grundlagen, Arten und Beobachtungssysteme, S. 3; Studienarbeit, Universität Augsburg, 2008 12. Daniel Kahneman, Schnelles Denken, langsames Denken, Siedler Verlag, München, 2012 13. Amy Cuddy: Dein Körper spricht für dich; S. 181; Wilhelm Goldmann, München, 2016 14. Amy Cuddy: Dein Körper spricht für dich; S. 230; Wilhelm Goldmann, München, 2016 15. Amy Cuddy: Dein Körper spricht für dich; S. 241; Wilhelm Goldmann, München, 2016 16. Gregg Braden, Seminar: Resilienz aus dem Herz, Basel am –16./17.09.2017 17. Nancy Etcoff, et al (2000). Lie detection and language comprehension. Nature, 405, S. 139 18. Michael Grinder: Seminar Nonverbale Kommunikation – Ein Training in differenzierter Wahrnehmung bei TWINN Consulting & Akademie, Region Nürnberg, 14.–17.05.2015 19. Persönliches Gespräch mit J. C. Wartmann, Lörrach, Mai 2017; www.embodied-cooperation. com/ 20. Samy Molcho: Körpersprache im Beruf, S. 139, Wilhelm Goldmann Verlag, München, 1997 21. Alexa Mohl: Der große Zauberlehrling Teil 1; S. 131; Junfernmann; Paderborn, 2013 22. Joe Navarro: Menschen verstehen und lenken; S. 35; mvg Verlag, München, 2013 23. Lutz Herkenrath, Vortrag an der Dualen Hochschule Lörrach, März 2016 24. Johannes Galli: GAME: Im Rahmen der Ausbildung zum Körpersprache- und Persönlich­ keitstrainer, Freiburg, 2013 25. Joe Navarro: Menschen lesen; S. 70; mvg Verlag, München 2011 26. Michael Argyle: Körpersprache und Kommunikation, S. 248; Junfermann, Paderborn, 2013 27. Dirk W. Eilert: Mimikresonanz; S. 48; Junfermann, Paderborn, 2013 28. Allan & Barbara Pease: Warum Männer nicht zuhören und Frauen schlecht einparken; S. 51; Ullstein, Berlin, 2002 29. Wolfgang J. Linker: Kommunikative Kompetenz: Weniger ist mehr!; S. 308; Gabal, Offenbach, 2010 30. Dirk W. Eilert: Mimikresonanz; S. 57; Junfermann, Paderborn, 2013 31. Amy Cuddy: Dein Körper spricht für dich, S. 235; Wilhelm Goldmann, München, 2016 32. Dirk W. Eilert: Der Liebescode; S. 132 bis 133; Ullstein, Berlin, 2015 33. Gerhard Roth: Persönlichkeit, Entscheidung und Verhalten; S. 141; Klett-Cotta, Stuttgart, 2015 34. Antonio R. Damasio: Descartes’ Irrtum; List-Taschenbuch, Berlin, 2006 35. Bernd Senf: Von der Psychoanalyse zur Körperpsychotherapie; Vortrag am 15.11.2011; https://www.youtube.com/watch?v=i8-A9d_VbyM Aufgerufen am 22.08.2018 36. Paul Watzlawick: Menschliche Kommunikation; S. 57; Verlag Hans Huber, Bern, 2007 37. Robert Masters: Neurosprache; VAK Verlag, Kirchzarten bei Freiburg, 2011 38. Horst Rückle: Körpersprache für Manager; S. 161; mi Verlag Moderne Industrie, Landsberg/ Lech, 1992 39. Friedemann Schulz von Thun: Miteinander reden 1; S. 137; Rowohlt Taschenbuchverlag, Reinbek bei Hamburg, 2013 40. Dirk W. Eilert: Mimikresonanz; S. 60; Junfermann, Paderborn, 2013 41. Friedemann Schulz von Thun: Miteinander reden:3; S. 365; Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek bei Hamburg, 1998 42. Stefan Spies: Der Gedanke lenkt den Körper; Hoffmann und Campe, Hamburg, 2010 43. Eskil Burck: Neue Psychologie der Beeinflussung, S. 100–103; BoD; Norderstedt, 2016 44. Hermann Scherer: Jenseits vom Mittelmaß; S. 128; Gabal, Offenbach, 2009 45. Antonio R. Damaso: Descartes’ Irrtum; S. 167; List, Berlin, 2006

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2  Die eigene nonverbale Kompetenz entwickeln

46. Monika Matschnig: Durch Körpersprache wirken, (2 CDs) Hörbuch; Campfire Audio, Dargow, 2007 47. Samy Molcho: Mit Körpersprache zum Erfolg Version 3.0; PC-DVD-ROM, USM, München, 2011 48. Samy Molcho: Körpersprache der Kinder; S. 192; Heinrich Hugendubel Verlag, Kreuzligen/ München 2005

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Ursachen: Wie entsteht nonverbale Kommunikation?

Zusammenfassung

Das Kapitel beschreibt interdisziplinäre Ursachen der nonverbalen Kommunikation und deren Auswirkungen auf das Bewerbungsgespräch. Neben biologischen Einflüssen werden evolutionshistorische und neurobiologische Einflüsse behandelt. Darüber hinaus werden die Einflüsse individualpsychologischer und sozialpsychologischer Grundbedürfnisse vertieft. Abschließend werden kulturelle Hintergründe und ihr Einfluss auf die nonverbale Kommunikation im Bewerbungsgespräch beschrieben. Um besser zu verstehen, wie sich unsere Persönlichkeit, Gefühle und Einstellungen nonverbal ausdrücken, sollten wir die verschiedenen Ursachen untersuchen, auf denen sie gründen. Neben biologischen, individual- und sozialpsychologischen Faktoren wird unsere Körpersprache durch die gesamte Entwicklungsgeschichte, deren letztes Glied der heutige Mensch bildet, geprägt. Ebenso prägen die Kultur, aus der wir stammen, und jene, in der wir uns aktuell bewegen, unser Erleben und Bewerten der Welt und damit unsere Kommunikation. Aber auch die Körperhaltung, die wir gewohnheitsmäßig einnehmen, oder die Gesichtsausdrücke, die wir zeigen, beeinflussen unser inneres Hormonniveau und in Folge unsere Wahrnehmung, Empfindungen, Bewertungen und damit letztlich die gesamte nachfolgende Kommunikation.

3.1 Biologische Ursachen Die Geschichte der nonverbalen Kommunikation beginnt auf zellulärer Ebene. Das Erbe der frühesten Lebensformen wirkt sich noch heute in öffnenden und schließenden Bewegungen auf unsere Kommunikation aus.

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 C. Bernhardt, Nonverbale Kommunikation im Recruiting, https://doi.org/10.1007/978-3-658-25276-2_3

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3  Ursachen: Wie entsteht nonverbale Kommunikation?

Öffnen und Schließen Zu Beginn des 20. Jahrhunderts entwickelte der französische Physiologe Alexis Carrel die These, dass das Überleben einer Zelle maßgeblich durch das sie umgebende Milieu bestimmt würde. Um seine These zu beweisen, legte er Zellgewebe von Hühnerherzen in eine Nährlösung, die er regelmäßig erneuerte. Während ein Huhn normalerweise eine Lebenserwartung von vier bis fünf Jahren hat, lebten die Zellen in Carrels Nährlösung 27 Jahre lang und starben schließlich nicht etwa an Altersschwäche, sondern weil ein unaufmerksamer Assistent vergessen hatte, die Nährlösung zu erneuern [1]. Damit stand fest, dass die Überlebensfähigkeit einer Zelle maßgeblich vom sie umgebenden Milieu abhängt. Carrel erhielt 1912 den Nobelpreis für Medizin.

Carrels Forschungsergebnisse zeigen, dass der Austausch mit dem Umfeld schon auf zellulärer Ebene eine überlebenswichtige Funktion einnimmt. Die Zelle öffnet ihre Membran, um Nährendes aufzunehmen, und schließt sie, um Bedrohliches abzuwehren. Die Abfallprodukte ihres Stoffwechsels benutzt sie zur Kommunikation. Bereits Einzeller tauschen sich mit dem Kollektiv, dem sie angehören, auf chemischer Ebene aus, indem sie Moleküle senden und empfangen [2]. Auch hierzu müssen sie sich öffnen und schließen und prägen durch diese beiden Bewegungsarten auf zellulärer Ebene einen elementaren Mechanismus, der die Basis jeglicher Kommunikation mit der Umwelt darstellt und tiefer verwurzelt ist als alle Paarungs- oder evolutionshistorischen Einflüsse. Was für die einzelne Zelle gilt, gilt auch für den gesamten inneren Zellverbund des Biosystems „Mensch“ und schließlich für dessen Austausch mit der Gesellschaft [3]. Auch heute noch öffnen wir uns gegenüber Inhalten, die uns gefallen, und schließen uns, um uns vor Unangenehmen und Übererregung zu schützen. Beispiel

Um uns zu schließen, kontrahieren wir unsere Muskeln. Diese Kontraktion unterdrückt die Reizübertragung. Die informationshemmende Wirkung der Kontraktion können Sie direkt selbst erfahren: Streichen Sie bitte zunächst mit locker entspannter rechter Hand über den Stoff Ihres linken Ärmels und nehmen Sie dessen Eigenschaften bewusst wahr. Wiederholen Sie die Übung, aber nun mit stark angespannter, leicht verkrampfter Hand und fühlen Sie erneut die Eigenschaften des Ärmels. Entspannen Sie die Hand wieder und wiederholen Sie die Übung ein letztes Mal. Sie werden bemerken, dass die entspannte Hand deutlich feiner die Textur und Beschaffenheit der Oberfläche wahrnehmen kann. Unsere allgemeine Fähigkeit zur differenzierten Wahrnehmung wird durch den Grad unserer An- oder Entspannung beeinflusst. Verschließt sich der Bewerber, kann das beispielsweise bedeuten, dass er sich bedroht fühlt oder sein System vor Überlastung durch zu viele Informationen schützen möchte. Ist es an ihm zu antworten, kann das Schließen zeigen, dass er seinerseits den Informationsfluss nach außen verhindern möchte, um Inhalte, die ihm schaden könnten, zurückzuhalten. Dieses Verhalten kann sich beispielsweise durch ein unwillkürliches Schließen und Aufeinanderpressen der Lippen zeigen.

3.1  Biologische Ursachen

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Ein offenes System signalisiert vorhandene, ein geschlossenes System dagegen nicht vorhandene Sendeerlaubnis. Sollen begehrte Bewerber gewonnen werden, sollte ein Angebot oder eine Botschaft erst dann platziert werden, wenn der Bewerber sich dafür offen zeigt. Studien belegen die informationshemmende Wirkung verschlossener Körperhaltungen. Probanden, die in einer verschlossenen Haltung einem Vortrag folgten, merkten sich 38 % weniger der Inhalte und entwickelten eine negativere Meinung in Bezug auf den Redner [4]. Weitere Studien zeigten, dass Menschen mit verschränkten Armen nicht nur selbst die Welt negativer erleben, sondern auch negativer und feindseliger von anderen wahrgenommen werden. Spitzenverkäufer öffnen ihre Kunden zunächst körpersprachlich, bevor sie ihre Angebote unterbreiten, was so weit gehen kann, dem Gegenüber tatsächlich etwas in die Hand zu geben, um eine Änderung seiner Haltung zu bewirken. Das kann im Recruiting beispielsweise mithilfe von Getränken, Prospekten, Projektunterlagen, Stellenbeschreibungen oder Organigrammen umgesetzt werden. Der Gesprächspartner hat sich erst dann ganz aus dem Gespräch entfernt, wenn er sich auf allen, der in Kap. 2 beschriebenen, drei Ebenen (Kopf, Rumpf und Unterleib) geschlossen hat. Grobe Schließvorgänge wie das Schließen der Augen, Zusammenpressen des Mundes oder das Verschränken der Arme lassen sich gut erkennen, die Wahrnehmung feinerer Signale liefert zusätzliche Informationen über die Befindlichkeit des Gesprächspartners. Neben dem Anspannen der Nackenmuskulatur stellen das angedeutete Einziehen des Kopfes und das leichte Hochziehen der Schultern kontrahierende Schutzbewegungen dar, die sich beispielsweise bei schlechtem Gewissen zeigen können. Wenn es auch nur einen Aspekt gibt, auf den man körpersprachlich achten will, um die Qualität seiner Gesprächsführung zu verbessern, dann sollte das der elementare Mechanismus von Öffnen und Schließen sein. Dabei stellen Mund, Augen, Arme und Hände die deutlichsten Signalgeber dar. Angenehme Gefühle führen zu Entspannung und dazu, dass Systeme offen und aufnahmebereit bleiben. Unangenehme Gefühle bewirken Verspannung, Schließen und Rückzug aus dem Gespräch. Plötzliche schließende Bewegungen des Bewerbers weisen auf mögliche Übertritte des Recruiters hin oder auf potenzielle Inhalte des Gesprächs, die der Bewerber aussparen will. Das ist in der Regel nicht im Interesse des Betriebes, und auch bei Verhören im kriminalistischen Bereich gilt, dass verschlossene Verdächtige keine Informationen liefern. Auch dort wird versucht, ein Gesprächsklima zu schaffen, in dem sich der Gesprächspartner öffnet und schließlich jene Informationen preisgibt, die er eigentlich für sich behalten wollte. Eine angenehme Atmosphäre ermöglicht dem Bewerber, seine schützende Maske abzulegen und sich so zu zeigen, wie er wirklich ist. Auf dieser Basis können Unsicherheiten und Vorbehalte eingebracht und eine wesentlich bessere Entscheidung getroffen werden, als wenn, hinter der Fassade des Sonntagsgesichts, die wahren Interessen versteckt werden und später für eine oder beide Seiten das böse Erwachen folgt. Hin und weg Neben dem Reagieren auf das Milieu durch öffnen und schließen bilden annähernde Bewegungen hin zu interessanten Inhalten und distanzschaffende Bewegungen, weg von

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3  Ursachen: Wie entsteht nonverbale Kommunikation?

schädlichen Inhalten, die zweite Reaktion auf unsere Umwelt, die uns schon auf zellulärer Ebene prägt. Das Gewollte oder Ungewollte kann auch die Beteiligung am Gespräch sein. Wie öffnende und schließende Signale zeigen sich auch „hin und weg“-Signale noch heute auf allen Ebenen unserer nonverbalen Kommunikation: die Hand, die sich unwillkürlich bewegt, um sich dem anzunähern, was ergriffen, oder – bei abstrakten Inhalten – begriffen werden soll. Der Fuß, der sich in Richtung Ausgang orientiert und sich darauf vorbereitet, den Körper aus einer unangenehmen Situation wegzubringen, der vorgebeugte Rumpf und der vorgeschobene Kopf, die die Sinnesorgane näher zu einer Informationsquelle führen. Dagegen zeigt sich die mangelnde Motivation, aktiv zu werden, durch Verschlusssignale, Ablenkungsmanöver sowie Verengungs- und Rückzugsbewegungen: Der Blickkontakt wird vermieden, der Kopf gesenkt, die Hände in den Schoß gelegt, der Körper kleiner gemacht oder zurückgelehnt. 

„Hin und weg“ im Verkauf oder die Kunst des „über den Tisch Ziehens“ Ein Geschäftsführer aus der Versicherungsbranche, der sich von der Basis hochgearbeitet hatte, bis er schließlich die Verantwortung für über 1000 Mitarbeiter trug, beschrieb mir, wie er an der Körpersprache seiner Kunden deren Abschlussbereitschaft erkannt hatte. Zu Beginn saßen seine Kunden in der Regel neutral oder verschlossen da. Er gab ihnen Raum, ließ sie erzählen, erkundete ihren Bedarf und schuf ein angenehmes Gesprächsklima, in dem sie sich schließlich öffneten. Er beobachtete, bei welchen Themen sie offen und interessiert blieben und bei welchen sie die Nase rümpften, die Stirn runzelten oder kurz die Augenbrauen senkten. Dann vermittelte er ihnen ihren individuellen Nutzen anhand der Inhalte, auf die sie positiv reagiert hatten. Nach und nach gewannen seine Kunden Vertrauen und begannen sich zu öffnen und anzunähern. Schließlich beugten sie sich nach vorne, um das Angebot genauer zu sehen. Souverän behandelte er letzte Vorbehalte und verhinderte, dass sich die Kunden wieder zurückzogen. Diese waren schließlich weit vorgebeugt und bereit zu unterschreiben: Im Laufe des Gesprächs hatte er sie, und das ist ganz wertfrei gemeint, im wahrsten Sinne des Wortes über den Tisch gezogen.

Starke Bewerber sind ähnlich frei in der Wahl, ihre Unterschrift zu setzen, wie die beschriebenen Versicherungskunden. Wollen Recruiter sie für ihren Betrieb gewinnen, müssen sie sich gegen die Konkurrenz durchsetzen und können diesbezüglich von den klassischen Verkaufsprofis sicher noch etwas lernen: Wenn der Recruiter sieht, dass der Bewerber noch unentschlossen oder zurückhaltend ist, sollte er ihm zu einem Gefühl des Wohlbefindens und der Sicherheit verhelfen. Ist sein Interesse geweckt, wird sich der Bewerber zu öffnen beginnen. Nun kann sich der Recruiter auf ihn einschwingen und die gegenseitige Verbindung verstärken. Öffnet sich der Bewerber weiter und beginnt sich anzunähern, kann der Recruiter ihm zunächst den nötigen Raum lassen, um sich weiter vorzubeugen. Ist schließlich die notwendige Vertraulichkeit erreicht, „um die Köpfe

3.1  Biologische Ursachen

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zusammenzustecken“, kann er sich gemeinsam mit dem Bewerber vorbeugen, um über die Tätigkeit oder ein Projekt zu beraten und dessen Zusage zu gewinnen. Für den Recruiter gilt es, ein Gefühl und das Bewusstsein für den Raum und die Verbindung zwischen sich und dem Bewerber zu entwickeln, diesem Gefühl zu vertrauen und seine Handlungen und Argumentationen daran auszurichten. Ein Gesprächspartner, der geschlossen und zurückgezogen ist, vielleicht auch nur deshalb, weil er sich gerade mit sich selbst bzw. einem Gedanken beschäftigt, kann sich leichter wieder öffnen, wenn ihm Zeit und Raum gegeben werden. Druck erzeugt Gegendruck und führt zu Konfrontation oder Rückzug. In einer entspannten Situation gewinnt der Bewerber dagegen Sicherheit und Vertrauen, sodass er im Interview plötzlich Dinge erzählt, die unter Druck nie ans Tageslicht gekommen wären. Männliche und weibliche Körpersprache Die elementaren Bewegungsarten, „öffnen und schließen“ und „hin und weg“, bilden die biologische Grundlage der nonverbalen Kommunikation, und damit die Basis, auf der komplexere nonverbale Kommunikation aufbaut. Daneben hängt unser nonverbaler Ausdruck bis zu 25 % von unserem Geschlecht ab [5]. Als wichtigste biologische Funktion vermitteln wir über unsere Körpersprache unsere Geschlechtszugehörigkeit. Während bei kleinen Kindern die optische Ähnlichkeit mitunter noch so groß ist, dass es verschiedenfarbige Kleidung braucht, um sie voneinander zu unterscheiden, zeigen sie in ihrem Blickverhalten bereits geschlechterspezifische Muster, die dem späteren Rollenverhalten und klassischen Geschlechterklischees entsprechen. Ab dem Alter von ca. vier Jahren erfolgt nach und nach die Übernahme gesellschaftlicher Rollenbilder und weiterer nonverbaler Verhaltensweisen. Amy Cuddy beschreibt Studien, die einen gravierenden Sprung der geschlechterspezifischen Kommunikation im Alter von vier bis sechs Jahren belegen [6]. Eine weitere biologisch bedingte Anpassung erfolgt durch die hormonelle Umstellung und den damit verbundenen Umbau des Gehirns im Laufe der Pubertät. Vor der Pubertät lächeln Mädchen und Jungen noch gleich häufig. Durch die Ausbildung der rostralen cingulären Zone, die für die Fähigkeit zuständig ist, aus Fehlern zu lernen [7], während der Pubertät wird bei männlichen Teenagern die Mimik sparsamer und das Lächeln geht zurück [8]. Diese und andere Veränderungen tragen dazu bei, dass wir im Erwachsenenleben das Geschlecht unserer Mitmenschen maßgeblich anhand ihrer Körpersprache erkennen. Die geschlechtlichen Unterschiede beeinflussen auch die Kommunikation im Recruiting. So fällt es Männern leichter, ihr Rollenverhalten des biologischen Werbungsverfahrens auf das Bewerbungsverfahren zu übertragen. In Ersterem präsentiert sich das Männchen von seiner besten Seite und bemüht sich, vom evaluierenden Weibchen, dem in der Regel mehrere Angebote vorliegen, ausgewählt zu werden. Dieses klassische biologische Rollenverhalten beeinflusst das Recruiting in zweierlei Hinsicht: als Erstes in Bezug auf die Abgrenzung männlichen und weiblichen Bewerberverhaltens im Gespräch. Im Werbungs- und im bisherigen Bewerbungsverfahren kommt sowohl dem Mann als auch dem Bewerber die Anbieterrolle zu, in der er sich offensiv präsentiert und seine

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3  Ursachen: Wie entsteht nonverbale Kommunikation?

Motivation zeigt. Da für Männer Klappern zum biologischen Geschäft gehört, fällt es ihnen meist auch im Bewerbungsverfahren leichter, sich intuitiv und ungehemmt von ihrer besten Seite zu zeigen und gegebenenfalls sogar noch etwas dicker aufzutragen. Im Gegensatz dazu haben Frauen für diese Rolle normalerweise keine biologische Prädisposition und es fällt ihnen schwerer, die an die Bewerberrolle implizit gestellten Erwartungen so intuitiv zu erfüllen wie ihre männlichen Mitbewerber. Dies kann sich beispielsweise darin äußern, dass weibliche Bewerber sich zögerlicher oder doppeldeutiger zu Inhalten positionieren, sich weniger konfrontativ äußern, dazu neigen, frühere Erfolge zu relativieren oder deren Ansprache dem Recruiter zu überlassen. Recruiter sollten sich in solchen Fällen mögliche biologische Einflüsse bewusst machen und nicht voreilig auf mangelnde Motivation oder mangelndes Selbstbewusstsein schließen. Ein weiterer Aspekt betrifft das Verhalten des Recruiters. Wo dieser in der Vergangenheit in der evaluierenden Rolle war, die eher dem biologischen weiblichen Verhalten im Auswahlprozess entspricht, muss er nun vor dem Hintergrund sich wandelnder Märkte und sinkender Bewerberzahlen in die werbende Rolle wechseln und sich aktiv um die Gunst des Bewerbers bemühen. Verschiedene Aspekte dieses Werbens werden später vertieft, doch ein Aspekt betrifft konkret das Geschlecht des Bewerbers. Im Bemühen, begehrte Bewerber zur Zusage zu motivieren, wird der Betrieb versuchen, deren Interesse durch in Aussicht gestellte Belohnungen zu erhöhen. Neben den verschiedenen Motiven, von denen sich Menschen leiten lassen, hat sich gezeigt, dass Frauen vermehrt auf Belohnungen reagieren, die mit gemeinschaftlichen und kooperativen Werten einhergehen, während Männer stärker von Belohnungen angezogen werden, die mit Dominanz und äußerlichem Statuszuwachs verbunden sind. Letztere werden in Kap. 5 beschrieben. Infolgedessen reagieren Frauen stärker auf Motivatoren wie Work-Life Balance, erfahrene Wertschätzung und die Möglichkeit intuitiver und empathischer Arbeit. Männer lassen sich stärker durch Ziele, klare Fristen, Einblicke in Interna und Arbeit, bei der sie selbst die Initiative ergreifen können, motivieren [9].

3.2 Evolutionsgeschichtliches Erbe Als der Lebensraum in den Urwäldern Afrikas knapp wurde, entschloss sich jene Gattung unserer Vorfahren, die Desmond Morris als den späteren „nackten Affen“ beschrieb, den Lebensraum zu wechseln und die schützenden und nährenden Wälder zu verlassen, um ihr Glück in der Savanne zu suchen [10]. Dort zu überleben war zunächst nicht einfach – über Jahrtausende hatten Raubkatzen und Hunderudel diesen Lebensraum erobert und sich dabei zu „Jagdmaschinen“ entwickelt, denen der Affe außerhalb der Wälder, auf die er spezialisiert war, hoffnungslos unterlegen war. Die Raubtiere waren schneller, ihre Krallen und Zähne schärfer, die Instinkte ausgeprägter: Ergab sich ein direkter Kampf, standen die Überlebenschancen für unsere Vorfahren schlecht. Durch das hüfthohe Gras der Savanne war das Sichtfeld der sich noch auf allen vieren fortbewegenden Affen zunächst noch eingeschränkt. Not macht erfinderisch und so richtete sich der Affe auf. Dabei erlangte er den entscheidenden Vorteil. Sein Sichtfeld erweiterte sich und er gewann Zeit. Für das Gehirn ergab sich die neue Aufgabe, die voraussichtlichen Geschehnisse für ein größeres Zeitfenster geistig vorwegzunehmen. Der erste Schritt vom im Augenblick lebenden Tier hin zum die Zukunft antizipierenden Menschen war gemacht.

3.2  Evolutionsgeschichtliches Erbe

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Der Zeitvorteil, der durch die aufrechte Haltung gewonnen wurde, konnte genutzt werden, um kooperative Strategien zu entwickeln und die Überlebenschancen zu erhöhen. Die Fähigkeit zur organisierten Kooperation wurde schließlich zur zentralen Fähigkeit des Menschen, die letztendlich seine Herrschaft über den Planeten begründete [11]. Kooperation setzt Kommunikation voraus, welche durch das Aufrichten unterstützt wurde, da gleichzeitig die Hände frei wurden und zur Verständigung verwendet werden konnten. Eine aufrechte Haltung wird durch die sogenannte phasische Muskulatur erreicht und stellt damit das archaische Kennzeichen eines evolutionären Gewinners dar. Auch heute noch sprechen wir von einer gestandenen Persönlichkeit und erwarten Stehvermögen und Aufrichtigkeit. Entsprechend positiv reagieren wir auf eine solche Haltung, die sich übrigens nicht durch klassische Fitnessübungen, sondern durch Sportarten wie Tennis und Tanzen trainieren lässt [12]. Dabei werden Recruiter nicht nur durch die Haltung des Bewerbers beeinflusst, sondern repräsentieren auch mit der eigenen Haltung ihren Betrieb. Trainieren sie ihre phasische Muskulatur, ist das nicht nur gut für die eigene Gesundheit, sondern vermittelt auch auf einer tieferen Ebene evolutionäre Gewinnermerkmale. Der Einfluss und die Implikationen einer aufrechten Haltung werden in den Kap. 4 und 6 vertieft. Um zu überleben, hat sich über die Jahrtausende eine gewisse Vorsicht bewährt. Wir stammen von jenen Vorfahren ab, die nicht leichtfertig vertrauten, nicht voreilig kooperierten, zweideutige Situationen defensiver interpretierten und Gefahren rechtzeitig erkannten. Evolutionshistorisch bedingt fallen uns von daher auch heute noch negative Punkte und potenzielle Gefahren wesentlich stärker auf und prägen unsere Einstellung nachhaltiger als positive Inhalte. Aber das ist für die Bewerberauswahl kontrainduktiv, denn die von Sprenger so bezeichneten Erfolgssucher sind für den Betrieb in der Regel wertvoller als Misserfolgsvermeider [13]. Während Letztere durch extrinsische Faktoren motiviert werden müssen, sind Erstere intrinsisch motiviert und handeln aus Freude an der Arbeit und guten Ergebnissen [14]. Dabei sind sie jedoch mitunter weniger angepasst und haben Ecken und Kanten. Die Veranlagung zur stärkeren Gewichtung negativer Punkte birgt für den Recruiter die Gefahr, diese Ecken und Kanten, evolutionshistorisch bedingt, überzugewichten und Bewerber abzulehnen, die eigentlich für den Betrieb zu Potenzialträgern werden könnten. Die Menschen lebten über Jahrtausende in Horden von bis zu 150 Mitgliedern, und auch heute noch halten wir nur zu circa 100 bis 150 Menschen engere Verbindungen dauerhaft aufrecht. Der Ausschluss aus der Gemeinschaft bedeutete in der Regel den sicheren Tod. Der Platz in der Hierarchie dieser kleinen Gemeinschaften, in welchen jeder jeden kannte und starke gegenseitige Abhängigkeitsverhältnisse herrschten, war ungleich bedeutsamer als heute. Entsprechend stark wirken archaische Programme in Bezug auf Dominanz und Unterwerfung in uns und beeinflussen unsere Kommunikation. Die soziale Reputation hatte einen fundamentalen Stellenwert: Ein oberer Platz in der Hierarchie verbesserte die Möglichkeiten unserer männlichen Vorfahren, Nachkommen zu zeugen. Damit stammen wir letztlich von jenen dominanten Männchen ab, die sich durchsetzen konnten, und so wirken auch heute noch Signale, die unseren Rang in der Gemeinschaft bedrohen, auf tief liegende Teile unserer Persönlichkeit und beeinflussen

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3  Ursachen: Wie entsteht nonverbale Kommunikation?

unsere Kommunikation. Neben der biologischen Prägung werden männliche Bewerber von daher durch ihr evolutionsgeschichtliches Erbe stärker durch ihr Status- und Dominanzverhalten beeinflusst als weibliche Bewerber. Die damit verbundenen Signale und Implikationen werden in Kap. 5 zu Status und Territorialverhalten beschrieben. Von den später beschriebenen universellen Emotionen ist Verachtung besonders statusrelevant, sie impliziert eine hierarchische Entwertung der verachteten Person. Die damit verbundene vertikale Distanzierung bildet eine der psychologischen Grundlagen, um in Krisenzeiten unmoralisches Verhalten gegenüber der verachteten Person zu legitimieren und diese aus der Gruppe auszuschließen. Begegnet uns ein durch Verachtung geprägtes Gesicht, wittern wir auf einer archaischen Ebene unseres Wesens Gefahr. Wir bleiben vorsichtig und entwickeln nur zögerlich Vertrauen. Das Risiko, dass die Person sich auch über uns verächtlich äußern und uns damit schaden oder gar aus der Gemeinschaft befördern könnte, ist erhöht gegeben und aktiviert eine evolutionshistorisch tief verankerte Angst. Wurden jene Gesichtsmuskeln, die mit Verachtung einhergehen, übermäßig oft aktiviert, prägen diese schließlich unser Gesicht und erschweren die künftige Vertrauensbildung. Die Person wirkt arrogant und überheblich. Im Bestreben, Bewerber für den eigenen Betrieb zu gewinnen, die in Krisenzeiten nicht zum Unruhestifter werden oder beginnen, andere auszugrenzen, sollte auf deren Veranlagung zu verächtlichem Verhalten geachtet werden. Um potenzielle Kandidaten nicht abzustoßen, sollte auch der Recruiter im Gespräch darauf achten, keine verächtlichen mimischen Ausdrücke zu zeigen. Die Kopfvermessungsversuche, mit denen frühere Wissenschaftler von der Außenform des Kopfes auf den Charakter des Menschen schließen wollten, wurden regelmäßig angegriffen, und auch wenn sich einige Anhänger gehalten haben, konnten die Theorien der Kinesiologie wissenschaftlichen Prüfungen in vielen Punkten nicht standhalten. Jedoch wird ein seriöser Aspekt nonverbaler Kommunikation oft unsauber mit der Kinesiologie vermischt und dadurch ungerechtfertigterweise vernachlässigt. Wenn wir Muskeln trainieren, wachsen diese und das gilt natürlich auch für die Muskeln unseres Gesichts. Muskeln, die wir regelmäßig benutzen, prägen also unser Gesicht stärker, zudem lassen sie sich leichter aktivieren und müheloser bewegen. Durch die Wirkung des fazialen Feedbacks empfinden wir die damit verbundenen Gefühle häufiger und intensiver. Dementsprechend werden unsere Wahrnehmung, Denken, Fühlen und letztlich unsere Einstellung und gesamte Kommunikation stärker von diesen Gefühlen beeinflusst. Unsere Kommunikation und Handeln prägen schließlich unseren Charakter. Zeigt sich eine ausgeprägte fröhliche oder grimmige Gesichtsmuskulatur, kann von daher durchaus auf die damit verbundenen Persönlichkeitsmerkmale geschlossen werden.

3.3 Embodiments: Wechselwirkung zwischen äußerer Haltung und innerem Empfinden Wie mehrere Studien belegen, beeinflusst auch unsere Körperhaltung selbst unsere Gefühle und damit die spätere Kommunikation und prägt das Prinzip der Wechselseitigkeit, das ein tieferes Verständnis für die Ursachen der nonverbalen Kommunikation eröffnet. Maja Storch [15] und Amy Cuddy [16] beschreiben Dutzende Studien, die die

3.3  Embodiments: Wechselwirkung zwischen äußerer Haltung …

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Wechselwirkung zwischen Körper, Gehirn und Gefühl belegen, sei es in Bezug auf unsere Haltung, Bewegungen, Gesichtsausdrücke oder psychologische Einstellungen. Head-Movement Paradigm Gary Wells und Richard Petty entwickelten 1980 ein Experiment, um die Auswirkungen unserer Bewegungen auf unsere Einstellungsbildung zu untersuchen. Der Versuchsaufbau war dabei wie folgt: Unter dem Vorwand, mögliche Wackelkontakte von Kopfhörern zu untersuchen, mussten drei Gruppen von Studenten ihren Kopf entweder gerade halten, ihn schütteln oder nicken. Während des sechsminütigen Versuchs hörten sie dabei zunächst Musik, dann einen Beitrag über eine mögliche Erhöhung der Studiengebühren von 587 US$ auf 750 US$ und schließlich wieder Musik. Im Anschluss wurden die drei Gruppen befragt, welche Summe sie für eine angemessene Studiengebühr hielten (normalerweise halten Studenten nicht viel von einer Erhöhung der Studiengebühren). Jene Studenten, die den Kopf ruhig gehalten hatten und damit die Vergleichsgruppe bildeten, äußerten eine neutrale Einstellung und hielten im Mittel eine Gebühr von 582,36 US$ für angemessen, forderten also eine bescheidene Senkung im Bereich von 1 %. Dagegen lehnte jene Gruppe, die während des Beitrags den Kopf geschüttelt hatte, eine Erhöhung entschieden ab und forderte eine deutliche Senkung, nämlich um 20 % auf 467,77 US$! Dieses Ergebnis war bereits vielversprechend und wurde nur noch durch die Ergebnisse der letzten Gruppe übertroffen. Deren Ergebnisse überraschten gerade vor dem Hintergrund, dass es sich um Studenten handelte, und belegten, dass sich äußeres Handeln auf unsere Einstellung auswirkt. Die Studenten, die während des Beitrags genickt hatten, plädierten für eine Erhöhung um 10 % und schlugen im Mittel 646,21 US$ als angemessene Studiengebühr vor [17].

Andere Studien belegen den gleichen Effekt für Gesichtsausdrücke. Teilnehmer, die einen Stift so im Mund hielten, dass dabei die Lachmuskeln um den Mund aktiviert wurden, beurteilten einen gleichzeitig angesehenen Comicfilm als wesentlich witziger als jene Teilnehmer, die den Stift mit den Lippenspitzen hielten und dadurch einen kritischen Gesichtsausdruck einnahmen [18]. Power-Posen Amy Cuddy wies in ihren 2015 beschriebenen Studien nach, dass eingenommene Hochstatus-Haltungen bereits nach zwei Minuten signifikante Änderungen unseres Hormonniveaus im Gehirn und Körper bewirken. Teilnehmer, die zwei Minuten lang wie ein Olympiasieger die Arme zum V ausstreckten und breitbeinig dastanden oder die in einer „Powerwoman“-Pose ihre Arme dominant in die Seiten stemmten, erhöhten dadurch den Hormonspiegel des Dominanzhormons Testosteron um 19 %, während sich gleichzeitig der Spiegel des Stresshormons Cortisol um 25 % senkte. Umgekehrt verhielt es sich, wenn die Teilnehmer demütige Ohnmachtsposen einnahmen: Diese erhöhten den Cortisolspiegel um 17 % und senkten den Testosteronspiegel um 10 % [19]. Je nach Körperhaltung ergab sich also ein akkumulierter Effekt von durchschnittlich bis zu 42 % auf das Cortisolniveau und 29 % auf das Testosteronniveau. Vor dem Hintergrund des Bewerbungsgesprächs, das für den Bewerber ohnehin schon einen stressenden Rahmen darstellt, sind die zusätzlichen Einflüsse, die sich durch verschiedene Körperhaltungen auf sein Stressniveau ergeben können, hoch signifikant. Bewerber, die vor dem Gespräch

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3  Ursachen: Wie entsteht nonverbale Kommunikation?

Power-Posen eingenommen hatten, zeigten mehr Leidenschaft, Enthusiasmus sowie einen fesselnderen Auftritt. Neben höherer Entspanntheit bescheinigten ihnen die Interviewer höhere Authentizität und Vertrauenswürdigkeit [20]. Viele Bewerber boykottieren sich selbst, wenn sie unterwürfige Körperhaltungen einnehmen, während sie ihre Smartphones vor dem Bewerbungsgespräch bedienen. Die dabei eingenommene Körperhaltung wirkt sich direkt negativ auf ihr Selbstvertrauen aus [21]. Es kann also den Auftritt des Bewerbers und damit den Recruiting-Erfolg beeinflussen, ob die Recruiter einen Bewerber pünktlich zum Gespräch holen oder ihn w ­ arten lassen. Während Ersterer punktgenau loslegen kann, wartet der Zweite, was neben steigender Nervosität beispielsweise dazu führen kann, dass er sein Smartphone oder andere Unterlagen herausholt, beim Betrachten eine demütige Haltung einnimmt und sich anschließend mit weniger Selbstvertrauen präsentiert. Ein anderer bleibt vielleicht stehen, sieht sich eine Betriebspräsentation im unter der Decke hängenden Fernseher an und richtet sich dabei auf. Wie beschrieben zeigen sich bereits nach zwei Minuten signifikante Unterschiede bei zentralen Stress- und Dominanzhormonen, die die Kommunikation im folgenden Gesprächsverlauf beeinflussen. Darüber hinaus prägen sie den ersten Eindruck, den wir auf andere machen und damit deren Einstellung, die sie uns gegenüber in dieser frühen und kritischen Phase des Gesprächs entwickeln. Wenn das Ziel des Gesprächs darin besteht, Bewerber möglichst objektiv zu vergleichen, sollte versucht werden, hinderlichen Einflüssen bestmöglich entgegenzuwirken. Wird beispielsweise über die Überwachungskamera ein Blick auf den wartenden Bewerber geworfen, kann zumindest dessen Prädisposition bewusst berücksichtigt werden. Andere Studien belegen, dass je nach eingenommener Körperhaltung die Wahrnehmung positiver oder negativer Inhalte begünstigt wurde [22]. Die Implikationen dieser und ähnlicher Studien sind tief greifend und eröffnen die Möglichkeit, sowohl bewusst auf die Kriterien einer objektiven Auswahl zu achten als auch sich selbst bestmöglich gegenüber dem Bewerber zu präsentieren.

3.4 Neurobiologische Einflüsse Unsere nonverbale Kommunikation wird durch das Zusammenspiel verschiedener Teile unseres Gehirns gesteuert. Das in Kap. 2 beschriebene Prinzip der Ganzheitlichkeit gründet darin, dass das Gehirn nicht zwischen Fiktion und Wirklichkeit unterscheidet. Dadurch reagiert der Körper direkt auf unsere Gedanken und Gefühle. Anhand eines kurzen Gedankenexperiments lässt sich das selbst erleben. Beispiel

Stellen Sie sich bitte eine schöne, gelbe, fruchtige, leicht säuerliche Zitrone vor. Vielleicht hängen sogar noch der Rest eines Zweiges und ein grünes Blatt daran. Führen Sie die Zitrone nun vor Ihrem geistigen Auge zur Nase und stellen Sie sich den frischen, leicht säuerlichen Zitronenduft vor. Vielleicht können Sie ihn intensiver

3.4  Neurobiologische Einflüsse

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wahrnehmen, wenn Sie mit den Fingernägeln leicht die Schale ankratzen und dann daran riechen. Schneiden Sie bitte die Schale mit einem Messer ein und lösen Sie sie mit den Fingern vorsichtig ab. Nun liegt die geschälte, grüngelbliche Zitrone in Ihrer Hand. Teilen Sie diese mit den Fingern in zwei Hälften und achten Sie darauf, die dünnen Häutchen der Schnitze nicht zu beschädigen. Trennen Sie nun einen Schnitz ab und führen Sie ihn zum Mund. Beißen Sie hinein, beginnen Sie zu kauen und stellen Sie sich vor, wie der säuerliche Saft sich in Ihrem Mund verteilt und Sie sich darauf vorbereiten, das Zitronenstück zu schlucken. Auch wenn weit und breit keine Zitrone zu sehen ist, wird, wer die Übung durchgeführt hat, an dieser Stelle registrieren, wie sich der Mund tatsächlich vorbereitet und die Speichelproduktion angestoßen hat. Ob die neuronalen Repräsentationen hierfür unserer Vorstellung im Cortex entspringen oder in der Realität über unsere Nerven im Mund an unser Gehirn gesendet werden, kann unser ganzheitlich orientiertes Stammhirn nicht unterscheiden. Ebenso verhält es sich mit emotionalen Reaktionen. Vielleicht waren Sie schon einmal aufgrund eines Missverständnisses auf jemanden wütend, bevor sich das Missverständnis auflöste und sich zeigte, dass gar kein wirklicher Grund für die Wut bestanden hatte. Die eigenen Gedanken und die Bewertung des unterstellten fremden Verhaltens hatten jedoch dennoch zu der emotionalen Reaktion und den körperlichen Begleiterscheinungen geführt, da der Körper in Echtzeit auf die Gedanken und Gefühle, die vom Gehirn gesendet werden, reagiert. Wie später vertieft wird, spielt dieser Mechanismus auch bei der Entstehung von Stress eine tragende Rolle. Aufbau des Gehirns Vom Gehirn zu sprechen und sich dabei lediglich ein Organ in unserem Kopf vorzustellen, ist eigentlich nicht ganz korrekt. Obwohl alle Teile ständig miteinander interagieren und einander gegenseitig beeinflussen, lässt es sich in drei funktionale Zentren aufteilen, die uns auf ihre charakteristische Art und Weise beeinflussen: 1. Der Hirnstamm mit seinen existenziellen, das Überleben sichernden Funktionen, dessen Elemente auch schon bei Reptilien vorhanden sind. 2. Das limbische System als Sitz der Emotionen, welches wir mit anderen Säugetieren gemein haben und das Bauer als unser „Zentrum für emotionale Kompetenz“ bezeichnet [23]. 3. Der Cortex, dessen Fähigkeiten uns die Sprache und komplexeres Denken ermöglichen. Dabei geschehen die Handlungen der ersten beiden Teile unbewusst und beschreiben den Großteil unserer nonverbalen Kommunikation. Die Handlungen des Cortex geschehen bewusst, mit ihm pflegen wir unsere verbale Kommunikation. Neben dieser klassischen Aufteilung finden sich jedoch auch im Herzen und im Darm Gehirnzellen, auf die schon der Volksmund hinweist, wenn er empfiehlt, auf das Herz oder den Bauch zu hören.

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3  Ursachen: Wie entsteht nonverbale Kommunikation?

Wie diese Gehirnzellen die Körpersprache direkt beeinflussen, ist bislang wenig untersucht. Dafür lässt sich unsere Entscheidungsqualität verbessern, wenn wir deren Intelligenz nutzen. Die Intelligenz des Herzens Die Intelligenz des Herzens wird seit über 30 Jahren untersucht und ist wissenschaftlich belegt [24]. Die Erkenntnisse der intuitiven Intelligenz des Herzens gehen so weit, dass beispielsweise CIA-Agenten mit entsprechenden Methoden trainiert werden [25] und sämtliche 34.000 Mitarbeiter der niederländischen Polizei [26] mit „EMwave2“-Geräten ausgestattet wurden, die ihnen ermöglichen, die Kohärenz zwischen Herz und Gehirn zu trainieren. Das regelmäßige Training erhöht die innere Kohärenz und bewirkt Dutzende positive Effekte, die in über 7500 Studien zur Herzfrequenzvariabilität belegt wurden [27]. Zwei davon sind eine verbesserte Wahrnehmung und der verbesserte Zugang zur intuitiven Intelligenz des Herzens [25, 28]. Neben der stressreduzierenden Aktivierung des Parasympathikus tauchen die Gehirnwellen im vertieften kohärenten Zustand in den Gammabereich ein, was mit extrem schnellen Schwingungen zwischen 38 und 100 Hz und einer erhöhten Wahrnehmung einhergeht und Flow-Erlebnisse mit mühelosen intuitiv optimalen Entscheidungen ermöglicht. Mönche in tiefer Meditation, aber auch Tennisprofis während anspruchsvoller Ballwechsel tauchen in diesen Gammabereich ein. Die Ergebnisse legen nahe, dass auch Recruiter, die regelmäßig ihre Herzratenvariabilität trainieren, dadurch nicht nur ihre Gesundheit, sondern auch ihre Wahrnehmung und intuitive Entscheidungsfindung verbessern können. Der Bauch – unser archaisches Gehirn Vielleicht haben Sie es im Privaten schon erlebt, dass sich in kritischen Situationen und bei einer heiklen Entscheidung Ihr Bauch warnend gemeldet hat und Sie im Nachhinein feststellen mussten, dass es vorteilhafter gewesen wäre, auf ihn zu hören, anstatt eine Entscheidung mit einem „Ziehen im Bauch“ zu treffen. Was hat es mit der Intelligenz des Bauches auf sich? Im menschlichen Darm befinden sich ca. 100 Mio. jener Nervenzellen, die auch im Gehirn vorhanden sind [29]. Das „Bauchhirn“ speichert Erinnerungen, nimmt Informationen auf, verarbeitet diese und kann Muskulatur aktivieren oder hemmen [30]. An dieser Stelle sind drei Dinge interessant: 1. Das Darmsystem selbst ist unabhängig, sucht aber Kontakt zum Gehirn und ist über den Vagusnerv direkt mit der Medulla Oblongata im Hirnstamm verbunden. 2. Der Austausch zwischen Darm und Gehirn ist relativ einseitig. Zu 80 bis 90 % sendet der Darm über die afferenten Nervenfasern Informationen an das Gehirn. 3. Der Magen-Darm-Trakt produziert 95 % des Serotonins, das unsere Stimmung, unser Sozialverhalten und unsere Aggressivität beeinflusst [31]. Im Gehirn wirkt es stimmungssteigernd und vertreibt schlechte Laune oder Depressionen.

3.4  Neurobiologische Einflüsse

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Durch Nahrung, die den Serotoninspiegel im Darm erhöht, konnte in Studien mit Mäusen deren Angst gesenkt werden, dabei wurde eine höhere Aktivität des Vagusnervs gemessen. Auch wenn Serotonin die Blut-Hirn-Schranke nicht direkt durchdringen kann [32], bewirken die Signale des Vagus eine erhöhte Ausschüttung im Gehirn. So kann über den Konsum seiner Bestandteile und Cofaktoren [33] die Serotoninmenge in unserem Gehirn durch die Aktivität aus dem Darm verstärkt werden. Da der Organismus prinzipiell nach Wohlbefinden strebt, wird Verhalten, das eine Steigerung des Serotoninspiegels bewirkt, tendenziell verstärkt. Damit kann der Darm Einfluss auf das Gehirn nehmen und ist in seinem Einfluss und seiner Bedeutung, wie neuere Studien zeigen, dem zentralen Nervensystem keinesfalls nachgestellt, sondern schon allein evolutionsgeschichtlich diesem vorgeschaltet [34]. So erklären sich die in Kap. 1 erwähnten Entscheidungen von Bewährungsrichtern, die durch ihr Bauchhirn beeinflusst wurden. Eine weitere Erklärung, warum wir so gerne unserem Bauchgefühl vertrauen, liegt auch darin, dass es über den Vagusnerv direkt an das Stammhirn angeschlossen ist, das wir seit Jahrmillionen mit allen anderen Wirbeltieren gemeinsam haben. Entsprechend vertraut fühlt sich sein Urteil an und beeinflusst uns auf einer tiefen unbewussten Ebene. Die Qualität der Entscheidungen im Recruiting können jedoch gefährdet werden, denn dafür, über so abstrakte Inhalte wie Bewerbereigenschaften und die mittel- und langfristige Passung zu Unternehmenswerten, Unternehmenszielen und den Inhalten hochkomplexer Stellen zu urteilen, ist das Bauchhirn nicht oder nur bedingt geeignet. Es urteilt maßgeblich aufgrund der aktuellen Empfindung und in Bezug auf archaische Inhalte, beispielsweise ob eine Person uns ähnlich ist und uns im evolutionären Kontext wie Paarung oder Schutz hilfreich oder schädlich sein könnte. Dadurch werden Beurteilungsfehler begünstigt. Archaische Themen beeinflussen zwar durchaus auch die Ergebnisse und Zusammenarbeit im Geschäftsleben, doch sollten sie nicht als alleinige maßgebliche Kriterien zur Entscheidungsfindung dienen und uns auch nicht verleiten, unbewusst und nur aus dem Bauch heraus zu urteilen, wenn wir eigentlich eine ausgewogene und differenzierte Entscheidung treffen sollten. Das schnelle Urteil des Bauches ist vor allem durch seine Mühelosigkeit verlockend, diese Verlockung sollte man sich bei differenzierten Entscheidungen bewusst machen. Das Bauchhirn ist also mitunter sehr subjektiv und auf das eigene Überleben und Wohlbefinden fokussiert. Um im Bewerbungsgespräch eine differenzierte Entscheidung treffen zu können, sollten Recruiter dieser Subjektivität vorbeugen, entsprechend mit mehreren Beteiligten gemeinsam die Interviews führen und die einzelnen Eindrücke danach abgleichen. Und sie sollten das nicht hungrig oder allzu gesättigt tun beziehungsweise wenn dies der Fall ist, dann zumindest unter einheitlichen Grundbedingungen, um für alle Bewerber objektive und vergleichbare Voraussetzungen zu schaffen. Eine vorschnelle positive Bauchentscheidung sollte also nochmals geprüft werden. Als warnende Instanz dagegen kann ein sich stark meldender Bauch eine wichtige zusätzliche Entscheidungsinstanz unseres Körpers darstellen, der gerade bei erfahrenen Recruitern berücksichtigt werden sollte. Wie Studien mit Experten mit mehr als 10.000 h Erfahrung

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3  Ursachen: Wie entsteht nonverbale Kommunikation?

in ihrem Spezialgebiet belegen, können und sollten sich diese für den Fall, dass sich ihr Bauch warnend meldet, durchaus auf dessen Veto verlassen [35]. Neuronale Bausteine der Persönlichkeit Bei gleicher Qualifikation fällt in der Regel die Entscheidung auf jene Bewerber, deren Persönlichkeit am besten zum Betrieb, zur Aufgabe und zum Team passt. Oft werden sogar Bewerber, die durch ihre Persönlichkeit überzeugen konnten, fachlich stärkeren Bewerbern vorgezogen. Es ist leichter, Ersteren fehlende fachliche Inhalte zu vermitteln, als bei Letzteren eine Persönlichkeitsentwicklung anzustoßen. Neurobiologisch gründet unsere Persönlichkeit auf vier verschiedenen Ebenen [36]. Neuronale Bausteine der Persönlichkeit

1. Vegetativ-affektive Ebene 2. Ebene der emotionalen Konditionierung 3. Ebene des individuell-sozialen Ichs 4. Ebene des kognitiv-kommunikativen Ichs

Wie wir sehen werden, bildet sich die Persönlichkeit zu circa 80 % durch die vegetativ-affektive Ebene und die Ebene der emotionalen Konditionierung, welche uns nicht bewusst sind und sich von daher nur nonverbal ausdrücken können. Zu lediglich 20 % gründet die Persönlichkeit auf dem meist vorbewussten individuell-sozialen Ich, das die nonverbalen Signale der ersten beiden Ebenen hemmt und an die Situation, in der wir uns befinden, anpasst. Das bewusste kognitiv-kommunikative Ich, welches überwiegend im linken Neucortex verortet wird und das über die Broca-Wernicke-Areale, den beiden Sprachzentren unseres Gehirns, die verbale Kommunikation steuert, hat dagegen mit der wirklichen Persönlichkeit so gut wie nichts zu tun [37]. Vegetativ-affektive Ebene  Die erste, unterste Ebene unserer Persönlichkeit, die vegetativ-affektive Verhaltensebene, bildet sich maßgeblich aus dem Hypothalamus, der zentralen Amygdala, dem zentralen Höhlengrau und den vegetativen Hirnstammzentren [38]. Sie kontrolliert und hält existenzielle biologische Vorgänge aufrecht, wie Stoffwechsel, Kreislauf, Temperaturregelung, Verdauungs- und Hormonsystem, Nahrungsund Flüssigkeitsaufnahme sowie den Wach- und Schlafrhythmus [39]. Während eine Grundnervosität im Rahmen des Bewerbungsgesprächs bis zu einem gewissen Grad normal ist, stellen stärkere Reaktionen, die im Gespräch plötzlich in Verbindung mit einem spezifischen Thema wahrnehmbare Einschränkungen auf einer der beschriebenen existenziellen Funktionen hervorrufen, deutliche Warnsignale dar. Vor dem Hintergrund einer ausgeglichenen Persönlichkeit sollte ein geschäftliches Thema den Organismus nicht auf einer so tiefen Ebene beeinflussen, dass dessen existenzielle Grundfunktionen erschüttert werden.

3.4  Neurobiologische Einflüsse

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Neben den existenziellen vegetativen Funktionen regelt die unterste Ebene auch unsere spontanen affektiven Verhaltensweisen wie Angriffs- und Verteidigungsverhalten, Dominanz- und Paarungsverhalten, Flucht und Erstarren sowie das Ausbrechen von Aggressivität, Wut und anderen primären Emotionen. Zeigen sich affektive Signale, obwohl diese Reaktion durch die gestellte Frage nicht beabsichtigt wurde, stellt dies ebenso ein Warnsignal dar. Unerwartete, affektive Reaktionen im geschäftlichen Kontext schränken die Professionalität ein und stellen einen erhöhten Unsicherheitsfaktor hinsichtlich einer längerfristigen produktiven Zusammenarbeit dar. Ebene der emotionalen Konditionierung Zusammen mit der vegetativ-affektiven Ebene bildet die Ebene der emotionalen Konditionierung unser „unbewusstes Selbst“ und damit den Großteil unserer Persönlichkeit. Beide Ebenen sind durch prä- und postnatale sowie frühkindliche Bindungserfahrungen und psychosoziale Erlebnisse geprägt und bestimmen gemeinsam, wie wir mit uns selbst und unserer unmittelbaren Umwelt umgehen. Zusammen repräsentieren sie ein Leben lang das egoistisch-egozentrische Kleinkind in uns, dem es zunächst immer darum geht, selbst bestmöglich von einer Situation zu profitieren, und das sich ganz eigennützig fragt: Was habe ich davon [40]? Die Ebene der emotionalen Konditionierung regelt maßgeblich das Motivationsund Belohnungsverhalten und wird neurobiologisch durch die Basolaterale Amygdala, das ventrale tegmentale Areal, den Nucleus accumbens und die Basalganglien, die eine zentrale Funktion bei der Ausführung von bewussten und unbewussten Willenshandlungen innehaben, gebildet. Die Signale dieser Zentren sind unserem Bewusstsein nicht zugänglich und können von daher nicht in Worte gefasst werden [41]. Das nonverbale Verhalten drückt also wahrheitsgetreuer als die geäußerten Worte aus, wie es um die Motivation des Bewerbers in Bezug auf die gleichzeitig besprochenen Inhalte wirklich steht. Wie beim Gedankenexperiment mit der Zitrone erlebt, trennen Gehirn und Körper nicht zwischen Vorstellung und tatsächlichem Erleben. Werden dem Bewerber die zu verrichtenden Tätigkeiten der Stelle, kommende oder aktuelle Herausforderungen und mögliche Unannehmlichkeiten im Interview so beschrieben, dass in seinem Kopf die entsprechenden Bilder entstehen können und sich eine Empfindung bildet, wird sich eine wahrheitsgetreue Reaktion des Körpers zeigen, die die Einstellung des unbewussten Selbst des Bewerbers zeigt. Ein eventueller Rundgang durch den Betrieb, der die Besichtigung des zukünftigen Arbeitsplatzes und gegebenenfalls ein Gespräch mit einem zukünftigen Kollegen umfasst, oder die Beobachtung der nonverbalen Signale bei einem Probearbeiten und dem anschließenden Gespräch ermöglichen zusätzliche tiefere Einsichten in die Motivation des Bewerbers als reine Frage- und Antwortrunden. Ebenso kann, sobald ein vertrauliches und zwangloses Gesprächsklima entwickelt wurde, durch Erzählaufforderungen zu früheren beruflichen Erfahrungen und Beschreibungen früherer Arbeitsplätze die Bewertung des unbewussten Selbst aktiviert werden, welches sich während des Erzählens nonverbal äußert. Hierzu kann beispielsweise gefragt werden, wie das Arbeitsklima beim früheren Arbeitgeber den Bewerber motiviert oder demotiviert

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3  Ursachen: Wie entsteht nonverbale Kommunikation?

hat, wie der beste Vorgesetzte war, den der Bewerber jemals hatte, oder wie er frühere Konflikte mit Kollegen gelöst hat. Nonverbal zeigt sich die durch diese Ebene geregelte Motivation durch annähernde, öffnende, nach oben und vorne gerichtete Bewegungen. Eine leichte Spannung kann den aktionsbereiten Zustand vermitteln. Innerliches Nachvollziehen der Inhalte und Identifikation mit denselben zeigen sich in der Harmonisierung der Bewegungen mit jenen des Recruiters. Eine plötzliche Rhythmusbeschleunigung signalisiert Interesse und die Motivation, direkt loszulegen. Eine Rhythmusverlangsamung sowie distanzierende, schließende oder abwärts gerichtete oder unharmonische Haltungen, Bewegungen, Gesten und Gesichtsausdrücke signalisieren dagegen eine eher kritische Einschätzung und nachlassendes Interesse. Die Ebene der emotionalen Konditionierung ist außerdem mit der erfahrungsabhängigen Verknüpfung negativer oder neuartiger Ereignisse mit Gefühlen wie Furcht, Angst oder Überraschung befasst. So kann die Gefahr bestehen, dass Bewerber durch negative Erfahrungen mit früheren Arbeitgebern oder zurückliegenden Bewerbungsgesprächen in ihrem Verhalten auf dieser Ebene beeinflusst wurden. Umso wichtiger ist es, dass der Recruiter im Gespräch einen geschützten Rahmen schafft und dem Bewerber das Gefühl eines fairen und objektiven Auswahlprozesses vermittelt, bei dem Menschlichkeit kommuniziert wird und die Einstellung, dass auch etwaige frühere Fehler oder Misserfolge nicht das maßgebliche Kriterium darstellen, um einen Bewerber auszusortieren, sondern dass es um die produktiven, verbindenden Inhalte geht, auf deren gemeinsamer Basis die Zusammenarbeit begründet werden soll. Ebene des individuell-sozialen Ichs Die dritte Ebene der Persönlichkeit, jene des individual-sozialen Ichs, ist maßgeblich im rechten, assoziativen Neocortex angesiedelt und umfasst neben dem orbitofrontalen Cortex den ventromdialen (präfrontalen) und den anterioren cingulären Cortex sowie den insulären Cortex. Die Handlungen dieser Ebene dringen in unser Bewusstsein vor, unterliegen bis zu einem gewissen Grad der willentlichen Einflussnahme und wirken hemmend auf das von den unteren Ebenen angestoßene Verhalten ein. Das individual-soziale Ich bildet circa 20 % unserer Persönlichkeit [42]. Auf dieser Ebene zeigen sich Einflüsse von Erziehung und sozialer Konditionierung und sie beinhaltet die oft über geschäftlichen Erfolg oder Misserfolg entscheidende Fähigkeit, über das Top-down-System die aufstrebenden Impulse des Triebsystems zu zügeln. Die für die Selbstkontrolle maßgeblichen Zentren wie der ventromediale Cortex als Teil des präfrontalen Cortex können durch Trainings gestärkt werden. Carl Naughton empfiehlt hierzu unter anderem die sogenannten N-Back-Trainings. Der Effekt von N-Back-Trainings ist belegt, so konnten beispielsweise Teilnehmer, die sechs Wochen lang täglich 20 min trainierten, ihre exekutiven kognitiven Fähigkeiten um 14 % steigern [43]. Verschiedene Apps stehen auf unterschiedlichen Plattformen zur Verfügung. Weitere Möglichkeiten bieten Achtsamkeitsübungen, mit denen der Moment, in dem die eigene Gefühlskaskade anfängt und sich zu verselbständigen beginnt, erfasst und die Kontrolle behalten werden kann [44].

3.4  Neurobiologische Einflüsse

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Ebene des kognitiv-kommunikativen Ichs Das kognitiv-kommunikative Ich umfasst den linken assoziativen Neocortex sowie unser Sprachzentrum, das Broca-WernickeAreal. Auf der vierten Ebene sind zum Beispiel die Fähigkeiten zum Problemlösen und logischen Denken angesiedelt, die den verstandesgeleiteten Umgang mit sich selbst und der Umwelt betreffen. Laut Gerhard Roth ist diese Ebene am weitesten von der Persönlichkeit und der Handlungssteuerung entfernt, „Reden ist etwas anderes als Fühlen und Handeln“ [45]. Die Neurobiologie belegt, dass der Einfluss der Ebene 1 auf die Persönlichkeit bei grob 40–50 % liegt, der Einfluss der Ebene 2 bei ca. 30 % und der Einfluss der Ebene 3 bei ca. 20 % [37]. Alle drei zusammen determinieren die Entwicklung der vierten Ebene, dennoch kann diese mitunter komplett unabhängig von den anderen drei Ebenen eingesetzt werden, um eine Situation zielgerichtet zu bewältigen. Das belegen Untersuchungen mit Psychopathen: Diese interagieren auf der Ebene 4 vollkommen normal, beispielsweise wenn es darum geht, dem Gerichtsmediziner die gewünschten Antworten zu liefern, während sie ihre eigentlichen Absichten kaschieren [46]. Wie Bewegungen entstehen Die Basalganglien als eigener komplexer Regelkreis, dessen Elemente sich gegenseitig hemmen und verstärken, spielen bei der Ausführung bewusster und unbewusster Handlungen die zentrale Rolle im Gehirn. Hier werden sowohl die Triebimpulse des limbischen Systems in jenen komplexen Kreislauf eingebracht, der später das Ausführsignal an die motorischen Areale gibt, als auch durch die Dopaminproduktion der Substantia nigra die abschließende Entscheidung darüber getroffen, welches Verhalten tatsächlich ausgeführt werden soll. Dafür muss sich dieses Verhalten mit der eigenen emotionalen Identität vereinbaren lassen. Von daher wird die Substantia nigra als vergleichsweise kleines Hirnzentrum wiederum von verschiedenen Zentren des limbischen Systems, maßgeblich vom Hippocampus, der Amygdala und dem mesolimbischen (Erwartungs- und Belohnungs-)System beeinflusst, wo die oben beschriebenen Teile unseres unbewussten Selbst sitzen. Der durch die Substantia nigra angestoßene Impuls kann durch den orbitofrontalen und ventromedialen Cortex gehemmt werden, bevor dann der motorische Cortex die Bewegung in Auftrag gibt und der Körper sie ausführt [47]. Dieser Regelkreis kann bei Bewegungen, die nicht hoch automatisiert sind, zu einer Phase des Abwägens führen, welche sich durch zögerliche Körpersprache sowie Veränderungen im Timing und Rhythmus äußert. Je öfter eine Bewegung also ausgeführt wurde, desto reibungsloser wird sie erneut geschaltet. Gerade automatisierte nonverbale Signale eröffnen somit tiefere Einblicke in die eingespielten Gewohnheiten und Charakterzüge des Gesprächspartners. Zeigt dieser beispielsweise regelmäßig verächtliche Gesichtsausdrücke oder wischt abfällig Argumente vom Tisch, legt dieses Verhalten nahe, das diese Ausdrücke einen so regelmäßigen Bestandteil seiner Kommunikation und Einstellung bilden, dass sie Teil seines Wesens wurden und auch in einem so formalen Setting wie dem Bewerbungsgespräch nicht mehr unterdrückt werden können. Diese für ein Individuum typischen Verhaltensweisen werden als idiosynkratisches ­Verhalten

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3  Ursachen: Wie entsteht nonverbale Kommunikation?

bezeichnet und eröffnen dem, der sie wahrnimmt und die dahinterliegenden Ursachen erkennt, ein tieferes Verständnis über das Wertemodell und die Paradigmen seines Gesprächspartners. Eine komplexe Körpersprache oder stereotype nonverbale Signale signalisieren die Anpassung des Organismus an verdrängte oder unterdrückte Themen und zeigen den Versuch des Körpers, diese doch zu integrieren und irgendwie auszudrücken oder damit verbundene früher empfundene Gefahren mittels Schutzhaltungen dauerhaft abzuwehren. Letzteres kann schließlich zu chronischen Verspannungen und Muskelverhärtungen führen. Verschiedene körperorientierte Schulen der Psychotherapie setzen genau an dieser Stelle an und therapieren die Folgen von Traumata und anderen Beschwerden durch die Lösung körperlicher Blockaden. Dem Recruiter eröffnet die Beteiligung des ventromedialen Cortex an der Ausführung von Willenshandlungen die Möglichkeit, mittels der erwähnten N-Back-Trainings den Einfluss seines sozialen Ichs auf die Impulse seines egozentrisch-egoistischen Kleinkind-Ichs zu erhöhen und dadurch sozial kompetenter zu kommunizieren, ohne an Authentizität zu verlieren. Lateralität: Entstehung und Bedeutungen der Signale der linken und rechten Körperhälfte Die vom motorischen Cortex ausgehenden Nervenbahnen des pyramidalen Systems kreuzen sich im Hirnstamm auf ihrem Weg zu den Muskeln: Die neuronale Ursache einer beobachteten Bewegung liegt also auf der ihr gegenüberliegenden Seite. Damit der motorische Cortex eine Bewegung veranlasst, wird vereinfacht ausgedrückt unter Beteiligung des präfrontalen Cortex ein zunächst beidseitig vorhandenes Bereitschaftspotenzial schließlich für eine Seite verstärkt. Dabei hat die gewohnheitsmäßig oder in Verbindung mit spezifischen Themen häufiger aktivierte Hälfte des Gehirns auf diese Verstärkung des Bereitschaftspotenzials einen höheren Einfluss. Die Beachtung der Lateralität, also darauf, ob willkürliche Signale linksseitig oder rechtsseitig ausgeführt werden und ob Körperhaltungen, die Benutzung des Spielbeines oder einzelner Gesten überwiegend einseitig auftreten, eröffnet uns damit Einsichten in die dominante Gehirnhälfte des Gesprächspartners. Auch wenn das Gehirn multifunktional und multizentrisch arbeitet und die verschiedenen Zentren beider Seiten sich gegenseitig ersetzen können, gibt es gewisse charakteristische Schwerpunkte der beiden Hemisphären, die zur Interpretation der Körpersprache herangezogen werden können. Dabei muss jedoch beachtet werden, ob es sich beim Gesprächspartner um einen Links- oder Rechtshänder handelt, bei Linkshändern ergibt sich in der Regel eine umgekehrte Zuordnung. Auch sollte der Einfluss der Lateralität nicht als in Stein gemeißelt behandelt werden. Er trifft in der überwiegenden Zahl der Beobachtungen zu, dennoch gibt es Ausnahmen, die sich jedoch mit etwas Übung rasch erkennen lassen. Der rechten Gehirnhälfte wird allgemein ein ganzheitlicher, musischer, analoger Charakter mit Orientierung an Menschen zugeschrieben. Sie lässt sich kurz als die Gefühlsseite bezeichnen, während die linke Hälfte mit dem Verstand oder Ratio, digitalem

3.5  Psychologische Einflüsse

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Denken, Sprache sowie Orientierung an Dingen, Zahlen, Daten und Fakten verbunden wird. Wir alle sind regelmäßig zwischen Denken und Fühlen hin und hergeworfen, und unsere Körpersignale zeigen, mit welchem der beiden Gebiete wir uns gerade beschäftigen. Recruiter, die beim Bewerber die aktuelle Dominanz einer Gehirnhälfte erkennen, können adressatenorientierter kommunizieren. Hadert der Bewerber gerade mit seinem Gefühl, wird er weniger auf harte Fakten und Gedanken reagieren, dafür aber besser auf die Verbalisierung seines Gefühls oder eine stärker empfindungsbetonte Ansprache. Umgekehrt wird ein Gesprächspartner, der gerade vergleichend kalkuliert und abwägt, für emotionale Ansprachen weniger empfänglich sein als für Zahlen, Daten und Fakten oder konkrete Angebotsverbesserungen. Auch bei gestischen Signalen kann das Interpretationsspektrum dahingehend erweitert werden, ob diese eher sachlich oder emotional begründet sind. In Kap. 11 zur Gestik werden weitere Implikationen beschrieben. Wie die Beziehungsebene das Hormonniveau unseres Gehirns bestimmt Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass der präfrontale Cortex ständig über verschiedene Handlungsoptionen nachdenkt und diese in einen Regelkreis einbringt, in dem in den Basalganglien, beeinflusst durch die tiefer liegenden unbewussten Teile des limbischen Systems, entschieden wird, ob die gemachten Vorschläge in Übereinstimmung mit unserem unbewussten Selbst sind. Wenn das der Fall ist, wird in der Substantia nigra das Dopaminsignal zur Ausführung gegeben, kann in seiner Stärke jedoch noch durch unser soziales Selbst gehemmt werden. Dabei ist entscheidend, ob das limbische System eher auf Gefahrenabwehr oder Belohnungserlangung ausgerichtet ist. Neben früheren Erfahrungen wird dieses unter anderem durch das aktuelle interne hormonelle Milieu bestimmt. Welche Hormone hergestellt werden, ist abhängig davon, welche Teile unserer DNA durch die Genexpression aktiviert werden. Die verschiedenen Teile der DNA dienen gewissermaßen als Blaupausen für die circa 35.000 verschiedenen Proteine, aus denen sämtliche Elemente des Organismus gebaut werden [48]. Welche der Gene aktiviert werden, hängt wiederum stark von der empfundenen Qualität der Beziehungsebene zwischen den Gesprächspartnern ab und davon, ob tiefer liegende Wünsche und Bedürfnisse im Einklang mit der Situation realisiert werden können [49]. Damit bildet die nonverbale Kommunikation des Recruiters, mit der er die Beziehungsebene zum Bewerber pflegt, ein maßgebliches Kriterium für dessen inneres Milieu, da es dessen Genexpression und damit sein hormonelles Setting beeinflusst. Einen weiteren Einfluss bilden die Wünsche und Bedürfnisse des Bewerbers und führen uns so zu den individualpsychologischen Ursachen der nonverbalen Kommunikation.

3.5 Psychologische Einflüsse Der Einfluss der Psychologie auf die nonverbale Kommunikation führt uns zunächst zur Gretchenfrage, die Kritiker im Zusammenhang mit der Aussagekraft nonverbaler Kommunikation regelmäßig stellen. Wie neurobiologisch belegt, drückt sich zwar der größte Teil unserer Persönlichkeit durch unsere nonverbale Kommunikation aus. Aber bedeutet

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3  Ursachen: Wie entsteht nonverbale Kommunikation?

das automatisch auch, dass die spezifischen Zeichen, die in der Fachliteratur regelmäßig aufgeführt werden, die beschriebene Bedeutung haben, wir spezifische körpersprachliche Signale des Gegenübers also tatsächlich wie Vokabeln interpretieren können? Existiert eine „Wenn-dann-Verknüpfung“ zwischen körpersprachlichen Signalen und dem inneren Empfinden? Um einen Teil der Antwort direkt zu geben: Einige nonverbale Signale sind tatsächlich biologisch bedingt und drücken universell, über alle Kulturen und Klassen hinweg, auf die gleiche Art und Weise spezifische Bedürfnisse und Emotionen aus. Da Bedürfnisse und Emotionen jedoch etwas Subjektives sind, können körperliche Haltungen oder Bewegungen nicht mit Vokabeln verglichen werden: Sie haben keine exakte, eindeutige Bedeutung per se – das unterscheidet ja gerade das Wesen der von Watzlawick beschriebenen analogen Modalitäten der nonverbalen Kommunikation von jenem der digitalen Modalitäten der verbalen Kommunikation. Der analoge Charakter impliziert, dass das gesamte Bild und der grundsätzliche Tenor erfasst werden müssen, um zu erkennen, was zwischen den Zeilen geschrieben steht, und um die Qualität der Beziehung zu bestimmen. Einzelne Signale alleine reichen nicht aus. Wenn wir das bisher Behandelte zusammenführen mit dem später erläuterten Streben nach Konsistenz und den grundlegenden Bedürfnissen nach Selbstwirksamkeit und Zugehörigkeit, können wir unser Verständnis für die Aussagekraft nonverbaler Signale vertiefen. Wie Hüther beschreibt, bestimmt die Erfahrungswelt des Embryos die Urbedürfnisse des späteren Menschen. Dessen Erfahrungen bestehen einerseits in der Verbundenheit zu einem größeren, ihn umschließenden System, der Mutter, sowie andererseits im kontinuierlichen Wachstum und der Weiterentwicklung im Mutterleib [50]. Beide Erfahrungen führen zu einer pränatalen Prägung, deren Repräsentationen auf neuronaler Ebene im Hirnstamm verankert werden und als Referenzwert für spätere Erfahrungen dienen. In Folge setzen wir auch als Erwachsene neue Erlebnisse stets ins Verhältnis zu diesen beiden Referenzwerten und beurteilen eine Situation oder ein Gespräch danach, inwieweit wir uns darin entwickeln und wirken können und gleichzeitig die Zugehörigkeit zu wichtigen Bezugspersonen oder der Gruppe erhalten. Im Recruiting erfüllt eine kooperative Gesprächsatmosphäre, die dem Bewerber ermöglicht, sich so einzubringen, wie er ist, diese beiden Urbedürfnisse und führt zu einer Behagen ausdrückenden Körpersprache. Ist das nicht der Fall, zeigen sich Unbehagen und Stress, deren Signale später beschrieben werden.

Wir tragen also das tiefere Bedürfnis nach selbstbestimmten, sozial anerkanntem Handeln in uns und streben danach, mit einer Handlung eine beabsichtigte Reaktion zu erzielen und auf eine gesendete Botschaft das angestrebte Feedback zu erhalten. Das führt zum springenden Punkt bei der oben beschriebenen Gretchenfrage: Die Integration dieser psychologischen Aspekte zeigt, dass es relativ unerheblich ist, ob ein konkreter nonverbaler Ausdruck tatsächlich der Ausdruck eines spezifischen ursprünglichen Gedankens, mit einer mit ihm verbundenen konkreten Bedeutung, darstellt oder nur so von unserem Umfeld verstanden wird. Denn bei der Decodierung nonverbaler Signale sind sich Menschen überwiegend einig und interpretieren spezifische Signale sehr einheitlich [51]. Dass dabei intuitiv auf Vereinfachungen, Stereotype, Vorurteile, Heuristiken und das ganze Spektrum unzähliger Beurteilungsfehler zugegriffen wird, spielt letztlich

3.5  Psychologische Einflüsse

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keine Rolle. Kommunikation ist Wirkung und nicht Absicht. Ihre Wirkung ergibt sich daraus, was der Empfänger aus ihr macht, also daraus, dass spezifische körpersprachliche Signale weitestgehend gleich interpretiert werden, ob das der Sender so beabsichtigt hat oder nicht und ob es dem Empfänger bewusst ist oder nicht. Seine Interpretation veranlasst nun den Empfänger zu einer Reaktion, die dem Sender der ursprünglichen Nachricht ein erwartetes oder unerwartetes Feedback gibt. Während ein beabsichtigtes und erwartetes Feedback sich gut anfühlt, die Selbstwirksamkeit belegt und den Sender darin bestärkt, sein Verhalten zukünftig zu wiederholen, führt ein negatives Feedback zu einem Frustrationserlebnis, mehr oder weniger starkem Stress und bei wiederholtem Auftreten zum Rückzug oder dazu, die eigenen Signale bewusst oder unbewusst so lange anzupassen, bis doch noch die beabsichtigte Reaktion erreicht wird. Soziale Kompetenz lässt sich als die Fähigkeit beschreiben, durch die eigene Kommunikation eine beabsichtigte Reaktion zu erhalten, um die eigenen Ziele und Wünsche zu verwirklichen. So entwickelt sich im Laufe des Lebens und im Spannungsfeld von Selbstkundgabe und Wirkungskalkül nach und nach jene Kommunikation, mit der sich einerseits selbst ausgedrückt wird und andererseits das beabsichtigte Feedback erreicht wird, um gezielten Einfluss auf das Umfeld zu nehmen und die eigenen Bedürfnisse zu stillen. Diese Entwicklung kann über mühsames Lernen durch Trial and Error, über die in Kap. 2 beschriebene Lernkurve oder über direktes Lernen am Modell stattfinden. Einiges davon haben wir in die Wiege gelegt bekommen oder in jungen Jahren von unseren Eltern erworben, anderes später erworben. Am Ende steht jedoch, ob ursächlich oder durch mehrere soziale Feedbackschleifen erlernt, der mehr oder minder erfolgreiche bewusste und unbewusste Einsatz verbaler, paraverbaler und nonverbaler Mittel, um die persönlichen Ziele, Motive und Bedürfnisse zu verfolgen. Ob ein nonverbales Signal also einen konkreten ursprünglichen Sinn beinhaltet oder ob es lediglich als ein erworbenes Interaktionsmuster, also als ein nonverbales Kommunikationsscript, eingesetzt wird, um eine spezifische Botschaft zu transportieren und damit eine beabsichtigte Reaktion zu erzielen, ist von daher letztlich irrelevant, denn wie in Abschn. 3.3 beschrieben, bewirkt dieses äußere Interaktionsmuster wiederum eine mit ihm verbundene innere Empfindung, die wie ein Filter die weitere Wahrnehmung sowie unser Denken, Fühlen und Handeln beeinflusst. So empfindet der Kommunizierende dann tatsächlich, was er nach außen zeigt, nur die Ursache liegt anderswo, nämlich in der Konditionierung durch seine früheren Gesprächspartner und damit seiner eigenen gesammelten Vorgeschichte. Eben dadurch gewinnt die Berücksichtigung der nonverbalen Kommunikation ihre Bedeutung für das Recruiting, da sie die Essenz der akkumulierten Handlungsstrategien und Interaktionsmuster des Bewerbers ausdrückt, die auch dem späteren Verhalten am Arbeitsplatz zugrunde liegen werden. Bedürfnisse und Motive Um als Individuum aber auch als Teil der menschlichen Gemeinschaft zu überleben, müssen verschiedene Bedürfnisse befriedigt werden. Maslow unterteilte diese Bedürfnisse in der Grundversion seiner Bedürfnispyramide zunächst in fünf Hierarchiestufen. In seinen letzten Lebensjahren überarbeitete er diese noch einmal und gliederte die menschlichen

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3  Ursachen: Wie entsteht nonverbale Kommunikation?

Bedürfnisse nun in acht Hierarchiestufen. Diese umfassen von unten aufbauend physiologische Bedürfnisse, Sicherheitsbedürfnisse, soziale Bedürfnisse, Individualbedürfnisse, kognitive Bedürfnisse, ästhetische Bedürfnisse und schließlich Bedürfnisse der Selbstverwirklichung und Transzendenz. Bei der Überarbeitung blieben die unteren vier Bedürfnisstufen unverändert, diese sind auch im Zusammenhang mit der Suche nach einer Beschäftigung für die meisten Menschen ausschlaggebend. Sie suchen Arbeit, um Geld zu verdienen und ihren Lebensunterhalt bestreiten zu können. Maslow beschrieb in den 50er Jahren den Anteil der Menschen, die danach streben, Bedürfnisse zu befriedigen, die über die vierte Ebene hinausgehen, mit nur 2 % [52]. Aufgrund der höheren Abdeckung der unteren Ebenen durch unsere Sozialsysteme und durch die Entwicklungen der letzten Jahrzehnte dürfte in unserem Kulturkreis dieser Prozentsatz jedoch mittlerweile wesentlich höher liegen, wie der immer lauter werde Ruf nach sinnstiftenden Tätigkeiten belegt [53]. Für den Betrieb sind Mitarbeiter, die danach streben, durch ihre Arbeit die oberen vier Bedürfnisebenen zu erfüllen, von besonderer Bedeutung. Wenn ihnen ein entsprechendes Umfeld geboten wird, kann sich ihre intrinsische Motivation ausdrücken und zu steigenden Leistungen sowie beträchtlich höherer Kreativität führen, die für ihren Betrieb einen signifikanten Wettbewerbsvorteil darstellen. Sowohl für die Mitarbeiterführung, den Verkauf als auch für die Arbeit im Recruiting ist von grundlegender Bedeutung, dass Bedürfnisse tatsächlich weitestgehend hierarchisch aufeinander aufbauen. Bedürfnisse einer höheren Hierarchiestufe können erst dann empfunden und verfolgt werden, wenn die Bedürfnisse der unteren Hierarchiestufen zu mindestens 70 % befriedigt wurden und gesättigt sind [52]. Der drohende Verlust einer Bedürfnisebene führt zu Stress und damit zur Mobilisierung zusätzlicher Energie, um den drohenden Abstieg abzuwenden. Wenn also ein Bewerber für den Betrieb gewonnen werden soll, die vom Recruiter angebotenen Vorzüge aber an der Bedürfnisebene des Bewerbers vorbeizielen, wird Ersterer nicht oder nur teilweise erreicht und kann nur schwer zur Zusammenarbeit motiviert werden. Nicht erfüllte Bedürfnisse generieren einen Mangel, der mit steigendem Leidensdruck Menschen dazu motiviert zu handeln, um ihn zu beseitigen. Je nach Persönlichkeit und bereits erreichter Stufe der Hierarchie unterscheiden sich die Motive eines Menschen. Horst Rückle beschreibt sieben Hauptmotive, die unser Handeln im Geschäftsleben leiten [54]. Handlungsleitende Motive im Geschäftsleben

Bequemlichkeit, Ansehen, Sicherheit, Fürsorge, Wohlbefinden, Entdecken und Gewinn.

Für jedes Motiv gibt es jeweils bewahrende oder dynamische Ausprägungen, mit der es verfolgt werden kann. Das Motiv Gewinn kann beispielsweise dadurch erreicht werden, dass dynamisch die Einnahmen erhöht werden, oder dadurch, dass bewahrend gespart

3.5  Psychologische Einflüsse

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wird, um die Kosten zu senken. Diese sieben Motive werden in den nachfolgenden Ausführungen zur Projektion wieder aufgegriffen und die Brücke zu ihrem nonverbalen Ausdruck geschlagen. Streben nach Konsistenz Das Bestreben, empfundene Mängel zu beseitigen, motiviert uns zu handeln. Können wir unsere Motive nicht alleine erreichen, wird eine Einflussnahme auf unser Umfeld erforderlich und führt zu der Herausforderung, so zu kommunizieren, dass dieses uns dabei unterstützt. Dabei können wir in Übereinstimmung mit unseren inneren Werten handeln oder nicht. Es kostet vermehrt Energie und mindert die Leistungsfähigkeit, sich dabei inkonsistent zu verhalten. Wie Roth beschreibt, werden Menschen psychisch krank, wenn ihre Handlungen dauerhaft nicht mit den Bedürfnissen ihres unbewussten Selbst übereinstimmen [55]. Die Konsistenztheorie besagt, dass unser psychisches System so beschaffen ist, dass es Konsistenz anstrebt und Inkonsistenz vermeidet. Jens Förster und Fritz Strack beobachteten hierzu 1996, dass Probanden, die nickten, positive Wörter besser verarbeiten konnten als negative Wörter. Im Gegensatz dazu verarbeiteten Probanden, die den Kopf schüttelten, negative Wörter besser [56].

Alexander Lowen beschreibt, wie jeder Mensch in jungen Jahren an die Schwelle kommt, an der er ausprobiert, was passiert, wenn er nicht die Wahrheit sagt. Der gewonnene Machtgewinn, der dadurch entsteht, dass sich mit der geäußerten Unwahrheit ein Vorteil verschafft wird, geht mit einem Verlust von Lust einher, die wir sonst empfinden, wenn inneres und äußeres Erleben miteinander im Einklang sind. In Folge stellt sich für jeden Menschen an kritischen Stellen seines Lebens die Frage, ob der erhoffte Nutzenzuwachs, der mit einem Machtgewinn durch inkonsistentes Verhalten erreicht werden könnte, größer ist als die gleichzeitige Nutzenminderung durch Lustverlust [57]. Wird sich wiederholt und regelmäßig für Ersteres und gegen Letzteres entschieden, übernimmt die kommunikative-kognitive Seite unserer Persönlichkeit die Kontrolle und verfolgt Ziele, die den eigentlichen Bedürfnissen unseres Wesens zunehmend weniger entsprechen. Entsprechend sinnentleert fühlt sich mit zunehmender Dauer die Existenz an und führt zu den von Roth beschriebenen psychischen Problemen. Daraus und aus dem beschriebenen Prinzip der Wechselseitigkeit ergibt sich ein natürliches Bedürfnis nach Konsistenz zwischen innerem und äußerem Erleben. Kann diese Konsistenz nicht erreicht werden, entstehen Unbehagen und Stress. Stress Die Integration der Prinzipien der Ganzheitlichkeit, Wechselwirkung und Konsistenz führen in Verbindung mit einem grundlegenden Wesensunterschied von Körper und Verstand zu einer kritischen Komponente bei der Entstehung von Stress. Der Körper ist durch sein physisches Wesen an das Hier und Jetzt gebunden. Er drückt direkt aus, was wir fühlen, denken und wollen. Der Verstand ist dagegen ungebunden, er kann sich an

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3  Ursachen: Wie entsteht nonverbale Kommunikation?

Vergangenes erinnern, Zukünftiges planen, gänzlich abstrakte Inhalte ersinnen und sich Fantasien hingeben. Wie das Gedankenexperiment mit der Zitrone zeigt, setzt der Körper jedoch die Gedanken des Verstandes direkt um: Im Falle von positiven Gedanken entspannt sich der Körper und empfindet Wohlbefinden. Handelt es sich dagegen um negative Gedanken wie Angst vor zukünftigen Situationen, Selbstvorwürfen wegen eigener Unzulänglichkeiten in der Vergangenheit oder Groll gegenüber anderen Menschen, setzt unser Körper auch diese Gedanken um. Er empfindet das befürchtete Hindernis oder die erinnerte Gefahr so, als wären sie jetzt und hier tatsächlich zu bewältigen, und aktiviert den Sympathikus, um ihnen entgegenzutreten oder zu fliehen. Wenn nun aber kein reales Objekt zur Verfügung steht, an dem die aktivierte Energie abgebaut werden kann, bringt uns das aus dem Gleichgewicht. Wir empfinden Stress, weil die Probleme unseres Geistes nicht auf der körperlichen Ebene gelöst werden können. Kontrollierbare und unkontrollierbare Stressreaktion Auch andere Ereignisse können Stress auslösen. Die richtige Einschätzung einer Situation und die korrekte Prognose der unmittelbaren Zukunft stellten evolutionshistorisch ein wichtiges Überlebensmerkmal dar [58]. Das umfasst auch die richtige Vorhersage der Reaktion unseres sozialen Umfeldes auf unsere Kommunikation. Eine falsche Prognose löst Stress aus, wir müssen uns aktualisieren und eine andere Lösung finden. Stress stellt uns prinzipiell erst einmal zusätzliche Energie zur Verfügung, um unsere Bemühungen zu erhöhen und eine Situation doch noch erfolgreich zu bewältigen. Gelingt dies, so erleben wir laut Gerald Hüther eine kontrollierbare Stressreaktion. In deren Folge werden jene neuronalen Verschaltungsmuster gestärkt, die zur erfolgreichen Bewältigung der Situation aktiviert wurden. Unser Verhaltensrepertoire und unser Selbstvertrauen wachsen. Gelingt es nicht, die Situation erfolgreich aufzulösen, erleben wir dagegen eine unkontrollierte Stressreaktion [59]. Wenn eine Situation über einen längeren Zeitraum nicht bewältigt wird, löst der damit verbundene erhöhte Cortisolspiegel auf neuronaler Ebene nach und nach unsere bisherigen Verschaltungsmuster auf. Das ist notwendig, um im Anschluss neue Verhaltensweisen zu entwickeln, mit denen dann hoffentlich der Umwelt erfolgreicher begegnet werden kann. Zunächst kommt es jedoch zur Krise. Psychologisch setzt bei Stress der Vorgang der Regression ein, bei dem wir von den in unserer Entwicklung später gebildeten Handlungsmustern des kognitiv-kommunikativen und des sozialen Ichs ablassen und auf die älteren, stabileren, aber auch egoistischeren Handlungsmuster der unteren Persönlichkeitsebenen zurückfallen. Infolgedessen reagieren wir verstärkt mit Emotionen, Angriffen oder Fluchtverhalten, bevor schließlich ein Zusammenbruch, wie beispielsweise eine Depression, erfolgt, damit ein kompletter Neuaufbau erfolgen kann. Während der Regression kann nicht mehr oder nur sehr eingeschränkt auf die feineren kognitiven Prozesse des Cortex zugegriffen werden [60]. Bei länger andauerndem Stress erleidet der Hippocampus, der bei er Übergabe von Informationen ins Langzeitgedächtnis eine zentrale Rolle spielt, und nur einer von zwei Orten im Gehirn ist, an denen überhaupt neue Nervenzellen hergestellt werden, schwere Schäden [61]. Dadurch vergessen die Betroffenen in Krisen und Zeiten von starkem Stress die einfachsten Dinge, was zu weiteren Schuldzuweisungen, Selbstvorwürfen und zusätzlichem Stress führt. Ein Teufelskreis entsteht, der sich im beruflichen Kontext oftmals bis zur Beendigung des Arbeitsverhältnisses fortsetzt.

3.5  Psychologische Einflüsse

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Prekärerweise waren Bewerber, die sich aus einem gekündigten Arbeitsverhältnis oder aus bestehender Arbeitslosigkeit heraus bewerben, in ihren vorigen Arbeitsverhältnissen vermehrt den oben beschriebenen Umständen unterworfen, bevor es zur Beendigung des Arbeitsverhältnisses kam, und so treten sie vorbelastet auf. Doch auch der anschließend erlebte Verlust des Arbeitsplatzes stellt eine schwere Lebenskrise dar, die sich auf psychologischer Ebene mit dem Tod eines nahen Angehörigen vergleichen lässt [62]. Die anschließende Zeit der Arbeitslosigkeit führt mit steigender Dauer zu einer weiteren, extremen Form von Stress, auch wenn es vordergründig nicht so wirken mag. Hintergrundinformation Eine Untersuchung der biopsychologischen Abteilung der Universität Dresden zeigt den Einfluss von Dauer-Stress auf die Kommunikation im Bewerbungsgespräch. Langzeitarbeitslose wurden dem TSST, dem Trierer Social Stress Test unterzogen. Bei diesem bewirbt sich ein Bewerber auf seine persönliche Traumstelle und trägt seine Motivation einer mehrköpfigen Auswahlkommission vor, die ihm jedoch keinerlei Feedback auf seine Präsentation gibt und dadurch einer hohen Belastung aussetzt. Im Anschluss muss unter steigendem Druck eine frustrierende Rechenaufgabe gelöst werden, bei der von 2043 in 17er-Schritten rückwärts gezählt und bei einem Fehler von vorne begonnen werden muss. Dabei wird der Bewerber regelmäßig aufgefordert, sich zu beeilen, bei einem Scheitern erhält er keinerlei positives soziales Feedback wie Verständnis oder Sympathie. Überraschenderweise zeigten Langzeitarbeitslose weniger sichtbare Zeichen von Stress als die Teilnehmer der Kontrollgruppe. Auch ihr im Speichel gemessener Cortisolspiegel hatte sich wesentlich geringer erhöht. Im Gespräch wirkten sie dadurch nur mäßig motiviert, während die Vergleichsgruppe starke Zeichen von Nervosität zeigte und wesentlich motivierter wirkte. Die zusätzliche Untersuchung des Cortisolspiegels in den Haaren brachte jedoch die Auflösung. Dieser war bei den Langzeitarbeitslosen um das Sechs- bis Achtfache so hoch wie bei der Kontrollgruppe und zeigte den über Jahre erlittenen Stress. Die Folgen waren gravierend: Ähnlich einem Motor, der schon im roten Drehzahlbereich dreht, konnten die Langzeitarbeitslosen keine Extrareserven mehr mobilisieren, um sich in der kritischen Situation zusätzlich zu bemühen [63].

Unter Umständen sitzt also dem Recruiter ein Bewerber gegenüber, der als Opfer von langem und hohem Stress nur über eine aktuell eingeschränkte Überzeugungskraft verfügt. Recruiter sollten von daher versuchen, sich bewusst vor Augen zu halten, dass ein Bewerber, der sich aus langer Arbeitslosigkeit heraus bewirbt, auf einer tieferen Ebene ein Phlegma in das Gespräch einbringen kann, das ihn mitunter im Vergleich zu einem Bewerber, der sich aus einem bestehenden Arbeitsverhältnis bewirbt, intuitiv weniger attraktiv erscheinen lässt. Der unbewusste Stress des Ersteren ist deutlich höher, zeigt sich aber anders als erwartet. Die erwartete Nervosität kann ausbleiben und die Betroffenen können unmotiviert oder gar lethargisch wirken. Bewerber, die sich aus bestehenden Arbeitsverhältnissen bewerben, können dagegen einerseits souverän und entspannt auftreten, da sie im Falle eines Misserfolges nicht so viel zu verlieren haben, und gleichzeitig zusätzliche Reserven mobilisieren, um den Karrieresprung zu schaffen. Beides ergibt eine Momentaufnahme, die zu einer Entscheidung führen kann, die richtig scheint, aber nur wenig darüber aussagt, wie sich der schwächere Bewerber entwickelt, wenn er erst einmal in die neue Stelle eingearbeitet wurde und dadurch seine persönliche Krise hinter sich lassen kann. Natürlich ist der Aufwand für die Einarbeitung

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3  Ursachen: Wie entsteht nonverbale Kommunikation?

höher und der Lebenslauf sollte analysiert werden, um systematische Muster des Scheiterns zu erkennen. Einen interessanten, vielfach vernachlässigten zusätzlichen Aspekt leitet jedoch Peter Kruse her: Neurobiologisch und kybernetisch belegt, kann die steigende Komplexität der Außenwelt besser von Mitarbeitern bewältigt werden, die eine Krise erfolgreich überwunden haben. Vergleichbar mit einer Impfung hat deren Gehirn aus den Zeiten der Krise Vorerfahrungen mit instabilen Settings, die ihnen und dem Betrieb in zukünftigen kritischen Phasen zugutekommen können. Im Gespräch gilt es also sicherzustellen, in welcher Form frühere Krisen tatsächlich überwunden w ­ urden, was dabei gelernt wurde und wie sich die Person dabei entwickelt hat. Vor diesem Hintergrund müssen unterbrochene oder unorthodoxe Lebensläufe kein K.o.-Kriterium mehr darstellen, sondern können auf Bewerber hinweisen, die möglicherweise über eine Form von Krisenkompetenz verfügen, die Bewerbern mit Musterlebensläufen noch fehlt und die in kritischen Zeiten für den Betrieb eine wertvolle Ressource darstellen kann. Darüber hinaus kann das selbstbewusstere Auftreten eines Bewerbers, der sich aus einem bestehenden Arbeitsverhältnis bewirbt, aktuell zwar überzeugender wirken, aber dabei über dessen langfristige Loyalität hinwegtäuschen. Die Gefahr droht, dass er nach zwei bis drei Jahren genau dann zum nächsten Unternehmen weiterzieht, wenn sich seine weitere Mitarbeit für den eigenen Betrieb am meisten auszahlen würde. Der Lebenslauf belegt solche Wechselrhythmen oftmals sehr deutlich. Das Modell von Behagen und Unbehagen  In Abgrenzung zum Dauerstress ist situativer Stress in kritischen Stellen des Gesprächs ein aussagekräftiger Indikator, um die Aussagen des Bewerbers zu qualifizieren. Die akute Stressachse wird maßgeblich vom limbischen System gesteuert und entzieht sich damit weitestgehend unserer bewussten Beeinflussung. Auf dieser Basis entwickelte Joe Navarro das Modell von Behagen und Unbehagen, um den Zustand seiner Gesprächspartner zu taxieren [64]. Dabei stellt Unbehagen eine Form milden oder beginnenden Stresses dar. Wir sind sowohl neurobiologisch als auch sozialpsychologisch prinzipiell darauf ausgelegt, nach Behagen zu streben und es auch zu spenden. Eine behagliche Atmosphäre erleichtert eine effektive Kommunikation und einen überzeugenden Auftritt, Unbehagen führt zu Störungen. Beide Pole ermöglichen somit eine grundlegende Einschätzung darüber, wie der Bewerber das Gespräch empfindet. Behagen geht einher mit Zufriedenheit, Freude und Entspannung, während Unbehagen mit Unmut, Unzufriedenheit, Stress, Nervosität, Angst und Anspannung verbunden ist. Behaglichkeit strahlt Selbstbewusstsein aus und äußert sich nonverbal durch eine entspannte Haltung, ruhige Atmung und Stimme, normale Sprechgeschwindigkeit, offenen Blick, zugewandte Kopfhaltung, natürliche, fließende Gestik und Körpersprache, entspannte Mimik, Lächeln, leicht geneigten Kopf, normales Blinzeln und stabilen Blickkontakt. Behagen äußert sich in fließenden Bewegungen und durch Isopraxismen, d. h. Körperbewegungen und -haltungen, die sich mit jenen des Gesprächspartners synchronisieren oder diese unbewusst spiegeln und dabei den eigenen Rhythmus an jenen des Partners anpassen. Behagen strahlt Gelassenheit, Ruhe, Freundlichkeit und Offenheit aus [65].

3.5  Psychologische Einflüsse

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Unbehagen bewirkt dagegen einen gestressten Eindruck und strahlt kein oder nur geringes Selbstvertrauen aus. Es äußert sich durch schließende, sich kleiner machende oder sich zurückziehende Bewegungen, nach unten ausgerichtete Mundwinkel und zusammengepresste Lippen. Wird unbewusst versucht, sich selbst zu beruhigen, zeigen sich die später vertieften Selbstberuhigungsgesten, zum Beispiel Selbstberührungen oder Fingernägelkauen. Unbehagen führt oftmals zu steifen und ungelenken Bewegungen, verstohlenem Umherblicken, Stirnrunzeln, Unruhe und nervöser Anspannung. Weitere Zeichen für Unbehagen können beispielsweise Gereiztheit, Nervosität, Verschlossenheit, Unfreundlichkeit, übertriebene Strenge oder Ungeduld sein [65]. Kampf- und Fluchtreaktion Steigendes Unbehagen führt dazu, dass der Körper beginnt, aktiv etwas zu unternehmen, um der unbehaglichen Situation ein Ende zu bereiten. Hierzu kann man sich aus der Situation entfernen oder auf die Quelle des Unbehagens Einfluss nehmen. Es kommt zur von Walter B. Cannon im Jahr 1915 beschriebenen Kampf- und Fluchtreaktion. Die Kampf- bzw. Fluchtreaktion wird vom limbischen System angestoßen, jenem Teil unseres Gehirns, den wir mit anderen Säugetieren gemeinsam haben [66]. Ergibt sich eine stressige oder bedrohliche Situation, besteht die erste intuitive Reaktion in der Flucht. Säugetiere gehen in der Regel erst dann zum Kampf über, wenn Flucht nicht mehr möglich ist. Vor der Flucht zeigt sich ein kurzes Innehalten oder Erstarren, das sich in seiner vollen Ausprägung als Schockstarre äußert und signalisiert, dass unser limbisches System eine potenzielle Gefahr erkannt hat. Die Schockstarre gründet in einem elementaren Prinzip unserer Wahrnehmung, nach dem bewegliche Dinge leichter erkannt werden als unbewegliche. Wer sich im archaischen Kampf ums Überleben in Gefahrsituationen nicht bewegte, wurde quasi unsichtbar und erhöhte seine Überlebenschancen beträchtlich [67]. Auch wenn wir die Wälder und Savannen längst verlassen haben, reagieren Menschen, die beim Bluffen, einem Diebstahl oder einer Lüge überführt werden oder befürchten, entdeckt zu werden, immer noch zunächst mit einer subtilen Erstarrung. Im Bewerbungsgespräch kann sich die Schockstarre dadurch zeigen, dass bei kritischen Fragen der Bewerber kurz innehält oder regungslos auf dem Stuhl verharrt, seine natürliche, fließende, Bewegung der Augen erstarrt, die Atmung flacher wird oder er die Luft kurz anhält. In Verbindung mit der Schockstarre wird Schutz und Halt gesucht. So können sich die Füße um die Stuhlbeine schlingen, die Hände die Stuhllehnen fester anpacken und die Befragten den Kopf subtil einziehen, um sich kleinzumachen und die mögliche Angriffsfläche zu verkleinern. Detektive erkennen Ladendiebe regelmäßig an deren reduzierten Bewegungen und dem Schildkröteneffekt, bei dem der Dieb unbewusst versucht, den Kopf durch die hochgezogenen Schultern zu schützen [68]. Zieht eine kritische Situation nicht mittels der Schockstarre erfolgreich an uns vorüber, folgt die nächste Stufe der Stressreaktion und mit der Ruhe ist es erst einmal vorbei. Unabhängig davon, ob man im Anschluss flieht oder kämpft, wird der Sympathikus aktiviert, um mit der mobilisierten Energie direkt loslegen zu können. Das ausgeschüttete Cortisol macht direkt wacher, Noradrenalin vermindert die Energieversorgung im Cortex,

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klares und logisches Denken werden erschwert. Fluchttendenzen zeigen sich beispielsweise durch Reaktionen wie abruptes Weglehnen, Abwenden oder Zurücknehmen des Körpers oder Kopfes sowie durch das Ausrichten eines Fußes in Richtung des Ausgangs. Wir vermeiden Blickkontakt, reiben oder schließen die Augen und errichten Blockaden mit den Händen, Unterlagen oder anderen Gegenständen. Im Recruiting lässt sich teilweise beobachten, wie Bewerber aus einer zuvor zugewandten, leicht vorgebeugten Haltung durch eine kritische Frage regelrecht an die Rückenlehne ihres Stuhls zurückgeworfen werden. Flucht- und Ausblendreaktionen im Rahmen der Gehaltsverhandlung können sich beispielsweise darin äußern, dass als Reaktion auf ein Gehaltsangebot die Augen etwas länger als beim Blinzeln üblich geschlossen werden. Der Bewerber versucht unbewusst, die Situation auszublenden, und signalisiert, dass er das Angebot als unattraktiv empfindet oder dass er sich bei der Verhandlung in die Enge getrieben fühlt. Ist Flucht nicht möglich, treten wir in den Kampfmodus ein, der mit sich verengenden Pupillen, Vorbeugen, Distanzverringerungen, lauter werdendem Tonfall, Rhythmusbeschleunigung, Anspannen der Nackenmuskulatur, konfrontativerer Ausrichtung, offensiverer Gestik und dominanteren Bewegungen einhergeht. Während Fluchttendenzen im Bewerbungsgespräch durchaus durchsickern können, sollte sich die Kampfreaktion nicht zeigen. Treten Kampfsignale auf, ohne dass sich zuvor Fluchtsignale gezeigt haben, signalisiert dies, dass der Bewerber in seinem privaten oder beruflichen Leben anscheinend sein biologisch verankertes Programm überschrieben und stattdessen die neue Regel „Angriff ist die beste Verteidigung“ implementiert hat. Unabhängig von den genauen persönlichen Hintergründen stellt diese Prädisposition zum Angriff für die zukünftige Zusammenarbeit im Team und den Kontakt zum Kunden einen Risikofaktor dar. Beruhigungsgesten  Die Kampf- und Fluchtreaktion, die vor 100.000 Jahren über Leben und Tod entscheiden konnte, kann uns in einem Setting wie dem Bewerbungsgespräch schnell ins Aus befördern. Bewerber können nicht einfach weglaufen oder angreifen, schon subtile Signale wie wegschauen oder ein abruptes Abwenden stoßen an die Grenze der Akzeptanz. Entsprechend ist ihr soziales Ich in solch formalen Settings besonders auf der Hut und versucht, diesbezügliche Impulse zu hemmen oder zu unterdrücken. Diese schleichen sich nur subtil ein oder blitzen an Schlüsselstellen im Gespräch auf, beispielsweise wenn kritische Phasen im Lebenslauf thematisiert oder gezielte Stressfragen gestellt werden. Doch die Hemmung kostet Energie, und die empfundene Inkonsistenz zwischen Sein und gezeigtem Schein wird auf Dauer zunehmend unangenehmer. Da der Ausdruck der natürlichen Reaktion unterdrückt wird, kann die bereitgestellte Energie nicht durch Bewegung abgebaut werden. Sie sammelt sich im Körper und baut Spannung auf. Es folgen Gesten, um sich selbst zu beruhigen und die Erregung anderweitig abzubauen, um wieder ein ausgeglichenes Spannungsniveau herzustellen. Der ehemalige FBI-Agent Joe Navarro beobachtete bei seiner langjährigen Arbeit die verschiedensten Beruhigungsgesten, die sich im Rahmen dieser adaptiven Reaktion zeigten. Neben dem Bedecken der Drosselgrube – der Furche unter dem Kehlkopf zwischen den beiden Schlüsselbeinen – rieben sich die Gesprächspartner die Stirn, berührten sich am Nacken oder massierten diesen. Die

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Anzahl der Berührungen von Nase, Mund und anderen Teilen des Gesichts nahm zu, sie strichen sich übers Gesicht oder rieben die Hände auf den Oberschenkeln ab, um die Spannung abzubauen. Navarro beschreibt, wie besonders das Abreiben der Hände auf den Oberschenkeln einen sehr zuverlässigen Indikator darstellt, der sich gut durch Schulter- und Oberarmbewegungen erkennen lässt. Andere spielten mit dem Haar oder fuhren mit der Zunge von innen an ihren Wangen oder Lippen entlang. Ein deutlicheres Signal zeigt sich, wenn mit aufgeblähten Wangen hörbar ausgeatmet wird oder sich der Gesprächspartner den Kragen weitet und dabei Luft verschafft. Ebenso beobachtete Navarro, dass die Hand über den Adamsapfel gelegt und weiche Hautfalten am Hals bearbeitet wurden, wo sich der Sitz vieler Nervenendungen befindet: Die manuelle Stimulation wirkt beruhigend und bewirkt einen sinkenden Blutdruck und einen langsameren Puls [69]. Es folgten bei steigender Intensität Selbstumarmungen, intensiveres Rauchen, schnelleres Kauen und vermehrtes Gähnen, um den trockenen Mundraum zu befeuchten. Allgemein zeigen sich im Anschluss an stressige Situationen vermehrte Berührungen an Gesicht, Kopf, Hals, Nacken, Schultern, Armen, Händen, Beinen oder anderen Gegenständen wie der Armlehne oder dem Tisch. Männer berühren sich häufiger im Gesicht, während Frauen vermehrt Hals, Kleidung, Schmuck, Arme und Haare berühren, sich mit der Hand Luft zufächern oder ihre Haare zurückwerfen. Subtilere Signale im Bewerbungsgespräch können darin bestehen, sich das Hemd glattzustreichen oder die Krawatte, Uhr, Brille oder Manschettenknöpfe zu richten [70]. Bezüglich der Aussagekraft von Beruhigungsgesten ist die vorherige Bestimmung des Normalverhaltens besonders wichtig. Ein nervöser Grundtypus, der sich gewohnheitsmäßig im Gesicht berührt, zeigt eher durch plötzliches Unterlassen der Selbstberührung, dass er versucht, durch die unbewusst eingeleitete Schockstarre etwas zu kaschieren. Die Berücksichtigung von Beruhigungsgesten kann im Recruiting vertiefte Einblicke eröffnen, dabei sollte jedoch behutsam und diskret vorgegangen werden. Eine offensichtliche Musterung kann das Stressniveau des Bewerbers weiter erhöhen und die Aussagekraft der Signale verfälschen. Wird bei einem Thema eine spezifische Beruhigungsgeste wahrgenommen, kann man sich zum Beispiel Geste und Thema merken und zunächst zum nächsten Thema übergehen. Daraufhin sollte sich auch der Bewerber wieder entspannen und sich dessen nonverbaler Ausdruck normalisieren. Im weiteren Verlauf kann man dann nochmals auf das kritische Thema zurückkommen. Wiederholt sich nun die zuvor beobachtete Geste, erhärtet sie den Verdacht, dass das begleitende Thema den Bewerber beschäftigt oder unter Stress setzt. Ihr wiederholter identischer Ausdruck weist auf den symbolischen Ausdruck eines tiefer liegenden Themas hin [71].

3.6 Sozialpsychologische Einflüsse Der Mensch ist sowohl Individuum als auch ein soziales Wesen und für die Erfüllung der meisten seiner Bedürfnisse direkt oder indirekt auf eine Gemeinschaft angewiesen. Der Ausschluss aus der Gemeinschaft bedeutete in der Vergangenheit unserer Stammesgeschichte in der Regel den sicheren Tod und auch heute noch stellt er die Menschen

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vor tief gehende psychische Probleme. Entsprechend wichtig sind uns die Zugehörigkeit zur Gemeinschaft und die Akzeptanz unseres Umfeldes, welche wir unter anderem daran erkennen, dass wir auf die von uns angestoßene Kommunikation das angestrebte Feedback erhalten. Geschieht dies nicht, führt das zu Verunsicherung und mittelfristig, durch die oben beschriebene unkontrollierbare Stressreaktion, zu persönlichen Krisen wie beispielsweise dem Kulturschock. Auswanderer erleben diesen regelmäßig, wenn das neue Umfeld nicht in gewohnter Art und Weise auf die eigenen Kommunikationsangebote, wie Art der Begrüßung, Späße zum gemeinsamen Lachen, Fragen, um ein Thema zu vertiefen, oder selbst vorgeschlagene Gesprächsthemen reagiert. Liebesentzug In einem Experiment, das die Auswirkungen sozialer Ausgrenzung untersuchte, wurden einzelne Probanden im Kernspintomografen platziert und nahmen über einen Monitor und Joystick an einem virtuellen Ballspiel mit zwei anderen Spielern teil. Nachdem sie sich die Bälle eine Zeitlang zu dritt zugespielt hatten, schlossen die beiden Mitspieler den Probanden plötzlich aus und spielten ihm den virtuellen Ball nicht mehr zu. Die Folgen waren gravierend: Im Gehirn des von der Gemeinschaft Ausgeschlossenen zeigte sich eine erhöhte Aktivität im Schmerzzentrum [72]. Erhielt der Proband jedoch im Vorfeld die Information, dass es sich bei den beiden Mitspielern um vom Computer simulierte Mitspieler handelte, reagierte das Schmerzzentrum nicht. Um Unregelmäßigkeiten vorzubeugen, waren im Experiment übrigens in beiden Fällen die Mitspieler vom Computer simuliert worden.

Wenn wir das Gefühl haben, aus der Gemeinschaft ausgeschlossen oder abgelehnt werden, empfinden wir Schmerzen. Wir kennen das unangenehme Empfinden, das entsteht, wenn wir von einem anderen Menschen ignoriert oder nicht beachtet werden. Die Psychologie bezeichnet dieses Phänomen als Liebesentzug, welcher die Beziehungsebene zwischen den Beteiligten empfindlich stört. Körpersprachlich zeigt sich Liebesentzug im Ignorieren oder Übergehen verbaler und nonverbaler Kommunikationssignale unserer Gesprächspartner. Während das offensichtliche Ignorieren einen Affront darstellt, wirkt das Übersehen von sogenannten Intentionsbewegungen subtiler. Der Gesprächspartner möchte etwas sagen und öffnet den Mund, wir erteilen ihm aber nicht etwa das Wort, sondern sprechen weiter. Er zieht sich zurück, blickt auf die Uhr, verschließt sich oder wird wortkarger, aber wir entlassen ihn nicht aus dem Gespräch. Werden diese und andere, in den Kap. 10 und 11 vertieften Intentionsbewegungen übergangen, vermittelt der Recruiter, dass die eigenen Anliegen wichtiger sind als jene des Bewerbers. Die Missachtung der Interessen des Bewerbers und das implizierte hierarchische Gefälle verhindern einen Kontakt auf Augenhöhe und erschweren das Entstehen einer kooperativen Gesprächsatmosphäre. Schlimmer noch, wenn sich im Rahmen der Besetzung von Engpass- und Schlüsselstellen eigentlich der Betrieb um einen begehrten Bewerber bemühen will, einzelne Betriebsvertreter aber ihre eingefahrenen Kommunikationsmuster aus der Vergangenheit nicht ablegen, wird der Bewerber sich in der Regel tendenziell anderen Betrieben zuwenden, mit denen er aus seiner Sicht positivere Gespräche geführt hat.

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Projektion Bis vor circa 15.000 Jahren lebten die Menschen als Nomaden und zogen in Gemeinschaften mit maximal 100 bis 150 Mitgliedern, der klassischen Horde, durch die Welt. Nachdem die Fähigkeit zur Landwirtschaft entwickelt worden war, konnten sie sich an einem Ort niederlassen und die Gemeinschaften wurden größer. Je mehr Menschen zusammenkommen, desto mehr unterschiedliche Bedürfnisse und Motivationen treffen aufeinander und entsprechend komplex sowie vielschichtig gestaltet sich die Kommunikation. Um bei dieser steigenden Vielfalt das Überleben der Gesellschaft zu sichern, bedarf es einiger grundlegender Regeln und Normen, welche im christlichen Kulturkreis beispielsweise durch die Zehn Gebote und die sieben Hauptsünden beschrieben werden. Die „sieben Todsünden“, mit denen der Volksmund die sieben Hauptsünden der Kirche bezeichnet, beschreiben jene ungeordneten menschlichen Leidenschaften, auf denen alle anderen Übel wurzeln und die damit sowohl die persönliche Entwicklung als auch die Gesellschaft als Ganzes beeinträchtigen. Das Übel der Todsünden liegt maßgeblich im Übermaß, mit dem sie sich äußern – die Sünden sind zu viel des Guten von eigentlich neutralen oder positiven Leidenschaften. So ist Sparsamkeit an und für sich keine negative Eigenschaft, aber wenn Sparsamkeit zum Geiz wird, geht der natürliche Fluss des zwanglosen Miteinanders verloren und die Beziehungen untereinander leiden. Wenn bei jeder Entscheidung der Taschenrechner das letzte Wort hat, schädigt dieses Verhalten das Zusammenleben in der Gemeinschaft. Damit bergen die verschiedenen Leidenschaften einen positiven Kern, den es zu kultivieren gilt. Das Ausmaß, mit dem wir die den Hauptsünden zugrunde liegenden Bedürfnisse und Triebe ausdrücken, geht mit den unteren beiden Ebenen unserer Persönlichkeit einher, dem oben beschriebenen egoistisch-egozentrischen Kind in uns, welches durch die darüber liegende Ebene unseres sozialisierten Ichs in seinem hemmungslosen Ausdruck gezügelt wird. Dieses entwickelt sich im Laufe unserer Sozialisierung: Durch das Feedback unserer Umwelt bekommen wir ein Bild über gewünschtes und unerwünschtes Verhalten und entwickeln unser Selbstkonzept. Je nach Temperament und soziokulturellem Umfeld stoßen wir dabei früher oder später an die unterschiedlichen Begrenzungen dieser tabuisierten Leidenschaften und sehen uns, zunächst durch die Abhängigkeit von den Eltern und später durch den Wunsch nach Zugehörigkeit zur Gruppe und Gesellschaft, dazu gezwungen, uns anzupassen. Es entsteht ein Spannungsverhältnis zwischen Soll und Ist, zwischen Wollen und Tun, zwischen Ratio und Gefühl. Wir unterdrücken unseren natürlichen Ausdruck und verdrängen Teile unseres ursprünglichen Wesens, das durch die neuronalen Verschaltungen auf Stammhirnebene geprägt ist. Es entsteht ein Ungleichgewicht, da die Triebe aus den tieferen Schichten unserer Persönlichkeit nur eingeschränkt, gehemmt oder mit Schuldgefühlen ausgelebt werden können. Wenn wir uns dauerhaft zwingen, die Impulse tiefer liegender Teile unserer Persönlichkeit zu unterdrücken, zu verdrängen oder abzuspalten, entsteht eine zunehmende Spannung, welche sich schließlich auf der körperlichen Ebene manifestiert und zu Verspannungen in den Muskeln unseres Körpers oder zu stoßweisen Ausbrüchen führt. Die Situation lässt sich mit einem Ball vergleichen, den man versucht, dauerhaft unter

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Wasser zu halten. Die Verdrängung kostet Energie und erfordert ständige Aufmerksamkeit, um zu verhindern, dass sich nicht doch irgendwo Teile unserer unerwünschten Persönlichkeit zeigen und die Zugehörigkeit zum Umfeld gefährden. Diese Energie fehlt an anderer Stelle und mindert unseren entspannten Selbstausdruck im Privaten sowie unsere Kreativität und Leistungsfähigkeit im Beruf. Aber damit nicht genug: Wird nun dieses unterdrückte Verhalten bei einem Mitmenschen beobachtet, werden die eigenen unterdrückten Triebe und die früher empfundene Unzulänglichkeit wie mit einem Scheinwerfer beleuchtet. Unser mühevoll aufgebautes Selbstkonzept, mit dem wir uns damit arrangierten, dass ein bestimmtes Verhalten, obwohl es eigentlich den Ausdruck einer unserer natürlichen Leidenschaften darstellt, nicht akzeptabel ist, wird nun infrage gestellt, wenn eine andere Person sich eben dieser Leidenschaft hemmungslos hingibt und sie frei von jedem Schuldgefühl auslebt. Die mit der Verdrängungsarbeit verbundenen früheren negativen Gefühle drängen in unser Bewusstsein und werden wie durch ein plötzlich geöffnetes Ventil auf den anderen projiziert und dort nicht selten aufs Heftigste bekämpft [73]. Die in der Bibel beschriebenen Hauptsünden haben im christlichen Kulturkreis die Moralvorstellungen der Menschen stark geprägt. Auch wenn die wenigsten von uns alle sieben vollständig aus dem Stegreif benennen können, haben sie sich doch tief ins Kollektivbewusstsein eingebrannt und üben noch immer eine maßregelnde Wirkung auf uns aus. Damit bilden sie auch die Essenz der klassischen Projektionsthemen in unserer Gesellschaft, auf die Filme oder Theaterstücke regelmäßig zurückgreifen. Wenn der Mensch im Theater diese Klassiker sieht, bietet sich ihm eine Projektionsfläche, auf der er mit seinen unterdrückten Leidenschaften in Kontakt treten und sich mit ihnen im geschützten Rahmen auseinandersetzen kann. Von daher entwickelte Johannes Galli ein Typenmodell für die Ausbildung von Schauspielern auf der Basis dieser Hauptsünden, nämlich Trägheit, Zorn, Neugier, Völlerei, Wollust, Geiz und Neid. Da diese Leidenschaften durch den Verstand im Oberstübchen in den Keller des Körpers verdrängt wurden, bezeichnet Galli die unterdrückten Leidenschaften als Kellerkinder [74]. Dabei hat nicht jeder von uns mit allen Themen Probleme, im Gegenteil: In der Regel kommen wir mit fünf der Leidenschaften ganz gut zurecht, mit einer hakt es ein bisschen und mit einer stark. Eines der Kellerkinder haben wir oft besonders gut erzogen und es springt in die Presche, um die Defizite der anderen zu kompensieren. Ähnlichkeiten wecken Sympathie: Dem Recruiter sind jene Bewerber sympathischer, die ähnliche innere Konstellationen aufweisen wie er, und er wird dazu neigen, Bewerber, die ihn mit seinen eigenen Problembereichen konfrontieren, entschiedener abzulehnen, auch wenn sich jene unter Umständen gerade dadurch für eine Stelle besonders eignen. Ein dementsprechendes Matching erfolgt durch die nonverbale Kommunikation: Die Unterdrückungs- und Anpassungsvorgänge haben spezifische Spuren in unseren Bewegungen, Haltung, Mimik, Gestik und der Art und Weise zu sprechen hinterlassen. Die verhärteten Spannungen ziehen spezifische Muskelverhärtungen nach sich, die Reich

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als Charakterpanzer beschrieben hat [75]. Übereinstimmungen oder Konfliktpotenziale durch das Treffen wunder Punkte registrieren wir somit unbewusst schon, wenn sich uns jemand von Weitem nähert. Die sieben Kellerkinder bei sich selbst zu entdecken, sie kennenzulernen, zu erziehen und zu integrieren, macht Spaß und eröffnet persönliche Wachstumsmöglichkeiten. Im Recruiting ermöglichen sie, Ursachen von Projektionen abzubauen und objektivere Entscheidungen zu treffen. Darüber hinaus lässt sich eine Verbindung der oben aufgeführten sieben Motive, von denen wir uns im Geschäftsleben leiten lassen, zu den sieben Todsünden und den Kellerkindern herstellen. Deren Namen können durch ihre hohe Bildhaftigkeit und Prägnanz zunächst befremdlich wirken, weisen genau damit aber bereits auf die eigenen Projektionsthemen hin. Wie oben angedeutet, wird der Leser feststellen, dass er die Namen von fünf der Kellerkinder ganz amüsant findet, aber bereits die Namen von ein bis zwei von ihnen wird er vermutlich doch als irgendwie übergriffig empfinden. Die Trägheit der „Tranfunzel“ geht mit dem Motiv Bequemlichkeit einher. Der Zorn des „Fetzers“ lässt sich mit dem dynamischen Aspekt des Motivs Gewinn verbinden. Die (Neu)Gier des „Lästermauls“ verfolgt das Motiv des Entdeckens. Der Völlerei und der Hochmut des „Großkotz“ sind mit dem Motiv Ansehen verbunden, die Wollust des „Flittchens“ mit den Motiven Wohlbefinden sowie Fürsorge und der Geiz des „Geizers“ mit den Motiven Sicherheit und dem bewahrenden Aspekt des Gewinns. Der Neid des „Binnix“ geht zunächst mit den Motiven Sicherheit und Ansehen einher. Wird über den „Binnix“ der Zugang zum Inneren Kind erreicht, zeigen sich die Motive Entdecken, Wohlbefinden und Fürsorge. Deutschlandweit gibt es ein knappes Dutzend Galli-Theater, an denen Workshops besucht werden können. Die Workshops sind intensiv und körperbetont, wodurch die Energien der sieben Kellerkinder direkt erfahren, ganzheitlich erlebt und intuitiv verinnerlicht werden können. Dadurch fällt es im Anschluss leichter, diese bei anderen zu erkennen und die eigene Kommunikation zu bereichern. Wir erkennen, welche Strategie jemand bevorzugt einschlägt, um sich aus prekären Situationen zu manövrieren. Wir sehen direkt, welcher Motivkanal gerade dominant ist, und können diesen in unserer Kommunikation gezielt ansteuern und beispielsweise einem Bewerber die Vorteile einer zu besetzenden Stelle so präsentieren, dass er intuitiv spürt, dass diese seine tiefer liegenden Bedürfnisse erfüllen. Prägung Albert Bandura beschrieb 1965, wie Menschen am Modell, also durch Nachahmung, lernen. Während Säuglinge und Kleinkinder im Kreise ihrer Eltern und Geschwister aufwachsen, werden jene Neurone im eigenen Gehirn aktiviert, die auch beim Gegenüber gerade aktiv sind. Bauer beschreibt diesen Mechanismus der Spiegelneurone als eine der Grundlagen für Empathie. Wenn dieselben Neurone regelmäßig feuern, werden die damit verbundenen neuronalen Repräsentationen, die Aktivierungsmuster im Gehirn, verstärkt und eine Prädisposition für das gleiche spätere Verhalten gelegt [76]. Wer die Haltung und Bewegung von Kindern mit jenem ihrer Eltern oder einflussreicher Bezugspersonen vergleicht, gewinnt einen guten Eindruck über das Ausmaß der stattfindenden Prägung.

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Es entwickelt sich der Habitus eines Menschen, der später subtil die Herkunft, Klassenzugehörigkeit sowie die Einflüsse dominanter Vorbilder und prägender Peergroups anzeigt und sich über Signale wie Bewegungsgeschwindigkeit, Rhythmus, Körperhaltung, Raumverhalten, Blickverhalten, Sprachcode, Gestik oder der Art, sich zu kleiden, bis hin zur Auswahl der Speisen im Restaurant ausdrückt [77]. Ähnliches und Bekanntes wird im Gehirn durch seine Geläufigkeit müheloser verarbeitet und fühlt sich dadurch intuitiv vertrauter an. Bewerber, deren verbale, paraverbale und nonverbale Kommunikationssignale mit denen der Recruiter oder einflussreicher Bezugspersonen im Betrieb übereinstimmen, werden von daher unbewusst bevorzugt, auch wenn möglicherweise für spezifische Stellen ganz andere Persönlichkeiten gebraucht werden. Recruiter und Personalverantwortliche können der Gefahr dieser Spiegeleinstellungen vorbeugen, indem sie sich den eigenen Habitus und jenen einflussreicher Betriebsvertreter bewusst machen sowie die nonverbalen Signale, durch die sich diese ausdrücken. Weichen Bewerber hiervon ab, können deren Signale bewusst relativiert und hinsichtlich ihrer Passgenauigkeit untersucht werden. Darüber hinaus können erfolgreiche Mitarbeiter einer Berufsgruppe als Prototypen beschrieben werden, um vergleichbare Typen sicherer zu erkennen. Ergänzend prägen weitere, von Kurt Lewin beschriebene, felddynamische Einflüsse wie das kulturelle, politische und wirtschaftliche System, in dem wir aufwachsen, sowie der vorherrschende Zeitgeist und wichtige geschichtliche Ereignisse unser Werteempfinden, subjektives Erleben, Fühlen, Handeln und unsere Haltung zur und damit unsere Kommunikation mit der uns umgebenden Welt [78]. Neben diesen Einflüssen wird unsere Kommunikation stark durch die uns aktuell umgebende Gruppe und unseren dortigen Status beeinflusst. Die gruppendynamischen Einflüsse und Wirkungen auf unsere nonverbale Kommunikation werden in Kap. 5 vertieft.

3.7 Kulturelle Einflüsse Abschließend prägt die Kultur, in der wir aufwachsen, unser tägliches Miteinander und bildet im Kontakt zu Angehörigen anderer Kulturkreise eine regelmäßige Quelle für Missverständnisse, Kommunikationsstörungen, Vorurteile und Stereotypisierungen. Die Kultur bildet ein implizites Referenzsystem, das unsere Wahrnehmung, Fühlen, Werteempfinden, Denken und letztlich auch unser Handeln stark prägt. Wir sind von unserer Kultur umgeben wie ein Fisch vom Wasser. Da sie sich durch sämtliche Ebenen unseres Lebens zieht, fehlen uns, durch ihre allgegenwärtige Präsenz, Kontrastpunkte, um sie bewusst zu erfassen. So sind wir uns über ihren prägenden Einfluss nicht bewusst und spüren ihn erst, wenn es auf Reisen oder in der Kommunikation mit Angehörigen fremder Kulturen zu Irritationen kommt. Da sie im unbewussten Bereich wirkt, drückt sich auch die Kultur überwiegend über die nonverbale Kommunikation aus.

3.7  Kulturelle Einflüsse

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 Hinsichtlich des kulturellen Einflusses auf unsere Kommunikation sollte relativierend beachtet werden, dass die Unterschiede zwischen Menschen verschiedener Kulturen geringer sind als das Spektrum der Unterschiede innerhalb einer einzelnen Kultur [79]. Plakativ ausgedrückt hat ein indischer Professor aus Delhi in vielen Bereichen seines Lebens normalerweise mehr mit seinem Professoren-Kollegen aus Berlin gemein als mit einem Bewohner der Slums der eigenen Stadt.

Der Einfluss der Kultur lässt sich in unterschiedliche Bereiche, in denen sie auf ihre Mitglieder wirkt, unterscheiden. Dadurch entstehen mehrere Kulturdimensionen, die von verschiedenen Sozialpsychologen und Ethnologen hinsichtlich ihrer Auswirkungen auf unser Leben und Handeln untersucht wurden. Neben den von Geert Hofstede beschriebenen Dimensionen, die er anhand einer Langzeitstudie der Mitarbeiter von IBM in über 60 Kulturkreisen erforschte, eröffnen diejenigen von Edward T. Hall für die nonverbale Ebene im Recruiting weitere Implikationen. Die kulturelle Identität wird maßgeblich in der frühesten Kindheit, im Schoß der Familie, geprägt. So bleiben kulturelle Einflüsse erhalten und versickern erst über mehrere Generationen hinweg und in Abhängigkeit davon, wie früh und wie häufig man in Kontakt mit der neuen Kultur tritt. Für Angehörige einer Kultur, die über mehrere Generationen unter sich bleiben, ergibt sich ein regressierender Effekt, wie das Beispiel der Amish in den USA zeigt. Die Einstellungen und Werte der früheren süddeutschen Vorfahren und ihrer ursprünglichen Kultur werden erhalten und gepflegt und im Bestreben, die eigene kulturelle Identität zu wahren, gegen die Einflüsse der sie neu umgebenden, amerikanischen Kultur verteidigt. An dieser Stelle kommt es zum Dilemma: Die Werte beider Kulturen, sowohl der deutschen als auch der amerikanischen, entwickeln sich im Laufe der Zeit kontinuierlich weiter. Sie aktualisieren sowie entwickeln sich und werden durch den Zeitgeist geprägt. Da sich die Amish einerseits gegen die neue Kultur abgrenzen, sich andererseits aber nicht mehr im Feld der alten Kultur bewegen und in diesem aktualisieren sowie mitentwickeln können, halten sie an einem veralteten, starren Bild fest und verlieren nach und nach den Kontakt zur alten Kultur, suchen aber gleichzeitig auch keinen Kontakt zum neuen Kulturkreis. Während sowohl im heutigen Deutschland als auch den USA technische Geräte zum Leben dazugehören, schlagen die Amish eine Brücke zum Deutschland des 17. Jahrhunderts und benutzen Kutsche statt Auto. Auch wenn sie sich mittlerweile in einzelnen Bereichen wie der Landwirtschaft zu öffnen beginnen und moderne Maschinen verwenden, sind die Betroffenen sowohl hier wie dort fremd und nicht wirklich zugehörig.

Für das Recruiting muss eine starke traditionelle Verhaftung neuer Mitarbeiter nicht von Nachteil sein, eine hohe Diversität innerhalb der Belegschaft bringt zwar einen erhöhten Aufwand und mehr Reibungspunkte mit sich, erhöht jedoch die innere Komplexität der Organisation und damit ihr Potenzial, erfolgreich auf die stetig komplexer werdende Außenwelt zu reagieren. Recruiter, die die Einflüsse der verschiedenen Kulturdimensionen erkennen und berücksichtigen, können Fehlinterpretationen, Kommunikationsstörungen und falschen Entscheidungen vorbeugen.

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3  Ursachen: Wie entsteht nonverbale Kommunikation?

Kulturdimensionen nach Hall Edward T. Hall untersuchte zwischen 1966 und 1990 vier verschiedene Kulturdimensionen. Kulturdimensionen nach Hall

1. Proxemik (Raumverständnis) 2. Kontextbezug 3. Zeitempfinden 4. Informationsgeschwindigkeit

Proxemik  Die Kulturdimension „Proxemik“ beschreibt unter anderem das unterschiedliche Raumverständnis von Menschen unterschiedlicher Kulturen und damit deren Einfluss auf unser Distanzverhalten [80]. Angehörige aus Dimensionen mit größeren Distanzzonen halten einen größeren Abstand zu ihren Mitmenschen. Das Territorialverhalten wird in Kap. 5 vertieft. Kontextbezug  Die Kulturdimension „High und Low Context“ beschreibt den Einfluss des Kontextes, also des Umfeldes und damit des Nicht-Gesagten auf die Kommunikation. Als Low-Context-Kultur berücksichtigt Deutschland den Kontext weniger und bevorzugt explizite Formulierungen dessen, worum es gerade geht. Doch schon auf der anderen Seite der Grenze, in der High-Context-Kultur Frankreich, gestaltet sich dies ganz anders: Dort wird indirekter kommuniziert und unter Umständen mehr dadurch ausgedrückt, dass etwas eben nicht geäußert wird. High-Context-Kulturen finden sich beispielsweise in Japan und China sowie vermehrt in lateinamerikanischen und südeuropäischen Ländern wie Spanien, Frankreich, Italien, Griechenland und der Türkei. Auch die meisten afrikanischen Länder sind High-Context-Kulturen [81]. Angehörige dieser Kulturen wenden nonverbale Kommunikation wesentlich intuitiver und vermehrter an als Deutsche. Diese werden regelmäßig dadurch, dass sie die Dinge beim Namen nennen, von Angehörigen aus High-Context-Kulturen als rüde oder brachial wahrgenommen, sie fallen sozusagen „mit der Türe ins Haus“. Weitere Low-Context-Kulturen finden sich im angelsächsischen Raum und Skandinavien. Damit stellt diese in Bezug auf ihren Einfluss auf die nonverbale Kommunikation im Bewerbungsgespräch die grundlegendste kulturelle Dimension dar, und man sollte sich im Vorfeld bewusst machen, ob diesbezüglich Unterschiede zwischen Bewerber und Recruiter vorliegen. Zeitempfinden  Das Zeitempfinden bildet eine weitere Dimension, die für Missverständ­ nisse und Konflikte, gerade in Bezug auf Pünktlichkeit und die damit empfundene unterlassene oder erwiesene Wertschätzung sowie die mitunter gleichzeitig unterstellte Unzuverlässigkeit sorgen kann. Hall unterscheidet zwischen monochronem und polychronem Zeitempfinden. Im deutschsprachigen, monochronen Kulturkreis, wo „Zeit gleich Geld“ ist, wird diese wie eine Sache verplant und eingeteilt. Wenn jemand einen

3.7  Kulturelle Einflüsse

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Termin nicht einhält oder uns warten lässt, stiehlt er uns Zeit und es entsteht ein Schuldverhältnis. In polychronen Kulturen ist Zeit einfach vorhanden und steht unbegrenzt zur Verfügung. So nimmt man sie sich einfach jetzt und in dem Ausmaß, das benötigt wird, um die aktuelle Beziehung zum Gegenüber optimal zu pflegen [82]. Aus den Augen, aus dem Sinn, kann dabei ein zugesagtes nachfolgendes Treffen schon einmal spontan verschoben werden, mitunter sogar ohne Benachrichtigung. Wenn es sich bei den Betroffenen um Angehörige der gleichen Kultur handelt, macht das auch nichts, empfinden doch beide dabei keine Einschränkung und nehmen sich beide gerne die notwendige Zeit füreinander, um ihre Beziehung zueinander zu pflegen, wenn sie sich dann treffen. So kann es passieren, dass sich der wartende Gesprächspartner einer anderen Kultur gehörig „auf den Schlips getreten“ fühlt, obwohl sein Gesprächspartner auf der tiefsten Ebene seines Wesens keinerlei böse Absicht hatte. Zu unserem Wirtschaftssystem passt natürlich besser das materielle Zeitempfinden, das die westliche und kapitalistische Welt stark geprägt hat. Die Einstellung aber, dass ein Bewerber, der zu spät zum Gespräch erscheint, nicht interessiert oder per se unzuverlässig ist, sollte für den Fall, dass er aus einer Kultur mit ausgeprägtem polychronen Zeitverständnis stammt, relativiert werden. Informationsgeschwindigkeit  Das Zeitempfinden korreliert in der Regel mit der Dimension Informationsgeschwindigkeit, welche die kulturellen Unterschiede bei der Verarbeitung von Informationen beschreibt. Während monochrone Zeit-Kulturen dazu tendieren, schnell verwertbare Informationen im Sinne einer „Bild“-Schlagzeile zu bevorzugen, benötigen andere Kulturen langsam verwertbare Informationen, für deren Verständnis sich mehr Zeit genommen werden muss. Entsprechend langatmig können die Ausführungen ihrer Angehörigen im Gespräch erscheinen und den Recruiter in Bezug auf seine Zeitplanung in Verlegenheit bringen. Umgekehrt fühlen sich entsprechende Bewerber schneller barsch und oberflächlich behandelt, wenn ihr Bedürfnis nach ausführlicher Information nicht in dem Maße befriedigt wird, wie es ihr kulturelles Empfinden verlangt. Kulturdimensionen nach Hofstede Geert Hofstede untersuchte ursprünglich vier verschiedene Kulturdimensionen und skalierte deren Ausprägungen auf einer Skala von 1 bis 100. Diese werden in Klammern bei den Erläuterungen für die Länder Deutschland, Schweiz, Frankreich und Großbritannien aufgeführt. Später erweiterte er sein Modell um zwei weitere Dimensionen [83]. Kulturdimensionen nach Hofstede

1. Machtdistanz 2. Individualismus und Kollektivismus 3. Maskulinität und Feminität 4. Unsicherheitsvermeidung 5. Lang- oder kurzfristige Ausrichtung 6. Nachgiebigkeit und Beherrschung

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3  Ursachen: Wie entsteht nonverbale Kommunikation?

Machtdistanz  Die Dimension Machtdistanz beschreibt das Ausmaß, in dem hierarchische Unterschiede in Bezug auf gesellschaftliche Macht, Einfluss und Status in einer Kultur vorherrschen und hingenommen werden, man denke an das Kastensystem in Indien. Während die Angehörigen von Kulturen der meisten westlichen Länder auch im Berufsleben flache Hierarchien bevorzugen, ein eher legeres Miteinander zu Hierarchiehöheren pflegen und auch schon einmal ihren Vorgesetzten oder auch beispielsweise den Recruiting-Prozess kritisieren können, gliedern sich Angehörige östlicher Kulturen leichter in Hierarchien ein und stellen die Unterschiede und Regularien weniger infrage. Dem Staat und starken Institutionen wird in diesen Kulturen wesentlich mehr Respekt gezollt als in westlichen Ländern. Entsprechend defensiv, passiv und angepasst können Vertreter dieser Kulturkreise im Gespräch wirken. Während Deutschland (35), die Schweiz (34) und Großbritannien (35) ein geringes Ausmaß an Machtdistanz aufweisen, ist dies in Frankreich (68) deutlich ausgeprägter und gipfelt in Russland (93), wo der Präsident gar über eine eigene Spur auf der Moskauer Stadtautobahn verfügt, die frei gehalten wird, während das Volk im Stau steht. In Zürich und Berlin ist es eher umgekehrt, die Pkws stehen im Stau, während die Busspur für den öffentlichen Nahverkehr freigehalten wird [84]. Individualismus und Kollektivismus  Der Einfluss einer kollektivistischen oder individualistischen Kultur wirkt sich auf das Konfliktverhalten aus, beeinflusst die Teamfähigkeit und zeigt sich beispielsweise in der hingebungsvollen Einsatzbereitschaft, wenn es darum geht, etwas „Größeres“ wie das Interesse des Betriebes über die eigenen Interessen zu stellen. Historisch sind kollektivistische Kulturen, denen auch heute noch 80 % der Weltbevölkerung angehören, durch Großfamilien mit mehreren Kindern und Generationen unter einem Dach geprägt, während individualistische Kulturen durch Kernfamilien geprägt werden, welche mit einem oder zwei Kindern mitunter weit verstreut von den anderen Familienangehörigen leben. Während in Großfamilien Hingabe an die Gemeinschaft und Harmonie wichtige Werte darstellen, fokussieren sich Kernfamilien auf die individuelle Entwicklung und Durchsetzung gegenüber der Konkurrenz. Das eindrücklichste Beispiel für die Hingabe an das große Ganze sind vielleicht jene kollektivistischen Japaner, die ihrem Unternehmen ihren Urlaub schenken. Ein Verhalten, das bei den meisten Menschen aus individualistisch geprägten Kulturen eher zu ungläubigen Kopfschütteln führt als zu ernsthaften Nachdenken darüber, ob diesem Beispiel gefolgt werden sollte. Diese Kulturdimension kann zu unterschiedlichen Bewerberreaktionen führen, wenn beispielsweise belastende anstehende Projekte, herausfordernde Phasen und ambitionierte Betriebsziele beschrieben und die damit verbundenen Erwartungen an die Einsatzbereitschaft des neuen Mitarbeiters geäußert werden. Während ein individualistisch geprägter Bewerber dies professionell, aber mit der Einstellung, dass das in gewissen Phasen zwar erforderlich sein kann, vom Betrieb aber auch kompensiert werden sollte, mitunter distanziert zusichert, kann ein kollektivistisch geprägter Bewerber mit ganzem Herzen Ja sagen und dadurch sein Engagement und seine Hingabebereitschaft deutlich überzeugender vermitteln. Ein Individualist kann dagegen stärker konfrontieren und kritischer nachfragen, wo dem harmonieorientieren Kollektivisten ein Nein kaum über die Lippen kommt.

3.7  Kulturelle Einflüsse

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Natürlich bringen auch im Westen die sozialen Gepflogenheiten mit sich, nicht alles und jeden zu konfrontieren und die Menschen undifferenziert vor den Kopf zu stoßen. Gerade im Recruiting ist oft Fingerspitzengefühl gefragt, und häufig wird ein soziales Lächeln eingesetzt, um unangenehme Aspekte dahinter zu verbergen. Da sie sich beim Beobachten von Lächeln mehr auf die Aussagekraft der schwer zu beeinflussenden Augenringmuskulatur fokussieren, dürften Bewerber aus kollektivistischen Kulturen ein Höflichkeitslächeln besser registrieren, es sich jedoch nicht anmerken lassen. Allerdings nehmen sie den Tenor der wirklichen Nachricht mit und fühlen sich somit weniger stark den von beiden Seiten gemachten verbalen Zusagen und Höflichkeiten verpflichtet. Selbiges gilt natürlich in die andere Richtung. Deutschland (67), die Schweiz (68) und Frankreich (71) sind Kulturen mit einem vergleichbaren gehobenen Maß an Individualismus, während diese Dimension in Großbritannien (89) und den USA (91) sehr stark ausgeprägt und in Japan (46) und China (20) schwach ausgeprägt ist [85]. Maskulinität und Feminität  Die Dimension Maskulinität beschreibt, in welchem Ausmaß eine traditionellere Rollenverteilung und Distanz zwischen Männern und Frauen in einer Kultur vorherrscht. In maskulinen Gesellschaften zeigt sich ein bestimmteres Auftreten und stärker ausgeprägtes Konkurrenzverhalten, das später in Kap. 5 zum Status vertieft wird. In femininen Gesellschaften sind dagegen Werte wie Fürsorglichkeit, Bescheidenheit und Kooperation ausgeprägter. Weibliche Recruiter aus femininen oder schwach maskulinen Kulturen können unter Umständen durch das Verhalten männlicher Bewerber aus ausgeprägt maskulinen Kulturen irritiert werden. Besonders bei dieser Dimension sollte jedoch nicht undifferenziert verallgemeinert werden. Wie oben beschrieben sind prinzipiell die Unterschiede innerhalb einer Kultur ausgeprägter als zwischen verschiedenen Kulturen. Während Deutschland (66), die Schweiz (70) und Großbritannien (66) moderat maskuline Kulturen sind, ist Frankreich (43) eine eher feminine Kultur [86]. An dieser Stelle sei jedoch noch einmal daran erinnert, dass die kulturelle Prägung im Schoß der Kernfamilie stattfindet. Bei der Bewerbung eines Franzosen, dessen kulturelle Wurzeln in den Mahgreb-Staaten liegen, sollte deren prägender Einfluss berücksichtigt werden. Unsicherheitsvermeidung  Die Kulturdimension Unsicherheitsvermeidung zeigt den Grad an Sicherheit, den Angehörige einer Kultur anstreben, bzw. das Ausmaß an Unsicherheit, das sie zu ertragen bereit sind. Dies wirkt sich auf damit verbundene Werte wie Zuverlässigkeit, die Wichtigkeit langfristigen Planens und das Bedürfnis nach Sicherheit und Verbindlichkeit aus. Bewerber mit einem geringeren Bedürfnis nach Sicherheit sollten tendenziell flexibler und offener auf Projekte und befristete Stellen reagieren als Bewerber aus Kulturen, in denen die Fähigkeit, Unsicherheit auszuhalten, niedriger ausgeprägt ist. Während Deutschland (65) und die Schweiz (58) auf der Skala eher im Mittelfeld liegen, zeigt Frankreich ein sehr hohes Bedürfnis (86), Großbritannien dagegen ein schwaches Bedürfnis (35) nach Unsicherheitsvermeidung [87].

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3  Ursachen: Wie entsteht nonverbale Kommunikation?

Lang- oder kurzfristige Ausrichtung  Die Dimension langfristige Orientierung be­schreibt die Ausprägung von Traditionsverhaftung, Loyalität und Commitment sowie die Bereitschaft, langfristige Ziele zu verfolgen. Deutschland (83) und die Schweiz (74) sind langfristig orientiert, während Kulturen wie die USA (26) mit einer geringen langfristigen Orientierung sehr flexibel, individualistisch und von Selbstverwirklichung geprägt sind. Frankreich (63) und Großbritannien (51) liegen dagegen im mittleren Bereich [88]. Nachgiebigkeit und Beherrschung Diese Dimension beschreibt das Bedürfnis nach Kontrolle über das eigene Leben und den Einfluss von Freizeit und Muße auf das Glücksempfinden. Sie beeinflusst das Status- und Dominanzverhalten und wirkt sich auf die Motivation und Hingabebereitschaft zum Betrieb aus. Deutschland (40) und Frankreich (48) liegen im mittleren Bereich, während die Schweiz (66), USA (68) und Großbritannien (69) stärker ausgeprägte Werte verzeichnen [89]. Als direkte Vorbereitung auf das Gespräch kann der Recruitier auf der Website von Hofstede vier verschiedene Kulturen in Bezug auf die sechs beschriebenen Kulturdimensionen nebeneinander vergleichen und sich damit auf ihre möglichen Einflüsse auf das Gespräch oder etwaige Überraschungen vorbereiten. Dabei kann neben den Kulturen von Recruiter und Bewerber auch jene des Stammsitzes eines global agierenden Konzerns hinzugezogen werden.

3.8 Fazit: Ursachen: Wie entsteht nonverbale Kommunikation? Unsere nonverbale Kommunikation wird durch die verschiedensten Aspekte beeinflusst, deren Verständnis in kritischen und uneindeutigen Situationen zusätzliche Interpretations- und Reaktionsmöglichkeiten eröffnet und Missverständnissen und Kommunikationsstörungen vorbeugen kann. Neurobiologisch determiniert, drückt sich der Großteil unserer Persönlichkeit nonverbal aus. Grundlegende nonverbale Bausteine stellen sich öffnende und schließende Bewegungen sowie sich annähernde oder Abstand herstellende Bewegungen dar. Evolutionshistorisch und psychologisch begründet sind der prägende Einfluss der Körperhaltung sowie der Art der Bewegung auf den ersten Eindruck und damit auf viele Wahrnehmungsfehler. Neben den Einflüssen von Geschlecht und Kultur prägen uns erworbene oder übernommene Kommunikations- und Vermeidungsstrategien, die wir verwenden, um unsere Bedürfnisse zu befriedigen und unsere Zugehörigkeit zur Gruppe zu sichern. In formalen Settings wie dem Bewerbungsgespräch werden Stresssignale weitestgehend unterdrückt, jedoch signalisieren Selbstberuhigungsgesten die empfundene Belastung. Sozialpsychologische Ursachen können besonders bei männlichen Bewerbern deren Status- und Territorialverhalten beeinflussen.

Literatur

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Auftritt des Bewerbers und erster Eindruck

Zusammenfassung

Das Kapitel behandelt den Auftritt des Bewerbers und den Einfluss des ersten Eindrucks auf das weitere Gespräch. Dabei werden die den ersten Einfluss prägenden Größen untersucht, die Wirkung spezifischer Accessoires und Kleidungsstücke behandelt und jene Elemente der nonverbalen Kommunikation vertieft, die helfen, den Bewerberauftritt bewusst zu erfassen und zu analysieren. Abschließend werden Techniken und Übungen aufgeführt, um den eigenen Auftritt gewinnender zu gestalten. Kritische Faktoren, die den positiven ersten Eindruck des Recruiters behindern, werden benannt und Lösungsmöglichkeiten beschrieben. Nachdem in den Kap. 1 bis 3 die Grundlagen der nonverbalen Kommunikation beschrieben und ihr Einfluss aufs Recruiting hergeleitet wurde, schließen die folgenden Ausführungen die noch offenen Lücken der verschiedenen nonverbalen Themenfelder. Der Aufbau orientiert sich am zeitlichen Ablauf des Gesprächs und beginnt mit dem Auftritt des Bewerbers und dem ersten Eindruck.

4.1 Entstehung und Einfluss des ersten Eindrucks Unabhängig von allen technischen Vorauswahlverfahren, wie umfangreich diese zukünftig auch ausfallen werden, treffen sich Arbeitgeber und Bewerber schließlich zum persönlichen Gespräch. Abseits überarbeiteter Bewerbungsbilder, eingeklagter Zeugnisse, geschliffener Anschreiben und optimierter Lebensläufe kommt es endlich zum persönlichen Kontakt von Mensch zu Mensch. Dieser ist dann auch so mächtig, dass er in den meisten Bewerbungsgesprächen innerhalb von zehn Sekunden zu einer Einstellungsentscheidung führt [1]. © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 C. Bernhardt, Nonverbale Kommunikation im Recruiting, https://doi.org/10.1007/978-3-658-25276-2_4

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4  Auftritt des Bewerbers und erster Eindruck

Trigema Chef Wolfgang Grupp macht aus der Kraft des ersten Eindrucks keinen Hehl: „Ich gehe in den Raum, sehe fünf Leute und weiß sofort, den einen will ich, die anderen will ich nicht. Jetzt muss ich aber noch mit jedem ein Gespräch führen, ihnen und mir die Zeit stehlen, um danach vieren abzusagen und den einen zu nehmen, den ich sowieso von Anfang an wollte“ [2].

Natürlich hat dieses Vorgehen Vor- und Nachteile und kann, je nach zu besetzender Position, mehr oder weniger gute Ergebnisse nach sich ziehen. In kritischen Situationen kann eine schnelle Reaktion über Leben und Tod entscheiden. Die Veranlagung, sich ein schnelles Bild von der Situation zu machen, ist tief in uns verankert. Im Recruiting jedoch ist der erste Eindruck genauso verführerisch wie gefährlich: Wie beschrieben, können sich Experten auf ihn verlassen, wenn er sich warnend meldet, auch liegen ungeschulte Mitarbeiter überwiegend (76 %) [3] richtig, was dennoch eine Fehlerquote von 24 % bedeutet – so viel, wie die in Kap. 1 benannten 25 % der Arbeitsverhältnisse, die bereits in der Probezeit wieder aufgelöst werden. Für den Fall einer schnellen positiven Entscheidung verleitet der erste Eindruck von daher gerade bei differenzierten Entscheidungen zu Fehlern, die zukünftig immer teurer werden können. Auf neuronaler Ebene wird der erste Eindruck maßgeblich durch die Amygdala und den posterioren Cingulären Cortex [4] verarbeitet und bildet sich bereits nach 26 bis 39 ms [5]. Nach 150 ms haben wir innerlich entschieden, ob uns eine Person sympathisch oder unsympathisch ist [6]. Je nach Quelle liegt die Dauer, bis der erste Eindruck dann schlussendlich gebildet ist, bei sieben bis zehn Sekunden. Seine prägenden Auswirkungen bezeichnet die Psychologie als Primacy-Effekt: Was wir zuerst wahrnehmen, hinterlässt einen wesentlich tieferen Eindruck als das, was im Anschluss folgt. Mehr noch, die ersten Eindrücke wirken als Priming-Faktoren, die auf neuronaler Ebene der Verarbeitung der folgenden Informationen den Weg bahnen und wie ein Filter auf unsere Wahrnehmung wirken. Entsprechen die folgenden Informationen dem ersten Eindruck, werden sie schneller und leichter wahrgenommen und stärker akzentuiert. Tun sie das nicht, neigen wir dazu, sie zu übersehen, zu verdrängen oder als unwichtig zu interpretieren und zu verwerfen, was die objektive Beurteilung des Bewerbers erschwert. Ist dieser erst einmal auf dem Abstellgleis, stehen seine Chancen schlecht, wieder von dort wegzukommen. Unser Unbewusstes ist diesbezüglich einfach politisch nicht korrekt. Einmal geprägt, hält er sich recht hartnäckig: Um einen einmal gemachten ersten Eindruck wieder zu revidieren, braucht es bis zu sechs Monate [7]. Besonders für das Bewerbungsgespräch gilt also: Gelingt es, einen positiven ersten Eindruck zu hinterlassen, erleichtert das den weiteren Kontakt erheblich. Haben wir dagegen vom Gesprächspartner einen ersten schlechten Eindruck gewonnen, hilft eine Bewusstmachung der Gründe und Signale, auf die wir reagiert haben, um die Chance zu erhalten, unsere Einstellung zu hinterfragen. Als er dessen Bewerbungsfoto sah, sortierte der Geschäftsführer eines kleinen Unternehmens den Lebenslauf eines Bewerbers direkt aus. Bei der Analyse seiner Entscheidung zeigte sich, dass der zu stark gehobene Kopf auf dem Bild und die etwas strenge Mimik arrogant wirkten und den Arbeitgeber abstießen, obwohl die Qualifikationen des Bewerbers wirklich gut waren. Diese hatte

4.2  Maßgebliche Faktoren für den ersten Eindruck

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sich der Arbeitgeber jedoch nicht einmal mehr richtig angesehen. Ob der Bewerber sich nur mit einer gewissen Ernsthaftigkeit der Herausforderung Bewerbung stellen wollte oder er tatsächlich ein arroganter und schwieriger Typ war, konnten wir nur vermuten. Nachdem wir die möglichen Einflüsse besprochen hatten, überlegte es sich der Arbeitgeber noch einmal – und entschied sich trotzdem gegen den Bewerber: Zu stark war die Wirkung des ersten Eindrucks.

4.2 Maßgebliche Faktoren für den ersten Eindruck In seinen ersten Jahren in Princeton untersuchte der damalige Assistenz-Professor Alexander Todorov die Wirkung des ersten Eindrucks. Die Studienteilnehmer wurden gebeten, jeweils im Paarvergleich zwischen zwei verschiedenen Porträts zu entscheiden, welches der beiden kompetenter auf sie wirkte. Was die Probanden nicht wussten: Es handelte sich bei den Gesichtern jeweils um die Kandidaten der Wahlen zum Senator der verschiedenen Bundesstaaten aus den Jahren 2000 und 2002. Das Ergebnis überraschte: Jene Gesichter, die als kompetenter beurteilt worden waren, stimmten zu 70 % mit den Gewinnern der Wahlen überein [8].

Grob formuliert, klärt der Primat in uns bei jedem Treffen zunächst ab, ob es sich beim Gegenüber um einen Freund oder einen Feind handelt und ob er oder sie darüber hinaus als potenzieller Paarungspartner in Betracht kommen könnte. Durch die Schnelligkeit, mit der der erste Eindruck sich bildet, und die für das Gehirn mühelose Art, mit der konkrete visuelle Informationen im Vergleich zu abstrakten verbalen Informationen verarbeitet werden, wird der erste Eindruck maßgeblich durch nonverbale Faktoren geprägt. Innerhalb der ersten Millisekunden, in denen ein Mensch in unser Blickfeld gerät, wurden noch keine Worte gewechselt, noch keine Hände geschüttelt, auch ist die Person noch zu weit weg, um einen genaueren Blick auf ihre Mimik oder Gestik, Fingernägel oder sonstige Details zu werfen. Wir werden mehr von der gesamten Erscheinung, Haltung und Bewegung beeinflusst als von einzelnen Signalen. Ausnahmen bilden auffällige und feindselige Merkmale, die aus dem Gesamtbild herausstechen und die harmonische Wahrnehmung stören. Eine aufschlussreiche Information zeigt sich schon beim allerersten Blickkontakt. Die Augen des Gesprächspartners spiegeln genau in diesem Augenblick kurz und subtil, wie dieser uns wahrnimmt, und damit den ersten Eindruck, den wir gerade bei ihm hinterlassen. Es lohnt sich also, genau hinzuschauen und sich bewusst zu machen, wie jemand in dieser Phase des Kontakts auf uns reagiert. Auch sollte man nicht den Fehler begehen, ohne Sehhilfe ins Gespräch zu gehen. Kurzsichtige Recruiter werden ohne Brille die subtilen und schnellen mimischen Ausprägungen des Bewerbers auf die Entfernung von einigen Metern nicht oder nur schwer erkennen und mitunter intuitiv die eigenen Augen kurz anspannen, um den anderen besser zu erkennen. Dabei machen die Augen gerade zum falschen Zeitpunkt einen feindseligen, gestressten, kritischen oder angespannten Eindruck. Dieser wirkt auf das Unbewusste des Bewerbers und kann ein reserviertes, distanziertes oder ablehnendes nonverbales Verhalten auslösen, das auf den

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4  Auftritt des Bewerbers und erster Eindruck

Recruiter zurückwirkt und einen Teufelskreis anstößt. Die limbischen Systeme beider Gesprächspartner registrieren, dass es sich um einen Kontakt handelt, der die Stressachse aktiviert, und gehen mit einer latent kritischen Einstellung ins Gespräch: Das sind nicht die besten Voraussetzungen für ein objektives Ergebnis. Die prägenden visuellen Einflüsse, die die Bildung des frühen ersten Eindrucks beeinflussen, lassen sich nach statischen und dynamischen Eigenschaften unterscheiden. Statisch in diesem Sinne sind die Statur, Kleidung oder Accessoires. Dynamisch sind dagegen die Haltung, der Gang, die Art, sich zu bewegen und den Blickkontakt zu ­pflegen. Beurteilungsfehler Während Recruiter und Bewerber sich das erste Mal begegnen, greifen Beurteilungsfehler wie die oben beschriebene Projektion, der Übertragungseffekt oder der Halo-Effekt. Beim Übertragungseffekt übertragen wir undifferenziert negative frühere Erfahrungen auf aktuelle Kontakte. Ein Mitarbeiter, mit dem ein Arbeitsverhältnis vor Gericht endete, hatte rote Locken und einen leicht schiefen Gang? Nun begegnen wir einem Bewerber mit der gleichen Frisur und ähnlichem Gehverhalten, und es ist gut möglich, dass wir intuitiv beschließen, den „gleichen Fehler“ nicht noch einmal zu machen. Das ist natürlich höchst subjektiv, aber menschlich und wird durch die Leichtigkeit unterstützt, mit der wir intuitiv versuchen, aus einzelnen Phänomen Regeln über die Welt zu erstellen und vom Besonderen auf das Allgemeine zu schließen [9]. Beim Halo-Effekt wird durch die Wahrnehmung eines schönen Reizes, unser Belohnungszentrum im Gehirn aktiviert [10]. Der Nucleus Accumbens als zentraler Teil des ventralen Striatums [11] veranlasst die Ausschüttung von Dopamin, das gewissermaßen die Mutter aller körpereigenen Drogen darstellt [12]. Ratten, die die Möglichkeit erhielten, sich über eine im Gehirn installierte Elektrode selbst den Nucleus Accumbens zu stimulieren, verloren augenblicklich das Interesse an Fressen, Sex, Schlaf und allen anderen Dingen. Stattdessen drückten sie im Sekundentakt die Taste, welche das Dopamin freisetzte, bis sie schließlich (vermutlich recht glücklich) zusammenbrachen [13]. Infolge des vorherrschenden Glücks-Gefühls übertragen wir unsere Bewertung und schreiben attraktiven Menschen positivere charakterliche und persönliche Eigenschaften zu. Allerdings nur bis zu einem gewissen Grad: Übersteigt die Attraktivität ein gewisses Maß, steigt sie uns ins Bewusstsein und wir werden misstrauisch: Ganz so direkt wollen wir uns dann doch nicht durch gutes Aussehen manipulieren lassen [14].

Nachdem der frühe erste Eindruck die Richtung vorgegeben hat, haben wir uns nach 30 s eine so feste Meinung gebildet, dass diese sich kaum von jener nach fünf Minuten unterscheidet [15]. Dabei wirken die nonverbalen Signale ungefähr viermal so stark wie die verbalen [16]. Maßgebliche Faktoren für den ersten Eindruck Neben den negativen Punkten und psychologischen Effekten beeinflussen maßgeblich vier Eigenschaften die Bildung des ersten Eindrucks [17]:

4.2  Maßgebliche Faktoren für den ersten Eindruck

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1. Glaubwürdigkeit 2. Liebenswürdigkeit 3. Attraktivität 4. Stärke Glaubwürdigkeit  Von diesen Eigenschaften übt Glaubwürdigkeit den größten Einfluss aus und setzt sich aus den drei Attributen Vertrauenswürdigkeit, Kompetenz und Dynamik zusammen [18]. Der hohe Einfluss der Glaubwürdigkeit ist evolutionshistorisch begründet, auch heute noch bildet Vertrauen die Basis, auf der wir geschäftliche und private Beziehungen gründen. Um die Glaubwürdigkeit eines Menschen zu beurteilen, orientieren wir uns an der Kongruenz seiner verbalen, paraverbalen und nonverbalen Signale vor dem Hintergrund dessen, was in vergleichbaren Situationen üblich ist. Liebenswürdigkeit  Auch Liebenswürdigkeit erkennen wir intuitiv. Neben einer offenen und positiven Körpersprache lassen wir uns dabei maßgeblich durch Ähnlichkeiten und Gemeinsamkeiten beeinflussen [19]. Treffen wir jemanden, der uns ähnelt, bestärken die Gemeinsamkeiten uns in unserem Selbstkonzept und lösen eine milde Form von Lust aus. Darüber hinaus können wir Ähnliches besser einschätzen, gewinnen Sicherheit und erleben weniger Frustration oder Stress in unserer Kommunikation durch falsche Prognosen. Es entsteht ein Kreislauf: Durch die unbewusste Bevorzugung suchen wir mehr Kontakt mit ähnlichen Mitmenschen, geben diesen einen Vertrauensvorschuss und erleichtern somit weitere positive Erfahrungen. Diese prägen uns im Laufe der Zeit, bestätigen unsere ursprüngliche Meinung und verstärken unser Verhalten. Hingegen treten wir Menschen, bei denen das nicht der Fall ist, eine Spur gehemmter oder gar misstrauischer entgegen und stoßen einen gegenteiligen Kreislauf an. Schließlich werden wir durch unsere Erfahrungen bestätigt und bilden uns über Menschen, die uns äußerlich oder in ihrer nonverbalen Kommunikation ähneln oder uns offen begegnen, einen besseren ersten Eindruck. Extrovertierte Menschen senden im Vergleich zu Introvertierten mehr Informationen. Sie gehen offener auf ihre Mitmenschen zu und geben diesen dabei einen impliziten Vertrauensvorschuss. Diese zusätzlichen Informationen und die Tatsache, dass sich ihre Mitmenschen nicht selbst aus der Defensive bewegen müssen, um in Kontakt zu treten, stillen deren grundlegendes Sicherheitsbedürfnis und ermöglichen ihnen eine risikofreiere Kommunikation. Den passenden Rahmen vorausgesetzt, hinterlassen Menschen, die sich uns zuwenden und mit einer offenen Körpersprache mit uns in Kontakt treten, einen positiveren ersten Eindruck. Offene Körpersprache äußert sich in freundlichem und interessiertem Blickkontakt, sichtbaren Handflächen, geöffneten Armen, Lächeln, Spiegel-Bewegungen, anhand derer auf den Partner Bezug genommen wird, einem entspannten, tiefen Atem und fließenden rhythmischen Bewegungen. Attraktivität  Die Wirkung von Attraktivität wurde beim Halo-Effekt angedeutet, insgesamt ist ihr Einfluss jedoch weniger stark, wie jener von Glaubwürdigkeit [20] und

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4  Auftritt des Bewerbers und erster Eindruck

Liebenswürdigkeit. Der Einfluss von Bekleidung, Accessoires und Make-up wird im Folgenden beschrieben. Neben dem Gebiss, einer aufrechten Haltung, vitalen Ausstrahlung und dem Zustand der Haut vermitteln glänzende Haare Informationen über unsere Gesundheit und Vitalität. Offenbar beeinflusst die Symmetrie der Gesichtshälften unsere Wahrnehmung von Attraktivität. Starke Asymmetrie stört dagegen die Betrachtung und alarmiert unser zentrales Nervensystem. Bemerken wir, dass irgendetwas anders ist, irritiert uns das und beeinflusst uns in unserer natürlichen Kommunikation. Selbstbewusstsein erhöht die Attraktivität [21] und äußert sich nonverbal durch zurückgenommene und tiefe Schultern, ein leicht gehobenes Kinn, leicht abgewinkelte Arme sowie geöffnete Hände und Arme – allesamt Zeichen, die Angstfreiheit signalisieren. Stärke  Wie Attraktivität stellt Stärke einen Paarungs-, aber auch einen Schutzindikator dar. Jemand, der den Glaubwürdigkeits-Check bestanden hat und der eine gewisse körperliche Stärke mitbringt, kann in Krisenzeiten von Vorteil sein. Deshalb sind Glaubwürdigkeit und Liebenswürdigkeit wichtiger: Was bringt uns die Stärke des anderen, wenn sie in einer kritischen Situation gegen uns gerichtet werden könnte? Stärke drückt sich über Selbstvertrauen sowie das später beschriebene Verhältnis zum Raum aus und geht mit Offenheit, einem gewissen Grad an Entspannung und fließenden Bewegungen einher. Sie zeigt sich durch einen freundlichen und festen Blickkontakt und proaktive Handlungen, wie dem Ergreifen der Initiative beim Händeschütteln, was durch den Gastgeber zu erfolgen hat. Lässt dieser eine klare Direktive bei der Begrüßung vermissen, verunsichert er seine Gäste. Für Stärke kontraproduktive Signale sind die oben beschriebenen Signale von Unbehagen und Stress sowie Übersprunghandlungen wie das Berühren des eigenen Gesichts.

4.3 Wirkung von Bekleidung, Accessoires und Make-up Neben den beschriebenen Faktoren beeinflussen Bekleidung und andere Äußerlichkeiten den ersten Eindruck. Dabei spielen der zur Situation und Position passende Stil des Outfits sowie die Farbe, der Schnitt und die Sauberkeit der Bekleidung eine maßgebliche Rolle. Wirkung von Farben Der Einfluss von Farben auf unser Gemüt ist belegt, Studien mit Sträflingen zeigten beispielsweise, dass deren Aggressionsbereitschaft durch rosafarbene Zellenwände reduziert werden konnte [22]. In anderen Untersuchungen wurden Frauen, die ein impulsives Rot trugen, von anderen Frauen vermehrt als Bedrohung und Konkurrenz wahrgenommen und als aufdringlich sowie herausfordernd beschrieben [23]. Für weibliche Recruiter ergibt sich einerseits die Gefahr, rot gekleidete Bewerberinnen nicht unvoreingenommen zu beurteilen oder, falls sie bei einigen Gesprächen selbst Rot tragen, bei anderen jedoch nicht, unbewusst provokative Elemente in erstere Gespräche einzubringen und damit die betroffenen Bewerberinnen im Vergleich zu ihren Mitbewerberinnen durch

4.3  Wirkung von Bekleidung, Accessoires und Make-up

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die ­veränderten Rahmenbedingungen zu beeinflussen. Die objektive Gesprächsführung kann auf jeden Fall erschwert werden, denn tatsächlich steigt messbar der Puls und der Stoffwechsel wird angeregt, wenn wir die Farbe Rot betrachten [24]. Blau wirkt dagegen beruhigend und wird mit Würde, Sanftmut und Aufrichtigkeit assoziiert. Ein helles Blau wird allgemein als freundlich wahrgenommen, während Grün sehr beruhigend wirkt. Weiß wirkt konventionell und konservativ, Schwarz wird als dominant wahrgenommen, während Grau mit Seriosität, Zuverlässigkeit und Fokussierung auf das Geschäft verbunden wird [25]. Neben dem Einfluss der Farben auf unsere Wahrnehmung und damit letztlich auch auf unsere Entscheidung beeinflusst der Kontrast unserer Kleidung die uns zugeschriebene Kompetenz [26]. Hier entsteht einerseits die Gefahr, Bewerbern, die ungeschickt kombiniert haben, unrecht zu tun und weniger Kompetenz zu unterstellen und andererseits durch die eigene unterschiedliche Kleidung in unterschiedlichen Gesprächen das Verhalten der verschiedenen Bewerber zu beeinflussen. Neben der Farbe wirkt der Schnitt der Bekleidung und führt uns zu den Vorteilen eines gut sitzenden Anzugs. Die verborgenen Qualitäten des Anzugs Verschiedene archaische Ursachen bedingen die starke Wirkung, die ein gut sitzender Anzug vermitteln kann. Schon Primatengruppen entwickeln Hierarchien, von daher sind die Kraft und Stärke anzeigenden Merkmale evolutionshistorisch bedingt auf einer tiefen Ebene unseres Wesens verankert. Der Schnitt des Anzugs betont diese dezent, aber wirkungsvoll. Die eingenähten Polster verbreitern die Schultern und verstärken optisch die Größe und Stärke des aufgerichteten Oberkörpers. Zudem kaschieren sie ein unwillkürliches Achselzucken, welches sich sonst zeigt, wenn wir ratlos sind und dadurch eine souveräne und selbstsichere Wirkung untergräbt. Die nach außen gestellten Reversaufschläge des Anzugs vergrößern den Brustkorb, ein Zweireiher oder eine darunter getragene Weste verstärkt diesen Eindruck zusätzlich und lässt den Träger noch gewichtiger und autoritärer wirken. Wird der Anzug offen getragen, signalisiert das Überlegenheit und Unangreifbarkeit, eine dazu getragene Krawatte schützt gleichzeitig eine der verletzbarsten Stellen unseres Körpers, die Drosselgrube. Diese befindet sich am unteren Ende des Halses zwischen den Schlüsselbeinknochen und kann durch die ganze Klaviatur verschiedener Krawattenknoten mehr oder weniger gut geschützt werden. Die empfindliche Halsregion wird durch den Hemdkragen und die umgebundene Krawatte gestärkt. Der Krawattenknoten führt zu einer aufrechteren Haltung und lässt uns größer wirken. Zusammen mit den Hemdkragenspitzen bildet sich eine Pfeilspitze, die den Blick auf das Gesicht lenkt. David Givens beobachtete schon vor knapp 20 Jahren, dass Spezialisten durch ihr überlegenes Wissen auf einem Engpassgebiet fachlich kaum angreifbar sind und es sich von daher leisten können, ihre verletzliche Drosselgrube offen zu zeigen. Auf dieser Basis sagte er voraus, dass mit zunehmender Differenzierung der am Leistungsprozess beteiligten Bereiche die Spezialisten zunehmen und die Zahl der Krawattenträger zurückgehen würden, was der Entwicklung seither entspricht [27].

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4  Auftritt des Bewerbers und erster Eindruck

Über die verschiedenen Kombinationsmöglichkeiten und Variationen bei Krawattenfarbe und Nadelstreifen können zusätzliche Informationen gesendet werden. So vermittelt beispielsweise ein grauer Anzug mit hellblauen Nadelstreifen Seriosität und Zuverlässigkeit bei gleichzeitiger Freundlichkeit. Die schlanke Taille des Anzugs unterstreicht Dynamik und Agilität. Die Saumlänge, die bis zu den Fingerspitzen reicht, vergrößert den Oberkörper und führt zu primatenartigen Proportionen. Die längeren Ärmel lassen die Arme mächtiger wirken und werden durch den Kontrast der etwas längeren Hemdsärmel zusätzlich betont. Doch leider kann die Wirkung des besten Anzugs durch ein unangemessenes Paar Schuhe untergraben werden. Herrenschuhe Wie man sich oben kleidet, so will man sein, wie man sich unten kleidet, so ist man (Samy Molcho).

Schuhe entwickeln über ihre Farbe, Material, Art der Schnürung, Verzierungen, Absatzform und -höhe, Schafthöhe, harmonische runde, eckige oder aggressiv spitz zulaufende Spitzen, eine dominante breite oder dezente schlanke Form sowie offene oder geschlossene Gestaltung ein breites Charakterspektrum, das verschiedene Informationen über ihren Träger vermittelt. Dabei stellt sich nicht nur die Frage, welchen Schuh sich jemand kauft, sondern auch, inwieweit er in einem Setting wie dem Vorstellungsgespräch zu Experimenten bereit ist und damit auf einer subtilen Ebene bewusste oder unbewusste zusätzliche Botschaften vermitteln möchte. Oxfords  Während im Herrensegment der klassische Oxford (frz. Richelieus) Abb. 4.1 sein diskretes Wesen im Vergleich zum Derby Abb. 4.1 durch die eingelassenen Seitenteile und die sich zum V-Verlauf schließende Schnürung vermittelt, zeigt die Wahl zwischen Plain Oxford und Captoe Oxford durch die trennende Naht zwischen ­Schuhspitze

Abb. 4.1   Oxford, Derby, Loafer, Norweger

4.3  Wirkung von Bekleidung, Accessoires und Make-up

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und dem restlichen Schuhkörper den Wunsch nach Struktur und Trennung. Ob der Oxford leger vierfach oder standardmäßig und kompakt fünffach geschnürt ist, geht mit einer offeneren oder diskreteren Wirkung einher. Mitunter zeigen sich, überwiegend beim Derby, beinahe schon provokant offene Dreifach-Schnürungen und, eher beim Oxford, beherrscht und reserviert wirkende Sechsfach-Schnürungen. Wie sicher ist der Träger? Gesteht er sich Verzierungen in Form eines halben, ganzen oder gar beinahe schon exzentrischen, bis zu den Fersen reichenden Brogue-Musters zu oder verzichtet er auf etwaige Experimente? Monks  Monks und Double Monks vermitteln ein gewisses Maß an Offenheit für Neues, dazu Modebewusstsein und die Bereitschaft, mit Konventionen zu brechen, indem der Schuh mit Schnallen und nicht mit Schnürsenkeln geschlossen wird. Neben dem modischen Aspekt schließt die Schnalle wesentlich schneller, sicherer und gleichzeitig bequemer als ein Schnürsenkel, dazu spielt durch das Metall ein schmückender Status- und Dominanzaspekt in den Auftritt hinein. Während der Monk mit einer Schnalle durchaus geläufig ist, vermittelt der Double Monk mit seinen beiden Schnallen mehr Dominanz und betont die beschriebenen Unterschiede zum klassischen Schuh noch stärker. Dementsprechend finden sich erheblich weniger Träger, die bereit sind, das gesicherte Mittelfeld subtiler Signalsendung zu verlassen und mit Double Monks in die Extrempositionen vorzudringen. Auch bei Monks werden die oben beschriebenen zusätzlichen Signale durch Musterung, etwaige Lochverzierung oder die Quer-Naht unterstrichen. Loafer  Bequemer wird es, wenn zum Loafer (Deutsch: Slipper) Abb. 4.1 gegriffen wird. Durch die Gummihalterung ist man schnell drinnen und auch schnell wieder draußen: aus dem Schuh und womöglich auch aus den Unternehmen und allem, was die Welt sonst noch so bietet. Ich habe bei konservativen Dauertypen, im Sinne der Klassifizierung des Riemann-Thomann-Kreuzes, höchstens im Rahmen eines modischen Experiments oder einer Überkompensation im Privaten als Sommer- und Urlaubsschuh die Wahl des Loafers beobachtet. Aber offene Typen, eigenverantwortlich arbeitende Selbstständige und kreative Typen, die im Marketingbereich mit wechselnden Projekten betraut sind, fühlen sich intuitiv in diesem Modell wohl. Wurde er nicht im englischen Stil rahmengenäht, ist er leicht und biegsam. So unterstützt er im positiven Fall ein flexibles, im negativen Fall jedoch ein flatterhaftes Wesen. Norweger  Der Norweger Abb. 4.1 als ehemaliger Arbeiterschuh wirkt rustikaler, beständiger und widerstandsfähiger, je nach Variante kann er eleganter oder rustikaler ausfallen. Er vermittelt prinzipiell Ausdauer, Zuverlässigkeit, Bodenständigkeit und Belastbarkeit und durch seine Geschlossenheit Diskretion. Seine stabile, in der ursprünglichen Variante zwiegenähte, wasserdichte Machart unterstreicht den Wunsch nach Sicherheit und Beständigkeit.

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4  Auftritt des Bewerbers und erster Eindruck

Damenschuhe Für Frauen ergibt sich in Bezug auf Schuhe im Geschäftsleben eine Gratwanderung. Da Größe ein Dominanzmerkmal darstellt und Männer im Schnitt einige Zentimeter höher gewachsen sind, kann frau mittels ihrer Absätze hier zwar aufschließen, läuft aber Gefahr, dadurch sexuelle Signale in den Kontakt einfließen zu lassen. Durch das ungleichmäßige körperliche Wachstum während der Pubertät signalisieren überproportional lange Beine die eintretende Geschlechtsreife junger Frauen. Hohe Absätze verändern die Proportionen in diese Richtung und senden damit ein starkes biologisches Signal. Durch die Schwerpunktverlagerung, die sich beim Tragen von hohen Absätzen einstellt, werden Brust und Gesäß betont und der Rücken durchgestreckt, sodass sich eine aufrechtere und anmutigere Körperhaltung ergibt. Gleichzeitig nehmen jedoch mit jedem gewonnenen Zentimeter die Standfestigkeit und Stabilität ab. Was im Privaten beim Mann den Beschützerinstinkt hervorruft, kann im Geschäft fragil wirken. Viele Frauen beschreiben das Tragegefühl von High Heels als schmerzhaft. Frauen, die diese häufig und lange tragen, zeigen somit ihre Bereitschaft, zugunsten des Wirkungskalküls die eigene Komfortzone zu verlassen, und darüber hinaus eine starke Ausprägung des Motivs Ansehens. In Folge können ihnen durchaus Ehrgeiz, Disziplin, Selbstkontrolle und eine gewisse Belastbarkeit unterstellt werden. Doch die Absatzhöhe sollte im Business nicht übertrieben werden. Wenn ein einzelnes Stück der Garderobe so heraussticht, dass es die Aufmerksamkeit bindet, lenkt es vom Wesentlichen ab. Das kann im Einzelfall gut gehen, aber in anderen Fällen das Gegenteil bewirken. Givens empfiehlt als gesundes Mittelmaß zwischen hochhackigen Pumps und flachen Halbschuhen eine Absatzhöhe von ungefähr sechs Zentimetern [28]. Laut Business-Knigge sollte auch der Damenfuß bestrumpft sein und keine Haut sehen lassen. Frauenschuhe, die im Business die Zehen zeigen, lassen ebenfalls sexuelle Signale in die Konversation einfließen. Die Füße dagegen in geschlossenen Schuhen zu halten, vermittelt ein modisch formelles und seriöses Bild mit dem unausgesprochenen Appell, die Trägerin ernst zu nehmen und im Geschäftsleben genderneutral zu behandeln. Socken und Strümpfe Prinzipiell sollte die Farbe der Socken jener der Schuhe entsprechen. Für modebewusste Männer stellt der Bruch dieser im Vergleich zur restlichen Business-Etikette relativ schwachen Konvention eine subtile, weil nur selten bemerkte, Möglichkeit dar, ein modisches Element zu platzieren und einen Hauch von unkonventionellem Auftreten und Rebellentum aufblitzen zu lassen. Werden statt schwarzer Socken also blaue oder grüne getragen, statt hellbrauner Socken orange oder rote, eröffnen sich im Vergleich zu tadelloser und unangreifbarer Businessetikette zusätzliche Interpretationsmöglichkeiten. Wie oben beschrieben, lassen sich durchaus Rückschlüsse daraus ziehen, ob sich jemand verschiedene Kleidungsstücke kauft und im Alltag trägt oder ob er sie auch in einer Situation wie dem Bewerbungsgespräch wählt. Das eine muss nicht gut und das andere nicht schlecht sein, es muss lediglich zum Charakter der zu besetzenden Stelle passen.

4.3  Wirkung von Bekleidung, Accessoires und Make-up

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Accessoires Die bisherigen Elemente der Business-Garderobe werden durch verschiedene Accessoires wie Gürtel, Uhr, Brille und Schmuck vervollständigt. Gürtel  Nicht umsonst stellt die Gürtelhöhe im Volksmund eine Trennlinie dar. Welche Signale vermittelt diese Trennlinie zwischen „alles in Ordnung“ und „geht ja gar nicht“? Will man der klassischen Etikette gerecht werden, dann sollte die Farbe des Gürtels der Farbe der Schuhe entsprechen und beim Material Leder vorherrschen, doch dann beginnen die Variationsmöglichkeiten. Handelt es sich um einen unbehandelten, geflochtenen, gefütterten, geprägten oder mit Nieten besetzten Gürtel, hat er keine Naht, eine einfach oder doppelt gesteppte Naht, wird durch die Farbe der Naht ein zusätzlicher Kontrast gesetzt? Auch die Wahl der Gürtelschnalle scheint wie eine Welt für sich und wirkt. Angesichts ihres neuen Geschäftsführers kommentierte eine Führungskraft des unteren Managements mir gegenüber nach dessen erstem Auftritt: „Als ich seine (überproportional große) Gürtelschnalle gesehen habe, war mir alles klar.“ Tatsächlich entpuppte sich der neue Chef als Führungskraft, die teilweise in Cowboy-Manier umherpolterte und für die ein oder andere Irritation sorgte.

Neben Material und Farbe der Gürtelschnalle können ihre Größe, prunkvolle Verzierungen und gar doppelte Haltestege die Blicke der Mitmenschen in diese Region ziehen und entsprechend Dominanz- und Statussignale vermitteln. Die beschriebenen einzelnen Elemente des Gürtels und anderer Accessoires können hinsichtlich der drei grundlegenden Wahrnehmungsdimensionen Sicherheit/Balance, Stimulanz und Dominanz [29] interpretiert und ins Verhältnis zum Charakter der zu besetzenden Position gesetzt werden. Uhr  In Zeiten von Smartphones und Uhren am PC und der damit beinahe ständigen Verfügbarkeit der genauen Uhrzeit könnten wir eigentlich auf die Uhr am Handgelenk verzichten. Wird sie dennoch getragen, zeigt der Träger, dass er die Zeit achtet und ihm Pünktlichkeit wichtig ist. Einem solchen Bewerber dürfte eine höhere Termintreue zugestanden werden als einem anderen, der an der gleichen Stelle ein Lederarmband oder Festivalbändchen trägt. Werden Uhr und Smartphone in Form einer IWatch verbunden, zeigt sich das Bedürfnis nach Verbundenheit mit dem Netzwerk und Trendbewusstsein. Ob auch die Fähigkeit zur strikten Abgrenzung vorhanden ist, um sich in kritischen Situationen nachhaltig auf einen einzigen Inhalt zu konzentrieren, könnte jedoch hinterfragt werden. Wird eine analoge oder eine digitale Uhr getragen oder ein extravagantes Modell, das die Uhrzeit im Binärsystem oder Ähnlichem anzeigt? Auch ob ein Leder- oder Metallarmband getragen wird und welche Art von Verschluss gewählt wird, kann beachtet werden. In den Jahren der Teenagerzeit und der jungen Erwachsenenphase wird oft noch mit Materialien wie Kunststoff, einer digitalen Anzeige und technischen Gadgets experimentiert, in den Zwanzigern und Dreißigern wird die Uhr größer und sportlicher und der Griff wandert zum Chronografen. Das Kunststoffarmband und die bunten Farben werden durch

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4  Auftritt des Bewerbers und erster Eindruck

robustes Metall ersetzt und auch der Verschluss wird stabiler und technischer. Mit steigender Reife, Einkommen und Status wird der Träger gesetzter und mit ihm auch seine Uhr: Klassisch ist die schlichte analoge Uhr mit Lederarmband und schlichter Verschlussschnalle oder der hochwertige Chronograf. Schließlich geben die Art und das Modell der Uhr Aufschluss über das Werteempfinden und die Klassenzugehörigkeit. Interessant wird es, wenn der Träger ein unorthodoxes Modell trägt, das weder zu seiner Peergroup noch zu den Gepflogenheiten der Stelle und Branche passt. Dieses kann sogar als AnspracheElement dienen. Weiteren Interpretationsspielraum eröffnet, ob die Uhr am linken oder rechten Handgelenk getragen wird. Während die Uhr klassisch links getragen wird, beobachtet man vor allem bei jüngeren Menschen die Gewohnheit, mal etwas anderes zu versuchen und die Uhr rechts zu tragen. Da sich die meisten jedoch im Laufe der Zeit den sozialen Gepflogenheiten und impliziten Erwartungen der Gesellschaft anpassen, kann die rechts getragene Uhr die Bereitschaft signalisieren, Konventionen zu hinterfragen, oder im Wunsch nach Aufmerksamkeit und Abgrenzung begründet sein. Brille  Verschiedene Studien zeigten, dass Menschen im Geschäftsleben mit Brille als intelligenter, besser gebildet, sicherer, konservativer und zuverlässiger beurteilt wurden als ohne Brille. Dabei wurde Brillenträgern ein durchschnittlich um 14 Punkte höherer IQ unterstellt als Nichtbrillenträgern [31]. Je schwerer dabei der Rahmen ausfiel, desto ausgeprägter wurden die Eigenschaften beurteilt. Während dickere Rahmen im Geschäftsleben tendenziell als seriöser und dominanter beurteilt wurden, wirkten rahmenlose Brillen modebewusster und freundlicher. Ein weiterer Effekt zeigte sich bei weiblichen Brillenträgern, die zusätzlich Make-up auftrugen. Diese wurden als selbstsicherer, intelligenter, kultivierter und aufgeschlossener beurteilt als Frauen mit Brille, aber ohne Make-up. Diese wirkten wiederum positiver als Frauen ohne Brille, aber mit Make-up. Am Ende der Beurteilungsskala landeten weibliche Probanden, die weder Brille noch Make-up trugen. Interessanterweise waren sich Männer über das getragene Make-up zu 50 % nicht bewusst, während alle weiblichen Beobachter es registrierten und mitunter negativ reagierten [32]. Sowohl für männliche als auch für weibliche Recruiter stellt dieses Feld also eine potenzielle Quelle für Beurteilungsfehler dar, auf die geachtet werden sollte. Kontaktlinsen sind zwar streng genommen kein Accessoire, bergen aber eine w ­ eitere Quelle für Fehlurteile. Da sie den Blick weicher und sinnlicher machen [30], können Männer unbewusst weniger durchsetzungsstark wirken und Frauen ihre Weiblichkeit stärker betonen als beabsichtigt. Schmuck  Eine vertiefende Betrachtung des Themas Schmuck würde den Rahmen dieser Ausführungen sprengen, eine interessante Unterscheidung lässt sich sicherlich zwischen echtem Schmuck und Modeschmuck vornehmen, zwischen religiösen Insignien und Steinen und zwischen für die Stelle und Peergroup passendem, unauffälligem Schmuck und einem Schmuckstück, das ins Auge springt und einem ausgewogenen harmonischen Eindruck entgegenwirkt. Klassisch sind drei Schmuckstücke für den Herrn:

4.4  Verhältnis zum Raum

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die Uhr, ein Ring und eine Krawattennadel, Manschettenknöpfe oder eine Kette. Interessant wird es bei mehreren Ringen und wenn diese nicht am Ringfinger getragen werden. Wie in Kap. 11 zur Gestik noch beschrieben wird, werden den einzelnen Fingern spezifische Bedeutungen und Werte zugeschrieben, die durch Ringe betont werden.

4.4 Verhältnis zum Raum Neben den beschriebenen statischen Faktoren prägen dynamische Faktoren unseren ersten Eindruck, sobald wir uns bewegen. Bei Auswahlgesprächen für neue Rollen empfing der berühmte französische Regisseur Jean Pierre Melville, hinter einem großen Tisch sitzend, die sich bewerbenden Schauspieler. Der Clou war der Standort des Tisches. Dieser stand am Ende einer leeren Fabrikhalle, die Melville extra für die Castings angemietet hatte. Um zu ihm zu gelangen, mussten die Bewerber unter den kritischen Blicken von Melville durch den gesamten Raum gehen. Dort angekommen wurde so mancher Bewerber direkt wieder verabschiedet, während spätere Weltstars wie Jean-Paul Belmondo und Alain Delon diesen Test mit Bravour bestanden [33].

Unser Verhältnis zum Raum spiegelt unsere innere Haltung wider und führt zu charakteristischen Bewegungsabläufen. Ändern wir unser Verhältnis zum Raum, wirkt sich dies direkt auf unser nonverbales Verhalten aus und verändert den Eindruck, den wir bei anderen hinterlassen. Die folgende Übung erhöht das Bewusstsein für das Verhältnis zum Raum. 

Übung: Bewusstes Verhältnis zum Raum entwickeln Gehen Sie in verschiedene Räume und nehmen Sie bewusst wahr, wie sich diese auf Sie auswirken. Stellen Sie sich beispielsweise auf eine leere Theaterbühne, in eine Besenkammer, in die Mitte eines Fußballfeldes, in ein kleines Holzhäuschen, auf die Zinnen eines Burgturmes, die Dachterrasse eines Hochhauses oder hinter dem Altar einer großen Kirche. Nehmen Sie dabei den Raum um Sie herum wahr und die Gefühle, die sich angesichts der Örtlichkeit auf Sie ergeben. Die starke Wirkung wird Sie wahrscheinlich wie von selbst zu der Frage führen, wie es wohl so wäre, als Schauspieler, Fußballer, Burgherr oder Priester dort zu stehen. Stellen Sie sich in einem zweiten Schritt genau das vor und spüren Sie, wie sich Ihr Gefühl, Ihre Einstellung und dann Ihre Haltung, Atmung, Ausstrahlung und die Art, wie Sie sich bewegen, verändern.

Das gewonnene Verständnis hilft sowohl bei der Beurteilung des Bewerbers als in Bezug auf die Ausübung der eigenen Rolle. In Kap. 5 zum Status werden die Ausdrücke Hochstatus und Tiefstatus ausführlich vertieft. Sie seien jedoch schon an dieser Stelle eingeführt, denn sie bestimmen maßgeblich, wie wir uns im Raum fühlen und bewegen. Der Gast tritt auf unbekanntem Terrain im Tiefstatus auf und bewegt sich eher vorsichtig und

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4  Auftritt des Bewerbers und erster Eindruck

zurückhaltend. Der Gastgeber kennt dagegen die Räumlichkeiten und tritt im Hochstatus selbstbewusster, bestimmender und fordernder auf. Infolgedessen wird der Gast eine Tür eher zurückhaltend öffnen, im Türrahmen stehen bleiben und auf die Aufforderung zum Eintritt warten, während der Gastgeber selbstverständlich und zügig die Türe öffnet und direkt eintritt. Während Ersterer mit zögernden, kleinen Schritten den Raum betritt und an den Randbezirken den Schutz der Wände bevorzugt, geht Letzterer mit dynamischen, großen Schritten auch durch die Mitte des Raumes. Während der Gast im Tiefstatus respektvollen Abstand zu anderen hält, tritt der Gastgeber im Hochstatus näher an seine Mitmenschen heran. Wichtig für einen stimmigen Auftritt ist, dass unser Verhältnis zum Raum zu unserer Rolle passt [34]: Mit steigender Lebenserfahrung, Routine im Bewerbungsprozess oder wachsender Nachfrage nach seiner Person in Form verschiedener Angebote verändert sich der Auftritt eines Bewerbers. Für Recruiter droht die Gefahr, übermäßig selbstbewusste Bewerber als zu dominant und invasiv wahrzunehmen und dadurch ablehnend zu reagieren, während zurückhaltende Bewerber zwar ihre Gastrolle treffender ausfüllen und Sympathie gewinnen, deshalb aber noch lange nicht der erhoffte Leistungsträger sein müssen. Ebenso wird ein Bewerber, der gerade sein erstes Gespräch seit langer Zeit bestreitet, schwächer wirken als ein Bewerber, der über viel Erfahrung im entsprechenden Setting verfügt, wobei dessen Auftritt aus dem positiven oder negativen Feedback der letzten Gespräche beeinflusst wird. Aufschlussreich ist auch der Vergleich zwischen dem Auftritt eines Bewerbers in der ersten und der zweiten Runde, wenn er die Räumlichkeiten mittlerweile etwas kennengelernt hat.

4.5 Spannungsgrad der Bewegungen Der Schauspieler und Speaker Lutz Herkenrath beschreibt Entspannung als eine grundlegende Voraussetzung für einen gewinnenden Auftritt [35]. Treten wir in Kontakt mit einem Gesprächspartner, der über das für die Situation zu erwartende Maß hinaus angespannt ist, reagiert unser limbisches System. Möglicherweise droht ja eine Gefahr, die uns bislang entgangen ist oder verheimlicht werden soll. Der Stresszustand überträgt sich, wir fühlen uns unwohl und tendieren dazu, uns zurückzuziehen. Wir beurteilen Männer und Frauen hinsichtlich des Spannungsgrades unterschiedlich. Während Männer souveräner wirken, wenn sie leicht entspannt sind, wirken Frauen positiver, wenn sie eine leichte Spannung mitbringen [36]. Alexander Lowen beschreibt die Durchlässigkeit der Gelenke als elementare Größe für den Energiefluss im Körper: Blockierte Gelenke wie durchgestreckte Knie zeugen von Angst und dem Versuch, sich durch die Blockade zu schützen [37]. Die Blockaden schränken jedoch sowohl die situative Flexibilität als auch die Empathie ein. Um sich in den Gesprächspartner hineinzuversetzen und die Informationen, die uns seine Bewegungen vermitteln, nachvollziehen zu können, bedarf es einer entsprechenden Aufnahmebereitschaft. Dabei bildet der Grad der eigenen Beweglichkeit die Grenze,

4.5  Spannungsgrad der Bewegungen

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bis zu der diese Informationen nachvollzogen werden können: Da Kontraktion den Informationsfluss erschwert, kann ein verkrampfter Körper diese nicht oder nur eingeschränkt nachvollziehen. Unsichere Bewerber verkrampfen im Versuch, nichts von sich preiszugeben. Anstatt durch Beweglichkeit offen für eine Lösung zu sein, staut sich die Energie im Körper und führt zu Denkblockaden und stereotypen Antworten. So kann der Bewerber allerdings keine tiefere Beziehung zum Recruiter aufbauen und diesen nicht für sich gewinnen: Druck, Angst und Verkrampfung steigen, der Recruiter wird vorsichtiger und es entsteht ein Teufelskreis. Nehmen Recruiter die Verspannung unsicherer Bewerber bewusst wahr, können sie dadurch, dass sie sich selbst bewusst entspannen, diese beim Einstieg in das Gespräch unterstützen. Die Fokussierung auf eine eigene ruhige Atmung beruhigt, gibt auch dem Gegenüber Raum und hilft ihm, Sicherheit zu gewinnen und sich zu entspannen. Neben der Unterscheidung zwischen rhythmischen und fließenden Bewegungen einerseits und hakeligen und getakteten Bewegungen andererseits, zeigen die Halspartie, eine flachere Atmung sowie verkrampfte Hand- und Fingerhaltungen direkt Anspannung und Stress. Auch die Natürlichkeit des Lächelns zeigt die Anspannung, wenn zwar mit dem Mund gelächelt und die Zähne gezeigt werden, jedoch die Augen nicht mitlächeln. Um mit dem Gegenüber in Kontakt zu treten und zu einem gemeinsamen Ziel zu gelangen, sind ein gemeinsamer Rhythmus und gemeinsamer Spannungsgrad erforderlich. Je harmonischer diese ausfallen, desto besser können Informationen prinzipiell übermittelt werden. Dabei können durchaus auf der Sachebene Unstimmigkeiten über den Inhalt auftreten, aber die grundlegende Übereinstimmung auf der nonverbalen Ebene gewährleistet, dass Informationen überhaupt beim Gegenüber wie beabsichtigt und möglichst unverfälscht ankommen. Wer bewusst registriert, wo sich der andere befindet, kann diesen abholen und behutsam weiterführen. Das Thema Rhythmus wird in Kap. 7 zur Bewegung vertieft. Der amerikanische Körperspracheexperte Marc Bowden unterscheidet zwischen acht verschiedenen Spannungszuständen [38]. Von diesen bildet die vierte Stufe den optimalen Ausgangspunkt, um die Situation optimal wahrzunehmen und sich flexibel auf den Spannungsgrad des Bewerbers einstellen zu können. Körperspannung: Zustände nach Bowden

1. No tension – erschöpft, schlaff 2. Relaxed – cool, bequem 3. Neutral – ökonomisch, roboterhaft 4. Deliberate – achtsam, managend, einfach so sein 5. Alert – wach, alarmiert, neugierig, forschend – > „Ist da eine Bombe?“ 6. Agitated – aufgeregt, ausweichend, fahrig – > „Da ist eine Bombe!!“ 7. Entranced – verzückt – „In Love with the bomb“ 8. Total Tension – schockiert – „Die Bombe ist explodiert!“

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4  Auftritt des Bewerbers und erster Eindruck

4.6 Den eigenen ersten Eindruck optimieren Kommunikation ist Wirkung und nicht Absicht (Dr. Wolfgang Linker).

Bei allen Vorteilen, die es bringt, sich gegen eigene Wahrnehmungsfehler und eine vorschnelle undifferenzierte Beurteilung des Gegenübers zu wappnen, braucht es doch immer zwei zum Tango. Was hilft es, selbst zu versuchen, den verführerischen Wirkungen des ersten Eindrucks zu widerstehen, wenn der Bewerber sich unbewusst den verschiedensten Beurteilungsfehlern hingibt? Betriebe und Recruiter, die den ersten Eindruck, den sie abgeben, optimieren, können also gegenüber dem Wettbewerb einen signifikanten Vorteil erlangen. Während ein schlechter erster Eindruck die Kommunikation auf die falsche Bahn führen kann, stehen die Ampeln auf Grün, wenn dieser gelingt. Für einen stimmigen Eindruck müssen die oben beschriebenen Parameter zum Recruiter, zu Betrieb und Branche, zur zu besetzenden Stelle und der Lage am Arbeitsmarkt passen. Es ist Aufgabe des Recruiters, die Einzelheiten zu kombinieren, um Vertrauen zu wecken und nicht durch Dominanz zu verschrecken. Um das Recruiting nachhaltig zu optimieren, sollte der Rahmen jedoch noch weiter gefasst werden. Image als Arbeitgeber, der mediale Ruf Der erste Eindruck entwickelt sich heute im Vergleich zu früher wesentlich vielschichtiger: Wer sich daran erinnert, mit welcher Vorbereitung er vor 20 Jahren in den Urlaub geflogen ist und wie er sich heute im Vorfeld bei Bewertungsplattformen ein Bild über die möglichen Hotels macht, erhält eine Vorstellung darüber, wie begehrte High Potentials der Generation Y bei der Stellensuche vorgehen. Sie sind bestens vernetzt und nehmen ihre Netzwerke von Position zu Position mit. Bevor sie sich bewerben, informieren sie sich auf Arbeitgeberbewertungsplattformen wie Kununu oder Glassdoor, aber mitunter auch bei direkten oder indirekten Kontakten, die aktuell oder zuletzt bei einem potenziellen Arbeitgeber gearbeitet haben. Der Appell an Professionalität bis zum letzten Arbeitstag und daran, keine verbrannte Erde bei scheidenden Mitarbeitern zu hinterlassen, kann in diesem Zusammenhang nicht stark genug betont werden. In Xing lassen sich über eine erweiterte Suche einfach aktuelle und frühere Mitarbeiter der Betriebe finden und nach ihren Erfahrungen fragen. Jene, von denen man sich im Streit getrennt hat, kommunizieren dies auf informellen Kanälen anderen potenziellen Bewerbern. Der erste Eindruck zählt, der letzte bleibt. Die Psychologie beschreibt die starke Wirkung des letzten Eindrucks als Recency-Effekt. Mitarbeitern zum Ende der Beschäftigung keine Steine in den Weg zu legen und dafür beispielsweise in Outplacement-Maßnahmen zu investieren, sind vergleichsweise preiswerte Investitionen, die Konzerne seit Jahren einsetzen, um zu verhindern, dass ihr Image angekratzt wird. Ein weiterer Effekt ist im Vertrieb schon lange bekannt. Dort herrscht die Faustregel, dass sich nur jeder siebte unzufriedene Kunde beschwert, aber jeder der unzufriedenen Kunden sieben Menschen aus seinem Umfeld von einem negativen Erlebnis berichtet.

4.6  Den eigenen ersten Eindruck optimieren

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Sichtbar wird also nur die Spitze des Eisberges. Es kann also davon ausgegangen werden, dass hinter einem negativen Feedback, das uns erreicht, circa 50 Menschen stehen, die davon beeinflusst werden. Natürlich gibt es Konstellationen, bei denen es einfach nicht passt: Konflikte in Krisenzeiten oder Personalien, die man dem ärgsten Konkurrenten nicht wünscht, sind Realität. Hat man sich jedoch im Schlechten getrennt, kann das gerade bei kleinsten und kleinen Unternehmen gravierende Folgen haben, wenn die negative Bewertung eines ausgeschiedenen Mitarbeiters nicht durch positive Meinungen der noch im Betrieb arbeiteten Mitarbeiter ausgeglichen wird. Gerade in kleinen Unternehmen, in denen ein familiäres Klima herrscht, die Mitarbeiter zufrieden sind und nicht an einen Wechsel denken, beschäftigen sich diese, aus eben diesem Grund, auch nicht mit Arbeitgeberbewertungsplattformen. So können ein bis zwei negative Bewertungen das Image beschädigen und potenzielle neue Kandidaten von einer Bewerbung abhalten, obwohl 25 Mitarbeiter seit Jahren zufrieden im Betrieb arbeiten, dies aber nicht kommunizieren. 

Den eigenen medialen Ruf verbessern Betriebe, in denen ein positives Arbeitsklima herrscht, können mit ihren Mitarbeitern die Kriterien, anhand derer in Kununu Arbeitgeber bewertet werden, besprechen und eruieren, ob es realisierbares Verbesserungspotenzial gibt. Wurde dieses gefunden und vom Unternehmer umgesetzt, kann der Arbeitgeber seine Mitarbeiter bitten, eine Bewertung auf Kununu abzugeben und dadurch ein Gegengewicht zu etwaigen schlechten Bewertungen zu schaffen.

Der erste Eindruck des Betriebs: Betriebsgelände und Betriebsgebäude Wie der Volksmund passend feststellt, gibt es keine zweite Chance für den ersten Eindruck. Negatives beeinflusst uns dabei stärker als neutrale oder positive Aspekte. Mit den Jahren wird man betriebsblind, ein Bewerber, der das Betriebsgelände jedoch das erste Mal betritt, fühlt automatisch in sich hinein und fragt sich, wie es wäre, fortan täglich hierher zu kommen. Der eigene Arbeitgeber trägt zur Identitätsbildung bei und beeinflusst den Status im sozialen Umfeld. Ein neuer Bewerber vergleicht unbewusst das Bild, das sich ihm beim Betreten eines Betriebs eröffnet, mit dem Image der Arbeitgeber seines sozialen Umfelds. Bewerber, die sich aus bestehenden Arbeitsverhältnissen heraus bewerben oder denen mehrere Angebote vorliegen, haben damit die unteren vier Hierarchieebenen der Maslowschen Bedürfnispyramide befriedigt, die fünfte Stufe beschreibt das Bedürfnis nach Ästhetik. Fühlen sie sich beim Betreten des Geländes nicht wohl, beeinflusst dies die Motivation und Zusagebereitschaft der Bewerber: Auf dem Weg zum optimalen ersten Eindruck stellen also der Zustand des Betriebsgebäudes und -geländes kritische Faktoren dar. Das gilt auch für Produktionsbetriebe mit wenig Publikumsverkehr. Den ersten Eindruck des Recruiters optimieren Der erste Eindruck findet auf mehreren Ebenen statt, zunächst im latent unbewussten Bereich der Vorstellung des Bewerbers. Je mehr positive Informationen er im Vorfeld

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4  Auftritt des Bewerbers und erster Eindruck

hat, umso besser und stärker wird das Bild, das sich in seinem Kopf formt, und umso entspannter kommt er zum Gespräch. Von Vorteil ist es, wenn der Bewerber auf der Website einen ersten Eindruck vom Team erhalten kann. Neben den üblichen Bildern und Namen auf der Firmenwebsite kann überlegt werden, kurze Videos über die neuen Kollegen und die am Recruiting beteiligten Mitarbeiter zu drehen. Dort können diese nicht nur optimal in Szene gesetzt werden und so der erste Eindruck der optischen und akustischen Ebene dauerhaft optimiert werden, dies wirkt zugleich offener und zeigt den Vertrauensvorschuss gegenüber neuen Kollegen. Das bewegte Bild bietet weniger Möglichkeiten zur Nachbearbeitung als einzelne Porträts. Um im Video einen vitalen, gewinnenden ersten Eindruck zu hinterlassen, kann jedoch im Vorfeld etwas getan werden, um frischer und attraktiver zu wirken. Beispielsweise kann man am Tag vor dem Dreh ab dem späten Nachmittag nichts mehr essen, nach zwölfstündigem Fasten schüttet unser Körper vermehrt das Human-Growth-Hormon aus, was uns schon am nächsten Morgen etwas frischer aussehen lässt [39]. Neben ausreichend Schlaf ist von Alkohol am Vorabend abzuraten, und um frisch und dynamisch zu wirken, sollte eine Tageszeit für den Dreh gewählt werden, die dies unterstützt, in der Regel vormittags zwischen 9:00 und 11:00 Uhr. Ebenso kann auf das Wetter geachtet werden: Schlechtes Wetter trübt die Laune. Da die Videos längere Zeit den Außenauftritt des Betriebs prägen, lohnt es sich, den Dreh auf einen Tag mit schönem Wetter zu verschieben. Der Gedanke an ein Video mag zunächst in Verbindung mit dem Gedanken an Kamerateams und Regisseure abschrecken. Unabhängig davon, dass sich dieses Format derzeit zum State of the Art entwickelt, in der medialen Reizüberflutung weiterhin Aufmerksamkeit erhält und wirkungsvoll Nähe zum Bewerber schafft, lassen sich passende Videos mittlerweile mit Apps wie Power Director auf dem Smartphone selbst drehen und schneiden. Neben Online-Tutorials vermitteln verschiedene Seminaranbieter den Umgang mit den Softwares und die Grundzüge des Storytellings. Sowohl medial als auch beim ersten persönlichen Kontakt kann der erste Eindruck über die verschiedensten, oben beschriebenen Stellschrauben beeinflusst werden. Neben einer offenen, aufrechten Haltung spielen die Kleidung, Sauberkeit, Pünktlichkeit und klassischen Business-Knigge-Aspekte zentrale Rollen. Ein offenes und freundliches Lächeln sowie eine zugeneigte Kopfhaltung unterstreichen eine kooperative Einstellung. Irenäus Eibl-Eibesfeldt beschrieb den kulturübergreifend auftretenden Augengruß, der in Kap. 10 zur Mimik vertieft wird: Wenn wir jemanden begrüßen, demgegenüber wir positiv eingestellt sind, ziehen wir dabei kurz die Augenbrauen nach oben und kommunizieren unsere positive Einstellung. Dieses Signal fehlt, wenn der andere neutral oder gar mit zusammengekniffenen Augenbrauen empfangen wird. Was wir zuvor erlebt haben, beeinflusst uns. Hat man vor dem Kontakt kritisch mit den Kollegen diskutiert oder sich über allzu negative Inhalte ausgetauscht, schwingen die negativen Gesichtsausdrücke wie ein Echo auf dem Gesicht nach. Vor der Begrüßung sollten sich die am Gespräch Beteiligten also idealerweise mit positiven Inhalten beschäftigen. Das erleichtert ein natürliches Lächeln und eine freundliche Mimik.

4.6  Den eigenen ersten Eindruck optimieren

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Ein natürliches „Duchenne-Lächeln“ zeichnet sich durch eine aktivierte Augenringmuskulatur aus, wodurch sich leichte Krähenfüße um die Augen bilden und die Augendeckfalte, der Bereich zwischen Oberlid und Augenbraue, leicht absenkt [40]. Diese Muskelgruppe ist im Gegensatz zu jenen Muskeln, mit denen ein soziales Höflichkeitslächeln ausgelöst wird, nur schwer willentlich aktivierbar. Ein offenes und ehrliches Lächeln kann aber durch die Visualisierung innerer Bilder im Vorfeld ausgelöst werden: Wer mit den Kollegen noch etwas rumflachst und sich an lustige Geschichten oder schöne Situationen erinnert, dem fällt es leichter, authentisch zu lächeln. Etwas mehr Aufwand bedeutet es, sich einen Anker für ein positives Gefühl einzurichten, dafür kann dieser später mühelos und direkt abgerufen werden. 

Übung: Kraftanker einrichten für einen positiven ersten Eindruck Bei seinen klassischen Konditionierungsexperimenten läutete Pawlow ein Glöckchen, während er seine Hunde fütterte, was deren Speichelproduktion anregte. Später sabberten sie auch, wenn nur das Glöckchen geläutet wurde, aber kein Fressen weit und breit vorhanden war. Anker können auch bei Menschen gesetzt werden [41], um beispielsweise den ersten Eindruck zu optimieren. Suchen Sie sich zunächst ein Lied, bei dem Sie die von Ihnen für Ihren ersten Eindruck gewünschten Gefühle empfinden, idealerweise sollten diese einen positiven, offenen, kooperativen und freudvollen Charakter haben. Schaffen Sie einen Rahmen ohne Ablenkungen, hören Sie dieses Lied und geben Sie sich ganz dem entstehenden Gefühl hin. Wenn das Gefühl am stärksten ist, in der Regel beim Refrain, drücken Sie kräftig Daumen und Zeigefinger der linken Hand zusammen und halten diese für einige Sekunden gedrückt. Natürlich funktionieren auch andere Druckpunkte, aber dieser lässt sich später einfach und unauffällig aktivieren. Dieses Vorgehen sollte während des Liedes zwei- bis dreimal wiederholt werden. Hören Sie das Lied während einer Woche täglich öfter an und wiederholen Sie das beschriebene Vorgehen. Am Ende der Woche haben Sie einen Kraftanker eingerichtet, den Sie zukünftig vor wichtigen Situationen nutzen können, um positive Gefühle zu aktivieren und Ihren ersten Eindruck zu verbessern.



Mit Power-Posen den ersten Eindruck optimieren Wer sich an die Wirkungen der Power-Posen erinnert, wird feststellen, dass die Eigenschaften, die den Bewerbern zugeschrieben wurden, nachdem sie zwei Minuten eine Power-Pose eingenommen hatten, allesamt auch die kritischen Elemente des ersten Eindrucks beeinflussen: Vertrauenswürdigkeit, Authentizität, Entspanntheit, Leidenschaft und Enthusiasmus bedienen die oben beschriebenen vier G-L-A-S-Kriterien, Glaubwürdigkeit, Liebenswürdigkeit, Attraktivität und Stärke. Vor wichtigen Gesprächen selbst eine Power-Pose einzunehmen hilft Ihnen, das Hormonniveau im eigenen Körper auf die wichtige kommende Situation und den gewünschten Eindruck anzupassen und

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4  Auftritt des Bewerbers und erster Eindruck

die eigene Wirkung zu verbessern. Die Wirkung nach einer zweiminütigen Pose ist auch nach 15 min noch nachweisbar [42]. Wenn Sie es weniger auffällig mögen, können Sie sich auch zwei Minuten lang intensiv vorstellen, eine Power-Pose einzunehmen [43]. Betrachten Sie während einer Power-Pose Fotos von Gesichtern, strahlen Sie danach positivere soziale Eigenschaften aus.

Weitere wichtige Aspekte stellen das persönliche Mindset und die Einstellung zum Gespräch dar. Mangelnde Klarheit ist die Ursache der meisten Kommunikationsstörungen [44], das betrifft auch den ersten Eindruck. Wer nicht weiß, wo er steht und was ihm wichtig ist, keine klare Vorstellung über seine Rolle und die an ihr hängenden Erwartungsbündel hat, wer die Erfordernisse der Situation unrealistisch einschätzt und nicht weiß, welches Ziel angestrebt wird und wo er selbst sich in diesem Geflecht befindet, wird verschiedene gegenläufige Signale senden und an Kongruenz einbüßen. Mehrdeutige Kommunikation infolge mangelnder Klarheit führt beim Gegenüber zu Spekulationen und Beurteilungsfehlern wie Übertragung und Projektion, Stereotypenbildung und Verwendung von Vorurteilen. Wer also nicht genau weiß, welchen ersten Eindruck er erwecken und hinterlassen will, darf sich nicht wundern, wenn er anders „rüberkommt“, als er es „eigentlich“ wollte. Hilfreich ist, dies für sich im Vorfeld zu klären, einen griffigen Subtext zu formulieren und diesen vor dem eigenen geistigen Auge zu halten oder im Stillen zu formulieren, bevor man in eine Situation geht. Ergänzend kann ein Prototyp, der Vertrauenswürdigkeit verkörpert, gesucht und analysiert werden: Wer wirkt auf mich überaus vertrauenswürdig – und warum? Wie ist sein nonverbales Verhalten, welche Signale fallen mir positiv auf? Wenn wir uns in den Prototypen hineingefunden haben, können wir uns vorstellen, wie er in die Situation zu gehen. Wie beschrieben, haben sich unsere Sehgewohnheiten und Wahrnehmungsfähigkeiten durch den Einfluss des Fernsehers verändert. Intuitiv achten wir auf Kongruenz und entlarven, ob bewusst oder unterbewusst, oberflächliche Tricks. Wer mehr mit dem „wirken wollen“ als mit dem „so sein“ beschäftigt ist, verliert seine Authentizität. Sich wohlzufühlen in seiner Haut stellt die Grundlage für einen gewinnenden Auftritt dar, wer sich unwohl fühlt, untergräbt diesen. In Kap. 6 zur Haltung werden einige Anleitungen für eine anatomisch optimale Haltung beschrieben, die einen positiven Auftritt unterstützt. Wichtig ist dort wie hier die Abgrenzung von Gewohnheit, Wohlgefühl und Unwohlsein. Hat man sich durch lebenslange Gewohnheiten ein ungünstiges Verhalten angewöhnt, fühlt sich dieses zwar aktuell vertraut an, sollte jedoch nicht mit „sich wohlfühlen in seiner Haut“ verwechselt werden. Durch die fehlenden Vergleichspunkte können wir schädliche Einflüsse nicht erkennen. Das veränderte Gefühl, das uns zunächst auf dem Weg zu einer positiveren Haltung begegnet, sollte von daher nicht aufgrund seiner Neuartigkeit mit Unwohlsein verwechselt werden. Um neue Gewohnheiten zu entwickeln, muss zunächst eine Phase der Instabilität durchschritten werden [45].

Literatur

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4.7 Fazit: Bewerberauftritt und erster Eindruck Der erste Eindruck entsteht innerhalb von Sekundenbruchteilen, wirkt noch ein halbes Jahr nach und beeinflusst unsere weitere Wahrnehmung und Informationsverarbeitung. Neben den verschiedenen Beurteilungsfehlern lassen wir uns maßgeblich von den Faktoren Glaubwürdigkeit, Liebenswürdigkeit, Attraktivität und Stärke beeinflussen. Nonverbal beeinflussen Haltung, Gang, die Art, sich zu bewegen, und Kleidung den ersten Eindruck stärker als Mimik und Gestik. Der erste Eindruck findet auf den verschiedensten Ebenen statt und kann aktiv beeinflusst werden, ohne an Authentizität zu verlieren. Um den ersten Eindruck des Betriebs auch medial zu optimieren, sollte der Bezugsrahmen um das Rating auf Arbeitgeberbewertungsplattformen erweitert werden. Vor dem Gespräch gibt es verschiedene Techniken und Übungen, um seinen Auftritt und damit den ersten Eindruck, den der Recruiter auf den Bewerber macht, zu verbessern.

Literatur 1. Patti Wood: SNAP, S. 208; New World Library, Novato, 2012 2. Wolfgang Krupp, öffentlicher Vortrag an der DHBW Lörrach, September 2009 3. Patti Wood: SNAP, S. 11; New World Library, Novato, 2012 4. https://www.uni-muenster.de/Psychodiagnostik/public/P.M.%20Perspektive.pdf Aufgerufen am 06.09.2018 5. Alexander Todorov: Face Value, S. 43; Princeton University Press, Princeton, 2017 6. Monika Matschnig: Körpersprache, S. 11; Gräfe und Unzer Verlag, München, 2010 7. Patti Wood, SNAP, S. 18/19; New World Library, Novato, 2012 8. Alexander Todorov: Face Value, S. 51; Princeton University Press, Princeton, 2017 9. Daniel Kahneman: Schnelles Denken, langsames Denken, S. 112–116; Siedler Verlag, München, 2012 10. https://www.heise.de/tp/features/Schoene-Gesichter-setzen-das-Gehirn-in-Aufruhr-3453000. html Aufgerufen am 07.09.2018, 07:20 Uhr 11. https://de.wikipedia.org/wiki/Striatum Aufgerufen am 07.09.2018 um 07:23 Uhr 12. Henning Beck: Faszinierendes Gehirn, S. 256; Springer Spektrum, Berlin, 2016 13. https://de.wikipedia.org/wiki/James_Olds#cite_note-1 Aufgerufen am 07.09.2018 um 07:27 14. Jack Nasher: Überzeugt, S. 124; Campus Verlag, Frankfurt am Main, 2017 15. Jack Nasher: Überzeugt, S. 68; Campus Verlag, Frankfurt am Main, 2017 16. Patti Wood, SNAP, S. 10; New World Library, Novato, 2012 17. Patti Wood, SNAP, S. 25; New World Library, Novato, 2012 18. David K. Berlo and James B. Lemert, „an Empirical Test of a General Construct of Credibility“, paper presented to the Speech Association of America, New York, 1961. 19. Eskil Burk: Neue Psychologie der Beeinflussung, S. 71; BoD, Norderstedt, 2016 20. Patti Wood, SNAP, S. 28; New World Library, Novato, 2012 21. Patti Wood, SNAP, S. 50; New World Library, Novato, 2012 22. https://www.tagesspiegel.de/weltspiegel/usa-gefaengnis-in-rose/773158.html aufgerufen am 14.10.2018; 10:32 23. http://www.sowi.uni-mannheim.de/lssozpsych/forschung-erleben-2/node/61 – aufgerufen am 14.10.2018; 10:35

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4  Auftritt des Bewerbers und erster Eindruck

24. Angela Steer-Reeh: Wirkung von farbigem Licht auf die Herzfrequenzvariabilität und den Puls-Atem-Quotienten gesunder Probanden, S. 32; Inaugural-Dissertation zur Erlangung des Doktorgrades der Medizin der Medizinischen Fakultät der Eberhard Karls Universität zu Tübingen, 2012 25. David Givens: Die Macht der Körpersprache, S. 128; Redline Verlag, München, 2011 26. Petra Waldminghaus: 30 Minuten Erfolgsfaktor Erscheinungsbild, S. 45; Gabal, Offenbach, 2017 27. David Givens: Die Macht der Körpersprache, S. 140; Redline Verlag, München, 2011 28. David Givens: Die Macht der Körpersprache, S. 146; Redline Verlag, München, 2011 29. Hans-Georg Häusel: Think Lymbic, S. 23; Haufe Verlag, Freiburg, 2014 30. Allan & Barbara Pease: Die kalte Schulter und der warme Händedruck, S. 254; Ullstein, Berlin, 2009 31. Michael Argyle: Körpersprache und Kommunikation, S. 308; Junfermann, Paderborn 2013 32. Allan & Barbara Pease: Die kalte Schulter und der warme Händedruck, S. 255; Ullstein, Berlin, 2009 33. Tiziana Bruno/ Gregor Adamczyk: Körpersprache, S. 66; Rudolf Haufe Verlag GmbH & Co. KG, Freiburg, 2009 34. Stefan Spies: Der Gedanke lenkt den Körper, S. 45; Hoffmann und Campe, Hamburg, 2010 35. Lutz Herkenrath, Vortrag „Ich bin. Also wirke ich“ am 03.03.2016 an der DHBW Lörrach 36. Michael Argyle: Körpersprache und Kommunikation, S. 322; Junfermann, Paderborn, 2013 37. Alexander Lowen: Bio-Energetik, S. 166; Rowohlt Taschenbuchverlag, Reinbek bei Hamburg, 1982 38. Mark Bowden: Winning Bodylanguage, S. 142–151; McGraw Hill; New York, 2010 39. https://blog.dahlke.at/fasten-als-genuss-und-weg-aus-krisen/ Aufgerufen am 14.10.2018 um 14:05 40. Dirk Eilert: Mimikresonanz S. 79; Junfermann Verlag, Paderborn, 2013 41. http://www.lern-psychologie.de/behavior/watson.htm - aufgerufen am 14.10.2018 um 14:34 42. Amy Cuddy: Dein Körper spricht für dich, S. 268; Wilhelm Goldmann, München, 2016 43. Amy Cuddy: Dein Körper spricht für dich, S. 308; Wilhelm Goldmann, München, 2016 44. Friedmann Schulz von Thun: Miteinander Reden 3, S. 143; Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek bei Hamburg, 2013 45. Peter Kruse: next practice, S. 54; Gabal Verlag, Offenbach, 2010

5

Status und Territorialverhalten

Zusammenfassung

Das Kapitel beschreibt die Ursachen von Territorialverhalten und Status, ihre Auswirkungen auf die zwischenmenschliche Kommunikation sowie ihre Rolle ­ beim Entstehen von Widerständen und Konflikten im Gespräch. Verschiedene territoriale Ausprägungen und ihr Einfluss auf das Bewerbungsgespräch werden vertieft und beschrieben, wie Grenzüberschreitungen zu Kommunikationsstörungen führen. Ergänzend wird das Thema Status untersucht und die Bedeutung der Fähigkeit, diesen zu variieren, hergeleitet. Abschließend werden Möglichkeiten beschrieben, um den eigenen Status im Gespräch zielführend zu variieren. Nachdem in Kap. 3 beschrieben wurde, wie unser Raumverständnis und Distanzverhalten durch die Kultur, in der wir aufwachsen, geprägt werden, zeigte Kap. 4 auf, wie unser Verhältnis zum Raum den ersten Eindruck beeinflusst. Kap. 5 vertieft die Themen Territorialverhalten und Status und beschreibt ihren Einfluss auf die Kommunikation im Recruiting.

5.1 Zusammenhang zwischen Territorium und Status 

Der Primatenforscher Frans de Waal beobachtete, wie frei lebende männliche Schimpansen in kleinen Gruppen an den äußeren Grenzen ihres Territoriums patrouillierten. Stießen sie dabei auf einzelne männliche Mitglieder der Nachbargruppe, die sich zu weit von ihrer Gruppe entfernt hatten, griffen sie diese an und töteten sie. Hatte die Nachbargruppe schließlich keine männlichen Mitglieder mehr, wurde deren Territorium inklusive der verbliebenen Weibchen übernommen [1].

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 C. Bernhardt, Nonverbale Kommunikation im Recruiting, https://doi.org/10.1007/978-3-658-25276-2_5

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5  Status und Territorialverhalten

Schon bei den Schimpansen sicherte ein Platz im Zentrum des Territoriums den Schutz der Gruppe und stellte einen überlebenskritischen Faktor dar, der den ranghöchsten Tieren vorbehalten war. Mitgliedern, die ganz aus der Gruppe ausgestoßen wurden, drohte in der freien Natur dagegen in der Regel der sichere Tod. Auch wer früher aus menschlichen Gemeinschaften ausgeschlossen wurde, geriet ins „Elend“, dessen althochdeutscher Wortursprung „elilenti“ „anderes Land“ bedeutet und darauf hinweist, dass der Verstoßene seinen Anspruch auf territoriale Zugehörigkeit verlor: Alleine in der Fremde kamen Not und Armut auf ihn zu und führten schließlich zur heutigen Bedeutung des Wortes „Elend“. Auch heute haben jene, die am „Rand der Gesellschaft“ leben, oftmals nur eingeschränkte Teilhabemöglichkeiten und begrenzten Zugang zu den verschiedenen Bereichen und Ressourcen der Gesellschaft. Ihr gesellschaftlicher Status der Unterschicht wird durch „Klassengrenzen“ von dem der Mittel- und Oberschicht abgegrenzt. Edward T. Hall prägte im Rahmen seiner interkulturellen Studien zur Proxemik den Begriff des territorialen Imperativs. Hierzu untersuchte er Raumbedürfnis sowie Distanzverhalten und entdeckte, dass sowohl Primaten als auch Menschen mit steigendem Status mehr Raum beanspruchen [2]. Auch umgekehrt erhöht die Herrschaft über ein größeres Territorium den Status.

Über das räumliche Territorium hinaus handeln wir Status in den verschiedensten Bereichen miteinander aus. „Aushandeln“ deshalb, weil Status eine Beziehungsgröße ist: Ohne ein anderes soziales Wesen, auf den sich der Hoch- oder Tiefstatus bezieht, existiert kein Status, da es niemanden gibt, mit dem Diskrepanzen hinsichtlich des Territoriums, das auch immer den Zugang zu Nahrung und Ressourcen darstellte, entstehen können. Status ist eine soziale Größe und die eng mit ihr verbundene Macht jene Energie, die soziale System bewegt [3]. Ein hoher Status stärkt, gibt Energie und vitalisiert Individuen. Im Gegensatz dazu beschreibt de Waal, wie entthronte Schimpansen, aber auch „abgesägte“ Professoren regelrecht in sich zusammenfielen, nachdem sie ihre Spitzenposition in der Hierarchie verloren hatten [4]. Der Auf- bzw. Abstieg bewirken messbare Veränderungen der Hormone Testosteron, Cortisol [5] und Serotonin [6]. Gleichzeitig verändern unterschiedliche Hormonniveaus die Prädisposition für charakteristische Verhaltensweisen und zum Auf- oder Abstieg in Hierarchien. Molcho beschreibt, dass sich jeder Mensch in dem Augenblick, in dem ihm territoriale Rechte weggenommen werden, irritiert fühlt [7]. Angesichts des veränderten individuellen Spielrahmens und des reduzierten verfügbaren Handlungsmöglichkeiten verändert sich der Status und erfordert, sich zu sammeln und neu auszurichten. Geschieht das mehreren gemeinsam, kann im Krisenfall ein hoher Grad an koordinierter Kooperation über das Überleben der gesamten Gruppe entscheiden. Dabei ist eine klare Hierarchie ein entscheidender Vorteil. So verwundert es nicht, dass sich in der Armee, die Territorien verteidigt oder erobert, eines der am meisten ausgeprägten Hierarchiesysteme sämtlicher Institutionen mit den breitesten Statusdifferenzierungen entwickelt hat. Wie die patrouillierenden männlichen Schimpansen übernahmen auch unsere

5.1  Zusammenhang zwischen Territorium und Status

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­ ännlichen Vorfahren neben der Jagd die Sicherung des Territoriums, während die m Frauen bei der Familie blieben. Dieses evolutionshistorische Erbe prägt das männliche Verhalten schon von klein auf: Bereits im Kindesalter sind sie statusorientierter und markieren und verteidigen ihr Territorium offensiver als Frauen [8]. Durch diese Prägung sind Männer auch im Geschäftsleben anfälliger für Konflikte, deren Ursachen im Territorial- oder Statusempfinden wurzeln. Da sich beim Aufstieg in der Hierarchie mehr an den über ihnen Stehenden und weniger an den Untergebenen orientiert werden muss, sinken mit steigendem Status normalerweise Empathie und Einfühlungsvermögen [9]. Aufgrund ihrer Prägung stellt dieser natürliche Mechanismus männliche Führungskräfte vor größere Herausforderungen als weibliche. Da jedoch, vor dem Hintergrund der volatiler werdenden Arbeitsmärkte, die Fähigkeit zur wertschätzenden, empathischen Kommunikation eine essenzielle Schlüsselkompetenz darstellt, um Mitarbeiter im Unternehmen zu halten, sollte diese besonders bei der Rekrutierung männlicher Führungskräfte geprüft werden. Eigenes Territorium verschafft eine bessere Position im Kampf und einen höheren Status. Nicht nur Tiere unterliegen bei Revierkämpfen auf dem eigenen Territorium seltener, auch im Sport haben Mannschaften im Heimspiel signifikant höhere Erfolgsaussichten. Am Verhandlungstisch ist ebenfalls derjenige im Vorteil, der aus dem Hochstatus heraus und auf dem eigenen Gebiet verhandelt und dadurch über mehr Macht verfügt [10]. Im Bewerbungsgespräch ergeben sich von daher je nach Hintergrund und innerer Einstellung des Bewerbers und Betriebsvertreters unterschiedliche Gespräche: Ist der Druck zur Einigung auf beiden Seiten vergleichbar, kann auf Augenhöhe eruiert werden, ob Betrieb und Bewerber zusammenpassen oder nicht. Ist jedoch eine der beiden Parteien stärker auf die Zusage der anderen angewiesen als umgekehrt, gerät das Gespräch mehr und mehr zum Verkaufsgespräch, für das schließlich die Regeln der Verhandlung gelten. Spätestens, wenn sich beide Seiten einig sind, kommt es ohnehin zur Verhandlung über das Gehalt. So werden beide Parteien intuitiv versuchen, den eigenen Status zu erhöhen und den Heimvorteil auf abstrakten Gebieten zu erringen. Hier kommen drei Aspekte zum Tragen, die später vertieft werden: die unterschiedlichen Ausprägungen von Territorien, auf denen um den Heimvorteil oder die Vorherrschaft gerungen wird, die Platzhalter, mit denen wir diese Territorien beanspruchen, und die persönliche Art und Weise, mit der wir territoriale Übergriffe der Gesprächspartner wahrnehmen und auf diese reagieren. Es wird ersichtlich, dass ein Großteil der Konflikte in der Geschäftswelt in Statuskonflikten und territorialen Übertritten gründet. Beide kommunizieren wir überwiegend nonverbal und so eröffnet es vertiefte Einsichten in die systemischen Motive, Treiber und Werte unserer Mitmenschen und erschließt zusätzliche Optionen im beruflichen und privaten Miteinander, wenn wir unseren Bezugsrahmen um diese Dimensionen der sozialen Kommunikation erweitern. Das Territorial- und Statusverhalten eines Bewerbers im Gespräch vermittelt einen ersten Eindruck über sein Sozialverhalten, seine Belastbarkeit in Krisensituationen, potenzielle Konfliktherde, den Charakter seines Konfliktverhaltens und seine Integrationsfähigkeit in Gruppen.

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5  Status und Territorialverhalten

5.2 Distanzzonen Territorium in seiner ursprünglichen Form ist räumlich: Die meisten von uns kennen das unangenehme Gefühl, dass entsteht, wenn uns aufdringliche Zeitgenossen zu nahekommen. Um uns herum ziehen wir unbewusst fünf Distanzzonen, zu denen wir unseren Mitmenschen abhängig vom Grad der Vertrautheit Zugang gestatten [11]. Diese Distanzzonen legen sich wie Kreisringe um uns, ihre genaue Größe wird durch verschiedene individuelle Faktoren beeinflusst und variiert je nach Person und Situation in der Bandbreite der gemachten Angaben Abb. 5.1. Innerste Intimzone und Intimzone  Die innerste Intimzone beginnt direkt am Körper und umhüllt uns im Abstand von einer Handlänge, also circa 15 cm. Anschließend folgt die Intimzone mit einem Abstand von 15 bis 45 cm. Diese ist dem Partner, Kindern oder engsten Vertrauten vorbehalten. Dringen Fremde in eine dieser Intimzonen ein, macht sich unser Körper zur Abwehr bereit: Unser Herzschlag, Blutdruck und Adrenalinspiegel steigen. Wird unsere Intimsphäre verletzt, reagieren wir mit Blockaden wie durchgedrückten Gelenken und angespannten Muskeln. Mit steigender Intensität des Übergriffs entwickelt sich die folgende Eskalationskaskade [12]. Reaktionen auf Verletzungen der Intimzone

• Subtiles Erstarren: Schockstarre in der Hoffnung, die Gefahr gehe von selbst vorüber. • Leichtes Zurückweichen: Versuch, den Abstand zum Eindringling zu vergrößern. • Unruhiges Hin- und Herrutschen: Signalisiert den Wunsch, sich zu entfernen. • Übereinanderschlagen der Beine, weg vom Eindringling: Schützt die Körperinnenseite.

Abb. 5.1   Abbildung Distanzzonen

5.2 Distanzzonen

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• Abwenden der Beine und des Oberkörpers: Vorbereitung zur Flucht. • Trommelnde Finger: Signalisieren der inneren Unruhe und Versuch, Spannung abzubauen. • Aufsteh-Stützgriff auf die Armlehnen des Stuhles: Gedanke an Aufstehen und Weggehen. • Schließen der Augen: Versuch, den anderen auszublenden. • Gesenktes Kinn und Blick: Signalisieren von Unterwerfung und Schutz der Kehle. • Anheben der Schultern: Versuch, den Hals gegen einen potenziellen Angriff zu schützen. • Greifen nach Gegenständen, insbesondere Stiften: Bewaffnung, um sich zu verteidigen. • Aufstehen: Flucht oder Angriff.

Unsere Hände, angewinkelten Unterarme und Ellbogen stellen im Notfall unsere wichtigsten Verteidigungswerkzeuge dar und beeinflussen damit die Größe unserer Intimzone. In welchem Radius sie agieren können, hängt von unserer Armlänge und damit indirekt von unserer Körpergröße ab. Die Größe der intimen Distanzzone beeinflusst auch die Größe der anderen Distanzzonen. So hat ein hochgewachsener Mensch mit langen Armen prinzipiell eine weitere Intimzone und auch eine weitere Persönlichkeitszone, soziale und öffentliche Zone. Neben der Verteidigung können wir unsere Hände auch zum Angriff verwenden. Hier haben größere Menschen durch ihre größere Reichweite gegenüber kleineren einen Vorteil, wobei die körperliche Stärke der Beteiligten relativierend hineinspielt. In Folge reagieren kleinere Menschen mit Stress, wenn größere Menschen ihnen so nahekommen, dass sie in deren Reichweite gelangen, aber die Kleineren selbst noch zu weit entfernt sind, um die Größeren zu erreichen. Darüber hinaus beeinflusst die Position, die wir zu unseren Mitmenschen einnehmen, unser Schutzbedürfnis. Die Distanzzonen liegen streng genommen nicht kreisrund um uns, sondern in ovaler Form. Steht jemand beispielsweise im Bus 30 cm neben uns, bleiben wir entspannter, da wir an den Seiten unempfindlicher sind und unsere Ellbogen schon am rechten Ort haben, um uns im Notfall zu schützen oder uns Platz zu verschaffen. Dagegen steigt die Anspannung, wenn sich unser Gegenüber uns frontal zuwendet und direkt vor uns steht. Im verletzlichen Bauchbereich liegen unsere wichtigsten Organe, und wenn ein Fremder 30 cm entfernt frontal vor uns steht, könnte ein möglicher Angriff nicht mehr so einfach abgewehrt werden: Wir reagieren mit Stress. Schließlich blenden wir Menschen ganz aus, indem wir uns körperlich abwenden. Dann kann man sich zwar nicht mehr mit den Händen verteidigen, aber der unempfindliche Rücken bietet einen gewissen Schutz und wir sind bereits richtig ausgerichtet, um zu fliehen. Dementsprechend ist die Intimzone hinter uns und zur Seite geringer ausgeprägt als nach vorne und lässt sich mit einem liegenden hartgekochten Ei vergleichen: Der Körper stellt das Eigelb dar, die Intimzone ist nach vorne, zur spitzen Seite hin, größer, während an den Seiten und hinten weniger Abstand zur Schale besteht.

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5  Status und Territorialverhalten

Persönliche Zone  Im Anschluss an die Intime Zone folgt die persönliche Zone, diese reicht von 45 cm bis 1,2 m um uns herum und kann auch als Du-Zone bezeichnet werden, der Zutritt ist Freunden und anderen Familienmitgliedern vorbehalten. Der Handshake findet an der inneren Grenze der persönlichen Zone statt. Dringt jemand gegen unseren Willen in unsere intime oder persönliche Zone ein und ist dieses nicht, wie beispielsweise im Fahrstuhl, der Situation geschuldet, müssen wir diese Zonen schützen, um die eigene Selbstsicherheit bewahren zu können. Wenn wir nichts unternehmen, können wir keinen klaren Gedanken mehr fassen: Die Gefahr überwiegt und kann nicht mehr ausgeblendet werden, der Körper schlägt Alarm und aktiviert die Stressachse. Diese Reaktion erfolgt auch auf übertragenen Territorien, wie zum Beispiel beim Beleuchten von kritischen Stationen des Lebenslaufs. Diese haben den Bewerber persönlicher oder intimer berührt und führen von daher zu stärkeren Reaktionen als „normale“ berufliche Erfahrungen, welche sich in der Regel beim sozialen Leben verorten lassen. Soziale Zone Um die persönliche Zone herum folgt die soziale Zone mit einem Abstand von 1,2 bis 3,6 m. Diese lässt sich auch als Sie-Zone bezeichnen, und wir halten diesen Abstand zu Bekannten, Kollegen und anderen Personen des gesellschaftlichen Lebens. Öffentliche Zone  Die öffentliche Zone beginnt ab einem Abstand von mehr als 3,6 m, und wir haben unter normalen Umständen zu Menschen in diesem Umfeld keine aktuelle tiefere Beziehung. Einflüsse auf die Größe der Distanzzonen Die Angaben der Zonengrößen sind Richtwerte für normale soziale Situationen und werden immer vom Kontext und der Situation beeinflusst. Stehen wir in der vollgedrängten U-Bahn, bei der es durchaus zu Berührungen kommen kann, akzeptieren wir die Gegebenheiten und arrangieren uns mit den Umständen, obwohl in unserer intimen Distanzzone gerade recht reger Verkehr herrscht. Lägen wir dagegen alleine an einem sonst kilometerweit leeren Sandstrand und ließe sich jemand vier Meter entfernt von uns nieder, würden wir ihn nicht mehr, als der öffentlichen Zone zugehörig, ausblenden. Die sich plötzlich verdoppelte „Bevölkerungsdichte“ in unserem direkten Umfeld passt nicht mehr zum sonstigen Setting. Wir fühlen uns bedrängt, und wenn die Persona non grata die Spannung nicht durch eine Ansprache auflöst, werden wir reagieren. Es wird ersichtlich: Als soziale Wesen verorten wir uns im sozialen Feld und beanspruchen einen gewissen Raum für uns. Dessen Größe hängt von verschiedenen Faktoren ab: Die von Hall untersuchten interkulturellen Unterschiede zeigten, dass in den USA der Abstand einer Armlänge als ideale Distanz gilt, alles darunter wirkt im Business unangenehm und aufdringlich. In Frankreich ist dieser Abstand etwas geringer, in den Niederlanden und Deutschland etwas weiter. Dagegen benötigen Menschen

5.2 Distanzzonen

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im Mittleren Osten [13] und Lateinamerika wenig Raum, um sich wohlzufühlen. Entsprechend schnell fühlen wir uns als Deutsche von diesen bedrängt und empfinden sie als aufdringlich, dabei wollen sie nur in einen, für sie angenehmen, Abstand zu uns treten, um mit uns in Kontakt zu kommen. Nordeuropäer benötigen mehr Raum als Südeuropäer. Aber nicht nur das Land und die Kultur, sondern auch in welchem Umfeld wir dort großgeworden sind, bedingt die individuelle Größe unserer Zonen. Großstädter, die eine höhere Bevölkerungsdichte gewohnt sind, kommen sich schon bei der Begrüßung näher als Menschen aus ländlichen Regionen [14]. Da mit steigendem Status unser Bedürfnis nach Raum wächst, übt auch die soziale Schicht, aus der wir kommen, einen Einfluss auf die Größe unserer Distanzzonen aus. Ebenso werden diese durch unser Geschlecht beeinflusst: Männer haben größere Zonen als Frauen [15]. Neben unserem grundlegenden Temperament und dem Charakter unserer individuellen Persönlichkeit beeinflusst unsere aktuelle psychische Verfassung die Größe der verschiedenen Zonen, die wir um uns ziehen [16]. Sind wir entspannt oder in positiver und ausgelassener Stimmung, verkleinert sich unsere Intimzone: Wir bauen Hemmungen ab, sind gut gelaunt, kontaktfreudiger und begegnen potenziellen Übergriffen toleranter. Sind wir dagegen schlecht gelaunt oder gestresst, vergrößert sich unsere Intimzone: Wir werden „dünnhäutig“ und sind penibel darauf bedacht, die eigenen Grenzen zu wahren: Man kommt uns besser nicht zu nahe. Extrovertierte Menschen haben kleinere Zonen als introvertierte, von daher gehen sie mehr aus sich heraus und stärker auf andere zu, um in Kontakt zu treten. Treffen sie dabei auf einen introvertierten Typ mit einer größeren Zone, kann es jedoch passieren, dass sie diesem zu schnell zu nahekommen. Die verschiedenen Einflüsse bestimmen gemeinsam die Größe unserer individuellen Zonen. Beispielsweise kann die Körpergröße sie vergrößern, aber ein extrovertierter Charakter verkleinert sie wieder etwas. Die Herkunft aus einer spärlich besiedelten Region wirkt wiederum vergrößernd, ebenso jene aus einer Familie mit hohem Status. Das alles wirkt vor dem kulturellen Hintergrund und wird durch die aktuelle Verfassung gestreckt oder gestaucht. „WYSIATI – What you see, is all, there is“, beschreibt Kahneman unsere Veranlagung, mangels anderer Referenzwerte die eigenen Erfahrungen und Paradigmen auf unsere Mitmenschen zu übertragen [17]. Infolgedessen unterstellen wir intuitiv, dass die Zonen unserer Gesprächspartner genauso groß sind wie unsere eigenen, und denken nicht einmal daran, dass es anders sein könnte, bis wir es deutlich signalisiert bekommen. So kann es schnell zu ungewollten Übertritten kommen. Man denke an den Klassiker im Film, in dem der gut gelaunte Farmer vom Land in die Großstadt kommt und dort von einem Fettnäpfchen ins andere stolpert. Die beschriebenen Beispiele verdeutlichen, dass Konfliktpotenzial immer dort besteht, wo unklar ist, wo die verschiedenen Zonen des einen Gesprächspartners anfangen und die des anderen aufhören. Stimmen beide miteinander überein, synchronisiert sich die Kommunikation wie von selbst und man schwingt im Einklang. Herrschen unterschiedliche Maßstäbe, sucht der eine den Kontakt und kommt dabei dem anderen

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5  Status und Territorialverhalten

unbewusst zu nahe, während sich dieser bedrängt fühlt. So bilden unsere Distanzzonen gewissermaßen den Gradmesser für unser Territorialverhalten.

5.3 Territorialverhalten John B. Calhoun untersuchte 25 Jahre lang das Thema Überbevölkerung und beobachtete dessen Effekte bei Ratten. Ab einer gewissen Bevölkerungsdichte setzte sozialer Stress ein und erhöhte ihr Stressniveau, sodass sie sich schließlich weniger um ihre Nachkommen kümmerten, weniger Nahrung zu sich nahmen, sich weniger vermehrten und früher starben [18]. Vergleichbare Beobachtungen zeigen sich auch bei Menschen: Je härter die Umstände und der permanent erlittene soziale Stress, desto geringer die Lebenserwartung [19].

Evolutionsgeschichtlich sicherte ein großes Territorium den Zugang zu Nahrung und erhöhte die Überlebenschancen der eigenen Nachkommen. Neben Nahrung beschreibt Abraham Maslow Sicherheit und soziale Anerkennung als unsere existenziellsten Bedürfnisse. Alle drei sind direkt oder indirekt mit Territorium verbunden und beeinflussen damit auf existenzieller Ebene unser Verhalten, das sich durch seine tiefe Verwurzelung in Form genetisch programmierter Rituale ausdrückt. Die Signale, um Territorium zu behaupten, reichen von Imponiergehabe und Gebietsmarkierungen bis hin zu hierarchischen Signalen und der Demonstration von Statussymbolen. Die nonverbale Kommunikation im sichtbaren, räumlichen Territorium weist auf die Einstellung und das Verhalten in abstrakten, übertragenen Territorien hin. Schnappt jemand schon beim Handshake schnell nach der Hand, will er auch sonst immer gleich etwas haben. Ist er ein unsicherer oder neugieriger Typ, der auch mit seinen Fragen zu schnell zu viel will und zu weit in den persönlichen Bereich des Gegenübers vordringt? Dies kann sich auf anderen Ebenen in Anrufversuchen zu grenzwertigen Zeiten oder in undifferenzierten Ansprachen, Grußformeln oder unverhältnismäßig häufigen und langen E-Mails äußern. Das Feld und die Signale sind hierbei breit gestreut, aber die Verhaltensweisen, die sich auf einem Gebiet zeigen, weisen in der Regel auf ein grundlegendes Muster hin und auf die Veranlagung zu vergleichbaren Verhaltensweisen auf anderen Gebieten. Dabei werden sie durch die persönlichen Erfahrungen und Werte des Bewerbers relativiert und eröffnen so weitere Einblicke in dessen Persönlichkeit, die einen besseren Abgleich zur zu besetzenden Stelle und dem zukünftigen Team ermöglichen. Aufschluss können beispielsweise die Beachtung des Distanzverhaltens geben, der Pausen, die im Gespräch zugelassen werden, oder das Zurschaustellen von Statussymbolen. Macht sich ein Bewerber über oder unter dem Tisch breit? Belegt er als Redner mit seiner Stimme die halbe Etage, trägt er ein dominantes Parfum, dem man sich nicht entziehen kann, zeigt er allzu auslandende Gesten? Reizt er seine Redezeit über Gebühr aus und schränkt damit die Möglichkeiten seiner Mitmenschen ein, sich in die Kommunikation einzubringen? Die Beispiele weisen auf die verschiedenen Ausprägungen hin, in denen sich unser Territorialverhalten ausdrückt.

5.4  Ausprägungen von Territorium und territoriale Platzhalter

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5.4 Ausprägungen von Territorium und territoriale Platzhalter In der heutigen Gesellschaft hat räumliches Territorium seine Bedeutung als Nahrungsquelle und Jagdgebiet weitestgehend verloren. Dafür ermöglichen eine gute Ausbildung und Qualifikation ein Einkommen, welches das fehlende Land und dessen Erträge kompensiert. Der Expertenstatus auf dem eigenen Fachgebiet sichert den Arbeitsplatz gegenüber weniger qualifizierten Konkurrenten. Je weiter das belegte Wissensgebiet erkundet und je tiefer es durchdrungen wurde, desto höher das Alleinstellungsmerkmal und damit auch die Verdienstmöglichkeiten. Damit hat das Fachgebiet wichtige Eigenschaften des räumlichen Territoriums übernommen und zeigt auf, dass über das Räumliche hinaus noch andere Arten von Territorien existieren. Abhängig von der Art des Territoriums verwenden wir die unterschiedlichsten Platzhalter, um dieses zu markieren und für uns zu beanspruchen. Die Kenntnis des eigenen Gebiets schafft Vertrautheit und Sicherheit. Um ihr Territorium zu markieren, bedienen sich Tiere dessen, was sie so haben und finden. Menschen benutzen darüber hinaus spezifische Platzhalter wie das klassische Handtuch auf der freien Liege am Pool. Wie bei räumlichen Territorien ergeben sich auch auf anderen Territorien Grenzen, deren unerlaubtes Übertreten sanktioniert wird. Ob uns jemand körperlich zu nahekommt, zu laut ist, uns durch seine Ausdünstungen belästigt oder indiskrete Fragen stellt – er überschreitet jedes Mal eine Grenze. Auch hier unterscheiden sich der Umfang dieser Grenzen und die Reaktionen auf Übertritte und werden durch Kultur, Persönlichkeit, aktuellen Stress, Status, Macht und Geschlecht geprägt. Werfen wir einen Blick auf verschiedene Territorien und darauf, wie dort Ansprüche geltend gemacht und Status ausgehandelt wird. Dabei wird sich zeigen, wie breit das Potenzial für territoriale Übertritte ist und wie die verschiedensten Einflüsse zu unterschiedlichen Wahrnehmungen und Verständnissen darüber führen, ob man einen guten Kontakt hergestellt hat oder sich zu nahegetreten ist. Räumliches Territorium Territoriale Platzhalter, beispielsweise die gesteckte Fahne auf neu erobertem Gebiet, stellen Gegenstände dar, die uns gehören oder mit uns in Verbindung gebracht werden und die wir platzieren, um ein Territorium für uns zu beanspruchen. In der Wohnung sind freie Flächen ein willkommenes Gebiet, um Markierungen zu hinterlassen. Die Markierung erfolgt natürlich nicht über Fahnen, sondern subtiler, beispielsweise über die vielfach bemängelten Socken, aber auch über stehen gelassene Kaffeetassen oder liegen gelassene Bücher, Haargummis und Zeitschriften. Ein anderes Mitglied der Familie dreht den Spieß einfach um und beansprucht die aufgeräumte, freie Fläche als sein territoriales Erkennungszeichen. So kann jeder zu jeder Zeit seinen Einfluss auf und seinen Anspruch am gemeinsamen sozialen Raum ablesen und fühlt sich wohler, eingeengter oder motiviert, ihn wieder neu zu erobern.

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5  Status und Territorialverhalten

Im Büro stellt der Schreibtisch das Territorium des Mitarbeiters dar, und die unkommentierte Ablage von fremden Platzhaltern wird bewusst oder unbewusst als territorialer Übergriff registriert. Was man sich vom Chef noch bieten lässt, ruft in der Regel direkte Gegenwehr hervor, wenn es vom gleichrangigen Kollegen erfolgt. Trifft man sich zu Verhandlungen an einem neutralen Tisch im Konferenzsaal, ergeben sich anteilige Ansprüche, die Tischmitte dient als imaginäre Grenze. Ob über oder unter dem Tisch, ein Überschreiten der Mitte mit der eigenen Gestik, den Füßen oder Unterlagen stellt einen territorialen Übergriff dar. Allan Pease beschreibt, wie er beim gemeinsamen Mittagessen ahnungslose Bekannte zu unfreiwilligen Probanden machte. Hierzu benutzte er verschiedene für alle zugängliche Gegenstände wie Salzstreuer, Pfeffermühle, Wasserkaraffe, die Speisekarte oder den Brotkorb, die normalerweise in der Mitte des Tisches gleichzeitig die Grenze zwischen den Gebieten der am Tisch Sitzenden markieren. Nachdem er sie benutzt hatte, stellte er diese Gegenstände um einige Zentimeter verschoben in die Hälfte seiner Gesprächspartner zurück und weitete dadurch das eigene Territorium aus. Die Partner reagierten umgehend mit subtilen Stresssignalen und nutzten, als Pease zur Toilette ging, dessen Abwesenheit, um rasch wieder die ursprünglichen Verhältnisse herzustellen [20].

Um einen Kontakt auf Augenhöhe zu fördern, sollte einerseits das natürliche Territorium des Bewerbers nicht eingeschränkt werden und ihm andererseits die Möglichkeit gegeben werden, seinen Bereich durch verschiedene Platzhalter wie Getränke und Unterlagen zu markieren. So fühlt er sich schneller wohl und kann sich tiefer auf das Gespräch einlassen. Prinzipiell empfiehlt es sich von daher, das Bewerbungsgespräch an einem neutralen Tisch und nicht am vollgestellten Schreibtisch des Personalers oder zukünftigen Vorgesetzten durchzuführen. Davon in einer einzelnen Sequenz des Auswahlprozesses bewusst abzuweichen, kann aber eine Variante darstellen, um weitere Einsichten in das Territorialverhalten des Bewerbers zu bekommen. Auch auf der Straße drückt sich unser Territorialverhalten aus. Abhängig vom Fahrzeug und der aktuellen Geschwindigkeit wachsen unsere Distanzzonen, ein Übertritt oder Eindringen unter den Mindestabstand stellt einen Angriff dar, der bis zum Tatbestand der Nötigung reicht. Männer sind durch ihre evolutionshistorische Prägung auch hier für starke Reaktionen prädestinierter als Frauen und infolgedessen rät so manche Mutter ihrer Tochter, sich für keinen Mann zu entscheiden, den sie nicht auch hinter dem Steuer erlebt hat. Eine gemeinsame Autofahrt eröffnet tiefere Einblicke in die Persönlichkeit des Fahrers als so manches Gespräch. Im Rahmen eines mehrstufigen Auswahlprozesses könnte von daher während der Probezeit eine gemeinsame Geschäftsreise mit dem Pkw eine weitere Möglichkeit bieten, um den neuen Mitarbeiter von einer anderen Seite kennenzulernen, wenn dieser einmal für eine Etappe das Steuer übernimmt. Reisende in der 1. Klasse der Bahn oder Bewohner einer Hotel-Suite erhalten mehr Raum und damit verbunden einen höheren Status. Dieser könnte auch besonderen Bewerbern bei deren Anreise gewährt werden. Im Vergleich zu den restlichen Recruiting-Kosten handelt es sich hier um einen verhältnismäßig geringen Posten, mit dem jedoch der erste Eindruck, den das Unternehmen auf den Bewerber macht, positiv beeinflusst werden kann.

5.4  Ausprägungen von Territorium und territoriale Platzhalter

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Fachliches Territorium Das Wort selbst weist bereits darauf hin: Auch Fachgebiete sind Territorien, deren Grenzen wir mitunter eifrig bewachen und mit Platzhaltern markieren. Beispiele hierfür sind akademische Titel auf Visitenkarten, Abschlussurkunden an der Wand, Bücher, Hinweise auf eigene Publikationen und für außenstehende unverständliche Abkürzungen sowie Fachausdrücke, mitunter in Sprachen, für die es unter den Lebenden sonst keine Verwendung mehr gibt. Die Markierungen reichen von Besserwisserei über Umformulierung bis zum Zitieren von Kapazitäten, Quellen und Studien und gipfeln in unauffälligen oder offensichtlichen Versuchen, das Gespräch auf das eigene Fachgebiet zu lotsen, um dort auftrumpfen zu können. Im Bewerbungsgespräch sollte der Bewerber auf seinem Fachgebiet punkten können, von daher lockt die Versuchung, sich auf dieses zurückzuziehen und seine Persönlichkeit hinter fachlichen Positionen zu verstecken. In der Regel wird ihn dabei aber je nach Position und Firmengröße allenfalls der direkte Vorgesetzte wirklich verstehen. Die Fähigkeit des Bewerbers, kompliziertes Wissen auch den fachlich weniger involvierten Teilnehmer zugänglich zu machen, ist ein Zeichen seiner wirklichen kommunikativen Kompetenz, seines empathischen Verständnisses und seiner Vernetzungsfähigkeit in der Organisation. Bewerber, die sich in ihre Wissensbastion zurückziehen und die Thematik mit einzelnen Gesprächspartnern vertiefen, versäumen es, Brücken zu den restlichen am Gespräch Beteiligten zu schlagen. Es ist zu befürchten, dass sich auch die Vernetzung zu anderen Abteilungen schwieriger gestaltet als bei Bewerbern, denen der Blick über den Tellerrand gelingt und die die gesamte Runde ins Gespräch integrieren. Kreativität ist eine der notwendigen Qualitäten für den zukünftigen Erfolg von Unternehmen und wird bedingt durch Vielfalt, Vernetzung und stabilisierende Werte wie Vertrauen und Transparenz. Inwieweit Mitarbeiter also in kooperativen Prozessen wie Projektarbeiten bereit sind, ihr Wissen uneigennützig transparent zu machen und für das gemeinsame Ziel einzubringen, stellt ein kritisches Persönlichkeitsmerkmal dar, um die zukünftige Leistungs- und Konkurrenzfähigkeit des Betriebs zu sichern. Den Gegenpol belegt, wer das eigene Wissen monopolisiert, um die eigene Position zu stärken. Das Territorialverhalten des Bewerbers in den verschiedenen Dimensionen, aber natürlich besonders auf dem eigenen Fachgebiet weist schon im Einstellungsgespräch auf dessen grundlegende Einstellung hin. Später wird ihn das Firmenfeld durchaus beeinflussen, aber je nachdem, wessen Geistes Kind er ist, wird auch er dieses verstärken oder schwächen. Zeitliches Territorium Wir sprechen von Zeiträumen, Terminfristen und setzen mit Deadlines Grenzen. In unserem Kulturkreis ist Zeit gleich Geld, und jedem von uns stehen pro Tag die gleichen 24 h zur Verfügung. Pünktlichkeit ist die Tugend der Könige: Wer andere uninformiert warten lässt, kann das nur aus dem unangefochtenen Hochstatus heraus tun, und auch dann ist es unhöflich. Als Normalsterblicher über die Zeit eines anderen zu verfügen und diese dadurch zu verschwenden, dass wir ihn uniformiert warten lassen, versetzt uns in den Tiefstatus des Schuldners. Wer zu spät ins Gespräch kommt, lässt damit Respektlosigkeit

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5  Status und Territorialverhalten

oder mangelnde Professionalität vermuten. Wie in Kap. 3 beschrieben, unterliegt unser zeitliches Empfinden einer starken kulturellen Prägung. So sollte bei Bewerbern aus polychronen Kulturen nicht direkt aus einer etwaigen Unpünktlichkeit auf mangelnde Zuverlässigkeit oder Motivation geschlossen werden. Wer seine Gesprächspartner nicht zu Wort kommen lässt und damit den Großteil des Territoriums der begrenzten Redezeit belegt, verhält sich ebenso dominant wie jener, der den Hinweis gibt, dass von der eigenen Seite nur ein knappes Zeitfenster zur Verfügung steht. Im Gespräch deuten Stresssignale der Gesprächspartner darauf hin, dass die eigene Redezeit überschritten ist und gerne das Thema gewechselt würde. Der Blick auf die Uhr dient als deutlicher Hinweis auf Übergriffe im zeitlichen Territorium und darauf, dass das Thema nun gewechselt oder das Gespräch bald beendet werden sollte. Damit diese Signale nicht vom Personaler gesendet werden müssen, sollte man dem Bewerber im Vorfeld Transparenz über den geplanten zeitlichen Rahmen verschaffen. So kann sich dieser besser orientieren und liefert für den Fall, dass er den Rahmen durch übermäßige Redebeiträge dennoch sprengt, weitere Einblicke in seine Persönlichkeit. Recruiter, die dagegen versäumen mitzuteilen, dass für das Gespräch lediglich 30 min geplant sind, dann aber ungeduldig werden, wenn der Bewerber sich fünf Minuten lang selbst präsentiert, tun ihm damit unrecht: Wer den Rahmen nicht kennt, dem fehlen notwendige Bezugspunkte und erschweren ein angemessenes Verhalten. Als Prozessverantwortlicher obliegt es dem Recruiter, das zeitliche Territorium zielorientiert zu verteilen. Eine Variante kann es darstellen, für das Gespräch bewusst kein zeitliches Limit zu setzen, um zu sehen, wo diese Entscheidung hinführt. „Freizeit ist die neue Währung“ titelte die FAZ [21] und wies damit auf die sich wandelnden Werte in Bezug Mobilität, Zeit und Geld hin. Diese eröffnen Betrieben Spielräume, um sich mit flexiblen Arbeitszeitmodellen vom Wettbewerb abzuheben. Die Bereitschaft, in wichtigen Phasen und bei dringenden Projekten im zeitlichen Bereich flexibel zu sein, ist bei allgemein flexiblen Typen, die auch die Grenzen ihrer anderen Territorien nicht wie militante Grenzwächter verteidigen, in der Regel ausgeprägter. Knoblauch empfiehlt, in Telefonaten mit früheren Referenz-Arbeitgebern zu prüfen, ob die Bewerberaussagen in Bezug auf deren Überstundenbereitschaft tatsächlich mit ihrem Verhalten am früheren Arbeitsplatz übereinstimmen [22]. Im Rahmen des Employer Brandings eröffnen Weihnachten, Pfingsten und Ostern Möglichkeiten, um mehr Territorium in Form größerer Freizeitblöcke für günstig abgebaute Überstunden zu gewähren. Arbeitgeber, die es schaffen, die Fristen und Organisation der Aufgabenerledigung so flexibel zu gestalten, dass in diesen drei Phasen des Jahres auch die kinderlosen Kollegen liegen gebliebenes in der Woche darauf erledigen können, beugen späteren Spannungen im Team vor und erhöhen ihre Attraktivität auch für kinderlose Mitarbeiter. Weitere Platzhalter und Dominanzsignale auf dem zeitlichen Territorium zeigen sich im Recht zur Kontaktaufnahme. Ein „Wir melden uns“ am Ende des Gesprächs versetzt den Bewerber in den absoluten Tiefstatus – die Hoheit über den Prozess liegt beim Personaler, und je vager die Aussage, desto größer das Statusgefälle. Hier lässt sich mit steigender Verbindlichkeit nahezu ein Kontakt auf Augenhöhe herstellen. Präzisere Aussagen wären beispielsweise „Wir melden uns auf jeden Fall nächste Woche“ oder

5.4  Ausprägungen von Territorium und territoriale Platzhalter

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„…nächsten Mittwoch“ und gipfeln in der konkreten Vereinbarung eines Termins für ein Folgetelefonat. Platzhalter auf dem zeitlichen Territorium können auch als Fragen gesetzt werden: Im Anschluss geht es um das Interesse des Fragenden und so vor dem Hintergrund eines im Vorfeld begrenzten Zeitrahmens für das Gespräch um eine prozentuale Verschiebung der Inhalte. Da im Vorfeld üblicherweise der Ablauf transparent gemacht wird, ist eigentlich klar, dass zum Ende hin die Möglichkeit für Fragen besteht. Bewerber, die sich daran nicht halten, zeigen je nach Relevanz der Frage zum aktuellen Thema eine eingeschränkte Fähigkeit zu Empathie, Zurückhaltung und Selbstkontrolle. Oft entscheidet in kritischen Situationen das Timing über Erfolg oder Misserfolg. Die Fähigkeit, die Befriedigung kurzfristiger Belohnungen zugunsten der Erreichung langfristiger Ziele hintanzustellen, stellt eine der Schlüsselkompetenzen für beruflichen Erfolg dar [23]. Wer immer etwas sofort will, zeigt, dass sein regulierendes Top-down-System die aufsteigenden Trieb-Impulse nicht unter Kontrolle hat. Übermäßiges Fragen des Bewerbers bringt die Personaler unter Druck, wenn dadurch der für das Gespräch gesetzte Zeitrahmen droht, überschritten zu werden. Dabei sollte berücksichtigt werden, wie nahe die Fragen des Bewerbers am behandelten Thema sind, wie häufig interveniert wird und wie das Verhalten zum Charakter der zu besetzenden Stelle passt. Olfaktorisches Territorium Die erste Kommunikation im zellulären Bereich verlief auf molekularer Ebene, und auch heute noch ist der Geruchssinn der einzige Sinn, dessen Informationen über das Riechhirn ungefiltert ins Langzeitgedächtnis überstellt werden, während die Informationen aller anderen Sinnesorgane zunächst vom Thalamus vorgefiltert werden. Von daher reagieren wir intuitiver und ablehnender auf Übergriffe im olfaktorischen Bereich. Ein auf dieser Ebene negativ gefälltes Urteil wirkt nachhaltiger als eines, das über die anderen Sinneskanäle zustande kam. Gewollte Markierungen können durch intensive Parfums, ungewollte durch den Konsum von geruchsintensiven Lebens- oder Genussmitteln oder mangelnde Körperpflege entstehen. In einer im Jahr 2012 durchgeführten Studie wurde untersucht, ob sich Persönlichkeitseigenschaften am Geruch erkennen lassen. Hierzu trugen 60 Teilnehmer drei Nächte lang (zuvor frisch gewaschene) T-Shirts. Anschließend rochen 200 Probanden an den T-Shirts und versuchten, Rückschlüsse auf die Persönlichkeit zu ziehen. Die Studien zeigten, dass sich die Persönlichkeitseigenschaften Neurotizismus, Extraversion und Dominanz tatsächlich am Geruch erkennen lassen, während dies bei Offenheit, Gewissenhaftigkeit und Verträglichkeit nicht gelang [24]. Bei den ersten drei Eigenschaften können sich Recruiter also bis zu einem gewissen Grad auf ihr Näschen verlassen.



Zieht man die Ergebnisse einer niederländischen Studie aus dem Jahr 2014 heran, empfiehlt sich für das Gespräch ein Raumduft mit Lavendel-Aroma. Unter dessen Einfluss entwickelten Probanden mehr Vertrauen, was im Gespräch eine offenere Kommunikation unterstützen könnte [25].

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5  Status und Territorialverhalten

Während uns bestimmte Düfte anziehen, gibt es umgekehrt Menschen, die wir nicht riechen können: Ein Missmatch auf der biologischen Ebene lässt uns vor der weiteren Annäherung und engeren Zusammenkunft zurückschrecken. Ross Ashby formulierte bereits 1956 das Gesetz von der erforderlichen Varietät, welches auch heute noch als eine zentrale Erkenntnis der Kybernetik gilt [44]. Es beschreibt, dass das Ausmaß der inneren Vielfalt eines Systems dessen Möglichkeiten determiniert, Störungen, denen es durch eine komplexe Umwelt ausgesetzt ist, zu kompensieren. Wo wir im Privaten also Harmonie anstreben, ist in Organisationen Diversität einer der Schlüssel, um mit der laufend komplexer werden Welt im Außen Schritt halten zu können. Dazu kann es durchaus gehören, auch einmal Bewerber einzustellen, die man nicht riechen kann. Akustisches Territorium Akustisches Territorium belegen wir durch die Lautstärke der eigenen Stimme. Hier wirkt ein lautstarker Polterer intuitiv als „undistanzierter Hobel“, zeigt aber gleichzeitig an, dass man selbst auch nicht zu flüstern braucht, es wird dann insgesamt etwas lauter – nur trauen muss sich der Schüchterne. Verstummt er dagegen angesichts des lautstarken Gesprächs und hört nur noch staunend zu, stört das den Ersteren nicht im geringsten, seiner Meinung gibt es da nichts, wofür er sich schämen sollte. Wir haben intuitiv einen gewissen Respekt vor einem vollen und kräftigen Organ und spüren die Schüchternheit sowie Zurückhaltung einer leisen Stimme, die nur zaghaft akustisches Territorium beansprucht und beispielsweise durch eine unsichere Antwort in der Gehaltsverhandlung signalisiert, dass von ihrer Seite aus noch Spielraum vorhanden ist. Weitere Platzhalter im akustischen Territorium sind Handytöne. Werden die Geräte auf „laut“ gelassen oder rücksichtsvoll auf „lautlos“ geschaltet? Dass es im Bewerbungsgespräch zum Flugmodus keine Alternative geben sollte, ist nach wie vor gängige Maxime: Für 30 bis 90 min sollte eine erwachsene Person normalerweise abkömmlich sein können. Sind im Vorstellungsgespräch private Dinge tatsächlich allzu dringend, kann darüber nachgedacht werden, ob sich der Bewerber aktuell überhaupt ganz auf das Gespräch einlassen kann oder ob es nicht für das Gesprächsergebnis für beide Seiten von Vorteil wäre, einen Termin für ein neues Gespräch zu vereinbaren, auf das sich dann beide Seiten ganz konzentrieren können. Gleiches gilt natürlich auch für die Betriebsvertreter – wenn, aus welchen Gründen auch immer, ein Gespräch gestresst und mit geteilter Aufmerksamkeit geführt wird, während man sich bei einem anderen Gespräch ganz dem Bewerber widmen kann, reduziert alleine der veränderte Rahmen eine objektive Vergleichbarkeit. Mehr noch als in anderen Territorien herrscht im akustischen Territorium ein Engpass bezüglich der Platzhalter: Wenn alle gleichzeitig sprechen, ist Kommunikation nicht möglich. Aufschlussreich ist, wie der Bewerber mit den Platzhaltern seiner Gesprächspartner umgeht. Lässt er andere ausreden oder unterbricht er sie? Neben dem vollständigen Unterbrechen vermitteln Intentionsbewegungen wie das Öffnen des Mundes, Heben des Kopfes, Aufrichten des Körpers im Stuhl, Berührungen des Gesichts oder Heben des Zeigefingers Einblicke in die Motivation, Impulsivität und das Engagement des Bewerbers, jedoch ebenso in den Grad seiner Geduld und Selbstkontrolle.

5.4  Ausprägungen von Territorium und territoriale Platzhalter

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Klimatisches Territorium Das Raumklima bietet weitere Möglichkeiten, Territorium zu markieren. Über die persönliche Veranlagung und etwaige aktuelle Einschränkungen hinausgehend, gibt es einen Bereich, in dem fehlende Toleranz kritisch wird. Der notorisch Frierende oder der ständig nach frischer Luft Verlangende müssen sich mit dem, der auf Durchzug empfindlich reagiert, im Großraumbüro erst einmal finden. Gutes Raumklima lässt sich beeinflussen und verbessert die Produktivität. Die FAZ titelte im Februar 2018 „Das Büro wird grün“ und beschrieb Studien, die belegen, dass sich die Produktivität durch den gezielten Einsatz von Pflanzen um 15 % steigern lässt, während Müdigkeit um 30 %, Husten um 37 % und Hautprobleme um 23 % sanken. [26] Die neue Bürolandschaft von Amazon in Seattle beherbergt 40.000 Pflanzen und erinnert mehr an einen botanischen Garten als an klassische Büros. Auch im Recruiting bieten Pflanzen effiziente Möglichkeiten, das Raumklima und damit den Eindruck, den die Firma beim Bewerber hinterlässt, zu verbessern. Netzwerk Starke Netzwerkpartner können uns den Zugang zu ihren Ressourcen öffnen und damit unsere Entfaltungsmöglichkeiten erhöhen. So werden wir selbst zu einem attraktiveren Netzwerkpartner, je wichtiger und wirkungsträchtiger unsere Kontakte sind. Diese zeigen wir durch Namedropping, Zugehörigkeit zu exklusiven Kreisen oder geschlossenen Gesellschaften, Verbänden, Clubs, Parteien oder Zirkeln und entsprechende Abzeichen wie Ringe, Badges und Mitgliedskarten. Territoriale Verhaltensstrategien Während eigene territoriale Markierungen die empfundene Sicherheit erhöhen, schwinden unsere Sicherheit und Dominanz, wenn wir auf Markierungen treffen, die den Beginn eines fremden Reviers anzeigen [27]. In der Vertriebspraxis erklärt das die latente Unsicherheit vieler Verkäufer, die in fremdes Revier eindringen und dort überzeugen sollen. Die Situation des Bewerbers ist prinzipiell mit jener der Akquisiteure vergleichbar: Auch er soll (sich) verkaufen, und es sind archaische Reaktionen, die ihn auf fremdem Gebiet nervös und unsicher werden lassen. Der Grad der Unsicherheit und wie mit dieser umgegangen wird, eröffnet weitere Einblicke in die Persönlichkeit und Erwartungen des Bewerbers. Erfolg verleiht Status und verändert unsere Beziehung zu Territorien [28]. Ein erfolgsgewohnter Mensch wird beim Betreten eines Raumes nicht an der Türschwelle stehen bleiben, sondern wie selbstverständlich eintreten, und zwar auch wenn es sich nicht um sein eigenes, sondern um fremdes Territorium handelt. Wer nur bis zur Mitte des Raumes geht oder gar an er Türschwelle wartet, offenbart bereits seine Unsicherheit und den Respekt vor dem hohen Status des Gastgebers oder lässt erkennen, dass er nicht gewohnt ist, größere Räume zu betreten und es ihm an Mut fehlt, offensiv in fremdes Territorium einzudringen. Während die Schwellenangst so manchen Bewerber vom spontanen Eintritt abhält, besitzen Erfolgsmenschen den Mut, den Schritt ins

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5  Status und Territorialverhalten

Unbekannte oder ins Risiko zu gehen, und gehen durch den Raum, bis sie auf den Gastgeber treffen, begrüßen ihn und tauschen ein paar höfliche Sätze aus [28]. Für den Recruiter als Gastgeber entsteht im Bewerbungsgespräch die Herausforderung, auf etwaiges offensives Auftreten nicht spontan negativ zu reagieren. Es sollte weder kategorisch abgelehnt werden, wenn ein guter Bewerber, den wir eingeladen haben, sich selbstbewusst in unseren Räumlichkeiten bewegt, noch wenn er höflich an der Schwelle stehen bleibt, sondern das Verhalten mit dem Charakter der zu besetzenden Stelle abgeglichen werden. Ein Bewerber, der nach der Begrüßung gleich die Führung zum Bewerbungstisch übernimmt, mag vielen zu forsch erscheinen: Wenn aber gerade jemand im Vertrieb gebraucht wird, um offensiv in neue Märkte einzudringen, kann diese Verhaltensweise passend sein. Werden sowohl die Präferenzen des Bewerbers als auch das im Betrieb noch nicht gehobene Potenzial auf den verschiedenen Territorien erkannt, bieten sich im Rahmen der verschiedenen Dimensionen breite Möglichkeiten, den impliziten Status und die Attraktivität der ausgeschriebenen Stelle zu erhöhen. Im Folgenden werden weitere explizite statushebende Benefits aufgeführt. Je individueller diese auf die Werte und Motive des Bewerbers angepasst werden, desto höher ist der Mehrwert für beide Seiten.

5.5 Status 

1968 untersuchten die beiden amerikanischen Psychologen Anthony Doob und Alan Gross, wie sich Statussymbole auf das Sozialverhalten auswirken. An einer Ampel blieben sie einfach stehen, als diese auf Grün schaltete, und stoppten die Zeit, bis die Autos hinter ihnen zu hupen begannen. Das wiederholten sie in verschiedenen Autos. Die Reaktionen sprachen eine deutliche Sprache: Saßen sie in einer Nobelkarosse, hupte nur die Hälfte der hinter ihnen stehenden Autos und wartete damit teilweise, bis die Ampel fast schon wieder auf Rot schaltete. Saßen die beiden dagegen in einem älteren Kleinwagen, hupten alle, manche sogar mehrmals und zwei der hinter ihnen Wartenden fuhren ihnen sogar an die Stoßstange. Das Experiment zeigte auch kulturelle Unterschiede auf: Während in Italien im Durchschnitt schon nach fünf Sekunden gehupt wurde, waren die Deutschen mit 7,5 s die geduldigsten der unfreiwilligen Testteilnehmer [29].

Hoher und tiefer Status: Sich groß oder klein machen Status ist eine Beziehungsgröße, die sich bildet, sobald zwei Menschen ins gegenseitige Bezugsfeld geraten. Je höher wir den wahrgenommenen Status des anderen einschätzen, desto größer die Intimzone, die wir ihm zugestehen. Im Experiment wurde sich oftmals nicht getraut, akustisch in das Territorium der Hochstatus-Autos einzudringen, während es sogar zu physischen Übergriffen gegenüber Fahrzeugen mit niedrigem Status kam. Ähnliches lässt sich auch im Betrieb beobachten: Ist die Tür zum Büro des CEOs aus

5.5 Status

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Glas, klopfen Mitarbeiter oftmals nur symbolisch an, ohne das Glas zu berühren, um nicht zu offensiv in seinen Bereich einzudringen. Hintergrundinformation Schon in Primatengruppen gibt es immer ein ranghöchstes Tier. Von daher mag statusorientiertes Verhalten affig erscheinen, doch steckt hinter diesem 30 Mio. Jahre alten Konstrukt ein Mechanismus, der Gruppen Sicherheit und Stabilität verschafft. Als der Primatenforscher Frans de Waal das statushöchste Tier einer Schimpansen-Gruppe entfernte, nahmen prompt die Kämpfe und ­Rangeleien der anderen Tiere zu. War der Alpha dagegen anwesend, fing er an zu grummeln, wenn die Rangeleien der statusniederen Gruppenmitglieder ein gewisses Maß erreicht hatten, und griff schließlich ein, wenn sie drohten, darüber hinaus zu gehen: Die Streitereien nahmen ab und die ganze Gruppe erhielt Sicherheit und in der Summe friedvolleres Verhalten [30]. Schon Menschenaffen bringen über den Status Klarheit in ihre Hierarchie, und sobald sich zwei Tiere treffen, nimmt eines den Hochstatus und das andere den Tiefstatus ein [31]. Der Blick auf unsere tierischen Verwandten weist auf unsere genetische Disposition hin, Status auszudrücken und Status intuitiv zu erkennen. Auch in menschlichen Gemeinschaften zeigt jeder seine Einordnung in die Hierarchie der Gruppe durch seine Gestik, Mimik, Körperhaltung und Abstandsverhalten, das Tempo seiner Bewegungen sowie der Reaktionsweise auf die anderen Gruppenmitglieder. Bei Kindern bilden sich bereits ab einem Alter von fünf Jahren spontan gesellschaftliche Rangordnungen, die über Jahre stabil bleiben [32]. Das Streben nach Status prägt uns auch am Arbeitsplatz, so waren in einer britischen Studie 70 % der Befragten bereit, für eine attraktivere Stellenbezeichnung auf eine Lohnerhöhung zu verzichten [32].

Durch dessen tiefe soziale Verwurzelung wechseln wir unseren Status unbewusst und ständig in Abhängigkeit davon, mit wem wir gerade interagieren: Wir kommen aus unserem Büro, treffen im Flur auf den neuen Praktikanten und begegnen ihm aus dem Hochstatus. Drei Sekunden später begegnen wir dem obersten Chef und wechseln intuitiv in den Tiefstatus. Nonverbal zeigt sich Ersteres beispielsweise durch unsere Körperhaltung und -spannung: Während wir dem Praktikanten entspannt begegnen, richten wir uns etwas mehr auf und erhöhen unsere Körperspannung, sobald wir in das Sichtfeld des Chefs geraten. Durch das Aufrichten erhöhen wir unseren Status und nähern uns jenem des Chefs an, um einen Kontakt auf Augenhöhe zu unterstützen. Gleichzeitig entspannt sich dieser und kommt uns seinerseits etwas entgegen wie wir zuvor dem Praktikanten. Unterließe der Praktikant diese Anpassung, erschiene er flegelhaft und unhöflich. Unterließe sie der Chef, ergäbe sich ein reservierter, überheblicher und distanzierter Eindruck. Was sich bei Chef und Praktikant sehr deutlich zeigt, drückt sich subtiler und differenzierter aus, je geringer die Status-Unterschiede zwischen zwei Beteiligten sind. Ist der Status unklar, wird er auf die verschiedenste Art und Weise und auf den unterschiedlichsten Territorien ausgehandelt. Dabei bilden die nonverbalen und paraverbalen Signale die Grundlage, die wir auch mit unseren tierischen Verwandten teilen. Doch im Gegensatz zu Primaten, die in festen und geschlossenen Gruppen von bis zu 50 Mitgliedern leben, leben wir in offenen Gruppen und erheblich größeren Netzwerken, die die Lösungsfindung auf der rein nonverbalen Ebene oft erschweren. In Folge verwenden wir ergänzend die verbale Kommunikation, welche unzählige weitere diffizile Möglichkeiten bietet.

134

5  Status und Territorialverhalten

Die Grundlage bietet jedoch die nonverbale Kommunikation, und wer die Signale auf dieser Ebene erkennt und versteht, kann frühzeitig die Ambitionen der verschiedenen Gruppenmitglieder erkennen und intervenieren. Die begleitende Körpersprache drückt den inneren Status aus und gibt den verbalen Aussagen die notwendige Glaubwürdigkeit, die darüber entscheidet, ob und wie diese vom Gesprächspartner angenommen werden. Unabhängig von der hierarchischen Position wechseln wir unseren Status situationsanhängig. Ein Vorgesetzter, der vergessen hat, seinen Mitarbeiter über etwas Wichtiges zu informieren, wird sich kurz entschuldigen und dabei in den Tiefstatus wechseln. Täte er das nicht, beeinträchtigte er nach und nach die Beziehung zu seinem Mitarbeiter. Flexibilität im Statusverhalten ist also einer der Schlüssel erfolgreicher Kommunikation und gelingender Beziehungen. Innerer und äußerer Status Tom Schmitt und Michael Esser leiten Status nach zwei Dimensionen ab und unterscheiden zwischen dem inneren und dem äußeren Status, die sich jeweils im hohen oder tiefen Zustand zeigen können. Bildhaft gesprochen bildet der innere Status-Zustand das Gerüst und der äußere Status die Fassade unserer Kommunikation. Ist das Gerüst stabil, kann es jede verbale Fassade tragen [33]. Die Voraussetzung für den flexiblen Wechsel zwischen äußerem Hoch- und Tiefstatus ist ein hoher innerer Status, der sich durch Klarheit über die eigenen Wünsche und Ziele auszeichnet. Erweitern wir unsere Perspektive um diese Dimension des Gesprächs und erfassen wir das Status-Spiel bewusst, eröffnen sich breite Möglichkeiten, souveräner zu agieren und für das Gesprächsziel Relevantes von Irrelevantem zu unterscheiden. Erfassen Personaler den inneren und äußeren Status eines Bewerbers, erhalten sie einen Eindruck über dessen bevorzugte Strategien und unbewusste Verhaltensmuster, die auf mögliche Konflikte bei der Integration und der zukünftigen Arbeit hinweisen können. Während der äußere Status über äußere Faktoren wie die verbale Ebene, Wissen, Information, Funktion, Position, physische Stärke oder Macht und Reichtum signalisierende Status-Heber wie die Luxus-Karosse aus dem Ampel-Versuch vermittelt wird, kommunizieren wir unseren inneren Status über unsere Persönlichkeit und damit auf der nonverbalen und paraverbalen Ebene [34]. In Bezug auf den Status lässt sich unsere Kommunikation nach zwei Koordinaten unterscheiden: die Macht- und Beziehungskoordinate [35]. Die Pole der Machtkoordinate bilden Durchsetzungsvermögen und Nachgiebigkeit und werden über den Inhalt unserer gesendeten Kommunikation vermittelt. Die Pole der Beziehungskoordinate bilden Sympathie und Ablehnung/Respekt und beschreiben gewissermaßen die Wirkung, die wir auf der Beziehungsebene anstreben. Abb. 5.2 Die Unterscheidung, ob ein hoher oder tiefer Status angenommen wird, ergibt sich durch eine diagonale Unterteilung Abb. 5.2. Sowohl innerer als auch äußerer Status können hoch oder tief sein. Es ergeben sich vier Kombinationen und damit verbundene Haltungen und Wirkungen auf unsere soziale Kommunikation sowie unser Konfliktverhalten Abb. 5.3.

5.5 Status

135

Abb. 5.2   Macht- und Beziehungskoordinate im Statusviereck

Abb. 5.3   Statuskombinationen

Doppelter Tiefstatus – der Teamplayer (1)  Der Teamplayer zeichnet sich durch einen äußerlich und innerlich tiefen Status aus. Er integriert sich leicht in neue Gruppen, da er sich unterordnet, niemanden angreift und Konflikten aus dem Weg geht. Sein doppelter Tiefstatus erzeugt hohe Sympathiewerte, jedoch wenig Respekt. Doppelter Hochstatus – der Macher (2)  Der äußerlich und innerlich hohe Status zeichnet den dominanten Macher aus: Er weiß, was er will, und ordnet sich nicht unter. Trifft er auf seinesgleichen, sind Konflikte vorprogrammiert, dabei wird offen und ­schnörkellos

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5  Status und Territorialverhalten

konfrontiert. Der doppelte Hochstatus erntet wenig Sympathie, dafür ist ihm Respekt garantiert. Wenn er jedoch nicht die Bereitschaft entwickelt, auch äußerlich einmal tief zu kommunizieren, fehlen ihm die Handlungsoptionen und er wird berechenbar. Tiefer innerer Status und hoher äußerer Status – der Arrogante (3) Schwieriger wird es für den äußerlich hohen, aber innerlich tiefen Status. Das äußere Streben nach Überlegenheit wird nicht durch die innere Haltung gestützt und so fehlt ein stabiles Gerüst, an das die Kommunikationsfassade gehängt werden kann. Wird er geprüft, bröckelt die Fassade, die äußere Position kann nicht gehalten werden und entgleitet: Die Kommunikation wird emotional oder unverhältnismäßig. Kritische Situationen und Konflikte werden durch diese Kombination verschlimmert, durch den inkongruenten Auftritt wirkt dieser Typus oftmals arrogant und nur wenig authentisch. So bleibt ihm beides verwehrt: Er erntet weder Respekt noch Sympathie. Hoher innerer Status und tiefer äußerer Status – der Charismatiker (4)  Der äußerlich tiefe, aber innerlich hohe Status kann es dagegen entspannt angehen lassen: Ihm gelingt es, respektiert zu werden und gleichzeitig sympathisch zu wirken. Dieser charismatische Typ muss sich nichts beweisen und lässt anderen charmant den Vortritt. So gewinnt er deren Sympathien spielend und wird aufgrund seiner inneren Stärke und Flexibilität als Konfliktlöser von seinen Mitmenschen in kritischen Situationen gesucht. Er kann gelassen die richtige Situation abwarten, um ein Problem zu lösen oder das Zepter zum rechten Zeitpunkt in die Hand zu nehmen. Da er weiß, was er will, verfolgt er seine Ziele geschickt, klug und diplomatisch. Begegnet ihm ein Hochstatus, erkennt er diesen an, lässt ihm bei strategisch unwichtigen Punkten den Vortritt und bleibt flexibel. Ihm geht es nicht um kurzfristige Erfolge und darum, jede Runde auf dem äußeren Statusfeld zu gewinnen, das Ziel ist weiter gesteckt und darüber ist er sich bewusst. Die Beziehungspunkte, die er im Laufe der Zeit bei seinen Mitmenschen sammelt, stärken sein Netzwerk und ermöglichen ihm, sie zum richtigen Zeitpunkt zu aktivieren. Motive hinter dem eigenen Status erkennen Neben der inneren Klarheit über die eigenen Ziele und Wünsche wird das Statusverhalten maßgeblich durch das Selbstbild und unsere individuelle Prägung beeinflusst. Laut Schmitt basiert diese Prägung auf der Frage, was wir mehr fürchten: Nähe oder Distanz? Beide ziehen unterschiedliche Bedürfnisse nach sich und bewirken verschiedene Verhaltensstrategien, um diese zu erfüllen. Angst vor Nähe führt zum vermehrten Wunsch nach Respekt, Angst vor Distanz oder Einsamkeit führt zum Wunsch nach Sympathie. Diese Ängste prägen unseren inneren Status und unsere Verhaltensstrategie im Konfliktfall. Die Angst vor Distanz bringt die Neigung mit sich, sich im Zweifel unterzuordnen, um die Sympathie und damit die Nähe unserer Mitmenschen nicht zu gefährden. Die Angst vor Nähe bringt die Neigung mit sich, sich durchzusetzen, um Respekt und Unabhängigkeit zu bewahren. Aus dem Statusverhalten des Bewerbers kann man auf

5.6 Statussignale

137

d­ essen dahinterliegendes Motiv schließen, und jene Vorzüge der Stelle betonen, die besser zu seinem dominanteren Grundmotiv passen und das damit verbundene Bedürfnis stillen. Neben den Implikationen des bevorzugten Status weist die mehr oder weniger stark ausgeprägte Fähigkeit zum flexiblen Wechsel zwischen Hoch- und Tiefstatus auf die geistige Beweglichkeit und die Denkmuster des Gesprächspartners hin. Hohe Flexibilität zeugt von Kooperationsfähigkeit und empathischer Verträglichkeit, mangelnde Flexibilität zeugt von eingefahrenen oder sehr starken Rollenerwartungen und deutet auf hohe Machtdistanz sowie Ansehensorientierung hin. Statusgeneralisierung erkennen und dem Halo-Effekt entgegenwirken Ein hoher Status wirkt auf alle Bereiche des Lebens, sei es im Beruf, im Freundeskreis oder in der Gesellschaft allgemein [36]. So wird beispielsweise der berufliche Status generalisiert und auf andere Gebiete übertragen, was darin mündet, dass beispielsweise die Meinungen von Ärzten auch in anderen Bereichen mehr Gewicht haben, etwa in Diskussionen über Politik. Ein höherer Status führt zu größerer Autorität, größerem Respekt und gesteigertem Vertrauen. Hoher Status und Statussymbole erhöhen unmittelbar und kulturübergreifend die unterstellte Kompetenz [36]. Damit begünstigt auch die Statusgeneralisierung einen der häufigsten Beurteilungsfehler im Recruiting, den oben beschriebenen Halo-Effekt. Die Psychologin Leslie Zebrowitz hat untersucht, wie Personaler vom Aussehen des Bewerbers auf dessen Eignung für eine zu besetzende Stelle schließen [37]. Dabei beeinflussen äußere Status-Heber wie gutes Aussehen, teure Kleidung, große Autos oder teure Uhren die Urteilsbildung und lassen sich nicht ohne Weiteres von inneren Faktoren trennen. Diese Mischung [38] zwischen inneren und äußeren Faktoren stellt eine der Ursachen des Halo-Effektes dar. Mit etwas Übung lassen sich jedoch die hineinstrahlenden Status-Heber – der Halo – erkennen und aus dem eigentlichen Status-Thema herausfiltern. In Folge lässt sich der Personaler, der zwischen innerem und äußeren Status differenziert, weniger durch den Halo beeinflussen und kann sich besser auf den inneren Status und damit die Persönlichkeit des Bewerbers konzentrieren, die sich nicht über Status-Heber beeinflussen lässt [38].

5.6 Statussignale 

Im Interview: Der Bewerber wird etwas gefragt und berührt sich vor der Antwort kurz im Gesicht, beißt sich kurz auf die Unterlippe oder wischt die Haare aus dem Gesicht. Unbewusst gesendete Tiefstatussignale wie diese können Verlegenheit, das Bedürfnis nach Sympathie oder den Wunsch nach Harmonie anzeigen – oder, dass gerade ein wenig geschummelt wurde.

Um unseren Status auf der Grundlage unserer Persönlichkeit zu vermitteln, haben wir ein reiches Arsenal an Werkzeugen: Benehmen, Wortgewandtheit, Stimme, Gestik und Mimik. Unser Status entscheidet darüber, wie wir kommunizieren. Im hohen Status reden wir frei und ungezwungen oder erlauben uns, andere zu unterbrechen und ihre

138

5  Status und Territorialverhalten

Meinung infrage zu stellen. Wir bewegen uns locker, gestikulieren, zeigen ein reges Mienenspiel und beenden das Gespräch, wenn wir den Zeitpunkt für gekommen halten. Im Tiefstatus hören wir zu und richten unsere Aufmerksamkeit auf den Partner. Gestik und Mimik signalisieren Unsicherheit. Mitunter nicken wir zu Äußerungen, von denen wir nicht überzeugt sind, und warten, bis der Statushöhere zu Ende gesprochen hat und das Gespräch beendet. Hierin liegt auch einer der Gründe, warum Zuhören so positiv auf unsere Mitmenschen wirkt: Es hebt deren Status, fühlt sich gut an und ruft folglich Sympathie hervor. Hochstatus-Signale vs. Tiefstatus-Signale Der Hochstatus zeigt sich in ausbreitender, raumeinnehmender Körpersprache. Der groß gemachte Körper und ein sicherer, schulterbreiter Stand, bei dem beide Beine auf dem Boden stehen, vermitteln Dominanz und Stärke sowie den eigenen Anspruch auf Revier und auf eine überlegene Position. Er steht mit ruhiger und entspannter Körperhaltung, zeigt normales Abstandsverhalten und langsame Bewegungen. Kommt dem Hochstatus jemand entgegen, weicht er nicht aus, der gerade gehaltene Kopf zeigt Bestimmtheit und Konfrontationsfähigkeit. Die Stimme passt sich der entspannten Körperhaltung an und bewirkt durch den entspannten Muskelapparat und Sprechrhythmus eine tiefere Stimmlage. Wenn er redet, drückt sich seine Überlegenheit durch eine eher langsame Geschwindigkeit aus: Die anderen müssen sich nach ihm richten, warum sollte er sich beeilen? Auch im Sitzen nimmt sich der Hochstatus Zeit und Raum und belegt die ganze Sitzfläche des Stuhls. Sein Gesichtsausdruck erscheint neutral mit einer sparsamen Mimik und vermittelt einen klaren, bestimmten Ausdruck. Sein Blick ist ruhig und kraftvoll, er hält Blickkontakt, blinzelt wenig und schaut fest und offen, mitunter leicht von oben. Einkommen, Macht und Status korrelieren mit dem aktiven Wortschatz eines Menschen [39]. Je mehr passendes Vokabular wir beherrschen, desto weniger müssen wir gestikulieren, und je höher unsere Machtposition, desto weniger muss überzeugt, sondern kann delegiert werden. Dadurch nimmt die Zahl der Gesten mit steigendem Status ab, zeigt sich aber dynamisch, wenn er auftritt. Der Hochstatus entscheidet darüber, ob Körperkontakt aufgenommen wird, und ergreift auch die Initiative beim Handshake. Er leitet das Gespräch und führt es über Fragen. Seine Dominanz zeigt er durch das Besetzen der Alpha-Position am oberen Ende des Tisches, von wo er Tür, Gruppe und Fenster im Blick behalten kann. Er breitet sich auch auf der Fläche des Tisches aus, nimmt diese oder nebenstehende Stühle durch Ablegen der Hände auf der Lehne in Beschlag und verschafft sich Raum, indem er selbstbewusst das Territorium mit Platzhaltern markiert. Den Stuhl rückt er etwas vom Tisch ab und verschafft sich dadurch zusätzlichen Raum und Bewegungsfreiheit. Im Gegensatz zum Hochstatus geht der Tiefstatus mit einer zurückgezogenen Haltung einher, die prinzipiell wenig Raum beansprucht. Der Körper wird kleiner gemacht, die Schultern hängen, die Haltung ist gebückt, die Körperspannung wirkt in der extremsten Form kraftlos. Der Stand ist wackelig, die Beine geschlossen oder verschränkt, teilweise wird mit gekippter Hüfte das Gewicht auf ein Bein verlagert oder die Beine

5.6 Statussignale

139

knicken ein, sodass eine X-Haltung entsteht. Auf der Suche nach Orientierung wird der Tiefstatus hektisch und entwickelt eine unruhige Körpersprache mit häufigen und fahrigen Bewegungen. Setzt er sich, vermeidet er es, die ganze Sitzfläche des Stuhles zu belegen. Auch vor Berührungen der Lehnen der benachbarten Stühle oder der Tischfläche scheut er sich, er faltet lieber die Hände, behält sie bei sich oder legt sie in den Schoß. Er rückt nahe an den Tisch heran und schützt sich so durch die Tischplatte. Weitere Statussenker stellen wackelnde oder wippende Beine dar, die oftmals mit Unkonzentriertheit einhergehen. Zu anderen hält der Tiefstatus respektvollen Abstand. Der Kopf wird leicht geneigt und dabei die verletzliche Seite des Halses gezeigt. Neben eifrigem und zustimmendem Nicken wird der Kopf unterwürfig gesenkt, sodass der Blick von unten nach oben erfolgt. Der Blick wandert herum und geht mit häufigem Blinzeln sowie Blickvermeidung einher. Weitere Unterwürfigkeitsbezeigungen zeigen sich im Senken der Augen, um den dominanteren Gesprächspartner zu beschwichtigen und einen herausfordernden Eindruck zu vermeiden. Beim Augenpendeln wandert der Blick schnell hin und her und verschafft sich einen Eindruck über das Beziehungsgeflecht der Gruppe oder hält unbewusst nach Fluchtwegen Ausschau. Beim weiten Öffnen der Augen ziehen sich die Augenlider zurück. Die dadurch größer wirkenden Augen vermitteln das Bild unschuldiger Aufmerksamkeit und können, wenn der andere nicht durchschaut, was gerade geschieht, sehr entwaffnend wirken – man kann auch im Tiefstatus seine Ziele erreichen. Die natürliche Gestik erscheint gehemmt, kann aber bei entstehendem Stress sprunghaft in eine wilde Gestikulation umschalten, die bis in die Regionen über dem Kopf und unter der Hüfte reichen kann. Übersprunghandlungen versuchen, Stress abzubauen, und signalisieren den Tiefstatus, wenn die Hand wiederholt den Kopf, Hals oder das Gesicht berührt. Weitere Adaptoren berühren kurz Gegenstände wie Tassen oder Unterlagen und ziehen sich dann wieder zurück. Die Hände spielen mit Stiften oder beruhigen sich durch gegenseitiges Halten, Reiben oder Streicheln. Auf der mimischen Ebene zeigen sich beschwichtigendes Dauerlächeln, nervöses Grinsen oder entschuldigendes Lachen, wenn etwas peinlich ist. Auch nervöses Kichern senkt den Status. Der Tiefstatus traut sich nicht, sich auf dem zeitlichen Territorium auszubreiten. Hat er doch mehr zu erzählen, macht er kaum Pausen und versucht, schnell wieder fertig zu sein: Wie die hektische Gestik, beschleunigt sich die Sprechgeschwindigkeit, während sich die Stimmlage erhöht. Nervosität und Anspannung wirken sich auch auf die Stimme aus, die gepresst klingt. Statusanpassung Menschen und Primaten passen ihren Status über die Stimmlage aneinander an: Bei Gesprächsuntersuchungen an der Kent State University wurden die Frequenzen über 500 Hz herausgefiltert, sodass die Aufnahme lediglich einem Brummeln glich, bei dem einzelne Worte nicht mehr identifiziert werden konnten. Dafür zeigte sich, dass die niederfrequenten Töne der beiden Gesprächspartner sich sehr schnell aneinander anpassten und es dabei überwiegend der Gesprächspartner mit dem tieferen Status war, der die Frequenz seiner Stimmlage an jene des Statushöheren anpasste [40]. Die Forscher fanden heraus, dass wir diese Untertöne automatisch einsetzen, um unbewusst die hierarchischen Verhältnisse zu unseren Mitmenschen zu regeln. Wer sich die eigene Stimmlage und jene seines Gesprächspartners bewusst macht, kann dadurch direkt sehen, inwieweit man aufeinander zugeht und sich angepasst oder unterordnet.

140

5  Status und Territorialverhalten

5.7 Eigenes Territorialverhalten und eigener Status Neben der Aussagekraft des Territorial- und Statusverhaltens über die Persönlichkeit, Motive und Werte des Bewerbers hat auch der Personaler verschiedene Möglichkeiten, die Beziehung über die eigene Kommunikation auf dieser Ebene zu beeinflussen. Als Gastgeber ist der Recruiter der Statushöhere, was verschiedene Rechte, Pflichten, aber auch Erwartungen an rollenadäquates Verhalten mit sich bringt. Prinzipiell gestehen wir jenen den höheren Status zu, die uns im Gegenzug Sicherheit versprechen. Wird dem Bewerber die nötige Sicherheit vermittelt, fühlt er sich gut aufgehoben und kann sich öffnen und tiefer auf das Gespräch einlassen. Hierbei sind Größe und Stärke des Recruiters essenzielle Aspekte. Größe bezieht sich dabei nicht auf die Körpergröße, sondern auf das körpersprachliche Auftreten. Wer sich gestattet, sich so groß zu machen, wie er wirklich ist, unterstützt seinen natürlichen Ausdruck der Stärke, während ein gesenkter Kopf und herabhängende Schultern gerade körperlich Höhergewachsene erst wirklich klein wirken lassen. Wer Ellbogen und Hände eng am Körper hält, Hüfte und Beine einknickt, wirkt gedrungen. Macht ist umso größer, je weniger sie ausgeübt werden muss. Es geht also in erster Linie nicht um reine Kraft, sondern darum zu vermitteln, dass man die Situation unter Kontrolle hat und entschlossen sowie wirkungsvoll agieren kann, wenn es darauf ankommt. Wer den Hochstatus überzeugend ausdrücken will, sollte der eigenen Stimme gestatten, sich gut hörbar auszudrücken, auch die Bewegungen sollten nicht gehemmt oder zurückgehalten werden. Wird die gut sichtbare, großzügige Gestik durch ein entspanntes Wesen getragen, signalisieren wir Handlungsbereitschaft und innere Stärke. Wird sie dagegen von einem angespannten und kleinteiligen Agieren begleitet, gewinnt der Gesprächspartner nur langsam Sicherheit. Im Gegensatz zum selbstbewussten Stand zeigt der eingezogene Kopf Schutzbedürftigkeit und ein latent schlechtes Gewissen. Hochstatuspersonen sollten den Horizont im Auge haben und nicht den Boden vor sich. Dabei muss jedoch zwischen einer arroganten und einer autoritären Haltung unterschieden werden. Beim Blick über den Horizont hebt erstere Person das Kinn etwas zu hoch und wirkt überheblich, letztere Person zieht dagegen den Körper am Schopf nach oben, blickt gerade auf den Horizont und vermittelt vorausschauende Sicherheit und bodenständige Autorität. Je weiter der Gastgeber auf seinem Territorium dem Gast bei der Begrüßung entgegenkommt und je weiter hin zu den Grenzen er diesen bei der Verabschiedung begleitet, desto größer ist die vermittelte Wertschätzung. Bedeutende Staatsgäste werden am Flughafen abgeholt und auch dorthin zurückgeleitet. Bittsteller müssen alleine bis zum Schreibtisch des Chefs gehen und werden nach dem Gespräch wieder sich selbst überlassen. Das Spektrum im Bewerbungsgespräch liegt zwischen den beiden Extremen. Üblicherweise sollte der Gast am Empfang abgeholt und nach dem Gespräch auch wieder dorthin zurückgebracht werden.

5.7  Eigenes Territorialverhalten und eigener Status

141

Dem Bewerber sollte Raum in jeder Ausprägung gelassen werden, damit dieser sich öffnen und in das Gespräch einbringen kann. Auch wer bemerkt, dass der Bewerber zurückweicht, sollte ihm Raum gewähren: Das Zurückweichen kann körperlich erfolgen, aber auch verbal durch relativierende Floskeln und schwammige Antworten. Recruiter, die dieses Verhalten registrieren und nicht nachrücken, verhindern den weiteren Rückzug und ein Verschließen des Bewerbers. Dessen Bedürfnis nach Raum zu respektieren, vermittelt Wertschätzung und unterstützt die Entwicklung einer vertrauensvollen Gesprächsatmosphäre, in der sich der Bewerber schließlich öffnen und mitteilen wird. Werden Rückzugsbewegungen registriert, kann es somit geschickter sein, sich das Thema zu merken und im späteren Verlauf, wenn sich der Bewerber tiefer auf das Gespräch eingelassen hat, nochmals darauf zurückzukommen. Wer den Bewerber kennenlernen will, sollte ihm ausreichend Raum geben, sich selbst zu präsentieren. Dafür muss im Gespräch der richtige Rahmen geschaffen werden und das entsprechende Territorium freigegeben werden, einerseits durch die richtigen Fragen, die zu relevanten Themen führen, andererseits in Bezug auf die zeitlichen Rahmenbedingungen und die eigenen Platzhalter. Markiert der Recruiter selbst zu offensiv, bleibt weniger Zeit für den Bewerber. Recruiter, die dazu neigen, selbst mehr zu sprechen als der Bewerber, sollten den Rahmen für das Gespräch weiter stecken oder versuchen, sich in Zurückhaltung zu üben. Eine gut sichtbare Uhr hinter dem Bewerber hilft, sich an den zeitlichen Rahmen zu erinnern, ohne unhöflich auf die eigene Uhr schauen zu müssen. Die Psychologen Stuart Albert und James Dabbs untersuchten, wie viel Raum dem Gesprächspartner gegeben werden sollte, damit dieser sich nicht bedrängt fühlt, aber damit gleichzeitig Kontakt entsteht. Dabei rief ein Abstand von 30 bis 60 cm deutliche Abwehrreaktionen hervor. In dem Bemühen, in Kontakt zu ihm zu treten, sollte man sich dem Bewerber also nicht zu schnell annähern. Es sollte ihm aber auch nicht zu viel Raum gewährt werden: Ein größerer Abstand von zwei bis vier Metern führte zu einer negativen Einstellung und einer feindseligen Stimmung. Der optimale Abstand, um eine starke Verbindung herzustellen, liegt im Bereich von 1,20 bis 1,50 m [41].

Wie beschrieben, beschränken sich die Ursachen territorialer Konflikte nicht nur auf räumliche Konflikte: Besonders das Fachgebiet des Bewerbers sollte explizit respektiert werden. Es ist jenes Gebiet, in das er sich in kritischen Phasen des Gesprächs zurückziehen kann und das ihm neben Sicherheit die Möglichkeit bieten sollte, nach einem Rückschlag wieder in das Gespräch zurückzufinden. Personaler, die das fachliche Territorium und die Kompetenz des Bewerbers bestätigen, können Missverständnissen und negativen Emotionen frühzeitig vorbeugen. Um einen Kontakt auf Augenhöhe herzustellen, sollten Statusimplikationen bezüglich der Sitzmöbel berücksichtigt werden. Neben der Flexibilität, die sich durch Rollen ergibt, beeinflussen die Sitzhöhe, vorhandene oder nicht vorhandene Armlehnen und die

142

5  Status und Territorialverhalten

Höhe der Rückenlehne den Status der auf einem Stuhl sitzenden Person. Zunächst sollte man die Implikationen erkennen und sich fragen, ob sie gewollt und für alle Bewerber gleich sind. Dann kann beispielsweise zwischen der ersten und zweiten Gesprächsrunde variiert werden, um zusätzliche Eindrücke zu gewinnen. Von guten Gastgebern und eifrigen Grenzwächtern Als Maxime für das eigene Territorialverhalten kann man sich an den eigenen Wünschen für und Erwartungen an gelingende Beziehungen im Privaten orientieren. Konflikte entstehen auf der territorialen Ebene immer dort, wo die Grenzen nicht klar definiert sind und sich territoriale Ansprüche überschneiden. Für gelingende Kommunikation stellt die Klarstellung des eigenen Gebietes und dessen Grenzen also eine essenzielle Grundlage dar. Dabei bildet die eigene Einstellung im Falle eines territorialen Übertritts durch den Gesprächspartner einen kritischen Punkt, der über Gelingen oder Scheitern der folgenden Kommunikation entscheiden kann. Empfangen wir im Privaten neue Gäste, heißen wir diese als gute Gastgeber willkommen und führen sie herum, machen sie mit unserem Gebiet vertraut und vermitteln ihnen Sicherheit. Über einen kleineren Fauxpas oder unbeabsichtigten Übertritt sehen wir hinweg. Umgekehrt wünschen wir uns das genauso und diese Toleranz ist eine der Grundlagen für ein gelingendes Miteinander. Wer dagegen kleinkariert als eifriger Grenzwächter einen Sperrstreifen um das eigene Gebiet zieht und den kleinsten Übertritt des Gastes als Angriff definiert, erhält zwar Respekt und Angst, aber nur selten Sympathie und gelingende Beziehungen auf Augenhöhe. Da Menschen die Grenzen ihrer Zonen unterschiedlich breit definieren, ergeben sich immer wieder unbeabsichtigte Übertritte. „Eifrige Grenzwächter“ definieren neutrales Verhalten der „Gegenpartei“ häufiger als Übertritte und reagieren mit Verteidigungs- oder Gegenmaßnahmen auf die unterstellten Angriffe. Diese irritieren den Gesprächspartner und stören das Gespräch sowie den Beziehungsaufbau. „Gute Gastgeber“ registrieren dagegen den Übertritt, unterstellen aber zunächst keine bösen Absichten. Stattdessen berücksichtigen sie Faktoren wie Persönlichkeit, kulturelle Hintergründe und andere mögliche Einflüsse und heißen den Gesprächspartner prinzipiell willkommen. Dieser Vertrauensvorschuss bildet eine wichtige Grundlage für ein gelingendes Miteinander. Bei kleineren Übertritten wird die Stimmung nicht getrübt, dafür aber die Beziehung zueinander verbessert. Das Einzige, was es hierzu erfordert, ist die Bereitschaft, ein Eindringen in das eigene Territorium nicht als Angriff zu werten und sich kurz mit dem eigenen Status zurückzunehmen. Oft wird dem Gesprächspartner das eigene Verhalten bewusst, er zieht sich direkt von selbst wieder zurück und ist froh, das Gesicht gewahrt zu haben. Die Lage entspannt sich von selbst und das Vertrauen des Gesprächspartners wird gewonnen. Registriert der Bewerber seine Übertritte dagegen nicht und überschreitet weiter unbewusst Grenzen, zeigt er dabei zunehmend mehr von sich und vermittelt dem Personaler tiefere Einblicke in seine Persönlichkeit, was diesem die anschließende Entscheidung erleichtert. Selbstverständlich hat auch die beschriebene Gastfreundschaft Grenzen. Registrieren wir mutwillige, wiederholte Übertritte, sollten

5.7  Eigenes Territorialverhalten und eigener Status

143

diese mit klaren Reaktionen beantwortet und die Grenzen unmissverständlich aufgezeigt werden. Flexibilität im Status entwickeln Das Beispiel von Praktikant und Chef zeigte, wie wir unseren Status intuitiv variieren, um uns auf unsere Gesprächspartner einzuschwingen. Indem wir unseren Status an jenen unserer Mitmenschen anpassen, holen wir diese zum Gespräch ab oder erleichtern es ihnen, uns abzuholen. Meist ist es eine Sache von nur wenigen Sekunden, bis die Positionen verteilt sind. Hat man sich aufeinander eingeschwungen und einen gemeinsamen Rhythmus gefunden, ergibt sich eine synchronisierte Kommunikation: Das Rollen-StatusGefüge ist geklärt und der anvisierte Weg kann gemeinsam beschritten werden. Wer diese Dimension der Situation erfasst, kann sich bewusst entscheiden, welche Alternative er verfolgen will: recht haben oder gewinnen? Um jeden Preis die Oberhand behalten oder flexibel und strategisch den anderen für sich gewinnen, um die eigenen Interessen charmant und diplomatisch zu realisieren? Prinzipiell gilt: Soll Kompetenz ausgestrahlt werden, wird das durch Hochstatus-Gesten unterstützt. Ist Sympathie das Ziel, sollten Tiefstatus-Gesten eingesetzt werden. Durch Tief-Status-Verhalten spürt der Bewerber, dass der Recruiter ihm wohlgesonnen ist und keine Bedrohung darstellt. So kann er Ängste und Nervosität abbauen, sich entspannen und schneller in das Gespräch finden. Nun kann der Recruiter das Normalverhalten des Bewerbers taxieren, ihm, wie ein guter Verkäufer, über weite Phasen des Gesprächs den Hochstatus überlassen und nur in entscheidenden Phasen den eigenen Status heben, um die Weichen für den weiteren Verlauf zu stellen. Für die bewusste Integration des Statuskonzepts sollte zunächst der eigene Bezugsrahmen um diese tiefer liegende Dimension der Kommunikation erweitert werden. Im nächsten Schritt können Statuseinflüsse bei Störungen im Gespräch erkannt und als Zeichen eines evolutionshistorisch geprägten Spiels neu verstanden werden. Wird anschließend Flexibilität im Wechsel zwischen hohem und tiefem Status entwickelt, kann man sich stimmiger auf die Situation und Gesprächspartner einlassen und deren tiefer liegenden Bedürfnisse bedienen. Entsprechend lassen sich auch die eigenen Ziele leichter realisieren. Wer Flexibilität im Senden und Toleranz im Empfangen entwickelt, kann seine Wirkung steuern und die Verbindung zum Gegenüber verbessern. Diese Fähigkeit, zunächst bewusst, mit steigender Übung dann immer rascher und intuitiver zwischen Hoch- und Tiefstatus zu wechseln, zeichnet den souveränen Kommunikator aus. Die Schlüssel zu einer hohen Flexibilität stellen ein hoher innerer Status dar, das Wissen um die Signale, mit denen der kommunizierte Status erhöht oder reduziert werden kann, sowie die Bereitschaft, in einzelnen Situationen auch äußerlich tief zu kommunizieren, um beim Weg zum Ziel flexibel zu bleiben. Schmitt beschreibt es deutlich: „Je klarer die innere Haltung, desto einfacher ist es, einen (nachhaltigen äußeren) hohen Status einzunehmen, je unklarer die innere Haltung, desto wahrscheinlicher ist es, in einen tiefen Status zu geraten.“ [42].

144

5  Status und Territorialverhalten

Unsere Körpersprache beeinflusst durch das Prinzip der Wechselwirkung auch unseren inneren Status, sodass dieser durch folgende Signale erhöht (h) oder gesenkt (t) werden kann

1. 2. 3. 4. 5. 6. 7.

„Nein“ sagen, offen konfrontieren (h); „Ja“ sagen, zustimmend nicken (t) Stand: beidbeiniger, stabiler Stand(h); Stand- und Spielbein (t) Standbreite: breitbeinig bis max. Schulterbreite (h); enger Stand (t) Handflächen: nach innen drehen, nicht zeigen (h); nach außen öffnen, zeigen (t) Gestik: akzentuiert, sparsam, dynamisch (h); hektisch, fahrig (t); Gestik: Anzahl reduzieren (h) oder erhöhen (t) Hände auf Objekte legen oder stützen, um diese für sich zu beanspruchen (h); Selbstberührungen mit der Hand im Gesicht (t) 8. Blickrichtung: Blick halten (h); mit Blick nach unten ausweichen (t) 9. Pause vor Antworten (h); Sprechgeschwindigkeit erhöhen (t), kichern (t) 10. Mimik: unbewegt, sparsam (h); Lächeln (t) 11. Blinzeln: Frequenz reduzieren (h); Frequenz erhöhen (t) 12. Kopf: gerade halten (h); seitlich neigen (t) 13. Kopf aus zuvor gerader Haltung heben (h); senken (t) 14. Körperspannung: aktionsbereite Spannung (h); sich hängen lassen (t) 15. Gerade Haltung (h), gebückte Haltung (t) 16. Schultern: zurück und entspannt, tief fallen lassen (h); angespannt, hoch gezogen (t)

Um die Flexibilität im äußeren, verbalen Status-Ausdruck zu erhöhen, sollte dieser also durch das Bewusstsein über unser tiefer liegendes Ziel der Kommunikation gestützt werden. Je konkreter dieses erfasst und einem der beiden Pole, Sympathie oder Respekt und damit dem Wunsch nach Nähe oder Distanz, zugeordnet wird, desto leichter und natürlicher gelingt der Wechsel und desto erfolgreicher die Kommunikation. Je weniger wir uns darüber bewusst sind, desto größer wird die Gefahr, Handlungsoptionen zu verlieren und in den Tiefstatus zu geraten. Das Wissen um den Rang in der aktuellen Gruppe stellt einen weiteren Schlüssel dar, um spontan, flexibel und authentisch in seiner Rolle zu agieren. Eine dezidierte Absprache unter den am Recruiting beteiligten Betriebsvertretern vor dem Interview hilft, die Erwartungen und die geplante Rollenverteilung transparent zu machen und der Gruppe die notwendige innere Klarheit zu vermitteln, auf der gelingende Gespräche gründen. Ist die Hierarchie der Gruppe klar, kann sich der Bewerber leicht und intuitiv einfügen. Das diesbezüglich wohl bekannteste Beispiel aus der Welt der Verhörprofis ist das Spiel „Good Cop Bad Cop“. Dabei mimt ein Polizist den Bösen, den Bad Cop, und versucht, aus dem unnachgiebigen Hochstatus heraus den Verhörten zum Geständnis zu zwingen. Der Good Cop gewinnt dagegen aus dem Tiefstatus heraus die Sympathie und das Vertrauen des Verhörten. Betrachtet man die Situation aus der Perspektive des Status, erschließt sich, wie der Verhörte zwischen den beiden Status-Polen Respekt und Sympathie in die Mangel genommen und nach und nach in die Mitte getrieben wird, bis ihm schließlich keine Rückzugsmöglichkeit mehr bleibt und er gesteht.

5.8  Fazit: Status und Territorialverhalten



145

Möglichkeiten, das Spiel mit dem Status zu üben, gibt es in jeder größeren Stadt, allerdings unter einem anderen Schlagwort, nämlich im Rahmen des Impro-Theaters: Der Gründer der Impro-Technik, Keith Johnstone, beschreibt, dass jeder, wenn er nur seinen Status innerhalb der Gruppe kennt, automatisch ins spontane Handeln kommt und keine weiteren Anweisungen braucht [43]. Wer diesen Effekt in Gruppentrainings selbst erlebt, ist überrascht, wie natürlich Teilnehmer in ihren Rollen agieren, ohne nennenswerte Instruktionen erhalten zu haben. Dabei gelingt auch der schnelle Wechsel zwischen Hoch- und Tiefstatus mit steigender Übung immer intuitiver.

Status und Employer Branding Die oben beschriebene Statusgeneralisierung wirkt auf verschiedenen Ebenen und führt dazu, dass sich der Ruf starker Marken auf ihre Mitarbeiter überträgt, deren gesellschaftlichen Status hebt und so auch die Arbeitgeber-Attraktivität großer Konzerne erhöht. Aber auch kleine und mittlere Unternehmen können ihre Attraktivität durch verschiedene Statussymbole erhöhen. Inga Michler untersuchte diese und fand folgende Reihenfolge heraus [36]. Statussymbole im Beruf

1. Dienstwagen 2. Eigene Assistentin 3. Titel auf Visitenkarte 4. Spesenbudget 5. Lufthansa-Senatorenkarte 6. Firmenkreditkarte 7. Kunst im Büro

Weitere Statusheber sind eine Dienstwohnung, Personalrabatte, ein firmeneigener Kindergarten, die Gratis-Mitgliedschaft im Fitness-Center und ein Parkplatz direkt auf dem Betriebshof [36]. So lässt sich passend zur Stelle, Position und den Bedürfnissen der Zielgruppe der Status der angebotenen Stelle erhöhen und Bewerbern ein individuelles attraktiveres Angebot unterbreiten.

5.8 Fazit: Status und Territorialverhalten Evolutionshistorisch geprägt und genetisch verankert bilden wir Hierarchien und gliedern uns in diese ein. Ein hoher Status in der Hierarchie geht einher mit steigenden territorialen Ansprüchen und Privilegien in der Gruppe. Gleichzeitig mit den Rechten steigen auch die Pflichten, den hohen Status zum Wohl und zur Sicherheit der Gruppe

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5  Status und Territorialverhalten

einzusetzen. Um uns herum ziehen wir verschiedene Distanzzonen und reagieren gestresst, wenn Unbefugte zu weit in diese eindringen. Territoriale Markierungen geben uns Sicherheit und wir platzieren diese auf den verschiedensten Ebenen. Das Verhalten auf einem Territorium zeigt die Veranlagung, die auch das Verhalten auf anderen Territorien prägt, relativiert durch die Werte und Glaubenssätze, die hinter unseren Motiven liegen. Auf diese lässt sich durch die Wahl der Territorien schließen, auf denen bevorzugt markiert wird. Auch in Bezug auf das Territorialverhalten sollte der Abgleich mit der zu besetzenden Stelle, Gruppendynamik im Team und der geplanten Strategie ausschlaggebend sein und nur sekundär die persönliche Präferenz des Recruiters oder des Vorgesetzten – wenn diese selbst einen hohen Revieranspruch haben, können sie gar der Mitauslöser etwaiger Konflikte sein. Der Großteil der Konflikte im Geschäftsleben gründet in Statusverletzungen und territorialen Übertritten. Missverständnisse und Konflikte entstehen immer dort, wo sich zwei Territorien überlappen und Unklarheit darüber besteht, wem es denn nun gehört und damit welchem der Beteiligten der Hoch- oder Tiefstatus zukommt. Bestehende Unklarheiten in der Hierarchie müssen geklärt werden, davor ist ein produktives Arbeiten in der Regel nur schwer oder gar nicht möglich. Die Klärung läuft überwiegend auf der nonverbalen Ebene oder indirekt über Verfahrensfragen. Plötzlich treten Widerstände auf, bei denen man sich so manches Mal fragt, um was es eigentlich gerade wirklich geht – oft ist es der ungeklärte Status. Neben Hoch- und Tiefstatus lässt sich dieser nach innerem und äußerem Status unterteilen. Während äußerer Status verbal und durch Statussymbole kommuniziert wird, gründet der innere Status auf unserer Persönlichkeit und drückt sich über unsere Körpersprache aus. Es ergeben sich vier Kombinationen und die Typen Macher, Teamplayer, Arroganter oder Charismatiker. Die Kunst liegt in der Flexibilität, mit der zwischen hohem und tiefem Status gewechselt werden kann. Die Voraussetzung für einen schnellen Wechsel liegt in einem hohen inneren Status. Dieser wird durch innere Klarheit über die eigenen Wünsche, Ziele und Rolle geprägt.

Literatur 1. Frans de Waal: Der Affe in uns, S. 184 f.; dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München, 2017 2. Joe Navarro: Menschen lesen, S. 81; mvg Verlag, München, 2011 3. Gottfried Koch. Leipzig, „Macht, Management und Verhaltensbiologie -Grundzüge eines verhaltensorientieren Managements“, S. 1 https://link.springer.com/article/10.1007/BF03353540 aufgerufen am 14.10.2018 4. Frans de Waal: Der Affe in uns, S. 74; dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München, 2017 5. https://www.ted.com/talks/amy_cuddy_your_body_language_shapes_who_you_are aufgerufen 14.10.2018 6. Richard Conniff: Was für ein Affentheater, S. 127; Campus Verlag, Frankfurt am Main, 2006

Literatur

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7. Samy Molcho: Körpersprache, S. 214; Goldmann Verlag, München, 1996 8. Samy Molcho: Körpersprache der Kinder, S. 120; Hugendubel Verlag, Kreuzlingen/München, 2005 9. Richard Conniff: Was für ein Affentheater, S. 130; Campus Verlag, Frankfurt am Main, 2006 10. Jack Nasher: Deal, S. 21; Goldmann, München, 2015 11. Michael Argyle: Körpersprache und Kommunikation, S. 214; Junfermann, Verlag, Paderborn, 2013 12. Horst Rückle: Körpersprache für Manager, S. 347 f.; Verlag moderne Industrie, Landsberg/ Lech, 1992 13. Horst Rückle: Körpersprache für Manager, S. 346; Verlag moderne Industrie, Landsberg/Lech, 1992 14. Allan und Barbara Pease: die kalte Schulter und der warme Händedruck, S. 194; Ullstein Taschenbuch, Berlin, 2006 15. Irenäus Eibl-Eibesfeld: Die Biologie des menschlichen Verhaltens, S. 481; R. Piper GmbH & Co. KG, Frankfurt am Main, 1995 16. http://arbeitsblaetter.stangl-taller.at/KOMMUNIKATION/Kommunikation-Distanz.shtml aufgerufen am 14.10.2018 17. Daniel Kahneman: Schnelles Denken, langsames Denken, S. 112–116; Siedler Verlag, München, 2012 18. http://de.wikimannia.org/Rattenexperiment aufgerufen am 02.05.2018 19. Richard Wilkinson und Kate Pickett: Gleichheit, S. 97; Haffmanns & Tolkemitt, Berlin, 2016 20. Allan und Barbara Pease: die kalte Schulter und der warme Händedruck, S. 191; Ullstein Taschenbuch, Berlin, 2006 21. (http://www.faz.net/aktuell/beruf-chance/beruf/kommentar-freizeit-ist-die-neue-waehrung-15254472.html aufgerufen am 06.04.2018) 22. Jörg Knoblauch: Die besten Mitarbeiter finden und halten; Hörbuch, Tempus Verlag, Giengen, 2011 23. Daniel Goleman: Emotionale Intelligenz, S. 110, Carl Hanser Verlag, München-Wien, 1996 24. Eskil Burck, Die Macht der Situation; S. 115; BoD, Norderstedt, 2017 25. Eskil Burck, Die Macht der Situation; S. 110; BoD, Norderstedt, 2017 26. http://www.faz.net/aktuell/beruf-chance/beruf/pflanzen-im-buero-schaffen-ein-besseres-arbeitsklima-15466409.html aufgerufen am 14.10.2018 27. Horst Rückle: Körpersprache für Manager, S. 343; Verlag moderne Industrie, Landsberg/Lech, 1992 28. Samy Molcho: Körpersprache des Erfolgs, S. 121; Heinrich Hugendubel Verlag, Kreuzlingen/ München, 2005 29. Jack Nasher: Überzeugt, S. 139; Campus Verlag, Frankfurt am Main, 2017 30. Frans de Waal: Der Affe in uns, S. 87; dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München, 2017 31. Frans de Waal: Der Affe in uns, S. 72; dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München, 2017 32. Richard Conniff: Was für ein Affentheater, S. 85; Campus Verlag, Frankfurt am Main, 2006 33. Tom Schmitt, Michael Esser: Status-Spiele, S. 16; Fischer Taschenbuch, Frankfurt am Main, 2016 34. Tom Schmitt, Michael Esser: Status-Spiele, S. 31; Fischer Taschenbuch, Frankfurt am Main, 2016 35. Tom Schmitt, Michael Esser: Status-Spiele, S. 22; Fischer Taschenbuch, Frankfurt am Main, 2016 36. Jack Nasher: Überzeugt, S. 140; Campus Verlag, Frankfurt am Main, 2017

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5  Status und Territorialverhalten

37. Richard Conniff: Was für ein Affentheater, S. 209 ff.; Campus Verlag, Frankfurt am Main, 2006 38. Tom Schmitt, Michael Esser: Status-Spiele, S. 48; Fischer Taschenbuch, Frankfurt am Main, 2016 39. https://www.ifp.bayern.de/imperia/md/content/stmas/ifp/fachkongress/dickinson_sprachen_ paradox_ger.pdf 15.10.2018 40. Richard Conniff: Was für ein Affentheater, S. 142; Campus Verlag, Frankfurt am Main, 2006 41. Jack Nasher: Überzeugt, S. 97; Campus Verlag, Frankfurt am Main, 2017 42. Tom Schmitt, Michael Esser: Status-Spiele, S. 51; Fischer Taschenbuch, Frankfurt am Main, 2016 43. Stefan Merath: Dein Wille geschehe, Kapitel 32, Min. 8; Hörbuch, Gabal Verlag, Offenbach, 2017 44. https://de.wikipedia.org/wiki/Ashbysches_Gesetz Aufgerufen: 2018-04-20

6

Haltung

Zusammenfassung

Kap. 6 beschreibt den Einfluss der Haltung auf die Selbst- und Fremdwahrnehmung im Gespräch sowie verschiedene Ursachen spezifischer Haltungsausdrücke und mögliche Implikationen. Neben der Haltung im Stehen werden Ursachen und Bedeutungen verschiedener Sitz- und Kopfhaltungen sowie der Schultern und des Rumpfes beschrieben und vor dem Hintergrund des Bewerbungsgesprächs behandelt. Abschließend werden Schlüsselelemente der eigenen Haltung und ihre Einsatzmöglichkeiten im Recruiting aufgeführt und grundlegende Übungen beschrieben, mit denen der Recruiter die eigene Haltung verbessern kann. Neben dem hohen Einfluss der Haltung auf den ersten Eindruck zeichnete sich bereits in Kap. 3 zur Wechselwirkung zwischen äußerer Haltung und innerem Empfinden der Einfluss ab, den die Haltung auf das Selbstbewusstsein und das folgende Verhalten ausübt. Darüber hinaus deutete sich im Rahmen des Projektions-Mechanismus in Kap. 3 an, wie die Haltung unserer Mitmenschen bei uns unbewusste Beurteilungsmechanismen ­aktiviert.

6.1 Einführung Da nicht nur die innere Haltung die äußere beeinflusst, sondern auch umgekehrt, eröffnen sich aufschlussreiche Einblicke, wenn kritische Standpunkte diskutiert werden und dabei die Haltung des Bewerbers beachtet wird. Aus dessen Haltungsveränderungen und Anpassungsvorgängen lässt sich der aktuelle Grad seiner Übereinstimmung und Kooperationsbereitschaft ableiten. Gibt er nach einer Diskussion lediglich ein Lippenbekenntnis ab, verändert dabei aber nicht seine Körperhaltung, hat sich auch seine innere © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 C. Bernhardt, Nonverbale Kommunikation im Recruiting, https://doi.org/10.1007/978-3-658-25276-2_6

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6 Haltung

Haltung noch nicht verändert [1]. Wird dieses vom Recruiter wahrgenommen, können kritische Punkte eines Projekts oder zukünftige Herausforderungen nochmals aufgegriffen oder neu formuliert und etwaige Einwände hinterfragt werden, um doch noch zueinander zu kommen. Darüber hinaus wirkt sich unsere Haltung direkt auf unsere Motivation und unser Durchhaltevermögen aus und signalisiert damit offen unsere aktuelle Einstellung. Self-Perception-Theorie John Riskind und Carolin Gotay untersuchten 1982, wie die Haltung unsere Motivation beeinflusst. Hierzu brachten sie zwei Versuchsgruppen in unterschiedliche Körperhaltungen. Den sitzenden Teilnehmern der ersten Gruppe wurde durch die Versuchsleiter der Oberkörper nach vorne und unten gedrückt, sodass Kopf und Brust nach unten hingen. Es ergab sich eine unterdrückte und unterwürfige Körperhaltung. Hingegen wurden bei den Teilnehmern der zweiten Gruppe die Schultern angehoben, geöffnet und nach hinten unten geführt, wodurch sich ihr Brustkorb weitete. Zusätzlich wurde das Kinn leicht angehoben. Beides stellt Merkmale einer stolzen Körperhaltung dar, die Menschen zeigen, nachdem sie eine große Herausforderung erfolgreich bewältigt haben. Im Anschluss mussten beide Teilnehmergruppen eine frustrierende Aufgabe bearbeiten, bei der sie versuchen sollten, ein (unlösbares) Puzzle zu lösen. Das Ergebnis war hoch signifikant und zeigte, dass die zuvor eingenommene Körperhaltung einen enormen Einfluss auf die Frustrationstoleranz und das Durchhaltevermögen der Teilnehmer hatte. Während die Teilnehmer der ersten Gruppe im Durchschnitt nach 10,78 Puzzle-Teilchen aufgaben, gaben die Teilnehmer der zweiten Gruppe erst nach durchschnittlich 17,11 Teilchen auf. Die aufrechte Körperhaltung bewirkte damit eine Steigerung von knapp 65 % [2].

Auch wenn noch andere Einflüsse in die zukünftige Performance hineinspielen, können prinzipiell aus der Haltung des Bewerbers Rückschlüsse auf dessen Motivation und zu erwartendes Durchhaltevermögen gezogen werden. Dabei darf sich der Recruiter nicht vom ersten Eindruck täuschen lassen. Da der Bewerber weiß, was von ihm erwartet wird, wird er versuchen, besondere Präsenz zu zeigen. Über ein längeres Gespräch hinweg ist es aber kaum möglich, eine Haltung zu simulieren, die nicht unserem Inneren entspricht: Es gilt also, den Blick für die Grundhaltung zu entwickeln, die sich zeigt, wenn sich die erste Anspannung beim Bewerber gelegt hat. Zeigt diese eine entmutigte, eingefallene, gebeugte Haltung, mit hängenden Schultern oder eine optimistisch aktionsbereite Einstellung? Auch ein Blick auf die Haltung des Bewerbers, während dieser sich nicht beobachtet fühlt, beispielsweise wenn er das Betriebsgelände betritt oder nachdem er den Gesprächsraum verlassen hat, kann aufschlussreiche zusätzliche Eindrücke vermitteln. Wenn wir die Ergebnisse genauer betrachten, fällt auf, dass es sich nicht um bestimmte Persönlichkeitstypen mit spezifischen Persönlichkeitsmerkmalen handelte, die in verschiedene Haltungen gebracht wurden, sondern um beliebige Probanden. Ebenso wurde die Bedeutung der Haltung nicht verbalisiert, um die Teilnehmer nicht zu beeinflussen. Die Studie belegt, dass wenn wir eine motivierte oder entmutigte Haltung einnehmen, diese die zugehörige Einstellung nach sich zieht. Wie die folgende Studie zeigt, drücken sich auch Misserfolge in unserer Haltung aus.

6.2  Haltung im Stehen – Implikationen und Wirkungen

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Die Psychologen Glenn Weisfeld und Jody Beresford untersuchten im Jahr 1982, wie sich Erfolg und Misserfolg auf unsere Haltung auswirken. Hierzu beobachteten sie Highschool-Absolventen, als diese ihre Examensergebnisse erhielten. Dabei nahmen die Absolventen mit den besten Noten eine aufrechtere Körperhaltung ein, während jene mit den schlechtesten Noten in eine gebeugtere Haltung verfielen. Interessant war, dass noch Jahre später beim Alumni-Treffen die ehemaligen Absolventen in ihre frühere Haltung verfielen, als sie sich an ihre alten Ergebnisse erinnerten.

Erinnert sich der Bewerber an negative Erlebnisse früherer Gespräche oder ist er aktuell in einer bedrückenden Lebenslage, kann sich dies in seinem Auftreten ausdrücken und sagt gleichzeitig auch etwas über seinen Fokus aus. Während die einen motiviert nach vorne schauen und Chancen suchen, hängen andere an der Vergangenheit fest und können nur schwer loslassen. Wird der Bewerber also aufgefordert, kritische Phasen seiner Vita zu erläutern, wie kurze Arbeitsverhältnisse, schnelle Wechsel, abgebrochene Studiengänge oder längere Unterbrechungen, wird seine Körpersprache die damals empfundenen Gefühle und Haltungen wiedergeben und dabei oft mehr vermitteln als seine Worte. Die visuelle Erinnerung kann durch die Art der Frage unterstützt werden, eine Aufforderung könnte beispielsweise lauten, sich den letzten Arbeitstag, den Moment, in dem die Entscheidung getroffen wurde, den Betrieb zu wechseln, die Zeit zwischen zwei Arbeitsverhältnissen oder den letzten Tag an der Universität vor Augen zu führen. Nach einer kurzen Pause, in der ein inneres Bild entstehen konnte, könnte nach dem Fazit gefragt werden, das aus dieser Zeit gezogen wurde, und danach, wie diese Zeit die persönliche Entwicklung beeinflusst hat. Während der Bewerber dann antwortet, sollte auf seine Haltung geachtet werden.

6.2 Haltung im Stehen – Implikationen und Wirkungen Neben den oben beschriebenen Studienergebnissen lässt sich die Haltung noch differenzierter beobachten. Dabei eröffnen der Schwerpunkt, die Bodenhaftung und Erdung sowie die Durchlässigkeit der Knie- und Hüftgelenke weitere Einsichten. Vor einer örtlichen Veränderung müssen zunächst die Füße bewegt werden. Um einen schnellen ersten annähernden Schritt zu erleichtern oder ihn vorsichtshalber zu unterlassen, nehmen wir eine gewisse Grundhaltung ein und drücken damit unsere Handlungsbereitschaft aus. Aus einem Stand, bei dem das Gewicht eher auf den Fersen lastet, dauert es länger, in Aktion zu treten. Dieser zeigt sich regelmäßig bei tendenziell reservierten Typen, die nicht gerne etwas riskieren und dazu neigen, sich häufiger zurückziehen und zurückhaltender und abwartender zu agieren [3]. Liegt der Schwerpunkt dagegen auf den Fußballen, kann schnell reagiert werden, teilweise befinden sich entsprechende Typen schon beinahe in Bewegung und schieben sich, während sie noch stehen, bereits mit den Schultern leicht nach vorne. Sie sind bereit, aktiv zu werden, können aber auch dazu neigen, impulsiv und vorschnell zu reagieren. Im Extrem wippt dieser Typus auf den Ballen und kann so noch schneller reagieren. Er ist offen für Neues und tendenziell risikofreudig, sein Interesse lässt sich leichter wecken, wenn man diesen Bedürfnissen Rechnung trägt und die Aktualität oder Neuartigkeit eines Projekts oder einer Aufgabe betont [3].

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6 Haltung

Herrscht eine optimale Balance des Schwerpunktes und steht der Bewerber gut geerdet auf seinen Füßen, lässt das auf ein ausgeglichenes Temperament schließen [3]. Das Thema Erdung wird in Kap. 13 vertieft. Im Gegensatz dazu signalisiert ein Hin- und Herwiegen von den Ballen auf die Fersen aktuelle Unsicherheit und drückt die Unentschlossenheit darüber aus, ob einem Hin-zu- oder Weg-von-Impuls gefolgt werden soll. Wird nach oben gewippt, drücken sich Selbstsicherheit oder ein Entscheidungsprozess sowie das Abwägen zwischen Ratio und Gefühl aus. Ein breitbeiniger Stand zeigt, abhängig vom Grad der Standbreite, Dominanz und Konfrontationsbereitschaft bis hin zu Aggressivität. Ein schmaler Stand beansprucht dagegen kaum Territorium und signalisiert so Anpassungsbereitschaft. Ein breitbeiniger Stand ergibt sich ab Schulterbreite, während ein schmaler Stand weniger als hüftbreit ist und bis hin zu sich berührenden Füßen reicht. Eng geschlossene Beine zeugen von Passivität und Angepasstheit [1]. Gesprächspartner, die dazu neigen, zu tänzeln und häufig das Standbein zu wechseln, flüchten dagegen laut Molcho gerne in ihre Träume und Fantasien [1]. Das muss kein Nachteil sein: Auch in der digitalen Welt verschwimmen die Grenzen zur Realität, und von kreativen Typen, denen der Blick über den Tellerrand gelingt, können wichtige Impulse für neue Prozesse und Musterwechsel kommen. Diese können dann immer noch von ausgeglicheneren Menschen umgesetzt und von den aggressiven Kollegen im Markt platziert und gegen die Konkurrenz verteidigt werden. Die „Door Plane“ Mark Bowden betrachtet den Körper von der Seite und zieht eine senkrechte Linie durch die Mitte des Fußes, durch den vertikalen Mittelpunkt hinter dem Bauchnabel und durch die Ohren, um einen von ihm als Door Plane bezeichneten imaginären Türrahmen zu bilden. Mit dessen Hilfe zeigt sich, ob das Gegenüber eher extrovertiert oder introvertiert ausgerichtet ist. Während sich der introvertierte Typus leicht hinter die Mitte des imaginären Türrahmens zurücklehnt, stehen neutrale und ausgeglichene Typen gerade. Extrovertierte Typen neigen sich mit ihrem Körperschwerpunkt leicht vor diese senkrechte Linie und zeigen damit ihr zu ihren Mitmenschen drängendes Wesen [4].

Sowohl beim Stehen als auch beim Gehen gibt die Ausrichtung der Hände weiteren Aufschluss über die Einstellung des Gegenübers: Nach vorne gedrehte Handrücken verdecken persönliche Gefühle, führen zu einem Verschließen des Oberkörpers und wenden anderen die robustere, unempfindlichere Außenseite zu. Hier sind weniger Information zu erwarten als bei neutralen oder gar geöffneten Haltungen, bei denen die Handflächen sichtbar sind [5]. Auch die Armhaltung ist aufschlussreich: Hängen diese unbeteiligt und passiv hinab oder sind sie leicht angewinkelt und einsatzbereit? Ebenso kann sich die Dominanz eines Armes zeigen, der in Aktion tritt, während der andere passiv bleibt. Die Bedeutung folgt der in Kap. 3 beschriebenen Lateralität.

6.3  Haltung im Sitzen – Implikationen und Wirkung

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6.3 Haltung im Sitzen – Implikationen und Wirkung Nachdem bei der Begrüßung und beim Eingangs-Smalltalk einen Eindruck über die Haltung des stehenden Kandidaten gewonnen wurde, findet der Rest des Gesprächs sitzend statt. Wie man sich bettet, so liegt man, und wie man sich setzt, so führt man das anschließende Gespräch. Auch im Sitzen wirken unsere Empfindung und unsere Körperhaltung aufeinander. Wer sich machtlos fühlt, nimmt eine defensive, entmutigte Körperhaltung ein, verschränkt die Arme und macht sich klein. Jemand, der sich einflussreich fühlt, füllt den Raum aus und nutzt ausladende Gesten. Analog zum Verhältnis zum Raum, vermittelt auch das Verhältnis zum Mobiliar die innere Einstellung des Gesprächspartners. Einen ersten, gut wahrnehmbaren Anhaltspunkt bildet die eingenommene Entfernung zum Tisch, welcher einerseits das Territorium des Arbeitgebers, aber andererseits auch den gemeinsamen Verhandlungsplatz darstellt. Ein souveräner Bewerber kann durchaus zunächst einen kleinen Abstand zum Tisch halten. Das gibt ihm eine gewisse Beinfreiheit sowie Flexibilität und lässt es ihm immer noch offen, näherzukommen, wenn er überzeugt wurde. Zunächst gibt er dem Arbeitgeber Raum für dessen Angebot. Molcho beschreibt es bildhaft: Ein Geschäft wird auf festem Boden vereinbart, dieser feste Boden wird im Gespräch durch den Tisch dargestellt. Sind die Hände noch nicht am, auf oder über dem Tisch, ist der Gesprächspartner noch nicht abschlussbereit [6]. Wichtig ist, dass die Entfernung zum Tisch nicht zu groß wird, das würde eine verbindliche Kontaktaufnahme verhindern. Ein größerer Abstand, bei dem mit den Händen der Tisch nicht mehr erreicht werden kann, lässt eine gewisses Misstrauen oder den ausgeprägten Wunsch nach Freiheit und Selbstbestimmtheit vermuten, wobei hier kulturelle Einflüsse möglich sind. Im Gegensatz dazu nimmt ein allzu nahes Heranrücken an den Tisch dem Sitzenden jede Bewegungsfreiheit und gibt dem Kontakt etwas Getriebenes. Der Recruiter wird beinahe automatisch dazu neigen, sich etwas zurückzuziehen, um den Bewerber kritischer zu prüfen. Während der obere Teil des Rumpfes durch unsere Rippen geschützt ist, wurde im unteren Teil dieser Schutz zugunsten der Beweglichkeit aufgegeben, entsprechend angreifbar und verletzbar sind wir in diesem Bereich. Von daher kann beobachtet werden, wie nah der Bewerber an den Tisch heranrückt und dadurch seine untere Bauchregion schützt. Das Ausmaß, mit dem diese Region geschützt wird, zeugt von der empfundenen Verletzbarkeit und Unsicherheit. Zusätzlich können durch Aktentaschen, Bewerbungsmappen oder Laptops schützende Blockaden errichtet werden. Im Vergleich dazu hält ein selbstbewusster Bewerber etwas Abstand zum Tisch und zeigt seine Bauchregion offen und ungeschützt. Je nach Stuhlform verhindern Armlehnen, dass der Bewerber allzu nah an den Tisch rückt. Hier kann zwischen den Gesprächen variiert werden, beispielsweise mit einem unbeweglichen Stuhl ohne Armlehnen im ersten Gespräch und einem drehbaren Stuhl mit Armlehnen im zweiten Gespräch. Die höhere Beweglichkeit, Sicherheit und der höhere Status des Letzteren lassen dem Bewerber größere Freiheiten, was zu zusätzlichen nonverbalen Signalen führt und weitere Einsichten in seine Persönlichkeit eröffnet.

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6 Haltung

Weiteren Aufschluss gibt die Sitzposition des Bewerbers auf dem Stuhl. Anhand der Tiefe, mit der er sich auf den Stuhl setzt, lässt sich unterscheiden, ob der Stuhl souverän ausgefüllt wird oder ob noch Unsicherheit vorherrscht. Während Ersterer mit den Sitzhöckern stabil auf dem Stuhl sitzt und den unteren Rücken leicht an die Lehne anlehnt, wird ein unsicherer Bewerber eher vorne auf der Stuhlkante sitzen und sich mit dem unteren Rücken kaum bis an die Lehne trauen. Wer so weit vorne auf dem Stuhl sitzt, ist innerlich bereit, gleich wieder zu gehen, und kann womöglich gar nicht glauben, dass er tatsächlich willkommen ist. Traut er sich die Position wirklich zu? Wie schätzt er seine Kompetenz und Passgenauigkeit wirklich ein? Dieser Sitzhaltung fehlt es an Stabilität, und sie verhindert, dass sich die Unsicherheit des Bewerbers auflöst. Von daher sollte man sich die Zeit nehmen, um ihn behutsam ins Gespräch zu führen. Bei der Interpretation der Sitzposition muss die Körpergröße berücksichtigt werden. Kleinere Bewerber werden dazu neigen, weiter vorne zu sitzen, um nicht den Kontakt zum Boden zu verlieren. Wer sich dagegen behaglich hinsetzt, zeigt seine positive Grundeinstellung. Wenn einem Kandidaten eine solche Sitzhaltung sogar in einem Vorstellungsgespräch gelingt, deutet dies auf ein gesundes Selbstbewusstsein hin. Eine aufrechte Sitzhaltung offenbart Aufmerksamkeit und Konzentration. Auffällig sind in allen Fällen die Extreme: Bewerber, die mit ihrem Rücken die Rücklehne voll in Beschlag nehmen und sich dabei noch lässig zurücklehnen, fühlen sich offensichtlich sehr wohl. Stützen sie dabei noch einen Arm an der Armlehne ab, vermittelt die asynchrone Haltung zwar eine gewisse Coolness, sollte jedoch zur Gesprächsatmosphäre, zur zu besetzenden Stelle und zur Haltung des Recruiters passen, um nicht aufgesetzt und überheblich zu wirken. Weiteren Aufschluss geben der Grad der Entspannung und die Beweglichkeit: Wird sich nicht lässig, sondern angespannt zurückgelehnt, zeigt dies einen latenten Vorbehalt und ein gewisses Schutzbedürfnis, das jedoch durchaus der Situation geschuldet sein kann. Das Zurücklehnen kann auch darin begründet sein, dass das Gegenüber mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt ist. In Bezug auf den Gesprächspartner ist aktuell jedenfalls keine Aktivität geplant. Ein vorgeneigter Oberkörper signalisiert dagegen Annäherung, Interesse und Handlungsbereitschaft. Von daher sollte registriert werden, bei welchen Themen sich das Gegenüber von der Lehne löst. Diese weisen den Weg zu den Motiven und Interessen des Bewerbers. Horst Rückle beschreibt die Implikationen, die verschiedene Arten, Platz zu nehmen, ausdrücken. Setzt sich der Gesprächspartner nur zögernd, drücken sich dadurch mangelnder Mut und Sicherheit, den ganzen Platz in Besitz zu nehmen, aus. Die gezeigte Bescheidenheit zeigt, dass sich der Gesprächspartner auch bei späteren Verhandlungen, beispielsweise in Bezug auf das Gehalt, vermutlich mit einem kleinen Stückchen zufriedengeben wird. Besetzt der Bewerber dagegen selbstbewusst die ganze Sitzfläche, zeigt er, dass er das Angebot voll nutzen will und genügend Sicherheit mitbringt, um sich nicht mit einem kleinen Stück zufriedenzugeben [7]. Während einige Sitzhaltungen ein zielführendes Gespräch unterstützen, lenken andere von einer ergebnisorientierten Kommunikation ab. Eine gebeugte Haltung, die sich wie vor Schlägen duckt, vermittelt einen schuldbewussten Eindruck, bei dem man sich

6.4 Kopfhaltung

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f­ragen kann, was hinter dem empfundenen Schuldbewusstsein steckt. Eine überstreckte Haltung zeigt dagegen durch ihre Überspannung das Bestreben, unbedingt alles richtig machen zu wollen [8]. Der Bewerber empfindet Druck und ist auf die Stelle angewiesen. Wenn er sich angeblich aus ungekündigter Beschäftigung heraus bewirbt, sollte dies hinterfragt werden. Die Ausrichtung des Körpers signalisiert das Konfrontationsvermögen des Bewerbers. Wendet der Bewerber seinen Körper dem Recruiter frontal und offen zu, drücken sich Aufmerksamkeit und Verbindlichkeit aus. Ein verdrehter Oberkörper will dagegen lieber gehen, als sich der Situation zu stellen. Die Ausrichtung des Oberkörpers zeigt in längeren Gesprächen, wohin das Interesse des Bewerbers geht oder welchem Gesprächspartner dieses bevorzugt gilt, seine Nase-Nabel-Achse und Schultern orientieren sich nach und nach dorthin. Wer im Bemühen, sich zu verbarrikadieren, tiefer in den Sitz rutscht, zeigt seinen Wunsch, sich zu verstecken. Macht er es sich dabei jedoch allzu bequem, wirkt er schnell desinteressiert oder überheblich. Im Gegensatz dazu senkt eine anbiedernde Haltung den Status, sie drückt zu viel Engagement und Aktionismus aus [9]. Das betonte Aufrichten des Oberkörpers kann dagegen eine gewisse Eitelkeit anzeigen, aber auch hier ist der Kontext entscheidend: Wurde vom Recruiter gerade eine Laudatio auf einen besonderen Erfolg des Bewerbers gehalten, darf und sollte sich bei diesem natürlich ein gewisser Stolz zeigen.

6.4 Kopfhaltung Unabhängig davon, ob man sitzt oder steht, ist der Kopf beim Gespräch stets im Blickfeld und drückt über seine Haltung verschiedene Einstellungen aus. Die deutsche Sprache benennt dies sogar, wenn sie beispielsweise von Zuneigung, Halsstarrigkeit oder einem Wendehals spricht. Unser Kopf mit den wichtigsten Sinnesorganen muss offen und beweglich sein, um neue Informationen empfangen zu können. Gleichzeitig muss das empfindliche Gehirn geschützt werden. Dadurch zeigt die Kopfhaltung, ob das Bedürfnis nach Stimulanz oder jenes nach Balance und Sicherheit überwiegt, der Grad seiner Beweglichkeit des Kopfes hängt von der Nackenmuskulatur ab. Nacken Während ein beweglicher Kopf sich nach allen Seiten orientieren kann und mit einem entspannten und flexiblen Nacken einhergeht, müssen wir diesen anspannen, wenn wir Druck empfinden und zurückdrücken müssen, etwas konfrontieren wollen oder uns nicht ablenken, sondern auf eine Sache konzentrieren und fokussieren wollen. Je steifer der Nacken, desto weniger ablenkende Informationen können verarbeitet werden, im Extrem können wir nur noch nach vorne, auf die eine Sache, schauen. Die Nackenmuskulatur ist mit der Kiefermuskulatur verbunden, und nicht selten neigen verbissene Typen infolge ihres nächtlichen Knirschens zu einem verspannten Nacken.

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6 Haltung

 Übung  Wie unangenehm ein verspannter Nacken ist und wie er sich aufs Gemüt auswirkt, können Sie direkt selbst erleben: Spannen Sie bitte den Nacken an und fühlen Sie in sich hinein, in der Regel überträgt sich die Anspannung und Ihnen ist gerade nicht zum Lachen zumute.

Verliert der Nacken an Beweglichkeit, ergibt sich eine statischere Haltung, die regelmäßig zu ruckartigen Kopfbewegungen führt. Molcho nennt solche Menschen Schienenmenschen, ergänzt aber, dass Schienen durchaus auch ein Netz bilden können [10]. Der Blick dieser Bewerber ist auf ihr Ziel ausgerichtet und sie lassen sich nur ungern davon ablenken. Beim Ziel kann es sich in der kritischen Zeit der beruflichen Neuorientierung durchaus auch um die Fokussierung auf die nächste Stelle handeln, dennoch zeigt sich hier zugleich die Fähigkeit zur rigiden Abgrenzung, andere sind in dieser Phase weniger fokussiert. Entsprechend können diese Typen leichter irritiert reagieren, wenn sich Störungen oder Abweichungen ergeben. Bei der späteren Zusammenarbeit ist dieser Mitarbeiter durchaus flexibel und kann in jede Richtung geführt werden, aber Ziel und Fahrplan in Form eines Konzepts müssen davor festgelegt sein [10]. Planung und Transparenz sind wichtig: Molcho unterstellt diesem Typus eine hohe Belastbarkeit unter der Prämisse, dass er rechtzeitig und professionell darauf vorbereitet wird [11]. Ein sich im Gespräch plötzlich versteifender Nacken signalisiert, dass etwas registriert wurde, das den Wunsch, die Bereitschaft oder die Notwendigkeit zur Konfrontation aktiviert hat. Der Gesprächspartner könnte sich durch eine Aussage bedroht fühlen oder einen Widerspruch oder schwachen Punkt in unserer Argumentation entdeckt haben. Löst sich dagegen die Spannung, wird sich der Nacken neigen und sich der Kopf uns zuwenden, um freundlich in Kontakt zu treten und zu kooperieren. Der zur Seite geneigte Kopf signalisiert Zuneigung, Sympathie und das Interesse an zusätzlichen Informationen. Er nimmt Spannung aus dem Kontakt, vermittelt Vertrauen, zeugt von Aufmerksamkeit, die uns entgegengebracht wird, und löst Fronten auf. Die positive Wirkung eines geneigten Kopfes ist tief verankert und ein prägender Bestandteil eines zugänglichen Kommunikationsstils. Die enorme Wirkung, die ein geneigter Kopf erzielt, gründet in unserer frühkindlichen Prägung und wird nachfolgend im Rahmen der eigenen Kopfhaltung erläutert. Im Gegensatz zu halsstarrigen Gesprächspartnern sind Menschen mit beweglichem Nacken meist nicht gleichermaßen zielgerichtet und oft auch nicht so schnell in der Verrichtung ihrer Aufgaben [11]. Sie brauchen einfach etwas mehr Zeit, um zusätzliche Informationen zu sammeln und zu integrieren, um ihre Entscheidungen zu treffen. Dabei können sie durch diese zusätzlichen Informationen jedoch auch häufiger zu Lösungsansätzen kommen, die einen Blick über den Tellerrand erlauben und die ermöglichen, eingefahrene Pfade der Vergangenheit, die mittlerweile zum Holzweg wurden, zu verlassen. Entsprechende Typen zeichnen sich durch ein flexibles und offenes Wesen aus, zusätzliche Informationen, Neues und Überraschungen stellen für sie gewissermaßen das Salz in der Suppe des Lebens dar. In Bezug auf die Spannung des Nackens liegt der Ausgleich zwischen den Extremen. Ein entspannter und gerade gehaltener Kopf, der in

6.5  Haltung der Schultern

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seiner Grundbeweglichkeit nicht eingeschränkt ist, aber auch nicht jedem Impuls folgt, zeugt allgemein von konzentrierter Offenheit und flexibler Aktionsbereitschaft. Ebenfalls vom Nacken gesteuert, zeigt ein Zurückschieben des Kopfes den Versuch, Distanz zu erzeugen und den engeren Kontakt mit einem Thema zu vermeiden. Dahingegen signalisiert der vorgestreckte Kopf das Bestreben, an zusätzliche Informationen zu gelangen. Die Kopfhaltung lässt sich auch an der Kinnhaltung beobachten: Während das vorgestreckte Kinn eine offensive Einstellung vermittelt, drückt das zurückgenommene Kinn eine defensive Haltung aus. Die Nackenmuskulatur ist mit den Schultern verbunden und wird durch diese beeinflusst. Nachfolgend werfen wir einen Blick auf deren Signale.

6.5 Haltung der Schultern Die Schultern üben eine wichtige Schutzfunktion für unseren Kopf aus und stellen eine kritische Region dar, um zwischen gehemmten und freien Gefühlen zu unterscheiden. Wenn wir uns erschrecken, „fahren“ wir zusammen und machen uns klein. Im Bestreben, den Kopf einzuziehen und den verletzlichen Hals und Nacken zu schützen, schieben sich unsere Schultern unwillkürlich hoch, sobald Gefahr droht. Diese Gefahr kann auch eingebildet sein oder nur vermutet werden, aber die gehobenen Schultern signalisieren, dass der Körper bereit ist, in Deckung zu gehen. Während sie nach oben gezogen werden, schieben sich die Schultern gleichzeitig ein wenig nach vorne. Wird dies zur Gewohnheit oder zur chronischen Haltung, ergeben sich eine latent eingefallene Haltung von Schultern und Brust sowie eine latent geschlossene Haltung der Arme, die nur auf eingeschränkte Handlungsbereitschaft schließen lassen, zumindest in Bezug auf das aktuelle Thema: Der Bewerber ist momentan mehr mit sich und dem Schutz der eigenen Angelegenheiten beschäftigt und wird aktuell nur schwer seine ganze Energie in den betrieblichen Leistungsprozess einbringen können. Natürlich kann sich hier auch die Anspannung zeigen, die jemand empfindet, der bei der Arbeitssuche unter starkem Druck steht und womöglich Angst hat, dass er wieder abgelehnt wird. Der in Kap. 3 erwähnte Schildkröteneffekt entsteht durch den eingezogenen Kopf und die hochgezogenen Schultern, die vorsorglich den empfindlichen Kopf gegen eine etwaige Bestrafung schützen. Diese Haltung zeigt sich regelmäßig bei Ladendieben oder anderen Menschen, die sich schuldig fühlen, ein schlechtes Gewissen haben oder Bestrafung fürchten. Im Interview können sich hochgezogene Schultern zeigen, wenn der Bewerber befürchtet, dass seine Antwort nicht gut ankommt, oder wenn er Angst hat, dass eine Täuschung entdeckt wird. Wer die Wahrnehmung auf die Schultern der Bewerber erweitert, wird während der Antwort nicht selten ein unwillkürliches, subtiles Hochzeihen oder ein entschuldigendes Zucken bemerken. Die Ausrichtung der Schultern kennzeichnet etwaige Flucht- und Ausweichtendenzen des Gegenübers und ermöglicht es, die Gesprächsführung daran anzupassen. Auf diese Weise die Achtsamkeit für die Bewegungen der Schultern zu entwickeln, steigert nicht nur bei der Arbeit unsere emotionale Intelligenz.

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6 Haltung

Schultern und Kehlkopf werden beide vom 11. Hirnnerv gesteuert [12]. Dieser mündet in den Hirnstamm, und damit in einem wesentlich älteren Hirnzentrum als die Broca- und WernickeAreale im Kortex, welche die Sprache steuern. Wird an einer Aussage gezweifelt, sind folglich ein begleitendes Schulterzucken und eine veränderte Stimme zuverlässigere Indikatoren als das gesprochene Wort. Durch die Verbindung zum Kehlkopf führen angespannte und hochgezogene Schultern zu einer helleren, gepressteren und zugänglichen Stimme, während Entspannung und tiefe Schultern eine akzentuierte und glaubhafte Stimme bewirken.

 Übung Das Achselzucken hat seinen Ursprung im uralten Schutzkauern [13] und drückt Machtlosigkeit, Unsicherheit, Resignation, Zweifel und die Angst vor Bestrafung, möglicherweise nach einer Täuschung, aus. Sie können diesen Ursprung selbst erleben, wenn Sie die Schultern hochziehen und für einige Sekunden halten. Probieren Sie es für fünf Sekunden aus und ziehen Sie jetzt die Schultern hoch, bevor Sie weiterlesen. Sie werden bemerken, dass Sie aufgehört haben, zu atmen. Die Verknüpfung, von „sich kleinmachen“ durch hochgezogene Schultern und „gleichzeitig aufzuhören zu atmen“, damit etwaige Feinde uns nicht bemerken, ist auch heute noch tief in uns verankert.

Die Art und Weise, wie mit den Schultern gezuckt wird, eröffnet weitere Einsichten: Bei wahrheitsgemäßen Aussagen, beispielsweise der Aussage, dass jemand „gerade keine Ahnung“ hat, zucken beide Schultern gleichzeitig. Zuckt dagegen nur eine Schulter, wird das Zucken gebremst oder halb durchgeführt, zeigt sich durch seine Asymmetrie der Einfluss unseres Bewertungssystems. Es liegt höchstwahrscheinlich ein Ausweichoder Täuschungsmanöver vor. Das gezeigte einseitige Zucken kann von einem gleichgültigen oder gar leicht verächtlichen Gesichtsausdruck begleitet werden, der nonverbal die Aussage vermittelt: „Das es nicht klappt, ist Ihre Sache, da kann ich auch nicht helfen.“ Wobei das „kann nicht“ oft ein „will nicht“ ist. Ein tatsächliches „kann nicht“ geht normalerweise mit einem hilflosen und empathischen Zucken beider Schultern einher. Das Schulterzucken erläutert auch ein „Nein“, das uns entgegengebracht wird. Ein ernstes und endgültiges Nein geht in der Regel mit einer härteren, abgesenkten Stimme einher, bei dem die Schultern sich absenken und tief bleiben. Ein empathisches Schulterzucken, das ein „Tut mir wirklich leid für Sie“ vermittelt, ist symmetrisch und trägt einen endgültigen Charakter. Dagegen können noch Verhandlungsmöglichkeiten bestehen, wenn sich ein begleitendes, weiches, gehemmtes, leicht schuldbewusstes Schulterzucken zeigt, nach dem Motto, „Es könnte eigentlich noch einen Weg geben und es tut mir auch leid, aber ich sage jetzt mal Nein und hoffe, Sie lassen es mir durchgehen“. Das Nein ist in diesem Fall eher ein „Vielleicht“, und es kann sich lohnen, z. B. bei Deadlines, Fristen oder Schmerzgrenzen beim Gehalt noch einmal nachzuhaken, ob nicht doch noch Ermessensspielraum oder die Möglichkeit zum Nachsteuern besteht. Im Interview kann auch im Rahmen des möglichen Einstiegsdatums auf dieses Signal geachtet werden. Kann der Bewerber tatsächlich nicht früher beginnen oder scheut er die K ­ onfrontation

6.6  Die eigene Haltung entwickeln

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mit dem letzten Arbeitgeber, um einen früheren Austritt zu realisieren? Ist vielleicht zwischen den beiden Arbeitsverhältnissen noch ein Urlaub angedacht, aber noch nicht gebucht? Ein Blick auf die Schultern hilft, um die Aussage zu qualifizieren.

6.6 Die eigene Haltung entwickeln Eine aufrechte Haltung wirkt nicht nur nach außen positiv und attraktiv, sondern beeinflusst auch nach innen positiv unsere Wahrnehmung und Stimmung. Prinzipiell kann unser Organismus entweder wachsen oder sich schützen [14]. Während mehr oder weniger stark kontrahierte Beuger eine latente Angst im Organismus begünstigen, [15] die uns Schutz suchen lässt und unsere Wahrnehmung auf potenziell schädliche, negative Inhalte lenkt, kann sich ein angstfreier, aufgespannter Körper Wachstumsinhalten zuwenden. Die Gegenspieler zu den kontrahierenden Muskeln der tonischen Muskulatur bilden die aufspannenden Muskeln der phasischen Muskulatur [16]. Unser von Natur aus auf Effizienz ausgerichteter Organismus erhält jene Muskeln, die benutzt werden, und bildet jene zurück, die wir wenig oder gar nicht nutzen. In der modernen Industriegesellschaft nehmen wir regelmäßig sitzende Haltungen ein und aktivieren dabei unsere Beugemuskulatur. Dadurch sind deren Gegenspieler in der Regel stark zurückgebildet und es herrscht Handlungsbedarf, um für eine gewinnende Körpersprache das Gleichgewicht zwischen phasischer und tonischer Muskulatur zurückzugewinnen. Auch wenn es eine Veränderung lieb gewonnener Gewohnheiten bedeutet, sind es die positiven Auswirkungen auf die persönliche Gesundheit, das psychische Wohlbefinden und die eigene Ausstrahlung eigentlich immer wert. Sportarten, bei denen die phasische Muskulatur trainiert wird, unterstützen diesen Prozess. Diese zeichnen sich durch ihre Nichtvorhersehbarkeit aus, machen in der Regel richtig Spaß und steigern die Wachheit. Beispiele hierfür sind Tanzen, Lifekinetik und sämtliche Ballsportarten. Auch die Arbeit im Stehen am höhenverstellbaren Schreibtisch unterstützt eine aufrechte Haltung, warum damit warten, bis die Rückenschmerzen da sind? Die Ausfallkosten eines Mitarbeiters übertreffen schon nach kurzer Zeit die Anschaffungskosten eines entsprechenden ­Schreibtischs. Die Haltung im Stehen Was können wir also tun, um eine aufrechte eigene Haltung zu erlangen? Zunächst einmal braucht es etwas Geduld, Ausdauer und die Bereitschaft, die kurze Phase, in der sich eine neue Haltung befremdlich anfühlt, auszuhalten. Wie in Kap. 2 zum Lernen beschrieben, muss sich unser Gehirn erst einmal an die neue Haltung gewöhnen. Als Nächstes hilft das Bewusstsein, dass eine aufrechte Haltung maßgeblich durch die ­Stellung des Beckens bestimmt wird.

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6 Haltung

 Übung: Der Känguru-Stand Ein schönes Hilfsbild, um ein leicht vorgekipptes Becken und einen stabilen Stand zu erreichen, liefert der sogenannte Känguru-Stand. Stellen Sie sich vor, Sie seien ein Känguru und würden sich nach hinten auf Ihren Känguru-Schwanz stützen. Schon richtet sich das Becken neu aus und dabei automatisch auch die Wirbelsäule, sodass die Schultern wie von selbst nach hinten unten fallen, den Hals frei geben und den Nacken entspannen. Die Arme und die restlichen Muskeln hängen in ihrer natürlichen Haltung am Skelett, und die Muskulatur muss nicht unnötigerweise aktiviert werden, um den Körper in irgendeine unnatürliche Haltung zu bringen. 

Übung: Faden am Scheitel visualisieren  Diese Technik stammt aus der Welt des Theaters: Stellen Sie sich einen Faden vor, der Sie am Scheitel nach oben zieht und aufrichtet. Wenn das Maximum erreicht ist, lassen Sie sich wieder etwas einsacken, nehmen die Schultern tief und hinten zusammen und achten auf Ihre Erdung.

 Übung  Benita Cantieni beschreibt, wie eine anatomisch sinnvolle Haltung erreicht wird, die unseren Körper in dessen Vitaltonus zurückführt [28]. Hier die zusammengefasste Anleitung: 1. Füße in leichter V-Form hüftbreit ausrichten: Großzehengrundgelenk und Ferse belasten. 2. Knie über dem Sprunggelenk ausrichten und locker halten. 3. Becken aufrichten. 4. Scham-, Steißbein und Sitzhöcker nach unten dehnen. 5. Wirbelsäule aufspannen: Wirbel um Wirbel in die Vertikale dehnen, den Kronenpunkt zur Decke ziehen. (Der Kronenpunkt liegt in einer verlängerten Linie der Wirbelsäule leicht hinter und oberhalb des Scheitels.) 6.  Sitzbeinhöcker zart Richtung Damm ausrichten, den Levator Ani (Beckenboden) ohne Anspannung der Schließmuskeln zum Kreuzbein (unteres Ende der Wirbelsäule) hochziehen. 7. Die entstehende Außenrotation der Oberschenkelmuskulatur bewusst halten. 8. Den Bauchnabel zum Brustbein (Brustmitte) dehnen, um den Pyramidalis-Muskel zu aktivieren. 9. Oberarmkugel aus dem Schulterdach lösen. 10. Schultern nach außen unten entspannen. 11. Oberarmmuskeln ausdrehen. 12. Kopf hoch. 13. Hals und Nacken entspannen. 14. Lächeln!

6.6  Die eigene Haltung entwickeln

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Nachdem eine anatomisch korrekte Haltung einmal erreicht wurde, kommt nun jedoch der weitaus wichtigere Teil, um diese nachhaltig zu erhalten. Nehmen Sie die neue Haltung achtsam wahr und übersetzen Sie diese ­Wahrnehmungen in innere Bilder, die Sie mit einem Gefühl verknüpfen, visualisieren und in Worte fassen. Auf dieser Basis fällt es leichter, diese Haltung wiederholt einzunehmen und sie sich dauerhaft anzugewöhnen [17]. Cantieni beschreibt, wie durch diese Haltung das Energieniveau und die Ausstrahlung in einer Form zunehmen, die schon rasch ein sehr positives Feedback bewirkt.

Sowohl im Stehen als auch im Sitzen zieht die Haltung des Körpers eine Gegenbewegung des Kopfes nach sich, um etwaige Fehlhaltungen auszugleichen. Je nach Grad der Fehlhaltung verspannt unsere Nacken- und Schultermuskulatur und bewirkt eine erschwerte Atmung und eine gequetschte Stimme. Ist unser Körper angespannt und durch eigene Blockaden gestresst, fällt es schwerer, sich auf den Gesprächspartner einzulassen und einen verbindlichen Kontakt aufzubauen. Neben der gesundheitlichen Belastung begünstigt der unbewusste Stress das Entstehen von Fehlurteilen, da die Ressourcen fehlen, um störende Einflüsse zu kompensieren. Es gibt verschiedene weitere Wege, um zu einer natürlichen und gesunden Körperhaltung zu finden, die regelmäßig mit erstaunlichen Gewinnen an Energie und Lebensqualität einhergeht, beispielsweise die Alexandertechnik: Darin ausgebildete Therapeuten finden sich in den meisten größeren Städten. Einige Übungsstunden können helfen, ein höheres Körperbewusstsein zu erreichen und eine natürliche Haltung zurückzugewinnen. Der erste Schritt könnte auch zum Osteopathen führen. Diese lösen mitunter schon in einer Sitzung tief liegende Blockaden und Beschwerden dadurch, dass sie den Körper behutsam neu ausrichten. Welche Methode gewählt wird, ist sicherlich von der aktuellen Haltung und dem Ausmaß etwaiger Einschränkungen abhängig. Prinzipiell gilt, dass eine schlechte Haltung Energie kostet, durch unseren modernen Lebenswandel begünstigt wird und eine Behebung neben einer verbesserten Gesundheit und einem höheren Energieniveau die eigene Ausstrahlung und Wirkung verbessert. Eigene Sitzhaltung Der Bewerber erzählt, der Personaler hört zu, stellt die nächste Frage und achtet darauf, wie der Bewerber auf ihn wirkt. Dabei kann die Wahl des Sitzmöbels seine Haltung, Wahrnehmung und Wirkung nachhaltig beeinflussen. Nehmen die Personaler in dreh- und neigbaren Bürostühlen Platz, entsteht die Versuchung, sich bei flexibler Rückenlehne nach einer platzierten Frage zurückzulehnen, es sich gemütlich zu machen und abzuwarten, was passiert. Die dadurch entstehende Distanz reduziert den Kontakt zum Bewerber, und die zurückgelehnte Haltung verführt dazu, ihn mit gehobenem Kinn über die Nase hinweg zu taxieren. Dabei entsteht ein kritischer, mitunter gar überheblicher Eindruck, und die Entwicklung einer hierarchisch geprägten Atmosphäre wird

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6 Haltung

begünstigt, besonders wenn der Bewerber gleichzeitig auf einem Stuhl mit fixer Rückenlehne und ohne Drehmöglichkeit sitzt und ihm eine vergleichbare Bewegungsfreiheit verwehrt ist. Abhilfe kann eine fixierte eigene Rückenlehne in aufrechter oder leicht geneigter Position schaffen, um einem allzu gemütlichen Zurücklehnen vorzubeugen. Die Zuwendung der Körpervorderseite zum Bewerber schafft Verbindlichkeit und fördert eine vertrauensvolle Atmosphäre. Wird das Gespräch alleine und in einander gegenübersitzender Haltung geführt, ergibt sich diese Haltung von selbst. In diesem Fall ist lediglich darauf zu achten, mit dem Stuhl nicht zu nah an den Tisch heranzurücken. Führt der Personaler das Gespräch jedoch in einer 90-Grad-Sitzposition, oder ist er einer von mehreren Betriebsvertretern und sitzt dabei dem Bewerber nicht direkt gegenüber, kann die Verbindung gestärkt werden, wenn er dem Bewerber beim Kontakt nicht nur den Kopf, sondern, mit leicht in dessen Richtung zugewandtem Oberkörper, die sogenannte Nase-Nabel-Achse zuwendet. Von Zeit zu Zeit sollte er sich fragen, wie es um die eigene Aktionsbereitschaft bestellt ist: Sitze ich als Recruiter bequem nach hinten gelehnt und mit ausgestreckten Füßen im Stuhl, bin ich leicht vorgebeugt, habe aber mit meinen Füßen noch einen Knöchelverschluss errichtet, der mich am direkten Loslegen hindert? Habe ich Barrikaden zwischen mir und dem Bewerber errichtet, die den Kontakt zwischen uns einschränken können? Und ist es das, was ich möchte, oder haben sich die Veränderungen unbewusst eingeschlichen? Möchte ich korrigieren und bewusst mir und dem Gespräch eine neue Richtung geben? Sitzhaltung und Überzeugungskraft In Bezug auf unsere Überzeugungskraft gibt es geschlechtsspezifische Unterschiede: Bei Männern hat eine leicht entspannte Haltung die mit deutlichem Abstand vorteilhafteste Wirkung, bei Frauen hingegen eine leicht angespannte Haltung – allerdings ist der Abstand zur leicht entspannten Haltung nicht allzu groß [18]. Stefan Spies empfiehlt für einen positiven Sitz-Stil, eine aufmerksame Haltung einzunehmen, dabei bleibt es jedem selbst überlassen, die Beine links oder rechts übereinanderzuschlagen oder offen zu bleiben. Abhängig vom Typus kann man sich anlehnen oder aufrecht sitzen bleiben. Ruhigere Menschen lehnen sich lieber an und nehmen eine entspannte Haltung ein, dynamische Typen fühlen sich zu Beginn eher in einer aktiven Haltung wohl. Nach einiger Zeit sollte sich dann im Gespräch ein organischer Wechsel der verschiedenen Haltungen, entsprechend der Entwicklung des Gesprächs, ergeben [19]. Dem Bewerber frontal gegenüberzusitzen kann Spannung und Konfrontation in das Gespräch bringen. Die Sprache drückt es bereits aus, tatsächlich identifizieren sich neutrale Beobachter in Diskussionen eher mit jenen Teilnehmern, hinter denen sie stehen oder sitzen und deren Perspektive sie dadurch einnehmen. Dementsprechend lassen sich kooperativere Gespräche führen, wenn man im Winkel von 90 Grad zueinander sitzt [20]. Wie in Kap. 5 über Distanzzonen erläutert, sind wir an der Körperseite weniger empfindlich und empfinden Konfrontationen weniger stark. So kann diese Positionierung durchaus eine Variante für verschiedene Gesprächsrunden darstellen. Aber auch

6.6  Die eigene Haltung entwickeln

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in Gesprächen, bei denen man sich frontal gegenübersitzt, kann die Konfrontation aufgelöst werden, wenn man den Stuhl leicht nach außen dreht und sich etwas zurücklehnt. Kann der Bewerber entsprechend reagieren, ergeben sich auch jetzt ein rechter Winkel zueinander und eine offenere Gesprächsatmosphäre. Diese Variante bietet sich besonders für Einzelgespräche an. Glaubhafte und zugängliche Haltung Michael Grinder unterscheidet zwischen einem glaubhaften und einem zugänglichen Kommunikationsstil [21]. Die Kommunikation wirkt konfrontativ und autoritär im Falle des glaubhaften Stils, dagegen kooperativ, akzeptierend und gefällig im Falle des zugänglichen Stils. Der glaubhafte Stil kommuniziert sachorientiert, nüchtern und rational, ihm hängt ein die Dinge abschließender Charakter an, der auf den Punkt kommt und auch unangenehme Inhalte thematisiert. Während der glaubhafte Stil Informationen sendet und Statements setzt, orientiert sich der zugängliche Stil am Gegenüber, sucht Informationen und pflegt die Beziehungsebene. Während der glaubhafte Stil Distanz schafft, entwickelt der zugängliche Stil Nähe zum Gesprächspartner. Beides muss nicht per se gut oder schlecht sein, sondern sollte zur jeweiligen Situation passen. Beide Stile werden sowohl in Kap. 11 zur Gestik als auch im Rahmen des Stimmmusters in Kap. 12 vertieft und in ihren weiteren Ausprägungen beschrieben. Sie drücken sich jedoch auch durch die Körper- und besonders die Kopfhaltung aus. Eine glaubhafte Haltung zeigt sich in einem gerade gehaltenen Kopf sowie einer aufrechten und symmetrischen Körperhaltung. Sie geht mit einer höheren Körperspannung einher als der zugängliche Stil und drückt sich im Unterschied zu dessen weichen, fließenden Bewegungen eher durch eckige und getaktete Bewegungen aus. Während der glaubhafte Stil mit einer ausbalancierten Körperhaltung einhergeht, bei der beide Füße gleichmäßig auf den Boden aufgestellt sind und eine gerade Körperhaltung bewirken, wird bei einer zugänglichen Haltung das Gewicht vermehrt auf ein Bein verlagert und das andere leicht eingeknickt, sodass sich eine leicht geneigte, wellenförmige Körperhaltung ergibt, die durch den geneigten Kopf vervollständigt wird. Eine tiefe Schulterhaltung begünstigt eine tiefere, härtere und glaubhafte Stimme. Dagegen bewirken hochgezogene Schultern eine höhere, weichere und zugänglichere Stimme. Eigene Kopfhaltung Der geneigte Kopf der zugänglichen Haltung hilft, in Gesprächen, in denen unbeabsichtigt Spannung entsteht, diese wieder aufzulösen. Dabei zeigen wir mit der Halsschlagader eine unserer verwundbarsten Stellen und triggern tief verankerte Angriffshemmungen an. Der Effekt stellt sich spontan und kulturübergreifend ein und ist so stark, dass er sogar wirkt, wenn das Gegenüber auf die Neigung hingewiesen wird. Mit geneigtem Kopf ändern sich auch Blick sowie Stimme und geben der Kommunikation einen neuen Charakter. Wichtig dabei ist, dass die Bewegung in Harmonie zum Ganzen steht und man es mit der Neigung nicht übertreibt, sowohl in Bezug auf die Anzahl als

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6 Haltung

auch in Bezug auf die Ausprägung, ein Neigungswinkel von fünf bis zehn Grad reicht. Der leicht geneigte Kopf hilft, eine Atmosphäre zu schaffen, in der sich der Bewerber leichter öffnen kann, und wirkt zugänglicher, kooperativer und weniger konfrontativ. Darüber hinaus erhöht er die Ausstrahlung von Wärme, Interesse und Wertschätzung. Das Geheimnis der Mona Lisa Doch woher kommt die starke Wirkung der geneigten Kopfhaltung? Die Studien von Siegfried Frey eröffnen hierzu tiefere Einblicke. Wie viele vor ihm rätselte er über das geheimnisvolle Lächeln der Mona Lisa, bis es ihm schließlich gelang, eines ihrer Geheimnisse aufzudecken. Ihr Kopf ist minimal, kaum wahrnehmbar in Blickrichtung zum Betrachter geneigt. Frey untersuchte den Effekt in seinen Studien, indem er den Oberkörper der Mona Lisa und den Gesichtsausdruck der Mona Lisa unverändert ließ, aber die Neigung ihres Kopfes unterschiedlich ausrichtete. Die Ergebnisse waren frappierend und zeigten, dass die Wirkung maßgeblich von der Kopfhaltung und davon, in welche Richtung dabei geblickt wird, beeinflusst wird. Ob Ihre Kopfneigung der Blickrichtung folgt oder nicht, bewirkt bei sonst gleicher Mimik eine komplett unterschiedliche Ausstrahlung. Wenn Sie den Kopf entgegen der Blickrichtung neigen, wirken Sie kritischer und distanzierter. Neigen Sie ihn dagegen in Blickrichtung, wirken Sie zugänglicher und wärmer [22]. Die Ursache für unsere positiven Gefühle liegt einerseits in der kongruenten Ausrichtung von Blick und Kopfneigung: Wenn der Blick in eine Richtung geht, der Körper aber in die andere, nehmen wir unbewusst diesen Widerspruch wahr und bleiben gespannt, in welche Richtung es wohl weitergeht. Entsprechen und ergänzen sich aber beide, so ist die Nachricht eindeutig und wir können uns entspannen. Eine weitere Ursache für die große Wirkung dieser Haltung liegt in unserer frühkindlichen Prägung: Wenn die Mutter ihr Kind im Arm hält und es dabei anschaut, neigt sie normalerweise ebenso ihren Kopf, der Blickrichtung folgend, dem Kind zu. Die Natur hat es so eingerichtet, dass schon bei Neugeborenen bei diesem Abstand ein deutlicher Blickkontakt erfolgen kann, um die Bindung zwischen Mutter und Kind zu erhöhen [23]. Beim Stillen, bei Hautkontakt und Blickkontakt wird das Liebes- und Bindungshormon Oxytocin ausgeschüttet und bildet die hormonelle Grundlage, auf der zwischen Mutter und Baby die gegenseitige Liebe entsteht [24]. „Neurons that fire together, wire together“, [25] wenn uns zwei Reize gleichzeitig erreichen, schließt unser Gehirn auf hohe Relevanz und verknüpft sie auch direkt miteinander, wir werden konditioniert wie die Hunde von Pawlow. Entsprechend früh haben wir das Liebesgefühl, das bei der Oxytocin-Ausschüttung im Gehirn entsteht, und die Bindung beim Blickkontakt im Arm der Mutter mit dem geneigten Kopf verbunden und entsprechend stark und entwaffnend ist seine Wirkung noch heute. Konrad Lorenz fand anhand seiner Attrappen-Studien heraus, dass für Anziehung und Bindung im Tierreich oft nur sehr wenige oder gar ein einziges Merkmal prägend sind. Darauf aufbauend untersuchte Siegfried Frey die Wirkung animierter Attrappen auch beim Menschen und belegte, dass wir auf ganz spezifische Haltungskonstellationen reagieren [26]. Die Reaktion sitzt dabei tiefer, je früher die Prägung erfolgte, und so ist die Kopfneigung in Blickrichtung mit leichtem Zuneigen des Oberkörpers wahrscheinlich sogar jener Haltungskomplex, der unsere am tiefsten verwurzelte Prägung aktiviert. Er kann als wertvoller Joker fungieren, um Spannung aus Situationen herauszunehmen und eine vertrauensvolle Gesprächsatmosphäre zu schaffen.

 Übung  Auch in Bezug auf die Neigung des Kopfes ist der Kontext wichtig. Hierzu gibt es einen schönen Test: Wir sind uns dessen nicht oder nur latent bewusst, aber durch die Enge zu den Mitfahrern, die Fremdsteuerung und die mangelnden Fluchtmöglichkeiten stresst uns eine Fahrt in einem Aufzug stärker, als sie es eigentlich müsste. In der Praxis nehmen wir uns daraufhin selbst

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zurück, hören beispielsweise auf zu reden und versuchen, die anderen Personen dadurch auszublenden, dass wir Blickkontakt vermeiden und uns beispielsweise angestrengt auf die Zahlen der Etagen-Anzeige konzentrieren. Wir bleiben aufmerksam gespannt und wollen keine Schwäche zeigen. Nun der Test: Versuchen Sie beim nächsten Mal in dieser Situation, wenn Sie mit fremden Menschen in einem Aufzug sind, den Kopf zu neigen. Sie werden erstaunt sein, wie schwer es Ihnen fällt und wie befremdlich es sich anfühlt.

Bei der Herausforderung, umworbene Bewerber für den eigenen Betrieb zu gewinnen, wird es im Gespräch auch zu Situationen kommen, in denen diese durch Glaubhaftigkeit überzeugt werden müssen. Hier hilft es wenig, sich durch Neigen des Kopfes zu unterwerfen und auf deren Zuneigung zu bauen. Die entstehende Spannung muss ausgehalten werden, mit geradem Nacken und aufrechter Haltung. Sobald der Bewerber reagiert und beginnt, die eigene Spannung aufzulösen, kann dem gefolgt werden. Der Recruiter sollte jedoch in kritischen Situationen nicht versuchen, schon vorher den Spannungsabbau durch Kopfneigen oder andere Unterwerfungs-Signale herbeizuführen. Dies bringt zwar Sympathie, kostet aber Überzeugungskraft und beides ist wichtig, um eine Zusage zu erhalten oder in kritischen Gehaltsverhandlungen die eigene Position zu behaupten. Dagegen kann man in einer festgefahrenen Situation, wenn zum Beispiel zwischen gefordertem und gebotenem Gehalt eine zu große Lücke klafft, ein neues Angebot mit einer positiven Mimik, gehobenen Augenbrauen und leicht geneigtem Kopf anbieten und damit die eigene konstruktive Absicht betonen. Auch beim Bewerber ist der geneigte Kopf ein positives Zeichen, die deutsche Sprache drückt dies durch den Begriff „Zuneigung“ bereits deutlich aus. Der gehobene und gesenkte Kopf  Wenn uns etwas interessiert oder wir aufmerksam zuhören, heben wir leicht und erwartungsvoll den Kopf und schieben ihn mitunter leicht vor, wir „wittern“ etwas. Haben wir genug gehört, löst sich die Spannung wieder. Bleibt der Kopf in dem Bestreben, mehr Informationen zu erhalten, länger angehoben, droht nicht nur die Gefahr eines verspannten Nackens. Die witternde Haltung verunsichert den Bewerber, er kann nur schwer abschätzen, ob seine Worte ankommen oder nicht und ob der Recruiter diesen zustimmt oder sie ablehnt. Der in dieser gehobenen Position verharrende Kopf initiiert nonverbal eine Pause, die den Bewerber herausfordert und unter Druck setzt, sich zu rechtfertigen. Der gehobene Kopf kann bei fragwürdigen Aussagen durchaus eingesetzt werden, um eine Rechtfertigungsspirale anzustoßen, doch entwickelt das Gespräch dadurch Verhörcharakter. Um dem Bewerber zu vermitteln, dass seine Botschaft angekommen ist, sollte die gehobene Kopfhaltung nach der Aussage des Bewerbers, wenn dieser zugestimmt wird, mit einem angedeuteten oder leichten Nicken wieder aufgelöst werden. Bei einem gehobenen Kopf zeigen Personaler mehr von ihrer verletzlichen Drosselgrube und taxieren den anderen automatisch etwas von oben herab über die Nase. Beides kann, besonders in Verbindung mit einer sparsamen, neutralen oder negativen Mimik,

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kalt, überheblich und im negativsten Fall arrogant wirken. Eine gerade Haltung oder eine leichte Zuwendung wirkt dagegen neutral bis offen und freundlich. Im Gegensatz dazu kann der gesenkte Kopf unsicher wirken und so, als habe man etwas zu verbergen. Infolge einer gesenkten Kopfhaltung kann sich ein Blick von unten nach oben ergeben, der abschätzend wirken und beim Gegenüber den Eindruck auslösen kann, heimlich angefeindet oder abgelehnt zu werden. Eigene Schulterhaltung Ergänzend zum oben Beschriebenen lassen uns hochgezogene Schultern angreifbar erscheinen. Sie vermitteln Unsicherheit und ein schlechtes Gewissen, wodurch die eigene Glaubwürdigkeit und die Vertrauensbildung zum Gesprächspartner untergraben werden. Auch in Bezug auf die eigene Gesundheit sollte man chronisch hochgezogenen Schultern entgegenwirken. Wenn diese entspannt geöffnet werden und tief und nach hinten gerollt werden, erleichtert das auch den Armen, sich auf eine natürliche Weise zu öffnen.

6.7 Fazit: Haltung Ob im Sitzen oder Stehen, eine gute Haltung beeinflusst nicht nur maßgeblich die Wirkung unseres ersten Eindrucks, sondern wirkt auch auf uns zurück und beeinflusst unsere Wahrnehmung, Motivation und Durchhaltevermögen. Oft übersehene, aber sehr aufschlussreiche Signale erhalten wir aus der Nacken- und Schulterregion und durch die Ausrichtung des Rumpfes. Neben der Wirkung auf unseren Kommunikationsstil vermittelt die Haltung unsere Einstellung zur Welt [27]. Der zur Seite geneigte Kopf ist eines der stärksten Signale, um eine vertrauensvolle und kooperative Gesprächsatmosphäre zu erzeugen.

Literatur 1. Samy Molcho: Seminar: Der Körper spricht immer; Jürgen Höller Academy, Schweinfurt, 2013 2. Maja Storch: Embodiment, S. 44 ff.; Verlag Hans Huber AG; Bern, 2015 3. Samy Molcho: Körpersprache im Beruf, S. 168; Der Goldmann Verlag, München, 1997 4. Mark Bowden: Winning Body Language, S. 215; Mc Graw-Hill Books; New York, 2010) 5. Samy Molcho: Körpersprache, S. 99; Der Goldmann Verlag, München, 1996 6. Samy Molcho: Mit Körpersprache zum Erfolg, Version 3.0, DVD United Soft Media Verlag GmbH, München, 2010 7. Horst Rückle: Körpersprache für Manager, S. 298 ff.; Verlag moderne Industrie, Landsberg/ Lech, 1992 8. Stefan Spies: Der Gedanke lenkt den Körper, S. 83; Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg, 2010

Literatur

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9. Stefan Spies: Der Gedanke lenkt den Körper, S. 84; Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg, 2010 10. Samy Molcho: Körpersprache im Beruf, S. 174; Der Goldmann Verlag, München, 1997 11. Samy Molcho: Körpersprache im Beruf, S. 175; Der Goldmann Verlag, München, 1997 12. https://www.lecturio.de/magazin/die-hirnnerven/?fv=1#hirnnerv-xi-nervus-accessorius aufgerufen am 15.10.2018 13. David Givens: Die Macht der Körpersprache, S. 99; Redline Verlag, 2011 14. Marco Benasso: Evolution und Leid als Herausforderung für den Glauben, S. 269; J.B. Metzler, Wiesbaden, 2018 15. Stefan Verra: Hey, dein Körper spricht, S. 117; edel Germany GmbH, Hamburg, 2015 16. Stefan Verra: Hey, dein Körper spricht, S. 154; edel Germany GmbH, Hamburg, 2015 17. Maja Storch: Embodiment, S. 122; Verlag Hans Huber, Bern, 2015. 18. Michael Argyle: Körpersprache & Kommunikation, S. 322; Junfermann, Paderborn, 2013 19. Stefan Spies: Der Gedanke lenkt den Körper, S. 86; Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg, 2010 20. Wolfgang J. Linker: Kommunikative Kompetenz: Weniger ist mehr! Gabal Verlag GmbH, Offenbach, 2010 21. Michael Grinder: Pentimento, S. 53; Twinn Media Verlag, Offenhausen/Nürnberg, 2011 22. Siegfried Frey: Die Macht des Bildes, S. 141; Verlag Hans Huber, Bern, 1999 23. Bernd Senf über Wilhelm Reich 2. Die Bildung des Charakterpanzers in der Kindheit, https:// www.youtube.com/watch?v=XHezGGpR9uI&t=21s aufgerufen am 15.10.2018 24. http://www.mattes.de/buecher/praenatale_psychologie/PP_PDF/PP_21_3-4_Plothe2.pdf aufgerufen am 15.10.2018 25. https://de.wikipedia.org/wiki/Hebbsche_Lernregel aufgerufen am 31.12.2018 26. Siegfried Frey: Die Macht des Bildes, S. 137; Verlag Hans Huber, Bern, 1999 27. Samy Molcho: Körpersprache der Kinder, S. 175; Hugendubel Verlag, Kreuzlingen/München, 2005 28. Maja Storch: Embodiment, S. 121; Verlag Hans Huber, Bern, 2015

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Bewegungen

Zusammenfassung

Kap. 7 untersucht das Gehverhalten und beschreibt, welche Bewegungen Aufschluss über die Art und Weise der Informationsverarbeitung und die Motivation des Bewerbers geben. Deren Ursachen und mit ihnen verbundene Bedürfnisse, Implikationen und mögliche Interpretationen werden hergeleitet und jene Signale vertieft, auf die der Recruiter seine Wahrnehmung richten kann, um sich zusätzliche Informa­ tionen zu erschließen. Grundlegende Rhythmusmuster, die das Gesprächsempfinden des Bewerbers anzeigen, werden behandelt und Möglichkeiten beschrieben, wie diesen situationsgerecht begegnet werden kann. Abschließend werden Techniken erläutert, um durch eigene Bewegungen zielgerichtet auf das Gespräch einzuwirken. Über die Aussagekraft statischer Haltungen hinaus eröffnet die Art und Weise, mit der wir uns bewegen, Einblicke in unsere Motivation und Persönlichkeit. Dabei beschreiben Bewegungen die Art und Weise, wie von einer Haltung zur nächsten übergegangen oder wie sich auf ein Ziel zubewegt wird. Bewegungen vermitteln durch ihre Dynamik und die verschiedenen Parameter, die ihren Charakter beeinflussen, eine Vielzahl an ­Informationen über die sich bewegende Person. Die Art, sich zu bewegen, liegt wie ein Grundmuster unter den übrigen nonverbalen Ausdrücken der Gestik, der Füße und der Mimik und eröffnet Einblicke in das zugrunde liegende Temperament der Person.

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 C. Bernhardt, Nonverbale Kommunikation im Recruiting, https://doi.org/10.1007/978-3-658-25276-2_7

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7 Bewegungen

7.1 Einführung Unser Bewegungsportfolio setzt sich aus fünf Grundverhaltensformen zusammen, welche Kinder noch ungefiltert ausdrücken [1] und die wir auch noch als Erwachsene zeigen, jedoch, infolge unserer Sozialisierung, in gehemmter und abgeschwächter Form. Grundlegende Bewegungsformen [1]

1. Nach vorne rennen, angreifende Bewegungen mit aggressivem Charakter. 2. Wegrennen, fliehende Bewegungen mit konfrontationsvermeidendem Charakter. 3. Verstecken aus Angst, erstarrende, kontrahierende und sich kleinmachende Bewegungen. 4. Hilfe und Schutz suchen als sozial verankertes Verhalten, Orientierung an Statushöheren. 5. Sich unterordnen oder unterwerfen als Folge von Resignation und Aufgabe.

Wenn wir die verschiedenen Bewegungsarten untersuchen, erkennen wir, dass sie sich durch den ihnen innewohnenden Dominanz- und Stärkeaspekt unterscheiden und damit auf den starken Einfluss hinweisen, den der innere Status auf die Art, sich zu bewegen, ausübt. Wie in Abschn. 5.7 beschrieben, reicht das Bewusstsein um den eigenen Status, um in spontanes und authentisches Handeln zu kommen. Damit geben die Bewegungen des Bewerbers Aufschluss über dessen Persönlichkeit, Selbstkonzept und aktuelle Verortung in der Gruppe. Als grundlegendste Unterscheidung können Bewegungen hinsichtlich ihrer Geschwindigkeit und bezüglich der Richtung, in die sie weisen, beschrieben werden. Die Geschwindigkeit stellt in Bezug auf den gemeinsamen Rhythmus eine kritische Größe dar und wird dort vertieft. Die Beachtung, ob es sich um vorwärts-, rückwärts-, nach außen-, innen-, oben- oder unten-orientierte Bewegung handelt, eröffnet Einsichten in die Handlungsmotivation und darüber, ob der sich Bewegende tendenziell ein extrovertierter oder introvertierter Charakter-Typ ist. Molcho formuliert es treffend: Bewegungen sind vom Körper übersetzte Gedanken [2]. Während große Bewegungen ursprünglich situationsbedingt und zielgerichtet sind, gründen kleine, unbewusste Bewegungen in Gedanken, die mit einem Gefühl verknüpft sind [3]. So eröffnen gerade die feinen, unscheinbaren Bewegungen, b­eispielsweise der Hände, Finger oder der Mimik, Einsichten in die Gefühls- und Gedankenwelt des Bewerbers. Kleine Bewegungen, die weg von sich oder hin zu sich führen, drücken dabei gleichzeitig auf symbolischer Ebene die innere Einstellung aus und können sich beispielsweise zeigen, wenn während des Gesprächs nebenbei Unterlagen oder andere Platzhalter an sich genommen oder von sich geschoben werden. Die Implikationen großer, ausladender oder kleiner, akzentuierter Bewegungen werden im Rahmen der Schrittlänge vertieft. Eine weitere, feinere Differenzierung ermöglichen die in Kap. 4 beschriebenen Spannungsgrade.

7.2  Bewegungen während des Gehens

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Der Körper drückt durch seine Bewegungen aus, was der Mensch gerade will. Neben Bewegungen, die eine spezifische Absicht verfolgen, entwickeln sich Bewegungen, die wir häufig und gewohnheitsmäßig durchführen, zu Stereotypen und Marotten. Diese sind immer weniger der Situation geschuldet, sondern drücken mehr und mehr eingefahrene Gewohnheiten und unbewusst einstudierte Gesten aus, mit denen nach und nach das eigene Image aufgebaut wurde. Dadurch eröffnen sie weitere Einblicke in den Charakter und das Selbstkonzept des Bewerbers. Auf dem Weg zu einer möglichen Zusammenarbeit drückt schon unsere Sprache aus, dass es Bewegung braucht, um den eigenen Standpunkt zu verlassen und sich einander anzunähern, um schließlich zueinander zu kommen. Diese Bereitschaft zeigt sich auch in den sich entwickelnden Bewegungswechseln der Gesprächspartner. Wer sich stoisch in der eigenen Stellung und hinter den eigenen Argumenten verschanzt, wird sich weniger bewegen und verliert mehr und mehr die Aussicht auf eine Einigung mit dem Partner, falls dieser nicht bereit ist, seine Position komplett aufzugeben und den ganzen Weg zur Einigung alleine zu beschreiten. Bewegungen sind also wichtige Bestandteile gelingender und konsensorientierter Kommunikation, und die Lebendigkeit und Beweglichkeit des Bewerbers geben Aufschluss über dessen Kompromissfähigkeit. Entstehen beim Bewerber Blockaden wie ein Verharren des Blicks oder ein blockierender, bremsender Fuß, müssen diese zunächst gelöst werden: Er ist für Informationen von außen aktuell nicht oder nur bedingt empfangsbereit, sondern mehr mit den eigenen Gedanken und Gefühlen beschäftigt.

7.2 Bewegungen während des Gehens Neben der Haltung ist auch die Art, sich zu bewegen, schon von Weitem sichtbar und prägt den ersten Eindruck, den wir vermitteln. Unser Gehverhalten drückt unsere aktuelle Stimmung und Einstellung aus und ist so charakteristisch und individuell, dass laut Alexander Lowen keine zwei Menschen einen identischen Gang besitzen [4]. Er zeigt Absicht und Zweck der Bewegung an, die körperliche Verfassung und das Alter des Gehenden, das anvisierte Ziel und den Wert, den der Gehende dem Weg dorthin beimisst, sowie seine Orientierung zur Umwelt. Gangarten Das Gehverhalten lässt sich hinsichtlich verschiedener Kriterien untersuchen. Neben einem rhythmischen oder getakteten Gang, der Geh-Geschwindigkeit, der Schrittlänge und der Dynamik wird der Gang durch den Schwung sowie den Spannungsgrad der Bewegungen charakterisiert. Während sich der eine stockend bewegt, kommt ein anderer schlurfend auf uns zu, ein dritter mit schwungvoll schwingendem Oberkörper. Weitere Einblicke eröffnen die Bewegungen der Arme, ihr Abstand zum Oberkörper, die Ausrichtung der Hände sowie das Blickverhalten. In der unteren Körperhälfte wird der Gang charakterisiert durch die Ausrichtung der Füße, die Stärke, mit der aufgetreten wird, und

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dadurch, ob es sich um einen schmalen oder breiten Gang handelt. Ein kraftvoller Gang drückt sich in raumgreifenden Bewegungen mit stärkeren Armbewegungen und größeren Schritten aus, ein kraftloser Gang dagegen mit zurückhaltenden Bewegungen, einem überwiegend unbeweglichen Kopf, schwachen Armbewegungen und kürzeren Schritten. 

Nikolaus Troje hat am Biomotion Lab der Queen’s University in Ontario für seine Untersuchungen 15 Punkte an den wichtigsten Gelenken des Körpers angebracht und auf einem Bildschirm dargestellt. Die Ergebnisse von 10.000 Bewertungen wurden mathematisch analysiert und eine Figur entwickelt, derer Gehverhalten sich in Bezug auf die Parameter Geschlecht, Gewicht, Entspanntheit und Gemütszustand stufenlos verändern lässt. Auf seiner Website https://www.biomotionlab.ca/bml-walker/ kann man frei darauf zugreifen und in Echtzeit ein Eindruck gewinnen, wie sich beispielsweise Entspanntheit oder Nervosität bei fröhlichen oder traurigen, schweren oder leichten und männlichen oder weiblichen Menschen ausdrückt.

Richtungsänderungen (1): Wendepunkt und Schleife Rhythmische und getaktete Bewegungen werden in Abschn.  7.3 vertieft, deren fließende und akzentuierte Bewegungen zeigen sich auch bei Richtungsänderungen, während wir gehen und dabei am deutlichsten, wenn wir umkehren: Molcho unterscheidet zwischen Wendepunkt und Schleife. Während der rhythmische Typus mit einer Schleife wendet und dabei sein Bedürfnis nach Kontinuität und seine Ausrichtung auf Beziehungen und Gefühle ausdrückt, zeigt der getaktete Typus durch einen klaren Wendepunkt und eine akzentuierte Kehrtwende sein Bedürfnis nach einem klar definierten Abschluss und einem anschließenden Neuanfang, hier stehen sachliche und formelle Inhalte im Vordergrund [5]. Während der getaktete Typus durch abgegrenzte Projekte motiviert wird und Wechsel begrüßt, kann der rhythmische Typus eher für Positionen mit stärkerem Dauercharakter und weniger Wechsel, dafür aber langfristiger Entwicklung gewonnen werden. Richtungsänderungen (2): Führen die Augen oder der Körper? Michael Grinder lenkt die Wahrnehmung darauf, ob bei Richtungswechseln die Augen oder der Körper die Führung übernehmen. Führen die Augen den Körper, handelt es sich um eine Person mit einer dominanten linken Gehirnhälfte. Führt dagegen der Körper, ist die rechte Gehirnhälfte dominanter. Neben den in Kap. 4 im Abschnitt zur Lateralität beschriebenen Eigenschaften hat Grinder bei Menschen mit einer dominanteren linken Gehirnhälfte die stärkere Veranlagung zu sequenziellem, linearen Vorgehen beobachtet, darüber hinaus zeigen sie laut Grinder eine höhere Risikoaversion und Sicherheitsorientierung. Menschen, deren rechte Gehirnhälfte dominanter ist, sind dagegen kreativer, spontaner, treffen schnellere Entscheidungen und bringen eine höhere Bereitschaft mit, Fehler zu machen. Das ist für kreative Prozesse von Vorteil, dafür müssen sie sich von Zeit zu Zeit von Rückschlägen erholen [6].

7.2  Bewegungen während des Gehens

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Im Bewerbungsgespräch bietet sich beispielsweise eine gute Möglichkeit zur Beobachtung des Wechsels, wenn der Bewerber im Rahmen einer kurzen Case-Study oder Präsentation seine Ergebnisse an einem Flipchart präsentiert. Hat er im Anschluss daran die Fragen der Interviewer beantwortet und den Boardmarker zurückgelegt, wird er sich vom Flipchart abwenden, um zu seinem Stuhl zurückzugehen. In diesem Moment lässt sich gut erkennen, ob die Augen oder der Körper führen. Geschwindigkeit  Die Geschwindigkeit vermittelt die grundlegende Dynamik, mit der uns der Partner begegnen wird. Wollen wir erfolgreich kommunizieren, brauchen wir einen gemeinsamen Nenner. Dieser zeigt sich durch einen gemeinsamen Rhythmus der Gesprächspartner und wird im Rahmen der Anbieter- Abnehmer-Konstellation in Abschn. 7.3 vertieft. Schrittlänge  Die Schrittlänge zeigt die „Chunk-Größe“ an, d. h. die individuelle Größe der Informationsbündel, die wir bevorzugt verarbeiten. Kleine Schritte gehen mit einer Neigung zu Details einher und dem Bedürfnis nach detaillierten Angeboten oder Berichten, um sich Klarheit zu verschaffen [7]. Wer kleine Schritte macht, behält stets Kontakt zum sicheren Boden und riskiert dabei nicht den Verlust seiner Balance. Der Schwerpunkt des Körpers folgt dem Gang und so kann direkt korrigiert werden, wenn sich zu weit vorgewagt wurde. Menschen, die mit kleinen Schritten durchs Leben gehen, investieren mehr Energie in Sicherheit. Es drückt kein persönliches Misstrauen gegenüber dem Recruiter aus, wenn sie jede Kleinigkeit prüfen, sie sind der eher risikoaverse Typ: Schriftliche Übersichten, die beispielsweise beim Onboarding den Weg Schritt für Schritt aufzeigen, können helfen, ihr Bedürfnis nach Sicherheit zu erfüllen. Im Gespräch mit ihnen sollte auf Transparenz geachtet werden und Absprachen notiert werden. Ordnung ist für diesen Typus eher etwas mehr als das halbe Leben, das Überspringen einzelner Punkte verunsichert ihn. Grobe Konzepte und Angebote ohne Details erscheinen ihm schwammig, unausgegoren oder gar unseriös. Zögert er, kann es helfen, auf einen Experten zu verweisen, der alle Einzelheiten kennt und bei Bedarf erläutern kann [7]. Bei all dem Fokus auf Sicherheit können auch kleine Schritte weit kommen und mit einer hohen Taktung längere Distanzen in kürzerer Zeit zurücklegen als mit normaler Geschwindigkeit schreitende, lange Schritte. Dagegen kennzeichnen große Schritte Menschen, die es gewohnt sind, Details zu überspringen und vom Einzelnen auf das Ganze zu schließen [7]. Wer mit großen Schritten geht, erlaubt sich, kurz vom Boden abzuheben, und zeigt im Vertrauen darauf, dass dieser ihn wieder auffängt, eine gewisse Risikobereitschaft. Auf der Treppe nimmt er zwei Stufen auf einmal und bringt dabei die nötige Energie mit, um Dinge voranzubringen. Sein Körperschwerpunkt ist nach vorne geneigt, er möchte schnell vorankommen und kümmert sich dabei nur ungerne um Kleinigkeiten [7]. Dabei kann es durchaus einmal passieren, dass ein Schritt irgendwo landet, wo etwas Unvorhergesehenes lauert, doch damit kann man sich ja immernoch auseinandersetzen, wenn es so weit ist. Flexibilität und Troubleshooting liegen ihm, er ist agil und hat zur Not

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7 Bewegungen

mit dem nächsten großen Schritt eine kritische Situation auch schon wieder hinter sich gelassen und bietet sich damit für Interimsaufgaben an. Aber er braucht Detailarbeiter an seiner Seite, die mit kleinen, schnellen Schritten die von ihm erschlossenen Räume ausfüllen. Ordnung ist für ihn höchstens das halbe Leben. Ermüden Sie ihn nicht mit Details und nehmen Sie es diesem Typus nicht persönlich, wenn er auch in großen Zügen durch die sorgfältig erstellten Unternehmensunterlagen oder ein Angebot geht. Im Laufe des Lebens ändert sich die Schrittlänge: Auf die tapsenden, kleinen Schritte des Kindes folgen schwungvollere Schritte während der Adoleszenz, bevor sich im Erwachsenenalter ein durch die Motivation und den Umgang mit den eigenen Ressourcen geprägtes individuelles Gehverhalten ergibt. Im Alter werden die Schritte mit nachlassender Dynamik wieder kleiner. Darüber hinaus ist die Schrittlänge stets ins Verhältnis zur Körpergröße zu setzen um zu bestimmen, ob es sich um (relativ) kleine oder große Schritte handelt. Zugpunkt beim Gehen  Stellen wir uns einen Faden vor, der den Bewerber durch den Raum zieht. Wo am Körper ist dieser angebracht? Wird der Raum mit einem Impuls aus den dominanten Füßen heraus durchschritten, schiebt sich ehrgeizig die Brust vor, kontaktsuchend die Hüfte oder zieht der neugierige Kopf auf seiner Suche nach Informationen den Körper hinter sich her? Im Gegensatz zur ehrgeizigen, vorziehenden Brust vermittelt die zurückgenommene Brust einen gehemmten Eindruck. Dynamik, Balance und Auftritt Im Gegensatz zum lustlos wirkenden, spannungsarmen, schleppenden Gang zeigt der geradlinige Stechschritt die ambitionierte Zielorientierung. Während Ersterem die aktionsbereite Spannung fehlt [8] und er in vielen Dingen Hindernisse sieht, schnell Ausreden findet und sich oft nur schwer entscheiden kann, packt Letzterer neue Aufgaben und Herausforderungen direkt an [9]. Ein pendelnder Gang, der mitunter mit seinen Schwingungen nach links und rechts an eine Ente erinnert, drückt das Abwägen zwischen Gefühl und Ratio aus und deutet darauf hin, dass sich jemand tendenziell nur schwer entscheiden kann. Dabei muss jedoch eine geschlechtsabhängige Veranlagung berücksichtigt werden. Männer neigen dazu, mehr mit dem Oberkörper zu pendeln, Frauen dagegen zu schwingenden Bewegungen im Hüftbereich [10]. Liegt die Betonung des Auftritts auf den Fersen, kann das Fußgelenk den Aufprall nicht in dem Ausmaß kompensieren, wie es beim Gehen auf Zehenspitzen der Fall wäre. Der sich ergebende lautstarke Auftritt markiert das akustische Territorium und kündigt den Kommenden schon von Weitem an. Jeder einzelne dieser Auftritte hätte in früheren Zeiten, als es noch keine gepflasterten Wege gab, einen tiefen Eindruck im Boden hinterlassen und dabei auf Gewicht, Dynamik und Stärke des Gehenden hingewiesen, allesamt klassische Dominanz-Merkmale. Bei dieser Art zu gehen wird der direkte Kontakt zum Boden gesucht und bleibender Eindruck hinterlassen. Nonverbal wird dabei zugleich das erhöhte Bedürfnis nach Anerkennung für das Geleistete ausgedrückt. Diese ist diesem Typus wichtiger als einem Leisetreter, der betont auf den Fußballen geht, kaum Spuren hinterlässt und kaum wahrnehmbar das Büro betritt.

7.2  Bewegungen während des Gehens



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Übung: Wenn Sie sich selbst beim Gehen zuhören, nachdem etwas gut gelungen ist oder wenn etwas das Gewissen belastet, werden Sie bemerken, wie sich Ihr Gang verändert. Während Sie dynamisch und stolz mit großen Schritten lautstark zeigen, dass Sie „gut drauf“ sind und alles gut vorangeht, werden Sie dazu neigen, sich mit eher vorsichtigeren, leisen oder unsicheren Schritten am Büro des Chefs vorbeizudrücken, wenn Sie gerade lieber keine Aufmerksamkeit auf sich ziehen möchten.

Im Gegensatz zum Fersen-Typ, der durch das innere Bild geprägt ist, das er sich nicht zu verstecken braucht, versucht der Ballen-Typ, wenig Aufmerksamkeit zu erregen und Konfrontation zu vermeiden. Zwar stellt er dabei sein Licht teilweise unter den Scheffel, dafür kann er seine Ziele unbemerkt verfolgen und ist anderen, die ihn unterschätzen, oftmals einen Schritt voraus. Der dritte im Bunde ist der leichtfüßig Auftretende. Er nimmt vieles locker, findet leicht Lösungen und ist flexibel in seiner Geistes- und Entscheidungshaltung. Zwar können ihm Bodenhaftung und Bodenständigkeit fehlen, dafür kann er sich leichter von eingetretenen Pfaden lösen und kreativ sowie fantasievoll nach Lösungen suchen, die außerhalb der normalen Denkweise liegen. Der geringe Bodenkontakt ermöglicht schnelle Richtungswechsel und eine spontane Flucht bei drohender Gefahr, zeugt dabei jedoch gleichzeitig von einer geringeren Verbindlichkeit. In der Limbic Map [11] von Hans-Georg Häusel lassen sich die drei Auftrittsarten den Bedürfnissen nach Dominanz, Balance und Stimulanz zuordnen. Spurbreite und Ausrichtung der Füße  Während der mit hüftbreitem Gang Gehende eine klare Grenze zwischen links und rechts zieht und dadurch auch in hektischen Zeiten und auf wackeligem Untergrund flexibel bleibt und sich den Zugang zu sämtlichen Optionen offenhält, droht schmalspurigen Typen, die im Extremfall gar ihre Füße gerade voreinander setzen, Gefahr, wenn sich das Tempo beschleunigt [12]. Im Streit zwischen Gefühl und Ratio kann dieser Typus leichter über die eigenen Beine zu stolpern. Das andere Extrem läuft betont breitbeinig, was es zwar stabil und belastbar macht, es aber mitunter erschwert, die Brücke zwischen beiden Seiten zu schlagen und diese zu vereinen. Fällt Letzteres bei einem Bewerber ins Auge, sollte die Fähigkeit zum empathischen Perspektivwechsel geprüft werden. Neben der Spurbreite eröffnet die Ausrichtung der Fußspitzen recht ungefiltert Einblicke in das Interesse und Naturell des Gehenden. Mit nach außen gerichteten Spitzen ist das Vorankommen erschwert, dafür hat man mehr Zeit, sich ein Bild von der Welt zu machen und Neues zu erfahren. Molcho schreibt diesem neugierigen Typus den Drang zu, permanent Informationen zu sammeln: Er ist an Nebeninfos interessiert, auch wenn diese einen Schritt vom Thema wegführen. Er kennt sein Ziel, macht aber gerne einen Umweg, um besser informiert zu sein [13]. Zeigen die Fußspitzen nach innen, wirken sie wie eine Bremse. Wer so geht, kann in der oberen Körperhälfte zwar ganz und gar aufgeschlossen wirken, blockiert sich aber

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selbst, sobald es zum ersten Schritt kommt. Molcho beschreibt diesen Typus als vorsichtigen Zauderer, der sich nicht entscheiden kann. Ist auch die Brust verschlossen, lässt sich auf Introvertiertheit, Gehemmtheit oder Verzicht schließen [14]. Ein harmonischer Gang zeigt sich durch eine übereinstimmende Ausrichtung der Füße und des Oberkörpers mit der Richtung, in die gegangen wird. Erstarren die Füße, zeigt dies die Freeze- Funktion der aktivierten Stressachse. Blickrichtung beim Gehen Weitere Aufschlüsse gibt die Blickrichtung beim Gehen. Blickt der Bewerber beim ersten Blickkontakt direkt und zielorientiert den Personaler an und hält den Kontakt bis zum Händeschütteln, wirkt das zwar ambitioniert und zeigt seine Fokussierung. Gleichzeitig offenbart es aber auch Dominanz: Ist etwas erst einmal anvisiert, wird nicht mehr lockergelassen. Durch den gehaltenen Blickkontakt fesselt er gleichzeitig den Blick des Personalers und verwehrt diesem damit die Möglichkeit, ihn kurz zu mustern. Und auch der Bewerber selbst verzichtet auf den Kontrollblick und unterdrückt dabei ein intuitives Sicherheitsbedürfnis zugunsten des Dominanzgewinns. Wird beim Gehen nach dem ersten Blickkontakt auf den Boden geschaut, womöglich mehrmals, drückt sich das Bedürfnis aus, in Bezug auf das, was kommt, lieber auf Nummer sicher zu gehen. Dieser Typus riskiert nur ungern etwas und ist tendenziell eher vergangenheitsorientiert. Die zeitliche Orientierung kann sich im Gespräch auch bei der Frage nach der Wechselmotivation prüfen lassen. Beschreibt der Bewerber diese eher mit einer zukunftsorientierten Einstellung bezüglich der Chancen, die ihm die neue Position bietet, oder orientiert er sich an der Vergangenheit und daran, weshalb die alte Position nicht mehr gepasst hat? Sieht er Möglichkeiten oder Hindernisse? Auch hier geht es wieder um Passung in Bezug auf die zu besetzende Stelle: Wird ein proaktiver Vertriebstypus gesucht, um neue Märkte zu erschließen, oder der investigative Typus, der Unregelmäßigkeiten bei den Reiskostenabrechnungen auf den Grund gehen soll? Betreten wir einen Raum, ist ein kurzer Blick zur Orientierung ganz normal. Wenn jemand aber der Blick schweifen lässt, stellt dies auf fremdem Territorium grundsätzlich einen Übertritt dar, der je nach Ausmaß und Ungeniertheit, mit der man sich umschaut, mehr oder weniger stark ausfallen kann. Wird das Beobachtete gar kommentiert, zeigt sich der hohe sich selbst zugeschriebene Status. Das kann durchaus auf Sympathie stoßen, wenn dabei beispielsweise eine Gemeinsamkeit entdeckt wird, verführt dadurch aber zu undifferenzierten Entscheidungen. Wird der Blick nicht auf, sondern über die gedachte Horizontlinie hinaus gerichtet, zeigt sich der zuversichtliche, vorausblickende Visionär. Um dessen Proaktivität und Vorstellungskraft muss sich kaum gesorgt werden, in Bezug auf die zu besetzende Stelle sollte jedoch geprüft werden, wie die alltäglichen Aufgaben und Unpässlichkeiten des Arbeitsalltags bewältigt werden.

7.2  Bewegungen während des Gehens

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Ausrichtung der Hände und Arme beim Gehen Molcho lenkt die Beobachtung auf die Ausrichtung der Handrücken beim Gehen. Sind diese nach vorne gerichtet, mag es die Person, sich durchzuschaufeln, Hauptsache die Aufgabe ist schwer, und wenn sie es nicht ist, kann es mitunter passieren, dass die Person sich diese schwermacht [15]. Gleichzeitig offenbaren diese Typen tendenziell weniger Informationen. Dies wird vom Schwungverhalten unterstrichen: Je unbeweglicher die Arme herunterhängen und je weniger sie schwingen, desto passiver wirkt die Person. Hände sind zum Handeln da – werden diese beim Gehen nicht, nur widerwillig oder nur gehemmt vom Körper mitgenommen, wirkt das nur wenig tatkräftig. Öffnet sich dagegen die schwingende Hand am Ende des Rückschwungs, kann die Person auch loslassen, hakt Vergangenes ab und widmet sich dann schwungvoll und konzentriert den nächsten Aufgaben [15]. Die neutrale Hand hängt entspannt nach unten oder schwingt beim Gehen mit und ist mit der Handfläche zum Oberkörper gerichtet, die Handkante zeigt nach vorne. Der offene, zugängliche Typus dreht seine Handflächen subtil nach vorne und zeigt mit diesen sein prinzipielles Vertrauen. Es versteht sich von selbst, dass ein eintretender Bewerber, der die Hände hinter dem Rücken versteckt, den Recruiter alarmieren wird, bis ein Blick auf die Hände geworfen werden konnte. Das Bedürfnis danach ist tief verankert: Erst wenn wir sehen, dass die Hände keine Gefahr darstellen, können wir uns entspannt auf das Gespräch einlassen. 

Übung: Das Bedürfnis, einen kurzen Blick auf die Hände unserer Mitmenschen zu werfen, ist tief in unserem limbischen System verankert und zeigt sich von daher auch bei anderen Säugetieren. Wenn Sie die Probe aufs Exempel machen möchten, können Sie beim nächsten Mal die Hände hinter dem Rücken verstecken, sobald Sie einem Hund begegnen, und beobachten, wie dieser sofort darauf reagiert.

Weiteren Aufschluss gibt der seitliche Abstand der Arme vom Rumpf: Werden diese eng angelegt, wird nur wenig Territorium beansprucht und, ähnlich dem Stand mit eng zusammengenommenen Beinen, Anpassung und Unterordnung ausgedrückt. Dagegen verschaffen sich abgewinkelte Ellbogen Raum und halten alles Unangenehme in Distanz zum Körper. Das wachsende Bedürfnis nach Raum geht mit einer höheren Dominanz und steigendem Testosteronspiegel einher. Der Einfluss der Gehirnhälften ermöglicht eine weitere Differenzierung. Liegt ein Arm eng an, herrscht eine entsprechende Gehemmtheit, wird er auffallend stark abgewinkelt, drückt sich die besondere Ausprägung und dominante Vorherrschaft der gegenüberliegenden Hirnhälfte aus. Schwingt der linke Arm stärker, können wir uns auf einen eher emotionalen Menschen einstellen, schwingt dagegen der rechte Arm stärker, haben wir es mit einem rationaleren Typen zu tun. Wird der linke Arm an den Körper gepresst, ist nur ein sparsamer Austausch von Gefühlen zu erwarten, der angepresste oder fixierte rechte Arm kann laut Molcho auf Entscheidungsprobleme bei konkretem und sachbezogenem Handeln hinweisen [3].

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7 Bewegungen

7.3 Rhythmus und Takt Bewegungen sind von ihrem Grundcharakter her rhythmisch oder getaktet. Während Erstere durch ihr fließendes, analoges Wesen Fröhlichkeit und Gefühlsorientierung signalisieren, zeigen Letztere mit ihren abgehackten, digitalen Bewegungen Willensstärke und Zielorientierung. Schwanken wir zwischen beiden, ergeben sich zögerliche, unbestimmte, stotternde, unkontrollierte oder hektische Bewegungsabläufe und drücken unsere aktuelle Unausgeglichenheit aus. Das Hin und Her zwischen drängenden, motivierten Hin-zu-Impulsen, die jedoch durch die verschiedensten Gründe und Weg-vonImpulse gehemmt und gedrosselt werden, zeigt ebenso, dass die Person nicht im tieferen Einklang mit sich selbst ist. Diese Unausgeglichenheit kann bis zur Handlungsunfähigkeit reichen und zeigt sich in milder Form bei Menschen, die aus nervöser Konstitution in ständiger Bewegung sind und mit jedem Körperteil in eine andere Richtung zu stoßen scheinen. Solche Menschen sind in ihrer aktuellen Verfassung oft auch nicht fähig, lange Sätze zu sprechen. Hier gelingt die Verständigung am besten, wenn wir uns auf ihren Rhythmus einlassen und die Unterhaltung in Form von Halbsätzen führen [16]. Recruiter, die dagegen versuchen, die Sprunghaftigkeit eines Bewerbers mit ausführlichen Beschreibungen auszugleichen, verhalten sich konträr zu dessen aktuell vorherrschendem Bedürfnis und werden ihn nur schwer in das Gespräch einbinden können. Die Empfehlung, sich auf den Rhythmus des Gesprächspartners einzuschwingen, gilt nicht nur für Gespräche mit dem nervösen Typus. Allgemein spielt für eine gelingende Kommunikation ein gemeinsamer Rhythmus eine kritische Rolle. In jedem Gespräch, in dem wir Übereinstimmung und Kooperation anstreben, sollte uns bewusst sein, dass die Grundlage hierfür ein gemeinsamer Rhythmus mit dem Gesprächspartner bildet [16]. Ein gleicher Rhythmus, der durch eine gleiche Geschwindigkeit und Art der Bewegungen gekennzeichnet ist, erzeugt eine gleichartige Stimmung. Dabei brauchen wir noch lange nicht einer Meinung mit dem Gesprächspartner zu sein, aber der Stimmungsausgleich schafft eine notwendige Voraussetzung, damit ihn unsere Argumente überhaupt erst erreichen [17]. Hat sich dagegen zwischen Recruiter und Bewerber ein gemeinsamer Rhythmus gebildet, ergeben sich regelmäßig gleichartige Bewegungen. Ändert der Recruiter seine Haltung, wird der Bewerber unbewusst dazu neigen, ihm zu folgen, um im gemeinsamen Rhythmus zu bleiben und den kooperativen Charakter der Kommunikation aufrechtzuhalten. Es kommt zu spiegelnden Bewegungen, bei denen auf ein Heben des Armes beispielsweise eine identische Bewegung folgt oder aber auch ein Übereinanderschlagen des Beines, ein Griff zum Glas oder Richten der Brille. Auch wenn diese Bewegungen oberflächlich nichts miteinander zu tun zu haben scheinen, wird auf der tiefer liegenden Ebene des Rhythmus die Verbindung dadurch in Einklang und Harmonie gehalten. Setzt sich der Bewerber jedoch abrupt um und wechselt die Richtung, ohne dass der Recruiter sich bewegt hat, ist sicherlich nicht immer der unbequeme Stuhl der Grund. Rhythmuswechsel stellen kritische Punkte im Gespräch dar, die das Erreichen des ­

7.3  Rhythmus und Takt

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Gesprächsziels gefährden können. Wer diese registriert, kann der Ursache der Störung auf den Grund gehen und entstehende Missverständnisse verhindern oder frühzeitig wieder auflösen. Rhythmuswechsel Abrupte Rhythmuswechsel weisen auf Unstimmigkeiten, Diskrepanzen und Gesprächsstörungen hin. Etwas ist geschehen, das so schwerwiegend war, dass es beim Gegenüber eine positive oder negative Bewegungsänderung ausgelöst hat. Rhythmuswechsel gründen auf der inneren Veränderung unserer Einstellung, die direkt auf die körperliche Ebene übertragen werden und sich durch Atem-, Klang- und Haltungswechsel ausdrücken. Wer diesen Wechsel registriert und seine Botschaft versteht, kann diesen als wertvoller Signalgeber nutzen. Werden Rhythmusänderungen dagegen übergangen, wird der Gesprächspartner zunehmend nervöser und unkonzentrierter. Durch den geänderten Rhythmus hat sich auch der gemeinsame Nenner der Kommunikation verändert, und so erreichen Argumente, die nach einem Wechsel und auf gezeigte Ungeduld-Signale des Partners gesendet werden, diesen oftmals nicht mehr und schaffen stattdessen Distanz. Unabhängig davon, wie gut oder richtig die Argumente jetzt noch sein mögen, der Partner wird mit wachsender Ungeduld zunehmend emotionaler und tritt in die, in Kap. 10 beschriebene, Refraktärphase ein, in der er mit steigender Emotionalität für sachliche Ansprachen immer schwerer erreichbar wird. Recruiter, die Rhythmusabweichungen bewusst erfassen, können gezielt auf einen Ausgleich hinwirken. Hierzu kann man sich zunächst auf die Geschwindigkeit des Bewerbers einstellen und anschließend, wenn eine Verbindung entstanden ist, den Rhythmus subtil beschleunigen oder drosseln, um das Gespräch in die gewünschte Richtung zu lenken. Zunächst muss man jedoch zueinander finden: Hinkt der eine hinterher, während der andere zieht, verlieren beide Gesprächspartner beim Versuch, ihre Rollen zu behaupten, unnötig Energie. Das Nicken des Partners bildet einen gut sichtbaren Indikator für seinen aktuellen Rhythmus: Passt es sich an oder signalisiert es ungeduldig, dass man zum Wesentlichen kommen soll? Erfolgt es verzögert und zeigt, dass nicht einfach jede Aussage unreflektiert übernommen wird? Senkt es sich langsam, mitunter leicht genervt, zum Ende unserer Aussage ab und signalisiert, man solle doch bitte zum Ende kommen? Weitere Indikatoren bilden das Timing und Pausen, mit denen man Aussagen sich setzen lässt, die Geschwindigkeit der Gestik sowie das eingebrachte emotionale Investment. Anbieter-Abnehmer-Konstellation Wer die Rhythmen der am Gespräch Beteiligten differenziert erfasst, kann erkennen, wer von ihnen die Anbieter- und wer die Abnehmer-Rolle einnimmt. Diese Dimension der Kommunikation stellt damit eine hervorragende Möglichkeit dar, um innerlich auf die Metaebene zu wechseln und zu erkennen, wer im Gespräch gerade ein stärkeres Interesse an der Zusage des Gegenübers hat.

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7 Bewegungen

Was steckt dahinter? Wer ein großes Interesse an der Zusage seines Gesprächspartners hat, ist normalerweise bereit, mehr zu investieren, um den anderen zu überzeugen. Dabei gerät er in die Rolle des Anbieters, der seine Idee, sein Produkt oder sich selbst als Bewerber oder Arbeitgeber dem anderen verkaufen möchte. Der Druck, die Motivation und die investierte Energie beschleunigen den individuellen Rhythmus: Im Bemühen, das Gespräch zum gewünschten Ziel zu führen, wird „Gas gegeben“. Unklarheiten werden erläutert, sobald sich eine fragende Mimik zeigt, Informationen nachgeschoben, wenn der Partner mit seiner Antwort zögert, und direkt und mitunter unreflektiert auf dessen Unsicherheiten oder Richtungswechsel reagiert. Dabei wird versucht, das eigene Angebot auch auf die kleinsten Einwände und Bedenken hin anzupassen und auch bei nachrangigen Details eine Brücke zur Lösung der Situation zu schlagen. Die beschriebenen Kommunikationselemente selbst sind nicht das Problem: Sie begegnen uns auch in normalen Gesprächen. Aber das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile. Es sind das Timing und der Rhythmus, die sich verändern und die AnbieterRolle kennzeichnen. Der Anbieter lässt sich auf Pausen nicht mehr ein und reagiert übereilt auf positive oder negative Signale des Gegenübers. Dadurch geht er in den Tiefstatus und nimmt sich nicht ausreichend Zeit, um sein Angebot wirkungsvoll zu platzieren, sondern beschleunigt, um möglichst viele Informationen zu vermitteln. Dieses Verhalten gibt seiner Kommunikation einen getriebenen Charakter und wirkt implizit bedürftig. Warum sollte es jemand mit einem guten Angebot eilig haben? Er sollte eigentlich genügend Interessenten finden. Wie erlebt der Kommunikationspartner die Situation? Wenn wir merken, dass uns jemand etwas aufdrängen will, ziehen wir uns intuitiv zurück und nehmen uns die Zeit, um das Angebot genauer zu prüfen. Wir verlangsamen unseren Rhythmus, nehmen die Abnehmer-Position ein und stoßen damit oftmals einen Kreislauf an. Der Anbieter spürt wiederum das Zögern des Abnehmers, doch statt ihm Zeit zu lassen, steigt die Versuchung nachzusetzen, um ihn zu überzeugen. Das ist aber gerade das, was dieser nicht möchte: Er möchte nicht noch mehr Informationen und Druck, sondern Zeit und Abstand, um die Informationen sacken zu lassen und sie in Ruhe verarbeiten zu können. Infolgedessen wird sich der Abnehmer schließen, zurückweichen, den Blickkontakt sparsamer gestalten oder sich um Unterlagen, Prospekte oder die eigenen Notizen kümmern und versuchen, frei durchzuatmen und sich seine Entscheidungsfreiheit zu erhalten. Das steigert die Verunsicherung des Anbieters weiter und führt zu einem Teufelskreis, wenn dieser noch mehr beschleunigt und zusätzliche Informationen nachschieben möchte, um den Abnehmer auf der Sachebene doch noch zu überzeugen, obwohl es um diese längst nicht mehr geht. Der Mechanismus des impliziten Rhythmus führt mitunter so weit, dass beispielsweise Investoren bei Gründer-Pitches für Risikokapital sich weniger explizit um den Inhalt und die Feinheiten des Gesagten kümmern, sondern sich vielmehr auf der Metaebene fragen, ob der Vortragende selbst von sich und seiner Geschäftsidee überzeugt ist [18]. Ist er das nicht und möchte er nur hektisch und getrieben an neue Mittel kommen, unterscheidet sich sein Rhythmus von einem enthusiastischen und dynamischen, souveränen Kommunikationsstil, den ein von sich und seiner Idee

7.3  Rhythmus und Takt

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überzeugter Vortragender vermittelt. Die Investoren prüfen durch kritische Rückfragen die Selbstsicherheit des Gründers und beobachten, in welchen Rhythmus er verfällt. Lässt er die Frage sacken, reflektiert er sie oder entgegnet er übereilt? Im Recruiting kann man beispielsweise den Bewerber direkt fragen, warum man sich gerade für ihn entscheiden sollte. Etwas mehr Druck löst eine Stressfrage aus, wie: „Was würden Sie sagen, wenn wir Ihnen sagen würden, dass uns andere Bewerber bislang mehr überzeugt haben?“

Durch die veränderten Arbeitsmärkte hat sich für viele Positionen die klassische Rollenverteilung geändert, bei der der Bewerber früher als Anbieter seiner Arbeitskraft aufgetreten ist und der Betrieb als Abnehmer kritisch auswählte. Die genaue Rollenverteilung ist stets von der zu besetzenden Stelle, der Marktlage, von der Situation des Betriebs und des Bewerbers abhängig und führt zu unterschiedlich starken Ausprägungen und einem fließenden Wechsel zwischen Anbieter- und Abnehmer-Rhythmus. Wer im Gespräch auf diese Rhythmen achtet, erkennt, wer gerade welche Rolle einnimmt und wie es um das Selbstverständnis des Bewerbers sowie der Betriebsvertreter und ihr Verhältnis zueinander unter der Oberfläche bestellt ist. Am Rhythmus lässt sich auch erkennen, ob der Bewerber pokert oder andere Alternativen hat. Nimmt er die Anbieter-Rolle ein und will er den Betrieb engagiert von sich überzeugen, oder prüft er dessen Angebot lediglich als mögliche Option? Unbewusst reagieren wir ohnehin schon auf den Rhythmus, Recruiter mit tradiertem Rollenverständnis riskieren jedoch, einem starken Bewerber, den sie selbst eben noch nicht überzeugen konnten, weniger Motivation zu unterstellen und einen engagierteren, aber schwächeren Bewerber vorzuziehen, weil dieser, mit weniger Alternativen im Rücken, mehr Interesse zeigt und motivierter erscheint. Doch auch ein zu schneller Rhythmus birgt Gefahren für Fehleinschätzungen. Bedürftigkeit wirkt auf einer intuitiven Ebene unattraktiv: Sie senkt den Status und lässt Bewerber, aber auch Betriebe, die zu ambitioniert auftreten, mitunter weniger interessant wirken. Spürt man, dass man die Zusage des anderen sicher hat, ohne sich selbst festlegen oder anstrengen zu müssen, birgt es kein Risiko, sich umzusehen, was der Markt sonst noch zu bieten hat. Nur weil ein Bewerber hohen Druck hat oder durch ein aktuell schwächeres Selbstbewusstsein in der Position eine unverhältnismäßig große Chance sieht und überambitioniert auftritt, muss er kein schlechterer Bewerber sein als jener, der entspannt und souverän auftritt, weil er eine Absage leichter akzeptieren kann. Darüber hinaus liefert diese Dimension hilfreiche Informationen für die spätere Gehaltsverhandlung. Ein Bewerber, der offensiv die Anbieter-Rolle einnimmt, wird zu größeren Zugeständnissen bereit sein als ein anderer, der ohnehin schon umworben werden muss. 

Die Anbieter-Abnehmer-Konstellation lässt sich auch im Anschluss an das Gespräch einsetzen, wenn dem Bewerber angeboten wird, sich in der folgenden Woche selbst zu melden. Der Ball ist nun bei ihm, und die Zeit, die bis zur Rückmeldung vergeht, gibt weitere Aufschlüsse. Das Spektrum ist breit: Klingelt schon Montagfrüh das Telefon, scheinen Gewissenhaftigkeit, hohe

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7 Bewegungen

Motivation, aber auch Druck durch, meldet er sich erst Freitagmittag, blieb eventuell die erhoffte Zusage eines anderen Betriebes aus, bei dem er sich ebenfalls beworben hatte.

7.4 Kopfbewegungen Die bekanntesten Kopfbewegungen sind Nicken und Kopfschütteln, welche als Embleme in fast allen Kulturkreisen die Aussagen Ja und Nein transportieren. Auch wenn es in jüngster Vergangenheit durch den Facebook-Daumen eine gewisse Konkurrenz bekommen hat, stellt Nicken nach wie vor die einfachste Form der Anerkennung dar, die wir weitestgehend unbewusst senden und empfangen. Die Nick-Geschwindigkeit des Bewerbers drückt den Grad seiner Geduld oder Ungeduld aus: Nickt er bedächtig, signalisiert das sein höfliches Interesse und ermuntert zum Fortfahren, ein schnelleres Nicken kann Enthusiasmus signalisieren, besonders wenn es sich dabei dem begeisterten Rhythmus des Senders anpasst. Ein schnelles, kurzes Nicken kann jedoch auch Ungeduld anzeigen und dass in größeren Schritten fortgefahren werden soll. Trägt es gar einen angespannten, genervten Charakter, möchte der Bewerber erst einmal nichts Neues mehr hören. Dies führt bei längerem Zuhören schließlich zu einzelnem, abschließendem Nicken, bei dem gleichzeitig die Augen betont geschlossen werden, sobald der Redner einen Sinnabschnitt erreicht. Damit wird so subtil und so höflich wie möglich vermittelt, dass keine weiteren Exkurse und Erläuterungen erwünscht sind und bitte ein Schlusspunkt gefunden werden soll. Gestische Entgleisungen In den Kap. 2 und 3 wurden die Prinzipien der Ganzheitlichkeit sowie das Streben nach Konsistenz beschrieben. Vor diesem Hintergrund leiten einige Autoren die gestische Entgleisung ab. Diese tritt auf, wenn eine bejahende Aussage von einem Kopfschütteln begleitet wird. Dies scheint der verbalen Aussage zu widersprechen und so wirkt die Kommunikation auf den ersten Blick inkongruent. Da Nicken und Schütteln jedoch als tief verankerte Embleme je nach Situation sowohl bewusste als auch unbewusste Aussagen transportieren, qualifizieren sie oftmals ein verbales Ja oder Nein zusätzlich und eröffnen dabei Einsichten in die Denkmodelle und Paradigmen des Nickenden. Beschreibt beispielsweise der Recruiter die interessanten Möglichkeiten und tollen Chancen eines Projektes und antwortet der Bewerber: „Hm… ja, das klingt doch ganz gut“, schüttelt aber dabei den Kopf, dann könnte eine oberflächliche Betrachtung zur Vorsicht ermahnen, weil das nonverbale Schütteln nicht der verbalen Zusage entspricht. Wenn der Bewerber jedoch während der Beschreibung etwaige Einwände und Gegenargumente im Kopf abgewogen hat, ergänzt sein Schütteln die verbale Zustimmung um die nonverbale Aussage „Da gibt es nichts zu meckern“ oder „Nicht schlecht, da kann man nichts sagen“. Zeigt sich eine Entgleisung, sollten also noch weitere gleichzeitig auftretende Signale wie mimische Ausdrücke, bestätigende oder abwertende Gestik

7.5 Rumpfbewegungen

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und die Intonation berücksichtigt werden. Im Beispiel zeigt sich der Zuhörer im positiven Fall als reflektierter Gesprächspartner, der das Gesagte aus mehreren Perspektiven betrachtet und mögliche Alternativen berücksichtigt. Im negativen Fall steckt in ihm auch das Potenzial zum kritischen Nörgler, der stets das Haar in der Suppe sucht. In einem anderen Fall könnte auf die Frage, ob der Bewerber zu einem bestimmten Datum die Stelle antreten kann, ein Kopfschütteln sein verbales „Ja“ begleiten und auf den ersten Blick wie ein Widerspruch wirken. Diese Verhaltensweise kann jedoch ebenso anzeigen, dass der Bewerber reflektiert, ob es Hindernisse geben könnte, und diese innere Frage mit „Nein, kein Problem“ für sich verneint und daraufhin, kopfschüttelnd, die Antwort „Ja, das passt“ gibt. Da er nichts zu verbergen hat, zeigt sich auch das Kopfschütteln ungehemmt. Im Falle einer Täuschung verrät sich diese dagegen oftmals anhand der subtilen Intensität, mit der die Entgleisung auftaucht. Wenn die Antwort „Ja“ lautet, dabei aber ganz leicht und zögernd der Kopf geschüttelt wird, kann diese Hemmung den unbewussten Versuch anzeigen, eine Täuschung zu verbergen.

7.5 Rumpfbewegungen Wie in Kap. 3 beschrieben, stellen annähernde und sich distanzierende Bewegungen biologisch geprägte Verhaltensweisen dar, die sich schon bei Einzellern zeigen. Unser Körper ist aus jenen Zeiten, in denen Energie nur begrenzt zur Verfügung stand, auf Effizienz ausgelegt und führt nur ungern Bewegungen durch, die ihm nichts bringen. Den Rumpf, als den schwersten Teil des Körpers, zu bewegen, erfordert im Vergleich zu anderen Körperteilen den höchsten Energieeinsatz. Es braucht damit einen starken Reiz oder ein hohes Nutzenversprechen, damit diese Energie investiert wird und der Oberkörper aus einer entspannten Haltung, in der er mit dem Rücken an die Rückenlehne gelehnt wurde, nach vorne gebracht wird. Es muss sich also lohnen, und so zeugen annähernde Bewegungen des Rumpfes vom Interesse des Bewerbers. Dagegen ziehen wir den Rumpf zurück, wenn wir etwas als uninteressant, abstoßend oder gefährlich klassifizieren. Fühlt sich der Bewerber durch eine Frage oder Aussage getroffen oder bedroht, kann es durchaus sein, dass er sich ruckhaft aus der vermeintlichen Gefahrenzone bringt und er durch die Frage wie durch einen Stoß auf die Brust an die Rücklehne des Stuhls geworfen wird. Eine so deutliche Reaktion wirft natürlich direkt die Frage nach dem Auslöser des spontanen Rückzugs auf. Leistenwinkel Um den Grad der Handlungsbereitschaft und damit die Motivation des Bewerbers in Bezug auf das aktuelle Thema einzuschätzen, kann man sich grundsätzlich fragen, wie lange es dauern und welche Anstrengung es benötigen würde, um aus der aktuellen Haltung heraus in Aktion zu treten. Neben der in Kap. 13 beschriebenen Fußhaltung ist der Leistenwinkel zwischen Beinen und Oberkörper ein aussagekräftiger Gradmesser

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7 Bewegungen

für die aktuelle Motivation und Einsatzbereitschaft. Je offener der Leistenwinkel ist – das Extrem liegt bei 180 Grad im Liegen –, desto mehr Energie und Anstrengung sind erforderlich, um aktiv zu werden, und desto weniger handlungsfähig und -bereit ist der Bewerber. Mit spitzer werdendem Winkel steigt die Handlungsbereitschaft, bis in vorgebeugter sitzender Haltung bei circa 30 Grad bis 45 Grad die Motivation ihren Höhepunkt erreicht und es leicht ermöglicht, aufzustehen und direkt loszulegen. Eine aufrechte Haltung, bei der der Oberkörper einen rechten Winkel von 90 Grad zu den Beinen beschreibt, stellt eine neutrale Haltung dar, bei der der Spannungszustand differenziertere Einsichten in die Handlungsbereitschaft vermittelt. 

Lehnt sich der Kunde bei einer bestimmten Wendung des Gesprächs nach vorne, ist dies ein deutliches Zeichen seiner Zustimmung. Im Verkauf stellt es eine sträfliche Nachlässigkeit dar, diese Gelegenheit vorübergehen zu lassen [19]. Analog sollte man auch im Bewerbungsgespräch zugreifen und dem Bewerber entgegenkommen, beispielsweise dadurch, dass man einen Vorschlag oder Angebot konkretisiert. Beugt sich der Bewerber abrupt vor, ist der natürliche Augenblick gekommen, ihm kurz darauf etwas in die Hand zu geben: beispielsweise eine Stellenbeschreibung, ein Organigramm, mögliche Einarbeitungspläne oder geplante Onboarding-Abläufe, Messe- oder Projektkonzepte und Ähnliches.

Weitere Rumpfbewegungen Rumpfbewegungen nach oben drücken das Bestreben aus, größer und überlegener zu wirken, während ein Wegducken nach unten mit Energielosigkeit einhergeht und die Hoffnung signalisiert, dass doch dieser Kelch vorübergehen möge. Wendet sich der Rumpf nach außen, wird der Bewerber möglicherweise gerade abgelenkt. Er zeigt dabei aber auch, dass er sich ablenken lässt. Abhängig vom Grad der Ablenkung kann das im negativen Sinne als Flatterhaftigkeit und mangelnde Konzentrationsfähigkeit, im positiven Sinne als Flexibilität, Aufmerksamkeit und Offenheit für Neues ausgelegt werden. Nach innen führende, schließende und abblockende Rumpfhaltungen und Bewegungen signalisieren, dass die Person aktuell keine zusätzlichen Reize verarbeiten kann oder will. Ein abgewandter Oberkörper zeigt Desinteresse und die mangelnde Bereitschaft, sich mit dem aktuellen Thema auseinanderzusetzen. Das muss jedoch nicht bedeuten, dass prinzipiell keine Bereitschaft besteht – nachdem der Bewerber sich alles in Ruhe durch den Kopf hat gehen lassen, kann er sich durchaus wieder öffnen, aber hier und jetzt kommt man erst einmal nicht weiter. Weicht der Oberkörper nach links oder rechts zur Seite aus, drückt sich der Wunsch aus, auch thematisch auszuweichen. Sich windende, wegdrehende Bewegungen signalisieren innere Widersprüche und Zwiespälte und damit deutlich das Unbehagen des Bewerbers.

7.6  Eigene Bewegungen

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7.6 Eigene Bewegungen Dieses Unterkapitel fällt etwas kürzer aus als andere, da es nicht das Ziel sein sollte, die eigenen Bewegungen bewusst zu kontrollieren. Wer sich zu sehr damit beschäftigt, den Körper als Ganzes kontrollieren zu wollen, verliert Kongruenz und Authentizität. Die Ursachen für unseren Gang und den Charakter unserer Bewegungen liegen tiefer und dort sollte auch angesetzt werden, wenn wir unzufrieden sind. Prinzipiell helfen Ziele und ein integriertes Rollenverständnis, um Bewegungen nach sich zu ziehen, die unserer Position nicht entgegenstehen. Hier helfen kommunikationspsychologische Methoden wie das Erstellen eines Inneren Teams, um Klarheit zu schaffen, oder eines Werte- und Entwicklungsquadrates, um den Bezugsrahmen zu erweitern. Darüber hinaus färben unser Temperament und unsere Grundpersönlichkeit die Art unserer Bewegungen. Auf dieser Ebene sollte man lieber sein Frieden mit sich schließen, als sich an Änderungsversuchen aufzureiben, die in der Regel in keinem Verhältnis zum Einsatz stehen. Ein hierzu treffendes Bonmot von Eckart von Hirschhausen lautet, dass auch sieben Jahre Psychotherapie aus einem Pinguin keine Giraffe machen [20]. An entscheidenden Schwächen sollte natürlich gearbeitet werden, aber wer seine Stärken stärkt, wird sich wesentlich positiver entwickeln, als wer mühevoll versucht, jede Schwäche zu beseitigen. Letztere Vorgehensweise ist nicht nur mit Unlust verbunden und führt zu Frustrationen oder durchschnittlichen Ergebnissen, die eingesetzte Energie fehlt auch, um die eigenen Stärken auszubauen. Wird sie dort investiert, fällt sie auf fruchtbaren Boden und führt zu überproportionalem Wachstum, das Spaß macht und in dessen Folge sich der eigene innere Status und die Art, sich zu bewegen, oftmals wie von selbst verändern. Selbstverständlich können aber, mit den in Kap. 4 zum ersten Eindruck und Kap. 6 zur Haltung beschriebenen Übungen und Techniken, Blockaden abgebaut und aufgelöst werden. Einen weiteren Ansatz bieten die in Kap. 3 beschriebenen Galli-Workshops. Sind kritische Blockaden gelöst, bewegen wir uns freier, entschlossener und kraftvoller. Einige einzelne Bewegungen gibt es aber doch, auf die man im Gespräch achten kann, um die Verbindung zum Gesprächspartner zu stärken, nämlich die Ausrichtung des Oberkörpers und die Bewegungen des Kopfes. Wenn wir uns vorlehnen und dem Gesprächspartner unsere ventrale (vordere) Seite zuwenden, signalisieren wir nonverbal, dass wir dessen Meinung teilen und über seine Äußerungen nachdenken. Neben den geneigten Kopfhaltungen aus Kap. 6 sind nickende Kopfbewegungen effektive Kommunikationsmöglichkeiten, um das Gespräch zu lenken. Suggestives Nicken Unser Nicken zeigt nicht nur unseren Rhythmus an, sondern wirkt beinahe ebenso ansteckend wie Gähnen. Die Ursache hierfür liegt in den von Giacomo Rizzolatti und seinem Team im Jahr 1992 entdeckten Spiegelneuronen. Als Spiegelneurone werden Neurone im eigenen Gehirn bezeichnet, die feuern, wenn ein Gesprächspartner, dem wir uns verbunden fühlen, etwas Spezifisches tut oder ausdrückt. Dadurch, dass im eigenen Gehirn die vergleichbaren Verschaltungen aktiviert werden wie beim Gesprächspartner,

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7 Bewegungen

erleben wir, relativiert durch das eigene Referenzsystem, auf neuronaler Ebene tatsächlich, was dieser gerade erlebt [21]. Joachim Bauer bezeichnet Spiegelneurone von daher als die Quelle der menschlichen Empathie [22]. Besteht eine tragfähige Verbindung und nickt unser Gesprächspartner, feuern auch unsere „Nick-Neurone“ und infolgedessen ergibt es sich regelmäßig und, ohne dass wir ernsthaft das Gesagte reflektiert hätten, ein zustimmendes Mitnicken. Dieses aktiviert aus der Vergangenheit verankerte positive Gefühle, die wir bei jedem selbst geäußerten oder von anderen empfangenen Nicken empfunden haben, und triggert damit eine tief sitzende Konditionierung an. Wenn wir bei wichtigen Aussagen nicken, evozieren wir nicht nur, dass unser Gegenüber auch nickt, uns damit zustimmt und auch zu uns „Ja“ sagt, sondern zusätzlich, dass er sich auch noch gut dabei fühlt. Das Gegenteil gilt natürlich bei dem mit Ablehnung und Zurückweisung verbundenen Kopfschütteln. Die Wirkung des Nickens auf die Einstellungsbildung wurde in Kap. 3 im Rahmen des Head-Movement-Paradigmas beschrieben. Verkäufer nutzen diese seit Jahrzehnten und ergänzen sie mit einer „Ja-Kette“. Wer im Rahmen einer logischen Herleitung mehrmals hintereinander „Ja“ gesagt hat, kann kaum noch „Nein“ sagen, wenn die Herleitung logisch zur Konsequenz das Kauf-Abschlusses führt, zu stark ist der Wunsch nach Konsistenz. Das verbale Evozieren eines „Ja“ kann jedoch schnell suggestiv und manipulativ wirken. Herrscht zwischen Personaler und Bewerber eine gute Verbindung und erläutert Ersterer die aktuelle Marktlage und leitet, an Schlüsselstellen nickend, die nächsten geplanten Schritte her, wird der Bewerber, zustimmend nickend, folgen und sein „Ja“ nonverbal äußern. Wenn es schließlich darum geht, dass während des geplanten Projekts von den beteiligten Mitarbeitern eine besondere Flexibilität und Mehreinsatz gefordert werden, lässt sich dem nur noch schwer widersprechen. Wie bei der Sandwichtechnik, bei der zwei positive Aussagen eine kritische Aussage in ihre Mitte nehmen und sie dadurch verträglicher machen, sollte die nonverbale, nickende Zusage des Bewerbers gewürdigt und durch etwas Positives aufgefangen werden, beispielsweise mit dem Hinweis, dass der Mehreinsatz und die Flexibilität in den herausfordernden Phasen natürlich honoriert werden. 

An dieser Stelle vermitteln „Ja, aber“-Reaktionen des Bewerbers dessen mögliche Einwände und bergen die Gefahr, das Gespräch zu stören, wenn der Recruiter diese persönlich nimmt. Im Verkauf werden Einwände als Bitte des Kunden verstanden, ihn bei der Entscheidung zum Kauf zu unterstützen. Die souveräne Einwandbehandlung ist notwendig, um dem Kunden auf dem Weg zu einer vorbehaltlosen Entscheidung zu begleiten. Glücklicherweise gibt es nur ca. ein rundes Dutzend Einwände pro Produkt [23]. Hat der Verkäufer diese kennengelernt und nach und nach passende Antworten entwickelt, die eine einfache und schnelle Lösung aufzeigen, fällt es leicht, souverän zu reagieren und den Kunden zu überzeugen. Analog sollten sich Recruiter mit der Geschäftsführung über kritische Punkte, die ihnen regelmäßig begegnen, auseinandersetzen und Lösungen finden.

7.6  Eigene Bewegungen

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Verstärkendes Nicken Personaler können Bewerber auch durch verstärkendes Nicken dazu ermutigen, weiterzusprechen und ihre Ausführungen zu vertiefen oder zu erläutern. Freundliches und interessiertes Nicken und das damit verbundene, nonverbale Beipflichten können in Interviews dazu führen, dass die Gesprächspartner bis zu dreimal so viel erzählen [24]. Die Kunst liegt dabei einerseits darin, den anderen nicht zu unterbrechen, und andererseits darin, ihn an den richtigen Stellen nonverbal zu bestärken. Wir identifizieren uns mit unseren Gedanken – werden diese durch ein Nicken des Gesprächspartners bestätigt, fühlen wir uns akzeptiert und animiert, uns weiter zu öffnen und mehr zu erzählen. Neben einem Nicken vermitteln ein leicht geneigter Kopf, ein höfliches Lächeln und hochgezogene Augenbrauen Offenheit und zusätzliches Interesse. Das darf natürlich nicht zur statischen oder überzogenen „Grinse-Maske“ ausarten. Ein weiter Effekt unterstützt den Beziehungsaufbau zum Bewerber. Nach einem Gespräch, bei dem sie sich mitteilen konnten, fühlen sich die meisten Menschen wesentlich besser, als wenn sie nicht oder nur kaum zu Wort kamen. Sein Gefühl nach dem Gespräch wird die Entscheidung des Bewerbers zu einem hohen Maß beeinflussen, und somit gebietet es nicht nur die Höflichkeit, sondern auch das Wirkungskalkül, ihn nicht zu unterbrechen. 

Zusätzliche Informationen erfahren Gut vorbereitete Bewerber haben für die gängigsten Fragen Musterantworten einstudiert, denen jedoch mitunter eine wirkliche Aussagekraft und vor allem die persönliche Komponente fehlen und so ein schales Gefühl auslösen können, bei dem der Recruiter spürt, dass da noch etwas fehlt. Um die Zunge des Bewerbers doch noch zu lösen, kann der Recruiter bei dessen Ausführungen subtil und wohldosiert an sinntragenden Stellen mitnicken und sich dabei auf seinen Rhythmus einstellen. Hat der Bewerber schließlich seine Antwort beendet, ergibt sich eine Pause, die in den folgenden drei bis fünf Sekunden eine gewisse Spannung entstehen lässt. Nickt der Personaler nun im zuvor wahrgenommenen Rhythmus des Bewerbers freundlich zwei- bis dreimal nach und lässt diese nonverbale Aufforderung, eventuell mit leicht gehobenen Augenbrauen und subtil geneigtem Kopf, weiter wirken, ergibt es sich regelmäßig, dass der Bewerber den Gesprächsfaden wieder aufnimmt, weitererzählt, seine Aussagen vertieft und nun Informationen mitteilt, die er eigentlich zurückhalten wollte. Auch wenn die Möglichkeiten, die sich durch bewusstes Nicken eröffnen, sehr attraktiv sind, sollte darauf geachtet werden, sie nur subtil und in Schlüsselsituationen einzusetzen, damit die Technik dem Gesprächspartner nicht durch den übermäßigen Einsatz ins Bewusstsein dringt.

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7 Bewegungen

7.7 Fazit: Bewegungen Jeder Mensch hat einen charakteristischen eigenen Gang und Rhythmus. Das Gangverhalten und dessen rhythmische oder getaktete Bewegungen vermitteln einen tieferen Eindruck von dem Temperament und der Persönlichkeit des Bewerbers. Die Beachtung des gemeinsamen Rhythmus ermöglicht einen innerlichen Wechsel auf die Metaebene und zeigt, wer im Gespräch gerade die Anbieter- und wer die und Abnehmer-Rolle einnimmt. Um festgefahrene Situationen aufzulösen, kann es helfen, die Gesprächspartner zunächst zu einer körperlichen Haltungsänderung zu veranlassen – in gravierenden Fällen durch einen Ortswechsel oder eine kleine Pause. Dadurch wird auf der körpersprachlichen Ebene eine Voraussetzung geschaffen, um auch geistig die Perspektive zu wechseln, um seine Ansichten und Einstellungen mit jenen des Gesprächspartners zusammenzuführen. Ein Fortschritt im Gespräch und Prozess kann man durch ein körperliches Fortschreiten unterstützen, und den zukünftigen gemeinsamen Weg kann man beispielsweise mit einem Rundgang durch den Betrieb beginnen.

Literatur 1. Samy Molcho: Körpersprache der Kinder, S. 108; Hugendubel, Kreuzlingen/München, 2005 2. Samy Molcho: Körpersprache im Beruf, S. 17; Der Goldmann Verlag, München, 1997 3. Samy Molcho: Seminar: Der Körper spricht immer; Jürgen Höller Academy, Schweinfurt, 2013 4. Alexander Lowen: Bioenergetik, 228; Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek bei Hamburg, 1982 5. Samy Molcho: Körpersprache im Beruf, S. 184; Der Goldmann Verlag, München, 1997 6. Michael Grinder, Seminar: ein Training in differenzierter Wahrnehmung, Twinn Akademie, Offenhausen, Nürnberg, 14.05.–17.05.2015 7. Samy Molcho: Körpersprache im Beruf, S. 170; Der Goldmann Verlag, München, 1997 8. Samy Molcho: alles über Körpersprache, S. 163; Mosaik bei Goldmann, München, 2001 9. Samy Molcho: Körpersprache im Beruf, S. 174; Der Goldmann Verlag, München, 1997 10. Stefan Verra: Hey, Dein Körper flirtet: S. 168 und 50; edel Germany GmbH, Hamburg, 2016 11. Hans Georg Häusel: Think Limbic!; Haufe, Freiburg, 2014 12. Samy Molcho: Körpersprache, S. 103; Der Goldmann Verlag, München, 1996 13. Samy Molcho: Körpersprache, S. 102; Der Goldmann Verlag, München, 1996 14. Samy Molcho: Körpersprache, S. 101; Der Goldmann Verlag, München, 1996 15. Samy Molcho: alles über Körpersprache, S. 165; Mosaik bei Goldmann, München, 2001 16. Samy Molcho: Körpersprache im Beruf, S. 138; Der Goldmann Verlag, München, 1997 17. Samy Molcho: Körpersprache im Beruf, S. 137; Der Goldmann Verlag, München, 1997 18. Amy Cuddy: Dein Körper spricht für dich, S. 43; Wilhelm Goldmann, München, 2016 19. Samy Molcho: Mit Körpersprache zum Erfolg, Version 3.0, DVD United Soft Media Verlag GmbH, München, 2010 20. https://www.youtube.com/watch?v=Az7lJfNiSAs aufgerufen am 27.09.2018, 20:34 21. Joachim Bauer: Warum ich fühle, was du fühlst, S. 25; Wilhelm Heyne Verlag, München, 2009 22. Joachim Bauer: Warum ich fühle, was du fühlst, S. 46; Wilhelm Heyne Verlag, München, 2009 23. Ingo Rose: Seminar: Vertriebsorientierung bei Spedition Grieshaber, Bad Säckingen, 2003 24. Allan & Barbara Pease: Die kalte Schulter und der warme Händedruck, S. 215, Ullstein Taschenbuch, Berlin, 2006

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Begrüßung und Handshake

Zusammenfassung

Kap. 8 beschreibt verschiedene Faktoren, die die Begrüßung beeinflussen und zu charakteristischen Handshakes führen, die mit ihren impliziten Beziehungsbotschaften beschrieben und unterschieden werden. Vertiefend werden die beim Handshake vermittelten Statusbotschaften behandelt und Möglichkeiten aufgezeigt, um diesen zu begegnen und zielgerichtet Einfluss auf den weiteren Gesprächsverlauf zu nehmen. Ergänzend werden Implikationen der Verabschiedung beschrieben und die relevanten Elemente aufgeführt, mit denen der Recruiter den eigenen Handshake zielgerichtet gestalten kann. Nachdem in den vorigen Kapiteln zum Territorialverhalten, zur Haltung und den Bewegungen maßgeblich jene Elemente der nonverbalen Kommunikation untersucht wurde, die überwiegend unbewusst gesendet werden, stehen im folgenden Kapitel über Begrüßen und Handshake die bewusste Kommunikation sowie ritualisierte Kontaktaufnahme mit dem Gesprächspartner im Fokus.

8.1 Grüßen und Begrüßen Der Bewerber wartet am Empfang, der Recruiter kommt, um ihn zum Gespräch abzuholen. Sobald sie ins gegenseitige Blickfeld gelangen, gehen beide aufeinander zu, bis sie in die persönliche Distanzzone des anderen gelangen. Dabei sollte der Bewerber, als Gast im Tiefstatus, zuerst grüßen, mittels Aufnahme des Blickkontakts, Lächeln und höflichem Nicken. Der Recruiter, als Gastgeber im Hochstatus, erwidert den Gruß und leitet dann die Begrüßung ein.

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 C. Bernhardt, Nonverbale Kommunikation im Recruiting, https://doi.org/10.1007/978-3-658-25276-2_8

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8  Begrüßung und Handshake

Knigge unterscheidet zwischen Grüßen und Begrüßen [1]. Grüßen erfolgt ohne Körperkontakt und wird vom Gast eingeleitet. Das förmlichere Begrüßen durch Schütteln der Hände geht dagegen mit Körperkontakt einher, und diesen einzuleiten, obliegt dem Statushöheren, also dem Gastgeber.

Da es sich um ein eingespieltes Ritual handelt, werden sowohl beim Grüßen als auch beim Begrüßen die entsprechenden Signale und Handlungen von beiden Partnern kaum wahrnehmbar zeitversetzt initiiert. Dennoch können sich schon hier Missverständnisse auf der Ebene der Rollen-Status-Konstellation einschleichen. Steht der Recruiter bei der Stellenbesetzung unter Druck, kann er dazu neigen, seinen Rhythmus zu beschleunigen und gleich zu Beginn, entgegen dem Skript seiner Rolle, den Gruß zu initiieren. Dadurch nimmt er den Tiefstatus ein und ordnet gleichzeitig dem Bewerber den Hochstatus zu, was dessen unbewusste Erwartungen enttäuscht und ihn verunsichert: Soll er den angebotenen Hochstatus entgegen dem Skript seiner Gastrolle annehmen und nun auch den Handshake initiieren oder soll er das implizite Angebot ablehnen? Natürlich wird diese Entscheidung nicht bewusst getroffen, und wenn die Verunsicherung nicht überwiegt, wird er normalerweise den ihm zugewiesenen Hochstatus intuitiv annehmen und die Initiative beim Handshake übernehmen. Aber auch wenn das Reichen der Hände nahezu zeitgleich stattfindet, spüren beide unbewusst, von wem der Impuls kommt und ob dies zur Rolle passt. Wundert sich nun der Personaler und empfindet das Auftreten des Bewerbers plötzlich als zu forsch, ist ihm nur selten bewusst, dass er selbst es war, der diese Verhaltensweise kurz zuvor angestoßen hat. Wann sollte der Handshake genau erfolgen, wo und warum geben wir uns eigentlich die Hände und was gilt es dabei zu berücksichtigen? Das Bedürfnis, die Hände zu schütteln, entsteht, wenn wir beim gegenseitigen Annähern die kritische Grenze erreichen, an der wir die Füße des Partners aus dem Blickfeld verlieren. Da diese ein wichtiger Impulsgeber bei möglichen Angriffen sind, lässt sich schlechter abschätzen, was der andere als Nächstes tun wird, wenn wir seine Füße nicht mehr sehen. Es entsteht eine latente Unsicherheit, und bevor die Stressachse aktiviert wird, schütteln wir die Hände, um die Spannung abzubauen und unsere friedliche Absicht zu signalisieren. Dabei verliert eine hochgewachsene Person früher die Füße des Partners aus den Augen, Männer, durch ihre schlechtere periphere Wahrnehmungsfähigkeit, früher als Frauen. So werden große Männer dazu neigen, früher den Handshake einzuleiten, und dabei gleichzeitig den Hochstatus einnehmen – durch ihr natürliches Timing und ihre körperliche Überlegenheit wird der andere ihnen diesen auch nicht streitig machen, zu stark wirken die archaischen Programme. 

Die natürlichen Bedürfnisse weisen auf Störungen hin, die sich zwischen großen Bewerbern und kleinen Recruitern ergeben können, wenn Erstere den Handshake einleiten, obwohl es Letzteren obläge. Souveräne Gastgeber empfangen den Gast ruhig, geben ihm die nötige Zeit, seinen Gruß zu platzieren, und leiten dann die Begrüßung ein. Begegnet ihm ein Bewerber, der ihn deutlich überragt, kann der Recruiter den Handshake etwas früher initiieren, um Missverständnissen und Verunsicherungen durch unklare Rollen-Status-­ Konstellationen vorzubeugen.

8.1  Grüßen und Begrüßen

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Begrüßungsvarianten Je nachdem, wie man sich dann begrüßt, werden sechs verschiedene Beziehungsbotschaften vermittelt: höflich, herzlich, routiniert, zurückhaltend, vereinnahmend und dominierend [2]. Höflich  Die höflich gereichte Hand zeichnet sich durch einen guten Kontakt aus und schüttelt lebhaft. Der Blick ist freundlich, interessiert, wird von einem zuvorkommenden Lächeln begleitet und trifft den Blick des Partners auf einer Ebene. Der Körper ist zugewandt, hält aber respektvoll Abstand [2]. Herzlich  Wie die höflich gereichte Hand zeichnet sich die herzlich gereichte Hand durch einen guten Kontakt und lebhaftes Schütteln aus. Auch der Blickkontakt findet auf einer Ebene statt, hält aber länger an, ist warmherziger und wird von einem innigen Lächeln oder herzlichen Lachen begleitet. Der Körper ist ebenfalls zugewandt, aber der Abstand reduziert sich, man kommt sich näher [2]. Routiniert  Bei der routinierten Begrüßung drückt und schüttelt man sich kurz die Hand, auch der Blickkontakt ist kürzer, begegnet dem des anderen aber auch auf einer Ebene. Das Lächeln ist höflich, aber nichtssagend. Der Körper hält respektvoll Abstand und wird dem Gesprächspartner mitunter leicht schräg zugewandt [2]. Zurückhaltend  Die zurückhaltend gereichte Hand liegt schwach in der anderen und lässt sich passiv schütteln. Der leicht gesenkte Kopf führt zu einem, von unten nach oben gerichteten, scheuen Blick, der häufig kurz wegrutscht, dann aber gleich wieder zurückzukehrt. Zeigt sich ein begleitendes Lächeln, ist es in der Regel etwas zaghaft. Der zugewandte Körper hält respektvoll Abstand [2]. Vereinnahmend  Die vereinnahmende Hand drückt lange, zieht teilweise die Hand des anderen zu sich heran oder nimmt die zweite Hand hinzu, um die Hand des Gesprächspartners zu umschließen. Die fixierenden Augen lassen diesen kaum los und werden von einem strahlenden Lächeln begleitet, das aber gelegentlich aufgesetzt wirkt. Der Körper kommt nah und wendet sich frontal zu [2]. Dominierend  Die dominierende Hand drückt fest. Der leicht erhobene Kopf führt zu einem, von oben nach unten gerichteten, festen Blick, der konfrontativ bis fixierend wirkt und von einem strengen oder falsch lächelnden Mund begleitet wird. Der Körper hält Abstand, wendet sich aber frontal zu [2].

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8  Begrüßung und Handshake

8.2 Händeschütteln/Handshake Beim Handshake gewinnen wir über die Rezeptoren unserer Handflächen auf biochemischer Ebene Informationen über den Partner und scannen diesen regelgerecht in Bezug auf eine biologische Übereinstimmung [17]. Dadurch schafft ein Handshake eine vergleichbare Verbindlichkeit, wie etwa bei drei Stunden sozialer Konversation ohne Körperkontakt [3]. 

Während des „Scans“ schütteln wir intuitiv so lange die Hände, bis wir genügend Informationen gewonnen haben, um uns ein Bild vom Partner zu machen. Dadurch ergibt sich ein interessanter Effekt, den der eine oder andere sicher in seiner Kindheit selbst erlebt hat: Da bei vielen Menschen die Schärfe ihrer Sinne im Laufe der Jahre nachlässt, benötigen sie beim Handshake mehr Zeit, um die notwendigen Informationen zu gewinnen. Während Opa also ausgiebig schüttelt, dauert es dem Enkelkind viel zu lang und es will seine Hand zurück haben. So breit ist das Spektrum im Recruiting glücklicherweise nicht, aber jüngere Recruiter können ältere Bewerber ein wenig länger schütteln lassen und ältere Recruiter bei jüngeren Bewerbern etwas Rücksicht auf deren Bedürfnis nehmen.

Darüber hinaus regeln wir beim Händeschütteln den Status und vermitteln unsere Motivation für das Gespräch. Dabei tragen die verschiedensten Faktoren ihren Anteil zum Mosaik der gesendeten Beziehungsbotschaft bei: Untersuchen wir diese hinsichtlich ihrer Bedeutung und ihres Einflusses auf die Qualität der Begrüßung und den anschließenden Kontakt. Initiative, Winkel zwischen Unterarm und Oberarm, Winkel des Handgelenks Wie beschrieben, liegt die Entscheidung, ob Körperkontakt, und damit der Handshake, erfolgen soll oder nicht, beim Hochstatus. Befinden sich beide Partner auf Augenhöhe, signalisiert jener, der den Handshake initiiert, seinen aktuellen Führungsanspruch. Herrschen große Unterschiede im Status und ergreift der Tiefstatus die Initiative, zeigt sich dessen Wunsch nach einer Intensivierung des Kontakts, was jedoch ein klares Überschreiten der eigenen Kompetenzen bedeutet. Der Ellbogenwinkel zwischen Unterarm und Oberarm wird durch die Hand verlängert und erfordert einen entgegengesetzten Winkel im Handgelenk des Gegenübers, damit der Handshake gelingt. Wird der Unterarm waagerecht gehalten, kann der Partner die gereichte Hand schütteln, ohne sein Handgelenk abwinkeln zu müssen. In Fällen, in denen der Unterarm nicht waagerecht, sondern mit einem größeren Winkel als 90 Grad gereicht wird, entsteht für den Partner der Druck, sich mit einem abgeknickten Handgelenk anzupassen oder die Unterdrückung zu konfrontieren. Dabei wirkt ein bewegliches Handgelenk ausgleichend, während ein unnachgiebiges Handgelenk den anderen

8.2 Händeschütteln/Handshake

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zur Anpassung zwingt. Während also Ersteres auf Flexibilität und Anpassungsbereitschaft hinweist, lässt Letzteres auf Autorität, Konfrontationsvermögen und Rigidität schließen Abb. 8.1. Geschwindigkeit, mit der die Hand gereicht wird Während die einen sich zweimal bitten lassen, was zögerlich wirken und Unsicherheit ausdrücken, aber auch einen unbewussten, subtilen Test der Selbstsicherheit und des Status des Partners bedeuten kann, greifen andere sehr schnell zu. Es ergibt sich ein Schnappgriff, bei dem sich die Hände nur teilweise zu greifen bekommen und die Qualität des Handshakes durch die Unvollständigkeit einen unbefriedigenden Charakter erhält. Molcho beschreibt, dass schnell zugreifende Menschen zwar immer etwas bekommen, aber oft nur weniger, als eigentlich zu holen war [4]. Die vorschnellende Hand kann fordernd und wie ein Angriff aus dem Hinterhalt wirken: Statt sich einem Vorgang voll und ganz zu widmen und sich vorbehaltlos auf die aktuelle Begegnung einzulassen, ist der Zuschnappende mit seinen Gedanken und Plänen schon weiter. Um ja nichts zu verpassen, wird eilig zugeschnappt, was mitunter gierig und bis hin zur Getriebenheit wirken kann. Die Begrüßung erhält einen schalen Beigeschmack und vermittelt nur wenig Interesse geschweige denn Wertschätzung. Im Rahmen der oben beschriebenen routinierten Begrüßung zeigt die kurz und eilig gereichte Hand, dass nicht geplant ist, sich lange mit dem Gegenüber aufzuhalten. Um einem falschen Eindruck vorzubeugen, sollte der Recruiter einen angemessenen Zeitrahmen für das Gespräch einplanen und entspannt in das Gespräch hineingehen. Abstand des Armes zum Oberkörper Wie in Kap. 7 zur Bewegung beschrieben, signalisiert der seitliche Abstandswinkel zwischen Arm und Rumpf unsere Anpassungsbereitschaft. Ein eng am Körper liegender Arm beansprucht wenig Territorium und lässt anderen sowohl räumlich Platz als auch Platz für ihre Meinungen. Dagegen weisen abgespreizte Arme auf mangelnde Anpassungsbereitschaft hin. Diese Verhaltensweise geht beispielsweise mit häufigen

Abb. 8.1   Winkel Unterarm, Oberarm, Handgelenk

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8  Begrüßung und Handshake

Wechseln im Lebenslauf einher, entsprechend dürfte die nachhaltige Integration des Mitarbeiters herausfordernder werden als bei anpassungsfähigeren Typen. Hier kann die Suche nach gemeinsamen Werten helfen: Je mehr Gemeinsamkeiten vorhanden sind, desto weniger muss man sich schließlich anpassen. Ausrichtung der Ellbogen, Treffpunkt der Hände Weiteren Aufschluss gibt die Ausrichtung des Ellbogens auf horizontaler Linie. Sie bestimmt, wo man sich letztlich die Hand geben wird. Bleibt die angebotene Hand nah am eigenen Körper und kommt nicht bis zur Mitte zwischen den Gesprächspartnern, kennzeichnet sie den zurückhaltenden, reservierten, introvertierten Typus. Schon beim Handshake kommt er anderen nur wenig entgegen und schiebt damit diesen die Verantwortung und den Aufwand für das Gelingen des Kontaktes zu. Interessant ist auch, wie es dann weitergeht: Wird neutral in der Mitte geschüttelt oder die Hand des Gesprächspartners vereinnahmend zu sich herangezogen? Letzteres ­verletzt dessen persönliche Sphäre und wirkt undistanziert und zu vertraulich. Dahingegen hält ein ausgestreckter Arm den anderen auf Distanz, schützt den eigenen Raum und wirkt ablehnend. Wird die eigene Hand in die intime Distanzzone des Gesprächspartners geschoben, stellt auch das einen Übertritt dar, der Stress verursacht. Wie Molcho betont, beruhen all die unterschiedlichen Formen des Händedrucks auf prinzipiellen Verhaltenskonzepten, die mit dem Gesprächspartner, dessen Hände geschüttelt werden, oder mit der Sache, um die es gerade geht, nichts zu tun haben. Wenn einer hier schiebt, schiebt er auch in anderen Bereichen des Lebens und er wird immer weiterschieben und die, die nicht dagegenhalten, dorthin schieben, wo er sie haben möchte [5]. Menschen, die dagegen andere bei der Begrüßung zu sich heranziehen, erwarten Entgegenkommen und möchten eher nehmen als geben [5]. Höhe des Handshakes Monika Matschnig beschreibt, wie die Höhe, auf der der Handshake stattfindet, die Seriosität des Schüttelnden anzeigen kann [6]. Ein Handshake auf normaler Höhe, bei der beide Partner sich die Hände mit einem Unterarmwinkel von circa 90 Grad reichen, findet auf oder leicht oberhalb der Gürtellinie statt. Verdächtig wird es, wenn der Handshake unterhalb der Gürtellinie ausgeführt wird: Die Vereinbarung gerät aus dem Blickfeld, erweckt weniger Aufsehen und nun sind tendenziell auch Geschäfte unter der Ladentheke möglich [6]. Im Gegensatz dazu wird eine ostentative Korrektheit signalisiert, wenn deutlich über dem natürlichen Niveau geschüttelt wird. Ausrichtung der Handflächen, Upper-Hand Die Ausrichtung der Handflächen beim Handshake stellt einen klassischen Dominanzfaktor dar. Wird die eigene Handfläche nach unten ausgerichtet und dem Gesprächspartner gereicht, muss dieser seine Handfläche nach oben ausrichten. Diese Haltung hat nicht nur einen symbolischen Effekt. Das nach innen gedrehte Torsionsmoment, das bei einwärts nach unten gedrehten Handflächen entsteht, wird durch stärkere ­Muskeln

8.2 Händeschütteln/Handshake

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gestützt als jenes der auswärts nach oben gedrehten Handflächen. Das ermöglicht eine effektivere Kraftübertragung, die die Hand des Gesprächspartners beinahe beliebig dominieren und bewegen kann. Nicht nur im Bewerbungsgespräch sollte aber eigentlich für beide Seiten gelten, beim Handshake von Machtspielchen abzusehen. 

Mark Bowden beschreibt, wie er weiterdachte und die innewohnenden Implikationen dieser Konstellation bei der Begrüßung eines Klienten nutzte [7]. Schon beim Auftritt hatte er dessen Dominanzanspruch wahrgenommen, und statt gleich zu Beginn einen Machtkampf loszutreten, ließ er dem Klienten die Oberhand, indem er die eigene Handfläche leicht nach oben ausrichtete. Bowden ordnete sich also subtil unter und brachte den Klienten dadurch automatisch in die dominante Rolle. Gleichzeitig zog er dessen Hand aber ein wenig zu sich heran und brachte seinen Bauch etwas nach vorne. So zeigte er sein Vertrauen, dass der Partner ihn trotz seiner überlegenen Position und der exponierten verletzlichen Bauchregion von Bowden nicht angreifen würde. Der Klient fühlte sich akzeptiert und ließ sich entspannt auf Bowdens ­Coaching ein.

Intensität des Händedrucks Ein schwacher, energieloser und lascher Druck hinterlässt einen unangenehmen Eindruck. Der schlaffe Händedruck wirkt kraftlos, unentschlossen, [8] wenig selbstbewusst und vermittelt ein passives Geschehen-Lassen. Der Bewerber signalisiert damit zwar einerseits die Bereitschaft, sich problemlos führen zu lassen, wirkt aber andererseits nicht sonderlich motiviert. Intuitiv trauen wir jemandem, der schon beim Handshake nicht zupacken kann, auch sonst nicht allzu viel Tatkraft zu. Hier darf nicht voreilig geurteilt werden, denn der schwache Händedruck kann durchaus gesundheitlich begründet sein, beispielsweise in einer Rheumaerkrankung. Auch der kulturelle ­Background und der ausgeübte Beruf beeinflussen die Druckstärke. Ein Zimmermann entwickelt einen anderen Handshake als ein Chirurg oder ein Pianist. Deutsche drücken stärker als US-Amerikaner, diese wiederum stärker als Briten [9]. Allgemein schütteln Menschen aus dem asiatischen Raum lockerer als Menschen aus dem Westen. Ein kräftiger Händedruck wirkt prinzipiell positiv und motiviert, doch auch hier gibt es Grenzen. Wird der Handgriff zu stark, kann er von übermäßigem Machtbewusstsein zeugen oder versucht unbewusst die eigene Unsicherheit kaschieren. Artet er gar in Fingerquetschen aus, überschreitet die Kraftdemonstration eine weitere Grenze und weist auf mangelndes Einfühlungsvermögen und ein einnehmendes Wesen hin [10]. Setzt sich der „Partner“ zur Wehr, zeigt der Kampf um den Druckpunkt, dass sich beide Seiten nichts gefallen lassen. Intensität des Kontakts beim Handshake Die Höhe, in der die eigene Hand in die andere reicht, die Kontaktbereitschaft der Handflächen und die Dauer des Kontakts zeigen den Grad an Offenheit, Hingabebereitschaft

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8  Begrüßung und Handshake

und Vertrauen, den der Bewerber dem Recruiter entgegenbringt. Zieht er seine Hand schnell wieder zurück, wird zwar Kontakt gewünscht, festlegen will er sich aber noch nicht. Voller Kontakt wird durch eine Berührung der Hautsegel zwischen Daumen und Zeigefinger sowie das Ausmaß, mit dem sich die Handflächen berühren, erreicht. Während eine flache Handfläche den größtmöglichen Hautkontakt zum Gegenüber ermöglicht, verhindert die gewölbte Innenhand den vollen Kontakt der Handflächen. Mit größer werdendem Abstand kann der Wunsch nach wenig Kontakt bis hin zu Berührungsängsten reichen. Auf diese Art die Hand Schüttelnde können dazu tendieren, auch sonst ihre Gedanken zurückzuhalten [10]. Gleiches gilt, wenn nur die halbe Hand gereicht wird. Die Person wirkt unsicher und so, als sei sie nicht bereit, sich voll einzusetzen. Werden gar lediglich die Fingerspitzen gereicht, wirkt das geziert und laut Irena Bischoff so, als würde das Gegenüber nicht allzu gerne arbeiten [10]. Dagegen wirkt das Umklammern der Finger unselbstständig und weckt die Befürchtung, der andere wolle sich auch sonst an uns festhalten. Eine Besonderheit ergibt sich, wenn beim Handshake der Zeigefinger exponiert von den anderen Fingern bis an das Handgelenk der geschüttelten Hand reicht. Ein solcher „Pulsfühler“ dringt weiter in den Persönlichkeitsbereich des Gesprächspartners ein und deutet durch den weisenden Charakter des Zeigefingers auf ein möglicherweise besserwissendes und dominantes Gegenüber hin. Schüttelhäufigkeit Matschnig beschreibt die Bedeutung der Schüttelhäufigkeit: Nach dem Motto „Ein Mann, ein Wort“ grenzt sie den Einmal-Schüttler von jenen ab, die mehrmals schütteln. Einmaliges Schütteln kann jedoch auch Schüchternheit vermitteln, wenn man zwar zu seinem Wort steht, aber nicht das Selbstbewusstsein aufbringt, die eigenen Forderungen auf den Tisch zu bringen [6]. Diese Schüchtern- und Unsicherheit zeigt sich am deutlichsten, wenn versucht wird, zwischen den Schüttlern die Hand zu entziehen. Selbstbewusst und überzeugend wirkt zwei- bis dreimaliges Schütteln, es kann über alles geredet werden: Man begegnet sich auf Augenhöhe und ist offen. Bei drei bis vier Schüttlern besteht der Wunsch nach mehr Kontakt und die Veranlagung, über die Dinge noch nachzuverhandeln – warum ist das nötig, wenn innere Klarheit herrscht und man das Selbstbewusstsein mitbringt, Unklarheiten direkt anzusprechen? Unangenehm kann es werden, wenn der Gesprächspartner uns nicht aus der Verpflichtung lassen will und schon zu Beginn vereinnahmend vier bis fünfmal oder noch häufiger schüttelt. Allan Pease bezeichnet diesen Typus als die „Pumpe“ [18]. Wie bei einer Wasserpumpe wird so lange weiterschüttelt, bis alles herausgepumpt ist. Wen der Pumper einmal im Griff hat, der wird festgehalten, während eigene Forderungen nachgeschoben werden. Bei diesem Typus kann die Neigung bestehen, zuvor Gesagtes im Nachhinein zu relativieren und nach der Verständigung über ein vermeintlich faires Angebot noch Nachforderungen und Zusätze zu verlangen. Nicht eindeutig Geklärtes und flexible Teile der Vereinbarung können über das normal Übliche hinaus ausgeweitet

8.2 Händeschütteln/Handshake

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werden, bis sie für den Geschäftspartner eine Zumutung darstellen, die das einst verlockende Angebot zu einem lästigen Geschäft werden lassen, auf das er sich lieber nicht eingelassen hätte. Hier sollten Gesprächspartner, die intuitiv nur zwei- bis dreimal schütteln wollen, auf klare Abmachungen achten und diese schriftlich fixieren, um nicht im Nachhinein den Ärger oder zusätzliche unbezahlte Arbeit zu haben. Ein extremes Beispiel der Pumpe zeigte US-Präsident Trump, als er bei seinem Besuch in Frankreich die Hand des französischen Premiers Macron schier endlose 28 Sekunden lang nicht losließ [11]. Begleitender Kontakt durch die linke Hand Findet während des Handshakes ein begleitender Kontakt durch die linke Hand statt, zeigt die Höhe, auf der diese den Arm des Gesprächspartners berührt, den Grad der ausgeübten Dominanz. Je höher die Hand wandert, desto dominanter ihre Wirkung, was in der auf die Schulter gelegten Linken gipfelt, die das Potenzial hat, den anderen richtiggehend nach unten zu drücken. An dieser Stelle ist es wichtig, die Art der Berührung zu unterschieden. Die Abgrenzung zwischen Berühren, Anfassen und Halten erfolgt durch die unterschiedliche Qualität der Spannung, die beim Kontakt den Arm hinaufgeht. Wandelt sich die Berührung zum Halten, wird der Spielraum des Gesprächspartners stärker eingeschränkt, nun kann mit beiden Händen, gegen dessen Willen, seine Hand geführt und über das weitere Vorgehen bestimmt werden. Wehrt sich dieser und nimmt ebenfalls die eigene Linke zu Hilfe, entsteht ein Clinch, bei dem beide um die Führung ringen. Sollte sich dieser tatsächlich in einem Interview zeigen, dürfte ein so dominantes Verhalten für sichtliche Irritation sorgen. Distanz nach dem Handshake Zum Handshake beugt man sich normalerweise leicht vor oder geht einen halben Schritt aufeinander zu. Wurden die Hände geschüttelt, wird diese Haltung wieder aufgelöst. Wenig distanzierte Typen bleiben stattdessen stehen oder rücken gar nach, wenn der Gesprächspartner sich wieder zurückbewegt. Zieht sich der Gesprächspartner dagegen nach dem Handshake weiter zurück, zeigt sich eine zögerliche, schüchterne oder reservierte Einstellung. Ihm sollten Zeit und Raum gegeben werden, um sich, frei von äußerem Druck, anzunähern. Begleitender Blickkontakt Wer den Handshake noch differenzierter erfassen will, sollte den begleitenden Blickkontakt berücksichtigen. Dieser fällt je nach Konstellation der beteiligten Geschlechter unterschiedlich aus [12]. Beim Händeschütteln zwischen zwei Männern sollte der Blickkontakt mindestens drei Sekunden gehalten werden, alles darunter vermittelt Schwäche. Zwischen den Geschlechtern dagegen signalisiert drei Sekunden ununterbrochener Blickkontakt sexuelles Interesse [12]. Von daher sollte nach zwei Sekunden kurz weggeschaut und der Blickkontakt wieder aufgenommen werden, um zu zeigen, dass kein derartiges Interesse verfolgt wird, sondern man bereit ist, geschäftlich intensiv zusammenzuarbeiten. Mehr zum Blickkontakt in Kap. 9.

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8  Begrüßung und Handshake

8.3 Verabschiedung Der erste Eindruck zählt, der letzte bleibt. Während die Macht des ersten Eindrucks durch den Primacy-Effekt belegt ist, ist es die Wirkung des letzten Eindrucks durch den Recency-Effekt [13]. Die Verabschiedung ist genauso wichtig wie die Begrüßung, und wo die eine zu Beginn die Weichen für das Gespräch stellt, färbt die andere nach dem Ende die Beurteilung der Begegnung. Das kann mitunter so weit reichen, dass ein positiver Eindruck, der zwischenzeitlich entstanden ist, nach einer desinteressierten Verabschiedung infrage gestellt oder verworfen wird. 

Weiteren Aufschluss gibt der Unterschied zwischen dem Händeschütteln bei der Begrüßung und der Verabschiedung: Deren Abgrenzung zeigt das erste Fazit des Bewerbers und damit, wie er das Gespräch empfunden hat und seine weiteren Perspektiven einschätzt. Wurde mit einem kräftigen Händedruck in das Gespräch gestartet, hat man zum Schluss aber kraftlos die Hand gereicht, haben sich die eigenen Hoffnungen im Gespräch nicht erfüllt. Wird die Hand dagegen zuversichtlich geschüttelt, ist der Bewerber optimistisch in Bezug auf das weitere Vorgehen. Das kann sich mehr oder weniger stark mit dem Eindruck der Recruiter decken, eröffnet aber Einblicke in die Selbstwahrnehmung des Bewerbers. Eine zum Schluss nur flüchtige oder halb gereichte Hand mit unterlassenem, in sich gekehrtem Blickkontakt sollte nur wenig Hoffnung auf eine spätere Zusage machen.

8.4 Der eigene Handshake Es geht beim Handshake nicht ums Kräftemessen, sondern darum, einen positiven Eindruck zu machen. Ein gelungener Händedruck kommuniziert, dass man offen auf den anderen zukommt und ein konstruktives Gespräch anstrebt. Es macht einen Unterschied, wer wem wo, aus welchem Anlass und mit welchem Ziel die Hand gibt. Das Bewusstsein über diese Faktoren bewirkt subtile Änderungen, die eine professionelle, positive Begrüßung unterstützen. Der Abstand beim Handshake und die Art und Weise, wie er ausgeführt wird, zeigen dem Bewerber den Wunsch des Recruiters nach Nähe oder Distanz und können ihn dadurch vertrauensvoll ins Gespräch führen oder verunsichern. Während des Handshakes handeln die Gesprächspartner ihren Status aus. Probleme entstehen nur, wenn Uneinigkeit darüber besteht, wem von beiden der Hochstatus zukommt. Prinzipiell gilt, dass es bei all den verschiedenen Parametern um die Passung der Gesprächspartner geht. Es gibt auch hier kein grundsätzliches Richtig oder Falsch: Treffen sich ergänzende Bedürfnisse und Handshakes, dann spüren das beide und der Grundstein für ein produktives Gespräch und oft auch eine konstruktive Zusammenarbeit ist gelegt. Natürlich erhöhen bestimmte individuelle Ausprägungen der oben

8.4  Der eigene Handshake

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beschriebenen Kriterien die Chancen auf eine Passung mit einem breiten Spektrum an Partnern, während andere sie reduzieren. Im Bestreben nach einem authentischen Ausdruck besteht jedoch kein Grund, sich beim Handshake übermäßig zu verstellen. Groben Übertritten sollte man aber vorbeugen und sich hierfür ehrliches Feedback aus dem sozialen Umfeld einholen, idealerweise von Menschen mit unterschiedlichem Geschlecht, Status und Statur. Laut Molcho erfolgen 95 % aller Ablehnung, wenn sich die Gesprächspartner über den Schreibtisch hinweg begegnen [14]. Die Hand sollte man prinzipiell nicht über diesen hinweg geben, sondern man sollte zur Begrüßung aufstehen und um ihn herum, dem Bewerber entgegengehen. Eine frontale, zugewendete Haltung beim Handshake wirkt verbindlich: Befindet sich die ventrale Seite parallel zu der des Gesprächspartners, wenden beide ihre Bäuche ungeschützt einander zu, zeigen sich dabei angreifbar und drücken ihr Vertrauen darüber aus, dass ihre Offenheit nicht ausgenutzt wird – es entsteht Kontakt auf Augenhöhe [12]. Dagegen vermittelt ein abgewendeter Oberkörper Desinteresse, Unsicherheit und Zurückweisung. Der Handshake sollte idealerweise von einem natürlichen Lächeln und freundlichen Blickkontakt begleitet werden. Die Hand sollte sauber und trocken sein und in gerader Ausrichtung mit einem flexiblen Handgelenk gereicht werden. Dabei sollte der Arm eher eng am Körper geführt werden und seine Richtung der ausgestreckten Hand folgen, welche flach gehalten werden sollte, damit die Handflächen besser in Kontakt treten können [15]. Beim Druck sollte sich an die Druckstärke des Gegenübers angepasst, diese aber nicht übertroffen werden und ihm dann ermöglicht werden, so lange zu schütteln, wie es mag. Achten Sie auch auf den gegenseitigen Abstand: Das Eindringen in die intime Distanzzone des Gesprächspartners löst Stress aus und ist nur vertrauten Personen gestattet. 

Konzentrieren wir uns beim Handshake lediglich auf die Hand, verstärkt sich der Druck und kann als zu kräftig und unangenehm empfunden werden. Für einen angemessenen Händedruck sollten Arm und Hand als Einheit verstanden werden, die gemeinsam nach vorne geführt werden [15].



„Schraubstöcken“ effektiv die Wirkung nehmen  Wenn ein Bewerber schon beim Handshake seine Motivation vermitteln will, kann es schmerzhaft werden. Um ein offenes Kräftemessen zu vermeiden und die Höflichkeit zu wahren, leiden einige Recruiter lieber still vor sich hin. Eine elegantere und kraftsparende Lösung, um dem Schraubstock übermotivierter Bewerber zu entgehen, besteht darin, den eigenen Zeigefinger auszustrecken, etwas abzuwinkeln und anzuspannen, während der andere versucht, fest zuzudrücken. In Folge erhält unsere gesamte Handfläche eine deutlich höhere Spannung, als es mit gekrümmten Fingern möglich wäre, und so kann auch körperlich und motivational überlegenen Schüttlern mühelos Paroli geboten werden.

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8  Begrüßung und Handshake

Begleitende Berührungen Verschiedene Studien belegen den positiven Einfluss von Berührungen auf die Qualität unserer Beziehungen. Das dabei ausgeschüttete „Kuschelhormon“ Oxytocin löst gute Gefühle aus und verstärkt die gegenseitige Bindung. Das kann sich auch im Geschäftsleben auswirken: Weibliche Servicekräfte, die ihre Gäste beim Bedienen am Ellbogen berührten, konnten ihr Trinkgeld um 36 % erhöhen. Bei männlichen Servicekräften fiel der Effekt mit 22 % etwas geringer aus [19]. Supermarktkunden, die bei der Ansprache unauffällig berührt wurden, ließen sich öfter auf Verkostungen ein und kauften dreimal so häufig die angebotenen Produkte [19]. In einer Studie der Universität Minnesota stieg die Ehrlichkeit nach einer Berührung auf das Dreifache: Während Probanden, die zuvor in einer Telefonzelle eine 25-Cent-Münze gefunden hatten, diese ohne Berührung nur in 23 % der Fälle zurückgaben, stieg die Bereitschaft auf 68 %, wenn ihnen zusätzlich die Hand gegeben wurde und sie leicht am Ellbogen berührt wurden [16].



Der Ellbogen steht durch die Beweglichkeit der Arme am weitesten vom Körper ab, wird am häufigsten angerempelt und tritt regelmäßig mit der Umwelt in Kontakt. Er ist hart und relativ unempfindlich, und so reagieren wir auf dortige Berührungen weniger stark als an anderen Stellen. Damit stellt er neben dem Oberarm jenen Punkt dar, über den Körperkontakt am unauffälligsten initiiert werden kann, ohne dass anderen das Gefühl vermittelt wird, ihnen zu nahe treten zu wollen, obgleich natürlich auch hier unterschiedlich starke Befindlichkeiten vorherrschen.

Körperkontakt oder Hautkontakt ist besonders in formellen Settings wie Bewerbungsgesprächen eine diffizile Angelegenheit und davon abhängig, wer ihn initiiert. Wie die Servicekräftestudie zeigt, reagieren wir auf Berührungen von Männern weniger positiv als auf jene von Frauen. Nach Knigge obliegt das Recht zur Berührung dem Statushöheren und kann subtil wahrgenommen werden, wenn beispielsweise beim Begrüßungs- und oder Verabschiedungshandshake zusätzlich der Bewerber mit der linken Hand am Ellbogen berührt wird. Eine andere Möglichkeit zum leichten Kontakt kann sich bieten, wenn der Bewerber durch den Betrieb geführt und beim Durchleiten durch Türen oder Gänge verhindert wird, dass er sich stößt. Wie auch bei anderen nonverbalen Elementen sollte dieses nur subtil eingesetzt werden, um zu verhindern, dass es ins Bewusstsein des Bewerbers dringt. Wenn ein Bewerber von allen drei Betriebsvertretern zusätzlich am Ellbogen berührt wird, wird ihm schnell dämmern, dass das Vorgehen System hat. Berührt ihn aber beispielsweise lediglich die herzliche Bereichsleiterin oder sein zukünftiger Vorgesetzter, kann das die Beziehung wirkungsvoll verstärken. Wichtig ist, dass es sich auch für den Betriebsvertreter authentisch und natürlich anfühlt.

8.5  Fazit: Begrüßung und Handshake

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Eine Variante kann auch darin bestehen, sich eine begleitende Berührung für die Verabschiedung vorzubehalten, um die eigene Verbindlichkeit auszurücken, wenn man findet, dass das Gespräch gut gelaufen ist. Alternativ kann man sich die Berührung für Folgegespräche vorbehalten und damit für Kandidaten, denen man signalisieren möchte, dass sie schon näher an den engeren Kreis der Organisation angelangt sind. Besonders diese Technik muss stets zur Branche, der Stelle, dem Typ und der Art des Kontaktes passen. Einem prinzipiell introvertierten und distanzierten Typus dürfte es naturgemäß schwerer fallen, diese in sein Kommunikationsrepertoire zu integrieren als seinem ohnehin schon berührungsfreudigen Kollegen. Wie bei anderen Techniken bietet es sich an, erst im geschützten Rahmen eines Seminars oder im Privaten zu üben. Wie stark wir auf Berührungen reagieren, wird auch durch unsere Kultur beeinflusst. Je weniger sich normalerweise in dieser berührt wird, desto verbindlicher wurde bei der Telefonzellenstudie auf den Kontakt reagiert. Während sich bei Beobachtungen die distanzierten Briten in einer Stunde Unterhaltung nicht einmal berührten, kam es bei den berührungsfreudigen Italienern 220-mal zum Körperkontakt. Entsprechend ergab sich eine Münz-Rückgabequote von 70 % in Großbritannien und lediglich 22 % in Italien. Stärker als die Briten ließen sich nur die Deutschen beeinflussen: Ihre Rückgabequote lag bei 85 %. Damit eröffnet bei diesen eine Berührung die größten Möglichkeiten, um die von ihnen empfundene Verbindlichkeit und damit auch die Bereitschaft, sich offen und ehrlich mitzuteilen, zu erhöhen. Es folgten Australien (72 %), Großbritannien (70 %), die USA (68 %), Frankreich (50 %) und schließlich Italien (22 %) [16].

8.5 Fazit: Begrüßung und Handshake Wie bei den meisten anderen nonverbalen Signalen kommt es auch beim Handshake auf die Passung zu Stelle, Team und Betrieb an. Wird ein zäher und harter Mitarbeiter gesucht, um eine aktuelle Durststrecke im Markt zu überstehen, wird ein Bewerber mit einem trockenen, harten Händedruck authentischer wirken und die Hoffnungen der Einstellungsverantwortlichen genauso beflügeln wie im entgegengesetzten Fall ein einfühlsamer, empathischer Mitarbeiter, der mit seinen weichen Händen und nachgiebigen Druck eher geeignet erscheint, um sensible Kunden zu betreuen. Die Dimension und Facetten des Handshakes bewusst wahrzunehmen, erfordert durch die Komplexität, die Vielfalt der zusammenspielenden Faktoren und die Ablenkung bei der Begrüßung etwas Übung, ermöglicht aber einen direkten Eindruck darüber, wie der Partner in das Gespräch startet. Am Ende des Gesprächs zeigt es dessen Fazit und sein erstes Resümee an.

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8  Begrüßung und Handshake

Literatur 1. http://www.knigge2day.at/allgemeine-umgangsformen/gruessen-und-begruessen Aufgerufen am 15.10.2018 2. Stefan Spies: Der Gedanke lenkt den Körper, S. 49; Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg, 2010 3. Patti Wood: SNAP, S. 60; New World Library, Novato, 2012 4. Samy Molcho: Alles über Körpersprache, S. 210, Mosaik bei Goldmann, München, 2001 5. Samy Molcho: Alles über Körpersprache, S. 217, Mosaik bei Goldmann, München, 2001 6. Monika Matschnig: Durch Körpersprache wirken, Audiobook, Campfire Audio, Dargow; 2007 7. Mark Bowden: Winning Body Language, S. 165; McGraw-Hill, New York, 2010 8. Stefan Spies: Der Gedanke lenkt den Körper, S. 133; Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg, 2010 9. Martin John Yate: Das erfolgreiche Bewerbungsgespräch, S. 87; Campus, Frankfurt am Main, 2005 10. Irena Bischoff: Körpersprache und Gestik trainieren, S. 26; Beltz Verlag, Weinheim und Basel, 2007 11. https://www.youtube.com/watch?v=1DwijJfVbBg aufgerufen am 15.10.2018 12. Patti Wood: SNAP, S. 69; New World Library, Novato, 2012 13. Jack Nasher: Überzeugt, S. 70; Campus, Frankfurt am Main, 2017 14. Samy Molcho: Seminar: Der Körper spricht immer; Jürgen Höller Academy, Schweinfurt, 2013 15. Irena Bischoff: Körpersprache und Gestik trainieren, S. 27; Beltz Verlag, Weinheim und Basel, 2007 16. Allan & Barbara Pease: The definite Book of Body Language, S. 105; Orion Paperpack, ­London, 2006 17. Patti Wood: SNAP, S. 63; New World Library, Novato, 2012 18. Allan & Barbara Pease: Die kalte Schulter und der warme Händedruck, S. 68; Ullstein Taschenbuch; Berlin, 2006 19. Allan & Barbara Pease: The definite Book of Body Language, S. 106; Orion Paperpack, ­London, 2006

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Augen und Blickkontakt

Zusammenfassung

Kap. 9 beschreibt soziale Normen, denen unser Blickkontakt folgt, und implizite Beziehungsbotschaften, die mit verschiedenen Blickarten einhergehen. Es vertieft die Bedeutung der Blickrichtung des Bewerbers sowie von Veränderungen seiner Blinzelfrequenz und Pupillengröße. Abschließend werden Techniken beschrieben, mit denen der Recruiter seine Wirkung im Gespräch steuern kann, und erläutert, wie durch spe­ zifisches Blickverhalten die Beziehungsebene zielgerichtet gestaltet werden kann. Bewegungen der Augen und aufgenommener Blickkontakt stellen zentrale Elemente gelingender Kommunikation dar. Intuitiv entsteht bei uns eine leichte Irritation, die uns zur Vorsicht ermahnt, wenn unsere Mitmenschen von den gewohnten Mustern abweichen und sie es beispielsweise komplett unterlassen, Blickkontakt aufzunehmen oder sich ihr Timing von dem, was wir sonst erwarten, deutlich unterscheidet.

9.1 Geweitete und verengte Augen Die Augen sind über die Hirnnerven III, IV und VI direkt mit dem Hirnstamm verbunden [1] und reagieren in vielen Situationen direkt und unwillkürlich, bevor das Bewusstsein steuernd eingreift und den Blick kontrolliert. Dadurch eröffnen die Augen ungefilterte Einblicke in die Bedürfnisse und Interessen des Bewerbers. Sehen sie etwas Angenehmes und Erstrebenswertes, weiten sie sich: je weiter, desto stärker das Interesse. Das geschieht bereits bei drei Tage alten Babys, deren Augen sich weiten, wenn ihre Mutter den Raum betritt [2]. Dagegen signalisieren sich zusammenziehende und verengende Augen Fokussierung und Konzentration. Die Verengung schirmt störende Lichteinfälle und andere ablenkende © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 C. Bernhardt, Nonverbale Kommunikation im Recruiting, https://doi.org/10.1007/978-3-658-25276-2_9

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9  Augen und Blickkontakt

visuelle Einflüsse ab, was den früheren Jägern half, ihre Beute aus größerer Entfernung genauer ins Visier zu nehmen. Auch wenn sich seither die Ziele geändert haben: Der fokussierte Blick ist geblieben und zeigt sich, wenn wir mit einer besonderen Herausforderung konfrontiert werden und „scharf hinschauen“ müssen, um Schwachpunkte zu finden, an denen wir ansetzen können. Männer sind deutlich stärker hierarchisch geprägt als Frauen [3], und in diesem Zusammenhang stellt das Erkennen von Schwächen und Angriffspunkten beim Gegner eine kritische Kernkompetenz dar. Infolgedessen zeigen Männer häufiger den fokussierenden Blick, bei dem gleichzeitig der Sympathikus aktiviert und der Organismus auf eine mögliche Kampf- oder Fluchtreaktion vorbereitet wird [4]. Auch wenn im Geschäftsleben deren volle Ausführung unterdrückt wird, signalisieren verengte Augen, dass innerlich die Stressreaktion angestoßen wurde. Das spürt der Gesprächspartner: Sein limbisches System nimmt die subtilen Signale wahr, reagiert intuitiv und schaltet ebenfalls aus dem entspannten in den aufmerksamen Modus. Ohne dass er merkt, warum, fühlt er sich weniger wohl und macht sich bereit, sich gegen einen möglichen Angriff zu verteidigen. Um das zu verhindern, können Recruiter, besonders bei männlichen Bewerbern, auf mögliche Verengungen der Augen achten, und wenn sie diese bemerken, bewusst gegensteuern, um die Situation zu deeskalieren. 

Während weit geöffnete Augen das Sichtfeld weiten, um mehr Informationen aufzunehmen, können zusammengekniffene Augen und verengte Pupillen spezifische Punkte besser fokussieren. Beobachtet der Recruiter, dass die Augen des Bewerbers sich im Gespräch vergrößern, kann er dessen Bedürfnis nach mehr Informationen in Form von Ergänzungen und Erweiterungen bedienen und in die Breite gehen, um die Zusammenhänge zum besprochenen Thema zu erläutern und die Orientierung zu erleichtern. Verengen sich dagegen die Augen des Bewerbers, besteht zwar ebenso der Wunsch nach zusätzlichen Informationen, aber diesmal nach einer Vertiefung des Themas und nach mehr konkreten Details zum eben besprochenen Punkt.

9.2 Pupillen 

Im Rahmen einer Studie vergrößerte Revlon auf einigen Bildern die Pupillen der abgebildeten Augen. Der Effekt war hoch signifikant: Der Umsatz der betroffenen Produkte stieg um 45 % [5].

Neben den Augen, deren Weitung und Verengung sich durch die Augenringmuskulatur und die Veränderung der Augenbrauen gut erkennen lassen, reagieren auch die Pupillen bei emotionaler Beteiligung und signalisieren Interesse oder Abwehr. Sie tun das unwillkürlich, und auch wenn wir dem Gegenüber im Gespräch die meiste Zeit in die Augen sehen, übersehen wir diese Signale oft vollständig. Einer der Gründe ist die messbare physiologische Erregung des Nervensystems, die beim Blickkontakt entsteht [6].

9.2 Pupillen

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Diese erhöht die Herzfrequenz, den Blutdruck, verändert die Gehirnwellenaktivität und lenkt uns von der Konzentration auf Details, wie die Pupillengröße, ab. 

Recruiter, die die Pupillengröße der Bewerber bewusst wahrnehmen, erhalten aufschlussreiche zusätzliche Informationen über deren Innenleben. Um den Einstieg zu erleichtern, sollte man sich zunächst auf die Augenfarbe des Bewerbers konzentrieren. Die Konzentration auf die Augenfarbe erleichtert den Blick in die Augen, da die sonst übliche Erregung, die beim Blickkontakt auftritt, abgeschwächt wird. Hat man sich daran gewöhnt, können anschließend die Pupillen bewusst wahrgenommen und auf Veränderungen geachtet werden. Besonders in kritischen Phasen im Gespräch eröffnen sich dadurch zusätzliche Kommunikationsoptionen.

Wie geweitete Augen stellen auch geweitete Pupillen ein positives Zeichen dar, das Interesse und Offenheit anzeigt. Unbewusst nehmen wir diese Signale bereits wahr. So spielten Pokerspieler, die nicht um diese Mechanismen wussten, signifikant besser gegen Spieler, deren Pupillen sie sehen konnten, als gegen jene, die eine Sonnenbrille trugen [7]. Chinesische Edelsteinhändler achten auf die Pupillen ihrer Kunden, während sie ihnen ihre Steine präsentieren. Eine spontane Weitung beim Betrachten eines spezifischen Steins zeigt das emotionale Involvement des Kunden und damit seine Bereitschaft, einen höheren Preis zu bezahlen. Diesen setzt der aufmerksame Händler dann auch an und erhöht seinen Profit [8].

Weiten sich die Pupillen des Bewerbers bei spezifischen Themen, wie besonderen Aufgaben, Projektinhalten, Benefits oder Ähnlichem, stellt das einen zuverlässigen Hinweis auf dessen Interessen dar, auf die später aufgebaut werden kann. Größer werdende Pupillen signalisieren Entspannung: Etwas Interessantes oder Erstrebenswertes wurde registriert, wirkt positiv, und so ist das Gegenüber bereit, mehr davon aufzunehmen, und offen für zusätzliche Informationen. Das Bedürfnis nach zusätzlichen Informationen tritt auch bei mit emotionaler Erregung auf. Wie später beschrieben, sind Emotionen biologische Notfallprogramme, und so bringen einige von ihnen die dringende Notwendigkeit mit sich, zusätzliche Informationen zu sammeln, um die Lage besser einschätzen zu können. Eine deutliche Pupillenerweiterung und stark geweitete Pupillen treten im Zusammenhang von Aufregung, Angst, Freude, aber auch emotionaler Zuwendung auf. In Kap. 10 zu Emotionen werden die weiteren nonverbalen Bestandteile dieser Emotionen vertieft.

Eine starke Pupillenverengung signalisiert dagegen ein unbewusstes Abwehrverhalten und kann Müdigkeit, Desinteresse oder Überforderung anzeigen [9]. Kleiner werdender Pupillen zeigen, dass etwas zur genaueren Analyse anvisiert wird und eine tendenziell kritische Haltung vorliegt. Bei Themen, die eine Verengung der Pupillen nach sich ziehen, sollten Einzelheiten transparent gemacht und gegebenenfalls bei einzelnen Details

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9  Augen und Blickkontakt

nachgesteuert, neu verhandelt oder eingelenkt werden. Mittlere bis kleine Pupillen zeugen von Entspannung. Auch bei der Gehaltsverhandlung kann auf die Pupillenreaktionen geachtet werden. Von Vorteil ist, dass diese Reaktionen willentlich nur von sehr gut geschulten Menschen kontrolliert werden können und von daher einen hohen Wahrheitsgehalt besitzen. Bei der Interpretation der Pupillen müssen die Einflüsse der Lichtbedingungen und das Normalverhalten des Bewerbers berücksichtigt werden. Ist es sehr hell oder dunkel im Raum, verengen oder weiten sich die Pupillen, um weniger Licht im Hellen oder mehr Licht im Dunklen aufzunehmen. 

Interesse schafft Interesse und da sie dieses signalisieren, unterstützen beispielsweise bei der dämmrigen Beleuchtung eines Candle-Light Dinners die weiter als üblich geöffneten Pupillen eine erhöhte Anziehung und den Beziehungsaufbau. Natürlich sollte das Bewerbungsgespräch nicht bei Kerzenschein durchgeführt werden, aber eine zu helle Beleuchtung wird zusam­mengezogene Pupillen und tendenziell kritischere Gespräche nach sich ziehen, während sich bei moderater Beleuchtung beide Gesprächspartner besser entspannen und aufeinander einlassen können.

Der Recruiter sollte sich zunächst bewusst machen, ob der Bewerber normalerweise enge, normale oder geweitete Pupillen hat. Diese Beachtung kann bei Veränderungen über mehrere Gesprächsrunden hinweg zusätzliche Informationsgewinne bringen. Da Drogen, Alkohol oder andere Substanzen die Pupillenweitung beeinflussen, können extreme Ausprägungen der Pupillen bei unerwarteten Verhaltensunterschieden des Bewerbers in unterschiedlichen Gesprächsrunden zusätzliche Indizien liefern und schon bestehende Verdachtsmomente erhärten.

9.3 Blickkontakt Ich bin manchmal in Spielersitzungen gegangen und wusste noch gar nicht, wer am Samstag spielen sollte. Dann habe ich mir die Gesichter angeschaut und gesagt: ‚Du spielst‘, wenn einer mich gerade angeguckt hat, und: ‚Du spielst nicht‘, wenn einer sich verkrochen hat (Udo Lattek).

Der legendäre Meistertrainer Udo Lattek las aus dem Blickkontakt seiner Spieler deren aktuelles Selbstbewusstsein und ihre Tagesform ab. Die Blicke seiner Spieler signalisierten Lattek deutlich: „Ich bin bereit“ oder „Lass mich heute lieber nicht spielen“. Gehaltener Blickkontakt drückt Konfrontationsvermögen aus, das man mitbringt, wenn man sich seiner Sache sicher ist.

9.3 Blickkontakt

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 Beziehungsaufbau 2016 brachte Amnesty International Flüchtlinge mit Einheimischen zusammen, setzte sie einander gegenüber und ließ sie sich vier Minuten lang in die Augen schauen. Am Ende lagen sich die Probanden teilweise weinend in den Armen, hatten sich ineinander verliebt oder einfach nur ein tiefes Mitgefühl für den anderen entwickelt. Den Hintergrund für die Aktion von Amnesty bildeten die Forschungsergebnisse des Psychologen Arthur Aron. Dieser hatte 1997 herausgefunden, dass sich tiefere Gefühle entwickeln, wenn sich zwei Menschen längere Zeit intensiv in die Augen schauen. Das hierbei ausgestoßene Oxytocin verstärkt die Bindung und führt dazu, dass schließlich ein emotionaler Funke überspringt [10].

Der beschriebene Effekt wirkt sich auch im Recruiting aus: Bewerber, die den Blickkontakt mit den Interviewern suchten, konnten ihre Einstellungschancen signifikant erhöhen und wurden als aufmerksamer, zuversichtlicher, verlässlicher, vertrauenswürdiger und verantwortungsbewusster wahrgenommen [11]. Aber Blickkontakt ist nicht gleich Blickkontakt, das Timing gibt den Ausschlag. Nicht jene Bewerber, die den Blickkontakt suchten, während sie selbst antworteten, sondern nur jene, die dem Interviewer in die Augen schauen, während dieser redete, hielten die Verbindung zu ihm aufrecht und wirkten präsenter. Auch das Verständnis drückt sich über den Blickkontakt aus: Verstehen wir die Inhalte des Gesagten nicht so ganz, wird der Blick unsicher und flüchtig. So verbessern Bewerber, die den Blickkontakt suchen und halten, auf mehreren Ebenen ihren Auftritt. Durch die emotionale Komponente steigt für den Recruiter die Gefahr einer undifferenzierten Entscheidung, dafür eröffnet sich ihm die Chance, seinerseits die Verbindung und den Kontakt zum Bewerber zu vertiefen. Dabei sind kulturelle Einflüsse zu beachten, andere Kulturen haben teilweise ein komplett unterschiedliches Blickverhalten. 

Eine weitere Gefahr zur Fehleinschätzung liegt in der Wirkung der Augenfarbe, so fand Karel Kleisner von der Karls-Universität in Prag heraus, dass Männer mit braunen Augen vertrauenswürdiger erscheinen als solche mit blauen Augen [12]. Durch den stärkeren Kontrast, der sich zwischen der blauen Iris und der schwarzen Pupille ergibt, sind positive wie negative unwillkürliche Pupillenreaktionen besser sichtbar als bei Menschen mit dunkler Augenfarbe. Da uns negative Signale stärker beeinflussen als positive, wirken sich diese bei Blauäugigen stärker aus und können unser unbewusstes Misstrauen schüren sowie die Vertrauensbildung hemmen.

Implikationen verschiedener Blickarten Der Volksmund drückt durch Redewendungen wie „Wenn Blicke töten könnten“ oder „Etwas mit den Augen verschlingen“ aus, dass die Art, wie wir andere anschauen, die Beziehung zueinander anzeigt. Untersuchen wir nachfolgend die Botschaften, die unterschiedliche Blicke vermitteln.

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9  Augen und Blickkontakt

Der gerade, zugewandte Blick Der gerade, zugewandte Blick wirkt bei gleichzeiti­ ger Zuwendung des Gesichts wohlerzogen und höflich und drückt Achtung vor dem Gesprächspartner aus. Bei voller gegenseitiger Zuwendung mit diesem findet die Blickbegegnung auf gleicher Höhe statt und zeigt den Wunsch nach einem offenen Austausch. Der gerade Blick aus den voll geöffneten Augen ins Gesicht des anderen zeigt die Bereitschaft, sich offen und direkt auseinanderzusetzen, und signalisiert den anständigen, selbstbewussten und geraden Charakter, der ohne Heimlichkeit und Umwege kommuniziert. Kaschierte Langeweile Eine Differenzierung des gehaltenen Blickkontakts erlaubt Einsichten in das tiefere Interesse. Wenn uns Themen nur mäßig interessieren, wir den Gesprächspartner aber nicht vor den Kopf stoßen wollen, überkompensieren wir unser eigentliches Bedürfnis und halten den Blickkontakt länger als üblich, um unser Desinteresse durch das Abwenden des Blicks nicht zu verraten. Was sich dabei unserer Kontrolle entzieht, ist die Beweglichkeit des Blicks: Er wird bewegungsärmer und büßt an Lebendigkeit ein. Mit Themen, die uns interessieren, setzen wir uns dagegen aktiver auseinander. Sie bewegen uns und führen so auch zu einer lebendigeren Bewegung der Augen. Hängt das Gegenüber dagegen mit bewegungslosem oder bewegungsarmem Blick an unseren Lippen, liegt der Verdacht nahe, dass nach dem Empfangen nicht viel mit unserer Botschaft passiert. Die fehlende Bewegung der Augen erschwert auch die Informationsverarbeitung – je länger der ununterbrochene und unbewegliche Blickkontakt dauert, desto schwerer wird es, sich zu konzentrieren, dem Gespräch zu folgen und das Gesagte zu reflektieren. In der Regel wenden wir von daher unseren Blick intuitiv nach einigen Sekunden kurz ab, verarbeiten das Gehörte und wenden unseren Blick dann dem Gesprächspartner für die nächste Informationseinheit zu. 

Vielleicht erinnert sich der eine oder andere an seine Schulzeit, als der Lehrer jene Schüler aufrief, bei denen er durch deren bewegungslosen Blick bemerkt hatte, dass sie gerade den Bezug zum Unterricht verloren hatten. Was damals zu manchem Lacher führte, sollte im Interview nicht das Ziel sein: Es geht nicht darum, den Bewerber zu maßregeln oder ihn bloßzustellen. Stattdessen kann der aktuelle Satz beendet werden und des eben Gesagte kurz zusammengefasst oder mit anderen Worten wiederholt werden. Vielleicht schenkt der Recruiter davor kurz Wasser nach oder öffnet das Fenster und gibt dem Bewerber dadurch die Möglichkeit, über den damit verbundenen Rhythmuswechsel in das Gespräch zurückzufinden. Treten solche Aussetzer beim Bewerber öfter auf, stellen sie ein Warnsignal hinsichtlich seiner Konzentrationsfähigkeit dar. Treten sie bei mehreren Bewerbern auf, kann dies in der Gesprächsführung des Recruiters begründet liegen. In diesem Fall kann er überprüfen, ob seine Sätze möglicherweise zu ausführend sind oder zu langatmig formuliert werden. Ebenso überlasten viele Kommata bei Aufzählungen nicht nur die Aufmerksamkeit der Zuhörer sondern mindern auch die Überzeugungskraft des Senders. Werden dagegen regelmäßig und

9.3 Blickkontakt

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bewusst Punkte gemacht, kann sich das Gesagte auch beim Gesprächspartner setzen und dadurch eine signifikant stärkere Wirkung der eigenen Kommunikation erzielen.

Schiefer Blick mit gekipptem Kopf  Ein schiefer Blick [13] mit gekipptem Kopf signalisiert Argwohn und Skepsis, dabei kann einerseits der Kopf zurück- und vom Gegenüber weggekippt werden, sodass ein über die Nase taxierender Blick entsteht. Andererseits kann sich, ähnlich wie bei etwas witternden Hunden, durch kurzes Verharren die Konzentration auf eine Information und die Lauer auf die entscheidende Aussage zeigen. Während sich die Augen fokussierend auf den Redner richten, werden aber keine zusätzlichen, das Thema vertiefenden und das Verständnis erhöhenden Signale gesucht, sondern Signale der Unsicherheit oder der Täuschung, die den zuvor entstandenen Zweifel bestätigen. Dabei ist der Blick fokussiert und der Mund geschlossen oder nur leicht geöffnet. Ruhiger, fester Blick und anstarrender Blick Ein ruhiger und fester Blick drückt Selbstsicherheit aus und wirkt nicht aggressiv. Wird er direkter und fester, drückt er Konfrontation aus und fordert, dass sich mit ihm und seinen Bedürfnissen auseinandergesetzt wird. Dabei besteht ein Unterschied zwischen Ansehen und Anstarren. Beim Ansehen steht der kooperative Charakter im Vordergrund, es geht darum, Kontakt herzustellen und die eigene Botschaft zu vermitteln. Der ruhige und feste Blick hält prüfenden Pausen und Zögern des Gesprächspartners stand und vermittelt durch seine Offenheit die Bereitschaft, mit der gleichen Ruhe und Entschlossenheit Unklarheiten zu besprechen und zu beseitigen. Der starrende Blick dagegen zeichnet sich durch seine Unbeweglichkeit aus. Wie in Kap. 7 über Bewegungen beschrieben, bedarf es der grundlegenden Bereitschaft zur Bewegung, um sich einander anzunähern. Diese Bereitschaft fehlt dem starrenden Blick. Er wird so lange beibehalten, bis das gewünschte Ergebnis erreicht ist oder irgendwann die Einsicht kommt, dass es wirklich keinen Sinn hat, etwas weiterzuverfolgen. Der starrende Blick verfolgt implizit das Ziel, den anderen zu unterwerfen und den eigenen Willen durchzusetzen. Der Blick des so Starrenden wirkt befremdlich und verunsichernd und kann beim Angestarrten zur heimlichen Frage führen, was eigentlich gerade bezweckt werden soll oder was in dem Starrenden vorgeht: viel, außer dem Ziel zu dominieren und einzuschüchtern, scheint es oft nicht zu sein. Die implizite Aggression des starrenden Blicks führt zu Verunsicherung sowie Stress und erschwert den Aufbau einer Beziehung. Seitlicher und fliehender Blick Wurden zuvor Kopf und Blick abgewendet, um sich Gedanken zu einem strittigen Punkt oder bestimmten Thema zu machen, signalisiert der seitliche Blick eine erste Annäherung. Er tastet sich schon einmal vor und schaut, das ganze Gesicht wird aber noch nicht zugewendet. Er zögert zwar noch, ist aber grundsätzlich bereit, zuzuhören und sich wieder auf das Gespräch einzulassen. Im Unterschied zum seitlichen Blick, der bei zuvor abgewendetem Kopf wieder den ersten Kontakt hin zu Gesprächspartner sucht, kommuniziert der fliehende Blick

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9  Augen und Blickkontakt

den Versuch, sich aus dem Gespräch zu entfernen. Geht er mit einer sich schließenden Körperhaltung und kontrahierenden Muskeln einher, zeigt sich das Missfallen noch deutlicher. Wenn man schon dableiben muss, sucht wenigstens der Blick nach Fluchtmöglichkeiten oder angenehmeren Inhalten. Gleichzeitig blendet er das aktuelle Geschehen und die damit verbundenen Gesprächspartner aus. Nach oben und unten blickende Augen  Schauen die Augen nach oben, signalisieren sie Wohlwollen und Gefallen, aber gleichzeitig noch eine gewisse Unsicherheit und Zögern darüber, ob auf ein Angebot eingegangen oder eine potenzielle Möglichkeit genutzt werden soll. Je nach begleitender Mimik wird genussvoll etwas angenommen oder, beinahe schon hilflos, Beistand von einer höheren Instanz erbeten [14]. Wandert der Blick des Empfängers dagegen nach unten, fühlt dieser in sich hinein, lässt das eben Gesagte nachwirken und registriert, was es in ihm bewirkt. Er will den Partner gerade nicht täuschen, sondern ist mit sich selbst beschäftigt. Wichtig ist auch bei den Augenbewegungen zu bedenken, dass sie ein Puzzlestück des gesamten Ausdrucks darstellen. Ist die begleitende Mimik genervt, ungeduldig oder positiv und entspannt, ergeben sich unterschiedliche Bedeutungen. Senken sich bei bestehendem Blickkontakt die Lider leicht, signalisieren sie hohe Aufmerksamkeit [15]. Der Moment der Anspannung und des Zögerns, der eintritt, kurz bevor wir uns entscheiden, eine Information, ein Thema oder den Gesprächspartner anzunehmen, wurde überwunden. Steht die Entscheidung dagegen noch aus, sind die Lider angespannt und etwas weiter geöffnet. Diese Anspannung der oberen Augenlider ist das subtilere Signal der oben beschriebenen zurückgekippten, witternden Kopfhaltung. Nachdem man sich dann entschieden hat, lässt die Anspannung nach, um sich zu öffnen und den interessanten Inhalten zuzuwenden. Seitlich schweifende Augenbewegungen  Das unbewusste Schweifen des Blickes nach links und rechts beschreibt David Givens als „CLEM“: Conjugate Lateral Eye Movement [16]. Die paarweise seitliche Augenbewegung zeigt, dass Informationen aktiv verarbeitet und das Thema reflektiert werden. In der Regel wird dabei über die eben besprochenen Inhalte nachgedacht, theoretisch kann auch gerade innerlich einem anderen Gedanken gefolgt werden. In diesem Fall treten kurz davor Augenbewegung in andere Richtungen auf. Die Implikationen dieser Richtungen werden im Abschnitt zu NLP beschrieben. Weit aufgerissene Augen und rollende Augen Wie beschrieben, weisen weit aufgerissene Augen auf starke Gefühle hin. Ob diese im Zusammenhang mit Überraschung, Freude oder Angst auftreten, zeigt die begleitende Mimik. Werden im Gespräch attraktive Inhalte der Stelle vorgestellt, um den Bewerber zu gewinnen, eröffnet dessen Blickrichtung Einsichten in sein Empfinden. Wie Molcho beschreibt, beflügelt jeder Genuss, auch ein vorgestellter, unser Gefühl, und so lassen wir wie von selbst die Augen nach oben rollen – weg vom Boden der Realität –, wenn uns etwas zusagt oder sehr gut gefällt

9.3 Blickkontakt

211

[15]. Gegebenenfalls kann sogar die Zunge nachkosten und leicht über die Lippen fahren. Bei dieser Augenbewegung liefern die Augenbrauen und die Mimik wichtige zusätzliche Informationen: Bleiben die Augenbrauen ruhig, ist die Entscheidung noch nicht ganz gefallen [15]. Ist die Mimik angespannt oder genervt und rollen die Augen mehr von oben nach unten, vermitteln sie eine negative, fast schon beleidigende Botschaft. Implikationen des NLP Die Disziplin des neurolinguistischen Programmierens (NLP) entstand, als der Linguist John Grinder und der Psychologe Richard Bandler untersuchten, was die besondere Klasse außergewöhnlich erfolgreicher Psychotherapeuten ausmachte. Es war deren Art zu kommunizieren. Grinder und Bandler untersuchten die Methoden und Techniken und bereiteten sie systematisch auf, sodass sich ein Baukasten und Regelwerk ergab, mit dem die Kommunikation des Gesprächspartners differenzierter erfasst und die eigene Kommunikation gezielter gesteuert werden kann.

Das NLP beschreibt unter anderem Zusammenhänge zwischen der Blickrichtung und kognitiven Vorgängen und lässt sich nutzen, um das Referenzsystem des Gesprächspartners zu bestimmen. Das Referenzsystem (auditiv, visuell, kinästhetisch) zeigt, auf welche Art und Weise Informationen verarbeitet werden. Wird erkannt, welches der bevorzugte Verarbeitungskanal ist und bei welchen Inhalten welche Verarbeitungswege dominant sind, kann das Gespräch adressatenorientierter und empathischer geführt werden. Wie beim Priming-Effekt „glühen“ die neuronalen Verschaltungen im Gehirn dabei auf den verschiedenen Ebenen „vor“ und bahnen einer spontanen Antwort den Weg, wenn durch die passende Rückfrage die gerade aktive Ebene angesteuert wird. Da die Frage den innerlich bereits angestoßenen Verarbeitungskanal des Bewerbers trifft, fühlt sich dieser auf einer tieferen Ebene verstanden, öffnet sich leichter und bringt den Dialog voran.

Die Richtungsangaben werden in diesem Kapitel stets aus der Perspektive des Recruiters beschrieben und beziehen sich auf Rechtshänder. Relativierend muss, wie bei der Lateralität, beachtet werden, dass die beschriebenen Bedeutungen auf einen kleinen Teil der Menschen nicht zutreffen, sondern sich bei diesen gerade entgegengesetzt zu ihrer Händigkeit ausdrücken. Wer das Verhalten des Gegenübers aber aufmerksam beobachtet und in Bezug zur Situation und zum Thema setzt, erkennt mit etwas Übung unorthodoxe Sender recht sicher. Auch hier gilt, dass nicht anhand eines einzelnen Signals die gesamte Kommunikation des Bewerbers determiniert werden sollte, sondern man diese stets ins Verhältnis zu seinem gesamten Ausdruck setzen sollte. Bedeutung horizontaler und vertikaler Augenbewegungen Die horizontale Blickrichtung differenziert zwischen Erinnerung und Konstruktion. Wandern die Augen des Bewerbers aus Sicht des Recruiters nach rechts, ruft der Bewerber Erinnerungen ab. Über die vertikale Blickrichtung kann erkannt werden, auf welchem Verarbeitungskanal die Information aus dem Gedächtnis abgerufen wird. Visuelle Erinnerungen gehen mit nach oben rechts blickenden Augen einher, auditive Erinnerungen mit nach mittig rechts blickenden Augen. Kinästhetische, gefühlsbetonte Erinnerungen zeigen sich durch nach unten rechts blickende Augen (Abb. 9.1).

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9  Augen und Blickkontakt

Abb. 9.1   Abbildung: Blickrichtungen im neurolinguistischen Programmieren

Im Gegensatz dazu wandern die Augen des Bewerbers (aus Recruitersicht) auf die linke Seite, wenn er im Geiste Inhalte konstruiert. Die Implikationen in Bezug auf mittige und nach oben gehende Bewegungen sind dabei analog zum Erinnern: Bewegen sich die Augen gerade in Richtung Ohr, wird auf der akustischen Ebene konstruiert, gehen die Augen nach links oben, wird auf der visuellen, bildlichen Ebene konstruiert. Bei der Frage nach einem spezifischen oder zweifelhaften Ereignis kann also anhand der Augenbewegung beobachtet werden, ob dieses Ereignis erinnert oder konstruiert wird. Der Blick nach links unten zeigt, dass sich der Gesprächspartner gerade ein Werturteil gebildet hat, beispielsweise im Rahmen der Diskussion um ein kontroverses Thema [17]. Er kann momentan die Werte und Treiber des anderen nicht nachvollziehen und wird diesen wahrscheinlich gleich mit seinem Urteil konfrontieren. Wer beim Gesprächspartner einen urteilenden Blick erkennt, kann sich innerlich vorbereiten und wird damit weniger von der kritischen Reaktion überrascht. Horst Rückle empfiehlt für solche Situationen, nicht zu versuchen, gemeinsam nach neuen Lösungen zu suchen, sondern mit dem Gesprächspartner seine Einschätzung des Problems zu diskutieren [18]. 

Wird der Blick ins Urteil beobachtet, kann eine Alternative darin bestehen, proaktiv zu reagieren und den Bewerber direkt zu fragen, wie er das Thema beurteilt oder was er dazu denkt. Die direkte Ansprache entwaffnet ihn normalerweise, und so neigt er meist intuitiv dazu, zunächst die Gesprächsaufforderung zurückzuweisen und zu behaupten, dass es keine Frage gebe. Da er innerlich einen eigenen Gedanken verfolgte, ist er zunächst überrascht und neigt spontan zur Ablehnung. Lässt der Recruiter die Aussage des Bewerbers nun aber zwei bis drei Sekunden im Raum stehen, wird sich dieser in der entstehenden Pause darüber bewusst, dass es ja gerade um sein Thema gehen soll und dass sein Gedanke oder Urteil wichtig sind, um zueinander zu finden. Der subtile Druck der entstehenden Pause tut sein Übriges. Wenn dabei dem Bewerber nonverbal, beispielsweise durch einen leicht geneigten Kopf, freundliches Lächeln, angehobene Augenbrauen und ein ermunterndes subtiles Nicken, signalisiert wird, dass es ausdrücklich erwünscht ist, seine Gedanken zu äußern, kann er sich öffnen und mitteilen, was eine kooperative Gesprächsatmosphäre sowie einen Austausch auf Augenhöhe fördert und der Entstehung von Missverständnissen vorbeugt.

9.3 Blickkontakt

 Tipp Übung: Bevor interpretiert wird, sollten Sie das Referenzsystem des Bewerbers bestimmen und die Antworten in Zusammenhang zur Rechts- oder Linkshän­ digkeit setzen. Eine passende Frage, um im Privaten zu üben, ist die Aufforderung an Ihren Gesprächspartner, sich an seinen ersten Schultag zu erinnern und davon zu erzählen. Nun können Sie anhand der Augenbewegungen ablesen, ob das damalige wichtige Ereignis gefühlsmäßig erinnert wird oder ob Geräusche oder visuelle Einflüsse einen stärkeren Eindruck hinterlassen haben. Im Bewerbungsgespräch bieten Fragen und Aufforderungen, sich einen idealen Arbeitsplatz vorzustellen oder einen erfolgreichen früheren Arbeitstag zu beschreiben, einen Konflikt mit einem früheren Vorgesetzten oder Kollegen zu schildern oder sich an ein erfolgreiches Projekt oder Ähnliches zu erinnern, die Möglichkeit, die Gedanken und Erinnerungen des Bewerbers zu aktivieren und zu beobachten, wohin sie ihn führen.  Tipp  Um die Augenbewegungen zuverlässig zu interpretieren, braucht es eine gut geschulte Wahrnehmung. Es kann durchaus sein, dass die Augen des Bewerbers als Reaktion auf eine Frage innerhalb kürzester Zeit beispielsweise kurz nach unten gehen, um in Bezug auf die eigene Positionierung zur Frage in sich hineinfühlen, bevor sie nach rechts oben schauen, um das Setting zu erinnern, und dann schnell nach rechts zur Seite, um das Gesagte zu erinnern, bevor sie nach links zur Seite blicken, während intuitiv konstruiert wird, was wohl am besten gesagt werden sollte. Einsteiger sollten hier mit einer gewissen Vorsicht vorgehen: Wer von fünf bis sieben mit einem Thema verbundenen Augenbewegungen nur ein bis zwei wahrnimmt und davon die erste, die längste oder die zuletzt sichtbare zur Interpretation heranzieht, wird zwar einzelne Treffer landen, riskiert aber, andere Gesprächspartner falsch einzuschätzen oder zu Unrecht zu verdächtigen. Hinzu kommt, dass aus dem Verarbeitungskanal und dem erkannten Programm nicht deterministisch auf die dahinterliegenden Inhalte geschlussfolgert werden kann. Natürlich fällt die Interpretation der Augenbewegungen mit zunehmender Übung und Erfahrung sowie der Kenntnis des Gesprächspartners und dessen Vita leichter, dennoch sollte sich der Recruiter vor übereilten Aussagen hüten. Zur Spurensuche und um sich auf das Referenzsystem des Bewerbers einzuschwingen, bildet die Blickrichtung jedoch eine wertvolle Möglichkeit und eröffnet zusätzliche Optionen im Gespräch.

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214

9  Augen und Blickkontakt

9.4 Blickvermeidung Genauso spontan, wie sich unsere Augen bei positiven Reizen weiten, verschließen sie sich, wenn Informationen abgelehnt werden. Diese Reaktion beschränkt sich nicht auf visuelle Inhalte, sondern zeigt sich auch bei abstrakten Informationen. Die Neigung hierzu scheint angeboren, da sogar blind geborene Kinder dieses Verhalten zeigen und sich bei negativen Nachrichten abwenden, die Augen schließen oder sie bedecken, um alles andere auszublenden [19]. Die Extremausprägung der Blickvermeidung zeigt sich in zusammengepressten Augen oder in häufigen und langen Blicken zur Decke oder aus dem Fenster, welche geistige Abwesenheit und die Suche nach einem Fluchtweg signalisieren. In einem Setting wie dem Vorstellungsgespräch erfolgt die Blickvermeidung normalerweise subtiler, beispielsweise durch Berührungen der Augen, die signalisieren, dass das, was eben gehört wurde, nicht gefällt. Werden die Augenlider erst mit einer kleinen Verzögerung geschlossen oder etwas länger geschlossen gehalten, drücken sie damit ebenfalls mögliche negative Gefühle oder Unbehagen aus. Sich länger als üblich schließende oder demonstrativ geschlossen gehaltene Augen zeigen gefühlte Machtlosigkeit, Resignation und das mangelnde Interesse, zusätzliche Energie in den Kontakt oder das aktuelle Thema zu investieren. Die Augen werden entmutigt, frustriert oder genervt länger oder ganz geschlossen. Im Extremfall werden sie mit einer oder beiden Händen bedeckt und der entmutigte Kopf durch die Hand des auf den Tisch aufgestellten Unterarms gestützt. Der so den Blick Vermeidende ist eigentlich mit guten Vorsätzen in das Gespräch gegangen und empfindet in diesem Fall seine eigenen Ideen und Lösungsansätze praktikabler bzw. den Ideen seines Gesprächspartners überlegen. Aber nun ist er ratlos und signalisiert, dass der andere machen soll, was er will und schon sehen wird, was er davon hat. Warum wir beim Lügen anderen ungern in die Augen sehen Wie in Kap. 3 beschrieben, reduziert der Machtgewinn, der mit einer Lüge erreicht wird, das Lustempfinden. Ob es eine kurzfristige Absage ohne wichtigen Grund ist oder eine andere Nachricht, die den anderen enttäuschen und die Beziehung zueinander beeinträchtigen könnte, stets versuchen wir dabei intuitiv, den persönlichen Kontakt so gering wie möglich zu halten. Da Blickkontakt neben Körperkontakt die intensivste Art darstellt, um den Kontakt mit unseren Mitmenschen zu vertiefen, versuchen wir intuitiv, diesen zu vermeiden. Wollen wir einen Termin oder eine Anfrage ohne wichtigen Grund absagen, bevorzugen wir die schriftliche Absage, und es erfordert einiges an Überwindung, die unangenehme Botschaft doch persönlich zu überbringen. Kleine Kinder zeigen dieses Unwohlsein noch wesentlich offener, wenn sie es nicht schaffen, in emotional belastenden Situationen den Blickkontakt aufzunehmen oder zu halten.

Unwohlsein und mangelnde Selbstsicherheit können sich auch im Interview zeigen. Wird auf eine kritische Frage des Personalers eine relativ knapp gehaltene Musterantwort gegeben, bei welcher der Blickkontakt zunächst gesetzt wird, dann aber kaum gehalten werden kann und kurz nach der Antwort abgesenkt wird, zeigt sich darin die

9.4 Blickvermeidung

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mangelnde Selbstsicherheit des Bewerbers, die oft auf einer Täuschung oder einem inneren Zwiespalt basiert. Der Bewerber kann dem prüfenden Blick des Personalers nicht standhalten und beide wissen, dass etwas nicht in Ordnung ist. Wichtig ist hierbei neben der Dauer die Blickrichtung, in die der Blick abgewendet wird. Während ein überzeugter Bewerber den Blick zwar vom Recruiter abwendet, aber mit dem nächsten Sinnabschnitt fortfährt und dabei den Blick auf den nächsten Interviewpartner richtet, ist das abrutschende Senken des Blicks ein statussenkendes und damit sympathiesuchendes Unterordnungssignal, das die implizite Bitte um Nachsicht für die eben vorgebrachte Unwahrheit oder Unsicherheit vermittelt. Prinzipiell vermittelt Wegsehen den Wunsch, sich aus der Situation zu entfernen. Es ist aber nicht immer ein Zeichen von Abneigung: Wenn wir es uns im vertrauten Umfeld leisten können, den Blick schweifen zu lassen, drücken wir dadurch unser Wohlbefinden aus. Auch hier muss also der Rahmen berücksichtigt werden. Wird ein Bewerber zur zweiten oder gar dritten Gesprächsrunde eingeladen, kann er sich zunehmend wohler fühlen und ein zwangloseres Blickverhalten entwickeln. Auch wenn es uns schwerfällt, den Blickkontakt zu halten, wenn wir die Unwahrheit sagen, lässt sich daraus leider nicht im Umkehrschluss deuten, dass ein gehaltener Blickkontakt ein sicheres Signal für Ehrlichkeit ist. Im Gegenteil: Geübte Lügner nutzen genau diese intuitive Beurteilung und halten den Blickkontakt im Wissen um seine Wirkung. Dabei beobachtet der Lügner die Reaktion des Gesprächspartners und ob seine Lüge geschluckt wurde oder er noch nachsteuern muss. So besteht hier umso mehr die Gefahr der emotionalen und unsachlichen Beurteilung des Bewerbers. 

Was tun, wenn eine Täuschung vermutet wird?  Zweifelt der Recruiter an der Wahrhaftigkeit der Antwort des Bewerbers, sollte situativ reagiert werden. Wie früher beschrieben, kann es an dieser Stelle ungeschickt sein, den Bewerber durch Nachbohren in die Enge zu treiben: Wenn er sich daraufhin verschließt, wird es schwieriger, die wahren Hintergründe für seine Unsicherheit oder Falschaussage zu erfahren. Merkt sich der Recruiter stattdessen den kritischen Punkt, kann er zunächst versuchen, die Beziehung zu verbessern, und zu einem späteren Zeitpunkt auf das Thema zurückkommen. In einer anderen Situation kann es wirksamer sein, dem Bewerber nonverbal, durch einen gehaltenen, ernsten Blick und gehobene Augenbrauen, zu zeigen, dass man seine Aussage anzweifelt, den Druck der entstehenden Pause wirken zu lassen und ein Weiterreden anzustoßen. Eine weitere Variante kann sein, das entstandene Misstrauen nicht zu zeigen, sich aber die Verhaltensstrategie des Gesprächspartners zu merken. Besonders das Timing, entstehende Pausen, Sprachfehler sowie Veränderungen der Körperspannung und Bewegungsgeschwindigkeit stellen in diesem Zusammenhang charakteristische Merkmale dar, die später im Gespräch auf weitere Täuschungen hinweisen können. Weitere Signale bilden die Richtung, in die weggeschaut wird, und Veränderungen in der Mimik oder Gestik, nachdem der Blickkontakt

216

9  Augen und Blickkontakt

aufgelöst wurde. Da die Situation zu diesem Zeitpunkt innerlich abgehakt wird, entgleist die Mimik regelmäßig kurz danach, wenn sich die zuvor zurückgehaltene Spannung ihren Weg bahnt.

Vermeidet es der Bewerber, bei der Besprechung von spezifischen zukünftigen Herausforderungen dem Recruiter in die Augen zu sehen, vermeidet er die Konfrontation und verweigert gleichzeitig die Übernahme von Verantwortung. In der aktuellen Phase verunsichern ihn die große Verantwortung und der fehlende Spielraum. Es ist zu erwarten, dass der Bewerber später bei terminierten Aufträgen Hindernisse finden wird, während er mit offenen Aufträgen, die ihm mehr Freiheiten lassen, weniger Schwierigkeiten hat [20]. Dabei kann ihn ein offeneres Vorgehen entlasten und es ihm ermöglichen, sich auf die Herausforderung einzulassen, wenn verdeutlicht wird, dass die Verantwortung für das Gelingen nicht gleich komplett auf seinen Schultern liegen wird. Angesichts der Blickvermeidung zeigt sich die Angst zu scheitern, was auch in Unklarheit über den gesamten Umfang der Aufgabe und des geplanten Ablaufs gründen kann. Hier sollte man Hilfe anbieten, Transparenz schaffen oder mit einer Gegenfrage die Möglichkeit eröffnen, das Thema zu vertiefen.

9.5 Blinzeln Wenn wir entspannt ein Gespräch führen, blinzeln wir durchschnittlich zehn- bis 15-mal pro Minute und befeuchten dabei unsere Augen [21]. Die empfindlichen Augenlider zeigen bei Anspannung und Nervosität eine direkte unwillkürliche Reaktion, und so lassen Augenblinzeln und Lidflattern auf innere Konflikte oder Missstimmungen schließen, wie sie auch beim Lügen auftreten können. Beispielsweise stieg Bill Clintons Blinzelfrequenz während dessen Amtsenthebungsverfahren in kritischen Phasen auf das Fünffache seiner normalen Frequenz an [13].  Mehrfaches Doppelblinzeln Eine kurzzeitig erhöhte Blinzelfrequenz in Form eines mehrfachen Doppelblinzelns oder Lidflatterns zeigt sich, wenn der Gesprächspartner gerade verblüfft, verwirrt, entgeistert oder kurz irritiert ist [22]. Geht das Doppelblinzeln mit Selbstberuhigungsgesten oder Objektberührungsgesten einher, signalisiert es die Entscheidungsschwierigkeiten und den damit verbundenen Stress. Dieser kann positiv oder negativ begründet sein, aber der nächste Schritt muss gemacht werden. In welche Richtung dieser führen wird, zeigt das folgende Verhalten und damit auch, wie die Entscheidung ausgefallen ist.

Normalerweise blinzelt der Redner häufiger als der Zuhörer. Ergibt sich der umgekehrte Fall, kann laut Molcho davon ausgegangen werden, dass sich der Zuhörer langweilt [15]. Kontinuierlich gesteigertes Blinzeln zeigt das Unwohlsein in der aktuellen Situation an, die Person steht unter Stress und versucht intuitiv, die Realität durch kurze Blackouts

9.6  Eigenes Blickverhalten

217

auszublenden. Ein einzelner Blinzler dauert circa eine Viertelsekunde, zeigen sich zwei oder gar drei pro Sekunde, erreicht das Ausblenden sein Maximum. Beobachtet man im Gespräch bei einem spezifischen Thema eine Erhöhung der Blinzelhäufigkeit, kann man diese registrieren, vorerst das Thema wechseln sowie später darauf zurückkommen und dabei darauf achten, ob sich das Blinzeln wieder beschleunigt. Das wiederholte Signal im gleichen Kontext erhärtet den Verdacht. Beispiel

Auch beim Blinzeln muss zunächst das Normalverhalten bestimmt werden: Während sich beispielsweise Oscar-Gewinner Michael Caine in jahrelangem Training angewöhnt hat, das Blinzeln zu unterdrücken, um seinen theatralischen Ausdruck bei Nahaufnahmen zu steigern, zeigt sich Ursula von der Leyen in Interviews zwar körpersprachlich beherrscht und diszipliniert, blinzelt aber bis zu 50-mal und öfter pro Minute und scheint sämtliche Spannungen über die Augenlider abzubauen. Ein auf Youtube abrufbares Interview zum Einsatz der Bundeswehr im Inneren zeigt bei von der Leyen beispielsweise anschaulich die Unterschiede, die sich je nach Thema auch bei dieser hohen Grundfrequenz zeigen. Während in Phasen, in denen sie Statements setzt, der Blick mehrere Sekunden lang fest und nachdrücklich auf den Interviewer gerichtet wird, steigt die Blinzelfrequenz in emotional stark geladenen Situationen auf zwei- bis dreimal pro Sekunde an und signalisiert mit dem begleitenden Über-die-Lippen-Streichen der Zunge die hohe emotionale Spannung [23]. Das Über-die-Lippen-Streichen der Zunge zeigt einmal mehr an, dass weitere mimische und körpersprachliche Signale den Ausdruck verstärken oder relativieren können. Eine abnehmende Blinzelfrequenz [24] signalisiert kognitive Anstrengung, während eine zunehmende Blinzelfrequenz mit emotionaler Erregung einhergeht [24]. Die beschleunigte Blinzelfrequenz weist zwar oft auf negative Emotionen und Stress hin, zeugt aber prinzipiell von Aufregung, welche auch positiv, durch erhöhtes Interesse, begründet sein kann und beispielsweise die Vorfreude auf ein spannendes Projekt oder eine erwartete Zusage ausdrücken kann. Bei Vorfreude werden sich weitere Interessesignale zeigen, während körperliches Zurückziehen und eine sparsamere, gehemmte Gestik auf negativen Stress schließen lassen.

9.6 Eigenes Blickverhalten Die beschriebenen Implikationen und die starke Wirkung des Blickkontakts eröffnen auch im Recruiting verschiedene Möglichkeiten zur Gesprächssteuerung. Da der Blickkontakt sehr intuitiv erfolgt und die Botschaften subtil und vielschichtig in das Gespräch und das Rollen-Status-Gefüge zwischen den Beteiligten einwirken, sollte man den bewussten Einsatz zunächst im privaten Umfeld oder im geschützten Rahmen üben und sich dann für Schlüsselsituationen vorbehalten. Mit steigender Übung und Gewohnheit

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9  Augen und Blickkontakt

wird er sich dann in kritischen Momenten automatisch zeigen, den Recruiter überzeugender wirken lassen und ihm ermöglichen, das Gespräch effizienter zu führen und die Beziehung zum Bewerber zielgerichtet zu entwickeln. 

Dauer des Blickkontakts  Im Rahmen einer Studie zum Blickkontakt erzählten Psychologen unwissenden Teilnehmern vor deren Blinddates, dass der Gesprächspartner, den sie gleich treffen würden, in seiner Kindheit eine Augenverletzung gehabt habe und es deshalb passieren könne, dass ein Auge leicht verzögert reagiere oder nachgezogen werde. Leider wussten die Psychologen nicht mehr, ob es das linke oder rechte Auge war, sagten aber, dass es keinerlei Einfluss auf die Persönlichkeit oder die Intelligenz des Gegenübers habe und einfach nicht weiter beachtet werden sollte. Ihre frei erfundene Geschichte erzählten sie beiden Partnern des Blinddates, welche natürlich im Anschluss gerade eben nicht versuchten, das vermeintliche Handicap zu ignorieren. Stattdessen schauten sie sich intensiv in die Augen, um herauszufinden, welches Auge denn nun betroffen war. Da beide das Gleiche taten, landeten sie im Bereich von über 80 % Blickkontakt, mit dem sich sonst nur Verliebte anschauen. Einmal mehr beeinflusste das Verhalten die Gefühle, und die Beteiligten entwickelten eine signifikant tiefere Zuneigung, sodass das Interesse an einem Folgetreffen erheblich über den sonst üblichen Zahlen lag [25].

Üblicherweise dauert ein normaler Blickkontakt im westlichen Kulturkreis zwei bis drei Sekunden. Darüber hinaus baut sich eine Spannung auf, die zwischen Männern Statusabschätzungen anstößt und zwischen Mann und Frau die sexuelle Ebene öffnet. Das prozentuale Verhältnis, mit dem der Blick des anderen gesucht und gehalten wird, ist ein zuverlässiger Indikator für die Qualität der gegenseitigen Beziehung, intensiver Blickkontakt schafft eine starke Verbindung. Der durchschnittliche Blickkontakt im Gespräch liegt im westeuropäischen Kulturkreis bei 40 bis 75 % [6]. Die genaue Dauer und die Häufigkeit, mit der der Blick das anderen gesucht wird, sind jedoch von der aktuellen Rolle im Gespräch abhängig. Während der Redner beim Entwickeln seiner Gedanken seinen Blick frei schweifen lässt, richtet der Zuhörer seinen Blick zum größten Teil der Zeit auf den Redner. Das erleichtert nicht nur die Aufnahme zusätzlicher visueller Informationen und erhöht das Verständnis, sondern gibt dem Redner die Sicherheit, dass seinen Ausführungen gefolgt wird. Wie in Kap. 5 zum Territorialverhalten beschrieben, haben Menschen unterschiedlich ausgeprägte Distanzzonen und ein unterschiedliches Territorialempfinden, das sich auch beim Blickkontakt zeigt. So kann es durchaus geschehen, dass dem einen Gesprächspartner schon nach ein bis zwei Sekunden der Blickkontakt unangenehm wird und er sich angegriffen fühlt, während ein anderer auch nach mehreren Sekunden noch freundlich und entspannt bleibt.

9.6  Eigenes Blickverhalten

219

In Schlüsselsituationen, nach Sinnabschnitten und wichtigen Botschaften wird der gegenseitige Blickkontakt gesucht, um das Verständnis abzugleichen. Wie subtil dieser Abgleich stattfindet, haben wohl die meisten aus dem unangenehmen Moment in Erinnerung, der nach einem Witz, dessen Pointe sich dem Zuhörer nicht erschlossen hat, entstehen kann. Der Erzähler des Witzes erwartet, dass auf die Pointe reagiert wird, der Zuhörer möchte zeigen, dass er die Pointe verstanden hat. Dieses vorzutäuschen, gelingt in der Regel nur selten überzeugend und fühlt sich nicht gut an. Zuzugeben, dass der Witz nicht verstanden wurde, ist ebenso unangenehm. Ist man selbst betroffen, scheint die Zeit, in der der Witzeerzähler darauf wartet, dass die Pointe vielleicht doch noch erkannt wird, quälend lange. Wird die Spannung zu hoch, muss sie schließlich mit einer verbalen Aussage aufgelöst werden.

Soziale Regeln beim Blickkontakt Generell gilt, dass derjenige, der den Blickkontakt aufnimmt, diesen auch wieder beenden muss, wenn nicht anschließend zur aktiven Kommunikation übergegangen wird. Ansonsten zwingt er den anderen, sich unterzuordnen, und stört damit zunehmend den Kontakt. Die Blickdauer sollte nur so lange anhalten, bis eine Spannung entsteht, die dann zur verbalen Überleitung genutzt oder durch Abbrechen des Blickkontaktes abgebaut werden kann. Darüber hinaus gibt das Blickverhalten sowohl über den inneren Status eines Menschen Aufschluss als auch über die zwischen zwei Menschen vorherrschende Rollen-Status-Konstellation. 

Begegnen wir einem Gesprächspartner, entsteht das unbewusste Bedürfnis, diesen kurz von Kopf bis Fuß zu mustern, bevor wir in das Gespräch eintreten. Gespräche, bei denen diese Musterung erfolgen konnte, verlaufen spannungsfreier und produktiver. Blickkontakt ist prinzipiell wichtig, aber man sollte dem Gesprächspartner ermöglichen, sich kurz ungestört ein Bild zu machen. Das kann beispielsweise geschehen, wenn man gemeinsam zum Interviewtisch geht oder dem Bewerber die Jacke abnimmt, um sie an der Garderobe aufzuhängen. Die Sekunde, in der man sich darum kümmert und dabei abwendet, reicht ihm für einen kurzen Blick und hilft ihm, sich zu entspannen.

Prinzipiell gilt, dass der Blick auf den Interviewpartner gerichtet werden sollte, dadurch wirkt man aufmerksam und aufrichtig. Der Blickkontakt sollte nicht abrupt unterbrochen werden und man sollte ihn nicht wandern lassen. Ein flüchtiges Ansehen der gesamten Person von oben nach unten zeugt von Geringschätzung und wirkt abwertend. Personaler mit Lesebrille sollten darauf achten, beim Blickwechsel zwischen Unterlagen und Bewerber diesen nicht über die Brille hinweg anzusehen. Das zeigt einerseits, dass die Unterlagen wichtiger sind, andererseits wird die Kopfhaltung dabei in eine offensive und konfrontierende Haltung geführt, die sich auf die Gesprächsführung auswirkt. Zusätzlich fühlt sich der Bewerber durch den Blick über die Brille hinweg ins Visier genommen und gerät in eine Verteidigungsposition.

220

9  Augen und Blickkontakt

Fester Blick Ein fester Blick wirkt selbstsicher und prinzipiell überzeugend. Ein langer, freundlicher Blickkontakt unterstützt den Aufbau einer guten Beziehung zum Gegenüber. Mit steigender Sensibilität merkt man dabei, wann die Verbindung erfolgt ist und eine leichte Spannung entsteht. Oft zeigt sich in diesem Moment oder kurz danach beim Gegenüber eine subtile Reaktion. Das ist der richtige Augenblick, um den Blickkontakt wieder aufzulösen, sei es durch ein kurzes Blinzeln mit anschließendem Lächeln, einer Überleitung zum Thema, einer kurzen Bestätigung in Form eines Nickens oder durch eine verbale Ansprache des Bewerbers. Damit der Blick nicht seine Lebendigkeit einbüßt und zum unangenehmen Starren wird, kann man ihn zwischen den Augen schweifen lassen, dadurch wirkt er zugänglicher und sozialer. Blickduelle Infolge eines länger bestehenden Blickkontakts entsteht eine Spannung, die in kritischen Punkten ausgehalten werden muss, um die eigene Position und Stärke zu bestätigen und beim Bewerber gerade bei zweifelhaften Antworten zusätzliche Ausführungen oder Reaktionen anzustoßen. Sollte bei einem Blickduell, beispielsweise im Rahmen der Gehaltsverhandlung, die Spannung zu hoch werden, bietet die Nasenwurzel des Bewerbers einen Rastplatz für den eigenen Blick. Dort trifft den Recrutier die Kraft des Bewerberblicks weniger stark, während dieser nicht erkennt, dass ihm nicht mehr direkt in die Augen geschaut wird. Zwar erhöht das den prüfenden Charakter und die Stärke im Blickduell, um dem eigenen Standpunkt Nachdruck zu verleihen, dennoch sollte der direkte Blick nicht allzu lange auf der Nasenwurzel verweilen, da er durch die fehlende Bewegung mit steigender Dauer etwas unverwandt wirkt. Zudem erhält der Recruiter weniger Informationen aus dessen Pupillen, wenn er dem Bewerber auf die Nasenwurzel und nicht direkt in die Augen sieht. Dafür kann er sich auf andere Dinge konzentrieren und während er den Blick auf die Nasenwurzel richtet, diesen leicht defokussieren. Das bringt zwei Vorteile mit sich: Einerseits wird das Sichtfeld erweitert, sodass Mikromimiken und feine Veränderungen im gesamten Gesicht besser wahrgenommen werden. Zusätzlich wird der Parasympathikus aktiviert und man wirkt somit der eigenen Stressreaktion entgegen, was es erleichtert, trotz der spannungsgeladenen Situation, empathisch und souverän zu bleiben. Um kooperativ zu kommunizieren, gilt prinzipiell, dass, sobald im Gespräch eine Spannung fühlbar wird, sich als Nächstes Statusprobleme ergeben, was vermieden werden sollte, wenn die Situation es nicht erfordert. Derjenige, der angeschaut und so lange fixiert wird, bis er wegschaut, ordnet sich durch sein Wegsehen unter. Dabei sammelt er eine psychologische Rabattmarke. Passiert das öfter, ist das Rabattmarkenheftchen irgendwann voll und wird in Form vom Gesprächsstörern eingelöst [26]. Um dem vorzubeugen, sollte der Recruiter ein Gefühl dafür entwickeln, ob er den Bewerber gerade über sein Blickverhalten dominiert oder ihm auf Augenhöhe begegnet. Ein Blickduell, dem standgehalten werden muss, kann sich beispielsweise auch ergeben, wenn der Bewerber den Recruiter nach dessen Frage oder Aussage prüfend

9.6  Eigenes Blickverhalten

221

ansieht. Hier gilt es, die Pause bewusst auszuhalten und sich nicht verunsichern zu lassen. Neben dem Halten des Blickkontakts bildet die Kontrolle des Atems eine zusätzliche Möglichkeit, um die entstehende Spannung durch Verlagerung der Aufmerksamkeit ins Innere zu kompensieren und ruhiger und standhafter zu bleiben (siehe Kap. 12). Unterbrechung des Blickkontakts Wie beschrieben, sollte der Blickkontakt unterbrochen werden, wenn sich Spannungen entwickeln und er schließlich herausfordernd wird. Hat man ihn selbst eingeleitet, kann mit beiden Augen geblinzelt, nochmals kurz geschaut und dann verbal zum nächsten Punkt gewechselt werden. Begleitend kann leicht gelächelt werden. Auch wenn es sich dabei nur um ein Höflichkeitslächeln handelt, wird der Gesprächspartner in der Regel positiv reagieren und die freundliche Absicht honorieren. Wie können wir vorgehen, wenn die Initiative vom Gesprächspartner ausging, man also angeschaut wird und nun eine Möglichkeit sucht, den Blickkontakt zu unterbrechen, ohne sich offensichtlich unterzuordnen? Eine Möglichkeit, den Blickkontakt sozialverträglich und statusneutral zu unterbrechen, ergibt sich, wenn wir nachdenken. In diesem Fall ist es allgemein akzeptiert, andere Informationen auszublenden, und so erhalten wir automatisch die Berechtigung, unseren Blick abzuwenden. Bei der „Intelligenten Geste“ umfassen wir mit Zeigefinger und Daumen unser Kinn und zeigen, dass wir gerade nachdenken. Nun kann der Blick gefahrlos abgewendet werden, ohne dass sich der andere abgelehnt fühlt oder wir uns unterordnen. Die Intelligente Geste wird in Kap. 11 vertieft. Eine weitere Möglichkeit bietet sich, wenn wir uns eine Notiz machen, auch dann überwiegt der Charakter der neuen Handlung und begründet das Auflösen des Blickkontakts. Der Blickkontakt sollte nicht mit rollenden Augen aufgelöst werden, was geringschätzend wirkt, wobei der Ausdruck durch die Rollgeschwindigkeit und die begleitende Mimik zusätzlich charakterisiert wird. Machtvoller, sozialer und intimer Blick Je nachdem, in welche Region des Gesichts wir unseren Blick richten, erzielen wir eine unterschiedliche Wirkung [27]. Dabei lassen sich drei Varianten unterscheiden: der „machtvolle Blick“, der „soziale Blick“ und der „intime Blick“. Die Region, in die dabei geschaut wird, bildet ein Dreieck, das im Falle des „machtvollen Blicks“ nach oben gerichtet um die Augen und die Mitte der Stirn gelegt wird. Der entstehende Blickkontakt wirkt unpersönlich und eignet sich, um Gespräche bewusst bei ernsten Themen auf der Sachebene zu halten. Halten wir den eigenen Blick konsequent im beschriebenen Dreieck und lassen ihn zwischen den Eckpunkten schweifen, stellen wir klar, dass aktuell keine Ablenkungen gewünscht werden. Wird das Dreieck dagegen um die Augen und die Nase mit der Spitze nach unten gespannt, gewinnt der Blick an Wärme, wird persönlicher und pflegt die Beziehungsebene. Dieser ist zwar weniger nüchtern als der oben beschriebene, aber dafür zugänglicher und sympathischer. Im Bewerbungsgespräch können je nach Situation und Intention beide Blickarten genutzt werden, intuitiv tun wir das ohnehin schon. Spannen

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9  Augen und Blickkontakt

wir im Geist ein Dreieck um Augen und Nase, wird sich der Blick von ganz alleine zwischen diesen drei Punkten bewegen. Um eine starke Verbindung zum Gegenüber aufzubauen, sollten wir die Blickrichtung zu ungefähr drei Viertel des Gesprächs in diesem Bereich beibehalten, den Rest der Zeit sollten wir auf die Hände und restliche Körpersprache achten. Die dritte Blickart, der intime Blick, sollte im Bewerbungsgespräch nicht auftauchen. Bei diesem wird ein Dreieck zwischen den Augen und einem dritten Punkt gespannt, der unter der Nase liegt und der den Blick umso intimer werden lässt, je tiefer er wandert. Tiefer gehende Blicke sind im beruflichen Rahmen fehl am Platz, die Körperzone unterhalb des Kopfes und der Schultern zu betrachten gilt als Zeichen unangemessener Vertraulichkeit (Abb. 9.2). Dreipunktkommunikation Wird mit dem Gegenüber ohne Blickkontakt kommuniziert, löst diese Blickvermeidung und der damit verbundene Liebesentzug in der Regel Irritation aus und stört die Beziehungsebene. Prinzipiell sollte eine direkte Ansprache mit Blickkontakt einhergehen. An einzelnen Stellen des Gesprächs kann es aber vorteilhaft sein, dem Gesprächspartner nicht konfrontativ in die Augen zu schauen und ihn damit nicht zu einer Stellungnahme zu zwingen. Wird in einem solchen Moment der Blickkontakt unterbrochen, befreit das den Gesprächspartner von einem etwaigen Rechtfertigungszwang und ermöglicht ihm, das Gesicht zu wahren. Ein solches Vorgehen vermittelt Wertschätzung und kann bei Themen, die für den Betrieb nicht oberste Priorität haben und bei denen ein gewisser Spielraum besteht, den Beziehungsaufbau zum Bewerber verstärken, sodass der Personaler es anschließend mit einem gelösteren Gesprächspartner zu tun hat, der sich offener mitteilt. Kontextualisierte Erinnerung Ein neurobiologischer Grundsatz lautet „Neurons that fire together, wire together“. Unser Gehirn zieht aus der Tatsache, dass ein Ereignis verschiedene Neuronen oder Areale gleichzeitig aktiviert, den Schluss, dass diese zusammengehören, und verknüpft sie. Dementsprechend erinnern wir uns an Dinge und Ereignisse kontextualisiert, was sich zum Beispiel zeigt, wenn wir zufällig auf der

Abb. 9.2   Machtvoller, sozialer und intimer Blick

9.6  Eigenes Blickverhalten

223

Straße das Parfum riechen, das eine frühere (oder aktuelle) Bezugsperson, wie ein Elternteil, Partner oder Vorgesetzter, regelmäßig getragen hat. Oft ergibt es sich, dass wir prompt wieder an diesen oder gemeinsame Erlebnisse denken müssen. Die Kapazität der visuellen Rezeptoren im Gehirn beträgt ungefähr 90 % der Rezeptoren aller Sinnesorgane, damit sind die Augen unser dominantester Informationskanal [28]. Durch die physiologische Erregung beim Blickkontakt werden verstärkt neuronale Verknüpfungen gebildet. Er bildet eine zentrale Erinnerungsstütze, die der Empfänger bei positiven wie negativen Inhalten automatisch mit dem Sender der Botschaft verbindet und zwar umso nachhaltiger, je intensiver der Blickkontakt und je emotionaler die Situation ist. Das kann bei positiven Inhalten unsere Verbindung stärken, bei negativen Themen schafft es jedoch Distanz.

Um diese Zusammenhänge zur Beziehungsgestaltung zu nutzen, empfiehlt Michael Grinder die sogenannte Dreipunkt-Kommunikation [29]. Im Gegensatz zur Zweipunkt-Kommunikation, bei der die beiden Gesprächspartner die beiden Pole der Kommunikation bilden, wird bei der Dreipunkt-Kommunikation ein dritter Punkt in die Kommunikation eingebunden. Dies kann im Recruiting beispielsweise eine Unternehmensbroschüre, der Lebenslauf des Bewerbers, eine Branchenanalyse oder eine Projektskizze sein, alternativ können auch mittels unserer Gestik virtuelle Platzhalter oder Raumanker gesetzt werden. Kommt man im Gespräch nun auf negative oder kritische Inhalte zu sprechen, kann man in diesen Phasen gemeinsam mit dem Bewerber auf den dritten Punkt, den Platzhalter schauen und so die negativen Gefühle auf diesen dritten Punkt lenken und sich gleichzeitig mit dem Bewerber verbinden. Dadurch bleibt die Beziehungsebene zwischen den Gesprächspartnern frei von Störungen, es ist nicht die zukünftige Führungskraft oder der Personaler, der vom Bewerber angesichts eines Projekts zusätzliches Engagement fordert, sondern das auf dem Tisch liegende Dossier über eine Branchenanalyse, die aufzeigt, dass eine herausfordernde Zeit bevorsteht. Nun stehen beide zusammen vor der Herausforderung, die als dritter Punkt in der Kommunikation auf dem Tisch liegt, und die gemeinsam darauf gerichtete Aufmerksamkeit (shared attention) steigert die Verbindung zueinander [30]. Kommt das Gespräch dann wieder auf angenehmere Inhalte zu sprechen, kann man zum direkten Blickkontakt zurückkehren und dadurch die Beziehungsebene und den gemeinschaftlichen Charakter des Gesprächs stärken. Die Dreipunkt-Kommunikation stellt somit eine effiziente Technik dar, um mittels eines zusätzlichen Platzhalters und gezielten Blickkontakts die Sach- und Beziehungsebene zu trennen und negative Inhalte auf der Sachebene zu platzieren, während positive Themen genutzt werden, um die Beziehung zueinander zu stärken. 

Blickrichtung lenken und die Wirkung der eigenen Botschaft erhöhen Schon Hunde folgen der Blickrichtung von Menschen und wissen intuitiv, dass unsere Blicke unserem Interesse folgen [31]. Wenn wir auf unsere Hand schauen, während wir reden und gestikulieren, wird der Blick des Gesprächspartners folgen. So kann seine Aufmerksamkeit auf unsere Gesten gelenkt und mit deren Unterstützung die Wirkung unserer Aussage verstärkt werden. Wird

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9  Augen und Blickkontakt

anschließend die Geste nach oben zwischen die eigenen Augen und jene des Partners geführt, springt dessen Blick wieder zu unseren Augen zurück. Nun haben wir wieder Blickkontakt, damit seine volle Aufmerksamkeit und können zum nächsten Thema wechseln. In diesem Zusammenhang ist das Timing wichtig. Führen wir wichtige Inhalte aus, zeigen wir mit gleichzeitigem Blickkontakt unsere Sicherheit und verstärken so die Wirkung unserer Botschaft. Gleichzeitig sehen wir, ob diese beim Gegenüber angekommen ist oder ob noch Fragen offen sind, die wir dann erläutern sollten. Bei Schlüsselaussagen, die wir gezielt verstärken wollen, können wir über das eigene Blickverhalten den Blick des Gesprächspartners auf unsere Geste führen und unsere Botschaft mit der später beschriebenen gefrorenen Geste verstärken, um ihn anschließend wieder zurückzuholen. Halten wir dabei den Blickkontakt, ohne zu blinzeln, lässt sich die Wirkung nochmals verstärken.

Blinzeln Wie in Kap. 5 zum Status beschrieben, handeln wir als hierarchisch geprägte Wesen immer zunächst unbewusst den Status untereinander aus und zwar bei neuen Kontakten direkt beim ersten Blickkontakt. Wer zuerst wegsieht, ordnet sich unter. Auch bei späteren kritischen Fragen kommt es zum Blickduell, danach ist klar, wer die schwächeren Nerven hat und seine Position aufgibt. Dabei zeugt ein fester Blick, der ohne zu blinzeln gehalten wird, von Stärke und Charisma. 

Michael Grinder erzählte in einem Seminar zur Gruppendynamik, dass er sich das Blinzeln weitestgehend abgewöhnt hat, um seine Überzeugungskraft und Präsenz zu erhöhen und seine Energie zu zentrieren, während er zur Gruppe spricht [32]. Möchte Grinder doch kurz blinzeln, tut er es, während er sich dem Flipchart zuwendet, um etwas anzuschreiben. Wer sich die fesselnden Blicke von Hypnotiseuren und deren suggestive Wirkung auf ihre Gesprächspartner vor Augen führt, erhält einen Eindruck davon, wie weit die Möglichkeiten reichen, wenn sämtliche kommunikativen Register gezogen werden. Nikolaus Enkelmann beschreibt, dass sich auf diese Art und Weise unsere Überzeugungskraft durch den gekonnten Blickeinsatz um bis zu 25 % erhöht [33].

9.7 Fazit: Augen und Blickkontakt Die Augen sind durch das komplexe Zusammenspiel von Pupillenveränderungen, Anund Entspannungen der Augenringmuskulatur mit Augenbrauen und der restlichen Mimik außerordentlich starke nonverbale Kommunikationselemente. Die Wirkung von Blickkontakt ist physiologisch messbar und sein Einfluss auf den Beziehungsaufbau belegt. Über das Timing und das subtile Wechselspiel von Initiieren, Halten oder Ver-

Literatur

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meiden des Blicks kommunizieren wir unbewusst den Status und regeln die Beziehung zueinander. Die Blickrichtung beim Sprechen und Denken zeigt, ob Inhalte auf der visuellen, akustischen oder kinästhetischen Ebene verarbeitet werden und ob diese erinnert oder konstruiert werden. Weitere Informationen erschließt die Beachtung von Veränderungen der Blinzelfrequenz. Durch Einflussnahme auf das eigene Blickverhalten können wir die eigene Überzeugungskraft erhöhen oder bewusst die Sach- oder Beziehungsebene im Gespräch betonen. Die Kenntnis der beschriebenen Implikationen erhöht das Verständnis und die Kommunikationsoptionen in kritischen Phasen im Gespräch. Insgesamt ist das Wechselspiel zwischen Augenbewegungen und Blickkontakt in unserer Kommunikation sehr intuitiv und wir haben von klein auf ein Gefühl für ein stimmiges Verhalten. Veränderungen im eigenen Blickverhalten sollten wir von daher zunächst im geschützten Rahmen üben. Mit steigender Übung und Gewohnheit werden sie dann nach und nach auch die geschäftliche Kommunikation bereichern und dabei natürlich und authentisch wirken.

Literatur 1. https://www.kenhub.com/de/library/anatomie/die-hirnnerven Aufgerufen 16.10.2018 2. Joe Navarro: Menschen lesen, S. 193; mvg Verlag, München, 2011 3. Fran de Waal: Der Affe in uns, S. 70; dtv, München, 2017 4. Joe Navarro: Menschen lesen, S. 182; mvg Verlag, München, 2011 5. Allan & Barbara Pease: Die kalte Schulter und der warme Händedruck, S. 160; Ullstein Taschenbuch, Berlin, 2009 6. Michael Argyle: Körpersprache und Kommunikation, S. 201; Junfermann, Paderborn, 2013 7. Allan & Barbara Pease: Der tote Fisch in der Hand, S. 163; Ullstein Taschenbuch, Berlin, 2003 8. Horst Rückle: Körpersprache für Manager, S. 190; Verlag Moderne Industrie, Landsberg/ Lech, 1992 9. Dirk Eilert: Mimikresonanz, S. 114; Junfermann Verlag, Paderborn, 2013 10. http://lexikon.stangl.eu/892/oxytocin/ aufgerufen am 17.10.2018 11. https://news.efinancialcareers.com/de-de/128433/wie-eine-gekonnte-korpersprache-ihre-einstellungschancen-erhoht/ Aufgerufen am 21.03.2018, 20:16 Uhr 12. https://karrierebibel.de/blickkontakt/ Aufgerufen: 22.03.2018; 07:39 Uhr 13. Joe Navarro: Menschen lesen, S. 198; mvg Verlag, München, 2011 14. Samy Molcho: Körpersprache, S. 141; Der Goldmann Verlag, München, 1996 15. Samy Molcho: Seminar: Der Körper spricht immer; Jürgen Höller Academy, Schweinfurt, 2013 16. David Givens: Die Macht der Körpersprache, S. 63; Redline Verlag, München, 2011 17. Horst Rückle: Körpersprache für Manager: S. 207; Mi Verlag Moderne Industrie, Landsberg/ Lech, 1992 18. Horst Rückle: Körpersprache für Manager: S. 208; Mi Verlag Moderne Industrie, Landsberg/ Lech, 1992 19. Joe Navarro: Menschen lesen, S. 190; mvg Verlag, München, 2011 20. Samy Molcho: ABC der Körpersprache, S. 34; Heinrich Hugendubel, Kreuzlingen/München, 2006

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9  Augen und Blickkontakt

2 1. Dirk Eilert: Mimikresonanz, S. 151; Junfermann Verlag, Paderborn, 2013 22. Joe Navarro: Menschen lesen, S. 197; mvg Verlag, München, 2011 23. https://www.youtube.com/watch?v=r0eVo3TplzM aufgerufen am 16.10.2018 24. Dirk Eilert: Der Liebes-Code, S. 176; Ullstein Buchverlag GmbH, Berlin, 2015 25. Monika Matschnig: Körpersprache der Liebe, S. 24; Gräfe und Unzer Verlag GmbH, München, 2010 26. http://arbeitsblaetter.stangl-taller.at/KOMMUNIKATION/Transaktionsanalyse-Strokes.shtml 30.09.2018 27. Allan & Barbara Pease: Die tote Fisch in der Hand, S. 165; Ullstein Taschenbuch, Berlin, 2003 28. Stefan Verra: Hey, dein Körper spricht! S. 56; edel Germany GmbH, Hamburg, 2015 29. Michael Grinder: Einflussreich führen; Seminar bei Twinn Consulting, Offenhausen/Nürnberg, 2010 30. Gerald Hüther: Was wir sind und was wir sein könnten, S. 170; Fischer Taschenbuch, Frankfurt am Main, 2011 31. http://www.scinexx.de/wissen-aktuell-18965-2015-06-15.html aufgerufen am 16.10.2018 32. Michael Grinder: Stilles Wissen: Gruppenprozesse über Körpersprache lenken. Seminar bei Twinn Consulting, Offenhausen/Nürnberg, 2014 33. Nikolaus B. Enkelmann: Mehr als überzeugen, S. 74; Linde Verlag, Wien, 2006

10

Mimik und Emotionen

Zusammenfassung

Kap. 10 beschreibt die verschiedenen Teile unseres Gesichts und ihren Einfluss auf die Kommunikation im Bewerbungsgespräch. Hierzu werden die verschiedenen mimischen Ausdrücke sowie die Entstehung und Funktionen von Emotionen mit ihren Ursachen und Bedeutungen behandelt. Im Anschluss werden die sieben universellen Emotionen, Mikroexpressionen sowie subtile Expressionen beschrieben und Wege aufgezeigt, um deren Wahrnehmung zu verbessern und ihre Implikationen in das Recruiting zu integrieren. Abschließend werden Möglichkeiten beschrieben, um durch die eigene Mimik zielgerichtet auf das Gespräch einzuwirken.

Beurteile einen Menschen nicht nach seinem Sonntagsgesicht, sonst übersiehst Du sechs Siebtel (Hermann Lahm).

Auch wenn die im vorigen Kapitel beschriebenen Augen das sprichwörtliche Fenster zur Seele darstellen und erfolgter Blickkontakt messbare physiologische Erregung auslöst, sind die Augen selbst, mit Ausnahme der Weitung der Pupillen und dem Feuchtigkeitsgrad der Netzhaut, weitestgehend ausdruckslos und gewinnen ihren starken Ausdruck erst durch das Zusammenspiel der sie umgebenden Gesichtsmuskulatur. So bildet im direkten Kontakt zu unseren Mitmenschen die Mimik ein zentrales Element gelingender Kommunikation, gegenseitiger Empathie und der Pflege der Beziehungsebene.

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 C. Bernhardt, Nonverbale Kommunikation im Recruiting, https://doi.org/10.1007/978-3-658-25276-2_10

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10  Mimik und Emotionen

10.1 Grundlagen Mimik, Emotionen und Mikroexpressionen Während Haltung und Bewegungen den ersten Eindruck und unser Erscheinungsbild prägen, entscheidet im direkten Gespräch überwiegend die Mimik, ob wir einer verbalen Aussage glauben oder sie anzweifeln [1]. Dabei drückt sich unsere Mimik in 49 [2] verschiedenen Bewegungsdimensionen aus und zeigt mehr als 10.000 unterschiedliche Ausdrucksformen [3]. Paul Ekman und Wallace Friesen erarbeiteten in siebenjähriger akribischer wissenschaftlicher Arbeit das Face Action Coding System (FACS), einen Atlas des menschlichen Gesichts, in dem sie zunächst 44 Action Units (AU) und später noch 3000 feinere Kombinationen dieser Action Units definierten und mit den ihnen verbundenen Emotionen beschrieben [4]. Nachdem das FACS 1978 fertiggestellt wurde, werden heute Polizisten, Sicherheitskräfte an US-Flughäfen, aber auch ambitionierte Pokerspieler darin ausgebildet. Es bildet die Grundlage für die Gefühlsdarstellung in Animationsfilmen wie „Ice Age“ und findet Anwendung in modernen Softwares, die über Kameras in Supermärkten oder Smartphones in Echtzeit erkennen, welche Gefühlslage beim Konsumenten aktuell vorherrscht, und dann den emotionalen Gehalt ihrer Werbebotschaften daran anpassen [5].

Die Marketingkräfte, Filmeproduzenten und Sicherheitskräfte machen sich zunutze, dass unsere Mimik direkt mit dem limbischen System [6] verknüpft ist. In diesem sitzen unsere Emotionen und Gefühle, und so drücken sich Emotionen schneller aus als unsere Worte, die über die bewussten und langsamen Sprachzentren im Cortex gebildet werden. Der mimische Ausdruck unserer Emotionen ist biologisch verankert und zeigt sich auch bei Blindgeborenen [7]. Das in Kap. 3 beschriebene Prinzip der Wechselwirkung gilt auch in Bezug auf mimische Ausdrücke [8]. Durch die direkte Verbindung drücken sich unsere Emotionen also nicht nur mimisch aus, sondern auch mimische Veränderungen aktivieren unmittelbar das limbische System. Facial-Feedback-Theorie Als Paul Ekman im Rahmen seiner Dissertation die verschiedenen Emotionen mit seinem Mitarbeiter nachstellte, bemerkte er, wie am Ende des Arbeitstages die eingenommenen Gesichtsausdrücke seine tatsächliche Stimmung beeinflusst hatten. Am Ende des Freude-Tages war er freudig, als er den ganzen Tag eine Trauermimik eingenommen hatte, war er traurig und ebenso verhielt es sich in Bezug auf die anderen Emotionen. Auf dieser Basis erlebte Ekman am eigenen Körper die Wirkung der Facial-Feedback-Theorie, die ursprünglich durch die Arbeiten von Charles Darwin (1872) und William James (1890) begründet und vertieft worden war [9].

Die Verknüpfung zum limbischen System führt zu einem kritischen Unterscheidungsmerkmal zwischen Mikro- und Makroexpressionen. Während sich Erstere für den Bruchteil einer Sekunde (40 bis 500 ms) zeigen und am Bewusstsein vorbei direkt vom limbischen System gesteuert werden, zeigen sich Makroexpressionen (500 ms bis zu vier Sekunden) länger und werden vom willentlich beeinflussbaren pyramidalen System im Gehirn gesteuert [10].

10.1  Grundlagen Mimik, Emotionen und Mikroexpressionen

229

Der Unterschied zwischen den beiden Systemen, die unseren mimischen Ausdruck bestimmen, zeigt sich eindrücklich bei Patienten, deren pyramidales System beschädigt ist. Werden diese aufgefordert zu lächeln, gelingt es ihnen nicht. Amüsieren sie sich dagegen über einen Witz, übernimmt das limbische System die Kontrolle und zaubert ein Lächeln auf ihr Gesicht [10].

Während der Kommunikation haben wir die Mimik unseres Gesprächspartners stets im Blick und sind gleichzeitig ständig in dessen Sichtfeld. Dadurch nehmen wir mimische Ausdrücke bewusster wahr als andere nonverbale Ausdrücke, haben aber auch über ihre Signale eine höhere Kontrolle entwickelt und nutzen sie intuitiver beim Täuschen, beispielsweise um unsere Meinung hinter einem eingeübten sozialen Lächeln zu verbergen. Nach dem reinen Inhalt der gesprochenen Worte sind die willentlich erzeugten, langsameren makromimischen Ausdrücke von daher also einerseits am schlechtesten geeignet, um Täuschungen zu entlarven. Andererseits wissen wir jedoch, dass uns unser Gesicht verraten kann, und so versuchen wir in solchen Situationen seine verräterischen Ausdrücke zu unterbinden, was jedoch eine stark angespannte Mimik bewirkt. Diese verliert durch den hohen Grad der bewusst ausgeübten Kontrolle ihre natürliche Beweglichkeit und verrät dadurch das Vorhaben, sich eben nichts anmerken zu lassen. Wie Ekman beschreibt, können auch bei gut unterdrückten Gefühlen durch genaues Beobachten und Hinzuziehen weiterer Gesten Hinweise auf die unterdrückten Emotionen gewonnen werden [11]. Einige Spannungen sind dann aber doch so stark, dass sie sich nicht mehr unterdrücken lassen. Sie entladen sich in unwillkürlichen Mikroexpressionen oder vermitteln als physiologische, autonome Veränderungen wie Erröten und Erblassen direkte Einblicke in die starken Reaktionen des limbischen Systems. Während Erröten auf Erregung, Freude aber auch auf Wut, Verlegenheit, Scham, Peinlichkeit und das Gefühl, belästigt zu werden, hinweist, zeugt Blässe von Rückzug, Isolation und Schock. Beide Ausdrücke sollten im Bewerbungsgespräch eigentlich nicht oder nur im Rahmen von kalkulierten Stressfragen auftauchen. Sie stellen klare Gesprächsstörer dar und sollten behutsam behandelt werden, beispielsweise durch das später beschriebene Verbalisieren, um Missverständnisse zu beseitigen und ein konstruktives weiteres Gespräch zu ermöglichen. Funktionen der Mimik Neben der Kenntnis der verschiedenen Emotionen ist die richtige Einordnung in Bezug darauf, in welcher Funktion ein beobachtetes Signal auftritt, ein essentielles Kriterium, um es treffend zu interpretieren. Ausgehend davon, ob ein Signal beispielsweise als Emblem oder Regulator verwendet wird, ergeben sich unterschiedliche Bedeutungen. Bei der Klassifizierung von Mimik lassen sich fünf Funktionen unterscheiden [12]. 1. Emotionsausdrücke  Diese werden nachfolgend in Abschn. 10.3 beschrieben. 2. Embleme Embleme sind körpersprachliche Ausdrücke, für die es eine eindeutige Bedeutung gibt, beispielsweise der an die Stirn tippende Zeigefinger, Kopfschütteln,

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10  Mimik und Emotionen

Nicken oder Schulterzucken. Im Gegensatz zu Emotionsausdrücken unterliegen Embleme kulturellen Einflüssen und können dadurch zu Missverständnissen führen. Da sie das gesprochene Wort ersetzen können, ist es aufschlussreich, wenn sie der verbalen Aussage widersprechen. Wie in Kap. 7 beschrieben, gilt es hier jedoch, ein gewisses Fingerspitzengefühl zu entwickeln. 3. Illustratoren Illustratoren sind redebegleitende nonverbale Ausdrücke, welche das Gesagte unterstreichen, verstärken oder relativieren. McNeill unterscheidet vier Arten von Illustratoren [13]: 1. Rhythmusgesten, die im Takt des Gesagten unsere Aussage mit den Händen oder der Mimik, zum Beispiel mit gehobenen Augenbrauen, unterstreichen. 2. Bildhafte Gesten erläutern das Erzählte, beispielsweise wenn eine Wendeltreppe erklärt wird. Bei bildhaften Gesten zeigt das Timing, ob sie bewusst oder unbewusst ausgeführt werden. Während unbewusste Gesten kurz vor der Aussage beginnen und diese sozusagen einleiten, erfolgen bewusst platzierte Gesten oder illustrierende mimische Ausdrücke etwas verzögert und verraten damit ihr Wirkungskalkül. 3. Metaphorische Gesten veranschaulichen dagegen abstrakte Konzepte, wie beispielsweise die Aussage „Das habe ich geklärt“, während die beiden Hände von der Mitte her zu den Außenseiten des Tisches streichen und verdeutlichen, dass „klar Tisch“ gemacht wurde. 4. Abschließend werden Zeigegesten verwendet, um mit dem Zeigefinger, Daumen oder aber der Nase oder dem ganzen Gesicht auf etwas zu deuten. In Bezug auf ihre inhaltliche Bedeutung hat die unterstreichende Funktion der Illustratoren im Bewerbungsgespräch nur geringe Relevanz. Dafür kann der Recruiter zusätzliche Informationen gewinnen, wenn er zunächst ein Gefühl für die normale Häufigkeit entwickelt, mit der der Bewerber Illustratoren einsetzt und anschließend auf Veränderungen achtet. Zunehmende Illustratoren weisen auf ansteigende Aufregung und emotionale Beteiligung hin, nehmen sie dagegen ab, weist das auf Langeweile, stärkere Konzentration, Trauer oder Angst hin [14]. 4. Adaptoren (Beruhigungsgesten) Adaptoren zeigen, dass der Stresspegel des Gesprächspartners steigt. Mit steigendem Stress und Unbehagen nimmt die Zahl der Selbst-, Fremd- und Objekt-Adaptoren zu, bei denen wir uns selbst berühren bzw. andere Menschen oder Gegenstände, um Spannungen abzubauen. Die positiven Berührungen beruhigen uns und bewirken eine Endorphin-Ausschüttung im Gehirn [15]. Die verschiedenen Adaptoren der Hände werden in Kap. 11 zur Gestik vertieft, auf mimischer Ebene zeigen das Lecken, Beißen oder Saugen der Lippe den Versuch an, sich selbst zu beruhigen, ebenso das Entlanggleiten der Zunge an den Mundinnenseiten oder das Aufblasen der Wangen.

10.2  Signale der Mimik

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5. Regulatoren  Regulatoren steuern das Gespräch über begleitende Gesten wie Nicken oder Unterbrechungen des Blickkontakts. Sie sind für die konkrete Deutung zwar nur sekundär relevant, da nonverbale Signale sich jedoch oft mehreren Kategorien zuordnen lassen, müssen dabei auch Regulatoren beachtet werden. Ein Nicken kann sich zum Beispiel als Emblem oder als Regulator zeigen [16].

10.2 Signale der Mimik Im Rahmen ihrer unterschiedlichen Funktionen zeigen sich mimische Ausdrücke in verschiedenen Bereichen unseres Gesichts. Die Aufteilung in die drei Bereiche Stirn bis Augenbrauen, Augen und Nase sowie Mund und Kinn bietet dabei eine praktikable Unterteilung [17]. Da wir den unteren Bereich der Mimik beim Sprechen und Essen besser trainieren als die oberen Bereiche, können wir ihre Ausdrücke besser steuern als die Bewegungen von Stirn, Augenbrauen, Nase und Augen. So sind beispielsweise nur 10 bis 15 % der ungeschulten Menschen in der Lage, die inneren Augenbrauen willentlich zu heben [18]. Dadurch werden die Signale der oberen Bereiche seltener zu Manipulationszwecken eingesetzt und liefern zuverlässigere Informationen, doch auch die anderen Bereiche eröffnen aufschlussreiche Einblicke in das Gefühlsleben des Bewerbers. Der obere Bereich: Stirn und Augenbrauen Stirn Obwohl direkt vor Augen, werden die Signale der Stirn oftmals übersehen. Wie verwehende Sanddünen, verschwinden diese nach einer Emotion oft nur langsam und drücken dadurch gewissermaßen die vorherrschende Grundstimmung des Gesprächspartners aus [19]. Bei Angst und Trauer bilden sich im Zentrum der Stirn waagerechte Falten. Wer die Stirn runzelt, zeigt, dass er sich gerade in einer unangenehmen Situation befindet, aus der er aktuell keinen Ausweg sieht. Stirnrunzeln wird sogar von Hunden erkannt [20]. Senkrechte Falten über der Nasenwurzel und/oder eine angespannte Stirn kennzeichnen einen kritischen Gesichtsausdruck, der mit Missvergnügen und über das Normalmaß hinausgehender körperlicher oder geistiger Tätigkeit einhergeht. Eventuell hat der Zuhörer Verständnisprobleme. Diese müssen nicht kognitiver Art sein, sondern können auch in der undeutlichen Aussprache des Senders begründet sein. Zeigt der Bewerber diese Falten, kann verständlicher formuliert, deutlicher artikuliert oder die Sprechgeschwindigkeit gedrosselt werden, um ihm mehr Zeit zum Verarbeiten zu geben. Augenbrauen Den Augenbrauen kommt eine wesentlich größere Bedeutung zu, als uns normalerweise bewusst ist. Beispielsweise erkannten Studienteilnehmer, die lediglich die Augenbrauen, aber nicht die Augen sahen, die Emotionen und die Identität der Menschen besser als im

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10  Mimik und Emotionen

umgekehrten Fall. Wir erkennen unsere Mitmenschen also mehr an ihren Augenbrauen als an den Augen [21]. Sobald uns etwas interessiert, versuchen wir intuitiv, unser Sichtfeld über das Weiten der Augenringmuskulatur zu vergrößern. Wir heben unsere Augenbrauen und signalisieren damit, dass wir mehr wissen wollen. In diesem Zusammenhang ist die Bewegung der Augenbrauen des Fragenden sehr aufschlussreich. Das beschriebene, interessierte Heben tritt nämlich überwiegend auf, wenn ein positives Interesse oder bereits eine Ahnung oder konkrete Vorstellung über die erfragten Inhalte vorliegt. Tappen wir dagegen im Dunkeln und haben keine Ahnung, wie die Dinge zusammenhängen, drückt sich die angestrengte Suche in gesenkten Augenbrauen aus [22]. Augengruß Der Augengruß zeigt sich kulturunabhängig und unwillkürlich und tritt schon bei Säuglingen auf, sobald etwas Aufmerksamkeitserregendes, dem sie ihre soziale Kontaktbereitschaft zeigen wollen, in deren Sichtfeld gerät [23]. Die unwillkürliche Reaktion der Augenbrauen zeigt direkt, wie wir Menschen gegenüber eingestellt sind: Während wir die Augenbrauen heben, wenn Menschen den Raum betreten, denen wir Sympathie entgegenbringen, senken und kneifen wir die Augenbrauen subtil zusammen, wenn uns unsympathische Menschen den Raum betreten. Der Augengruß als „Ja“ zum sozialen Kontakt ist zwar biologisch verankert, wird aber durch die Art der Beziehung zueinander und durch kulturelle Einflüsse gehemmt oder verstärkt. Im Recruiting drücken Bewerber und Recruiter durch den Augengruß ihre wohlwollende Bereitschaft für ein gelingendes Miteinander aus. Ein fehlender Augengruß kann die Anspannung des Bewerbers anzeigen. Senken sich gar die Brauen, muss sich gefragt werden, was die spontane Verstimmung hervorgerufen hat.

Das kurze Emporschnellen der Augenbrauen ist Bestandteil der komplexeren Figur des Achselzuckens und drückt zu einem gewissen Grad die diesem innewohnende Ahnungslosigkeit, Hilflosigkeit und emotionale Gleichgültigkeit aus [24]. Hochstehende Augenbrauen zeugen von Freude und Selbstvertrauen: Der Welt wird offen begegnet. Senken sich die Brauen plötzlich ab, signalisieren sie schwindendes Interesse und den Bezugsverlust zum Gesagten. Wird dabei mit den Mundwinkeln weiter gelächelt oder gar zustimmend genickt, lässt das widersprüchliche Signal der abgesenkten Augenbrauen zu einem gewissen Grad auf mangelnde Aufrichtigkeit schließen. Länger gesenkte Augenbrauen lassen auf negative Gefühle und geringes Selbstvertrauen schließen. Zusammengezogene Augenbrauen signalisieren empfundenen Stress und eine nur eingeschränkte aktuelle Belastbarkeit. Sie führen zu senkrechten Falten auf der Stirn, die zeigen, dass man sich konzentriert und keine Störung erwünscht wird. Zeigt der Bewerber diese Signale, sollte der Recruiter Rücksicht nehmen und es ihm ermöglichen, den gedanklichen Vorgang abzuschließen. In Abschn. 10.3 zu den Emotionen werden die in der Mitte hochgezogenen Augenbrauen als zwingender Bestandteil der Trauer-Darstellung vertieft. Sind keine anderen mimischen Bestandteile von Trauer ersichtlich, stellen die gehobenen Augenbrauen-Innenseiten eine subtile Expression dar, die leichte bis mittelschwere oder gerade beginnende Trauer ausdrückt, beispielsweise wenn Mitgefühl empfunden wird. Darüber hinaus können

10.2  Signale der Mimik

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sie Schuld und Scham vermitteln, in diesen Fällen werden sie oftmals von Signalen wie Gesichtsberührungen, seitlich nach unten ausweichenden Blicken oder einem leicht gesenkten Kopf begleitet [18]. 

Mehrere Fußballprofis beschreiben, dass beim sonst sehr ruhigen Fußballtrainer Carlo Ancelotti dessen einseitig gehobene Augenbraue ein eindeutiges Warnsignal für einen drohenden Wutausbruch darstellte [25]. Zeigte sie sich, war Ancelottis emotionale Ladung so hoch, dass es nur noch eines Funkens in Form eines Widerspruchs, Zögerns oder einer provokanten Bemerkung brauchte, um sie zum Explodieren zu bringen.

Während leicht angehobene Augenbrauen zeigen, dass das Gegenüber mehr wissen will, zeugt eine einseitig gehobene Augenbraue von Skepsis, Misstrauen oder gar Sarkasmus. In der Regel zeigt sie sich in Verbindung mit einem schiefen Mund. Wird beim Bewerber dieses skeptische und in der Regel unwillkürlich auftretende Signal beobachtet, während er zuhört, gleicht das einem kleinen Affront, und es darf sich gefragt werden, was diesen Grad an emotionaler Erregung ausgelöst hat und in welcher Rolle er sich im Verhältnis zu den Betriebsvertretern eigentlich sieht. Eine mögliche Reaktion des Recruiters könnte darin bestehen, sich den Zusammenhang zu merken und zu einem späteren Zeitpunkt zu beobachten, ob sich das Signal nochmals erzeugen lässt. Alternativ kann der Rectuiter höflich fragen, welche Unklarheiten es in Bezug auf das Gesagte gibt oder welche Erwartungen oder Annahmen der Bewerber hatte, damit diese geklärt werden können. Der mittlere Bereich: Augen und Nase Augenlider  Die Implikationen der Augenregion sind in Kap. 9 beschrieben. Ihr Anteil am Ausdruck der verschiedenen Emotionen wird nachfolgend noch behandelt. Die Wahrnehmung der Augenlider erfordert zwar etwas Übung, dafür geben sie wertvolle Hinweise auf die Verfassung des Bewerbers. Werden die oberen Augenlider leicht hochgezogen, zeigen sie Interesse oder Aufmerksamkeit, werden sie stärker, aber kürzer als eine Sekunde hochgezogen, signalisieren sie Überraschung. Heben sie sich dagegen länger, signalisieren sie beginnende oder kontrollierte Angst. Ziehen sich zusätzlich die Augenbrauen zusammen, drückt sich empfundener Ärger aus [26]. Entspannen sich die oberen Augenlider so stark, dass sie sich leicht absenken, kann dies in beginnender Langeweile, Trauer oder Müdigkeit begründet sein. Während sich jedoch bei Trauer die Pupillen weiten, verengen sie sich bei Müdigkeit und Langeweile [27]. Laut Dirk Eilert weist das Anspannen der unteren Augenlider in der Regel auf kontrollierten oder leichten Ärger hin oder zeugt von kognitiver Anstrengung und erhöhter Konzentration [28]. Werden sowohl die oberen als auch unteren Augenlider angespannt, handelt es sich bei neutralen Augenbrauen um ein sicheres Zeichen für Angst [28].

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10  Mimik und Emotionen

Nase  Leider, oder zum Glück, haben nicht alle Bewerber eine Nase wie Pinocchio. Dennoch hat die Geschichte einen wahren Kern, denn tatsächlich wird die Nase bei Nervosität besser durchblutet und juckt eher als im normalen Zustand [29]. Ein unbewusster Griff an die Nase oder ein kurzes Reiben, um den Juckreiz zu beheben, kann von daher einen möglichen Hinweis auf eine Lüge und die mit ihr verbundene Nervosität und Spannung signalisieren, auch wenn die Nase sich nicht so eindeutig verändert wie bei Pinocchio. Statussenkende Berührungen der Nase, die die eigene Unsicherheit signalisieren, treten üblicherweise vermehrt auf, bevor jemand das Wort ergreift. Tom Schmitt beschreibt, dass dies auch in einer Täuschungsabsicht begründet sein kann [30]. Eine weitere mögliche Ursache beschreibt Allan Pease [31]. Kinder führen mitunter noch die ganze Hand vor dem Mund, wenn ihnen ein verbotenes Wort oder eine Lüge rausgerutscht ist. Erwachsene kaschieren diese offensichtliche Bewegung und lenken sie unbewusst ab, beispielsweise zum Ohrläppchen oder zur Nase. Alternativ werden die Brille oder der Krawattenknoten zurechtgerückt. Eine Lüge als Hintergrund der Nasenberührung sollte jedoch nur als eine mögliche Ursache in Erwägung gezogen werden. Auch beim Erblassen und Erröten reagiert die Nase früher als andere Regionen des Gesichts. Geblähte oder bebende Nasenflügel signalisieren steigende Erregung, der Organismus braucht mehr Sauerstoff, um in Aktion zu treten, und atmet tiefer ein. Die gerümpfte Nase ist ein starker Indikator für Ekel, ein leichtes Rümpfen tritt in Form eines Kräuselns auf und signalisiert Tadel, Missfallen oder eine leichte Abneigung als milde Form des Ekels. Werden diese Signale beachtet, können sie dem Recruiter das wichtige Feedback vermitteln, dass sein Verhalten gerade als unangemessen oder unhöflich empfunden wird, und ihm im nächsten Schritt ermöglichen, sich mit den unausgesprochenen Erwartungen der Bewerber auseinanderzusetzen. Bei gehobenem Kopf hebt sich auch die Nase. Die angehobene Nase drückt zwar Selbstvertrauen aus, aber wenn sie zu hoch gehalten wird, stellt sich die Frage, ob genügend Bodenständigkeit gegeben ist und wie sich das Selbstvertrauen im Kontakt mit anderen ausdrückt. Die untere Region: Mund und Kinn Mund  Neben der Kommunikation ist die Nahrungsaufnahme die noch wichtigere Aufgabe unseres Mundes. Durch die enge Verknüpfung seiner Doppelfunktion reagieren wir auf geistige Nahrung, die uns in Form von Informationen erreicht, oft mit den gleichen Signalen, mit denen wir auch auf normale Nahrung reagieren. Ein Beispiel ist das unbeabsichtigte Öffnen des Mundes, das zum Überraschungskomplex gehört und womit man sich bereit macht, zusätzlich zu den aufgesperrten Augen auch über den Mund mehr Informationen aufzunehmen. Doch solange er auf das Sammeln von Informationen eingestellt ist, schaltet der Organismus nur widerwillig in den Verarbeitungsmodus. Molcho beschreibt, wie bei Kindern, die mit offenem Mund stumm bleiben, deren geistige Kapazität überfordert ist und empfiehlt, auch im Geschäftsleben rücksichtsvoll zu reagieren,

10.2  Signale der Mimik

235

wenn bei einer längeren Aufzählung oder ausführlichen Anweisung dem Gegenüber der Mund offen stehen bleibt [32]. Wer in diesem Fall die Informationsgröße und den Umfang reduziert und besser portioniert, indem er die Inhalte strukturierter und mit den zur Verarbeitung nötigen Pausen, illustrierender Gestik oder Visualisierungshilfen vermittelt, kann dem sonst unausweichlichen Stillstand des Informationstransports beim Empfänger entgegenwirken. Je länger der Mund geöffnet bleibt, desto mehr Informationen werden fruchtlos gesendet und damit die Zeit und Energie beider Gesprächspartner vertan. Ein Zeichen wertschätzender und kooperativer Kommunikation drückt sich in der Würdigung der Intentionsbewegungen unseres Gesprächspartners aus. Diese zeigen beispielsweise durch ein spontanes erstes Öffnen des Mundes, dass eine Unklarheit oder Frage entstanden ist. Normalerweise nehmen wir dieses Öffnen des Mundes sehr wohl wahr, wer darauf achtet, hört es sogar am Telefon. Der Schlüssel zu gelingenden Gesprächen liegt darin, solche Zeichen ernst zu nehmen und das Wort abzugeben, damit der Gesprächspartner im Gespräch bleiben kann. Ein Sender, der dagegen die Intentionsbewegung übergeht, zeigt, dass er glaubt, besser als der Empfänger zu wissen, was dieser gerade benötigt. Das mutet angesichts des deutlichen gegenteiligen Signals nicht nur vermessen an, sondern installiert ein hierarchisches Kommunikationsgefälle auf Kosten der Beziehungsebene. Als Gegensatz zum weit geöffneten Mund zeigen aufeinandergepresste Lippen, dass über diesen Kommunikationskanal aktuell nichts ablaufen soll. Der Bewerber will verhindern, dass ihm bei einer kritischen Frage etwas Verhängnisvolles rausrutscht, und presst nach seiner Antwort die Lippen zusammen. Geschieht das beispielsweise im Rahmen der besprochenen Überstundenbereitschaft, kann im Gespräch mit Referenzen geklärt werden, wie es früher um diese bestellt war. Zeigen sich dagegen zusammengepresste Lippen, während zugehört wird, wird entweder bewusst eine Antwort zurückgehalten oder mangelnde Aufnahmebereitschaft ausgedrückt. Aktuell und zu diesem Thema besteht nur geringes Interesse an weiteren Informationen. Auf der emotionalen Ebene zeugen zusammengepresste Lippen von Stress, Aggression, Wut oder Angst. Je größer der empfundene Stress, desto stärker werden die Lippen zusammengepresst, bis sie schließlich ganz zu verschwinden scheinen und dadurch als guter Indikator für den Stresspegel des Bewerbers dienen. Werden die Lippen nicht zusammengepresst, sondern lediglich fest geschlossen, drücken sie Ablehnung und damit verbunden mangelnde Kommunikationsbereitschaft aus. Angespannte Lippen und Kiefer stammen dagegen von Angst, Nervosität und emotionalem Stress. Das plötzliche Anspannen kennzeichnet den genauen Zeitpunkt, in dem die Stimmung kippt und ein neuer Gedanke, Widerspruch oder eine Meinungsänderung entstehen. Angespannte Lippen sind ein zuverlässiges Zeichen für Ärger, bleiben, im Gegensatz zu zusammengepressten Lippen, leicht geöffnet und lassen sich so von diesen unterscheiden. Dabei rollen sie sich nach innen, werden schmaler und verschwinden mit zunehmender Anspannung immer mehr [33]. Beim Lippenschürzen werden die vorderen Lippen nach vorne gestülpt, um wie bei einer Weinprobe zunächst mit den Geschmacksnerven des vorderen Mundraumes

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10  Mimik und Emotionen

­ ontakt zum Thema aufzunehmen, bevor wir uns entschließen, dieses anzunehmen oder K abzulehnen. Entscheiden wir uns dafür, entspannen wir uns und kommentieren unsere Entscheidung mit einem positiven Gesichtsausdruck. Anders dagegen, wenn wir uns dagegen entscheiden, dann nimmt die Spannung der Lippen zu und es ergeben sich gespitzte Lippen, vergleichbar der Haltung beim Saugen an einem Strohhalm. Diese Bewegung zeigt, dass der Gesprächspartner noch Probleme mit unserer Aussage hat und (noch) nicht einverstanden ist: In seinem Broca Areal hat sich gerade eine alternative Idee oder ein Einwand geformt [34]. Der Recruiter könnte nun entweder seine Aussage neu formulieren, um dabei den möglichen Einwand vorwegzunehmen, oder eine kurze Pause machen. In dieser kann der Bewerber seinen Gedankengang zu Ende führen und seinen Einwand entweder konkretisieren oder wieder verwerfen. Da unser Gehirn nicht multitaskingfähig ist, kann der Bewerber gerade ohnehin nur teilweise dem Gespräch folgen. Durch die Pause steht unausgesprochen im Raum, dass allen bewusst ist, dass der Bewerber gerade abgelenkt ist, und so kann eine anschließende Nachfrage etwaige Zweifel ausräumen. Eine bildhafte, griffige Abgrenzung unterscheidet in diesem Zusammenhang zwischen Genießer- und Protest-Schnute. Während man bei der Genießer-Schnute ­wohlwollend und genussvoll die Lippen schürzt, was mit einem milden, spielerischen Gesichtsausdruck und positiv erhobener Kopfhaltung verbunden ist, drückt sich die Protest-­Schnute mit einer harten Mimik, spitzeren Lippen, festem Blick und konfrontativerer Kopfhaltung aus. Während sich das Gegenüber bei Ersterer die möglichen Optionen genussvoll vor dem inneren Auge ausmalt, schmecken lässt und abwägt, was ihm davon am besten gefällt, signalisiert es mit Letzterer, dass es mit dem sich abzeichnenden Gesprächsergebnis noch nicht zufrieden ist und sich zur Gegenwehr bereit macht. Beißt sich der Gesprächspartner dagegen auf die Lippen, drückt er seine Unzufriedenheit darüber aus, dass die eigenen Erwartungen nicht erfüllt wurden. Dabei sieht er die Ursache bei sich. Der Biss auf die Unterlippe signalisiert in diesem Fall zu einem gewissen Grad die Selbstbestrafung, aber auch den Spannungsabbau, der bei der Enttäuschung entstanden ist. Die Wut-Energie, die mobilisiert wurde, um Hindernisse zu beseitigen, muss sich einen anderen Kanal suchen und baut sich über die Bissbewegungen ab, die bis zum nervösen Lippenkauen oder zur Selbstverletzung führen können. Süß-Sauer-Bitter-Reaktionen  Das Gehirn verbraucht am meisten Energie im Körper und entsprechend freut es sich über hochkalorische Kost wie Fett oder Zucker. Wenn wir etwas Süßes gegessen haben, schließen wir den Mund und ziehen die Mundwinkel leicht nach oben, um sicherzustellen, dass nichts verloren geht: Es ergibt sich die Süß-Reaktion in Form eines Lächelns. Analog reagieren wir auf abstrakte Inhalte: Gefällt uns, was wir sehen oder hören, zeigen wir es durch ein Lächeln. Fällt dieses nur schüchtern aus, trauen wir uns noch nicht so ganz und brauchen noch etwas Unterstützung.

10.2  Signale der Mimik

237

Ganz anders reagieren wir auf Saures. Am Beispiel der Zitrone wird es deutlich: Etwas Saures bringt eine konzentrierte Reizüberflutung mit sich, die einen erhöhten Verdauungsaufwand erfordert, dieser ist je nach Grad der Säure mehr oder weniger unangenehm. Wer sich an die Zitronenübung aus Kap. 3 erinnert oder sie nochmals durchführt, wird merken, wie sich alles im Mund zusammenzuziehen beginnt. Die Speichelbildung wird erhöht, um die Säure zu verdünnen, der Halsbereich spannt sich an, um die sensible Kost kontrollierter an den Magen weiterleiten zu können. Im Gespräch reagieren wir mit der Sauer-Reaktion, angespannter Halsmuskulatur und stärkerem Schlucken auf Informationen, die wir nur in kleinen Dosen konsumieren wollen. Zeigen sich diese Signale im Rahmen der Stellenbeschreibung, sollte man sich fragen, was dem Bewerber gerade zu viel ist und ob die Dosierung der Informationen angepasst werden kann. Gegebenenfalls kann gefragt werden, welche Punkte von seinen Erwartungen abweichen [35]. Durch die richtige Dosierung wird aus einer giftigen Substanz Medizin, die manchmal geschluckt werden muss, auch wenn sie nicht schmeckt. Der Körper geht dennoch in Alarmbereitschaft, um im Falle einer Überdosierung mit einer Abstoßreaktion zu antworten. Steht bei der Sauer-Reaktion noch die Reizüberflutung mit einem gewissen überraschenden Moment im Zentrum der Reaktion, hört bei der Bitter-Reaktion der Spaß auf. Sie zeigt sich, wenn uns etwas nicht schmeckt, wir aber, in der Regel aus sozialen Konventionen, gute Miene zum bösen Spiel machen müssen. Die Bitter-Reaktion geht einher mit nach hinten gezogenen Mundwinkeln und aufeinandergepressten Lippen: Der Organismus zieht sich zurück – er darf ja nichts sagen zu dem, was ihm nicht passt. Innerlich sind aber der Abstoßreaktion und Ekel der Weg gebahnt – sie werden aktiviert und die Kommunikation stören, sobald eine kritische Schwelle überschritten wird. Hinter der Bitter-Reaktion können sich auch Vorurteile, gravierende Wertdifferenzen oder eingeschränkte Handlungsmöglichkeiten des Gesprächspartners, ausgelöst durch die oben beschriebenen sozialen Konventionen oder eine Zwangslage, verbergen. Sie signalisiert, dass jemand eines Themas überdrüssig ist, beispielsweise Bill Clinton, der nach dem Lewinksy-Prozess eine ausgeprägte Bitter-Reaktion zeigte. Sie zeigt sich regelmäßig, wenn jemand überführt wurde und merkt, dass er einen Fehler gemacht hat, für den er jetzt die Verantwortung übernehmen muss. Das ist bitter und unangenehm, man hat eigentlich genug, muss die bittere Pille aber schlucken. Im Recruiting kann diese Reaktion bei Fragen zum Lebenslauf aufschlussreich sein, wenn sie frühere Wechsel kommentiert. Eine Steigerung der Bitter-Reaktion zeigt sich, wenn die Mundwinkel wie zum nach unten geformten U eingezogen und nach unten gezogen werden. Auch dieser Ausdruck ist durch das limbische System gesteuert und ein starker Indikator für Stress und Sorgen [36]. Wird das zu Erduldende zu etwas zu Ertragendem, entwickelt sich die Bitter-Reaktion weiter und die Zähne werden zusammengebissen. Verlust, zu dem auch enttäuschte Erwartungen gehören, löst emotionalen Schmerz aus und wird im Gehirn genauso verarbeitet wie körperlicher Schmerz [37]. Kontraktion reduziert die Signalübermittlung und die Ausbreitung von Schmerz. Die Anspannung der Kiefer-Muskulatur und das

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10  Mimik und Emotionen

Zähne-Zusammenbeißen stressen jedoch, und eine vollständige Verkrampfung führt schließlich auch in der Kommunikation zum Stillstand. Im weiteren Verlauf der Reaktion wird klar, dass es sich um einen zähen Brocken handelt, der mühsam aufbereitet werden muss, um verdaut werden zu können. Der Mund als erste Station des Verdauungssystems macht sich zähneknirschend an die Arbeit. Durch die Spannung ergibt sich nach einem zögerlichen Beginn eine gepresste und gestresste Stimme. Bricht der Stress sich Bahn, erhöht sich das Sprechtempo und bewirkt einen schnelleren Sprechrhythmus. Im Rahmen des Zähneknirschens auftretende Intentionsbewegungen wie ein leichtes Öffnen des Mundes, Zucken des Zeigefingers, Stocken des Atems oder tieferes Einatmen sollten nicht übergangen werden. Recruiter sollten an dieser Stelle ihre Ausführung unterbrechen und das Wort an den Bewerber übergeben. Wenn sie diese Reaktionen bemerken, sollten die Recruiter sich auf Widerspruch, Contra und kritische Rückfragen einstellen. Nach Molcho ist der verkniffene Mund ein Kennzeichen für Sturheit, Eigensinn und Misstrauen [38]. Es folgt der Schluckreflex: An einem zu großen Brocken, den wir nicht schlucken können, drohen wir zu ersticken, und so schießt Speichel in unseren Mund, um die schwere Kost zu zersetzen und verdaulicher zu machen. Diese Reaktion zeigt sich auch bei abstrakten Brocken, die schwer zu verdauen sind. Auch hier wird geschluckt und deutlich sichtbar der Kehlkopf nach oben und unten bewegt, gegebenenfalls nickt der Kopf leicht nach vorne, um den Rachen zu weiten. Wie schnell geschluckt wird, wie abrupt das Schlucken einsetzt und das Ausmaß der Bewegung dienen als Gradmesser für das Ausmaß der Überwindung und Integrationsarbeit, die der Gesprächspartner gerade verrichtet. Übernimmt er sich dabei und verschluckt sich, setzt ein Hustenreflex ein, der die Aufgabe hat, das Störende in einer komplexen Abwehrreaktion wieder loszuwerden. Danach ist der Organismus erst einmal perplex und muss sich neu sammeln: Diese Frage hatte der Bewerber so nicht erwartet. Eine ähnliche Abwehrreaktion kann sich in geblähten Wangen zeigen. Aufgeblasene Wangen machen sich bereit, die gesammelte Luft auszustoßen und damit auch das Thema, um das es geht. Der Bewerber will damit in Ruhe gelassen werden, es stellt sich natürlich die Frage, warum. Die Zunge  Vergleichbar mit einem Türsteher, empfängt die Zunge mit ihren sensiblen Geschmacksrezeptoren neu eintreffende Nahrung und entscheidet, ob diese erwünscht ist oder nicht. Was nicht passt, wird sofort wieder ausgestoßen. Wer ein Baby bei seiner Abwehr gegen das Füttern einer ungeliebten Speise beobachtet, kann sehen, wie die von Mama per Löffel in den Mund geschobene Nahrung mit der Zunge direkt wieder nach außen gedrückt wird. Die unbewusst kurz hervorblitzende Zunge schiebt auch noch im Erwachsenenalter abstrakte Inhalte weg, die wir nicht annehmen wollen. Dabei signalisieren Dauer und Weite der herausgeschobenen Zunge den Grad der Abneigung. Wird dieses Signal beobachtet, empfiehlt Molcho, das aktuelle Thema nicht unnötig zu verfolgen [39]. Da der Gesprächspartner bereits Stellung zum Thema genommen hat, ist es unnötig, weitere Energie zu verlieren. Stattdessen sollten Alternativen besprochen oder

10.2  Signale der Mimik

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versucht werden, seine Erwartungen zu erfahren, um ihn stärker in das Gespräch einbinden zu können. Die Art und Weise, mit der die Zunge wieder eingezogen wird, liefert weitere Informationen. Kurz und unbewusst oder sorgsam und langsam, mit intensivem Kontakt zur Unterseite der Oberlippe? Während im ersten Fall die Ablehnung eher unbewusst und intuitiv erfolgt, ist sowohl der selbstberuhigende als auch der reinigende Effekt im zweiten Fall stärker und die Ablehnung findet eventuell schon vorbewusst oder bewusst wertend statt: Es wird sorgsam darauf geachtet, vom eben Weggedrückten alle eventuellen Reste draußen zu lassen. Zu unterscheiden vom kurzen Wegstoßen und Wegschieben ist das Lecken der Lippen. Geschieht dieses genüsslich und mit der Zungenspitze von einer Seite zur anderen, am oberen äußeren Rand der Oberlippe bis hin zu den Mundwinkeln, ist es ein Wohlfühl-Signal: Die Zunge versucht, auch noch die letzten Moleküle der begehrten Nahrung für den Organismus zu gewinnen. Wird in dieser Art nach einem Angebot über die Lippen geleckt, stellt dies ein klares Kaufsignal dar [40]. Ein Beruhigungs-Signal, um Stress abzubauen, zeigt dagegen, wer nicht mit der Zungenspitze, sondern dem dahinter liegenden Teil des vorderen Zungendrittels und eher angespannt über die Unterseite der leicht eingerollten Oberlippe fährt. Der Versuch, mehr Informationen zu gewinnen, zeigt sich regelmäßig, wenn etwas uns leicht verunsichert oder leicht irritiert hat. Durch den taktilen Reiz beruhigt sich der Organismus wieder und versucht gleichzeitig unbewusst, aus der Situation schlau zu werden. Davon abzugrenzen ist das Befeuchten der Lippen eines Redners, der sich kurz mit der Zunge über die entspannten Lippen fährt, im Anschluss daran schließen sich diese geschwind und verteilen die Feuchtigkeit gleichmäßig. Auch dieses Signal ist jedoch stressbedingt, da Stress den trockenen Mund verursacht hat [41]. Die zögerliche, langsam über die Unterlippe fahrende Zunge zeigt sich dagegen regelmäßig, wenn wir uns nachdenklich, grübelnd oder prüfend mit einer Thematik beschäftigen. Ebenso lässt die an die Oberlippe gelegte Zunge auf starke Konzentration schließen. Bleibt die Zunge dagegen im Mund und fährt über die Innenseiten der Wangen, hat das eine beruhigende Wirkung, das Gegenüber empfindet Unbehagen, das es damit zu lindern versucht [42]. Die hervorblitzende Zungenspitze, die zwischen den Zähnen von diesen festgehalten wird, zeigt sich regelmäßig, wenn der Gesprächspartner froh ist, dass eine kritische Situation noch mal gut gegangen ist, obwohl die Chancen schlecht standen. Das kann auch bedeuten, dass er froh ist, mit einer Flunkerei oder Lüge durchgekommen zu sein [43]. Er zeigt auf spielerische Weise an, dass er noch mal Glück gehabt hat und sich jetzt besser auf die Zunge beißt, um diese daran zu hindern aufzuklären, was alles hätte passieren können oder wie er sich korrekterweise hätte verhalten sollen. Dieses Signal begleitet meistens kleinere Vorfälle und geht mit einem kokettierenden Lächeln einher, das versucht, über das Geständnis auf der nonverbalen Ebene Verständnis und Akzeptanz für das unmoralische Verhalten zu erhalten. Meist zeigt es sich, wenn über eine vergangene Situation erzählt wurde und der Übervorteilte nicht anwesend ist. Ein für dieses Signal

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10  Mimik und Emotionen

passender Rahmen kann beispielsweise durch die Aufforderung an den Bewerber geschaffen werden, von besonderen Erfahrungen und früheren Erfolgen zu berichten. Die hervorblitzende, festgehaltene Zunge begleitet und kommentiert oftmals den Abschluss eines Handels: Zeigt sie sich im Rahmen der Gehaltsverhandlung, ist der Bewerber mit dem Ergebnis mehr als zufrieden und beißt sich lieber auf die Zunge, um dieses nicht zu gefährden. Gegebenenfalls kann geprüft werden, ob die Angabe des letzten Gehalts wirklich der Wahrheit entsprochen hat. Kinn  Wird der Kinnbuckel angehoben, ergibt sich der typische Schmollmund, mit denen schon kleine Kinder spielend etwaige Verbote ihrer Eltern in Zugeständnisse verwandeln. Seinen Ursprung hat er im nach oben geschobenen Kinnbuckel, der Trauer und Verlust signalisiert. Entsprechend tief verankert ist unser Reflex, helfen zu wollen. Trauer kann auch entstehen, weil ein angestrebtes Ziel abgeschrieben oder eine Hoffnung begraben werden muss. Je nach begleitender Mimik kann der Schmollmund auch anzeigen, dass das Gegenüber beleidigt oder nachdenklich ist. Werden die Mundwinkel stärker herabgezogen, ist der gehobene Kinnbuckel dagegen kein Zeichen für Trauer, sondern ein Emblem, das dem mimischen Äquivalent des Schulterzuckens entspricht [44]. Zeigt es sich beim Zuhörer, signalisiert es Ungläubigkeit und Ablehnung.

10.3 Emotionen Es ist schwerer, Gefühle, die man hat, zu verbergen, als solche, die man nicht hat, zu heucheln (François de la Rochefoucauld).

Empfindungen, Gefühle, Emotionen und Stimmungen Die Begriffe Empfindung, Gefühl, Emotion und Stimmung werden im alltäglichen Sprachgebrauch oft synonym verwendet, unterscheiden sich jedoch hinsichtlich des Grades ihrer Bewusstheit, Intensität und Wirkung auf das Gespräch. Wir sind fühlende Wesen, aber glücklicherweise nur selten emotional. Das viszerale System unseres Körpers sendet ständig über die afferenten Nervenbahnen seine Empfindungen über den aktuellen Istzustand zum Gehirn, das diesen mit dem Sollzustand abgleicht und gegebenenfalls Anpassungen vornimmt, um den Organismus im Gleichgewicht zu halten [45]. Interessanterweise bilden diese unbewussten Empfindungen, die Antonio Damasio als somatische Marker bezeichnet, auch die Grundlage unserer Entscheidungen [46]. Während Empfindungen unterhalb der Wahrnehmungsschwelle bleiben, solange der Organismus sich mit ihrer Hilfe erfolgreich selbstorganisiert und im Gleichgewicht hält, steigen sie ins Bewusstsein, sobald das nicht mehr gelingt. Aus den gesammelten Empfindungen wird ein Gefühl. Gefühle sind untrennbare, ganzheitliche Ausdrücke, die der Fühlende bewusst wahrnimmt [47]. Dadurch sind sie real, ihre Existenz manifestiert sich

10.3 Emotionen

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allein dadurch, dass der Fühlende sie fühlt. Entsprechend sinnlos ist es, mit jemandem darüber zu diskutieren, ob sein Gefühl gerechtfertigt ist oder nicht. Im Gegenteil, wir sind fühlende Wesen, die Qualität unserer individuellen Gefühle wird neben dem aktuellen Umfeld durch unsere genetischen Wurzeln, Persönlichkeit, Geschichte und aktuelle Verfassung bedingt. So kann es durchaus geschehen, dass wir das Gefühl eines Mitmenschen nicht verstehen oder nachvollziehen können. Aber zu respektieren haben wir es und akzeptieren müssen wir es ohnehin. Bewirkt ein spezifisches Umfeld und die mit ihm verbundenen Verhaltensmöglichkeiten, dass sich ein Gefühl über einen längeren Zeitraum verfestigt, wird es schließlich zur Stimmung. Das kann positiv wie negativ geschehen, das Feld wirkt auf das einzelne Element: Entsprechen die dort vorherrschenden Parameter in Bezug auf die Dimensionen Balance, Stimulanz und Dominanz [48] unseren tieferen Bedürfnissen, wirken sie beflügelnd. Tun sie es nicht, entfremden sie uns von unserem unbewussten Selbst und verstimmen uns. Eine Stimmung richtet unsere Wahrnehmung und unsere Veranlagung zu einem spezifischen Verhalten auf die mit ihr verbundene Emotionsfamilie aus. In gereizter Stimmung reagieren wir viel rascher mit der Emotion Ärger, während wir in besorgter Stimmung auf Angst eingestellt sind. Werden dringende Gefühle nicht wahrgenommen, mobilisiert der Organismus zusätzliche Energie, um ihnen Geltung zu verschaffen und das damit verbundene Bedürfnis zu befriedigen. Es entsteht Stress und schließlich wird ein biologisches Notfallprogramm in Form einer Emotion angestoßen, um die Situation zu bewältigen [49]. Während Emotionen kurz auftreten, im Bereich von Millisekunden bis hin zu einigen Sekunden, können Stimmungen über Stunden oder gar Tage hinweg vorherrschen. Akute Emotionen neigen dazu, sich zu verselbstständigen, und stehen einem sachlichen Austausch und dem unkomplizierten Erreichen des Gesprächsziels entgegen. Eine Emotion, deren Bedürfnis erkannt wird, kann innerhalb von Sekunden abklingen, schwingt aber noch für einige Momente in der Refraktärphase nach. Im Gespräch kann der Recruiter die Empfindungen des Bewerbers durch die kleinen Korrekturen erkennen, die dessen Körper unbewusst und automatisch vornimmt, um im Gleichgewicht zu bleiben. Wird auf diese reagiert, bevor sie sich verstärken, wird der Entstehung von Störungen vorgebeugt und ein Gesprächsklima geschaffen, das auf der Ebene der somatischen Marker die Entscheidung des Bewerbers zugunsten des Betriebs beeinflusst. Refraktärphase Emotionen entstehen also, wenn keine Verhaltensoptionen oder Ressourcen zur Verfügung stehen, um eine Situation erfolgreich zu bewältigen. Wenn die Emotion kommt, geht der Verstand: Das Gehirn, aktuell mit seinem Latein am Ende, reagiert mit der in Kap. 3 beschriebenen Regression. Es reduziert die Versorgung des Präfrontalen Cortex, mit dem wir sonst denken sowie unsere verbale Kommunikation kontrollieren und fällt auf die älteren, stabileren Verschaltungen und Repräsentationen des limbischen Systems zurück. Eine der sieben Primäremotionen soll nun als biologisches Notfallprogramm die

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10  Mimik und Emotionen

erhoffte Lösung bringen. Währenddessen treten wir in die sogenannte Refraktärphase ein [50]. Diese lässt sich als emotionaler Kommunikationskanal oder Filter beschreiben, der nur mit jenen Kommunikationsmustern in Resonanz gehen kann, die seiner emotionalen Qualität entsprechen. Grundsätzlich gilt, dass es keine unberechtigte Emotion gibt, sie hat allein durch ihren subjektiven Charakter und die Würde des Individuums ihre Existenzberechtigung. Sie kann im Rahmen der vorherrschenden sozialen Konstellation durchaus deplatziert wirken oder für die Gesprächspartner unangenehm sein, drückt dabei jedoch auf systemischer Ebene eine tiefer liegende Störung aus: Der Emotionale in seiner Rolle als Symptomträger zeigt, dass gerade etwas Grundlegendes nicht stimmt. Eine Emotion verlangt zunächst und grundsätzlich nach Anerkennung: Eine passende Gefühlsaussage akzeptiert dieses Bedürfnis und versucht, dabei sowohl die Emotionsfamilie als auch den Grad ihres Ausmaßes zu treffen. Gelingt dies, erreicht sie die emotionalen Zentren des Gesprächspartners und geht mit diesen, wie ein passender Schlüssel, in Resonanz. Der Gesprächspartner spürt, dass sein Programm erfolgreich ist, kann einen Schritt aus der Emotion heraustreten und wieder auf die Ressourcen des Neo-Cortex zugreifen. Die Kommunikation gelangt wieder in ruhigere Regionen. Nach Ekman [51] beeinflussen sechs Faktoren das Auslösen einer Emotion und die Länge der Refraktärphase 1. Die Nähe zum in der Evolution entwickelten Thema 2. Die Ähnlichkeit der Merkmale des aktuellen Ereignisses zu jener der ursprünglichen Situation, in der der Auslöser erlernt wurde 3. Der Zeitpunkt im Leben, zu dem der Auslöser erlernt wurde: je früher, desto gravierender die Auswirkung 4. Der ursprüngliche emotionale Gehalt: Je stärker die Emotionen waren, die beim Erlernen des Auslösers erfahren wurden, desto schwerer ist es, dessen Einfluss abzuschwächen. 5. Die Dichte der Erfahrungen durch deren wiederholtes Eintreten 6. Der affektive Typ der betroffenen Person Aus diesen sechs Faktoren ergeben sich vier unterschiedliche Varianten einer emotionalen Reaktion, die sich durch die Spontaneität auszeichnet, mit der sie auftritt, die Stärke und Dauer, mit der sie sich zeigt, und die Zeitspanne, bis sie abklingt.

Emotionen eskalieren nicht, wenn sie wahrgenommen und anerkannt werden. Sie ernst zu nehmen ist der erste Schritt, um Spannungen zu lösen. Die Kunst gelungener Deeskalation liegt im passgenauen Treffen der vorherrschenden Emotion. Dabei muss die Grundemotion getroffen und ein Ausdruck gefunden werden, der den Intensitäts-Grad ihres Auftretens wiedergibt. Verschiedene Therapeuten, Coaches und Anbieter des NLP haben zur Übung und Unterstützung der empathischen Kommunikation Gefühlsräder entwickelt, in denen die einzelnen Emotionen und Gefühlslagen in graduellen Abstufungen und Intensitäten dargestellt sind. Mit diesen zu üben oder sie bei Konfliktgesprächen zur Hand zu haben, erleichtert nicht nur das Verständnis für den Gesprächspartner und die Entwicklung von

10.4  Die sieben universellen Emotionen

243

Tab. 10.1  Die sieben universellen Emotionen in fünf aufsteigenden Intensitätsgraden Basisemotion

schwache Intensität

leichte ­Intensität

mittlere Intensität

starke ­Intensität

sehr starke Intensität

Ekel

Übersättigt

Widerwillig

Abstoßend

Angeekelt

Angewidert

Verachtung

Überlegen

Hochmütig

Spöttisch

Herablassend

Verhöhnend

Überraschung

Erstaunt

Verblüfft

Baff

Perplex

Sprachlos

Angst

Unsicher

Besorgt

Bange

Verängstigt

Panisch

Wut

Frustriert

Sauer

Entrüstet

Aufgebracht

Wütend

Trauer

Bedrückt

Betroffen

Enttäuscht

Resigniert

Verzweifelt

Empathie, sondern sensibilisiert gleichzeitig das Bewusstsein über die eigenen Emotionen. Die Tab. 10.1 zeigt einen Auszug aus dem Gefühlsrad von Eilert [52] für die sieben Basisemotionen in fünf aufsteigenden Intensitätsgraden.

10.4 Die sieben universellen Emotionen Die von Paul Ekman [53] gefundenen sieben Basisemotionen Überraschung, Angst, Freude, Ekel, Verachtung, Trauer und Wut sind universelle, biologische Emotionen, das heißt, sie sind angeboren, drücken sich unabhängig von unserem kulturellen Hintergrund bei allen Menschen auf die gleiche Art und Weise aus und sind mit einem allen Menschen gemeinsamen subjektiven Erleben verbunden. Sie signalisieren zuverlässig, durch welche Trigger sie ausgelöst wurden, welche biologischen Treiber ihnen zugrunde liegen und welche Strategie der Organismus durch ihren Ausdruck verfolgt. Diese Eigenschaften ermöglichen eine eindeutige Zuordnung und Interpretation. Sie bewusst zu erkennen, verbessert das Verständnis des subjektiven Erlebens unserer Gesprächspartner und die eigene kommunikative Kompetenz. Wie in Kap. 3 beschrieben, verbessert sich unsere Kompetenz, mimische Ausdrücke bei anderen wahrzunehmen, wenn wir die Beweglichkeit der eigenen Mimik erhöhen. Umgekehrt gilt das Gleiche: Durch das Facial Feedback verlieren wir in dem Maß, mit dem wir die Beweglichkeit unserer Mimik verlieren, auch die Fähigkeit, Empfindungen und Gefühle wahrzunehmen. Das geht so weit, dass depressiven Menschen Botox gespritzt wird und die Blockierung jener Muskeln, die die mit den Depressionen verbundene Trauer-Mimik auslösen, deren depressive Leiden lindert [54]. Unabhängig von der Beweglichkeit der eigenen Mimik, erkennen wir Bekanntes leichter und schneller: Je intensiver wir die mimischen Ausdrücke der einzelnen Emotionen also selbst ausgedrückt und erlebt haben, desto besser können wir sie auch bei anderen erfassen. Die sieben universellen Emotionen lassen sich in einfache und komplexe Emotionsausdrücke unterscheiden. Das Unterscheidungskriterium bildet, ob sich die zu ihrer Bestimmung notwendigen Signale in einem oder mehreren der in Abschn. 10.2 beschriebenen Bereiche des Gesichts zeigen. Bei den einfachen Emotionsausdrücken

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10  Mimik und Emotionen

Freude, Ekel und Verachtung treten eindeutige Signale der Emotion nur in einem Gesichtsbereich auf. Am Beispiel der Freude wird ersichtlich, dass es dabei auf die nicht willentlich manipulierbaren Ausdrücke der Mimik bzw. jene Signale, die zuverlässig mit der Emotion einhergehen, ankommt. Zwar zeigt sich ein Lächeln ebenfalls an hochgezogenen Wangen, doch die Bewegung der willentlich nicht manipulierbaren Augendeckfalte zeigt an, ob es sich um eine natürliche oder eine vorgetäuschte Emotion handelt. Umgekehrt kann jemand durchaus versuchen, sich ein Lächeln zu verkneifen, indem er den Kiefer anspannt, wer einen genauen Blick auf die Augen wirft, erkennt jedoch die unterdrückte Emotion. Komplexe Emotionsausdrücke zeigen sich bei den Emotionen Angst, Überraschung, Ärger und Trauer. Ihre zuverlässigen Signale treten in mehreren Bereichen des Gesichts auf und erfordern eine höhere Wahrnehmungskompetenz. Konzentrieren wir uns zu stark auf einen einzelnen Bereich des Gesichts, können uns Signale der anderen beiden Bereiche entgehen. So kann im Extremfall eine Emotion oder Mikroexpression komplett übersehen werden, wenn beispielsweise auf den Mund geachtet wird und dadurch eine zuverlässige Augenbrauenbewegung übersehen wird. Das in Kap. 2 beschriebene defokussierte Beobachten erleichtert es, das gesamte Gesicht des Gesprächspartners besser im Blick zu behalten und die Bewegungen aus den verschiedenen Gesichtsbereichen wahrzunehmen. Vertiefen wir zunächst die einfachen Emotionen und betrachten wir, welches universale psychologische Thema ihnen zugrunde liegt, welche Funktion sie einnehmen und wie sie sich ausdrücken. Dabei werden stets die Vollexpressionen beschrieben, welche sich zeigen, wenn der emotionale Ausdruck ungehemmt und in seiner ganzen Ausprägung gezeigt wird. Bei schwächer ausgeprägten Gefühlen können sich durchaus nur einzelne Elemente des Ausdrucks zeigen. Freude Wir empfinden Freude, wenn wir ein Ziel erreicht haben, sich unsere Erwartungen oder Wünsche erfüllt haben oder ein Bedürfnis befriedigt wurde. Dabei zeigen wir unsere Zufriedenheit sowie Dankbarkeit und ermutigen unsere Mitmenschen, ihr Verhalten, das zu unserer Freude geführt hat, zukünftig zu wiederholen. Freude zeigt sich durch nach oben gezogene Mundwinkel und stark angehobene Wangen, doch diese Signale können auch willentlich, im Rahmen eines sozialen Lächelns, erzeugt werden. Den Augenringmuskel können dagegen nur 10 % der Menschen willentlich so aktivieren, dass die Augen mitlächeln und die typischen Lachfalten entstehen [55]. Diese können jedoch auch durch die starke Aktivierung des Jochbeinmuskels aktiviert werden [56]. Das einzig wirklich zuverlässige mimische Merkmal für empfundene Freude zeigt sich von daher im Absenken der Augendeckfalte und in einzelnen Fällen zusätzlich im Absenken der Augenbrauen-Außenseiten [56] (Abb. 10.1). Auf der körperlichen Ebene beschleunigt sich bei Freude unser Atem, die gestischen Illustratoren und Hin-zu-Bewegungen treten vermehrt auf. Die Bewegungen werden lebhafter, wir entspannen und öffnen uns, Falten auf der Stirn verschwinden und die Lippen gewinnen an Volumen. Die positive Erregung versetzt die Stimmbänder in Schwingung,

10.4  Die sieben universellen Emotionen

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Abb. 10.1   Freude

paraverbal zeigt sich Freude durch eine lautere Stimme, eine höhere Stimmlage und eine beschleunigte Sprechgeschwindigkeit. Im Bewerbungsgespräch stellt die subtile oder offen ausgedrückte Freude des Bewerbers natürlich ein positives Signal dar, das zeigt, dass er sich entspannt, öffnet und Vertrauen gewinnt. Ekel Das biologische Ur-Thema, das Ekel zugrunde liegt, sind Verunreinigung, der Kontakt mit etwas als abstoßend oder unrein Empfundenem oder die Vorstellung, dieses oral aufnehmen zu müssen. Dabei ist es weitestgehend subjektiv, was wir als ekelerregend empfinden. Paul Rozin [57] unterscheidet Ekel in vier Kategorien, welche wir während unserer Sozialisierung lernen: Neben dem Fremden sind das Kranke, das Unglückliche und das moralisch Verwerfliche Varianten des Ur-Themas, die Ekel hervorrufen. John Gottmann, Erica Woodin und Robert Levenson beschreiben Überdruss als weiteren Auslöser [58]. Die Ekel-Reaktion zielt darauf ab, das ekelerregende Objekt abzustoßen oder zu vernichten und dadurch sicherzustellen, dass es zukünftig keine Gefahr mehr für uns darstellt [59]. Das mag radikal klingen, verdeutlicht jedoch den hohen Grad an empfundener

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10  Mimik und Emotionen

Bedrohung, der nötig ist, damit wir uns ekeln. Zeigt sich Ekel beim Bewerber, stößt ihn das eben Gehörte, Gesehene, Gedachte oder Erinnerte stark ab. Ekel geht einher mit einem Würgereiz der Kehle und einer Erhöhung der Empfindlichkeit der Oberlippe und der Nase. Durch die sowohl biologischen als auch kulturell erlernten möglichen Trigger drückt sich Ekel auf zweierlei Arten aus: einerseits durch das Rümpfen der Nase, um durch die Kontraktion die Reizübermittlung zu reduzieren. Dabei senken sich Augenbrauen und oberes Augenlid, während sich unter dem Auge Falten bilden und in den Augenwinkeln Krähenfüße bilden können. Die obere Lippe wird hochgezogen, teilweise folgt die untere Lippe, dazu bildet sich eine Falte zwischen den geblähten Nasenflügeln und den Mundwinkeln. Dieser Ausdruck von Ekel ist in der Regel durch die gerümpfte Nase deutlich erkennbar und zeigt sich überwiegend bei körperlich ausgelöstem Ekel, der sich bildet, wenn wir etwas Verdorbenes essen oder etwas Ekliges riechen [59] (Abb. 10.2). Wurde der Ekel dahingegen durch einen sozialen Auslöser wie das abstoßende Verhalten einer anderen Person ausgelöst, hemmen wir als soziale Wesen den vollen Ausdruck und zeigen ihn lediglich durch das Anheben der Oberlippe, gegebenenfalls, aber nicht zwingend heben wir auch die Unterlippe an, auch die Wangen heben sich leicht. Im Recruiting kann sich beim Bewerber dieser Ausdruck von Ekel im Rahmen von

Abb. 10.2   Ekel

10.4  Die sieben universellen Emotionen

247

Stressfragen oder unerlaubten Fragen zeigen, die er als abstoßend oder unfair empfindet. Zeigt sich Ekel bei der Beschreibung einzelner Inhalte der zu besetzenden Position oder beim gemeinsamen Rundgang durch den Betrieb, stellt er natürlich eine klare Störung dar, die geklärt werden sollte. Aufschlussreich ist gezeigter Ekel auch in Bezug auf die Wechselmotivation oder die Frage nach kritischen Erlebnissen am früheren Arbeitsplatz. Körpersprachlich wird Ekel durch Weg-von- und schließendes Verhalten begleitet. Steigen Spannung und Abneigung, steigt mit ihnen der Stress: Selbstberührungen, Adaptoren und Illustratoren nehmen zu, schließlich schüttelt es uns infolge der starken Ablehnung. Auf der paraverbalen Ebene kann sich Ekel in tieferer Stimmlage, geringerer Lautstärke und langsamerer Sprechgeschwindigkeit äußern und mit Abscheu-Geräuschen einhergehen. 

Im Rahmen von Paarstudien ließen sich erstaunlich genaue Prognosen über die Zeit erstellen, die beide Partner in den nächsten vier Jahren getrennt verbrachten, wenn die Ehefrauen mit Ekel- oder Überdruss-Signalen auf ihre Männer reagierten [60]. Wenn wir die Beobachtungen auf das Berufsleben übertragen, können jene Bewerber, die leichter dazu neigen, einer Sache überdrüssig zu werden und angeekelt zu reagieren, stärker zu inneren Kündigungen neigen und sich schneller nach einer neuen Stelle umsehen, wenn die Dinge einmal nicht so laufen, wie erwünscht und ihre Führungskraft es in kritischen Phasen an Empathie oder der nötigen Aufmerksamkeit mangeln lässt. Die Reaktionen der Frauen zeigten sich, wenn sie sich emotional vernachlässigt fühlten. Im Interview könnte dem Bewerber eine Situation beschrieben werden, in der eine Führungskraft seine Leistung wiederholt nicht anerkennt oder seine Bedürfnisse nicht berücksichtigt. Dass das Verhalten der Führungskräfte die Reaktion der Mitarbeiter erheblich beeinflusst, stellt bei deren Rekrutierung eine andere Herausforderung dar, die nachfolgend bei der Beschreibung von Verachtung vertieft wird.

 Tipp Unser Gehirn verarbeitet Preisinformationen im Schmerz-/Ekelzentrum [61]. Da das Gehalt den Preis für unsere entgangene Freizeit darstellt, gewährt die Unterscheidung zwischen Ekel- und Schmerzsignalen in der Gehaltsverhandlung Einsichten über den Verhandlungsspielraum des Bewerbers. Während Ekel anzeigt, dass das Angebot als abstoßend empfunden und abgelehnt wird, stellt Schmerz prinzipiell ein Interesse-Signal dar: Die sich abzeichnende Einigung ist zwar nicht angenehm, aber das Interesse an einer Übereinkunft vorhanden – weiter sollte es aber nicht gehen, die Schmerzgrenze ist erreicht und darüber hinaus kann es dann doch eklig werden. Da der empfundene Ekel im Rahmen der Gehaltsverhandlung nicht durch körperliche Reize ausgelöst wird, drückt er sich verstärkt durch das zweite Ekel-Signal, die gehobene Oberlippe, aus. Dagegen zeigt sich Schmerz durch

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10  Mimik und Emotionen

zusammengezogene Augenbrauen, geschlossene Augen und Blinzeln, wir blenden das Unerwünschte aus. Im mittleren Gesichtsbereich rümpfen wir die Nase und spannen die unteren Augenlider an, durch die Anspannung des äußeren Augenringmuskels heben sich die Wangen. Im unteren Gesichtsbereich zeigt sich Schmerz durch eine hochgezogene Oberlippe und seitlich auseinandergezogene Mundwinkel. Letztere zeigen den Einfluss der Angst-Mimik, die sich, wie später beschrieben, bei drohendem Schmerz zeigt. Auseinandergezogene Mundwinkel treten bei einer normalen Ekel-Reaktion nicht auf, die gerümpfte Nase zeigt sich kaum bei empfundenem Ekel, den wir gegenüber abstrakten Ekelauslösern empfinden. Von daher ermöglichen diese beiden Signale (Action Unit 9 und 20) eine zuverlässige Unterscheidung von Schmerz und Ekel [62].

Verachtung Verachtung ist mit Ekel eng verwandt, im Unterschied zu Ekel, bei dem man sich horizontal distanziert, findet bei Verachtung jedoch eine vertikale Distanzierung durch einen abwertenden Vergleich statt. Während Ekel auch gegenüber Geschmack, Gerüchen oder Berührungen empfunden wird, richtet sich Verachtung ausschließlich gegen das Verhalten unserer Mitmenschen [63]. Wir drücken Verachtung aus, um die eigene Überlegenheit gegenüber anderen Gruppenmitgliedern zu wahren und um deren Handlungen oder Leistungen wertend zu kommentieren. Die Ursache für Verachtung ist eine unmoralische Handlung oder eine mangelhafte Leistung [64], und wie bei Ekel ist das, was wir verachten, soziokulturell geprägt. Verachtung zeigt sich als einzige Emotion nur einseitig und drückt sich durch einen angespannten und leicht hochgezogenen bzw. nach innen gepressten Mundwinkel aus. Die Augen bleiben neutral und der Blick kann unpersönlich, kalt und distanziert wirken. Beim oben beschriebenen, zweiten Ekelsignal (Anheben der Oberlippe) weist ein asymmetrisches, einseitiges Anheben der Oberlippe auf mögliche Verachtung als zusätzliche dahinterliegende Emotion hin (Abb. 10.3).  Tipp Das Erkennen und Abgrenzen von Verachtung gegenüber anderen Emotionen könnte für die nachhaltige Organisationsentwicklung besonders bedeutsam werden. In Paartherapien zeigte sich, dass Frauen, deren Männer Verachtung offen zeigten, der Ansicht waren, dass ihre Probleme schwerwiegend und nicht zu lösen seien. Sie fühlten sich überfordert und erkrankten in den nächsten vier Jahren häufig [65]. Wird eine Führungskraft rekrutiert, die zu verächtlichem Verhalten neigt, könnten sich vergleichbare Wirkungen bei ihren Mitarbeitern ergeben. Da Ekel, Ärger bzw. hervorgebrachter Zorn diese Folgen nicht nach sich zogen, gewinnt die Antwort und Reaktion einer einzustellenden Führungskraft auf eine Frage, bei der deren Umgang mit mangelhaften Leistungen und unmoralischen Vorgehensweisen ihrer Mitarbeiter hinterfragt wird, an kritischer Bedeutung. Reagiert sie verächtlich,

10.4  Die sieben universellen Emotionen

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Abb. 10.3   Verachtung

besteht ein höheres Risiko als bei anderen Reaktionen, dass ihre zukünftigen Mitarbeiter demotiviert, mit höheren Krankenständen und innerlich oder tatsächlichen Kündigungen reagieren werden. Im Unterschied zu Ekel, der eine eindeutige negative Emotion ist, die mit einem sehr weiten Intensitätsspektrum empfunden werden kann, schätzt Ekman Verachtung nicht sicher als negative Emotion ein, sondern glaubt, dass es den meisten Menschen sogar angenehm ist, Verachtung zu empfinden, auch wenn sie sich später vielleicht dafür schämen [66]. Entsprechend einfach dürfte es sein, eine entsprechende Sequenz in das Gespräch zu integrieren, um die diesbezügliche Veranlagung des Bewerbers auszuloten.

Körpersprachlich kann eine verächtliche Mimik durch ein gehobenes Kinn begleitet werden, dabei heben sich ebenso die Wangen und die Augen schauen auf den anderen hinunter, zusätzlich können sich geblähte Nasenflügel zeigen und der Kopf subtil geneigt werden. Nun wird es komplexer: Nach den einfachen Emotionsausdrücken zeigen sich die zuverlässigen Signale der vier restlichen universellen Emotionen Überraschung, Angst, Trauer und Wut in mehreren Bereichen des Gesichts.

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10  Mimik und Emotionen

Überraschung Überraschung tritt auf, wenn uns etwas Unerwartetes plötzlich begegnet [67]. Das Unerwartete kann eine konkrete Sache oder Person sein, aber auch eine abstrakte Information oder eine Erkenntnis. Im überraschten Zustand versucht der Organismus, die Orientierung zurückzugewinnen und mehr Informationen zu erhalten, um die Situation und die potenziellen Möglichkeiten besser abzuschätzen. Überraschung grenzt sich von anderen Emotionen durch ihre Kürze aus, sie dauert nach Ekman [68] höchstens ein paar Sekunden, nach Eilert [69] maximal eine Sekunde und hört auf, sobald wir die Situation etwas genauer einschätzen zu können. Überraschung stellt eine neutrale Durchgangsemotion dar, der meist Angst, Wut oder Freude folgen, die aber auch andere Emotionen nach sich ziehen kann, oder gar keine Reaktion, wenn wir zu dem Schluss kommen, dass das überraschende Ereignis folgenlos bleibt [68]. Bei Überraschung öffnen wir unsere Aufnahmekanäle, um zusätzliche Informationen zu gewinnen: Die Augenbrauen heben sich, die Augen werden größer und weiten sich, ebenso die Pupillen. Durch das Heben der Augenbrauen bilden sich Querfalten auf der Stirn. Im unteren Gesichtsbereich wird der Mund geöffnet und das Kinn fällt nach unten (Abb. 10.4).

Abb. 10.4   Überraschung

10.4  Die sieben universellen Emotionen

251

Da jede ihrer Muskelbewegungen willentlich ausgelöst werden kann, gibt es bei Überraschung zwar keinen zuverlässigen, unwillkürlichen Ausdruck, dafür verraten sich Gesprächspartner, die Überraschung vortäuschen, oftmals durch die Dauer, mit der sie versuchen, überrascht zu wirken. Dauert diese länger als eine Sekunde an, verrät sie die vorgespielte Emotion. Körpersprachlich wird Überraschung durch kurzes und intensives Einatmen begleitet, paraverbal gibt es kaum eindeutige Ergebnisse. Wenn wir überrascht sind, sammeln wir in dieser kurzen Zeit eher Informationen, als diese zu senden. Tendenziell wird jedoch danach die Stimme höher und die Sprechgeschwindigkeit kann sich beschleunigen. Da Überraschung eine sehr kurze und neutrale Emotion darstellt, reicht es, sie wahrzunehmen und darauf zu achten, welche Emotion ihr folgt. Gegebenenfalls kann sie hinterfragt werden oder dem Bewerber bei der Orientierung geholfen werden. Kritisch wird Überraschung im Recruiting, wenn sie in Situationen auftritt, in denen der Bewerber eigentlich nicht überrascht werden sollte. Angst Das Grundthema bei Angst ist drohender Schaden. Dieser kann physischer Natur sein, aber auch in einer Bedrohung des Egos oder der psychischen Integrität bestehen. Im Kern löst nicht der Schaden selbst Angst aus, sondern die mit ihm verbundenen drohenden Schmerzen. Ziel der Angst ist, unser soziales Umfeld durch den Ausdruck der empfundenen Bedrohung zu aktivieren, um diese gemeinsam abzuwenden oder durch die Kontraktion der Muskeln den Schmerz im Falle eines nicht zu verhindernden Schadens zu minimieren. Bei Angst bereitet sich unser Körper vor, um sich zu verstecken oder zu fliehen. Dem ersten Erkennen der Situation folgt ein kurzes Erstarren. Der lähmende Aspekt der Angst verschwindet mit dem Handeln und unseren Möglichkeiten, aktiv Einfluss zu nehmen [70]. Hilft das Erstarren nicht, um die Gefahr an uns vorbeiziehen zu lassen, stellt Flucht die nächste Option dar. Ist auch diese nicht möglich, geht Angst in Ärger über und es folgt die Vorbereitung zum Kampf, um die Bedrohung, notfalls mit Gewalt, abzuwenden. Angst drückt sich durch weit geöffnete Augen mit weit nach oben gezogenen Augenlidern und angespannten Unterlidern aus, der Blick ist geradeaus gerichtet. Ebenfalls heben sich die Augenbrauen und ziehen sich zusätzlich zusammen. Durch das Zusammenziehen der Brauen bilden sich Falten, hauptsächlich im Zentrum der Stirn. Der Kiefer wird fallen gelassen, der Mund steht offen und die Lippen spannen sich horizontal, in Richtung der Ohren, an (Abb. 10.5). Nonverbal reagieren wir mit einem tieferen und schnelleren Atem, gegebenenfalls beginnen wir zu schwitzen. Das Herz fängt heftig an zu klopfen, was sich an der pulsierenden Halsschlagader zeigen kann. Durch ein spontanes Zurückweichen des Kopfes oder Körpers wird intuitiv versucht, Distanz zur Gefahrenquelle herzustellen. Ein kurzes Erstarren geht mit einer erhöhten Anspannung der Muskeln einher. Gegebenenfalls zeigen sich Erblassen und weißer werdende Hände, da das Blut von der Peripherie des Körpers abgezogen wird, um im Falle eines Schadens nicht zu viel davon zu verlieren und das Körperzentrum versorgen und schützen zu können. Darüber hinaus zeigen sich

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10  Mimik und Emotionen

Abb. 10.5   Angst

kontrahierende Bewegungen der Beugemuskulatur [71]. Paraverbal drückt sich Angst durch eine höhere Stimmlage und eine Beschleunigung der Sprechgeschwindigkeit aus. 

Angst von Überraschung unterscheiden  Überraschung und Angst äußern sich sehr ähnlich, Ekman beschreibt im Microexpression Training Tool (METT), dass Probanden, die die beiden Emotionen nur kurz sehen konnten, sie oftmals nur schwer unterscheiden konnten. Bei Angst bleiben die Augenbrauen gerade und ziehen sich leicht zusammen, während sie bei Überraschung gebogen bleiben. Dadurch bilden sich bei Angst die waagerechten Falten verstärkt im Zentrum der Stirn, während sich diese bei Überraschung durch die lediglich gehobenen Augenbrauen über die ganze Stirn verteilt zeigen. Bei Angst hebt sich das obere Augenlid stärker und bleibt länger oben als bei Überraschung. Das untere Augenlid ist bei Angst angespannter und verleiht dem Blick einen stechenden Charakter, dagegen bleibt es bei Überraschung entspannter. Ebenso der geöffnete Mund: Auch dieser bleibt bei Überraschung entspannter, während die Lippen bei Angst zusätzlich nach außen gespannt werden [72].

10.4  Die sieben universellen Emotionen

253

Angst kann sich beispielsweise zeigen, wenn kritische Stationen des Lebenslaufs angesprochen werden. Die Angst besteht in diesem Fall vor dem Misserfolg im Gespräch und damit vor sozialer Ablehnung, die ebenso das Schmerzzentrum aktiviert. Nachdem sie erkannt wurde, gerade wenn sie nur kurz, als Mikroexpression, auftritt, bedarf es des bewussten Mitgefühls, die Angst eines anderen zu respektieren, wenn wir selber vor der gleichen Sache keine Angst verspüren. Viele Menschen tun solche Ängste einfach ab. Im Vorstellungsgespräch steht der Bewerber nach vielen Ablehnungen oder nicht beantworteten Bewerbungen kurz vor dem Ziel und hat sich oftmals schon mit der erhofften Zusage identifiziert oder im Umfeld Erwartungen geweckt. Wer selbst eine sichere Position bekleidet, dem fällt es oft schwer, sich in die existenzielle Bedrohung zu versetzen, die der Bewerber empfindet. Gelingt dies jedoch und wird gegebenenfalls, nachdem eine Angst-Reaktion wahrgenommen wurde, erläutert, warum die Frage gestellt wurde, kann der Bewerber zurück ins Gespräch finden und seine Angst überwinden. Weiß der Bewerber nicht, was hinter der Frage steckt oder ob der wahre Grund einer kritischen Station im Lebenslauf ihm zum Verhängnis würde, stochert er im Trüben und kann in eine Rechtfertigungsspirale geraten, bei der er sich allein durch die übertriebene Erklärung unattraktiv macht oder um Kopf und Kragen redet. Ärger und Zorn Das Grundthema von Ärger sind Störungen jedweder Art, welche uns daran hindern, das zu tun oder zu erreichen, was wir gerade beabsichtigen. Je nach Absicht und individueller Zielsetzung lösen physische und psychische Übergriffe Ärger aus, aber ebenso die Enttäuschung durch eine andere Person, an der uns viel liegt und die sich anders verhält als erwartet. Ärger entsteht ebenso, wenn wir veranlasst werden, etwas zu unterbrechen, das wir mögen: Ein weiterer Auslöser ist empfundene Ungerechtigkeit oder das unterlassene Respektieren der eigenen Werte durch eine andere Person. Wenn Ärger entsteht, wird die notwendige Energie mobilisiert, um das Hindernis zu beseitigen, gleichzeitig wird das Umfeld davor gewarnt, sich zwischen uns und unser Ziel zu stellen oder zu versuchen, uns von dessen Erreichen abzuhalten. Ärger und Zorn zeigen sich in nach unten und zusammengezogenen Augenbrauen, die mit hochgezogenen oberen Augenlidern einhergehen, während die unteren Augenlider angespannt sind: Es ergibt sich der klassische „stechende Blick“. Auf der gerunzelten Stirnpartie bilden sich senkrechte Falten zwischen den Augenbrauen, die Lippen werden zusammengepresst oder sind in schmaler, rechteckiger Form angespannt. Die meisten dieser Signale können auch willentlich erzeugt werden, der angespannte Mund ist jenes Signal, das alleine am zuverlässigsten Ärger signalisiert. Das erste Zeichen für entstehenden Ärger drücken in der Regel die schmaler werdenden Lippen aus, durch die das Lippenrot blasser wird (Abb. 10.6). Nonverbal drückt sich Ärger über ein Vorschieben des Kinns aus sowie über Hinzu-Bewegungen, die einschüchtern sollen und sich dem aus dem Weg zu schaffendem Objekt oder Subjekt annähern. Der Körper spannt sich an, gut sichtbar beispielsweise an der Halsmuskulatur, dem zusammengebissenen Kiefer oder geballten Fäusten.

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10  Mimik und Emotionen

Abb. 10.6   Ärger

Die freigesetzte Energie entwickelt Hitze, rötet das Gesicht und bewirkt vermehrte gestische Adaptoren und Illustratoren. Die gesteigerte Herzfrequenz lässt die Halsschlagader schneller und intensiver pulsieren. Paraverbal geht Ärger einher mit einer lauteren Stimme, einer höheren Stimmlage sowie gesteigerten Sprechgeschwindigkeit und einem schärferen Tonfall. Ärger kann in verschiedenen Varianten auftreten: in Form von Empörung, die bis hin zu selbstgerechtem Zorn reichen kann, durch eine Gereiztheit, die in Rache münden kann und in ihrer passiven Variante als Beleidigtsein. Ekman beschreibt, dass sich bei Menschen, bei deren Persönlichkeitsmerkmalen Ärger und Zorn eine zentrale Rolle spielen, Feindseligkeit als grundlegende Stimmung entwickelt und ihre Kommunikation prägen kann [73]. Ärger und Zorn nehmen pathologische Züge an, wenn sie zu Gewalt werden. Ekman grenzt die lediglich verbale Gewalt von aggressivem Verhalten und physischer Gewaltausübung ab [74]. Hintergrundinformation In einer 15 Jahre andauernden Studie mit 3500 Männern und Frauen untersuchten die US-Forscher Meyer Friedman und Ray Rosenman die Zusammenhänge zwischen der psychischen Veranlagung und dem Herzinfarktrisiko und bildeten zwei Charakter-Typen: Typ A zeichnete sich durch ehrgeiziges, aggressives und ruheloses Verhalten aus und erlitt im Gegensatz zum ruhigeren und nachhaltigeren

10.4  Die sieben universellen Emotionen

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Typ B 90 % aller Herzinfarkte [75]. Beide unterscheiden sich durch ihre Veranlagung zu Ärger und Zorn, diese äußert sich öfter bei Typ A als bei Typ B [76]. In formellen Settings wie dem Bewerbungsgespräch werden sie weitestgehend unterdrückt, zeigen sich aber durch den stechenden Blick, der einen partiellen Ausdruck des Zorns darstellt [76]. Brian Tracy [77] beschreibt, dass viele Unternehmen zwar für Führungskräfte des unteren und mittleren Managements A-Typen bevorzugen, da diese gute Ergebnisse im operativen Bereich mit den von ihnen hart geführten Mitarbeitern erzielen. Der Zugang zur Geschäftsführung wird ihnen jedoch oftmals verwehrt, da sie, dort einmal angekommen die neuen Partner als Konkurrenz betrachten, für zu viel Unruhe sorgen und kaum zu nachhaltiger Zusammenarbeit imstande sind. Die Beobachtungen von Tracy stammen aus Zeiten vor dem Kippen der Arbeitsmärkte. Mittlerweile stellen A-Typen auch zunehmend auf unteren Hierarchieebenen ein Risiko dar, wenn sie durch ihr rücksichtsloses Verhalten die Mitarbeiter demotivieren und zur Konkurrenz treiben. Sicher müssen hier die Branche, das Team, der Charakter der anderen Führungskräfte und die Unternehmenskultur im Allgemeinen relativierend berücksichtigt werden.

Trauer Das Grundthema der Trauer ist Verlust. Dieser kann durch den Verlust der Gesundheit oder eines geschätzten Gegenstandes entstehen, aber auch durch den Verlust einer geliebten Person durch deren Zurückweisung. Auch das Nichterreichen eines Ziels stellt einen Verlust dar, ebenso kann die gedankliche Vorwegnahme eines möglichen Verlustes Trauer auslösen. Durch den Ausdruck von Trauer signalisieren wir unserem Umfeld unser Leiden und senden den Hilferuf, uns bei der Wiedererlangung der verloren gegangenen Dinge oder Menschen zu helfen oder uns zu trösten. Trauer drückt sich durch das Hochziehen der inneren Augenbrauen aus, was gleichzeitig das zuverlässigste Erkennungsmerkmal von Trauer ist, da es nur wenige Menschen bewusst herbeiführen können. Die dadurch entstehenden Querfalten im Zentrum der Stirn bilden gemeinsam mit den abgesenkten äußeren Augenbrauen und den nach unten gezogenen Mundwinkeln eine nach unten gerichtete U-Form. Während sich der äußere Rand der Hautfalte unter der Augenbraue absenkt, zieht sich der innere Rand schräg nach oben, so dass eine angedeutete Dreiecksform entsteht. Die Augenlider verlieren ihr Interesse und ihre Vitalität und hängen herab, der Kinnbuckel kann sich heben, wodurch das Kinn eine schrumpelige Form annimmt, die Unterlippe kann zittrig werden. Fängt dann noch der Kinnbuckel an zu zittern, steht eine Entladung der Trauer durch Weinen kurz bevor. Auch bei Trauer heben sich die Wangen, jedoch im Unterschied zum Lächeln mehr im inneren Bereich des Gesichts. Das Anheben des Kinnbuckels, verbunden mit einem Vorschieben der Unterlippe wird zum Schmollmund, der auch ohne oder mit nur subtil hochgezogenen Augenbrauen entstehende Trauer vermittelt (Abb. 10.7). Nonverbal kann Trauer mit einem gesenkten Kopf und einem nach unten gerichteten Blick auftreten. Der Körper verliert seine Kraft und Spannung: Er fällt in sich zusammen, die Muskeln erschlaffen, die Bewegungen werden langsamer, die beruhigenden Berührungen des eigenen Gesichts oder anderer Gegenstände nehmen zu. Paraverbal drückt sich Trauer durch eine tiefere Stimmlage, leisere Stimme, geringere Sprechgeschwindigkeit und nachlassendes Gesprächsinteresse aus, Aufmunterungsversuche werden mit einem Seufzen oder entmutigtem Ausatmen kommentiert.

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10  Mimik und Emotionen

Abb. 10.7   Trauer

Mit Verlust kann auf passive oder aktive Weise umgegangen werden. In der passiven Form nehmen wir den Verlust hin, resignieren und zeigen unsere Trauer durch Hoffnungslosigkeit. Der aktive Umgang dagegen setzt Verzweiflungsenergie frei, um sich gegen den Verlust aufzulehnen. Im Bewerbungsgespräch kann Trauer im Rahmen der Beschreibung früherer Arbeitsverhältnisse zeigen, dass etwas an der früheren Tätigkeit als verloren gegangen empfunden wird. Der Recruiter könnte in diesem Zusammenhang hinterfragen, was dem Bewerber damals besonders gefallen hat oder wichtig war, vielleicht lässt sich dies in der neuen Position integrieren. 

Echte von falschen Emotionen unterscheiden Ekman beschreibt drei Schlüsselhinweise, um vorgetäuschte Emotionen zu erkennen [78]: 1. Echte Emotionen, zeigen sich, mit Ausnahme von Verachtung, überwiegend symmetrisch oder nur schwach asymmetrisch, vorgespielte Emotionen zeigen sich dagegen asymmetrischer. 2. Für jede Emotion gibt es mindestens eine zuverlässige Bewegung (Action Unit) oder Eigenschaft, die zwingend mit ihrem Auftreten verbunden ist. Fehlt diese, wird die Emotion höchstwahrscheinlich vorgetäuscht.

10.4  Die sieben universellen Emotionen

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3. Das dritte Kriterium bildet das Timing: Während echte Emotionen (mit Ausnahme der Mikroexpressionen) natürlich und zur Situation passend entstehen und dann fließend abklingen, gelingt es kaum, vorgespielte Emotionen sanft abklingen zu lassen. Sie setzen abrupt ein und enden auch abrupt und zeigen dadurch, dass sie nur vorgetäuscht werden.  Übung: Ausdrücke von Emotionen üben, die eigene Empathie erhöhen  Je besser wir in der Lage sind, die Emotionen unseres Gesprächspartners zu erfassen und nachzuempfinden, desto höher wird die empathische Qualität des Gesprächs und desto stärker die Verbindung zu unserem Gesprächspartner. Je besser wir eine Emotion kennen und selbst bereits empfunden haben, desto leichter können wir diese beim Gegenüber erkennen und nachempfinden. In den Kapiteln zu den einzelnen Basisemotionen sind jeweils die Vollexpressionen beschrieben. Wer versucht, diese Ausdrücke für circa zwei Minuten einzunehmen und bewusst zu halten, wird bemerken, dass sich seine Stimmung zu verändern beginnt. Spüren Sie dabei in sich hinein und erfassen Sie die Empfindungen, die die verschiedenen Emotionen bei Ihnen im Körper auslösen. Die eigene Mimik können Sie mit einem Handspiegel kontrollieren, den Ausdruck zusätzlich mit der beschriebenen Körpersprache unterstützen. Wie beschrieben sind einige Muskeln willentlich nicht oder nur schwer zu aktivieren. Hier bietet sich eine Gedankenreise an, bei der Sie sich an eine Situation erinnern, in der Sie die Emotionen stark gefühlt haben. Bei dieser sollten Sie sich tief auf die Emotion einlassen und dieser erlauben, sich auszudrücken, ein bisschen Übertreibung schadet in diesem Zusammenhang nicht. Um einen Zugang zu den verschiedenen Facetten der Emotionen zu erhalten, hilft Ihnen Tab. 10.1. Zur Erfolgskontrolle können Sie sowohl auf Android als auch auf IOS die kostenlose App AffdexMe verwenden. Diese interpretiert in Echtzeit Emotionen über die Kamera des Smartphones.  Soziale Darbietungsregeln  Ekman zeigte japanischen und nordamerikanischen Probanden Filme mit negativem Inhalt. Während die amerikanischen Probanden ihre Emotionen frei zeigten, verzogen die japanischen Probanden keine Mine. Wie versteckte Kameraaufnahmen bewiesen, zeigten sie jedoch die gleichen Gesichtsausdrücke, sobald sie alleine waren. Es waren ihre tief verankerten sozialen Darbietungsregeln, die sie daran gehindert hatten, in Anwesenheit anderer ihre negativen Emotionen zu zeigen [79].

Soziale Darbietungsregeln führen dazu, dass wir unsere Emotionen je nach Setting zeigen, modifizieren oder unterdrücken. Im Bewerbungsgespräch werden beide Seiten situationsbedingt dazu neigen, entstehende Emotionen zu unterdrücken. Von daher zeigen sich diese nur kurz oder in abgeschwächter, gehemmter Form. Grund genug, abschließend die Themen Mikroexpressionen und Subtile Expressionen zu vertiefen und ihre Bedeutung für das Recruiting zu untersuchen.

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10  Mimik und Emotionen

10.5 Mikroexpressionen 

Als Ekman [80] im Rahmen seiner Untersuchungen eine depressive Patientin bei ihrem Gespräch in Bezug auf einen geplanten Wochenendurlaub mit ihrem Arzt beobachtete, sahen beide keine Emotion, die dem Antrag hätte entgegenstehen können. Als die Patientin einige Tage später eingestand, sie habe vor dem damaligen Gespräch geplant, sich beim beantragten Urlaub das Leben zu nehmen, war Ekman konsterniert: Obwohl der Entschluss festgestanden hatte und das Empfinden der Patientin thematisiert worden war, hatten weder er noch der behandelnde Arzt etwas bemerkt. In wochenlanger Detailarbeit untersuchten er und Friesen schließlich Bild für Bild das Videoband des Gesprächs und wurden fündig: Für den normalen Beobachter nicht ersichtlich, offenbarte dieses für den Bruchteil einer Sekunde eine voll ausgeprägte Angst-Mimik, die im nächsten Augenblick von einem Lächeln kaschiert wurde. Ekman hatte die Mikroexpressionen entdeckt. Zwar nicht als Erster, denn was er zu diesem Zeitpunkt nicht wusste: Unabhängig von ihm hatten die Psychologen Ernest Haggard und Kenneth Isaacs diese Entdeckung schon drei Jahre zuvor gemacht [81]. Dafür war es an ihm, die passenden Methoden zu entwickeln, mit denen wir unsere Fähigkeit verbessern können, Mikroexpressionen und subtile Expressionen zu erkennen.

Emotionsausdrücke lassen sich in drei Arten kategorisieren, die sich durch die Dauer und die Intensität ihres Auftretens voneinander unterscheiden. Makroausdrücke zeigen sich deutlich sichtbar im Rahmen eines vollen emotionalen Ausdrucks für eine Zeitspanne von mindestens eine halbe Sekunde bis hin zu mehreren Sekunden. Diese wurden vorstehend beschrieben. Sie sicher zu erkennen, ist die Grundvoraussetzung, um auch Mikroexpressionen zu erkennen. Auch bei diesen zeigt sich der volle Ausdruck, jedoch nur für einen extrem kurzen Zeitraum, Ekman [81] beschreibt das Zeitfenster, in dem sich Mikroexpressionen zeigen, mit einem Zwölftel bis einem Fünftel einer Sekunde, Eilert fasst den Zeitraum etwas weiter auf 40 bis 500 ms [82]. Mikroexpressionen kaschieren sowohl Gefühle, die der Sender bewusst nicht zeigen will, als auch solche, über die er sich nicht bewusst ist und die er verdrängt hat [83]. Der Ausdruck der wahren Emotion blitzt kurz auf und wird dann direkt überspielt. Das geschieht unbewusst, ist nicht steuer- oder manipulierbar und bewirkt ihren hohen Wahrheitsgehalt. Mikroexpressionen zeigen sich umso leichter, je stärker jemand emotional involviert ist und je höher die Bedeutung ist, die er dem aktuellen Thema beimisst. Darüber hinaus beeinflussen die subjektive Gewinn- oder Verlusterwartung und die damit verbundenen möglichen Auswirkungen im persönlichen, beruflichen oder finanziellen Bereich die Intensität ihres Ausdrucks [84]. Wer Mikroexpressionen richtig erkennt, sieht, was sein Gegenüber wirklich fühlt. Auch Lügen lassen sich besser erkennen und darüber hinaus eigene blinde Flecken

10.5 Mikroexpressionen

259

abbauen, wenn das kurze und ehrliche emotionale Feedback des Gesprächspartners auf das eigene Verhalten erkannt wird. Das Lesen von Mikroexpressionen wird dadurch erleichtert, dass sich aufgrund ihres biologischen und universellen Wesens nur die sieben Basisemotionen als Mikroexpressionen zeigen, während Mischemotionen und sekundäre Emotionen sich länger oder subtiler ausdrücken. Die Fähigkeit, Mikroexpressionen zu erkennen, lässt sich mit nur einer Stunde intensiver Übung entwickeln, wenn diese mit anschließenden täglichen Trainingseinheiten von circa zehn Minuten über einen Zeitraum von sechs Wochen verstetigt werden [84]. Wie beschrieben, verbessert auch regelmäßige Meditation die Fähigkeit, Mikroexpressionen zu erkennen. 

Übung: Eine unterhaltsame Möglichkeit bietet das Training zu zweit: Während A die Augen geschlossen hält, bildet B eine der sieben Emotionen und gibt A mit einem Handklopfen auf den Oberarm ein Zeichen. Dieser blinzelt nun, so kurz er kann, und benennt, mit geschlossenen Augen, die wahrgenommene Emotion. Gelingt das nicht auf Anhieb, kann ein klein wenig länger geblinzelt werden, um das Schwierigkeitsniveau den eigenen Fähigkeiten anzupassen. B hält den Ausdruck, bis A die Augen geöffnet hat. Diese Übung sollte zehnmal wiederholt werden, danach Wechsel.

Wie können wir darüber hinaus unsere Fähigkeit verbessern, Mikroexpressionen zu erkennen? Zunächst gilt es, grundlegend die Wahrnehmungskompetenz zu entwickeln und dann während des Gesprächs dem Bewerber wirklich ins Gesicht zu schauen. Das mag trivial klingen, aber aktuell nimmt diese Gewohnheit bei vielen Menschen ab [84]. Der zweite Schritt besteht darin, sich nicht ablenken zu lassen. Allzu oft verwerfen wir nonverbale Ausdrücke und wollen lieber den schönen Worten glauben, auch wenn uns diese später enttäuschen. Die Gestik des Gesprächspartners, aber auch die eigenen Gedanken darüber, was man selbst zum Gespräch beitragen und als Nächstes sagen könnte, lenken uns ab, verringern unsere Konzentration auf den Gesprächspartner und lassen uns dessen Mikroexpressionen übersehen. Die Bereitschaft und Disziplin, achtsamer zuzuhören und ein höheres Interesse für den Bewerber zu entwickeln, ermöglichen es, die Aufmerksamkeit zu erhöhen und die Verbindung zu ihm zu verstärken. Neben der positiveren Wirkung, die der Personaler dabei hinterlässt, kann er den Bewerber schneller und präziser einschätzen, je besser die Verbindung ist. Um diese zu erhöhen, bieten sich drei Leitfragen an, die sich der Recruiter während des Gesprächs stellen kann: 1. Wie fühlt sich der Bewerber gerade? 2. Welche emotionale Wirkung erziele ich durch meine Art der Kommunikation? 3. Wie entwickelt sich die Beziehungs- und Emotionsdynamik zwischen Bewerber und Recruiter?

260

10  Mimik und Emotionen

Infolge oftmals gut vorbereiteter Bewerber und stereotyper Musterantworten kann es schwer sein, das Interesse für das nächste Gespräch in dem Maße aufzubringen, das notwendig ist, um sich nicht ablenken zu lassen. Aber genau hierin liegt der Schlüssel: Wer die immer gleichen Fragen stellt, deren Antworten jeder im Bewerbungsverfahren Befindliche sich innerhalb kurzer Zeit erarbeitet hat, wird durch das Interview vor allem prüfen, ob der neue Mitarbeiter sich gut vorbereitet hat und eine gut sitzende Maske präsentieren kann. Erzählaufforderungen, individuelle Fragen sowie eine Gesprächsführung und Beschreibung der zukünftigen Stelle, die so formuliert werden, dass beim Bewerber innere Bilder entstehen, lösen dagegen nonverbale Reaktionen und Mikroexpressionen aus, die dem Personaler mehr über die Persönlichkeit, Motivation und das nachhaltige Integrationspotenzial vermitteln als einstudierte Musterantworten. Mikroexpressionen an kritischen Stellen im Gespräch als Hinweis auf dahinterliegende Themenfelder zu erkennen, ermöglicht, entweder an dieser Stelle nachzuhaken und mit einer offenen Frage oder Erzählaufforderung das Gespräch direkt in das latent emotional besetzte Feld des Bewerbers zu führen und bei dessen freiem Erzählen auf zusätzliche Informationen zu achten. Alternativ kann man sich den Kontext merken und an anderer Stelle auf das Thema zurückkommen. Das hat den Vorteil, dass der Bewerber offen bleibt und man dem Entstehen einer Verhör-Atmosphäre vorbeugt. Auch hier kommt es natürlich auf das Setting, die zu besetzende Stelle, die beteiligten Akteure und die individuelle Zielsetzung für das Gespräch an. Eine weitere Einflussgröße stellt der zeitliche Rahmen dar: Hoher Zeitdruck macht uns blind für die Gefühle unserer Mitmenschen [85]. Von daher ist es am Recruiter, für den passenden Rahmen und ausreichende Puffer zu sorgen und sich nicht unter Druck zu setzen oder setzen zu lassen. Verwechslungsgefahr Bei der Beobachtung von Mikroexpressionen stellt die Augenregion den zuverlässigsten Bereich im Gesicht dar, um zu erkennen, wie sich der Bewerber fühlt. Dabei unterstützt besonders die Wahrnehmung der Bewegungen der Augenbrauen eine sichere Einschätzung. Da diese sowohl bei Angst, Ärger, Trauer als auch bei Schmerz involviert sind, lassen sich einige Mikroexpressionen schwieriger abgrenzen, weil sich einzelne ihrer Elemente mit denen der anderen Emotionen überschneiden. Angst und Überraschung wurden schon weiter oben abgegrenzt. Werfen wir nachfolgend einen Blick auf die wichtigsten Unterschiede der übrigen Emotionen, bei denen Verwechslungsgefahr besteht. Angst und Trauer Bei beiden Emotionen werden die Augenbrauen hochgezogen, jedoch wird bei Trauer besonders die Innenseite der Augenbrauen hochgezogen, während diese bei Angst gerade hochgezogen werden. Bei Trauer hebt sich die Unterlippe mit dem Kinnbuckel, während bei Angst die Lippen angespannt und horizontal auseinandergezogen werden [86].

10.5 Mikroexpressionen

261

Ärger und Ekel  Bei Ärger bleibt der Blick klar und stechend, während die Augen bei Ekel zusammengekniffen werden. Während die Lippen bei Ärger zusammengepresst werden, bleiben sie bei Ekel entspannt. Das für Ekel typische Rümpfen der Nase bleibt bei Ärger aus [86]. Verachtung und Freude  Verachtung wird teilweise mit Freude verwechselt, aber bei Ersterer tritt der leicht angewinkelte Mundwinkel nur einseitig auf [86]. Mikroexpressionen und Lügen Während wir uns unsere Worte zurechtlegen können, gelingt uns das beim ganzheitlich stimmigen Ausdruck unseres Körpers in der Regel nicht, und auch Mikroexpressionen können nicht willentlich manipuliert werden. Durch die emotionale Auswirkung des Lügens treten im Zusammenhang mit Täuschungsversuchen vor allem drei Mikroexpressionen auf: • Angst: aus der Angst, bei der Lüge entdeckt zu werden. • Schuld: aufgrund von schlechtem Gewissen. Schuld drückt sich mimisch wie Trauer aus. • Freude: aus der Freude heraus, dass uns die Täuschung gelungen ist. 

Es muss hervorgehoben werden, dass nicht jeder, der lügt oder eine Emotion zurückhält, automatisch Mikroexpressionen zeigt. Auch gibt es kein universelles Signal dafür, dass jemand lügt. Der Griff ans Ohrläppchen, das Absenken des Blickes oder andere nonverbale Ausdrücke sollten stets als Hinweise verstanden werden. Die Fähigkeit, Lügen zu entlarven, lässt sich aber verbessern, und das Erkennen von Mikroexpressionen bildet dabei einen essenziellen Bestandteil.



Prinzipiell gilt, dass Mikroausdrücke stets die Folge einer Verschleierung sind. Ob diese bewusst initiiert wurde oder das Ergebnis einer unbewussten Verdrängung ist, lässt sich durch ihr Auftreten jedoch nicht ableiten. Da der Bewerber die Mikroexpressionen dem Personaler nicht willentlich mitteilt, sollten sie diskret und mit Bedacht genutzt werden. Die wichtigste Frage in diesem Zusammenhang ist, wem oder was die gezeigte Emotion gilt. Und auch wenn wir wissen, welche biologischen Ur-Themen den Emotionen zugrunde liegen, sind darüber hinausgehende Aussagen stets als Hypothesen zu betrachten. Jemand zeigt Trauer, die Ursache ist Verlust. Was er verloren hat, darüber kann zunächst nur spekuliert werden, aber es ermöglicht eine gezieltere und empathischere Gesprächsführung, in deren Folge sich das Gesprächsklima oftmals so positiv entwickelt, dass der Bewerber sich öffnet und Dinge mitteilt, die er sonst für sich behalten hätte.

262

10  Mimik und Emotionen

Mikroexpressionen in der Gehaltsverhandlung Neben der Abgrenzung zwischen Ekel und Schmerz können im Rahmen der Gehaltsverhandlungen weitere Emotionen auftreten, die die Zufriedenheit des Bewerbers mit dem aktuellen Ergebnis signalisieren. Da Überraschung eine kurze und neutrale Emotion ausdrückt, sollte auch in der Verhandlung beobachtet werden, welche Emotion ihr folgt. Kurz aufblitzender Ärger zeigt das hohe emotionale Involvement und damit das prinzipielle Interesse des Bewerbers an einem Abschluss. Wie bei Ekel lehnt er jedoch die Gehaltshöhe ab und mobilisiert Energie, um das Problem des zu geringen Gehalts zu beseitigen. Bei Trauer hingegen hatte sich der Bewerber innerlich schon mit der Stelle oder einem höheren Gehalt identifiziert und ist nun über den Verlust traurig, zu dieser Gehaltshöhe werden sie kaum zueinanderfinden. Gegebenenfalls könnte man Zusatznutzen der Position kommunizieren und Fringe-Benefits platzieren und falls möglich noch ein bis zwei Schritte auf den Bewerber zugehen oder ihn nach seiner Schmerzgrenze fragen. Verachtung signalisiert dagegen, dass der Bewerber aktuell so gut wie verloren ist, er empfindet das Angebot als unmoralisches Lohndumping. Echte Freude zeigt deutlich, dass bewerberseitig einer Einigung aktuell nichts im Wege steht [87].

10.6 Subtile Expressionen Neben Makro- und Mikroexpressionen drücken sich Emotionen durch subtile Expressionen aus. Da die Emotion schwächer ausgeprägt ist, zeigt sie nur einen Teil oder eine schwächere Ausprägung der vollen Expression, dafür zeigt sie sich länger als Mikroexpressionen. Subtile Emotionen sind durch ihre schwache Ausprägung normalerweise schwieriger zu erkennen als Mikroexpressionen. Wie diese lassen sie sich bei jüngeren Menschen, durch deren glattere Gesichtszüge, leichter erkennen als bei älteren Menschen. In Abschn. 10.2 wurden die meisten Bedeutungen der verschiedenen mimischen Ausdrücke beschrieben, ergänzend werden in diesem Kapitel die zuverlässigen Action Units der sieben Basisemotionen benannt. Trauer  Ein zuverlässiges Zeichen für Trauer sind die angehobenen Innenseiten der Augenbrauen [88]. Kontrollierte oder leichte Trauer drückt sich in nach unten gezogenen Mundwinkeln aus, bei einem gleichzeitig unbewegten Kinnbuckel [89]. Überraschung  Die nach oben gezogenen Augenbrauen zeigen bei leichter Ausprägung Interesse, bei starker Ausprägung Überraschung. Dieses Signal ist jedoch nur in Verbindung mit nach oben gezogenen oberen Augenlidern und geöffnetem Mund der zuverlässige Ausdruck für Überraschung [90]. Angst  Die nach oben und zusammengezogenen Augenbrauen signalisieren zuverlässig Sorge als eine milde Form der Angst [91]. Das Hochziehen der oberen Augenlider und gleichzeitige Anspannen der unteren Augenlider stellen das absolut sichere Signal für

10.7  Eigene Mimik

263

Angst dar. Je stärker das obere Augenlid hochgezogen wird, desto größer ist die empfundene Angst [92]. Ärger  Die zusammengezogenen, abgesenkten Augenbrauen, zeigen leichten oder kontrollierten Ärger, können aber in leichter Form auch Konzentration und Interesse ausdrücken. Werden zusätzlich die oberen Augenlider hochgezogen, drückt diese Mimik zuverlässig Ärger aus [93]. Ein weiteres sehr zuverlässiges Zeichen für Ärger stellen angespannte Lippen dar. Ekel  Die gerümpfte Nase signalisiert Ekel, ist aber kein absolut sicheres Zeichen, da es leicht willentlich erzeugt werden kann. Tritt es nur subtil auf, während unser Gesprächspartner uns zuhört, signalisiert es Zweifel oder Skepsis [94]. Verachtung  Das einseitige Anpressen des Mundwinkels signalisiert Verachtung, kann jedoch ebenso auftreten, wenn das Gegenüber nachdenkt oder zweifelt [95]. Sowohl für das Erkennen von Mikromimiken als auch von subtilen Expressionen gibt es Seminare und Online-Trainingstools. Neben dem METT, dem Mikroexpression Training Tool, entwickelte Paul Ekman das SETT, das Subtile Expression Training Tool. Deutschsprachige Online-Anbieter sind beispielsweise Dirk Eilert [96] und Jan Christoph Wartmann [97]. Beide bieten ebenfalls Seminare in Deutschland (Eilert) und der Schweiz (Wartmann) an.

10.7 Eigene Mimik Wer den natürlichen Ausdruck seiner Mimik zu stark beeinflusst, riskiert eine unnatürliche und wenig authentische Wirkung, von daher sollte deren freier Ausdruck nicht übermäßig manipuliert werden. Wozu sich die eigene Mimik jedoch hervorragend einsetzen lässt, lässt sich in Abgrenzung zu der im Rahmen der Refraktärphase beschriebenen Gesprächstechnik des Verbalisierens am besten als Nonverbalisieren bezeichnen. Wie beschrieben, nehmen wir intuitiv und unbewusst ohnehin schon die mimischen Ausdrücke unserer Mitmenschen wahr und drücken diese kurz selbst aus, um uns unsere Mitmenschen hineinzuversetzen. Bemerken wir nun im Gespräch, dass eine Emotion unser Gegenüber erfasst hat, kann diese, mit der Intention, unser Verständnis und Mitfühlen zu vermitteln, leicht und kurz gespiegelt werden. Im Gegensatz zum Verbalisieren oder zu einer Resonanzaussage zeigen wir dem Gesprächspartner, dass wir fühlen können, was er empfindet. Dieser Ausdruck ist mit einem gewissen Fingerspitzengefühl zu benutzen, kann jedoch eine praktikable Alternative darstellen, wenn bereits verbalisiert wurde und dieses rhetorische Mittel nicht überstrapaziert werden will.

264



10  Mimik und Emotionen

Im Gendervergleich sind Frauen die empathischeren Wesen. Während der mimische Ausdruck sich bei Kindern noch unabhängig vom Geschlecht zeigt, bewirkt die Ausbildung der rostralen cingulären Zone in der Adoleszenz eine abnehmende Beweglichkeit der Mimik beim männlichen Geschlecht [98]. Infolge der unterschiedlichen biologischen Ausgangslage ändern Frauen auch im Erwachsenenalter ihren mimischen Ausdruck unbewusst bis zu sechsmal in zehn Sekunden und vermitteln ihren Mitmenschen damit ihre Empathie und emotionale Verbundenheit [99]. Dieses schnelle und unbewusste Spiegeln erhöht die Verbindung zum Gesprächspartner und das gegenseitige Vertrauen. Ungeübte Männer schaffen diesen Wechsel maximal zweimal in zehn Sekunden [99]. Dadurch fällt es ihnen schwerer, sich in ihr Gegenüber hineinzuversetzen und Vertrauen aufzubauen. Männer können durch die Erhöhung ihrer mimischen Ausdrucksfähigkeit ihre Fähigkeit, eine empathische Verbindung zum Bewerber aufzubauen, verbessern. Hierbei hilft beispielsweise die Mimik-Gymnastik aus Kap. 2, mit der die Geschmeidigkeit der Mimik trainiert wird und jene Bewegungen intuitiv besser ausgedrückt werden können, die dem emotionalen Gehalt der Situation entsprechen. Frauen können dagegen durch eine sparsamere Mimik eine distanziertere und sachlichere Wirkung erzielen.

Augenbrauen Ein Element unserer Mimik, das wir bis zu einem gewissen Grad bewusst manipulieren können, ohne das Gespräch zu stören, sind unsere Augenbrauen. Ziehen wir sie in einem positiven Kontext nach oben, hilft diese Bewegung, um unsere Gesprächspartner zu begeistern und zu aktivieren. Wird beispielsweise der Bewerber mit einer Erzählaufforderung gebeten, etwas über sich zu erzählen, kann dies mit einem netten Lächeln, einem aufmunternden Nicken und freundlich hochgezogenen Augenbrauen geschehen, um die positive Intention zu verdeutlichen. Beim Augengruß signalisiert der Recruiter dem Bewerber durch ein Heben der Augenbrauen beim ersten Blickkontakt, dass er ihn erkennt und sich auf das Gespräch freut. Das Timing fällt anders aus, wenn es sich dabei um ein wirkliches Erkennen handelt: Sich das Foto in den Unterlagen bewusst einzuprägen, erleichtert die Erinnerung und verbessert somit den Einstieg ins Gespräch. Neutral in das neue Gespräch Wir übersehen oftmals die Signale auf der Stirn unseres Gesprächspartners, unbewusst nehmen wir sie jedoch wahr und lassen uns von ihnen beeinflussen. Wenn wir länger spezifische mimische Ausdrücke eingenommen haben, beispielsweise weil wir kritisch über Dokumenten gebrütet, intensiv recherchiert oder uns über etwas oder jemanden geärgert haben, hinterlässt die damit verbundene Anspannung deutlich sichtbare Signale auf unserer Stirn. Diese bewusst zu glätten, bewirkt nicht nur eine optische Korrektur: Wer sich vor wichtigen Gesprächen eine Minute Zeit nimmt und etwaige Zornesfalten

10.8  Fazit: Mimik und Emotionen

265

mit den Fingerspitzen mittels eines leichten, von der Stirnmitte beginnenden Auseinanderstreichens behandelt, wird die dabei eintretende Entspannung sehr genießen, entspannter ins Gespräch gehen und gleichzeitig verhindern, dass negative Vorerlebnisse das neue Gespräch belasten. Ein weiteres Schlüsselsignal, auf das wir intuitiv reagieren, sind angespannte Lippen. Auch diese sollten vor wichtigen Gesprächen kurz kontrolliert werden. Unangenehm genug, dass zuvor eine ärgerliche Situation erlebt wurde, es besteht jedoch kein Grund, diese Stimmung mit in das nächste Gespräch zu nehmen. Wer kurzsichtig ist, sollte zur Brille greifen, das sonst regelmäßige Anspannen der Augen führt ebenfalls zu einer ablehnend wirkenden Mimik. Prinzipiell ist zu empfehlen, jene Muskeln, die für eine kooperative Kommunikation förderlich sind, etwas zu trainieren und sich beispielsweise morgens vor dem Badezimmer-Spiegel bewusst zwei bis drei Minuten anzulächeln. Man sich fühlt danach nicht nur besser, durch die besser trainierten Muskeln gewinnt der eigene Gesichtsausdruck mit der Zeit mehr Freundlichkeit, das spontane Lächeln fällt schon am ersten Tag leichter und zeigt sich wie von selbst.

10.8 Fazit: Mimik und Emotionen Die Mimik ist direkt mit dem limbischen System, dem Sitz unserer Emotionen, verknüpft. Dadurch entziehen sich Emotionen der Kontrolle des bewussten Verstandes und eröffnen ungefilterte Einblicke in Gefühle, über die sich der Bewerber oftmals selbst (noch) nicht bewusst ist. Emotionen lassen sich als ganzheitliche biologische Notfallprogramme verstehen, die vom Organismus angestoßen werden, um eine Situation zu bewältigen, die mit den sonstigen verfügbaren Handlungsroutinen nicht erfolgreich bewältigt werden kann. Für denjenigen, der sie gerade empfindet, bilden Emotionen eine reale Entität, die man nicht zu rechtfertigen braucht und die nicht zur Diskussion steht. Emotionen errichten Filter, die die Wahrnehmung und Verarbeitung der folgenden Signale beeinflussen. Um einen emotionalen Gesprächspartner zurück in das Gespräch zu führen, muss man sich auf den emotionalen Gehalt seiner Stimmung einschwingen, beispielsweise durch eine Resonanzaussage. Gelingt das nicht, verstärkt sich die Emotion. Kulturübergreifend existieren sieben universelle Basis-Emotionen. Diese sind jeweils charakterisiert durch ein spezifisches biologisches auslösendes Thema, ein angestrebtes Motiv und einen eindeutigen mimischen Ausdruck. Sie können sich auch nur für den Bruchteil einer Sekunde als Mikroexpressionen zeigen und sind als solche nicht willentlich manipulierbar. Beim Lügen treten überwiegend die Mikroexpressionen von Freude, Trauer (Schuld) und Angst auf. Ungeschulte Menschen übersehen diese in der Regel, doch lässt sich die Fähigkeit, sie zu erkennen, mit geringem Aufwand entwickeln. Zunächst sollte man

266

10  Mimik und Emotionen

dem Gesprächspartner wieder genauer ins Gesicht schauen, um seine nonverbalen Veränderungen bewusster zu erkennen. Sobald das gelingt, kann an der Wahrnehmung schnellerer Signale gearbeitet werden.

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10  Mimik und Emotionen

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Gestik

11

Zusammenfassung

Kap. 11 beschreibt die Grundprinzipien der gestischen Kommunikation und verschiedene Dimensionen, in denen sich diese ausdrückt. Es beschreibt die Wirkweise aktiver Gestik und die Bedeutungen verschiedener passiver Gestiken und exponierter Finger sowie die Funktion und Ursachen von Übersprunghandlungen und Anpassungsgesten. Abschließend werden die Einflüsse der Handflächen und spezifischer gestischer Signale auf die Wirkung im Gespräch behandelt, Beziehungsbotschaften beschrieben, die durch verschiedene Gesten vermittelt werden, und Techniken angeführt, mit denen der Recruiter die eigene Wirkung optimieren kann. Neben der Mimik bildet die Art und Weise, wie wir mit unseren Händen kommunizieren, den größten Teilbereich der nonverbalen Kommunikation. Dieser ist zwar während der Kommunikation weniger stark im direkten Fokus als die Ausdrücke des Gesichts, dennoch sind uns die Ausdrücke der Hände unserer Gesprächspartner latent bewusst und relativieren oder verstärken deren verbale Aussagen. Stärker, als es uns oftmals bewusst ist, prägen sie die Qualität der Beziehungsebene zwischen uns und unseren Gesprächspartnern.

11.1 Grundlagen und Funktionen der Gestik Gesten sind ein natürlicher Bestandteil unserer Kommunikation und in ihrem natürlichen Ausdruck biologisch begründet. Auch wenn wir die Bewegungen unserer Hände leicht beeinflussen können, drücken sich diese dennoch weitestgehend un- und vorbewusst aus, während wir sprechen. Das belegt beispielsweise die Gestik von Blindgeborenen: Auch diese gestikulieren intuitiv, während sie sprechen [1].

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 C. Bernhardt, Nonverbale Kommunikation im Recruiting, https://doi.org/10.1007/978-3-658-25276-2_11

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11 Gestik

Unsere tierischen Verwandten bewegen sich noch auf allen vieren: In dieser Haltung schützen Rücken, Arme und Beine die sensiblen Organe im Bauchbereich. Als sich der nackte Affe aufrichtete, lagen dessen verletzliche Organe plötzlich exponiert und ungeschützt auf der Vorderseite des Körpers. Da nun aber die Hände frei waren, erlangten sie, neben dem Ergreifen von Nahrung, als zweite archaische Hauptfunktion den Schutz der Körpervorderseite und des Bauchbereichs. Darüber hinaus wurden sie zur Herstellung und Verwendung von Werkzeugen verwendet. Die Auswirkungen dieser archaischen Funktionen zeigen sich auch heute noch in Bezug auf abstrakte Inhalte, die ergriffen werden wollen, oder bei verbalen Angriffen und Bedrohungen, vor denen beschwichtigend die Hände gehoben oder verschränkt werden. Dadurch beschreiben unsere Hände oftmals übertragene oder symbolhafte Aussagen, die im Folgenden zur aktiven und passiven Gestik vertieft werden.

Auch wenn unsere Hände im Vergleich zu anderen Körperteilen nur einen sehr geringen Anteil an unserer Körpermasse haben, belegen ihre Verknüpfungen dennoch ein Drittel unseres Cortex. Von keinem Teil des Körpers fließen so viele Nervenbahnen zum Gehirn wie von den Fingern. Allan Braun vom National Institute of Deafness and Other Communication Disorders fand heraus, dass durch Gesten jeweils die dazu passende Sprachregion im Gehirn angesprochen wird [2]. Durch die Spiegelneurone geschieht das auch beim Gesprächspartner und so verstärken Gesten unsere Überzeugungskraft, erhöhen das Verständnis, unterstützen das verbale Gedächtnis und fördern das kognitive Denken beider Gesprächsparteien. Mit Gesten lösen wir beim Gegenüber Assoziationen aus und eröffnen uns damit die Möglichkeit, lenkend auf seinen Gedankenfluss einzuwirken. Sie ermöglichen uns, indirekt und unauffällig zu argumentieren und unvollständige verbale Informationen zu vervollständigen oder zu betonen. Darüber hinaus können wir mit Hilfe von Gesten verschiedene Platzhalter im Raum generieren und besprochene Inhalte dort verankern. Bewegungen der Hände Die grundlegende Aussagekraft von Bewegungen wurde in Kap. 7 beschrieben und charakterisiert. Die dort beschriebenen Grundlagen betreffen ebenso die Bewegungen der Hände und bilden die Basis, auf denen dieses Kapitel aufbaut. Zunächst sollte auch bei Gesten das Normalverhalten bestimmt werden, anschließend können Abweichungen im qualitativen Ausdruck, räumlichen Umfang oder der quantitativen Häufigkeit interpretiert werden. Wie ein Seismograf zeigen Hände und Finger, durch ihre exponierte Haltung am Ende der Arme, Erregungs-Signale deutlicher an als unsere großen, körpernahen Gliedmaßen. Händezittern lässt auf starke Emotionen schließen: Ein abrupt beginnendes Zittern der Bewerberhand sollte mit Blick auf den aktuellen Kontext untersucht werden. Ein weiteres Merkmal sind reduzierte Gestiken oder versteckte Hände. Besonders aufschlussreich sind erstarrte oder versteckte Hände, wenn das Normalverhalten zuvor keine Auffälligkeiten zeigte. Plötzlich erstarrte Hände lassen auf Unaufrichtigkeit schließen: Wer lügt oder ein schlechtes Gewissen hat, versucht instinktiv, nicht aufzufallen. Unsere Gestik kann danach abgegrenzt werden, ob sie sich eher rund oder eckig, rhythmisch oder getaktet ausdrückt. Während bei eckigen, getakteten Gesten der Verstand stärker involviert ist, lassen runde, rhythmische Bewegungen auf eine höhere

11.1  Grundlagen und Funktionen der Gestik

271

Beteiligung der Gefühle schließen. So lassen sich im Interview die Antworten des Bewerbers in zwei Kategorien unterscheiden und die ihnen zugrunde liegenden Treiber in die eigene Argumentation integrieren. Die Art des Ausdrucks der Gestik unterscheidet sich in weite, große, kleine und enge Bewegungen. Wie bei der Schrittgröße gilt, dass kleine und akzentuierte Bewegungen auf den Detailarbeiter schließen lassen, während große und ausladende Bewegungen mit einer großen Chunk-Verarbeitung und entsprechender Einstellung zu Systemen einhergehen. Zeigen sich die Bewegungen beider Hände in einem engen Rahmen (geringer als schulterbreit), signalisieren diese in Verhandlungen, dass nur wenig Spielraum und eine geringe Bereitschaft vorhanden sind, dem Gegenüber entgegenzukommen [3]. Weit ausladende Gesten beanspruchen ein übermäßig großes Territorium und drücken damit die ihnen zugrunde liegende Einstellung aus, welche oftmals die eigenen Ideen als wichtiger einstuft als jene des Gesprächspartners. Damit signalisieren sie zwar großes Selbstbewusstsein, jedoch auch Dominanz, beides muss mit der zu besetzenden Stelle und dem Umfeld, in das der Bewerber einmünden soll, abgeglichen werden. Wie in Kap. 5 zu Status beschrieben, nimmt mit steigendem Status die Häufigkeit der Gesten ab: Der Hochstatus gestikuliert weniger als der Tiefstatus, da sein Wort mehr Gewicht hat, seine Anweisungen mit weniger Widerstand umgesetzt werden und er weniger investieren muss, um sich durchzusetzen. Entsprechend subtiler wird seine Gestik. Zeigen sich bei Bewerbern, die eigentlich einen hohen Status mitbringen sollten, unpassende gestische Äußerungen, wie eine fahrige, hektische oder gehäuft auftretende Gestik, weist diese Inkongruenz auf eine Unausgeglichenheit hin. Diese kann jedoch zu einem gewissen Grad der Situation geschuldet sein, ebenso muss das grundlegende Temperament des Bewerbers berücksichtigt werden. Die Geschwindigkeit der gestischen Bewegungen kann ruhig, lebhaft und schnell ausfallen und zeigt die darunter liegende Grundhaltung an, die eher ruhiger, gemäßigter, kontrollierter, lebhafter, rasanter oder rastloser sein kann. Aufschlussreich in diesem Zusammenhang ist, wie abrupt umgeschaltet wird, welche Intensität es braucht, um eine Erregung auszulösen, und wie heftig die Reaktion ausfällt. Diese Beobachtungen weisen einerseits auf die Begeisterungsfähigkeit, andererseits aber auch auf die Empfindlichkeit des Bewerbers hin. Dabei sollte beachtet werden, ob auf platzierte Stimuli wie beabsichtigt reagiert wird oder ob sich die Reaktionen nicht vorhersehen lassen. Während Ersteres dem Recruiter die beabsichtigte Deutung ermöglicht, wird ihn Letzteres überraschen und verunsichern. Gleichzeitig gibt es ihm ein wertvolles Feedback zur eigenen Gesprächsführung und kann, wenn es sich bei mehreren Bewerbern zeigen sollte, auf ein nachlassendes resonanzfähiges Rollenverständnis hinweisen, das aktualisiert werden sollte, um konkurrenzfähig zu bleiben. Molcho schließt aus der Bewegungsart der Arme und Gestik auf verschiedene Eigenschaften der Persönlichkeit. So zeigen gebeugte und lockere Armbewegungen Selbstsicherheit und Lässigkeit, weite Armbewegungen lassen auf Großzügigkeit schließen [4]. Überwiegend nach oben gewandte Handflächen sind sowohl bereit, zu geben als auch

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11 Gestik

zu empfangen, eine offene und lockere Armhaltung drückt Vertrauen aus, die Person hat keinen Grund, sich angespannt zu schützen. Timing In Bezug auf das Timing, mit dem sich unsere Gestik zeigt, muss danach unterschieden werden, ob sie in ihrer aktiven Form, begleitend zum eigenen Sprechen, auftritt oder als Reaktion auf Äußerungen des Gesprächspartners. Natürliche aktive Gesten treten kurz vor dem gesprochenen Wort auf. Natürliche passive Gesten dagegen, die als Reaktion auf eine Äußerung unseres Gesprächspartners folgen, zeigen sich in einem Zeitfenster von maximal 2,5 s, eine größere Verzögerung verrät hier die bewusste Einflussnahme. Je reflexhafter und kurzlebiger sich eine Reaktion zeigt, desto ehrlicher und unverfälschter ist sie normalerweise. So zeigen beispielsweise ruckartig zurückgezogene Hände eine spontane Form der Flucht an, während Hände, die sich langsam zurückziehen, signalisieren, dass man sich schleichend und zögernd und damit oftmals mit Kalkül versucht, aus dem Gespräch zu entfernen. Spannungsgrad Die in den Kap. 4 und 7 beschriebenen Spannungsgrade und Bewegungen drücken sich auch in unserer Gestik aus und vermitteln Zusatzinformationen, anhand derer die Aussagekraft des Gesagten geprüft werden kann und gegebenenfalls relativiert werden sollte. Wird mit dem Mund ein zitierfähiges Lippenbekenntnis gegeben, während die schlaffen Hände tatenlos das Gegenteil vermitteln, darf die Glaubwürdigkeit der Musterantwort hinterfragt werden. 

Übung: Die Rückwirkung der Spannung der Hände auf die eigene Atmung und damit mittelbar auf unsere Sauerstoffversorgung, Leistungsbereitschaft, aber auch emotionale Verfassung können Sie selbst leicht erfahren: Atmen Sie mit entspannten Händen ein und achten Sie darauf, wie mühelos das gelingt und wie leicht oder schwer es fällt, tief einzuatmen. Spreizen Sie nun die Finger weit voneinander ab, spannen diese an und wiederholen Sie die Übung. Normalerweise fällt es nun wesentlich schwerer, entspannt und tief Luft zu holen und damit den ganzen Körper mit ausreichend Sauerstoff zu versorgen. Wenn Sie nun die Hände erschlaffen lassen und nochmals einatmen, werden Sie bemerken, wie eine kurze Hemmung das spontane Einatmen verzögert, Sie müssen sich zunächst einen Ruck geben, um aus dem schlaffen Zustand in Aktion zu treten.

Auch schlaffe Handgelenke weisen auf Energielosigkeit hin und auf nur gering vorhandene Motivation, ein Thema weiter zu behandeln. Gespannte Handgelenke sind dagegen einen Indikator für Vitalität, Präsenz, Kraft und Dynamik. Aufschlussreich ist auch hier die Beobachtung der Lateralität. Bei Rechtshändern kann ein schlaffes linkes Handgelenk auf geringe Belastbarkeit im emotionalen Bereich schließen lassen, während ein schlaffes rechtes Handgelenk geringes rationales Durchhaltevermögen vermuten lässt [4].

11.1  Grundlagen und Funktionen der Gestik

273

Ausrichtung der Handflächen Die Ausrichtung der Handflächen beim Sprechen beeinflusst stark die eigene Wirkung. Nach unten gerichtete Handflächen geben nur wenig vom eigenen Inneren preis, sie betonen die Sachebene. Bei dieser Bewegung und Handhaltung eröffnet die Spannung der Hände weitere Einsichten. Wird sie mit wenig Spannung ausgeführt, sollen ein mahnend-besonnener Charakter vermittelt sowie die Stimmung gedämpft und unter Kontrolle gebracht werden. Steigt die Spannung der Hand und werden die Finger stärker voneinander abgespreizt, erhöht sich die Flächenwirkung der Hand und verstärkt die kontrollierende Wirkung hin zu einer dominierenden [5]. Nach oben gekehrte Handflächen wirken dagegen beruhigend, tröstend sowie versöhnend und fördern die Beziehung zum Gesprächspartner. Molcho [6] beschreibt zwei Deutungsmöglichkeiten für Hände, die beim Gestikulieren nach innen gekehrt werden. Bei ersterer Deutung wird die Verantwortung auf sich selbst genommen. Das kann im positiven Fall eine gestandene Persönlichkeit kennzeichnen, die Schuld nicht auf andere abwälzt, sondern sich auch mit dem eigenen Anteil an einer unangenehmen Situation kritisch auseinandersetzt. Wird diese Einstellung übertrieben, mündet sie in einem Charakter, der alles sehr persönlich nimmt und sich gegebenenfalls selbst klein macht und oftmals riskiert, zum Sündenbock für sein Umfeld zu werden. Das Gegenteil drückt die nach außen gestikulierende, offensiv von sich weg weisende Hand aus. Die Pole auf der Achse dieser beiden Bewegungen bilden einerseits die auf die eigene Brust gelegten Handflächen und im anderen Extrem die auf Kopfhöhe und mit ausgestreckten Armen ausgeführte Stopp-Geste. Diese schützt den eigenen Bereich rigoros und lehnt jede eigene Verantwortung ab. Zwischen den Polen ergibt sich ein fließendes Spannungsfeld: Je nachdem, wo die Gesten in diesem Spannungsfeld hinführen, beispielsweise bei der Frage nach kritischen früheren Erfahrungen und Projekten, zeigen sie die eigene Einstellung an und qualifizieren sie die Antwort. Gespreizte Finger der von sich weg zeigenden Handflächen weisen durch die hohe Flächenwirkung auf Abwehr hin: Sie sind in der Lage, Dinge, die uns gefährlich werden können, breitflächig wegzudrücken, zu ergreifen, wegzuschieben oder aufzufangen. Je höher die Hände dabei genommen und je direkter sie gegen den Gesprächspartner gerichtet werden, desto höher der Grad der Ablehnung. Mit der Spreizung der Finger steigt der emotionale Gehalt der Geste, aneinandergelegte Finger drücken dagegen Kontrolle, Disziplin und Strenge aus. Darüber hinaus signalisiert der ein- oder beidhändige Einsatz von Gesten den Grad der Dringlichkeit und emotionalen Beteiligung ihres Ausdrucks. Wo eine Hand nicht mehr reicht, um ein Ergebnis oder Gesprächsziel zu erreichen, verdoppelt der Einsatz der zweiten Hand unsere Erfolgsaussichten. Senkrecht ausgerichtete Hände mit nach unten weisenden Handkanten unterteilen Inhalte in verschiedene Klassen und grenzen Gedanken und Konstrukte voneinander ab. Probleme, aber auch soziale Beziehungen können auf diese Art effektiv durchtrennt werden. Die synchrone Abwärtsbewegung beider Hände verstärkt den übertragenen Ausdruck oder fungiert als Begrenzungsinstrument [7]. Um dieses vom Einsatz

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11 Gestik

als Schlaginstrument abzugrenzen, muss die Dynamik beachtet werden, mit der die Bewegung ausgeführt wird. Weiteren Aufschluss geben die Finger: Sind diese während der Bewegung geschlossen, steht die genaue, konsequente Ausführung im Vordergrund, sind die Finger gespreizt, gewinnen das Engagement und das emotionale Involvement an Gewicht.

11.2 Ebenen der Gestik Mark Bowden unterscheidet zwischen sechs verschiedenen Ebenen, in denen sich unsere Gestik ausdrückt [8]. Jede Ebene verleiht der Aussage einen anderen Tenor, der in Bezug zum Gesagten gesetzt werden kann, um dessen Kongruenz und Aussagekraft zu taxieren (Abb. 11.1): • • • • • •

Über dem Scheitel – die ekstatische Ebene Zwischen Augen und Scheitel – die Ebene der mentalen Überzeugung Zwischen Kehlkopf und Augen – die offenbarende Ebene Zwischen Solarplexus und Kehlkopf – die leidenschaftliche Ebene Vor dem Bauchnabel – die Vertrauensebene Unterhalb der Gürtellinie – die groteske Ebene

Signale der grotesken Ebene sollten im Bewerbungsgespräch die Ausnahme bilden oder gar nicht auftreten, sie wirken negativ und deplatziert. Bewegen sich die Hände in der darüber liegenden Vertrauensebene, schützen sie gleichzeitig die eigene, verletzliche Bauchregion. Das beruhigt und zeigt, dass ruhig, vertrauensvoll und im neutralen emotionalen Bereich kommuniziert wird. Üblicherweise bewegen wir unsere Gestik während des Großteils unserer Kommunikation in diesem Bereich um den Bauchnabel, zwischen Gürtellinie und Solarplexus. Mit steigender Leidenschaft steigt auch die Höhe der Gestik. Bewegt sich diese im Bereich zwischen Solarplexus und Kehlkopf, drückt sie steigendes Engagement und emotionale Anteilnahme aus. Abb. 11.1   Ebenen der Gestik

11.2  Ebenen der Gestik



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Übung: Die Ebene, in der wir gestikulieren, wirkt auch auf uns zurück. Mit einem einfachen Test lässt sich das selbst erfahren: Beschreiben Sie Ihr Hobby oder Gründe, warum sich eine Reise in Ihre Lieblingsstadt unbedingt lohnt. Die Hände werden sich beinahe automatisch im oberen Bereich bewegen. Erzählen Sie nun das Gleiche noch einmal, versuchen aber diesmal, die Hände im Bereich um oder unter den Bauchnabel zu lassen. Plötzlich fühlt es sich befremdlich an und auch die richtige Begeisterung für das Thema will sich plötzlich nicht mehr so einstellen wie noch kurz zuvor.

Werden schließlich die Hände beim Kommunizieren auf die Höhe des Mundes, in den Bereich zwischen Kehlkopf und Augen geführt, geht es ans Eingemachte, die Hände schirmen gleichzeitig die Worte für ungebetene Zuhörer ab, während Interna mitgeteilt werden. Das sollte im Bewerbungsgespräch nicht allzu oft der Fall sein und wenn, dann nur für eine kurze Dauer, allzu viel Streng-Vertrauliches sollte es diesem Setting normalerweise nicht mitzuteilen geben. Steigt die Gestik auf die Ebene der mentalen Überzeugung zwischen Augen und Scheitel, erreicht sie einen stark wertebehafteten Punkt oder Gedanken. Führt der Bewerber beispielsweise Lösungsvorschläge für einen Case vor und begleitet diese mit einer Gestik auf der Ebene der mentalen Überzeugung, zeigt er seine intrinsische Motivation und Leidenschaft für das aktuelle Thema. Darüber hinaus sollte die Gestik im Bewerbungsgespräch normalerweise nicht gehen. Die sechs Ebenen von Bowden beschreiben die natürliche Gestik und ihre Implikationen im Stehen. Im Gespräch am Tisch ergibt sich durch die Höhe der Stühle und des Tisches für die unteren beiden Ebenen eine Verzerrung. Je nachdem, wie nah der Bewerber am Tisch sitzt, ist sein verletzlicher Bauchbereich mehr oder weniger gut geschützt. Die Tischplatte wird zur neuen Gürtellinie, bei der es suspekt wirkt, wenn die Hände darunter verschwinden. Werden die Hände dauerhaft unter der Tischfläche gelassen, lässt dies auf innere Distanz schließen oder auf Unsicherheit und eine gewisse Hemmung, sich in das Gespräch einzubringen. Andere Auslöser können ein geringes Interesse und der Rückzug aus dem Gespräch sein. Normalerweise sollte auf oder über Höhe der Tischplatte gestikuliert werden, diese liegt im Sitzen auf der Höhe zwischen Bauchnabel und Solarplexus. 

Sind am Stuhl Armlehnen vorhanden, begünstigen diese den gestischen Ausdruck oberhalb dieser Schwelle und damit ein prinzipiell motivierendes und kooperatives Gespräch. Ein Bewerberstuhl ohne Armlehnen kann von daher tiefere Einsichten in etwaige Motivationsmängel erlauben als ein Stuhl mit Armlehnen, der das Absinken der Hände verhindert. Dafür schützt ein Stuhl mit Armlehnen die Seiten des Bewerbers besser und erleichtert es ihm, sich zu entspannen und Nervosität abzubauen. Wie in Kap. 6 beschrieben, kann je nach Zielsetzung der Bewerberstuhl zwischen der ersten und zweiten Gesprächsrunde variiert werden.

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11 Gestik

Bei der Entwicklung der Gestik durch die verschiedenen Ebenen drückt entgegen der Schwerkraft gesetztes Verhalten positive Gefühle aus, während Bewegungen und Gestiken, die sich der Schwerkraft hingeben und nach unten gerichtet werden, negativ konnotiert sind. Während Gesten von unten nach oben das Energieniveau anheben und Schwung in das Gespräch bringen, wirken Bewegungen von oben nach unten mäßigend und bringen Ruhe in das Gespräch. Weitere Interpretationsmöglichkeiten eröffnen sich, falls eine Hand über dem Tisch gestikuliert und die andere sich unter die Tischfläche zurückzieht oder auf der Armlehne liegen bleibt. Bei Rechtshändern signalisiert die exponierte linke Hand, dass die persönliche Beziehung gesucht wird, ist dagegen die rechte Hand oben, steht der sachliche Aspekt im Vordergrund [4].

11.3 Arme Auch unsere Armbewegungen sind ein authentischer Ausdruck unserer Gefühle und Einstellungen und reagieren direkt auf ein auslösendes Ereignis [9]. Beispielsweise führen Ladendiebe beim Versuch, nicht aufzufallen, weniger Armbewegungen aus als andere Kunden [10]. Unsere Arme können Auskunft geben über empfundenes Behagen und Unbehagen, aber auch über den Grad unserer Zuversicht und andere Gefühlszustände. So weist beispielsweise die Höhe, bis zu der eine Person innerlich bereit ist, ihre Arme hoch zu nehmen, auf ihr Selbstbewusstsein hin. Im Extrem wird diese Haltung zu einer Jubelpose: Dem Sieger fällt es in seiner aktuellen Hochstatusposition leicht, die Arme hoch zu nehmen und auf deren Schutzfunktion zu verzichten. Das gegenteilige Verhalten zeigt der entmutigte und geknickte Verlierer, der sowohl den Kopf als auch die Arme nach unten fallen lässt und nur eine geringe aktuelle Handlungsbereitschaft zeigt. Ergänzend zu den in Kap. 7 beschriebenen Merkmalen der Armbewegungen beim Gehen eröffnen weitere Eigenschaften zusätzliche Einblicke. Eng an den Körper gepresste Arme können auf Unterordnung oder Angst hinweisen. Wie weit die Arme und Hände vor den Körper geführt werden, gibt Aufschluss über die Aktionsbereitschaft und Offenheit des Gesprächspartners. Das Gegenteil ergibt sich bei zurückhaltenden oder gar hinter den Rücken genommenen Händen, welche Distanz anzeigen und aktuell noch nicht vorhandene Handlungsbereitschaft. Dabei eröffnet die Art und Weise, wie das geschieht, weitere Interpretationsmöglichkeiten: Sind die beiden Hände nur lose ineinandergelegt oder hält eine Hand die andere am Handgelenk oder gar höher fest? Je höher die dominante Hand dabei ansetzt, desto stärker die Kontrolle, sich selbst vom Handeln und Öffnen zurückzuhalten. Geschieht dies aus emotionaler Unsicherheit, bremst die linke Hand die rechte. Hält man sich aus Prinzip oder taktischem Kalkül zurück, wird es tendenziell die Rechte sein, die kontrollierend auf die Linke einwirkt. Diese Bewegungen lassen sich beispielsweise beim gemeinsamen Gang durch den Betrieb beobachten, wenn man von Zeit zu Zeit stehen bleibt, um einen Arbeitsplatz oder ein geplantes Projekt vorzustellen.

11.3 Arme

277

Im Gegensatz zu raumgreifenden, dominanten Bewegungen wird der Wunsch zu wirken, geringer, je körpernäher die Bewegungen ausgeführt werden. Kleine, feine Bewegungen deuten damit auf Bescheidenheit und Sachlichkeit hin. Zurückhaltende Bewegungen der nah am Körper bleibenden Arme gehen in der Regel mit kleinen Schritten einher und weisen auf eine Veranlagung für genaues und akkurates Arbeiten hin sowie auf die Neigung, auf Details zu achten. Verschränkte Arme Verschränkte Arme stellen wohl den Klassiker der Körpersprache schlechthin dar. Sie sind es auch, die in Unterhaltungen über das Thema in der Regel als erster Punkt aufgeführt werden und für Gesprächsstoff sorgen, ob die Haltung lediglich bequem ist oder tatsächlich eine Auswirkung hat. Die klare Antwort: Es kommt darauf an, im Zweifel aber eher Letzteres. Ihr Einfluss auf unsere Wahrnehmung wurde in Kap. 3 im Rahmen von Öffnen und Schließen bereits beschrieben und wird im Folgenden vertieft. Wie Molcho beschreibt, dienen die geschlossenen Arme als Filter, der unerwünschte Inhalte herausfiltert [4]. So kann aber nur das aufgenommen werden, was wir ohnehin schon kennen, d. h., wirklich offen für Neues ist der verschränkt dasitzende Gesprächspartner nur bedingt. Unabhängig vom behandelten Thema empfiehlt es sich, den Gesprächspartner dort abzuholen, wo er steht. Dies gelingt am besten, indem man sich selbst etwas zurücknimmt und sich auf die Perspektive des Partners und jene Aspekte des Themas konzentriert, die ihm bereits bekannt sind. Gelingt dies, gewinnt der Gesprächspartner oftmals die notwendige Sicherheit zurück, um sich wieder zu öffnen. Sich zurückziehende und verschränkende Arme können die Folge aufgebrachter, ängstlicher oder verletzter Gefühle sein. Der Gesprächspartner fühlt sich schlecht behandelt oder seine Werte oder Weltanschauung bedroht. Vor der Brust gekreuzte Arme signalisieren Rückzugsverhalten und ziehen Inaktivität nach sich, oftmals wird noch ein Statement gesetzt, bevor man sich zurückzieht. Die verschlossenen Arme geben Schutz gegen eine ungewünschte Meinung, zu viele Informationen, aber auch gegen Kälte oder prinzipielle Störungen von außen. Verschränkte Arme allein sagen noch nichts, außer dass die Person im Augenblick nur bedingt aufnahmebereit ist. Das impliziert noch nichts Negatives: Es gibt nun mal Charaktere, die vertrauensvoll die ganze Welt umarmen könnten, während andere kritischer sind und sich erst einmal ein genaueres Bild von der Situation machen, bevor sie sich auf diese einlassen. Ob der kritische Typ jedoch der ideale Vertriebsmitarbeiter ist, kann hinterfragt werden. Das direkte Verschränken der Arme auf eine Aussage hin ist dagegen aufschlussreicher: Hier stellt sich die Frage, was zum Rückzug geführt hat. Im Interview kann unterschieden werden, ob der Rückzug schleichend eintritt, während der Recruiter die Stelle, Schnittstellenpartner und kommende Verantwortlichkeiten beschreibt, oder ob ein Statement gesetzt und der Bewerber sich daraufhin zurückzieht.

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11 Gestik

Beispiel

Inkongruenzen können auch bei verschränkten Armen auf eine Täuschungsabsicht hinweisen. Geben wir ein verbales Statement ab, hinter dem wir nicht stehen, distanziert sich der Körper vom Gesagten: Im Nixon-Prozess zeigte sich dieser Rückzug regelmäßig, wenn Nixon nach einer Falschaussage einen Schritt zurücktrat, sich zurücklehnte oder die Arme verschränkte [11]. Die Arme können sich auch schließen, wenn der Speicher erst einmal voll ist: Hat der Gesprächspartner nach einem längeren Monolog oder Vortrag genug gehört, muss das Gesagte, gerade wenn es sich um neue, komplexe oder unerwartete Informationen handelt, erst einmal verarbeitet und integriert werden. Zusätzliche Informationen würden jetzt nur stören, man verschließt sich. Eine andere Interpretation geht dahin, dass eine ihre Arme verschränkende Person, die sich mit ihrem Gesprächspartner im öffentlichen Raum befindet, sich damit gegen Störungen von außen abgrenzen möchte: Das Schließen gilt in diesem Fall nicht dem Gegenüber, sondern dem Schutz des Gesprächs. Hier müssen ergänzende Signale wie Abstand, Mimik und Körperhaltung sowie die verbalen Signale mit in die Beurteilung einbezogen werden. Hintergrundinformation Verschränkte Arme können sich in unterschiedlichen Formen zeigen. Liegen die Hände und Arme lediglich bequem ineinander verschränkt, stützt sich diese Haltung von selbst, man plaudert entspannt, will dabei nicht gestört werden und ist bereit, selbst gestikulierend loszulegen, sobald man wieder das Wort hat. Liegen beide Hände auf den Armen auf, entwickelt sich die Haltung zur Selbstumarmung mit wärmendem Charakter. Wenn tatsächlich die Temperatur das Problem darstellt, geht diese Haltung mit wärmenden Bewegungen und Unbehagen-Signalen wie hochgezogenen Schultern und anderen, die Körperoberfläche verkleinernden Haltungsänderungen einher. Weiteren Aufschluss gibt die Spannung der Arme. Steigt diese und werden die Hände in den Oberarmen verkrallt, wird die Haltung defensiver und die ostentative Zurückhaltung sichtbar. Wandern die Hände nach innen und landen in die Achselhöhlen, bilden sie eine Schutzhaltung, die zu einem gewissen Grad in Unsicherheit oder Ängstlichkeit gründen kann. Bei dieser liefern die Daumen Hinweise auf den inneren Status. Werden sie versteckt, nimmt die Person sich zurück, werden sie exponiert, konnotieren sie die Haltung auf positive Art und Weise: Die Person ist innerlich geklärt, weiß um ihre Haltung zum Thema, ist bereit, die eigene Botschaft zu senden, und zeigt dadurch den inneren Hochstatus. Gleichzeigt schützt sie sich vor Widerstand, ist aber bereit, Rückmeldungen und Ergänzungen anzunehmen, die zum Konzept passen. Im Verkauf stellen gekreuzte Arme, mit gehobenen Daumen in Verbindung mit anderen positiven Tells ein Go-Signal dar, bei dem nach einem Abschluss gefragt werden kann. Sind die Daumen dagegen versteckt und zeigen sich negative Tells, sollte der Abschluss noch nicht herbeigeführt, sondern weiter gefragt werden, um den Kern der Ablehnung und Unsicherheit zu finden und die Person zu öffnen [12].

Liegen beide Hände auf den Armen auf, lässt sich mitunter beobachten, wie sich eine Hand hebt und die Stellung öffnet. Hier kann der Arm wie eine Schranke betrachtet werden, die sich langsam öffnet, bis die Hand schließlich am Kinn angelangt und sich evaluierend mit dem Thema auseinandersetzt. Steigt die Identifikation mit dem Thema,

11.4 Finger

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entwickelt sich die Stellung weiter: Der Daumen stützt das Kinn von unten, der Oberkörper wird aufgerichtet, der Mund, und oft auch gleichzeitig der zweite Arm, öffnet sich leicht, um den eigenen Beitrag zu platzieren, während ein Zeigefinger sich exponiert, um den Anspruch auf den Beitrag zu verstärken. Die Augenbrauen heben sich, der Oberkörper beugt sich nach vorne, die Bereitschaft zur Beteiligung am Gespräch steigt.

11.4 Finger Verschiedene Autoren wie Horst Rückle, Samy Molcho und Monika Matschnig weisen den einzelnen Fingern spezifische Charakteristika zu. Neben ihren Praxiserfahrungen belegen Forschungsergebnisse von Irenäus Eibl-Eibesfeldt die Bedeutungen, die den verschiedenen Fingern zugeschrieben werden [13]. Da sich einige Fingergesten wie das weisende und drohende Schwingen des Zeigefingers kulturübergreifend zeigen, liegt eine universelle Bedeutung nahe. Welcher der Finger bewusst oder meist unbewusst exponiert wird, kann daher Informationen über die Intention und die Motive des Bewerbers vermitteln. Beobachtet man die Finger der Hand in einer entspannten Grundhaltung, lässt sich oftmals erkennen, dass ein Finger etwas stärker absteht und sich dadurch die unbewusste Prädisposition für sein Thema ausdrückt [4]. Daumen  Der Daumen steht für Macht, Kraft, Stärke und Dominanz. Mit ihm können wir den stärksten Druck ausüben und zentrierter weitergeben als mit allen anderen Fingern. Die dominierenden Daumen verraten Durchsetzungsstärke und Selbstbewusstsein. Werden sie hochgestreckt, kommunizieren sie wie alle gegen die Schwerkraft ausgeführten Bewegungen eine positive Botschaft, geschieht dieses jedoch allzu demonstrativ, entwickelt sich die Haltung zum Imponiergehabe. Die Symbolik des Daumens hängt auch damit zusammen, dass er als von der Hand abstehender Finger besonders gefährdet ist. Wird keine Gefahr erwartet, kann er frei exponiert werden. Umschließen wir ihn hingegen mit den anderen Fingern, nehmen wir uns unbewusst zurück und machen uns handlungsunfähig. Die Symbolik dieser Haltung wird deutlich, wenn wir uns fragen, was passierte, wenn jemand mit einer Faust, die den eigenen Daumen umschließt, zuschlagen würde. Die Person würde sich den Daumen dabei selbst brechen und handlungsunfähig machen. Wird der Daumen von den anderen Fingern umschlossen, kann man bei Erwachsenen darauf schließen, dass vorübergehend die Fähigkeit zu einer (schwierigen) Entscheidung verloren ist [14]. Die versteckten Daumen signalisieren ein gewisses Schutzbedürfnis und zeigen an, dass sich die Person gerne zurückziehen möchte. Zeigefinger  Der Zeigefinger zeigt Willens- und Handlungsbereitschaft. Als Weisungsfinger lässt sich in Diskussionen oft sein Zucken beobachten, wenn die Gegenseite ein Argument vorbringt, dem man widersprechen möchte oder welches man relativierend entkräften oder gar widerlegen kann. Die Lateralität der Bewegung zeigt an, ob es sich eher um eine moralische, emotionale (Zurecht-)Weisung handelt (linke Hand) oder es

280

11 Gestik

um fachliche und sachliche Korrektur geht, die mit dem rechten Zeigefinger betont wird. Darüber hinaus wirkt der Zeigefinger als Belehrungs-, aber auch als Drohfinger [15]. Ist er überaus aktiv, weist er auf einen rechthaberischen Menschen hin. Mittelfinger  Der Mittelfinger als Selbstgestaltungfinger vermittelt Selbstwertgefühl, Wichtigkeit, Status und Stolz. Wird er exponiert und auf etwas gelegt oder mit ihm auf etwas getippt, wird dem Besprochenen eine besondere Wichtigkeit beigemessen, die über das bloße Hinweisen mit dem Zeigefinger hinausgeht [16]. Wird er selbst berührt, gerieben oder gestreichelt, drückt sich das Bedürfnis nach Selbstgestaltung und Anerkennung aus [17]. Ringfinger  Der Ringfinger als Gefühlsfinger wird dagegen oft gerieben, umschlossen oder gehalten, wenn Menschen sich in emotionalen Situationen selbst beruhigen wollen [16]. Wird der betonte Ringfinger berührt, wünscht sich die Person ein paar Streicheleinheiten und drückt nonverbal und unbewusst den Wunsch nach etwas versöhnlichem Zuspruch aus. Kleiner Finger Der kleine Finger wird von Samy Molcho [18] auch als der Gesellschaftsfinger bezeichnet und wird oft von Menschen, denen ihr gesellschaftliches Ansehen besonders wichtig ist, etwas weiter exponiert, in früheren Zeiten durch das demonstrativ gezeigte Abspreizen des kleinen Fingers beim Halten eines Glases. Ein abgespreizter kleiner Finger weist aber auch auf Zuwendung zu einer Sache oder hohen Genuss hin. Wird er hingegen eingeknickt und unter die Handfläche geschoben, ist das Gegenteil der Fall. Er gibt also auch Auskunft über die Art einer Beziehung oder die Empfindungen einer Person in einer bestimmten Situation. Ein auffallend exponierter kleiner Finger kann auf das Motiv Anerkennung hinweisen und auf mögliche zu erwartende „Extratouren“ des Bewerbers. Hormone und Fingerlänge [19] Die Biologen Martin Cohn und Zhengui Zheng von der University of Florida untersuchten die Faktoren, die das Wachstum unserer Finger beeinflussen. Die Aktivität unserer Sexualhormonrezeptoren im Mutterleib beeinflusst nicht nur, ob wir ein männliches oder weibliches Gehirn entwickeln, sondern auch die Länge des Zeige- und Ringfingers. Aus dem Längenverhältnis zwischen beiden lässt sich somit ablesen, ob ein eher männlich oder ein eher weiblich geprägtes Gehirn vorliegt und welche damit verbundenen Persönlichkeitsmerkmale zu erwarten sind. Bei Männern überragt normalerweise der Ringfinger den Zeigefinger, während bei Frauen beide gleich lang sind oder der Zeigefinger länger ist als ihr Ringfinger. Wie John Manning von der Swansea University beschreibt, gibt es starke Korrelationen zwischen dem Verhältnis von Zeige- zu Ringfinger und verschiedenen Verhaltenstypen, Fruchtbarkeit, Krankheiten, Sportlichkeit sowie der sexuellen Orientierung. Laut Manning verfügen Frauen mit längerem Ringfinger, welche also über ein für Frauen untypisches Fingerlängenverhältnis verfügen, über eine hohe Durchsetzungskraft, sind weniger kommunikativ und neigen seltener zu Neurosen. Je länger der Ringfinger, desto ausgeprägter äußern sich diese Eigenschaften. Bei Männern steht ein auffällig langer Ringfinger für Potenz und Sportlichkeit. Die hohe Dosis Testosteron im Mutterleib kann laut Manning aber auch die Veranlagung für Krankheiten wie Autismus, Migräne, Stottern, Schizophrenie und Depressionen begünstigen [19].

11.5  Aktive Gestik

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11.5 Aktive Gestik Während unsere Worte die Kommunikation auf der rationalen Sachebene pflegen, wirken unsere Gesten auf der emotionalen Beziehungsebene und stellen damit eine natürliche und ideale Ergänzung zum gesprochenen Wort dar. Je nach Funktion drücken sie sich dabei bewusst oder unbewusst aus. Je kleiner und beiläufiger unsere Gesten ausfallen, desto weniger sind wir uns in der Regel über diese bewusst und desto zuverlässiger geben sie durch ihre Unverfälschtheit Auskunft über unser Innenleben und prägen das Bild, das wir anderen unbewusst von uns vermitteln. Der bewusste Einsatz von Gestik erfolgt in Form von Emblemen wie etwa dem „Facebook-Daumen“. Da Embleme kulturellen Einflüssen unterliegen, beugt deren Kenntnis im Recruiting interkulturell begründeten Missverständnissen vor. Bei der Vorbereitung auf Interviews mit Bewerbern aus fremden Kulturen sollten also mögliche Embleme recherchiert werden. Darüber hinaus vermitteln diese den Habitus und erlauben Einschätzungen der Klassenzugehörigkeit. Die meisten übrigen Funktionen unserer Gestik drücken sich dagegen un- und vorbewusst aus, beispielsweise im Rahmen der Selbstregulierung, um Stress abzubauen, um verräterische Ausdrücke und Gewohnheiten zu kaschieren und Ersatzhandlungen durchzuführen oder um symbolische Handlungen und Einstellungen auszudrücken. Die in Abschn. 10.1 beschriebene Unterscheidung nonverbaler Signale nach ihrer Funktion gilt auch für unsere Gestik. In den folgenden Abschnitten werden verschiedene Arten der Gestik den Funktionen Emotionsausdruck, Emblem, Illustrator, Adaptor oder Regulator zugeordnet. Diese wurden von Trainern, Coaches, Verkäufern, Personalern, Regisseuren und Schauspielern, aber auch von Therapeuten, Psychologen und Agenten verschiedener Geheimdienste gesammelt und ihre möglichen Intentionen und Bedeutungen in den unterschiedlichsten Situationen gedeutet.  Symbolhandlungen  Der Pionier der Entwicklungspsychologie, Jean Piaget, beobachtete, wie seine Tochter, nachdem sie im Alter von einem Jahr noch nicht auf das Öffnen einer Streichholzschachtel reagiert hatte, im Alter von 1,5 Jahren begann, die eigene Hand zu öffnen und zu schließen, als er die Schachtel öffnete und schloss. Als sich vergleichbare Handlungen mit den Händen, aber auch anderen Körperteilen wie dem Mund oder den Augen wiederholten, schloss Piaget auf mögliche symbolhafte Ausdrücke hinter unseren Handlungen [20].

Psychologische Symbolhandlungen im Sinne von Piaget (in Abgrenzung zu biologischen Symbolhandlungen im Sinne von Konrad Lorenz) gehören zur Gruppe der metaphorischen Gesten, die den Illustratoren zugeordnet sind und, wenn sie beim Zuhörer auftauchen, dessen Nachempfinden der Handlungen oder Aussagen des Sprechenden spiegeln. Zeigen sie sich beim Sprechenden, drücken sie auf körperlicher Ebene Inhalte aus, für die dieser auf geistiger Ebene bildhafte, abstrakte oder übertragene Vorstellungen hat.

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11 Gestik

Durch ihren hohen Symbolcharakter sind viele dieser nonverbalen Ausdrücke in den Sprachgebrauch eingeflossen und werden dort so intuitiv und selbstverständlich verwendet und verstanden, dass paradoxerweise das Bewusstsein über ihre Herkunft aus der nonverbalen Kommunikation und die damit verbundene Aussagekraft des nonverbalen Ausdrucks gesunken ist. Lesen wir in einem Artikel, dass jemand die Hände entspannt in den Schoß legt, ist uns direkt klar, dass diese Person nicht daran denkt, aktiv zu werden. Sitzt jedoch ein Bewerber vor uns, dessen Hände ebenso entspannt im Schoß ruhen, übersehen wir allzu häufig die Aussagekraft dieses Bildes, dabei sollte doch ein (gutes) Bild eigentlich mehr sagen als tausend Worte.



Durch die obigen Zusammenhänge kann das eigene Verständnis für nonverbale Kommunikation nach und nach erhöht werden, wenn im Alltag das Bewusstsein für solche selbstverständlichen, eine körpersprachliche Haltung oder Geste ausdrückenden Redewendungen geschärft und sich deren ursprüngliche Bedeutung bewusst gemacht wird. Entsprechend fallen sie uns deutlicher in künftigen Gesprächen auf und erhöhen unser Verständnis für ihre impliziten Aussagen.

Ebenso lässt sich beobachten, wie mithilfe von Symbolgesten Gedanken gefasst werden oder versucht wird, Zusammenhänge in den Griff zu bekommen oder Halt zu finden. Zeigt der Bewerber verächtliche und wegwerfende Gesten, während er von früheren Arbeitsverhältnissen erzählt oder er die ihm vorgestellte neue Stelle kommentiert, drückt sich seine negative Einstellung aus, auch wenn auf der verbalen Ebene möglicherweise formal und politisch korrekt geantwortet wird. Dass man sich im Bewerbungsgespräch nicht über alte Arbeitgeber abfällig äußern darf, ist bekannt, oft übernehmen von daher die Hände diese Aufgabe. Andere Signale, bei denen unsere Gestik Beziehungsinhalte transportiert, die auf der verbalen Ebene nicht ausgedrückt werden wollen, zeigen sich beispielsweise im Abzupfen oder Entfernen imaginärer oder tatsächlich vorhandener Fussel oder Staub von der eigenen Kleidung. Der so Zupfende oder mit den Fingerrücken Wischende hält in der Regel nicht viel vom aktuellen Thema oder hat Vorbehalte gegen einzelne Punkte, kann oder will diese aktuell aber nicht benennen. Infolgedessen sucht sich seine innere Spannung einen anderen Weg und richtet sich auf mangelhafte Punkte wie Fussel oder Staub auf der Kleidung. Das Ziel der übertragenden Handlung muss nicht die Kleidung sein, so kann mit dem Staub auch gleich das Argument des Gesprächspartners mit der Handkante vom Tisch gefegt werden oder unbequeme Gedanken und Einwürfe wie lästige Insekten verscheucht werden. Symbolische Gesten stellen oftmals die Schwelle zu verletzendem Verhalten dar: Werden Angebote, im schlimmsten Fall in Begleitung einer verächtlichen Mimik, mit über den Tisch wischenden Handkanten abgelehnt, geht es in der Regel nicht mehr nur um die Sache, sondern auch darum, vor dem Gesprächspartner seinen Missmut nicht zu verbergen oder ihn diesen spüren zu lassen und ihn dabei nicht selten zu entwerten und

11.5  Aktive Gestik

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sich über ihn zu stellen. Wie in Bezug auf das gesprochene Wort gilt auch für Gesten, dass die Art und Weise, wie eine Person über andere spricht, oft mehr über sie selbst aussagt als über jene, über die sie spricht. Abfällige Gesten der beschriebenen Art müssen von Putzgesten abgegrenzt werden, die vom nüchternen Wortlaut her genauso Fussel vom Sakko zupfen wie das oben beschriebene abfällige Zupfen. Formal scheint damit die gleiche Tätigkeit beschrieben, doch die Art und Weise, wie diese ausgeführt wird, macht den Unterschied. Putzgesten zeigen sich, wenn jemand in Sichtweite gerät oder erwartet wird, dessen Meinung uns viel bedeutet. Kurz putzt man sich noch einmal heraus, um den bestmöglichen Eindruck zu hinterlassen. Der Unterschied lässt sich normalerweise an der begleitenden Mimik und an der Art und Weise, wie man sich den Fusseln zuwendet, gut erkennen. Gesten mit übertragendem Inhalt können sich auch in anderem Kontext positiv zeigen, wenn man beispielsweise die zum Thema aufgeschriebenen Notizen nimmt und sorgfältig in eine Mappe ablegt oder gewissenhaft eine neue Seite im Notizbuch aufschlägt und sie sorgsam glattstreicht, um sich Notizen zu einem neuen Thema zu machen. Die hierbei in subtiler Form angedeutete Wischgeste gilt anderen Themen, die beseitigt werden, um sich, wie schon durch die neu aufgeschlagene Seite angezeigt, ganz auf die neue Sache zu konzentrieren. Unter den verschiedenen Arten der Gestik bietet sich besonders bei symbolischen Gesten die Berücksichtigung der in Kap. 3 beschriebenen Lateralität bei ihrer Interpretation an. Die Benutzung oder Hervorhebung einer Hand lässt darauf schließen, dass die ausgeführte Geste eher durch die linke Hirnhälfte beeinflusst und mit der rechten Hand ausgedrückt „logisch“ oder durch die rechte Hirnhälfte beeinflusst und mit der linken Hand ausgedrückt „ganzheitlich“ unterlegt ist. So kann beispielsweise unterschieden werden, ob eine Frage oder ein Argument mit der linken Gefühls-Hand oder rechten Ratio-Hand weggeschoben wird. Im ersten Fall ist die Beantwortung dem Bewerber unangenehm, während sie im zweiten Fall rational und inhaltlich nicht leicht zu beantworten ist. Wie beschrieben, bezieht sich die Deutung stets auf Rechtshänder und sollte lediglich der Orientierung dienen. Die Veränderung der Anzahl, mit der sich Illustratoren und damit auch symbolische Handlungen zeigen, weist gleichzeitig auf eine Änderung des emotionalen Zustandes hin. Auch in Bezug auf die Gestik sollte also zunächst das Normalverhalten bestimmt werden. Eine Zunahme der Illustratoren weist auf mögliche Aufregung, Freude, Ärger oder Erregung hin, während abnehmende Illustratoren in Langeweile, Konzentration, Traurigkeit und Angst begründet sein können. Adaptoren/Übersprunghandlungen Einige symbolische Gesten haben zwar ebenso illustrierenden metaphorischen Charakter, haben aber zu stärkeren Teilen den Charakter eines Adaptors, da sie mehr über das Stressniveau des Bewerbers ausdrücken als über seine Beziehung zum Gegenüber: Verschafft er sich beispielsweise Luft durch Zupfen am Kragen, signalisiert der Bewerber

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sein Unbehagen in Bezug auf das gerade Besprochene. Navarro beobachtete das Zupfen und Weiten des Kragens regelmäßig im Verhör, wenn Verdächtige versuchten, etwas zu verbergen [21]. Ekman beschreibt Adaptoren als Beruhigungsgesten, andere Autoren bezeichnen sie als Übersprunghandlungen. Adaptoren entstehen, wenn einander widerstrebende Impulse, Frustrationserlebnisse oder Konflikte uns unter Spannung versetzen und das Bedürfnis entsteht, diese abzubauen. Es ergeben sich nervöse Ausweichhandlungen, die keinen primären Zweck verfolgen, sondern uns als Sekundärnutzen ermöglichen, überschüssige Energie abzubauen. Sie dienen der Regulierung des Energieniveaus (Adaption). Ihre zweite Bezeichnung Übersprunghandlungen kommt daher, dass sie neben der verbrauchten Bewegungsenergie im metaphorischen Sinne überschüssige Energie bei der Berührung abspringen lassen, wenn dabei andere Körperteile, Menschen oder Objekte berührt werden. Ob dabei tatsächlich messbar Energie fließt, sei dahingestellt, tatsächlich gründet ihr beruhigender Effekt darin, dass durch die Berührung im Gehirn stresssenkende Endorphine ausgeschüttet werden, die uns helfen, mit negativen Gefühlen besser umzugehen. Dadurch nehmen Adaptoren bei steigendem Stress und Unbehagen zu. Sie lassen sich in Selbst-, Fremd- und Objekt-Adaptoren unterscheiden, bei denen der eigene Körper, andere Personen oder Gegenstände berührt werden.

Adaptoren geben im Bewerbungsgespräch weniger inhaltliche oder symbolische Informationen, dafür erleichtern sie es, emotional geladene Themen besser zu erkennen. Hierzu stellt die schlichte Unterscheidung zwischen Wohlbefinden und Unbehagen ein zentrales Kriterium dar. Die Ursachen der Spannungen sind breit gestreut, so können Übersprunghandlungen auf Beruhigung, Distanzierung oder Selbstbestrafung hinweisen. Sie drücken sich beispielsweise aus durch Gesichtsberührungen, Kopfkratzen, ziehen am Ohrläppchen, Gähnen, Fusseln vom Anzug klopfen, Haare glätten, Haarsträhnen aus dem Gesicht streichen, Hände reiben, Kleid glätten, Brille zurechtrücken oder säubern, Nägel kauen, Papiere ordnen, Finger betrachten oder spielen mit Schreibgeräten [22]. Weitere Handlungen können sich zeigen im Streicheln des Kinns oder des Bartes, Bedecken des Mundes mit der Hand, Berühren der Nase, Reiben der Wange und im Kratzen oder Reiben der Augenbrauen. Ebenso können an die Wange gelegte Finger, das Kratzen am Mundwinkel, Nase oder Schläfe selbstberuhigende Gesten darstellen. Navarro beschreibt, dass das gleichzeitige Abstreifen der Hände auf den Oberschenkeln, vom Schoß zu den Knien, eine stark selbstberuhigende Geste darstellt, mit der sich Verhörte unter Druck versuchten, Erleichterung zu verschaffen [23]. Die Hände führen diese Geste zwar unter dem Tisch durch, aber man kann diese gut erkennen, wenn man auf die Schultern und Arme des Bewerbers achtet. Wird die Hand hinter den Kopf geführt und der Nacken oder der Hinterkopf gerieben, gekratzt, berührt oder festgehalten, schützen die Hände und Unterarme gleichzeitig unseren Nacken und die empfindlichen Hauptschlagadern am Hals. Der Griff in den Nacken signalisiert damit je nach Intensität Unsicherheit, innere Konflikte oder Frustration. Zeigt der Bewerber diese Geste, sollte man den eben besprochene Punkt besser erklären und versuchen, etwaige Ängste und Unsicherheiten zu bestimmen und aufzulösen.

11.5  Aktive Gestik



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Eine interessante Einsicht bietet die Reaktion des Bewerbers auf einen Tadel oder einen Misserfolg. Hier kann zwischen dem Reiben des Nackens und dem Schlagen der Hand auf die Stirn unterschieden werden. Während erstere Bewegung einem negativen, kritischen Typen zugeordnet wird, der sich selbst Vorwürfe macht, signalisiert letztere Bewegung einen offenen Typus, der eine Easy-going-Einstellung zeigt nach dem Motto „Ui, das hätte ich besser wissen sollen, aber was solls, beim nächsten Mal machen wir es besser, weiter im Text“. Im Bewerbungsgespräch könnte eine solche Reaktion beispielsweise durch eine herausfordernde Frage angestoßen werden, die den Blick über den Tellerrand, ein um die Ecke denken oder einen disruptiven Denkansatz erfordert, um auf die ideale Lösung zu kommen. Scheitert der Bewerber beim Lösungsversuch und wird ihm anschließend die Lösung verraten, kann beobachtet werden, ob sich eine der beiden beschriebenen Reaktionen, gegebenenfalls auch nur im Ansatz, zeigt.

Auch das Berühren des Halses oder der Drosselgrube zeigt Unsicherheit an und ist eine selbstberuhigende Berührung, um Stress abzubauen. Ebenso das Zurechtrücken der Krawatte, womit man sich nach einer unangenehmen Situation oder vermasselten Aktion wieder in Form bringt, um Haltung zu wahren. Leichte Unsicherheiten zeigen sich auch im Richten der Uhr oder der Manschettenknöpfe, beide Handlungen errichten zugleich eine subtile Barriere zum Partner. Wie beschrieben, ist die Zuordnung unserer Gesten zu einer bestimmten funktionalen Kategorie wichtig, um diese treffend zu deuten. So kann Fingertrommeln in seiner Funktion als Adaptor zwar durchaus die eigene Unruhe signalisieren. Zeigt es sich aber als Illustrator, sendet es deutlich die Aufforderung, endlich zum Wesentlichen zu kommen. Illustrierendes Fingertrommeln sollte sich im Bewerbungsgespräch normalerweise nicht zeigen: Es wirkt unhöflich und brüskierend. In seiner Funktion als Adaptor tritt es jedoch immer wieder auf. Die Unterscheidung zeigt sich durch die Intensität und den Grad des Bewusstseins über das Trommeln. Als Adaptor tritt es subtil und nur im Ansatz auf, bevor sich der zu trommeln Beginnende darüber und über seine unhöfliche Wirkung bewusst wird und es schnell wieder beendet. In dieser Funktion hat es keine vordergründige Appell-, sondern eine stärkere Selbstkundgabe-Wirkung und drückt die empfundene Langeweile und das aktuell nicht zu verwirklichende Bedürfnis aus, aufzustehen und die Situation zu verlassen. Es muss nicht immer auf dem Tisch geklopft werden, unauffälligere Orte, an denen der Drang zum Trommeln ausgelassen werden kann, sind auch die Oberschenkel oder die Armlehne. Bedeutung der Stellen, an denen man sich berührt Verschiedene Autoren beschreiben, dass bei Übersprunghandlungen die eigenen Hände oftmals jene Körperstellen berühren, an denen wir uns als mangelhaft fühlen. Diese Beobachtung wird wissenschaftlich bestätigt durch Studien, die Kahneman beschreibt: Probanden wurden dazu gebracht, entweder per Telefon oder per E-Mail zu lügen. Bei einem anschließenden Test mit verschiedenen Produkten bevorzugte die Gruppe, die am Telefon, mit dem Mund, gelogen hatte, Mundwasser. Jene dagegen, die per E-Mail, mit

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den Händen, gelogen hatte, bevorzugte Seife [24]. Beide Gruppen versuchten also unbewusst, ihre makelbehafteten Körperteile wieder zu reinigen. Eine andere Form der Betonung, der unbewussten Kompensation oder der Hinwendung zum Makel kann sich in Form von getragenen Ringen zeigen, die jene Finger betonen, deren Werte dem Träger wichtig sind.

Bei den oben beschriebenen Beispielen zeigt sich, dass bei vielen Übersprunghandlungen das Gesicht berührt wird. Die berührte Stelle erlaubt weitere Einsichten: Werden wir beispielsweise mit widersprüchlichen Informationen oder verwirrenden Reizen konfrontiert, befragen wir auf der Suche nach mehr Informationen zusätzlich unseren ältesten Sinn, den Geschmacksinn. Genauso wie wir Nahrung, bei der wir unsicher sind, ob sie noch genießbar ist, zur Nase führen, tun wir es beim prüfenden Griff an die Nase, wenn wir dem aktuell besprochenen Thema gegenüber kritisch eingestellt sind. Wir müssen erst noch mal darüber nachdenken, bevor wir uns ein abschließendes Urteil erlauben und die Inhalte aufnehmen oder ablehnen. Weitere Ursachen dafür, die Hand zur Nase zu führen, können Betroffenheit, Ertappt-Sein oder die Befürchtung sein, ertappt zu werden. In Stresssituationen helfen vertraute Reize, Sicherheit zu gewinnen und uns zu beruhigen: Wird die Hand zur Nase geführt, bringt sie uns in Kontakt mit unserem eigenen Körpergeruch, welcher uns tief vertraut ist und uns Sicherheit gibt. Dagegen zeugen Finger, die an oder in den Mund gelegt werden, von Überraschung, Verwirrung oder Staunen. Zeigt sich diese Geste öfter, kann die Interpretation von einer zumindest aktuellen Begriffsstutzigkeit bis hin zu einem prinzipiell naiven Gemüt reichen, welches die Veranlagung mitbringt, sich diffus Außenreizen oder fantasievollen Vorstellungen hinzugeben [25]. Weniger kritisch zeigt sich die Hand, die die gespitzten Finger an den geschürzten Mund führt. Gespitzte Finger ermöglichen uns, wie sonst mit einer Pinzette, feine Dinge vorsichtig zu behandeln. Zeigt sich diese Geste, fühlen wir in uns hinein und sind bereit, Gedanken den nötigen Raum zu geben, damit sie sich entwickeln können [4]. Drücken Daumen und Zeigefinger die Innenseiten der Nasenwurzel zusammen, zeigt sich eine intuitive, selbstregulierende Handlung des Körpers, die einen den Organismus aktivierenden Akupressurpunkt stimuliert und das Sehvermögen verbessert. Zeigt sich dieser Griff, sind wir normalerweise genervt oder empfinden eine Situation als sehr ermüdend. Die Geste gründet also in dem Bestreben, die Müdigkeit zu vertreiben und wieder eine klare Sicht zu erlangen [26]. Wie in Kap.  9 zum vermeidenden Blickkontakt beschrieben, blenden wir unerwünschte visuelle Informationen aus. Wird die Hand zu den Augen geführt, soll die Aufnahme unangenehmer Reize verhindert werden. Werden die Augen gerieben, kann die Ursache in Unlust oder unterschiedlichen Formen von Schmerz gründen. Reibt ein einzelner Finger das Auge, können die Lateralität und die oben beschriebene Fingersymbolik zur Deutung herangezogen werden. Der Griff ans Ohrläppchen kann auf verschiedene Art interpretiert werden, dabei sollte einerseits die allgemeine Gesprächsatmosphäre berücksichtigt werden und unterschieden werden, ob der Betroffene gerade selbst spricht oder zuhört. Einerseits stimuliert der Griff ans Ohrläppchen den Akupunkturpunkt für die Augen [27]: Hört die

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Person gerade zu und herrscht eine kooperative Atmosphäre, will sie genauer hinsehen, stimuliert auf der Suche nach mehr Informationen kurz den Punkt am Ohr und zeigt, dass das Thema sie interessiert. Ebenso kann der Griff ans Ohr vermitteln, dass sie das soeben Gehörte nicht genau verstanden hat, in diesem Fall wird das Ohrläppchen ggf. etwas nach unten gezogen oder das Ohr an der Muschel etwas nach außen gezogen. Letzteres vermittelt die Bitte nach deutlicherer und lauterer Aussprache oder die Beseitigung von Störgeräuschen. Herrscht eine kritischere Atmosphäre, wird der Punkt am Ohr gegebenenfalls länger gerieben, sodass die Geste einen prüfenden Charakter annimmt. Beginnt der Gesprächspartner selbst zu sprechen, stellen die Hand ins Gesicht bzw. die ans Ohrläppchen greifende Geste statussenkende Gesten dar, die auf einen Täuschungsversuch hinweisen können. Je nach Timing lassen diese verschiedene Deutungen zu: Der Griff ans Ohrläppchen kann, wie in Kap. 10 beschrieben, das Resultat einer im Rahmen unserer Sozialisierung abgewandelten Geste darstellen. Kleine Kinder schlagen sich nach einer Lüge noch die Hand vor den Mund, Erwachsene lenken den Impuls um und führen die Hand zu Nase, Ohr, Brille oder Schmuckstücken [28]. Geschieht das nach der Aussage, ist dem Bewerber latent bewusst, dass er eben etwas Nachteiliges unbeabsichtigt gesagt hat. Zeigt sich die Geste, bevor er das Wort ergreift, drückt sich sein moralisches Dilemma aus: Eigentlich sollte er ja die Wahrheit sagen, er entschließt sich aber für die „Alternative“, von der er sich mehr Erfolg verspricht. Manipulatoren  Manipulatoren werden ebenfalls den Adaptoren zugeordnet und sind Gesten und Handlungen, mit denen andere Körperteile oder Gegenstände nicht nur berührt, sondern intensiv bearbeitet werden. Beispiele zeigen sich im Reiben oder Ringen der Hände oder im Spielen mit einem Stift. Händereiben  Nachdem der Bewerber sein (Gehalts-)Angebot abgegeben oder eine Aussage dazu geäußert hat, muss der Personaler diese annehmen und so gerät der Bewerber in die wartende Position, bis er ein Signal erhält, das das Ergebnis der Entscheidungsfindung anzeigt. Aktuell sind ihm die Hände gebunden und so werden sie ineinandergelegt. Das kann geschehen, indem die Handflächen aufeinandergelegt werden und die Finger der einen Hand die andere schützend umschließen. Dabei halten sie sich fest und hindern sich gegenseitig am Handeln. Es kann sich eine waschende Bewegung ergeben, die Wohlbefinden ausdrückt und die Bereitschaft sowie Vorbereitung zum Handeln signalisiert. Steigt der Druck, entwickelt sich die Bewegung zum Reiben der Hände, was in der Regel auf der entspannten Höhe zwischen Gürtel und Solarplexus geschieht. Wandert die Höhe über den Solarplexus auf Brusthöhe, senkt sich dabei gelegentlich der Kopf und die reibende Bewegung erhält einen hintersinnigen Charakter: Die Höhe der Gestik in diesem leidenschaftlichen Bereich misst dem Ergebnis eine unverhältnismäßig hohe Bedeutung bei und den Kopf schützende, hochgezogene Schultern können die Angst signalisieren, das noch etwas schiefgehen könnte. Jemand, der ein faires und aufrichtiges Angebot gemacht hat, sollte kein schlechtes Gewissen oder Angst davor haben, dass das Geschäft nicht zustande kommen könnte.

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Weiteren Aufschluss gibt die Geschwindigkeit, mit der die Hände gerieben werden. Haben wir eine gute Idee, mit der wir unserem Gesprächspartner ehrlich helfen können, bereiten wir intuitiv unsere Hände durch schnelles, kurzes Reiben vor, um direkt in Aktion zu treten. Im Verkauf ist der schnell reibende Verkäufer gerade darauf gekommen, mit welchem Produkt oder welcher Dienstleistung er dem Kunden den besten Nutzen stiften könnte. Das langsame Händereiben signalisiert dagegen, dass der Verkäufer sich über das für ihn sehr gute Geschäft freut, dass er gleich machen wird. Wird dem Bewerber eine Frage nach einer hypothetischen Lösung für ein Problem aus der Praxis gestellt, kann zunächst händeringend nach einer Lösung gesucht werden. Tritt dann der Heureka-Effekt auf, signalisiert die schnelle reibende Handbewegung, dass sich der Bewerber sicher ist, eine gute Lösung gefunden zu haben. Eine langsam reibende Bewegung in der gleichen Situation könnte die Hoffnung ausdrücken, dass es klappt und der Betriebsvertreter eine vage Antwort akzeptiert oder beeindruckt werden kann. Im Rahmen der Gehaltsverhandlung, kann darauf geachtet werden, wie sich der Bewerber verhält, nachdem er seine Forderung platziert hat und die Betriebsvertreter versuchen, diese zu erfüllen. Distanziert er sich von seinem Gehaltswunsch, zieht er sich zurück und schließt sich, oder bleibt er gesprächsbereit? Prinzipiell zeigen sich entspannt reibende Hände, dass man etwas haben will. Man versucht, sich zu konzentrieren, und ist der Meinung, bislang alles so gut gemacht zu haben, dass einem Abschluss nichts im Weg stehen sollte. Steigt die Spannung, werden die reibenden Hände zu ringenden Händen und signalisieren steigenden Zweifel oder Stress. Wird gar mit verschränkten Fingern gerieben, ist dies ein Indikator für großen Stress. Klammern sich die Hände aneinander, fehlen die Handlungsoptionen: Der Bewerber weiß momentan nicht weiter und fühlt sich handlungsunfähig. Beispiel

Die Art und Weise, mit der eine Hand die andere behandelt, ermöglicht im Zusammenhang mit der aktuell im Raum stehenden Thematik, der Symbolik der Finger und der Bedeutung der Lateralität ergänzende Einsichten über die Einstellung zum Gesagten. Im Rahmen eines Interviewtrainings hinterfragten wir die Einstellung des Bewerbers zur Kaltakquise. Er argumentierte zwar für die Kaltakquise und stellte dabei seine rechte Hand mit der Handkante und den Fingerspitzen nach vorne, auf die Interviewer weisend, dynamisch vor sich auf den Tisch. Auf der sachlichen Ebene wusste der Bewerber, dass „Klinkenputzen“ zum Verkauf dazugehört und er Durchsetzungskraft und Dynamik zu zeigen hatte. Gleichzeitig legte sich jedoch seine linke Gefühlshand beschützend über die Rechte und signalisierte, dass er doch nicht so ganz davon überzeugt war. Im folgenden Interview war er dann erfolgreich, aber die erlangte Position nur eine kurze Station, bevor er zum nächsten Arbeitgeber wechselte, wo er passiver agieren konnte. Im Rahmen der internen Entwicklung kehrte er im darauf folgenden Schritt schließlich dem operativen Vertrieb ganz den Rücken. Als ich ihn später einmal fragte, ob er noch Kunden betreue, teilte er mit, dass er „so was“ jetzt nicht mehr

11.5  Aktive Gestik

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mache. Gut für seine wirklichen Karrierewünsche, schlecht für den ersten Betrieb, der ihn eingestellt hatte, um den eigenen Kundenausbau voranzubringen: Schon nach einem Jahr musste sich dieser auf die Suche nach einem Nachfolger machen. Werden die Spannungen zu groß, baut der eine oder andere diese durch Fingerknacken ab. Dabei hat auch dies eine selbstregulierende Funktion: Da beim Ziehen und Knacken mehr Information aus dem Körper ins Gehirn geleitet werden, also aus dem peripheren ins zentrale Nervensystem, wird der umgekehrte Informationsfluss gehemmt und die Nervosität lässt nach [29]. Neben dem ebenfalls beruhigenden akustischen Beleg der Selbstwirksamkeit kümmert sich der Knackende auf der symbolischen Ebene um seine Handlungsinstrumente und demonstriert über das knackende Geräusch deren Handlungsfähigkeit. Die Spannung gründet oftmals im Stress: Jemand will handeln, kann aber gerade nicht. Die Hände sind trotzdem aktionsbereit und unter Spannung, durch die Manipulation und gegenseitiges Kneten, Strecken, Stauchen, werden sie beschäftigt, auch wenn die Marotte nervös und latent aggressiv wirkt. Die latent aggressive und nervende Wirkung gründet darin, dass hier nach außen dringende Energie entladen wird und man dabei gleichzeitig in das akustische und emotionale Territorium seiner Mitmenschen vordringt. Regelmäßiges Knacken lässt sich nicht überhören. An der Mitteilung der damit verbundenen Nervosität haben in der Regel die wenigsten Menschen im Umfeld Interesse, gerade wenn für sie nicht ersichtlich ist, ob denn wirklich das Handlungsvermögen objektiv nicht vorhanden oder nur subjektiv eingebildet ist. Ein knackender Bewerber trägt damit ein blankes Nervenkostüm und eine stark eingeschränkte Selbstkontrolle zur Schau. Handelt es sich um eine Gewohnheit, darf man sich fragen, welchen Belastungen der Knackende schon ausgesetzt war, in deren Folge er sich das Knacken angewöhnt hat, und zu welchem Grad ihn diese weiterhin beeinflussen oder an der Leistungserbringung hindern. Fest steht nämlich auch: Während geknackt wird, wird sonst nichts anderes getan, die damit verbundene gestresste, resignierte oder missmutige Grundstimmung beeinflusst die Art zu denken und damit indirekt auch das Arbeitsergebnis. Darüber hinaus besteht die Gefahr der emotionalen Ansteckung, bei der sich negative Gefühle von einer Person auf ihr Umfeld übertragen, auf die zukünftigen Kollegen [30]. Das Knacken muss jedoch danach differenziert werden, ob es sich um ein entmutigtes oder ein vorbereitendes Knacken handelt, das, ähnlich einem schnellen Händereiben, kurz durchgeführt wird, um die Hände aktionsbereit zu machen. Intentionsgesten Durch die enge Verknüpfung von Gestik und Sprache treten auch im gestischen Bereich Intentionsbewegungen auf, bevor wir das Wort ergreifen oder ergreifen wollen: ein Zeigefinger, der sich leicht exponiert, während die Hand noch auf dem Tisch liegt, der Unterarm, der die noch geschlossene oder leicht geöffnete Hand hebt, die sich reibenden Fingerspitzen, die versuchen, einen Gedanken greifbar zu machen. Wer diese Intentionsgesten, die zur gestischen Kategorie der Regulatoren gehören, beim Gesprächspartner erkennt, kann innehalten, sich das eben Gesagte nochmals vor Augen führen und am gesamten

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Ausdruck des Gesprächspartners ablesen, ob dieser das Gesagte ergänzen will oder etwas entgegnen will. Daraufhin kann die aktuelle Ausführung angepasst und versucht werden, beides zu integrieren oder direkt innegehalten und dem Gesprächspartner das Wort gegeben werden, um das Gespräch in einem kooperativen Dialog weiterzuführen. Eine positive Intentionsgeste nimmt die Hände in der Vorbereitung zum Händeklatschen auseinander. Im nächsten Schritt könnten diese mit einem „Dann mal los“ zusammengeklatscht werden, um motiviert loszulegen. In einer subtileren Ausführung legt der oftmals leicht vorgebeugte Bewerber seine Hände wie bei einem gehemmten Klatschen geräuschlos ineinander. Er ist handlungsbereit und wartet lediglich darauf, dass der Betrieb auch zur Sache kommt, damit den Worten und beispielsweise einer Projektbeschreibung Taten folgen können. Im Rahmen eines dynamischen Dialogs über eine spannende Herausforderung erfolgt der Klatscher gegebenenfalls wirklich und die Hände werden danach in reibebereiter Haltung zusammengeführt, weil eine Erfolg versprechende Lösung gefunden wurde. Evaluationsgesten Während wir uns ein Bild von der Situation machen oder Informationen sacken lassen, bevor wir eine Entscheidung treffen, drücken unsere Hände das innere Abwägen in Form verschiedener Evaluationsgesten aus. Die klassische Form zeigt sich im bedächtigen Streicheln des Kinns, wenn der Daumen von der einen Seite und ein bis vier Finger von der anderen Seite von den Wangen her nach vorne streichen. Kurz bevor sie sich am Kinn treffen würden, wird die Geste erneut ausgeführt. Dabei kann beobachtet werden, welche Hand evaluiert und welche Finger am innerlichen Abwägen beteiligt sind. Handelt es sich um ein feines Evaluieren zwischen Zeigefinger und Daumen oder kommen zusätzlich Mittelfinger, Ringfinger oder gar noch der kleine Finger hinzu und bilden das Gegengewicht zum Daumen auf der anderen Seite? Die Anzahl der Finger, die Höhe, bei der sie ansetzen, und die Geschwindigkeit, mit der sie zum Kinn streichen, bestimmen den Charakter der Geste. Fahren mehrere Finger nach vorne und formen den Mund dabei zur Genießer-Schnute, würde uns das Ergebnis schon gut schmecken und hat uns schon fast verführt. Evaluieren lediglich Zeigefinger und Daumen, während der Mittelfinger von unten das Kinn leicht mitstreicht, gewinnt die Geste einen kritischeren Charakter, sie fällt kürzer aus und wirkt misstrauischer. Fällt die Bewegung beim Streichen nach vorne leicht ab und zeigt sich gleichzeitig eine Bitter-Mimik, zeigt sich die sorgenvolle Suche nach Auswegen aus der misslichen Lage. Die genauere Differenzierung muss stets vor dem Thema und Rahmen erfolgen, prinzipiell wird hier eine Entscheidung getroffen: Die ihr folgenden Bewegungen zeigen an, ob diese positiv oder negativ ausgefallen ist. Ist Ersteres der Fall und wird die Aussage oder das Angebot des Partners akzeptiert, hebt sich normalerweise der Kopf und es wird Blickkontakt aufgenommen – im negativen Fall wird nach der Geste der Blickkontakt oft nicht direkt wieder aufgenommen, sondern erst nachdem kurz irgendwo anders hingeschaut wurde.

11.5  Aktive Gestik

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Eine mögliche Weiterentwicklung der Geste zeigt sich beispielsweise, wenn nach dem Evaluieren der Daumen unter das Kinn gelegt und der Zeigefinger an der Wange nach oben gestellt werden. Molcho bezeichnet diese Haltung als die Pistole, bei der man sich dazu bereit macht, mit dem weisenden Zeigefinger auf mögliche Schwachpunkte der Gegenpartei hinzuweisen. Wie im Rahmen der Ebenen der Gestik beschrieben, signalisiert die steigende Höhe der Hände steigendes Interesse. Sind diese schließlich im Gesicht angelangt und wird die Hand an die gleichseitige Wange gelegt, signalisieren wir deutlich unsere Betroffenheit, Anteilnahme oder eben unser Interesse. Wird dieses jedoch enttäuscht, entwickelt sich auch diese Haltung weiter, wir stützen mit der Hand unsere Wange, und schließlich, gelangweilt, den ganzen Kopf. Ein unentschlossenes Evaluieren zwischen zwei Möglichkeiten zeigt sich, wenn der Kopf im Versuch, verschiedene Blickwinkel einzunehmen, von einer Seite zur anderen gewogen wird. Hier empfiehlt es sich abzuwarten, den eigenen Rhythmus ruhig und die Gestik im vertrauensvollen Bereich zu halten. Innerlich kann sich auf Nachfragen und Einwände vorbereitet werden und darauf, noch ein bis zwei Nutzenargumente für die eigene bevorzugte Option zu liefern, um dem Bewerber zu helfen, die notwendige Sicherheit für seine Entscheidung zu gewinnen. Brillenträger nutzen im Rahmen ihrer Entscheidungsfindung mitunter die Möglichkeit, ihre Sehhilfe zu putzen. Durch geputzte Gläser kann man genauer sehen und erhofft sich im übertragenen Sinne einen besseren Durchblick in Bezug auf die zu evaluierende Materie. Putzt der Gesprächspartner seine Brille, sollte gewartet werden. Wer in diesem Zusammenhang weiter argumentiert, beschleunigt unnötig seinen Rhythmus und riskiert, das gerade verlangsamende Gegenüber zu verlieren. Auch hier zeigt das Verhalten nach dem Putzen an, wie sich entschieden wurde: Setzt der Gesprächspartner die Brille wieder auf, kann es weitergehen: Er will mehr sehen. Klappt er sie akkurat zusammen und packt sie in das Etui, hat er normalerweise, im positiven Sinne, genug gesehen und tendiert zu einer positiven Entscheidung [31]. Legt er die Brille auf den Tisch, hat diese Handlung regelmäßig einen entmutigten Charakter und zeigt, dass er von einer möglichen Einigung Abstand nimmt. Evaluierende Gesten werden überwiegend den Regulatoren zugeordnet, je nach Kontext können sie jedoch auch in der Funktion eines Illustrators auftreten. Folgt im Anschluss an eine evaluierende Geste oder unabhängig davon ein Nasenstüber, bei dem die Außenseite des Zeigefingers ein oder mehrere Male die Nasenspitze von unten nach oben schiebt, verwirft der Gesprächspartner unsere gemachte Aussage und signalisiert, dass diese nicht zu seinem Weltbild passt oder er sie als unangemessen, frech oder gar unverschämt empfindet – die Anzahl der Nasenstüber und die Intensität, mit der diese durchgeführt werden, zeigen, wie sehr. Eine direkte Ansprache wirkt in diesem Zusammenhang als Reaktion brüskierend, eine Verbalisierung oder eine offene Frage, die die Verstimmung tangiert, kann jedoch helfen, den Gesprächspartner zu öffnen. Alternativ kann die eigene Aussage relativiert und mögliche Hintergründe der Nasenstüber-Kommentierung integriert werden.

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11 Gestik

11.6 Passive Gestik – Handstellungen Neben ihrer aktiven Form, bei der die bewegten Hände mitunter beim Reden mehr erzählen als der Mund, fällt ihnen beim Zuhören eine passive Rolle zu. Wenn der aktive Ausdruck unserer Hände endet, mündet er in verschiedenen Handstellungen, die wie das Echo des eben Gesagten nachhallen oder im Laufe eines längeren Monologs des Gesprächspartners diesem ein nonverbales Feedback geben und zeigen, welche Wirkung seine Worte beim Empfänger hinterlassen. Auch die Deutung der Handstellungen beinhaltet einen hohen Anteil an Symbolik, so müssen grundsätzlich der Kontext und das Rollengefüge berücksichtigt werden. Auch wenn für die verschiedenen Handstellungen Bedeutungen beschrieben werden, handelt es sich um keine digitalen, sondern weiterhin um analoge Modalitäten, sodass einzelne Haltungen stets im Zusammenhang mit anderen nonverbalen Signalen beobachtet werden sollten und dort als Teil einer Signalkette den Grundtenor der Aussage des Gesamtausdrucks bilden. Die Wirksamkeit des über 3000 Jahre alten Yoga wurde in Hunderten von Studien belegt [32]. Yoga nutzt das Meridiansystem der traditionellen chinesischen Medizin und hat einen ganzen Katalog an Handstellungen, sogenannte Mudras, erforscht und beschrieben. Diese Mudras ermöglichen, auf die Energieflüsse im Körper einzuwirken und diese zu harmonisieren. Im Rahmen der Selbstregulierung neigen wir dazu, unbewusst jene Mudras ausführen, die unserem Organismus helfen, ins Gleichgewicht zu finden, und kommunizieren so auch als Zuhörer über unsere Handstellungen unser Befinden und unsere Bedürfnisse. In diesem Zusammenhang stellt die Hakini-Mudra wohl die aktuell bekannteste Handstellung dar, da sie als „Merkel-Raute“ durch die deutsche Bundeskanzlerin auf globaler Ebene bekannt gemacht wurde.

Hakini-Mudra: „Merkel-Raute“ Die hohe Bekanntheit der Merkel-Raute erleichtert an dieser Stelle die Beschreibung: Bei der Hakini-Mudra werden die Spitzen der gestreckten und gespreizten Finger aufeinandergelegt, sodass die Daumen in Verbindung mit den Zeigefingern die bekannte Raute bilden. Die Hakini-Mudra bringt beide Körper- und Gehirnhälften zusammen und ermöglicht, neben ihrer beruhigenden und sammelnden Wirkung nach innen, den Aufbau einer höheren Spannung im Oberkörper und eine aufrechtere Haltung. Sie bildet eine geschlossene Haltung, die uns abschottet und gleichzeitig ermöglicht, durch die lediglich aneinandergelegten Fingerspitzen handlungsbereit zu bleiben. Aufbauend auf der Grundhaltung bedingen vier Charakteristika weitere Differenzierungen: die Höhe, mit der die Hakini-Mudra ausgeführt wird, der Kippwinkel der Hände und damit die Ausrichtung der Raute, der Spannungsgrad der sich berührenden Fingerspitzen und der Grad der Spreizung der Finger. Wird, wie bei der klassischen Merkel-Raute, die Stellung nach vorne gekippt und auf Taillenhöhe gehalten, entwickelt sie durch die Tiefe und die Ausrichtung der Finger zum Boden den Charakter einer obskuren und machtvollen Geste. Sie bildet eine kompakte Defensivhaltung, zieht sich dabei jedoch nicht zurück, im Gegenteil: Die dominanten Daumen werden deutlich exponiert und je nach Winkel auf den Kopf des Gegenübers gerichtet. Das Raute-Symbol wird auf dessen Rumpf gerichtet und die eigene verletzliche

11.6  Passive Gestik – Handstellungen

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Bauchregion geschützt, gleichzeitig bleibt der Oberkörper offen und signalisiert damit Stärke und Selbstvertrauen (Abb. 11.2). Der Pflug Wird die Raute etwas nach oben gekippt, richten sich die ausgestreckten Fingerspitzen dadurch auf den Gesprächspartner aus, während die Daumen nach oben zeigen. Die Haltung entwickelt nun je nach Spreizung und Spannungsgrad der Finger einen defensiven oder offensiven Charakter. Sind die Finger aufgespreizt und die Handflächen voneinander entfernt, können Angriffe zerstreut und um den eigenen Körper herumgeleitet werden. Schließen sich die Finger und kommen die Handflächen etwas aufeinander zu, bezeichnen einige Autoren diese Haltung als den Pflug. Dieser ist weiterhin kompakt geschlossen, nun aber offensiver und zum Gegenangriff ausgerichtet sowie bereit, mit den zentrierten Fingerspitzen eine Schneise in die gegnerische Stellung zu schlagen, um diese anschließend, wie der Pflug die Erde, aufzureißen, um die eigene Gedankensaat zu setzen (Abb. 11.2). Beispiel

Christian Schmid-Egger und Caroline Krüll beschreiben in diesem Zusammenhang eine interessante Partnerübung. Bei dieser wird zunächst der Pflug aus circa einem Meter Abstand auf den Brust- und Bauchbereich des Gesprächspartners gerichtet. Dieser fühlt in sich hinein und bestimmt die Wirkung der Geste auf ihn. Anschließend werden die Hände locker, mit nach oben gerichteten Handflächen ineinandergelegt und der Übungspartner erneut befragt. In der Regel fühlt er sich bei der zweiten Stellung wesentlich wohler. Schmid-Egger und Krüll haben sogar bei sensitiven Personen die Erfahrung gemacht, dass diese mit geschlossenen Augen bestimmen konnten, welche Haltung der Übungspartner gerade einnahm [33]. Der Eisbrecher Beim Eisbrecher sind die zusammengelegten Hände, ähnlich dem Pflug, nach vorne gerichtet (Abb. 11.2). Eine Unterscheidung ergibt sich aus der Positionierung, die Hände liegen beim Eisbrecher auf dem Tisch auf, und aus dem Spannungsgrad der Handstellung. Durch die entschlossen aneinandergepressten Hände ergibt sich eine kompakte

Abb. 11.2   Hakini-Mudra, Pflug, Eisbrecher

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11 Gestik

Stellung, die etwaige Gegenangriffe am Gesprächspartner vorbeileitet. Wie der Pflug bahnt er sich seinen Weg nach vorne und gibt die Richtung vor. Dabei ist er jedoch rigoroser: Die aneinandergepressten Hände können eine stärkere Kraft auf einen einzelnen Punkt ausüben und durch die stützende Tischplatte von unten diese noch effektiver konzentrieren. Der Bewerber ist in dieser Haltung nur teilweise aufnahmebereit, im Fokus steht das Bahnen des eigenen Weges, es geht ihm darum, sein Ziel zu erreichen. Von Bedeutung ist, wo sich der Eisbrecher gerade befindet, ist er nah am Körper oder hat er sich bereits in Bewegung gesetzt und Territorium erschlossen? Die Kunst besteht auch hier darin, die Spannung zu lösen und Wege zu finden, um den Gesprächspartner zu öffnen. Das kann beispielsweise dadurch geschehen, dass beide Ansichten integriert werden. Wenn der Weg des Eisbrechers mit dem des Betriebs verbunden werden kann, können seine Entschlossenheit und Zielorientierung für beide Seiten von Vorteil sein. Die Stärke der Zielorientierung und Hartnäckigkeit bringen auf der anderen Seite die Schwäche der mangelnden situativen Flexibilität mit sich. Um zu prüfen, welche Persönlichkeit hinter der Geste steckt, kann man sich fragen, ob das Verhalten der Situation geschuldet ist oder ob es sich allgemein um einen verbissenen Typen handelt. Weitere Aufschlüsse geben die Situation und die Häufigkeit, mit der die Geste gezeigt wird, und die Bereitschaft, mit der wieder von ihr abgelassen wird. Es stellt sich die Frage, was die Rigidität der Stellung auslöst: Hat der Bewerber anderweitig Druck oder keinen Spielraum? Soll eine Einigung erfolgen, muss momentan die Flexibilität und Kompromissbereitschaft vom Betrieb kommen. Das Dach: „Obama-Mudra“ Wird die Stellung vom Pflug aus weiter nach oben gedreht, entwickelt sie sich zum Dach (Abb. 11.3). Nun zeigen die Fingerspitzen nach oben und die Daumen auf uns selbst. Da der frühere US-Präsident Barak Obama diese Geste regelmäßig durchführte, wird sie auch vereinzelt als Obama-Mudra bezeichnet. Ihr wohnt eine hohe Souveränität inne, sie wird oftmals ausgeführt, nachdem ein eigenes Statement platziert wurde oder wenn das Gespräch auf ein Thema kommt, in dem wir uns zu Hause und dem anderen überlegen fühlen. Sie drückt Selbstsicherheit aus, wirkt aufrichtig, autoritär und souverän und signalisiert, dass man von seinen Gedanken aktuell voll überzeugt ist. Das Dach zeigt sich bei Frauen eher auf Höhe der Taille, bei Männern vermehrt auf Brusthöhe. Die Spreizung der Finger signalisiert dabei den Grad der Sicherheit: Je weiter sie gespreizt

Abb. 11.3   Dach, lose ineinandergelegte Hände, betende Hände (katholisch)

11.6  Passive Gestik – Handstellungen

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werden, desto sicherer fühlt sich das Gegenüber, eng zusammengehaltene Finger signalisieren dagegen Ablehnung und ein gewisses Schutzbedürfnis. Das Dach zeigt sich oft in Verbindung mit einer zurückgelehnten, entspannten Haltung, die keine oder nur wenig Aktionsbereitschaft signalisiert. Die anderen sollen mal liefern und wir werden sehen, was sich daraus machen lässt. Auch bei dieser Haltung steigert eine offen dargebotene Drosselgrube die gezeigte Überlegenheit, wirkt durch das hochgereckte Kinn herausfordernd und zeigt, dass man sich gerade nicht wirklich angreifbar fühlt. Wird das Dach im entspannten Setting unter Gleichrangigen intuitiv verwendet, zeigt es einen natürlichen Anspruch nach situativer Autorität und dem aktuellen Hochstatus. Dadurch kann in Situationen mit hohem Statusunterschied die Gefahr bestehen, durch das Dach selbstgefällig oder überheblich zu wirken. Da der dominante Beziehungsaspekt im Fokus steht und das Dach mit einer überzeugten Selbstkundgabe verbunden ist, sollte es nicht eingesetzt werden, wenn der Personaler den Bewerber überzeugen oder dessen Vertrauen gewinnen will. Dem dominanten Hochstatus fehlt die Flexibilität, um sich auch einmal unterzuordnen und zu umwerben. Zeigt dagegen ein Bewerber im Interview das Dach, kann man sich fragen, wie er das Rollen-Status-Gefüge im Gespräch tatsächlich einschätzt, offensichtlich hält er sehr viel auf sich. Vermutlich verfügt er in Bezug auf das aktuell im Raum stehende Thema über attraktive Alternativen. Wie bei evaluierenden Gesten gibt das Verhalten, das auf das Dach folgt, Aufschluss darüber, wie es weitergehen soll. Positive, offene, kooperative Signale signalisieren Zustimmung, während negative, schließende, zurückziehende und konfrontative Signale Ablehnung vermitteln. Eine dynamische Variante, die dem Dach folgen kann und den kommenden Redebeitrag erahnen lässt, zeigt sich, wenn sich die Fingerspitzen subtil voneinander lösen und tippend wieder zueinanderfinden. Die Dachform bleibt zwar erhalten, aber die tippenden Fingerspitzen sondieren mögliche Berührungspunkte zwischen verschiedenen Aspekten. Zwischen den Erwartungen des Gesprächspartners und den zur Verfügung stehenden Mitteln, um diese zu erfüllen, oder zwischen den eigenen Erwartungen und dem Angebot des Gesprächspartners. Zeigt der Bewerber diese klopfende Haltung, sollte man ein gemachtes Angebot nicht wiederholen, sondern sich fragen, wo das Angebot von seinen Erwartungen abweicht, und dann versuchen, es daran anzupassen. Verändert sich die Tippgeschwindigkeit, zeigt sich wachsende Ungeduld, die eigene Aussage sollte auf das Wesentliche runtergebrochen und ein Endpunkt gefunden werden. Liegen die Fingerspitzen dagegen mit Druck aufeinander, wartet der Gesprächspartner gespannt und konzentriert, hier sollte präzise, prägnant und wohlüberlegt geantwortet werden. Lose ineinandergelegte Hände Die lose ineinandergelegten Hände bilden eine neutrale Ausgangsstellung. Sie ist zwar leicht geschlossen, aber mit einem geringen Spannungsgrad und jederzeit bereit, sich zu öffnen. Wenn der Bewerber gerade zuhört und sonst nicht weiß, wohin mit seinen Händen, beruhigt es, wenn er sie lose ineinanderlegen kann: So sie sind versorgt und lassen ihm alle Freiheiten (Abb. 11.3).

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11 Gestik

Aus der Grundstellung heraus entwickeln sich die Handstellungen je nach Gesprächsverlauf in die verschiedensten Haltungen. Ein Gradmesser für die Emotionalität der verschiedenen Stellungen ist der nötige Aufwand, um wieder in die neutrale Haltung zurückzugelangen. Am mühelosesten gelingt das aus der nächsten Haltung heraus, den (katholisch) betenden Händen. Die (katholisch) betenden Hände Liegen die Handflächen eher locker aufeinander auf, sodass die Hände wie beim Gebet geformt werden, aber im Gegensatz zu diesem nach vorne gerichtet sind, impliziert dies neben dem Schutzbedürfnis, das diese geschlossene Haltung erfüllt, die sanfte Bitte und den Wunsch um Annahme der vorgebrachten Gedanken. Eine weitere Differenzierung kann anhand der Daumen vorgenommen werden. Liegen diese aufeinander, nimmt sich der Gesprächspartner eher zurück, sind sie aufgerichtet signalisiert er einen gewissen Dominanzanspruch. Steigt der Druck, entwickelt sich die Haltung schnell zum Eisbrecher. Dreht sich die Stellung dagegen nach oben und wird zur klassischen (katholisch) betenden Haltung, steigt diese mit der Drehung ins Blickfeld und damit ins Bewusstsein der Gesprächspartner und verstärkt den bittenden, aber auch sich unterordnenden Charakter (Abb. 11.3). Die Handflächen liegen aufeinander und stützen sich gegenseitig, die diszipliniert zusammengelegten Finger zeigen Konzentration und Ernsthaftigkeit. Dabei bleibt die Handstellung flexibel und kann sich, wenn sie nach vorne kippt, wieder zum Pflug oder Eisbrecher entwickeln, die Angriffe um sich herumleiten und die eigene Energie konzentriert auf die Verfolgung der eigenen Ziele und gegen den Gesprächspartner richten. Das Stachelschwein/der Igel Befinden sich die Hände im Pflug oder in der betenden Haltung und steigt der Druck der Gegenpartei, kann sich die Haltung rasch zum Stachelschwein entwickeln, andere Autoren bezeichnen sie als Igel oder Stachelzaun. Hierfür lässt man lediglich die gestreckten Finger ineinandergleiten, so dass sie sich miteinander verschränken und im 90-Grad-Winkel eine Abwehrformation bilden, die an eine Panzersperre erinnert (Abb. 11.4). Das Stachelschwein ist eine Defensivhaltung, die anzeigt, dass die Vorwürfe oder Angriffe des Gesprächspartners abgelehnt werden. Durch die gestreckten Finger entwickelt sie einen aggressiv verteidigenden Charakter, wer dem Gesprächspartner zu nahe kommt oder ihn überwinden will, kann auf aktive Gegenwehr stoßen. Die Höhe der Haltung gibt Auskunft über den Grad der Abwehr. Gefaltete Hände Lässt die Kampfbereitschaft nach und verliert das Stachelschwein an Spannung, greifen die Hände wie zum (evangelischen) Gebet ineinander oder klammern sich aneinander (Abb. 11.4). Die Defensive erhöht sich: Ineinandergeklammerte Hände sind schwerer

11.6  Passive Gestik – Handstellungen

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Abb. 11.4   Igel, gefaltete Hände, doppelte Pistole

zu lösen als bei der zwar spannungsreichen, aber durch die gestreckten Finger offeneren Haltung des Stachelschweins. Gefaltete Hände können nur schwer handeln. Wer aus dieser Haltung heraus das Wort ergreift und ein Zugeständnis macht, hat in der Regel noch etwas, das hinter dem Gesagten zurückgehalten wird [34]. Hinter den verschränkten Fingern fühlt man sich in der Regel gut ausbalanciert, allerdings erschwert die Haltung die Möglichkeit, sich leicht wieder zu öffnen. Druck wäre hier der falsche Weg: Dieser würde einen weiteren Rückzug bewirken und in verknoteten Fingern münden, die weiße Knöchel hervortreten lassen, wenn sie sich irgendwann dann doch wieder öffnen. Auch hier findet der Bewerber leichter ins Gespräch, wenn man ihm Zeit und Raum gibt und eine kooperative Gesprächsatmosphäre generiert. Die Höhe der gefalteten Hände gibt Aufschluss über die emotionale Intensität und den Grad der Bewusstheit über die ihr zugrunde liegenden Gefühle: Werden die Hände locker und ineinandergefaltet auf dem Tisch abgelegt, bleibt der Bewerber dem Interviewer weiterhin zugewandt und im Gespräch, werden sie dagegen vom Tisch abgezogen und näher an den Körper herangenommen, erhöht sich ihr Schutzcharakter. Wandern sie vor die Brust, wird die Haltung kompakter und die Hände errichten eine stärkere Blockade. Wird zusätzlich der Kopf ein wenig geneigt, ergibt sich eine betende Haltung mit einem demütigen und nachdenklichen Charakter. Noch ein Stück höher, auf Höhe des Kinns oder vor dem Mund, verhindern sie, dass ein falsches Wort herausrutscht. Ist das Kinn auf die ineinandergefalteten Daumen gestützt, ergibt sich ein abwartender und nachdenklicher Charakter (Abb. 11.5), wird es auf die auf sich selbst weisenden exponierten Daumen gestützt, wird die Haltung herausfordernder. Sind Nase und Mund hinter den beiden parallel nebeneinandergelegten Daumen versteckt, bekommt die Haltung durch die Nase, die direkt in den Hohlraum zwischen den Händen hineinriecht, einen prüfenden und sich selbst beruhigenden Charakter. Die Mauer Wird die enge Umklammerung der Hände aufgegeben und entwickeln sich diese zu verschränkten Händen, die, mit den Handflächen zu sich zeigend, vor sich auf dem Tisch gestellt werden, bildet sich eine Mauer. Hinter dieser wird Territorium abgegrenzt und

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11 Gestik

mit dem gewonnenen Raum gewinnt man auch wieder Handlungsfähigkeit: Es kann eine Gegenstrategie entwickelt werden. Wie deren Erfolgsaussichten beurteilt werden, zeigen die Daumen. Werden diese exponiert, zeigt sich Zuversicht, werden sie jedoch abgelegt, verstärken sie die Mauer und erhöhen den passiven und defensiven Charakter der Haltung. Tippen sie, entwickeln sie einen abwägenden, wartenden Charakter. Wird die Mauer abgebaut und bleiben die Hände dabei zusammen, sodass sie mit ineinandergelegten Fingern und nach unten gerichteten Handflächen auf dem Tisch abgelegt werden, signalisieren dies, dass noch etwas in der Hinterhand gehalten wird, das vor dem Gesprächspartner verborgen und zurückgehalten wird. Einfache und doppelte Pistole Eine andere Entwicklung der gefalteten Hände stellt jene zur doppelten Pistole dar. Die Hände bleiben verschränkt, mit Ausnahme der gestreckten Zeigefinger und der beiden exponierten Daumen. Diese symbolisieren den Abzug der Pistole und stützen oftmals das Kinn, und so geladen sind die besserwissenden Zeigefinger als Läufe der Pistole zu schießen bereit, sobald ein schwacher Punkt im Konzept des Gegners auftaucht (Abb. 11.4). Sowohl die Pistole als auch die doppelte Pistole weisen auf Angriffslust hin und auf Argumente, die bislang zurückgehalten wurden, aber zum Abschuss bereitstehen oder gerade dazu bereit gemacht werden. Die doppelte und die einfache Pistole unterscheiden sich im Öffnungsgrad und damit im Ausmaß der Verteidigung. Die doppelte Pistole ist als geschlossene Haltung defensiver, schon mehr in die Enge getrieben und damit reizbarer: Ihre Gegenwehr kann aggressiver ausfallen und eine prinzipielle Abwehr gegen alles darstellen, was sich bewegt. Ein weiteres Aufladen der Pistole kann verhindert werden, indem die eigene Argumentationskette unterbrochen und anstelle einer weiteren (vom Empfänger oftmals als provokant empfundenen) Aussage eine (kooperative) Frage an ihn gerichtet wird. Die Frage beinhaltet die Chance, den Gesprächspartner wieder zu öffnen und gemeinsam mit ihm in den Dialog einzutreten. Der erste Schritt auf der Beziehungsebene wurde dabei bereits gemacht, als der Druck unterbrochen und durch die veränderte Gesprächsführung auf die emotionale Reaktion des Gegenübers eingegangen wurde. Im Gegensatz zur doppelten Pistole wohnt ihrer einfachen Ausführung ein lockerer Charakter inne, sie wird zwar ebenso kritisch geladen gehalten, wartet jedoch eher auf spezifische, einzelne Fehler, auf die sie abzielen kann, um einen Treffer zu landen (Abb. 11.5). Auch hier besteht der Wunsch abzudrücken. Dieser Wunsch kann genutzt werden und man kann ein strategisches Argument oder einen Verhandlungspunkt, auf den die Gegenpartei schießen kann, liefern. Dieser sollte so gewählt werden, dass er leicht aufgegeben und dem Gegenüber zugestanden werden kann. Das zeigt den eigenen guten Willen, aktiviert das Reziprozitätsgesetz und erschwert dem Gesprächspartner, den nächsten Punkt ebenso zu attackieren, ohne unverschämt zu wirken.

11.6  Passive Gestik – Handstellungen

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Abb. 11.5   Einfache Pistole, geballte Faust, gefaltete Hände (hoch)

Geballte Fäuste Ballt sich aus dem Dach heraus eine der Hände zur Faust und wird dabei von der anderen umschlossen, drückt sich das Beherrschen der eigenen Emotion aus. Dabei müssen stets die ganze Haltung und Körperspannung beachtet werden: Sind beide Ellbogen auf den Tisch gestellt und hält eine Hand die geballte andere Faust fest, zeigt ein schwacher Spannungsgrad, mit dem dies geschieht, dass es sich um einen entspannten Austausch handelt, bei dem der die Faust ballende Gesprächspartner sich einfach nur etwas aus dem Gespräch herausnimmt. Dabei kann es sich ergeben, dass das Kinn auf der Formation abgestützt wird und die Haltung einen sich präsentierenden Charakter entwickelt: Dem Gespräch wird beigewohnt, man ist interessiert, was es so Neues gibt, will sich selbst aber nicht allzu stark in den Mittelpunkt stellen (Abb. 11.5). Steigt die Spannung der Hände und Arme, verändert sich der Charakter der Geste: Die angespannten Muskeln zeigen das steigende Aktionspotenzial, das jedoch willentlich in Zaum gehalten wird. Wird gleichzeitig der Blick stechender und die Kiefermuskulatur angespannter, zeigen sich zurückgehalte, unterdrückte Aggressionen: Nun gilt es, den die Faust Ballenden behutsam in das Gespräch zurückzuführen. Die Höhe der Geste signalisiert dabei die Frustration des Senders. Je höher die Stellung wandert, desto problematischer wird es (Abb. 11.5). Werden eine oder beide Fäuste geballt, ohne sie zu halten, zeigt sich offen die steigende Wut. Auch hier gilt: Je höher die geballte Faust wandert, desto deutlicher und bewusster das gesendete Signal. Im Bewerbungsgespräch sollte sie sich also allenfalls unbewusst und unter dem Tisch zeigen. Der Bewerber fühlt sich, wie mit der sprichwörtlichen „geballten Faust in der Tasche“, wütend, aber zu einem gewissen Grad hilflos und vermeidet von daher die offene Konfrontation. Auch beim Ballen der Faust unter dem Tisch wird der Blutfluss in der Hand gestört und so verrät das anschließend in die Hand zurückfließende und die Haut rötende Blut die zuvor geballte Faust. Begleiten geballte Fäuste diplomatische verbale Äußerungen zum alten Betrieb, zeigen sie, dass doch nicht alles so harmlos war wie dargestellt.

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11 Gestik

Zurückhaltende Handstellungen Neben der gehaltenen Faust zeigen weitere Gesten unsere Zurückhaltung an. Ist Handeln nicht möglich, legen wir uns selbst die Fesseln an. So werden beispielsweise die Armlehnen gepackt, um Spannung abzubauen und uns davon abzuhalten, aufzuspringen und aktiv zu werden. Wird diese Zurückhaltung registriert, kann gegebenenfalls das darin liegende Aktionspotenzial positiv in das Gespräch integriert werden, die Energie ist zumindest vorhanden. Die Herausforderung besteht darin, diese zielgerichtet zu heben und zu lenken. Was sich im Stehen als Freistoßhaltung zeigt, tritt am Tisch auf, wenn beide Hände ineinandergelegt werden und als Braves Mädchen- oder Bübchen-Geste auftreten (Abb. 11.6). Die fehlende Spannung und die unverfänglich geparkten Hände drücken in Verbindung mit der locker geschlossenen Haltung aus, dass kein Kontra zu erwarten ist. Die Etikette wird gewahrt und die eigene Meinung zurückgehalten. Stellt diese Handstellung die grundlegende Ausgangsgeste dar oder wird in dieser verharrt, zeigt der Bewerber zwar zu einem gewissen Grad seine Anpassungs- und Unterordnungsfähigkeit. Der Funke wird jedoch nur schwer überspringen, zu reserviert und unpersönlich ist die Wirkung auf der Beziehungsebene. Je nachdem, was für ein Mitarbeiter gesucht wird, muss das nicht zwingend von Nachteil sein, aber da das Wesen des Bewerbers nicht greifbar ist und er kaum aktivierbar und innerlich zu distanziert wirkt, gewinnt der Recruiter nur schwer das Vertrauen und es wird versäumt, eine persönliche Brücke zu schlagen. Ebenso lässt sich regelmäßig beobachten, dass eine Hand die andere bremst oder unten hält, indem sie sie entweder bedeckt oder oberhalb des Handgelenks festhält Es will zum Beispiel die rationale rechte Hand handeln und auf der Sachebene argumentieren, aber die emotionale Linke bremst sie und drückt eventuelle Vorbehalte auf der moralischen Ebene, beim Selbstkonzept und der Gefühlsebene aus. Oder umgekehrt, während die linke Hand zu einem Thema einen emotionalen Kommentar formuliert, hindert sie die rationale Rechte am Ausdruck und ermahnt sie, beim Thema zu bleiben (Abb. 11.6). Wer sich auf die eigenen Hände setzt, zieht sich vollends aus dem Gespräch zurück: Wer nicht friert und die Hände dadurch wärmen will, hat, wer sie mit dem eigenen Körpergewicht am Handeln hindert, beschlossen, sich in Bezug auf die aktuelle Thematik

Abb. 11.6   Bübchen-Geste, bremsende Hände

11.6  Passive Gestik – Handstellungen

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erst einmal ganz rauszuhalten. Diese Haltung geht einher mit einer leicht eingefallenen Brust, die das fehlende Aktionspotenzial weiter verdeutlicht, in eine gebeugte Brust kann wesentlich weniger aktivierender Sauerstoff eingeatmet werden als bei aufrechter Haltung. Die nach vorne hängenden Schultern und der sich ergebende von unten heischende Blick zeigen, dass man sich innerlich verabschiedet hat und nur eingeschränkt bereit ist, sich einzubringen. Der Bewerber wirkt unmotiviert oder reaktant, als zwänge er sich selbst zur Zurückhaltung. Weiteren Aufschluss gibt, ob die Handflächen, auf die der Bewerber sich setzt, nach oben oder nach unten gerichtet sind. Weisen die Handflächen nach unten, wandern die Ellbogen durch den unterschiedlichen Winkel etwas mehr nach außen und vorne und bringen einen dominanten und trotzigen Charakter in die Geste. Sind die Handflächen nach oben gerichtet, wandern die Ellbogen etwas weiter nach hinten zurück und tiefer und öffnen die Rumpfregion, wodurch ein aufnahmebereiterer Charakter als mit nach unten gekehrten Handflächen entsteht. Zwar will gerade nicht gesendet werden, aber für eine Ansprache oder Angebote, die ihn zurück in das Gespräch oder an den Verhandlungstisch holen, ist der Bewerber noch offen. Die Schere Wer versucht, ohne Worte eine Schere darzustellen, wird intuitiv Zeige- und Mittelfinger benutzen, um diese zu symbolisieren. Im Gespräch lässt sich regelmäßig beobachten, wie diese Schere sich an einzelnen Fingern der anderen Hand, meistens am Zeigefinger, zu schaffen macht. Auf der symbolischen Ebene wird dabei dessen besserwisserischer oder hinweisen wollender Impuls beschnitten und am Ausdruck gehindert. Dessen Kommentar würde nach der unbewussten oder bewussten Ansicht des Senders gerade nicht zum Setting oder Rollen-Status-Gefüge passen: Dem Bewerber sind gerade die Hände gebunden, er kann oder will dies aber gerade nicht äußern. 

Impulse dieser Art gewinnen an Aussagekraft, wenn sie in verschiedenen Situationen des Gesprächs gesammelt werden und ein Muster oder einen Tenor erkennen lassen, die sich im Zusammenhang mit bestimmten Themen zeigen. Dem Recruiter bieten sich dann je nach Ziel, Gesprächsatmosphäre und Grad der bereits gebildeten Vertrautheit verschiedene Möglichkeiten. Hat sich durch die gesammelten Signale ein Thema herausgeschält, kann er entscheiden, ob er es benennt, um mögliche Vorbehalte oder emotionsgeladene Punkte dadurch auf den Tisch zu bringen und zu klären. Eine Alternative kann es darstellen, dem einzelnen Impuls, der im Rahmen einer zurückhaltenden Geste ja vorhanden ist und oft unbewusst unterdrückt wird, mit einer Resonanzaussage oder anderen Techniken des aktiven Zuhörens zum Ausdruck zu verhelfen, sodass er die Schwelle zum Bewusstsein überschreiten und ins Gespräch einfließen kann.

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11 Gestik

11.7 Eigene Gestik Neben den Aussagen, die der Recruiter aus der Gestik des Bewerbers gewinnt, eröffnet ihm die eigene Gestik verschiedene Möglichkeiten, wirkungsvoller zu kommunizieren. Psychologie und Neurowissenschaft belegen, dass wir den Großteil unserer Entscheidungen emotional treffen, das beinhaltet auch die Entscheidung, was von der Kommunikation unseres Gegenübers wir uns merken. Wie gut wir uns Informationen merken können, hängt darüber hinaus davon ab, auf welchen Kanälen uns diese erreichen. Während wir uns nur an 20 % des Gehörten erinnern und nur an 30 % des Gesehenen, akkumulieren sich diese Zahlen auf 50 % für Inhalte, die wir sowohl sehen als auch hören [35]. Infolgedessen können wir die Wirksamkeit unserer Kommunikation mehr als verdoppeln, wenn wir unser Gesagtes nonverbal unterstützen und es sichtbar machen, indem wir mit dem Einsatz von Gestik, Mimik und Platzhaltern arbeiten.

In diesem Zusammenhang verfolgt die nonverbale Kommunikation stets einen qualitativen Aspekt, mit dem die Verständlichkeit erhöht und komplexe Inhalte greifbarer gemacht werden. Es geht also nicht darum, Selbstverständlichkeiten oder Banalitäten zusätzlich gestisch darzustellen, das würde den Gesprächspartner verwundern oder vor den Kopf stoßen. Das Ziel überzeugender Gestik sollte sein, eine intellektuelle Verknüpfung zwischen Geste und Gefühl zu schaffen. Durch die Verknüpfung erhöht sich die Relevanz für den Gesprächspartner und steigert seine Aufnahmebereitschaft für unsere Botschaft sowie die Nachhaltigkeit ihres Eindrucks. Zusätzlich werden durch gleichzeitiges Sprechen und Gestikulieren beide Hirnhälften angesprochen, sodass die Wirkung der eigenen Aussage verstärkt und deren Überzeugungskraft erhöht wird [36]. Dabei kommt ein grundlegendes Gesetz der Wahrnehmung zum Tragen, dessen Wirkung wir bereits im Zusammenhang der Schockstarre kennengelernt haben. Bewegung erregt Aufmerksamkeit. Wer also mehr Beachtung will, kann dies durch den vermehrten Gestik-Einsatz erreichen. Doch macht auch hier die Dosis das Gift: Wird ein kritisches Maß an Bewegung überschritten, schlägt die positive Wirkung der Aufmerksamkeit ins Gegenteil um – der Sender wird als Zappelphilipp kategorisiert, und das Zuviel an Erregung, das durch die übermäßige Bewegung verursacht wurde, löst Ablehnung aus. Die Schwelle, bei der das Mischungsverhältnis kippt, hängt stets vom Setting, vom Gesprächspartner und dessen aktueller Verfassung ab. Je nach individuellem Temperament und Gesprächsziel des Recruiters bietet die Gestik somit verschiedene Möglichkeiten, um den eigenen Ausdruck etwas zu bremsen und dem Gegenüber Raum zu geben oder ihn zu aktivieren und damit die Aufmerksamkeit auf die eigene Botschaft zu lenken. Dabei sollte stets auf Unbehagen ausdrückende Signale des Bewerbers geachtet werden und darauf, dass Ausmaß und Umfang der Gestik nur subtil und in Schlüsselsituationen willentlich dosiert werden. Ansonsten sollte dem freien Ausdruck der eigenen Gestik stattgegeben werden, um einen authentischen Ausdruck nicht zu beeinträchtigen.

11.7  Eigene Gestik



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Da sich unsere Kommunikation stets an der gewünschten Wirkung messen lassen muss, die wir vermitteln wollen, muss auch unsere Gestik zum Rahmen der Situation und zu den an uns gestellten Erwartungen passen. Dabei vermittelt sie allgemeine Beziehungs- und Statusinformationen. Wer also als Recruiter Vertrauenswürdigkeit, Integrität und Seriosität vermitteln möchte, sollte das nicht durch unstete, fahrige und unkalkulierbare Bewegungen konterkarieren.

Gepflegte Hände Wie effektiv wir unsere Gestik einsetzen können, wird durch den Zustand unserer Hände bestimmt. Prinzipiell wirken gepflegte Hände positiv. Eine Unilever-Studie, bei der insgesamt 4025 Beschreibungen gesammelt wurden, brachte die Erkenntnis, dass je unattraktiver eine Hand ist, es umso unwahrscheinlicher ist, dass ihre Gesten beachtet werden [37]. Allgemein ist es unhöflich und übergriffig, den Makeln unserer Mitmenschen besondere Aufmerksamkeit zu schenken. Wir versuchen, diese zu übersehen, um unsere Gesprächspartner nicht zu brüskieren. Wird dann doch geschaut, beanspruchen unansehnliche Merkmale unsere visuelle Aufmerksamkeit stärker und dementsprechend wirken ungepflegte Hände kontraproduktiv auf die Wirkung der eigenen Gestik. Die Teilnehmer der Unilever-Studie waren weniger gut in der Lage, die Gesten der ungepflegten Hände zu lesen, zu interpretieren und zu dekodieren. Dabei wirkten sich runzelige, raue, trockene oder fleckige Haut, Narben, Flecken, Schwielen, Schmutz, trockene Nagelhaut und brüchige Nägel negativ aus. Umgekehrt erhöht die Attraktivität unserer Hände die Wahrscheinlichkeit, dass sie wahrgenommen und ihre Signale dekodiert werden. In der Studie wirkten saubere, gepflegte, manikürte, starke, weiche und nicht trockene Hände attraktiv [38]. 

Sichtbarkeit der Hände  Navarro beschreibt, wie er in mehreren seiner Seminare die Teilnehmer in zwei Gruppen unterteilte. Während jeweils eine der Gruppen für die Dauer eines 15-min Gesprächs die Hände unter dem Tisch verborgen hielt, behielten die Teilnehmer der anderen Gruppe ihre Hände gut sichtbar über dem Tisch. Im Anschluss wurden die Teilnehmer nach der Wirkung befragt, die die verschiedenen Gesprächspartner bei ihnen hinterlassen hatten. Die erste Gruppe erzeugte mit ihren verborgenen Händen grundsätzlich einen angespannten, verschlossenen bis hinterhältigen Eindruck, und ihnen wurde sogar unterstellt, gelogen zu haben. Dagegen erzielte die zweite Gruppe den gegenteiligen Eindruck: Jenen Teilnehmern, die ihre Hände beim Gespräch gut sichtbar gehalten hatten, wurden ausnahmslos positive Eigenschaften zugeschrieben, sie wurden als umgänglicher wahrgenommen, und keinem von ihnen wurde unterstellt, gelogen zu haben [39].

Ein Bewerber, der sich entschließen soll, sein bestehendes Arbeitsverhältnis aufzugeben, wird dies nur tun, wenn er im Gespräch das notwendige Vertrauen in die neue Beschäftigung entwickeln konnte. Um dieses zu gewinnen, stellen die sichtbaren oder

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versteckten Hände des Recruiters ein kritisches nonverbales Erfolgsmerkmal dar. Nicht gezeigte oder versteckte Hände wirken suspekt, sie beeinträchtigen die Wirksamkeit und Glaubwürdigkeit unserer übrigen Kommunikation. Der Gesprächspartner hat stets einen biologischen Extratask im Kopf laufen, der versucht herauszufinden, was die versteckten Hände so alles verbergen könnten. Im direkten Gespräch sollte also prinzipiell darauf geachtet werden, die Hände sichtbar zu halten, damit nicht unbewusst der Eindruck entsteht, man habe etwas zu verstecken oder zu verheimlichen. Auch diese Empfehlung sollte natürlich nicht dogmatisch umgesetzt werden: Wandern die Hände im Rahmen eines authentischen Ausdrucks einmal unter den Tisch und werden dort auf den Oberschenkeln abgelegt, stellt das kein Problem dar. Ist es jedoch eine Angewohnheit und liegen sie den Großteil der Zeit außerhalb des Sichtfeldes des Gesprächspartners, kommen die negativen Effekte zum Tragen und man sollte sich darum bemühen, diesen entgegenzuwirken. Hierzu können schon Stühle mit Armlehnen hilfreich sein. Doch leider reicht das Zeigen der Hände allein noch nicht aus, gerade in diesem Zusammenhang gibt es erhebliche qualitative Unterschiede in Bezug auf die Wirkung, die wir bei unseren Mitmenschen hinterlassen. Handflächen In einem Versuch hielten acht Referenten Vorträge vor verschiedenen Gruppen und veränderten dabei lediglich die Ausrichtung ihrer Handflächen. Nach den Vorträgen wurden diese evaluiert und die Ergebnisse waren hoch signifikant. Während die Dozenten, die ihre Handflächen zeigten, zu 84 % ein positives Feedback erhielten, erreichten lediglich 52 % der Dozenten, die ihre Handflächen nicht zeigten, dieses Ergebnis. Die Dozenten der letzten Gruppe erhielten ein vernichtendes Feedback: Lediglich 28 % der Zuhörer bewerteten sie positiv und einige Zuhörer hatten sogar während des Vortrags den Raum verlassen. Aber eines hatten die Dozenten dabei gelernt: Wer mit dem Zeigefinger gestikuliert, macht sich beim Publikum alles andere als beliebt [40].

Wenn wir unsere Arme so drehen, dass unsere Handinnenflächen zu sehen sind, vermittelt das dem limbischen System des Gesprächspartners Sicherheit [41]. Gleichzeitig öffnen wir uns und nehmen Spannung aus der Situation. Unsere sichtbaren Handflächen unterstützen die kooperative Kommunikation und drücken Zuneigung aus. Die Inhalte werden offen präsentiert, sodass unser Gesprächspartner im übertragenen Sinne frei und zwanglos zugreifen kann, wozu sich im oben beschriebenen Vortrag immerhin 84 % animiert fühlten. Verdeckte Handflächen wirken reservierter, bestimmter und dominanter. Sie schaffen Distanz und lösen Unsicherheit sowie Abwehr beim Gesprächspartner aus. Als den Zuhörern der Blick auf die Innenseiten der Hände verwehrt blieb, fragten sie sich intuitiv, was der Redner wohl im Schilde führen oder ihnen verheimlichen könnte. Die Redewendung, dass jemand noch etwas in der Hinterhand hat, drückt es treffend aus. Solange nicht geklärt ist, ob uns dieses Etwas nutzen oder schaden könnte, bleiben wir angespannt, begegnen Aussagen skeptisch und lehnen sie im Zweifel ab. Zeigt ein Gesprächspartner überwiegend seine Handrücken, werden wir das Gefühl nicht los, dass er etwas verdeckt und vor uns verheimlichen will.

11.7  Eigene Gestik

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Anatomisch gesehen, werden beim Liegestütz die Muskeln des Schultergürtels, des Oberarms, der Handgelenke und der Finger beansprucht. Das gleiche Nervengeflecht des plexus cervicalis (Halsgeflecht) und des plexus brachialis (Armgeflecht) koordiniert auch die Gesten der nach unten gekehrten Hand. Wir schieben etwas weg oder üben Druck aus. Wie David Givens beschreibt, stammen Gesten mit nach unten gekehrten Handflächen noch aus der Reptilienzeit. Die damit verbundene abwärts gerichtete Gestik wirkt somit kulturübergreifend unterdrückend, dominant und aggressiv: Sie sollte nur vorsichtig und mit Bedacht eingesetzt werden [42], da sie infolge einer genetisch verankerten Reaktion riskiert, direkt Gefühle wie Konfrontation, Widerspruch und Aggression auszulösen.

Schärfer wird die Tonart, wenn der Zeigefinger ins Spiel kommt. Normalerweise setzen wir diesen ein, wenn wir genau und explizit auf ein Ziel hinweisen wollen. Bei ungenauen Zielangaben wird dagegen vermehrt die flache Hand verwendet, die unsere Geste offener und unverbindlicher gestaltet als der klare und direktive Zeigefinger. Das Gestikulieren mit der flachen Hand lässt dem Gesprächspartner also mehr Freiheiten und vermittelt dadurch Vertrauen und Wertschätzung. Die Wirkung der Zeigefingergestik auf die Beziehungsebene ist weitreichend. Wird jemandem dezidiert vorgeschrieben, was er zu tun und zu lassen hat, wird das Maß seiner Eigenkontrolle und Selbststeuerung auf das Minimum reduziert und auf der psychologischen Ebene die Möglichkeit genommen, ein Urhebererlebnis für die vorgeschriebene Handlung zu erleben. Er fühlt sich fremdgesteuert und automatisch entwickeln sich Reaktanz sowie der sogenannte negative Appelldruck, bei dem allein dadurch, dass etwas vorgeschrieben wird, die Lust vergeht, es zu machen. Vielleicht hat es der eine oder andere im Privaten schon selbst erlebt. Man plant, sich gleich an eine Aufgabe zu machen, und plötzlich kommt der Partner und weist uns an, diese jetzt zu verrichten. Prompt geht die Laune in den Keller, wir hatten es sowieso geplant, aber jetzt sollen wir und plötzlich wollen wir nicht mehr – intrinsische Motivation ist nicht mehr vorhanden.



Statt den belehrenden Zeigefinger in kritischen Gesprächsphasen nach oben oder auf einen Gesprächspartner zu richten, kann dieser zum Daumen geführt werden und so ein O.K.-Zeichen bilden. So wird die weisende Energie kontrolliert und wir wirken autoritär, aber nicht aggressiv. Das diese Haltung in einigen Kulturen eine tabuisierte Geste darstellt, kommt hier nicht zum Tragen, da sie nicht als Emblem sondern als Illustrator eingesetzt wird.



Stifte und ähnliche Zeigefingerverlängerungen verstärken dessen Wirkung, und wer mit diesen wie mit einem Dolch wild gestikulierend in die Luft sticht, macht sich damit gewiss keine Freunde. Wer dazu neigt, expansiver zu gestikulieren, sollte Stifte nach dem Schreiben aus der Hand legen oder in die nicht dominante Hand nehmen. Oftmals gestikulieren wir mit dieser weniger impulsiv und so fällt die verstärkende Wirkung der Verlängerung weniger ins Gewicht.

Die Haltung der Handflächen bildet also einen kritischen Punkt im Aufbau von Vertrauen und damit die Grundlage für jede Form von Beziehung und Zusammenarbeit. Die mit nach oben oder unten gerichteten Handflächen verbundene Systematik lässt sich je nach

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11 Gestik

Gesprächsphase und -ziel variieren. Sollen kooperative und nondirektive Aspekte im Gespräch betont werden, bietet die ausgestreckte, offene Hand in Verbindung mit einem gelockerten Ellbogen dem Gesprächspartner eine gute Zusammenarbeit an. Nach unten weisende Handfläche signalisieren dagegen Autorität, Durchsetzungsvermögen und untermauern den Anspruch an den Hochstatus, aus dem heraus wichtige Entscheidungen getroffen werden. Auch bei gekreuzten oder verschränkten Armen verbergen wir unsere Handflächen und gefährden unsere Glaubwürdigkeit. Als Alternative können stattdessen die Fingerkuppen leicht aneinandergelegt werden. Die Berührung schließt ebenfalls die eigene Position, lässt jedoch eine höhere Flexibilität zu, größere Entscheidungsspielräume offen und ermöglicht, sich schneller wieder zu öffnen. Schenkelklopfer und eingefrorene Geste Die das Ende einer Aussage begleitende Bewegung qualifiziert diese abschließend nonverbal und stellt damit einen kritischen Punkt in Bezug auf die Wirkung unserer Kommunikation dar. Machen wir dem Gesprächspartner mit offen dargelegten Handflächen ein Angebot, kann er sich frei entscheiden, ob er es annehmen will oder sich dagegen entscheidet. Je nach Gegenüber und Angebot braucht diese Entscheidung mehr oder weniger Zeit und vielleicht einen kleinen Stups, falls sich unser Gesprächspartner unsicher ist, ob er zugreifen oder ablehnen soll. Das Timing und die Dauer, mit der wir gestikulieren, sind in dieser Situation ausschlaggebend für die Wirkung und unsere Überzeugungskraft: Zeigen wir die Handfläche etwas länger, nachdem unser Angebot gemacht ist, entfaltet die entstehende Pause ihre Wirkung und gibt dem Gegenüber Zeit, sich zu entscheiden. Gleichzeitig entwickelt sie einen leichten Druck. Wir insistieren zwar, aber dennoch bleibt es eine unverbindliche Offerte, die den anderen zu nichts zwingt [43]. Das sollte natürlich nicht nach jeder Aussage geschehen, sondern in Schlüsselsituationen, in welchen das Einverständnis und die Akzeptanz des Gesprächspartners wichtig sind, um den weiteren Weg gemeinsam beschreiten zu können. Wenn ein ernst gemeintes Angebot unterbreitet wird, darf die Hand somit gerne zwei bis drei Sekunden lang in ihrer Stellung verbleiben. Umgekehrt zeigt sich häufig der Fehler, dass das Angebot gestisch nicht lange genug angeboten wird. Die Bezeichnung Angebot geht hier weit über das Ökonomische hinaus, damit ist im weitesten Sinne auch jeder Gedanke gemeint, den wir in die Kommunikation einbringen. Jede Aussage im Gespräch stellt ein Angebot an den Gesprächspartner dar, diese anzunehmen und weiterzuentwickeln, sie abzulehnen oder infrage zu stellen. Glauben wir selbst nicht, dass uns jemand etwas abnimmt oder es wirklich zu beider Seiten Nutzen ist, schwindet unserer Fähigkeit, zweideutige Situationen, wie die Pause vor der Entscheidung des Gesprächspartners, auszuhalten. Die eigene Unsicherheit führt dazu, dass das Angebot zu kurz gezeigt und die Geste verfrüht aufgelöst wird. Infolgedessen spürt das Gegenüber, dass irgendetwas damit wohl doch nicht ganz stimmen könnte. Unglücklicherweise kann die verfrüht aufgelöste Gestik auch andere Ursachen haben, die nicht im Angebot, sondern in hohem Druck, im Selbstkonzept des Senders oder schlicht einer schlechten Angewohnheit und mangelndem Bewusstsein über die

11.7  Eigene Gestik

307

eigene Wirkung gründen. Der Bewerber sieht jedoch nur das Ergebnis, und so kann schon der Beginn des Gesprächs negativ beeinflusst werden, wenn dem Bewerber ein Stuhl angeboten, die Hand gleich wieder zurückgezogen wird und eine kleine, aber unnötige Verunsicherung entsteht. Die anbietende Handfläche kurz zu zeigen und gleich wieder zurückziehen sollte von daher vermieden werden. Eine weitere Geste, die das zuvor Gesagte negativ konnotiert oder gar entwertet, ist der von Michael Grinder beschriebene Schenkelklopfer [44]. Bei diesem begleitet die Gestik zwar das Gesagte, aber nachdem eine Aussage getroffen wurde, lässt der stehende Redner die Hände kraftlos auf die Oberschenkel fallen. Sitzende Redner lassen sie auf den Tisch oder die Armlehne fallen und wirken dadurch entmutigt, negativ und nur wenig selbstbewusst. Wer einmal die Probe aufs Exempel machen möchte, kann im Geiste den Ton ausschalten und einen Redner beobachten, während dieser seine Hände mutlos auf die Schenkel fallen lässt, sie wieder hochnimmt, weiterspricht und sie dann erneut fallen lässt. Die nonverbale Nachricht vermittelt auf der Ebene der Selbstkundgabe eine hilflose Opferhaltung, die in Worte gefasst etwa lautet: „Oh je, ich kann sowieso nichts machen, oh je, was soll man da nur tun?“ Werden am Ende der Aussage die Hände fallen gelassen, bleibt der resignierte Ausdruck beim Betrachter durch den Recency-Effekt viel stärker haften als die Gesten zuvor. Wiederholt sich dieser Vorgang, überträgt sich die entmutigte Haltung des Redners. In der Abwärtsbewegung steckt keine wegweisende Aussage, keine Richtung, kein Ziel, außer der Botschaft, dass man immer wieder zum Anfang zurückkehren sowie neu beginnen muss und es sich um eine unattraktive und aufreibende Sisyphos-Aufgabe handelt. Wirksamer ist es, wie schon beim oben gemachten Angebot, die Hand nach Schlüsselaussagen in der letzten Position, zu der sie beim Reden automatisch gelangt ist, für zwei bis drei Sekunden einzufrieren, um damit die Aufmerksamkeit auf der Botschaft der Aussage oder auf dem gemachten Angebot zu zentrieren. Wird im Anschluss ruhig weitergeredet und die Bewegung der Hände ebenso ruhig wieder eingesetzt, sorgt der Recruiter durch den Wechsel für die nötigen Akzente, um den Bewerber mitzunehmen und zu bewegen. Steht dann der nächste Impuls an, wird dessen Vermittlung durch eine dynamische Gestik unterstützt und abschließend mit der gefrorenen Geste verstärkt. Die Wirkung der eigenen Gestik verstärken Darüber hinaus können wir unsere Gestik mit anderen nonverbalen Mitteln verstärken. Wie in Kap. 9 zum Blickkontakt beschrieben, kann der Blick des Bewerbers auf die eigene Gestik gelenkt, diese dadurch betont und die Wirkung unserer Kommunikation verstärkt werden. Damit können wir virtuelle Raumanker generieren, unsere Aussagen betonen und deren Botschaft in den Mittelpunkt der Kommunikation rücken. Neben der Wirkung der gehaltenen oder fallen gelassenen Geste am Ende der Bewegung hängt die beabsichtigte und erzielte Aussagekraft einer Geste im Wesentlichen davon ab, mit welchem Spannungsgrad sie ausgeführt wird und wie weit unsere Finger dabei geöffnet werden. Mit leicht geöffneten Fingern, mit denen wir sonst etwas Verletzliches behutsam behandeln, können wir etwas Zartes oder nicht Greifbares

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11 Gestik

d­ arstellen und unterstreichen, beispielsweise ein neues Ressort oder eine neu geschaffene Stelle, die wie ein zartes Pflänzchen noch wachsen müssen und dabei Unterstützung brauchen. Eine voll aufgespannte Hand mit breit aufgefächerten Fingern und offen präsentierter Handfläche macht dagegen ein klares, offenes Angebot, übt dabei jedoch gleichzeitig einen gewissen Druck aus, dieses Angebot jetzt bitteschön aber auch anzunehmen. Werden die Finger dagegen ohne Anspannung gestreckt, erhält die Geste eine verbindliche und doch zurückhaltende Wirkung und Akzentuierung. Geschlossene Finger bilden die oben beschriebenen mehr oder weniger stark geballten Fäuste. Höhe der eigenen Gestik Die oben beschriebenen sechs Ebenen, auf denen sich Gestik ausdrückt, charakterisieren die Aussagen, die sie begleiten. In Bezug auf die im Recruiting grundlegenden zu vermittelnden Beziehungsbotschaften und Werte wie Diskretion, Fürsorge und Vertrauen gewinnt die Vertrauens-Ebene im Bauchnabel-Bereich zwischen Gürtel und Solarplexus eine hohe Bedeutung. Entfaltet sich die Gestik des Recruiters vom Bauchnabel aus nach außen, unterstützt sie das eigene Sicherheitsgefühl, Wohlbefinden und die Entspannung des Recruiters. Es beruhigt den Organismus, wenn sich die eigenen Hände im Zentrum um den Bauchnabel befinden, um die darunterliegenden Organe im Notfall direkt beschützen zu können. Diese Stabilität überträgt sich und hilft dem Bewerber, Vertrauen und Sicherheit für einen möglichen Wechsel zu gewinnen. In der nächsthöheren Ebene, zwischen Solarplexus und Kehlkopf, gewinnt unsere Gestik einen leidenschaftlicheren Charakter und kann von dort aus den Bewerber überzeugen und mitreißen. Das Zentrum dieser Ebene ist unser Herz, und so können durch Gesten, die von dort entfaltet werden, Begeisterung und Leidenschaft für ein Thema glaubwürdig transportiert werden. Dabei wirken jedoch die Dosis und das Verhältnis zur eingesetzten Gestik auf den anderen Ebenen stark auf die Wirkung und Glaubwürdigkeit unserer Kommunikation. Wer ständig mit Superlativen und Absolutismen argumentiert sowie fortwährend im leidenschaftlichen Bereich gestikuliert, wirkt schnell reißerisch und verwirkt die eigenen sich ergebenden Möglichkeiten, wenn gezielt, wohldosiert und passend zum Charakter der Aussage und der paraverbalen Kommunikation in der zugehörigen Ebene gestikuliert wird. Die darunterliegende Vertrauensebene bildet eine gute Basis, zu der wieder zurückgekehrt werden kann, nachdem ein Impuls gesetzt wurde. Die darüberliegenden Ebenen, vom Kehlkopf aufwärts, sind oben beschrieben, und je weiter es hinauf geht, desto mehr dringt die Gestik in das Bewusstsein und desto stärker wird ihr Einfluss auf die stattfindende Kommunikation. Man sollte sich durchaus gestatten, je nach Situation und Thema in diesen Bereich vorzudringen, aber man sollte nicht versuchen, willentlich dort Akzente zu setzen. Viele Menschen haben eine natürliche Hemmung, Gesten auf Kopfhöhe auszuführen, und fühlen sich befremdet, wenn sie diese dort willentlich platzieren sollen. Bewusst in dieser Ebene zu gestikulieren trägt das Risiko, dass diese Hemmungen sich negativ auf Timing, Kongruenz und damit auf die Authentizität und Glaubwürdigkeit des Recruiters auswirken.

11.7  Eigene Gestik



309

Wie beschrieben, ist ein zentrales Merkmal der nonverbalen Kommunikation, dass sie sich im unbewussten Bereich der Kommunikation ausdrückt. Das gilt es zu berücksichtigen: Wer aus den Tausenden Signalen durch die Auswahl einiger einzelner Elemente diese überbetont und sie dadurch ins Bewusstsein der Kommunikation hebt, bringt Ungleichgewicht in das gesamte Gefüge und verliert seinen natürlichen Ausdruck, Timing und die Kongruenz zwischen den verschiedenen Kommunikationsebenen. Diese Gefahr besteht besonders in Bezug auf die Gestik, da wir auf unsere Hände am leichtesten willentlich Einfluss nehmen können. Ziel sollte sein, nach und nach die verschiedenen Bereiche zu entwickeln, sodass sich im Laufe der Zeit eine unbewusste Kompetenz ergibt, die dann die verschiedenen positiven Wirkungsmöglichkeiten nutzt und dadurch, dass sie unbewusst ablaufen, überzeugend, authentisch und vertrauensbildend wirken. Dabei gilt es zunächst, jene Ausdrücke, die klare No-Gos und Kommunikationsstörer bilden, zu reduzieren, wozu Gesten unterhalb der Gürtellinie gehören. Prinzipiell sollten Gesten vollständig ausgeführt werden. Vorhersehbare Gesten, die Dinge realitätsgetreu nachbilden, werden jedoch im Allgemeinen als überflüssig empfunden, hier reicht eine Andeutung.

Die Ebene unterhalb der Gürtellinie wird von Bowden als Grotesque Plane beschrieben und ist überwiegend negativ konnotiert. Recruiter, denen auffällt, dass sie regelmäßig in diesem Bereich, oder bei Tisch unter der Tischplatte, gestikulieren, sollten daran arbeiten, ihre Gestik etwas nach oben zu bringen. Hierzu kann ein ganzheitlicher Ansatz helfen, der die eigene Einstellung zu den Inhalten in einen neuen Rahmen setzt und bewusst auf positive Aspekte sowie Inhalte achtet, die mit den eigenen Werten und Zielen harmonieren. 

Allgemein wirken synchron ausgeführte Gesten überzeugender als nicht synchrone. Das trifft sowohl auf die horizontale als auch auf die vertikale Achse zu. Natürlich stellt es, wie in Kap. 3 zur Lateralität beschrieben, einen natürlichen Ausdruck unserer dahinterliegenden Werte dar, wenn eine Hand aktiver wird, was nicht künstlich unterdrückt werden sollte. Wird eine Hand auf dem Tisch, der Armlehne oder auch einmal vorübergehend im Stehen in der Hosentasche geparkt oder in die Seite gestemmt, während die andere gestikuliert, stellt das kein Problem dar. Sind jedoch beide Hände in Bewegung, sollte in Bezug auf die verschiedenen Ebenen darauf geachtet werden, dass dies im gleichen Bereich geschieht. Sonst wirkt die kommunizierte Diskrepanz zwischen links und rechts sowie oben und unten zu uneins und gewinnt schnell einen clownesken Charakter. Je mehr Ebenen dabei zwischen den beiden Händen liegen, desto stärker wird diese clowneske Wirkung.

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Die Art und Weise, wie wir gestikulieren, wirkt auf unser Inneres. Runde und ausladende Gesten gehen mit längeren und im Extrem ausschweifenden, den Zuhörer langweilenden Umschreibungen einher, während getaktete, kurz gefasste und zackige Gesten strukturierter kommunizieren, in ihrem Extrem jedoch zu einer zu starken Stückelung führen können, bei der die Satzteile nach und nach herauskommen und vom Zuhörer mühsam zusammengesetzt werden müssen. Oftmals gehen diese mit einer monotonen Intonation einher, was die Konzentration erschwert. Lockere Gesten werden im Extrem zu wegschleudernden Gesten, die geringschätzend und negativ wirken und, wenn sie in Richtung des Gesprächspartners geschleudert werden, auf diesen beleidigend und entwertend wirken können. Dabei lässt man oftmals das Satzende tonlos ausklingen, sodass ein Großteil der Botschaft verloren geht und einen rätselnden Zuhörer zurücklässt, der sich fragt, was der Sprecher eigentlich mitteilen wollte. Das Gegenteil drückt der erwähnte Zeigefinger-Stil aus, bei dem im Extrem besserwisserisch alles wichtig ist und dem Zuhörer permanente Aufmerksamkeit abverlangt wird. Je nach Persönlichkeit und aktueller Verfassung haben wir Tendenzen zum und die Präferenz für den einen oder anderen Stil. Das stellt kein Problem dar, solange sich dessen Gestiken in einem Bereich äußern, der unsere Kommunikationsabsichten unterstützt oder zumindest nicht behindert oder vereitelt. Ein erster Schritt kann in diesem Zusammenhang darin bestehen zu erkennen, welches die eigene gestische Veranlagung ist, und dann durch die Entwicklung der eigenen Achtsamkeit, Feedbacks oder Videoanalysen zu bestimmen, ob diese irgendwo die gewünschte Wirkung der eigenen Kommunikation behindert. Nun können hinderliche Angewohnheiten entweder bewusst reduziert werden oder der Gegenpol gestärkt werden: Fällt uns beispielsweise auf, dass wir selbst den Zeitrahmen eines Gesprächs regelmäßig überstrapazieren, liegt der Verdacht nahe, dass auch die Gestik ausschweifend ist. Entsprechend können wir uns mit vermehrt getakteten Gesten selbst disziplinieren. Fällt uns auf, dass unsere Gesprächspartner übermäßig oft mit Reaktanz oder Angriffen reagieren oder sich zurückziehen und innerlich das Gespräch verlassen, liegt es möglicherweise daran, dass wir sehr dominant mit nach unten weisenden Handflächen oder Zeigefingergesten gestikulieren. Hier kann eine kooperativere Gestik ausgleichend wirken. Zentrale Gestik, linke und rechte Seite Gesten, die wir frontal vor dem eigenen Körper ausführen, werden stärker mit uns verbunden als jene an der Peripherie [45]. Dabei wirken ruhige und akzentuierte Gesten kompetent, während fahrige, hektische und schluderige Gesten durch ihr unkalkulierbares und unkontrolliertes Wesen Unruhe, Zurückhaltung und Vorsicht auslösen. In den meisten Gesellschaften wird intuitiv oder kulturell konditioniert rechts mit gut und links mit schlecht verbunden. Darüber hinaus verorten wir in Abhängigkeit von der Schriftund Leserichtung unserer Kultur die Zukunft in Schreibrichtung, also in der westlichen Welt ebenfalls rechts, während die Vergangenheit sich links befindet. Es erfordert zwar etwas Übung, aber in Gesprächen, in denen ihnen der Bewerber frontal gegenübersitzt, können Personaler ihre Gestik für diesen noch eindeutiger und intuitiv verständlicher

11.7  Eigene Gestik

311

ausdrücken, wenn sie positive Inhalte und zukünftige Perspektiven einer Position oder des Betriebs auf der eigenen linken Seite verorten, sodass der Bewerber diese auf seiner Rechten aufnimmt und die damit verbundenen Werte für ihn stimmiger zueinander passen. Mit der gleichen Systematik können aus Sicht des Personalers negative oder vergangene Inhalte rechts sowie neutrale und aktuelle Inhalte mittig platziert werden. Die intelligente Geste Wie in Kap. 9 beschrieben, übt der Blickkontakt während des Gesprächs eine starke Wirkung auf die Qualität der Beziehung aus, die wir zu unseren Mitmenschen entwickeln. Eine soziale Grundregel der zwischenmenschlichen Kommunikation verlangt, dass der Empfänger seinen Blick überwiegend auf den Sender gerichtet hält, während dieser in seinem Blickverhalten frei ist, um beispielsweise schweifende Gedanken mit eben solchen Blicken zu sortieren. Will der Recruiter seinen Blick abwenden, ohne die Beziehung zum Bewerber zu belasten, bietet sich die von Wolfgang Linker [46] beschriebene „intelligente Geste“ an, die der evaluierenden Geste ähnelt und auf verschiedene Arten geformt werden kann. Varianten der „intelligenten Geste“

1. Daumen und Zeigefinger umfassen das Kinn. 2. Der gestreckte Zeigefinger liegt an den Lippen und der Daumen unter dem Kinn. 3. Der nur leicht gebogene Zeigefinger liegt mit der Spitze auf der Unterlippe oder dem Kinn. 4. Der gebogene Zeigefinger liegt auf und der Daumen unter dem Kinn. 5. Der Brillenbügel wird leicht in den Mund genommen oder ein Kugelschreiber an die Unterlippe oder das Kinn gelegt.

Die intelligente Geste signalisiert, dass wir sowohl zuhören als auch über das Besprochene nachdenken. In diesem Zusammenhang ist es sozial akzeptiert und erlaubt, gleichzeitig den Blick abzuwenden. Diese Erlaubnis verschafft eine Pause zum Erholen oder Nachdenken, verhindert Fragen und beinhaltet auch die Erlaubnis, sich zu bewegen: Bewegungen versorgen uns und unser Gehirn mit mehr Sauerstoff. Sie erleichtern uns, Blockaden aufzulösen, neue Standpunkte einzunehmen und dadurch neue Perspektiven in der Konversation zu gewinnen. Nonverbale Kommunikation auf der Metaebene: Glaubhafte und zugängliche ­Gestik Das in Kap. 6 vorgestellte Modell von zugänglicher und glaubhafter Kommunikation ermöglicht uns ebenfalls über unsere Gestik, die gleichzeitig in Wechselwirkung mit

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11 Gestik

unserer Intonation steht, verschiedene Wirkungen hervorzurufen. Glaubhafte Gesten und Haltung bewirken ein glaubhaftes Stimmmuster und umgekehrt folgen einem bewusst angestimmten zugänglichen Stimmmuster zugängliche Bewegungen und Haltungen. Glaubhafte Gesten wirken autoritärer und betonen eine unpersönliche Kommunikation auf der Sachebene. Sie zeichnen sich aus durch harte, relativ unbewegliche bis hin zu starren und angespannten Gesten mit nach unten gerichteten Handflächen. Dabei werden diese eher schnell und kurz, mit eckigen Winkeln und geraden Fingern ausgeführt. Zugängliche Gesten pflegen dagegen die Beziehungsebene und den kooperativen Tenor einer Aussage. Zugängliche Gestik zeichnet sich aus durch weiche, fließende, offene und entspannte Bewegungen sowie nach oben gerichtete Handflächen und offene Winkel von Fingern und Bewegungen. Um Missverständnisse zu vermeiden: Kein Stil ist besser oder schlechter, die Kunst liegt im situativ angemessenen Wechsel zwischen beiden Stilen.

11.8 Fazit: Gestik Will jemand nicht handeln, sind auch die Hände passiv (Samy Molcho).

Gesten qualifizieren als begleitende Elemente unserer Kommunikation das Gesagte und ergänzen die Sachinformationen der verbalen Ebene um Beziehungsaspekte. Dabei übernehmen Gesten verschiedene Funktionen, von denen im Bewerbungsgespräch überwiegend Illustratoren und Adaptoren eine tragende Rolle spielen. Während Illustratoren oft Einstellungen und nicht gemachte Aussagen auf der nonverbalen Ebene symbolisch zum Ausdruck bringen, helfen Adaptoren, Stress abzureagieren, und treten in den verschiedensten Übersprunggesten auf, um sich selbst zu beruhigen. Hand- und Gesichtsberührungen können aus dem Wunsch entstehen, etwas zu verbergen, und zeigen sich oft bei Nervosität, die beim Lügen zunimmt. Dagegen nimmt die Häufigkeit allgemeiner Gesten bei einem lügenden Sprecher normalerweise ab [47]. Die Höhe, auf der Gestik ausgedrückt wird, das Timing, die Bewegungsrichtung sowie exponierte Finger und die Ausrichtung der Handflächen haben den größten Einfluss auf den Charakter, den eine Geste hinterlässt. Gesten können, genau wie Worte, mehrdeutig sein, sodass der gesamte Körperausdruck und der Kontext hinzugezogen werden müssen, um die Beobachtung zu relativieren oder zu bestätigen, ebenso sollte die Dynamik der Veränderung beachtet werden. Neben aktiver Gestik, die unseren verbalen Ausdruck begleitet, drückt sich passive Gestik in verschiedenen Handhaltungen aus, die meist die Ebene der Selbstkundgabe betreffen oder abwehrende und evaluierende Signale senden. In Bezug auf die Entwicklung der eigenen Gestik sollte man zunächst Gesprächsstörer wie übermäßige, unvollständige, abwertende, zu kurz ausgeführte Gesten oder solche unterhalb der Gürtellinie erkennen sowie unterlassen und anschließend durch Gesten, die den eigenen Ausdruck und Wirkung verstärken, ersetzen. Hierzu zählen ­beispielsweise die eingefrorene Geste oder synchron ausgeführte Gesten mit sichtbaren Handflächen.

Literatur

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11 Gestik

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Atmung und Stimme

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Zusammenfassung

In Kap. 12 werden die Einflüsse von Atmung und Stimme auf unsere Kommunikation, Wahrnehmung und Wirkung beschrieben und die Zusammenhänge zwischen Atmung und erteilter kommunikativer Sendeerlaubnis sowie zwischen Atmung und Emotionen erläutert. Ergänzend werden verschiedene Möglichkeiten beschrieben, um durch verschiedene Atemtechniken die eigene Wirkung im Gespräch zu steuern. Abschließend werden implizite Beziehungsbotschaften verschiedener Stimmmuster erläutert und Techniken beschrieben, mit denen das eigene Stimmmuster gesteuert und das Gespräch auch auf dieser Ebene zielgerecht gestaltet kann. Auf den ersten Blick scheint besonders die Atmung die Kommunikation nur wenig zu beeinflussen und dennoch stellt sie ein zentrales nonverbales Element dar, mit dem professionelle Schauspieler und Redner ihren Auftritt seit jeher stützen, um das Publikum zu führen. Auch im medizinischen Bereich ist die Wirkung verschiedener Atemmuster belegt und wird in unterschiedlichen Therapieformen angewandt. Eng mit der Atmung verbunden ist unsere Stimme, diese stellt gewissermaßen eine intonierte Ausatmung dar und ist damit die sonore Grundlage unserer verbalen Kommunikation. Da sie im Körper entsteht, aber verbale Inhalte transportiert, ist die Stimme bzw. die paraverbale Kommunikation sozusagen das Brückenglied zwischen nonverbaler und verbaler Kommunikation.

12.1 Grundlagen Atmung und Stimme 

In einem Versuch des Neurowissenschaftlers Pierre Philippot bildete er zwei Gruppen und trennte diese zunächst. Jeder Teilnehmer der ersten Gruppe wählte nun eine Emotion wie Freude, Angst oder Wut und rief diese über

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 C. Bernhardt, Nonverbale Kommunikation im Recruiting, https://doi.org/10.1007/978-3-658-25276-2_12

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12  Atmung und Stimme

die Veränderung der eigenen Atmung hervor. Anschließend dokumentierte er, durch welche Art zu atmen er die Emotion ausgelöst hatte. Danach wurden die Teilnehmer der zweiten Gruppe in den Raum geholt und ihnen von den Teilnehmern der ersten Gruppe erklärt, auf welche Art und Weise sie atmen sollten. Als sie das taten und anschließend benannten, welche Emotion sich durch die Art ihrer Atmung entwickelt hatte, waren es jene, die ihre Partner der ersten Gruppe zuvor entwickelt hatten. Die Emotion war den unwissenden Teilnehmern der zweiten Gruppe nur durch die Anleitung der Atmung vermittelt worden [1]. Studien mit Angstpatienten belegen, dass Angst über die Art zu atmen beeinflusst werden kann [2]. Wurde langsamer und tiefer ein- und ausgeatmet, verringerte sich die Angst der Patienten. Eine wichtige Erkenntnis war auch hier die Wechselwirkung: Nicht nur lässt die Angst die Menschen schneller und flacher atmen, auch umgekehrt bestimmt die Art der Atmung die Emotionen der Menschen. Eine leichte Veränderung der Gefühlslage geht stets mit einer Veränderung der Atmung einher, und so zeigt diese oftmals als erste von allen Körpersignalen an, dass ein Rhythmuswechsel erfolgt oder eine schleichende Veränderung beginnt.

Atemrhythmus und Atemtiefe, Ein- und Ausatmen Solange sie sich innerhalb eines gewissen Toleranzspektrums bewegt, sind wir uns über unsere Atmung in der Regel selbst nicht oder nur wenig bewusst. Nimmt der Recruiter die Atmung des Bewerbers und Änderungen des Atemrhythmus jedoch bewusst wahr, kann er direkt erkennen, in welcher emotionalen Lage der Bewerber ist und wann eine Rhythmusveränderung einsetzt. Atemrhythmus und -tiefe zeigen sich durch verschiedene Signale wie dem Weiten des Brustkorbs und dem Heben der Schultern, des Halses und der Arme beim Einatmen sowie deren Senkens beim Ausatmen. Beim Einatmen spannt und glättet sich das Hemd leicht, der Kopf richtet sich etwas auf und bewegt sich leicht zurück. Das Ausatmen geht mit einem subtilen Zusammensacken einher und wirft leichte Falten auf den Stoff des Hemdes oder der Bluse. Beim Einatmen aktivieren wir den Sympathikus und versetzen unseren Organismus mit neuer Energie und Sauerstoff in einen aktionsbereiten Zustand. Einatmen ist von daher verbunden mit steigender Kraft, Vitalität, Freude, Aktivität, aber auch mit der Aktivierung des Kampf- und Fluchtmodus und der Ausschüttung von aktivierenden Stresshormonen [3]. Steigende körperliche oder geistige Belastung erfordert mehr Sauerstoff und bewirkt eine tiefere Atmung. Auch bei einem neuen Gedanken atmen wir spontan tief ein und verschaffen uns zusätzliche Ressourcen, um diesen zu verfolgen. Im Bewerbungsgespräch kann eine kritische Frage, die einen heiklen Punkt trifft, dazu führen, dass erst einmal tief Luft geholt werden muss. Beim damit verbundenen stoßhaften, plötzlichen Einatmen richtet sich der Oberkörper auf und wird mitunter bis an die Stuhllehne zurückgeworfen: Die Frage hat den Bewerber unvorbereitet getroffen. Beim Ausatmen wird dagegen der Parasympathikus aktiviert und die damit verbundene Entspannung des Organismus eingeleitet. Ausatmen ist von daher verbunden mit nachlassender Kraft, Vitalitätsverlust, Passivität, Befreiung, Ruhe, aber auch mit der

12.1  Grundlagen Atmung und Stimme

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Aktivierung des Feed-or-Breed-Mechanismus durch die Ausschüttung von Entspannungshormonen [3]. Je nachdem, wie ausgeatmet wird, wird damit die Aussage oder Handlung des Gesprächspartners qualifiziert oder symbolisch kommentiert. Vergleichbar der wegstoßenden Zungenspitze, pusten wir auch einen unangenehmen Gedanken oder eine lästige Pflicht weg, die wir nicht annehmen wollen. Dieses Ausatmen erfolgt stoßweise und kann abweisend, teilweise auch entmutigt wirken. Werden zuvor die Wangen gebläht und im Extremfall beim Ausatmen mit den Lippen gesprudelt, werden Stress und Druck deutlich sichtbar abgebaut. Begleiten Töne, wie ein genervtes, schnaubendes „pfh“, das Ausatmen durch den Mund oder ein „nnh“ durch die Nase, wird das Unangenehme ostentativ weggeblasen und kein Hehl aus der Ablehnung, Genervtheit oder Verachtung gemacht. Ebenso kann ein entmutigtes oder leicht trauriges, zusammensackendes Ausatmen das Loslassen oder die Aufgabe von etwas signalisieren, auf das sich zuvor gefreut oder mit dem sich bereits identifiziert wurde. Der Abschluss mit dem Thema fällt dem so Ausatmenden nicht leicht, kann jedoch gleichzeitig eine Last von seinen Schultern nehmen. Rhythmuswechsel Während Bewerber, die im Gespräch die Einatmung verstärken, dabei nach und nach ihre Stressachse aktivieren, beruhigen und entspannen sich Bewerber, bei denen die Betonung auf der Ausatmung liegt. Geschieht das beruhigende Ausatmen plötzlich, kann dieser Wechsel des Atemrhythmus signalisieren, dass aus Sicht des Bewerbers gerade eine heikle Phase im Gespräch überwunden wurde. Die Situation ist heil überstanden, der Stress ist vorbei, nun kann erleichtert ausgeatmet werden. Mitunter wurde der Atem in der kritischen Situation zuvor unbewusst kontrolliert, um keine verräterischen Signale zu senden. Dann signalisiert lediglich jenes Ausatmen den zuvor empfundenen und in seinem Ausdruck weitestgehend unterdrückten Stress. Navarro zählt das stoßweise Ausatmen mit geblähten Wangen zu den Selbstberuhigungsgesten, die deutlich auf zuvor empfundenen Stress hinweisen [4]. In der Ruhe liegt die Kraft: Ein ruhiger und tiefer Atemrhythmus signalisiert Beständigkeit und Entspannung, die gleichzeitig bereit ist, in den aktionsbereiten Zustand zu wechseln. Beschleunigt sich der Rhythmus, verändert sich die Atmung: Die Atemzüge werden kürzer und flacher. Die kurze Atmung signalisiert Stress und hektische Sprunghaftigkeit. Der kurzatmige Gesprächspartner ist überwiegend mit sich selbst beschäftigt und für Argumente von außen nur schwer erreichbar. Solange ein kurzatmiger Bewerber seinen Rhythmus nicht auflöst, kann er sich kaum auf die Absichten und Wünsche der Betriebsvertreter und damit auf die Herausforderungen der zu besetzenden Stelle einlassen. Hinter der Kurzatmigkeit steckt ein gehetztes Wesen, das aktuell weder nach links noch nach rechts zu schauen vermag und versucht, sprunghaft nach vorn zu kommen: Dabei kann man sich jedoch rasch verstolpern [5]. Von daher sollte geprüft werden, inwieweit die Neigung zu Kurzatmigkeit des Bewerbers zu den Anforderungen der zu besetzenden Stelle passt. Eine Stelle mit kontinuierlichem, nachhaltigem Dauer-Charakter mag nicht passen, eine spontane und flexible Wechselstelle im Rahmen verschiedener Projekte schon eher.

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12  Atmung und Stimme

Gedanken brauchen Bewegung, das zeigt sich beispielsweise in der Meditation, wenn die angestrebte Gedankenlosigkeit zuerst in den Pausen zwischen Ein- und Ausatmen erfahren wird [6]. Wird diese Pause ausgedehnt, macht auch das Denken eine Pause, mit fließendem Atem setzt es dann rasch wieder ein. Im Alltag halten wir die Luft an und unterbrechen unseren natürlichen Atemrhythmus, wenn uns etwas aufschreckt, verunsichert oder uns vor eine Entscheidung stellt. Atmet der Bewerber dagegen unverändert weiter, während der Recruiter ein spannendes Projekt oder eine anspruchsvolle Herausforderung beschreibt, ist er noch nicht emotional beteiligt. Stockt sein Atem dagegen kurz oder wird er für den Bruchteil einer Sekunde angehalten, signalisiert das kurze Innehalten die Konzentration auf einen heiklen oder interessanten Punkt. In dieser Atempause fällt die Entscheidung, ob der Bewerber den Gedanken des Recruiters annimmt oder ihn zurückweist. Um sich zu orientieren, hält er inne und lässt das Gesagte wirken. Das kann einen Zweifel ausdrücken, aber auch ein letztes Zögern, das sich zeigt, bevor er eine Schwelle überschreitet und sich tiefer in das Gespräch oder das beschriebene Projekt einbringt. Taucht dieser subtile Rhythmusbruch vor der Beantwortung einer Frage auf, kann dies auch auf den eingeschränkten Wahrheitsgehalt der folgenden Aussage hinweisen. Wird gestockt, gezögert oder vorschnell geantwortet, verlässt der Bewerber den gemeinsamen Rhythmus. Dieser ergibt sich sonst im Gespräch automatisch, wenn zuvor eine stabile Verbindung entstanden ist. Im gemeinsamen Rhythmus atmet der Bewerber die Frage des Recruiters gewissermaßen ein, verarbeitet sie kurz und bringt dann beim Ausatmen den eigenen Beitrag in das Gespräch ein. Passt das Timing der Antwort zum aktuellen Rhythmus und wird sie im erwarteten Tonfall ausgedrückt, wirkt sie oftmals allein schon dadurch überzeugend. Wird jedoch gezögert oder direkt und zu schnell mit einer Musterantwort pariert, zeigen sich im ersten Fall ein innerer Konflikt und im zweiten Fall die zurechtgelegte Antwort, die wie auf Knopfdruck abgerufen wird. Kommunikative Sendeerlaubnis In der Kommunikation bestimmen die Filter des Empfängers, wie das Gesendete aufgenommen wird: Der Empfänger formt die Botschaft. Ist der Bewerber nicht empfangsbereit, sind nicht nur späteren Missverständnissen und enttäuschten Erwartungen Tür und Tor geöffnet, sondern der Recruiter verliert zusätzlich beim Versuch, etwas zu bewirken, unnötige Energie. Jeder, der einmal ein Gespräch beenden wollte, kennt das Gefühl und die langsam, aber sicher entstehenden nonverbalen Signale, mit denen versucht wird, dem anderen so höflich wie möglich zu vermitteln, dass man keine Lust mehr auf das Gespräch hat. Auf der Lauer nach der Lücke zum diplomatischen Ausstieg aus dem Gespräch verliert auch das Inhaltliche rasch an Relevanz. Somit beschränkt die Empfangsbereitschaft des Bewerbers die Sendeerlaubnis des Recruiters. Bevor der Wunsch, das Thema zu wechseln, ins Bewusstsein des Bewerbers dringt, signalisiert dessen Atem seine nachlassende Empfangsbereitschaft. Versteht der Recruiter dies als sich ihm entziehende Sendeerlaubnis, kann er das Gespräch nicht nur effizienter führen, sondern auch verhindern, dass der Bewerber sich weiter zurückzieht. Die Gründe dafür müssen nicht ausschließlich auf der inhaltlichen Ebene liegen und

12.1  Grundlagen Atmung und Stimme

319

damit auf mangelnde Motivation hinweisen, sondern können ebenso in langatmigen Ausführungen und Wiederholungen des Interviewers begründet sein und diesem damit als Feedback über die eigene Gesprächsführung dienen. In Bezug auf erteilte oder verweigerte Sendeerlaubnis stellt das Atemmuster damit ein zuverlässiges Kriterium dar, das vorhandene oder fehlende Erlaubnis signalisiert. Das Atemmuster bildet sich durch die Atemfrequenz und die Tiefe der Atmung. Je schneller die Atemfrequenz, desto weniger Erlaubnis liegt vor, je langsamer die Atemfrequenz, desto mehr Erlaubnis wird erteilt. Ein Wechsel der Atemfrequenz geht normalerweise einher mit Bewegungs- oder Haltungsänderungen. Mit ihr verbunden ist die Tiefe der Atmung, die die Aufnahmebereitschaft des Bewerbers anzeigt. Eine tiefe Atmung erteilt hohe Sendeerlaubnis, eine flache oder hohe Atmung erteilt niedrige Sendeerlaubnis. In Bezug auf die Tiefe der Atmung liefern die Schultern deutliche Signale: Ist der Gesprächspartner entspannt, fallen sie deutlich tiefer als im angespannten oder verspannten Zustand. Neben der Atmung drücken die Sprechweise, die Art der Bewegung und die Körperhaltung erteilte oder fehlende Erlaubnis aus [7]. Eine tiefe Atmung geht einher mit entspannten und flüssigen Bewegungen, die ebenfalls hohe Erlaubnis signalisieren. Eine flache und gestresste Atmung geht mit Anspannung und stockenden Bewegungen einher: Der Organismus ist überwiegend mit sich selbst beschäftigt und nur bedingt aufnahmefähig. Im Extremfall wird die Luft angehalten und dadurch signalisiert, dass der Organismus gerade überhaupt nicht aufnahmebereit ist. Bei vagen, undifferenzierten Aussagen oder einer komplexen oder langatmigen Herleitung hat wahrscheinlich jeder schon einmal den Faden verloren und versucht, sich nichts anmerken zu lassen. Zu diesem Zeitpunkt merkt man direkt, wie schwer es ist, mit der richtigen Mimik, Blickverhalten oder Timing zu reagieren. Während wir uns dabei über unser Blickverhalten und Timing bewusst werden, bleibt der veränderte Atemrhythmus im unbewussten Bereich und kann somit nicht überspielt werden, sondern liefert ein unverfälschtes Bild über unsere Aufnahmebereitschaft und über unser tatsächliches Verständnis. Die vom Bewerber erteilte Sendeerlaubnis beeinflusst aber nicht nur die Qualität des Interviews. Seine Fähigkeit, präsent, konzentriert und fokussiert zu bleiben zeigt auch die Fähigkeit an, sich später auf die Anliegen seiner Führungskraft, Kollegen oder Kunden einzulassen. Gerade bei komplexen Sachverhalten oder langatmigen Ausführungen trennt sich die Spreu vom Weizen. Auch bezüglich der Interpretation nicht erteilter Sendeerlaubnis stellt der Kontext eine maßgebliche Größe dar. Entzieht ein Bewerber bei einer trivialen oder wiederholt erwähnten Aussage die Sendeerlaubnis, signalisiert er seine Langeweile: Als Schnelldenker oder kreativer Kopf hat er den Kern der Aussage bereits erfasst und braucht neuen Input sowie weiterführende Stimuli. In diesem Fall könnte der Recruiter die Intensität der Informationsvermittlung erhöhen. Steigt der Bewerber dagegen bei einer komplexen Herleitung aus, hat ihn diese womöglich überfordert, und so sollte in leichter verdaulichen Einheiten kommuniziert werden.

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12  Atmung und Stimme

12.2 Stimme Mit den Themen Stimme und Intonation werfen wir einen Blick über den Tellerrand der nonverbalen Kommunikation hinaus in das Feld der paraverbalen Kommunikation. Auch diese ermöglicht breite und tiefe Einblicke in die Persönlichkeit des Bewerbers. Die Sprachanalyse-Software Precire nutzt die Implikationen von Intonation, Stimme sowie Wortwahl und leitet aus einer zehnminütigen, freien Erzählung 42 Persönlichkeitsdimensionen ab. Der Personaldienstleister Randstad setzte Precire schon 2016 ein, und auch Banken, Versicherungen und andere Institutionen nutzen diese Software im Recruiting oder der Personalentwicklung [8].

Stimme und Gestik beeinflussen sich ebenfalls gegenseitig: So lässt sich ein dominanter Stimmklang mit nach unten gedrehten Handflächen wesentlich müheloser erzeugen als mit nach oben gedrehten Handflächen. Auch die Haltung wirkt direkt auf die Stimme: Durch einen zusammengesackten Oberkörper wird die Atmung erschwert, während in offener und aufrechter Haltung unbeschwert geatmet und gesprochen werden kann. Die Grenzen zwischen nonverbaler und paraverbaler Kommunikation sind somit fließend, der Atem bildet das direkte Verbindungsglied zwischen beiden: Wenn er fehlt, wird auch die Stimme schwach und brüchig, die geäußerten Worte verlieren ihre Glaubwürdigkeit und Überzeugungskraft. Ein Sprichwort sagt, dass man im richtigen Ton fast alles sagen kann, im falschen dagegen so gut wie gar nichts. Wie Albert Mehrabian [9] erforschte, tragen Stimme und Tonfall bis zu 38 % zu einer gelungenen Kommunikation bei. Erst wenn verbale, paraverbale und nonverbale Kommunikation im Einklang sind, stellt sich durch die Kongruenz der drei Ebenen Authentizität und Glaubwürdigkeit ein. Die Stimme macht Stimmung: Die feine Kehlkopfmuskulatur reagiert direkt auf subtile Spannungen, Nervosität und Unsicherheiten und verstärkt diese beim Sprechen. Übung schärft die bewusste Wahrnehmung für den Stimmausdruck des Gesprächspartners. Recruiter, die die Stimme des Bewerbers auf das eigene Gefühl wirken lassen, werden nach und nach viele Feinheiten registrieren, die ihnen zusätzliche Informationen über dessen innere Verfassung geben können. So lässt sich heraushören, ob es Blockaden gibt und wo diese liegen oder ob es eine Präferenz zu einer bestimmten Sprechweise oder einem Bereich im Körper gibt, aus dem heraus der Bewerber bevorzugt spricht. Während eine Stimme im Kehlkopfbereich knödelt, wird eine andere verbissen zwischen den Zähnen hervorgepresst, eine dritte kommt aktionsbereit aus dem Brustbereich oder träge bis lasziv aus dem Bauch heraus. Die Stimme entsteht prinzipiell am Zwerchfell und kann dann frei fließen oder in ihrem natürlichen Ausdruck an verschiedenen Stellen gehemmt oder verstärkt werden. Ungewöhnliche Hemmungen und Engpässe im Stimmausdruck sowie die mit ihnen verbundenen Bereiche können auf mögliche Engpässe in der Leistungserbringung hinweisen. Die aus der Tiefe kommende träge und laszive Unterbauchstimme scheint gar nicht in das für das Business notwendige aktionsbereite Stimmspektrum zu gelangen, sie muss stets von anderen Themen zu den Anforderungen des Geschäftslebens geleitet werden

12.2 Stimme

321

und riskiert, sich schnell ablenken zu lassen. Der Knödler, der im letzten Augenblick die Stimme im Halsbereich zusammenquetscht und so die vorbereitende Anstrengung des Brustkorbes zunichtemacht, lässt sich als Thema verstehen für einen Bewerber, der auch sonst dazu neigt, es sich schwer zu machen, oder Probleme und Hindernisse sieht, die für andere intuitiv nicht relevant wären. Beides kann Vor- und Nachteile haben. Fällt die fließende Dosierung der Stimme schwer oder springt sie von einer Stimmlage in die nächste, kann auch dieses Verhalten auf eine prinzipielle Veranlagung für andere Verhaltensmuster hinweisen. Bei Veränderungen wird zunächst verdrängt, unterlassen, gezögert oder blockiert, bis die aufgestaute Spannung so groß wird, dass der Wechsel nicht mehr verhindert werden kann. Die Veranlagung zu Widerstand und Reaktanz, bevor der sprunghafte Wechsel erfolgt, kann Produktivität kosten und Innovationen oder nötige Schritte im Rahmen von Veränderungsprozessen übermäßig lange hinauszögern. Der Ruck zum abrupten Wechsel zieht eine kurze Phase der Instabilität nach sich, die erst wieder eingefangen werden muss und somit eine Veranlagung zu emotionalerem Verhalten mit sich bringen kann. Ein ausgeprägter Brustklang der Stimme drückt ein hohes Maß an Selbstbehauptung aus. Der ganze Oberkörper wird mit vollem Atem als Resonanzkörper genutzt, die sonor klingende Bruststimme kommuniziert Aktionsbereitschaft und Selbstsicherheit. Wenn ihr jedoch der Spielraum oder die Erlaubnis fehlt, auch einmal zögerlich oder gehemmt zu zaudern, darf sich gefragt werden, in welchem Maß die Sensibilität zur Differenzierung und das Vermögen, auch einmal zurückzurudern und nachzugeben, vorhanden sind. Eine kehlkopflastige Stimme mit einem gehemmten Timbre wird oft von hochgezogenen Schultern und angespannter Nackenmuskulatur begleitet und ausgelöst, sie weist auf eine ängstliche und gehemmte Stimmung hin. Neben der grundsätzlichen Gewohnheit des Bewerbers weist die situative Veränderung der Stimme auf emotionale Veränderungen hin. Auch hier gilt, dass es bei der Charakterisierung einzelner Stimmlagen und Parameter nicht um gut oder schlecht geht, sondern um passend oder nicht passend zum Charakter der zu besetzenden Stelle, zur aktuellen Situation im Gespräch, zum behandelten Thema und zum zuvor beobachteten Normalverhalten des Bewerbers. Modulation der Stimme Die Modulation beschreibt die Fähigkeit, die Stimme oder das Sprechtempo zu variieren. Dabei drückt sich das innere Befinden des Bewerbers aus und kann auf eingefahrene Gewohnheiten und Verhaltensprädispositionen hinweisen. Personaler, die ihr Gehör dahin gehend entwickeln, dass sie bewusst Veränderungen der Modulation oder der Deutlichkeit des Bewerberausdrucks wahrnehmen, können ihr Gespür für mögliche Themen und Aspekte verfeinern, die dem Bewerber Schwierigkeiten machen oder unangenehm sind. Eine ruhige und klare Aussprache vermittelt innere Klarheit und zeugt von Kompetenz, Kultiviertheit und Respekt. Allgemein zeigt sich eine umso klarere Aussprache einzelner Worte, je sicherer sich jemand seines Themas ist bzw. je weniger negative

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12  Atmung und Stimme

Gefühle deren natürlichen Ausdruck behindern. Eine klare Aussprache vermittelt ebenso das Bedürfnis nach Klarheit in der Informationsweitergabe und -aufnahme. Wird diese Einstellung auf das Arbeits- und Kommunikationsverhalten übertragen, dürfte die Person dazu neigen, sich zunächst auch von Sachverhalten ein klares Bild zu verschaffen, bevor sie sich verpflichtet. Gleichzeitig weist die klare Aussprache auf ein ausgeprägtes Eigendisziplinierungs- und Verantwortungsgefühl sowie Erfolgsorientierung hin [10]. Die sorgfältige und ausgeprägte Aussprache signalisiert zwar eine bewusste und disziplinierte Haltung, es sollte jedoch beobachtet werden, wie natürlich diese gelingt und welcher Energieeinsatz aufgebracht dafür werden muss. Gelingt die klare Aussprache mühelos und authentisch, lässt sie auf ein ebensolches Gemüt schließen. Muss sie dagegen kontrolliert und bewusst herbeigeführt werden, kaschiert sie möglicherweise andere darunterliegende Strömungen und Impulse, zeugt jedoch vom Bewusstsein des Bewerbers über die eigene Wirkung und von seinem Bemühen, auf den Gesprächspartner einzugehen. Ist die Aussprache zu sorgfältig oder überakzentuiert und entwickelt einen abgehakten und emotionslosen Stil, der den fließenden Sprachausdruck behindert, kann dies die eingeschränkte Fähigkeit, in den Flow-Zustand zu gelangen, Verbissenheit sowie mangelnde Vitalität signalisieren. Letztere kann sich auch durch unregelmäßiges Schwanken der Stimmstärke bei geringer Stimmfülle ausdrücken [11]. Eine wenig ausgeprägte Aussprache zeugt von Natürlichkeit und einer gewissen Lässigkeit [11]. Solange sich diese in einem für die Stelle passenden Ausmaß ausdrückt, kann auf einen angenehmen Mitarbeiter geschlossen werden. Entwickelt sich die wenig ausgeprägte Aussprache weiter zur unklaren oder genuschelten Sprache, wirkt sie unhöflich. Sie vermittelt wenig Respekt und ergibt sich, wenn Inhalte nur oberflächlich betrachtet wurden oder kaschiert werden wollen. Der eine oder andere hat es vielleicht schon bei sich selbst beobachtet: Nachdem man in ein Fettnäpfchen getreten ist oder wenn man sich aus einer unangenehmen Situation herausreden will, fällt eine klare Akzentuierung schwer und man kommt leicht ins Rumdrucksen, ins Nuscheln, murmelt in den eigenen Bart oder spricht schneller. Schnellsprecher denken in der Regel auch schnell, während es bei auffälligen Langsamsprechern eher länger dauert. Letzterer gesteht sich die Zeit zu, die Dinge in Ruhe zu durchdenken und keine Schnellschüsse zu produzieren. Auch im kreativen Prozess ist beides gefragt: sowohl die Stärke des Schnelldenkers, viele Ideen spontan zu produzieren, als auch die Fähigkeit des Langsameren, die gefundenen Ergebnisse wieder zu begrenzen, damit der kreative Prozess nicht ausufert und der Bezug zum Thema gehalten wird. Schwankungen des Sprechtempos lassen auf innere Erregung schließen und können in mangelnder Selbstsicherheit gründen [11]. Diese hemmt einen natürlichen, fließenden Selbstausdruck, sodass es zu sprunghaften Wechseln oder Korrekturen der Geschwindigkeit kommt, die die innere Unausgeglichenheit anzeigen. Ein überbetonter oder abgehackter Rhythmus zeigt dagegen das Bemühen, tiefer liegende, ungesteuerte Impulse zu kontrollieren. Eine leise Stimme drückt innere Ruhe und Ausgeglichenheit aus, die normalerweise mit Respekt vor und Interesse am Austausch mit unseren Mitmenschen einhergeht [12]. Damit bringt die Person gute Voraussetzungen für eine erfolgreiche Arbeit im Team mit.

12.3  Eigene Atmung

323

Es kann erwartet werden, dass leise sprechende Menschen auch in stressigen Situationen den Überblick behalten und ausgleichend auf ihr Umfeld wirken. Eine zu leise Stimme kann jedoch mangelnde Überzeugung signalisieren oder die eingeschränkte, sich selbst erteilte Erlaubnis zum freien Ausdruck. Eine kräftige, laute Stimme dokumentiert körperliche Stärke und auch psychische Robustheit. Je nach Umfeld irritiert sie jedoch den Gesprächspartner und wirkt dominant. Wer selbst laut spricht, belegt das akustische Territorium und lässt damit anderen und seinem Umfeld weniger Raum. Im Bewerbungsgespräch kann eine laute Bewerberstimme den Wunsch ausdrücken, die eigene Aktions- und Handlungsbereitschaft zu demonstrieren. Da sich willentliche Veränderungen der Stimme in der Regel nur über einen kurzen Zeitraum aufrechterhalten lassen, sollte beobachtet werden, ob der Bewerber nur kurz beeindrucken will oder ob die laute Stimme seinen Grundausdruck darstellt. Ist Letzteres der Fall, kann geprüft werden, inwieweit laut sprechende Bewerber die Meinung anderer respektieren und wie es um ihre Teamfähigkeit bestellt ist. Darüber hinaus sollte darauf geachtet werden, ob oder inwieweit versucht wird, durch die erhöhte Lautstärke fehlende inhaltliche Substanz zu übertönen. Wird die Stimme schließlich zu laut und droht, die Schwelle zur Emotionalität zu überschreiten, drückt sie innere Anspannung aus. Neben der Lautstärke gibt der Klang der Stimme Auskunft über das emotionale Befinden eines Menschen. Aus der Klangfarbe der Stimme kann bis zu einem gewissen Grad auf entsprechende Charakterzüge geschlossen werden [13]. Eine warme Stimme vermittelt emotionale Beteiligung und Ausgeglichenheit, eine kalte Stimme fokussiert die sachliche Ebene der Kommunikation. Während eine tiefere Stimme würdevoll und ruhig wirkt, liegt einer hohen Stimme oft Angst, Aufregung oder Unsicherheit zugrunde [13]. Ein starker Wechsel der Stimmstärke signalisiert eine gefühlsbetonte Grundhaltung, dagegen weist ein geringer Wechsel auf nur geringes gefühlsmäßiges Miterleben oder starke Selbstdisziplinierung hin. Die geringe Variation kann sich im negativen Fall zur monotonen Stimme entwickeln. Liegt kein Interesse am Thema vor oder stehen wir diesem gleichgültig gegenüber, motiviert es uns auch nicht zur Bewegung, entsprechend monoton bleibt oftmals die Stimme. Eine geringe Hebung und Senkung der Lautstärke oder eine schlaffe und ungestaltete Sprechweise vermitteln eine gewisse Trägheit und wirken desinteressiert. Neben mangelndem Interesse kann die Monotonie jedoch auch in Trauer begründet liegen: Der zu verarbeitende Verlust wiegt so schwer, dass aktuell keine Begeisterung für andere Themen entwickelt werden kann. Die zittrig-monotone Stimme wirkt unsicher und ängstlich.

12.3 Eigene Atmung Oftmals wird sie gänzlich übersehen, dabei ist die eigene Atmung eines der wichtigsten Elemente gelingender Kommunikation: Die richtige Atmung hilft, im Gleichgewicht zu bleiben, das Denken anzuregen und Blockaden zu lösen. Wenn wir einatmen, führen wir unserem Körper Sauerstoff zu, wenn wir ausatmen, leiten wir Kohlendioxid aus.

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12  Atmung und Stimme

Vereinfacht ausgedrückt, wird bei der Atmung Energie, die zuvor an Nahrung gebunden ist, durch Oxidation in Adenosintriphosphat (ATP) umgewandelt, das den universellen und unmittelbar verfügbaren Energieträger für unsere Zellen darstellt und alle biologischen Prozesse in unserem Körper antreibt [14]. Für den dabei stattfindenden Oxidationsprozess benötigen wir Sauerstoff. Als Nebenprodukt entsteht Kohlendioxid, das wir mit der Ausatmung ausleiten. Tief und ruhig einzuatmen führt dem Organismus also genügend Sauerstoff zu, um die in der aufgenommenen Nahrung gebundene Energie freizusetzen, tief und ruhig auszuatmen führt die entstehenden Nebenprodukte aus. Eine tief gehende Atmung versorgt unser Gehirn mit ausreichend Sauerstoff, gibt uns Sicherheit und dient als Blasebalg für die Stimme.

Menschen in der westlichen Gesellschaft atmen durchschnittlich acht- bis zwölfmal pro Minute ein und aus [2]. Je nachdem, in welchem Rhythmus und wohin im Körper geatmet wird, ergeben sich unterschiedliche Wirkungen. Kontraproduktiv darauf wirkt das westliche Schönheitsideal vom flachen Bauch, sodass viele Menschen gewohnheitsmäßig in die Brust atmen und durch diese flache Atmung viel von ihrer ursprünglichen Sicherheit verlieren, da eine flache Schnapp-Atmung die Entstehung von Angstzuständen unterstützt. Wer unbewusst zu schnell und zu flach in den oberen Brustbereich atmet, stößt das ersten Stadium der Hyperventilation an und behindert damit die eigene Fähigkeit, klar zu denken. 

Der Schlüssel, um diesem Mechanismus vorzubeugen und einen klaren Kopf zu bekommen, liegt im bewussten Ausatmen. Wird tief, ruhig und weit ausgeatmet, geschieht das tiefe Einatmen anschließend mühelos und wie von selbst. Versuchen wir dagegen lediglich tief einzuatmen, ohne dass die zuvor eingeatmete Luft ganz ausgeatmet wurde, ist im unteren Teil der Lunge kein Platz für die frische Luft und bringt uns um die vielfältigen positiven Effekte der tiefen Atmung.

Wenn wir uns gestatten, in den Bauch zu atmen, wird zusätzlich verhindert, dass sich beim Einatmen der Brustkorb nach oben zieht, was bereits zum Komplex des Aufplusterns gehört, damit unbewusst als beginnendes Drohverhalten verstanden werden und Störungen in das Gespräch bringen kann. Eine natürliche, vitalisierende Atmung wird durch die in Kap. 6 beschriebene natürliche Grundhaltung verbessert. Wie die Übung in Kap. 11 gezeigt hat, übertragen sich Spannungen im Körper auf unsere Atmung. 

Die Atmung ist einerseits ein zuverlässiger Indikator für Stress oder Ruhe, wirkt sich aber umgekehrt direkt auf unsere emotionale Verfassung aus. Da wir die Möglichkeit haben, bewusst auf sie einzuwirken, können wir über die Kontrolle der Atmung auf einer tieferen Ebene die Stellschrauben unserer emotionalen Verfassung und damit unserer gesamten Kommunikation regulieren. Da sie die Grundlage bildet, auf der unsere non- und paraverbale Kommunikation aufbaut, und den grundlegenden Charakter unserer Bewegungen

12.3  Eigene Atmung

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prägt, wirkt die Kontrolle der Atmung substanzieller als die Kontrolle anderer Körperspracheelemente. Entsprechend müssen wir nicht mehr versuchen, explizit auf andere, einzelne Elemente einzuwirken, sondern können uns, besonders in Schlüsselsituationen, durch den Zugriff auf ganzheitlicher Ebene regulieren, ohne zu riskieren, unseren natürlichen Ausdruck und unsere Authentizität zu verlieren.

Die Gesprächsatmosphäre über die Atmung steuern Als soziale Wesen schwingen wir uns auf unseren Gesprächspartner ein und versuchen intuitiv, in einen gemeinsamen Rhythmus zu gelangen, während wir miteinander kommunizieren. Entsteht im Gespräch eine Verbundenheit zwischen zwei Gesprächspartnern, feuern deren Spiegelneurone und damit passen sich auch ihre Atemrhythmen einander an und signalisieren die tiefere Resonanz, in die man eingetreten ist. Die meisten werden sich vielleicht erinnern, wie sie sich schon einmal durch einen kurzatmigen, hektischen und unstrukturiert atmenden und sprechenden Gesprächspartner haben anstecken lassen und selbst unruhig oder gestresst wurden. Betriebsvertreter, die einen flachen Atem mitbringen, machen auch den Bewerber atemlos und nervös. Damit wirken sie einem ­konstruktiven Gespräch entgegen. Fühlt sich der Bewerber nach dem Gespräch gestresst oder unwohl, beeinflusst dieses Gefühl seine Entscheidung. 

Die Atmung lässt sich aber auch im positiven Sinne einsetzen, um Gesprächspartner zu motivieren und deren Begeisterung zu wecken. Wird der eigene Atemrhythmus zunächst jenem des Gesprächspartners angepasst, ermöglicht er, sich auf einer Ebene, die in der Regel nicht bewusst registriert wird, auf diesen einzuschwingen. Nachdem über den Atemrhythmus in Resonanz miteinander getreten wurde, bildet sich nach und nach eine tragfähige Verbindung, die dazu führt, dass der Bewerber beginnt, Bewegungsänderungen des Recruiters unbewusst zu spiegeln. Das kann auf verschiedenen nonverbalen Ebenen erfolgen, wie dem Bewegungs- oder Atemrhythmus, der Bein- oder Armhaltung, der Gestik oder dem Öffnen und Schließen. Ist die Verbindung stabil, kann der Recruiter über die Steuerung der eigenen Atmung bestimmen, in welche Richtung er das Gespräch führen möchte. Während bei der Betonung des Einatmens der Sympathikus aktiviert und damit Energie in das Gespräch gebracht wird, aktiviert die Betonung des Ausatmens den Parasympathikus und wirkt entspannend. So kann der Recruiter über eine subtile Beschleunigung des eigenen Atemrhythmus den Bewerber in einen aktionsbereiten Zustand führen. Will er ihn dagegen beruhigen, sollte er die eigene Ausatmung betonen und seinen Rhythmus drosseln.

Die Erkenntnisse der zu Beginn des Kapitels erwähnten Angststudie ermöglichen dem Recruiter, zunächst Ruhe und eine vertrauensvollere Atmosphäre in das Gespräch zu bringen. Wer bewusst langsamer und tiefer atmet, versorgt den Körper besser mit Sauer-

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12  Atmung und Stimme

stoff, hat weniger Stress und Angst, kann klarere Gedanken fassen und empfindet mehr Ruhe und Wohlbefinden. Neben einer kooperativeren und produktiveren Gesprächsatmosphäre wirkt sich diese Art der Atmung auch positiv auf die eigene Gesundheit aus, da die volle Atmung dem gesamten Körper genügend Sauerstoff zur Verfügung stellt. Atmet der Recruiter zu Beginn des Gesprächs oder nach kritischen Phasen bewusst etwas tiefer und langsamer, wird er ruhiger und steckt damit den Bewerber an. So kann Letzterer etwaige Nervosität und Stress abbauen, zu seinem Normalverhalten finden und seine Empfangsfähigkeit für die Botschaften des Recruiters erhöhen. Damit kann, nur über die bewusste Atmung eingeleitet, ein wesentlich kooperativeres Gespräch angestoßen werden. Bemerkt der Recruiter dagegen, dass er selbst hoch und flach atmet, empfiehlt es sich, eine kurze Pause beim Reden zu machen. Denn im aktuellen Zustand gelingt die eigene Kommunikation nur suboptimal, die eigene Nervosität droht, sich auf den Bewerber zu übertragen und damit die Vertrauensbildung zu unterminieren. 

Übung: In Breath Mark Bowden [15] beschreibt die „In-Breath“-Technik, mit der Schauspieler und Redner seit Jahrtausenden das eigene Sauerstoffniveau erhöhen, um ihren Ausdruck auf der Bühne inspirierender und begeisternder zu gestalten und auf die Zuschauer überspringen zu lassen. Die Visualisierung kann sowohl im Sitzen als auch im Stehen durchgeführt werden. Dabei stellen Sie sich vor, dass ein dünner Bindfaden den Kopf am hinteren Scheitel nach oben zieht und aufrichtet, während die Füße fest im Boden oder die Sitzhöcker auf dem Stuhl verwurzelt bleiben. Während Sie oben Ihre Wirbelsäule strecken und sich nach oben ziehen lassen, müssen Sie darauf achten, unten gut mit dem Boden oder Stuhl verbunden zu bleiben (Fersen auf dem Boden lassen und mit den Sitzhöckern gut mit dem Stuhl in Kontakt bleiben). Sobald Sie diese Haltung erreicht und einige Atemzüge gehalten haben, werden Sie bemerken, wie sich durch die Konzentration nach oben der Fokus auf die Einatmung verschoben hat, ohne dass diese flach oder schnell wird. Durch die tiefen, langsamen, nach oben gerichteten Atemzüge wird dem Gehirn mehr Sauerstoff zugeführt, was normalerweise mit einem leichten Lächeln einhergeht und nach einiger Zeit zu einer offeneren Wahrnehmung führt, die sich in einer Verbesserung der peripheren Wahrnehmung oder der besseren Wahrnehmung von Farben, Schärfe oder Einzelheiten ausdrücken kann [16]. Auch die Qualität des Hörens kann sich verbessern. Durch das Mehr an Sauerstoff kann das Gehirn zusätzliche Informationen verarbeiten. Zwar kostet es Willensenergie, sich in der beschriebenen Form aufzurichten, aber durch die bessere Atmung erhalten Sie diese unmittelbar zurück. Bowden beschreibt den Zustand als Bereitschaftszustand, Sie sind offen und können direkt in Aktion treten [16].

12.4  Eigene Stimme

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Das Gegenteil vermittelt der Out-Breath: Wer sich zusammensacken lässt und sich vorstellt, wie er innerlich nach unten gezogen wird, wird eine entmutigte Atmung hervorrufen. Dieser folgen nach unten gezogene Mundwinkel und eine kraftlose Stimmung.  Nasenatmung  Eine weitere effektive Möglichkeit kommt aus der Welt des Theaters und besteht darin, bewusst durch die Nase einzuatmen. Durch die Nasenatmung wird der Atem automatisch feiner gefiltert, wir werden präsenter, bekommen einen besseren Zugang zu uns selbst und können unsere Energie besser dosieren. Darüber hinaus verbessert die Nasenatmung die Körperspannung: Der Körper richtet sich leicht auf und wir erlangen eine aufrechtere Haltung. Natürlich lässt sich die Nasenatmung nicht dauerhaft einsetzen. Während wir selbst sprechen, werden wir automatisch mit dem Mund Luft holen. Aber in kurzen Pausen oder wenn der Gesprächspartner spricht, hilft sie, sich zu zentrieren, neu zu sammeln und Kraft zu tanken. 

Übung: Atemsäule visualisieren Eine weitere Technik bildet die Visualisierung einer Atemsäule, die uns zugleich energetisiert und erdet. Beim Einatmen stellen Sie sich dabei vor, wie der Atem durch den Scheitel hindurch zum Himmel geschickt wird und Sie nach oben zieht. Beim Ausatmen leiten Sie den Atem durch den Körper hindurch zum Erdkern. Es bildet sich eine Atemsäule, in der Sie sicher und stabil stehen oder sitzen können und gleichzeitig vital, inspirierend, stabil und geerdet sind.

12.4 Eigene Stimme Es ist eine gute Nachricht für alle, die mit ihrer Stimmlage nicht zufrieden sind, dass nicht die Stimmlage, sondern die Melodik und die Modulation darüber entscheiden, ob wir mit unserer Stimme Sympathie erwecken oder nicht [17]. Durch Tempowechsel lässt sich eine höhere Lebendigkeit erzielen und Monotonie vermeiden. Während innerliche Gelassenheit und Toleranz gegenüber dem Gesprächspartner und seiner Situation uns entspannen und die Stimme etwas tiefer werden lassen, erzeugt Druck eine höhere Stimmfrequenz. Diese wirkt weniger angenehm, die innere Anspannung überträgt sich und kann dazu führen, dass beim Bewerber der Wunsch entsteht, sich zurückzuziehen. Steigt der Druck, der durch den Vorgesetzten, zu enge Zeitfenster oder zu hohe Erwartungen an sich selbst ausgelöst werden kann, neigt die Stimme dazu, schärfer oder schriller zu werden. Infolgedessen fällt es zunehmend schwerer, dem Bewerber die Attraktivität der zu besetzenden Position zu vermitteln. Ein ruhiger Atem entspannt dagegen und senkt die Stimmlage, erlaubt ihr aber dennoch, sich dynamisch und lautstark auszudrücken, da sich durch den fehlenden Druck die Lautbildung nicht im Kehlkopf verengt. Für den Stimmklang in diesem Bereich bildet neben der Atmung und der Hals- sowie Nackenmuskulatur die Kopfhaltung eine kritische Größe [18]. Wer beruflich

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12  Atmung und Stimme

viel redet und auch vor Gruppen spricht, kann mit einem Logopäden an seiner Stimme arbeiten, um deren ganzes Potenzial zu erschließen. Sprachstil und Sprachhygiene Neben der Betonung und Modulation beeinflusst die Sprachhygiene unsere Wirkung. Recruiter, die sich eigene Sprachmarotten und kontraproduktive Sprachmuster bewusst machen und sie zukünftig vermeiden, können dadurch ihre Wirkung und ihr Bewusstsein für die stattfindende Kommunikation positiv beeinflussen. Sprachhygiene und eine gepflegte Aussprache wirken sich in vielerlei Hinsicht positiv aus. Genaues Sprechen wirkt verlässlich: Je genauer der Recruiter spricht, umso schneller gewinnt der Bewerber Vertrauen und desto reibungsloser kann das Gespräch laufen. Die Genauigkeit wirkt transparent, sie vermittelt auf der paraverbalen Ebene, dass es keine Nischen gibt, in denen sich unangenehme Überraschungen verbergen. Dementsprechend wird der Bewerber dazu neigen, diese Transparenz und Verlässlichkeit unbewusst auf die ausgeschriebene Stelle und den Betrieb zu übertragen. Genauigkeit bezieht sich hierbei neben der Aussprache auch auf die Modulation und die verwendeten Begrifflichkeiten, stößt jedoch an ihre Grenze, wenn übergenau betont wird und dadurch der fließende Sprachausdruck ins Stocken kommt oder wenn nur noch Fachbegriffe und Fremdwörter verwendet werden, die das Gemeinte zwar treffen, aber für den Gesprächspartner nicht mehr verständlich sind. 

Übung: Eine der wirkungsvollsten Übungen, um die eigene Aussprache zu verbessern, ist die Korkenübung: Nehmen Sie einen Korken zwischen die Schneidezähne und sprechen Sie ein Gedicht oder lesen Sie einen Text laut vor. Bemühen Sie sich dabei um möglichst gute Verständlichkeit. Durch den Korken werden Sie gezwungen, Ihre Mundmuskulatur disziplinierter zu verwenden, um sich verständlich machen zu können. Sprechen Sie das Gedicht oder den Text anschließend nochmals ohne Korken vor. Sie werden bemerken, dass sich Ihre Aussprache direkt verbessert hat. Diese Übung dauert nur ein paar Minuten und führt bei regelmäßiger Durchführung schon nach kurzer Zeit zu einer klaren und akzentuierten Aussprache.

Mit steigender Routine sinkt das Bewusstsein für ausgeführte Prozesse, und so neigen wir dazu, Wörter umso schneller auszusprechen, je öfter wir sie verwenden und je geläufiger sie uns sind. Umgekehrt haben wir umso größere Verständnisschwierigkeiten, je unbekannter uns ein Begriff ist. Ein Paradebeispiel hierfür ist der eigene Name: Wer hat es nicht schon erlebt, dass ein neuer Kontakt diesen so schnell ausspricht, dass wir ihn kaum verstehen, geschweige denn merken können? Besonders wenn danach der nächste Gesprächspartner folgt und sich uns ebenso schnell und unbetont vorstellt. Darauf sollte geachtet werden, denn unter Umständen hört der Bewerber nicht nur unseren Namen, sondern auch andere spezifische firmeninterne Ausdrücke und Abkürzungen zum ersten Mal.

12.4  Eigene Stimme

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Je weniger bekannt die Informationen für den Bewerber sind, desto langsamer sollten sie ihm präsentiert werden. Langsamer heißt jedoch nicht zwingend nur langsamer sprechen, es geht darum, die Informationsmenge klarer zu vermitteln und in besser verdauliche Einheiten zu strukturieren. Dabei könnte beispielsweise sogar die Sprechgeschwindigkeit beibehalten werden, aber nach Sinnabschnitten eine ausreichende Pause gesetzt werden, um dem Gehirn die Zeit zu geben, nachzukommen, die neue Information mit den bestehenden zu harmonisieren und in sein neuronales Netz einzugliedern. Hat man den Eindruck, dass das nicht geklappt hat, kann man eine kurze Kontrollfrage stellen oder eine Erläuterung oder ein Beispiel einbauen, um die Informationen verständlicher zu machen. 

Übung: Folgender Tipp aus der Welt der Speaker lässt sich auch im Recruiting einsetzen: Um die eigene Ausdruckskraft zu unterstützen, können Sie während des Sprechens die Schlüsselworte der eigenen Aussage vor dem geistigen Auge visualisieren und aufleuchten lassen. Das Bewusstsein um die Kernaussagen und die leuchtende innere Visualisierung lassen mehr Begeisterung in Ihrer Stimme mitschwingen, verbessern die Akzentuierung und betonen die wichtigsten Aussagen.

Das eigene Stimmmuster: glaubhaft oder zugänglich Die in den Kap. 6 und 11 beschriebenen glaubhaften und zugänglichen Kommunikationsstile gehen mit spezifischen Stimmmustern einher, über die auf der paraverbalen Ebene die eigene Wirkung gesteuert werden kann. Der glaubhafte Stil wird mit relativ wenig Schwankungen in der Stimme gesendet und senkt sich zum Ende der Aussage mit einem klaren Punkt ab. Abb. 12.1 Auf der paraverbalen Ebene wird dem Gesprächspartner klar und schnörkellos ein Datum gesetzt.

Abb. 12.1   Glaubhaftes und zugängliches Stimmmuster

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12  Atmung und Stimme

Der Sender nimmt den impliziten Hochstatus ein, der sendet und nicht um Erlaubnis fragt. Der zugängliche Stil hat dagegen ein breiteres Tonlagenspektrum und hebt sich zum Ende der Aussage. Abb. 12.1 Dadurch erhält die Aussage auf der paraverbalen Ebene einen fragenden Charakter, der sich aus dem impliziten Tiefstatus heraus von der Zustimmung des Gesprächspartners abhängig macht. Das glaubhafte Stimmmuster vermittelt Entschlossenheit, Sachkompetenz, Ernsthaftigkeit und Rationalität. Es unterstützt den Ausdruck von Entscheidungsfähigkeit, Durchsetzungsvermögen, Formalität, Eindeutigkeit und Verbindlichkeit. Es bietet sich an, wenn Informationen gesendet werden, wenn geschlossen und kompakt geantwortet wird oder Anordnungen kommuniziert werden. Dagegen vermittelt das zugängliche Stimmmuster Sozialkompetenz, Emotionalität, Freundlichkeit und Flexibilität. Es unterstützt den Ausdruck von Vermittlungsfähigkeit, Anpassungsvermögen, Zwanglosigkeit, Mehrdeutigkeit sowie offenen Möglichkeiten und bietet sich an, wenn Informationen gesucht und erfragt oder Bitten geäußert werden. Während mit dem glaubhaften Stil die Sachebene und der Inhalt kommuniziert werden, pflegen wir im zugänglichen Stil die Beziehungsebene und beeinflussen den Prozess auf einer ganzheitlichen Ebene. Wichtig ist auch hier stets die Stimmigkeit und die Flexibilität zum Wechsel: Unsere Rolle und die zu erledigende Aufgabe beeinflussen unser Stimmmuster, nur selten befinden wir uns in einer Rollen-Status-Konstellation, in der wir uns dauerhaft auf einen Stil festlegen können. Der glaubhafte Stil entspricht dem doppelten Hochstatus, der auf seine Art genauso inflexibel und berechenbar ist wie der doppelte Tiefstatus. Das Geheimnis des Erfolges liegt auch hier in der Fähigkeit zum situativ angemessenen Wechsel. Recruiter, die bewusst jenes Stimmmuster einsetzen, das zur gesendeten Botschaft passt, unterstützen diese paraverbal und erhöhen dadurch den eigenen kongruenten Ausdruck und die eigene Glaubwürdigkeit. Beispiel

Ein schönes Beispiel bietet das Verhalten vieler Eltern im Supermarkt. Das Kind fragt nach einer Süßigkeit und der Vater sagt im zugänglichen Tonfall: „Nein, weißt Du, Schatz, wir haben doch noch Schokolade zu Hause.“ Dabei hebt sich die Stimme zum Satzende hin und erbittet implizit die Zustimmung des Kindes zur kommunizierten Ablehnung. Diese Sprechart vermittelt jedoch gleichzeitig die noch offene Möglichkeit, die Eltern noch umzustimmen zu können. Prompt geht es in die nächsten Runden, bis schließlich im glaubhaften Tonfall mit einem: „Nein, und jetzt ist Schluss!“ klar, kongruent und verbindlich kommuniziert wird, dass nicht eingelenkt wird. Dabei gibt nicht die Wortwahl den Ausschlag. Mit dem glaubhaften Tonfall hätte schon die erste Antwort eindeutig und verbindlich klargestellt, dass es heute nichts gibt. Im Beispiel führte die widersprüchliche Aussage zwischen verbaler und paraverbaler Ebene zur Diskussion. Um diesem Effekt im Bewerbungsgespräch vorzubeugen, sollte im Rahmen der Gehaltsverhandlung oder bei Inhalten, in denen kein Spielraum besteht, im glaubhaften Tonfall kommuniziert werden. Gleichzeitig kann darauf geachtet werden,

12.4  Eigene Stimme

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in welchem Tonfall der Bewerber eigene Forderungen vorbringt, um den darin noch enthaltenen Spielraum abzuleiten. Stimmmuster in der Dreipunktkommunikation Beide Stimmmuster lassen sich hervorragend im Rahmen der Dreipunktkommunikation einsetzen. Im glaubhaften Stil werden überzeugend Informationen gesendet und der Blick vom Partner abgewendet, um sich auf einen dritten Punkt und damit auf die Sache, um die es gerade geht, zu konzentrieren. Das kann eine Skizze zu einem Projekt sein, aber auch eine Broschüre, ein strittiger Absatz im Arbeitsvertrag oder ein selbst gesetzter Anker. Liegt der Fokus dagegen auf dem Gesprächspartner, kann mit Blickkontakt im zugänglichen Stimmmuster gesprochen und damit die Beziehungsebene gestärkt werden. Auch hier geht es um situative Flexibilität. Beide Stimmmuster sollten beherrscht werden, um passend zur Situation zwischen ihnen wechseln zu können. Der Hauptvorteil der beiden Stimmmuster besteht darin, dass effektiv negative Informationen wie Vorwürfe oder kontraproduktive Punkte auf der Sachebene von der Beziehungsebene getrennt werden können. Spricht der Personaler glaubwürdig in Richtung des dritten Punktes und verortet dort Kritik oder unangenehme Inhalte, kann er verhindern, dass negative Kommunikationsinhalte die Beziehungsebene stören. Dafür wird diese gestärkt, wenn bei angenehmen Inhalten in Richtung des Bewerbers gesprochen und Blickkontakt aufgenommen wird. Muster und Musterunterbrechungen Wer beide Stimmmuster beherrscht, kann sie passend zur jeweiligen Situation einsetzen, die Kraft seiner Aussagen erhöhen und die Verbindung zum Gesprächspartner verstärken. Durch den unauffälligen Wechsel zum anderen Stimmmuster spürt der Gesprächspartner auf einer unbewussten Ebene, dass sich etwas verändert hat. Jedes Muster trägt einen eigenen Charakter, der beim Gesprächspartner zu einer spezifischen Erwartung führt und zu damit verbundenen Prognosen darüber, wie sich das Gespräch weiterentwickeln wird [19]. Wird nun das Muster unterbrochen oder gewechselt, lässt die Änderung den Gesprächspartner kurz aufschrecken: Da seine Prognose nicht eingetreten ist, muss er sich neu orientieren. Dadurch bleibt die Aufmerksamkeit hoch und der Gesprächspartner aufnahmebereit. Der Vorteil einer mäßigen Musterunterbrechung liegt darin, dass der Gesprächspartner unbewusst spürt, dass sich die Situation für ihn geändert hat. Dringt die Änderung in sein Bewusstsein, kann er in der Regel nicht bestimmen, woran es liegt. Gelingt auch dies und wird das geänderte Verhalten erkannt, wird dessen Bedeutung nicht hinterfragt, da das neue Verhalten vollkommen plausibel und passend zur behandelten Thematik erscheint [20].

 Musterwechsel Wollen wir während des Sprechens vom glaubhaften zum zugänglichen Muster wechseln, kann dies durch vermehrte Bewegungen der Hände und des Kopfes angestoßen werden, dabei sollte darauf geachtet werden, sich

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12  Atmung und Stimme

bewusst zu entspannen. Umgekehrt kann vom zugänglichen zum glaubhaften Muster gewechselt werden, indem Bewegungen, vor allem jene des Kopfes beim Sprechen, eingeschränkt und die Spannung erhöht werden. Wie Linker [21] betont, geht es dabei um Veränderungen im Impulsbereich. Es geht nicht um das Erzielen eines absoluten Eindrucks. Streben Sie kleine, relative Veränderungen, an, die die Kommunikation stärken. Werden einzelne Kommunikationselemente in der Form überbetont, dass sie ins Bewusstsein des Gesprächspartners dringen, besteht die Gefahr, dass sie die Kommunikation stören und kontraproduktiv wirken.

Pausen bewusst setzen Auch wenn während einer Pause nichts gesagt wird, ist sie eines der wirkungsvollsten rhetorischen Mittel, um die Wirkung des zuvor Gesagten zu erhöhen. Oft entfalten sie weit mehr Informationen, als Worte hätten enthalten können: Pausen vermitteln implizite Apelle, tragen Status-Informationen in das Gespräch und prüfen den Gesprächspartner. Recruiter, die das Setzen und Aushalten von Pausen beherrschen, gewinnen dadurch effektive Möglichkeiten, sich Fragen zu sparen und Ungesagtes in den Raum zu stellen. Im Verkauf gilt nach einer Abschlussfrage: Wer die Pause bricht, verliert. Hält der Verkäufer das Zögern des Kunden nicht aus und ergreift wieder das Wort, beschleunigt er dadurch den eigenen Rhythmus. Er gelangt in den Anbieter-Rhythmus und beginnt beinahe automatisch, Zugeständnisse zu machen, um den Kunden nicht zu verlieren. Umgekehrt bringt sich der Kunde, der die Pause bricht, tiefer in das Gespräch ein und führt es oftmals zum Abschluss weiter.

Viele Menschen halten die durch eine Pause aufgebaute Spannung nicht lange aus. Die Regel der Verkäufer kann auch in kritischen Phasen im Recruiting oder bei der Gehaltsverhandlung zum Tragen kommen. Unterbricht der Recruiter die entstehende Pause, befreit er den Bewerber damit vom Druck zu reagieren und bringt sich selbst um aussagekräftige Einsichten. In Bezug auf das Halten der Pause hilft die Konzentration auf die Atmung des Partners. Wer sprechen will, muss atmen. In der Pause herrscht oftmals ein kurzer Atemstillstand, bevor der Körper beginnt, sich mit einem leichten Ausatmen zu öffnen. Dem Ausatmen folgen die Worte, die die Pause beenden. Richtet der Recruiter die Aufmerksamkeit in dieser Phase nach innen auf den eigenen Atem, kann er seine Position im Spannungskampf bewusst, durch ein leichtes Anhalten der Luft, verbessern. Achtet er zudem auf den Atem des Bewerbers, kann er leicht erkennen, wann dieser beginnt, die Pause zu brechen. Natürlich möchte man im Interview den Bewerber nicht unnötig unter Druck setzen, aber es liegt nahe, dass clevere Bewerber recht schnell merken, dass die Betriebsvertreter ihnen die Arbeit abnehmen, sobald sie selbst eine Pause entstehen lassen. Ein von seinem Unternehmen begeisterter Geschäftsführer, der die Pause selbst immer wieder durch eine Ergänzung bricht, eine Frage relativiert oder eine Erläuterung nachschiebt, mag das Gespräch durch die eigenen hohen Redebeiträge als durchaus gelungen empfinden, erfährt jedoch nur wenig über den Bewerber. In Schlüssel-

12.5  Fazit: Atmung und Stimme

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situationen sollte von daher darauf geachtet werden, die entstehende Kraft der Pause zu erkennen und zu nutzen. Reagiert der Bewerber nicht unmittelbar auf ein Angebot, eine Aussage oder Frage, sollte man den Druck aushalten und der Versuchung widerstehen, die Pause durch Erläuterungen, Zugeständnisse oder Relativierungen zu brechen. Ebenso kann der Recruiter eine Aussage des Bewerbers sacken lassen, die entstehende Pause registrieren und abwarten, ob der Bewerber hinter seinen Worten steht. Pausen haben in der Kommunikation verschiedene Funktionen: Als Modulationspausen betonen sie das Gesagte, als Aufmerksamkeitspausen lenken sie zerstreute Zuhörer auf das Thema zurück, als Wartepausen bauen sie zugleich Druck auf. Dieser Druck ist nicht immer angenehm, aber durchaus legitim: Wurde auf der verbalen Ebene eine Frage oder Aussage platziert und der Ball dem Bewerber zugespielt, darf nun von diesem, als Partner auf Augenhöhe, auch erwartet werden, seinen Teil der Verantwortung für ein gelingendes Gespräch zu tragen. Pausen schaffen Informationen und geben dem Gehirn des Gesprächspartners Zeit zur Verarbeitung des Gesagten, um die empfangene Botschaft in das eigene neuronale Netz einzuordnen. Ohne Pausen ist von daher eine nachhaltige kommunikative Wirkung kaum möglich: Wird der Bewerber mit Informationen überschüttet, ohne ihm die Möglichkeit zu gewähren, diese zu verarbeiten, gerät nicht nur der gemeinsame Rhythmus außer Balance: Die Informationsflut stresst auf Dauer sein System und führt zum Rückzug. Ausreichende Pausen sorgen dagegen für Entspannung und ermöglichen die Aufnahme und nachhaltige Verankerung neuer Informationen. Um Modulationspausen zu setzen, hilft es, einfach dem ohnehin schon natürlichen Impuls zum Verzögern nachzugeben. Wie in Kap. 11 zur Gestik beschrieben, lässt sich der Effekt kleiner Pausen durch die gefrorene Geste wirkungsvoll erhöhen. Gleichzeitiger Blickkontakt baut mit steigender Dauer sukzessive steigenden Druck auf den Gesprächspartner auf und sollte bewusst dosiert werden. Während einer Wartepause sollten wir verhindern, dass die eigene nonverbale Kommunikation Anlass zu Fragen oder störenden Überlegungen gibt. Kratzen wir uns beispielsweise während der Pause am Kopf, führt das tendenziell dazu, dass unsere Person und Aussage unterschätzt werden.

12.5 Fazit: Atmung und Stimme Unsere Atmung beeinflusst direkt unsere Emotionen und prägt den grundlegenden Charakter unserer Kommunikation. Eine bewusste, tiefe Einatmung erhöht die Sauerstoffversorgung des Gehirns, sodass dieses mehr Prozesse verarbeiten kann und eine verbesserte Wahrnehmung ermöglicht. Gleichzeitig wird Energie in das Gespräch geführt, es ergibt sich eine positivere Stimmung, die sich überträgt und es ermöglicht, den Gesprächspartner zu aktivieren. Wird dagegen die Ausatmung betont, nimmt dies Energie aus dem Gespräch und wirkt beruhigend. Die Atmung des Bewerbers zeigt dessen Aufnahmebereitschaft an, bei tiefer und ruhiger Atmung ist er aufnahmebereit, bei flacher und hoher Atmung dagegen nur

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12  Atmung und Stimme

eingeschränkt dazu in der Lage. Der Recruiter kann seine Wahrnehmung der Bewerberstimme und Atmung von verschiedenen Fragestellungen leiten lassen. Wie tief atmet der Bewerber? Ist die Stimme klar oder gepresst? Wirkt der Sprechfluss gehemmt oder ungehemmt? Wo im Körper wurzelt dessen Stimme? Wie sind dessen Sprechgeschwindigkeit und Lautstärke? Bei welchen Themen ändert sich der Tonfall? Die implizite Wirkung der Stimme des Recruiters sollte zu dem Bild, das er vermitteln will, passen. Über verschiedene Stimmmuster kann die eigene Botschaft wirkungsvoll auf der paraverbalen Ebene flankiert werden, um eine kongruente und überzeugende Wirkung zu erzielen. Die passende Atmung, das glaubhafte Stimmmuster und das Aushalten von Pausen sind effektive Kommunikationselemente, wenn es in Verhandlungen darum geht, das eigene Angebot glaubhaft zu platzieren. Nach dem Angebot entsteht eine Pause, in der der Bewerber in die Aussage des Recruiters hineinfühlt und prüft, ob sie authentisch und ehrlich, überzeugend und stark war oder ob eine Unsicherheit mitschwingt und noch Verhandlungsmöglichkeiten bestehen. Wenn der Recruiter nach dem Gehaltsangebot oder einer anderen selbstbewussten Aussage die Stimme absenkt und einen Punkt macht, den eigenen Atem kontrolliert, der Versuchung auszuatmen widersteht und die Pause aushält, ist es in der Regel der Bewerber, der sie bricht und anschließend Zugeständnisse macht.

Literatur 1. Amy Cuddy: Dein Körper spricht für Dich, S. 250; Wilhelm Goldmann, München, 2016 2. http://www.dr-mueck.de/HM_Angst/HM_Angst_wegatmen.htm aufgerufen am 21.10.2018 3. Michael Grinder: Seminar: The Power of Influence, Twinn Akademie, Offenhausen/Nürnberg, 18./19. Mai 2010 4. Joe Navarro: Menschen lesen, S. 57; mvg Verlag; München, 2011 5. Samy Molcho: Körpersprache im Beruf, S. 130; Der Goldmann Verlag, München, 1997 6. Osho: Das Buch der Geheimnisse, S. 51; Goldmann Arkana, München, 2009 7. Wolfgang J. Linker: Kommunikative Kompetenz, S. 333, Gabal, Offenbach, 2010 8. https://www.tagesspiegel.de/wirtschaft/kuenstliche-intelligenz-der-algorithmus-kann-42-dimensionen-einer-persoenlichkeit-messen/22756300.html; Aufgerufen am 04.07.2018 9. Albert Mehrabian: Nonverbal Communication, S. 108; Aldine Transaction, New Brunswick and London, 2007 10. Jürgen Hausser: bAV erfolgreich verkaufen, S. 38: Gabler Verlag, Wiesbaden, 2007 11. Horst Rückle: Körpersprache für Manager, S. 83; Verlag Moderne Industrie, Landsberg/Lech, 1992 12. Bernhard P. Wirth; 30 Minuten Menschenkenntnis, S. 42; Gabal Verlag GmbH, Offenbach, 2011 13. Horst Rückle: Körpersprache für Manager, S. 82; Verlag Moderne Industrie, Landsberg/Lech, 1992 14. Mark Bowden: Winning Body Language, S. 61; McGraw Hill, New York, 2010 15. Mark Bowden: Winning Body Language, S. 71; McGraw Hill, New York, 2010 16. Mark Bowden: Winning Body Language, S. 72; McGraw Hill, New York, 2010

Literatur

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17. https://www.business-wissen.de/artikel/selbstmarketing-erfolg-durch-stimme-im-unternehmen/ 21.10.2018 18. Samy Molcho: Körpersprache des Erfolges, S. 112; Heinrich Hugendubel Verlag, München, 2005 19. Wolfgang J. Linker: Kommunikative Kompetenz: Weniger ist mehr, S. 81; Gabal Verlag GmbH, Offenbach, 2010 20. Wolfgang J. Linker: Kommunikative Kompetenz: Weniger ist mehr, S. 82; Gabal Verlag GmbH, Offenbach, 2010 21. Wolfgang J. Linker: Kommunikative Kompetenz: Weniger ist mehr, S. 83; Gabal Verlag GmbH, Offenbach, 2010

Beine und Füße

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Zusammenfassung

In Kap. 13 werden verschiedene Signale beschrieben, die Füße und Beine während der Kommunikation vermitteln, und es wird die Brücke zu ihrer Wirkung und Bedeutung im Bewerbungsgespräch geschlagen. Es werden Möglichkeiten aufgezählt, mit denen der Recruiter auf spezifische Fußstellungen reagieren kann, und dargestellt, wie aus der Haltung des Oberkörpers auf die Haltung der Füße im Sitzen geschlossen werden kann. Abschließend wird gezeigt, wie Recruiter durch die Bewegung und Haltung der eigenen Füße Störungen auf der Beziehungsebene entgegenwirken und sowohl die eigene Einstellung als auch ihre Wirkung beeinflussen können. Nachdem zunächst die ganzheitlich wirkenden Elemente Territorialverhalten, Haltung und Bewegung auf unsere Wirkung beschrieben wurden und anschließend die verschiedenen nonverbalen Signalgruppen der oberen Körperhälfte behandelt wurden, behandelte Kap. 12 zur Atmung einen zentralen Faktor, der von innen auf unsere nonverbale Kommunikation wirkt. Abschließend vervollständigen die Signale der Beine und Füße die nonverbalen Informationen, die wir während der Kommunikation senden und empfangen.

13.1 Grundlagen Beine und Füße Obwohl sie uns Tag für Tag unersetzliche Dienste leisten, fristen unsere Füße am unteren Ende unseres Körpers ein oft etwas vernachlässigtes Dasein. Sie ermöglichen uns, uns angenehmen Dingen anzunähern, und sie sind es, die uns bei drohender Gefahr rasch in Sicherheit bringen. Ein schneller erster Schritt oder ein abruptes Unterlassen desselben © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 C. Bernhardt, Nonverbale Kommunikation im Recruiting, https://doi.org/10.1007/978-3-658-25276-2_13

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13  Beine und Füße

kann für unser Überleben entscheidend sein, und so kommen sie ihrer Aufgabe weitestgehend automatisch nach und machen sich oftmals schon bereit, um sich in Bewegung zu setzen, während der Rest des Körpers noch mit ganz anderen Dingen beschäftigt ist. Durch ihre weite Entfernung zum Kopf sind wir uns unserer Beine und Füße regelmäßig nicht mehr bewusst, schenken ihnen oftmals nur wenig Beachtung und verlieren dadurch den Zugang zu einer ehrlichen und aussagestarken Informationsquelle. Die ehrlichen Füße Allan Pease beschreibt, wie Manager in Vorstellungsgesprächen bei verschiedenen Fragen möglichst überzeugend lügen sollten. Während sowohl Männer als auch Frauen ihre Gesichter und Hände weitestgehend ihren Lügen anpassten, hatten sie über die Füße so gut wie keine Kontrolle und zeigten wesentlich mehr unbewusste Bewegungen, als sie logen. Darüber hinaus führte Paul Ekman eine Studie durch, in der Beobachter entweder den Ober- oder den Unterkörper sahen, während sie die dazugehörige Aussage hörten. Die Ergebnisse waren eindeutig: Jene Beobachter, die den Oberkörper sahen und die Aussagen hörten, glaubten wesentlich häufiger vorgebrachte Unwahrheiten. Die Beobachtergruppe, die jedoch beim Anhören der Aussage lediglich die Füße sah, deckte Lügen sicherer auf und konnte genauer bestimmen, wie sich der Proband gerade fühlte. Es fiel den Beobachtern dieser Gruppe wesentlich leichter, die anderen Teilnehmer präzise einzuschätzen [1].

Desmond Morris bezeichnet unsere Füße von daher als unsere ehrlichsten Körperteile [2]. Wer ihnen mehr Beachtung schenkt, erhält Einblicke in die unbewussten Interessen und Wünsche seiner Gesprächspartner, gerade wenn diese einen angestrebten Ortswechsel betreffen. Ausrichtung der Füße Eine ausgeprägte Ausrichtung der Füße im Gehen oder Sitzen drückt die fest implementierten Gewohnheiten des Bewerbers aus, die schließlich seinen Charakter prägen. Die konstant nach außen gerichteten Fußspitzen drücken Neugier aus und den Drang, permanent Informationen zu sammeln: Der Bewerber ist offen für und interessiert an Weiterbildung und Entwicklung, jedoch ist er ebenso einer kurzweiligen Zerstreuung nicht abgeneigt. Das kann beispielsweise dazu führen, dass in Ideenfindungsprozessen zusätzliche Informationen oder Vorschläge von seiner Seite aus auftauchen, wenn die eigentliche Stoffsammlung schon abgeschlossen ist. Dafür können diese aber auch oft ungewohnten und über den Tellerrand hinausreichenden Input stellen, Inhalte disziplinübergreifend verknüpfen und dadurch den kreativen Prozess bereichern. Die Herausforderung für diesen Charakter besteht darin, eine notwendige dauerhafte Konzentration und Fokussierung auf ein Thema mit dem bewegten und forschenden Geist in Einklang zu bringen. Das passt je nach zu besetzender Stelle unterschiedlich gut, und je nach Charakter von Stelle und Bewerber können sich Synergien oder hinderliche und einschränkende Effekte ergeben. Zeigen die Fußspitzen dagegen nach innen, errichten sie eine Barriere und signalisieren einen eher vorsichtigen und oftmals verlegenen Typus. Dieser bremst sich mitunter

13.1  Grundlagen Beine und Füße

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selbst aus oder kann sich in Schlüsselsituationen, die den Mut erfordern, sich spontan zu zeigen, durch sein gehemmtes Wesen selbst im Weg stehen, während andere beherzt einen Schritt nach vorne gehen, sich spontan anbieten, der Herausforderung stellen und an ihr wachsen. Impulsbewegungen der Füße Neben der dauerhaften Grundausrichtung signalisieren Impulsbewegungen nach außen, dass man kurz vom Weg abbiegen möchte und dass man sich etwas anderem gerade lieber widmen würde. Unsere Fußspitzen vermitteln oftmals die ersten Impulse des Körpers für eine „Hin-zu“- oder „Weg-von“-Orientierung und zeigen auf jene Dinge, Inhalte und Menschen, die gerade unser Interesse geweckt haben. Beim Rundgang durch den Betrieb kann aus der Ausrichtung der Fußspitzen auf das gesteigerte Interesse an einzelnen Inhalten, Stellen oder Stationen geschlossen werden. Beginnen die Fußspitzen, sich im Smalltalk nach dem Gespräch in Richtung Ausgang zu orientieren, signalisieren sie den Wunsch, das Gespräch nun langsam zu verlassen. Prinzipiell signalisiert eine Richtungsänderung der Füße weg vom Gesprächspartner, dass man die Situation am liebsten verlassen würde. Dem muss nicht immer eine Weg-von-Motivation in Bezug auf die Person des Recruiters zugrunde liegen. Beim Wunsch, das Gespräch zu verlassen, kann ebenso eine Hin-zu-Motivation zu etwas im außen Liegenden überwiegen, wenn beispielsweise ein Folgetermin vereinbart wurde und das aktuelle Gespräch länger dauert als erwartet. Wenn zunächst aus Höflichkeit oder Unsicherheit nichts gesagt wurde, steigt nun der Druck immer weiter, je länger das Gespräch dauert. Hier kann sich hier ein prinzipielles Verhaltensmuster und die Neigung zur Konfrontationsvermeidung andeuten. Dinge werden aufgeschoben und erst thematisiert, wenn es nicht mehr anders geht. Da die Verantwortung über die Zeiteinteilung des Gesprächs beim Recruiter liegt, kann er solchen Situationen vorbeugen, indem er dem Bewerber schon bei der Einladung die geplante Dauer des Gesprächs transparent macht. Zurückgezogene Füße  Die Füße müssen sich nicht immer seitlich aus dem Gespräch heraus orientieren: Die abrupt unter den Stuhl zurückgezogenen Füße drücken einen ersten Flucht- und Rückzugsimpuls aus, der zeigt, dass sich der Bewerber durch eine Frage unter Druck gesetzt fühlt. Durch den Rückzug sind die Füße in der richtigen Position, um im nächsten Schritt aufzustehen und die Situation zu verlassen. Die plötzliche Bewegungsänderung ist durch die ruckartige Bewegung und den mit ihr verbundenen Rhythmuswechsel gut sichtbar und führt ebenso zu einer Gewichtsverlagerung des Oberkörpers. Wird nur ein Fuß zurückgezogen, charakterisiert die Lateralität den Rückzug. Zieht sich der linke Fuß zurück, zeigt sich der Versuch, die eigenen Gefühle zu verstecken, der Rückzug des rechten Fußes weist auf einen fachlichen Rückzug hin. Während bei Ersterem Unsicherheit vorherrscht, wie die eigenen Gefühle und Wünsche im neuen Betrieb angenommen würden, kann Letzterer auf Unwissenheit in Bezug auf fachliche Inhalte hinweisen.

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Eine andere Art von Impulsbewegung signalisieren die plötzlich erstarrenden Füße. Das Erstarren gehört zur Schockstarre und zeugt von abrupt einsetzendem oder wahrgenommenem Stress: Bevor ein Fehler gemacht wird, wird lieber erst einmal gar nichts unternommen. Bis die Lage sondiert ist, soll die Bewegungslosigkeit verhindern, dass man Aufmerksamkeit auf sich zieht. Das kann aber auch nach einer Lüge der Fall sein, wenn diese platziert wurde und jetzt still und bang gehofft wird, dass der Personaler diese glaubt und keinen Verdacht schöpft. Happy Feet und ungeduldige Füße Neben der Hin-zu- und Weg-von-Orientierung landen in unseren Füßen oftmals jene Impulse und Spannungen, die in den oberen Körperteilen bewusst oder unbewusst unterdrückt oder blockiert werden. Wie beim elektrischen Strom muss die Spannung irgendwo hin und entlädt sich schließlich dort, wo der Widerstand am geringsten ist. Joe Navarro [3] beschreibt verschiedene Verhaltensweisen der Füße wie die Happy Feet, die im Sitzen durch fröhliches und hibbeliges Wippen eine positive und aktionsbereite Einstellung zeigen. Diese lässt sich subtil an der Bewegung von Hemd und Schultern erkennen, auf die sich das Wippen überträgt. Eine plötzliche Veränderung oder Unterbrechung des Wippens signalisiert einen Stimmungswechsel und kann damit auf Themen hinweisen, die als problematisch oder unangenehm empfunden werden [4]. Im Stehen schieben die Happy Feet den gesamten Körper nach oben und drücken erwartungsvolle Vorfreude aus. Zeigen sie sich nach dem Interview beim Gehen, schieben sie den Körper mit jedem Schritt etwas nach oben und zeigen die Freude des Bewerbers darüber, dass das Gespräch gut gelaufen ist. Diese Bewegung zeigt auch an, dass dem Bewerber das Gespräch wichtig war: Wenn etwas Wichtiges gut gelaufen ist, dann wirkt das beflügelnd und zeigt sich in einem derartigen Gangmuster. Während bei den Happy Feet der Tenor der Fuß- und Unterschenkel-Bewegung nach oben gerichtet ist und sich die Füße fröhlich und dynamisch mit einem mittleren bis schnellen Tempo heben, entwickeln sie einen eher nervösen und zittrigen Ausdruck, wenn der psychologische Treiber auf negativen Inhalten oder Stress gründet. Letzterer kann nach einer Falschaussage entstehen oder auch, wenn ein Themenpunkt oder der gesamte Gesprächsverlauf als zu langwierig empfunden wird. Der Bewerber möchte raus aus der Situation zum nächsten Thema und signalisiert dies durch flacheres Wippen, das beinahe schon einem starken Zittern gleicht und bei dem sich die Bewegung leicht nach vorne orientiert und weniger nach oben. Dieses nervöse Wippen ist weniger dynamisch als die Happy Feet. Es baut als Hauptaufgabe nervöse Spannungen ab und unterscheidet sich im Charakter vom vorfreudigen Wippen, das in einen aktionsbereiten Zustand versetzt und den Körper dazu bereit macht, in Aktion zu treten. Je nach Sitzkonstellation und freiem Blick auf die Füße lassen sich beide mehr oder weniger gut voneinander abgrenzen. Die Einordnung fällt leichter, wenn ergänzend andere Indikatoren wie Körperspannung, Bewegungsrhythmus, Gestik, Blickverhalten und Mimik berücksichtigt werden.

13.1  Grundlagen Beine und Füße

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Ein weiteres Zeichen für Ungeduld zeigen klopfende Füße. Während die Ferse auf dem Boden bleibt, klopfen die Ballen und Zehen auf den Boden und stellen unter dem Tisch das Pendant zu trommelnden Fingerspitzen auf dem Tisch dar, das signalisiert, dass die Situation verlassen oder das Thema gewechselt werden will. Beides kann auch über zurückgenommene, wippende Füße ausgedrückt werden, bei denen mit den Fersen über den aufgestellten Fußspitzen gewedelt wird. Die zurückgenommenen Füße ziehen sich vom Gesprächspartner zurück und aus dem Gespräch heraus. Die so wippenden und wedelnden Füße haben einen defensiveren Charakter, denn im Gegensatz zum gewöhnlichen Aufstehen, bei dem die Füße weiter vorne platziert sind, zum Erheben der Oberkörper in Richtung des Partners gebeugt und sich damit diesem angenähert wird, kann man sich aus der Haltung mit zurückgenommenen Füßen gerade nach oben schieben, ohne dabei dem Gegenüber näherkommen zu müssen. Ebenso stellen die auf den Boden tippenden Füße, die sich oftmals zeigen, während man auf dem Stuhl nach vorne rutscht und sich auf die Stuhlkante setzt, ein klares Fluchtsignal dar. Mitunter wird die Ungeduld nicht durch Wippen oder Tippen abgebaut, sondern sammelt sich zunächst an, bevor sie sich ruckhaft durch ein rhythmisches, durch kurze Pausen unterbrochenes Fußkreisen entlädt. Dessen Charakter ist vergleichbar mit dem Schwanzschlag einer Katze, bei der sich ebenso die Spannung sammelt und dann plötzlich schlagartig entlädt, bevor sich die nächste Entladung ansammelt. Das Fußkreisen zeigt sich, wenn ein Bein über das andere geschlagen ist und zunächst ruhig erscheint, bis sich eine ruckartige Entladung ergibt, die die Ungeduld anzeigt. Nach einigen Sekunden folgt das nächste Kreisen. Die implizite Botschaft lautet „Komm endlich zur Sache!“. Mit steigender Ungeduld verkürzt sich die Zeit zwischen den Entladungen, bis schließlich der eigenen Ungeduld verbal Ausdruck verliehen wird. Bremsende und blockierende Füße Wie in Kap. 11 zur Gestik beschrieben, haben Bewegungen, die entgegen der Schwerkraft ausgeführt werden, einen positiven und vitalen Charakter. Neben der Bewegungsrichtung zeigt der Spannungsgrad den Treiber hinter der Bewegung an. Die hochzuckenden oder sich kurz hebenden Zehen signalisieren Aktionsbereitschaft und Energie. Geschieht das Heben jedoch verkrampft und werden die Zehen länger mit hoher Spannung angehoben gehalten, sodass sich auch der Ballen hebt, wirken die Füße wie eine Bremse. Man stemmt sich mit den Fersen in den Boden, um sich gegen ein weiteres Voranschreiten oder Gezogenwerden zu wehren. Die Bremse ist damit ein Signal für Vorsicht und Zurückhaltung. Auch in diesem Zusammenhang sollte auf weitere Signale geachtet werden, die gemeinsam eine Signalkette bilden und die Aussagekraft erhöhen. Eine weitere Form der Bremse zeigt sich, wenn die Zehen nach innen gezogen werden: Stünde der Betreffende barfuß auf erdigem Boden, so könnten sich seine eingerollten Zehen im Boden festkrallen und würden damit den Widerstand und das Schutzbedürfnis deutlich anzeigen. Bei den meisten Schuhen sind eingerollte Zehen schwer zu erkennen, sie gehen aber in der Regel mit einer allgemein erhöhten Körperspannung und sparsamen, schließenden Gesten einher.

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Auch verschränkte und überkreuzte Füße bilden eine Blockade und sind nicht einsatzbereit: Bevor losgelegt werden kann, muss zunächst die Überkreuzung aufgelöst werden. Sind die Füße nach hinten gezogen, bilden sie den Knöchelverschluss, dessen Implikationen später vertieft werden. Wie in Kap. 6 zur Haltung beschrieben, drücken durchgestreckte Knie eine Blockadehaltung aus. Werden die Knie im Bestreben, den eigenen Standpunkt zu verteidigen, durchgedrückt, ist es zwar schwerer, den Widerstand der eingerasteten Gelenke zu überwinden, doch fehlt ihnen dafür die Möglichkeit, sich selbst zu bewegen, wenn nicht zuvor die Blockade aufgelöst wird, und so zeugt diese Haltung von eingeschränkter Flexibilität. Der mit durchgedrückten Kniegelenken Stehende neigt dazu, unbeweglich auf dem eigenen Standpunkt zu beharren, und man sollte nicht überrascht sein, wenn er sich öfter stur oder starrköpfig zeigt. Wer trotzige Kinder beobachtet, die ihre Füße in den Boden stemmen, um mit durchgedrückten Knien ihren Eltern Paroli zu bieten, kann dieses Verhalten in abgeschwächter Form auch auf Erwachsene übertragen. Diese trotzen nicht, dafür haben sie „Prinzipien“ [5]. Drückt ein Gesprächspartner im Gespräch von Zeit zu Zeit die Knie durch, kann die Kommunikation erheblich verbessert werden, wenn man herausfindet, welche Prinzipien ihm wichtig sind [6]. Gleichzeitig drücken durchgedrückte Knie ein gewisses Schutzbedürfnis aus: Droht keine Gefahr, besteht schließlich kein Grund zur Blockade. Zeigen sich durchgedrückte Knie im Sitzen, sollte die Ausrichtung der Füße beachtet werden. Werden die Füße angewinkelt und die Fersen bremsend in den Boden gestemmt oder werden die Füße ausgestreckt, um noch mehr Raum unter dem Tisch zu belegen? Zwar ist dieser nicht sichtbar, doch die Aufteilung bleibt dieselbe. Das sich weit über das übliche Maß ausbreitende Verhalten weist auf einen dominanten Charakter hin. Stand- und Spielbein Wenn wir uns in einem Umfeld wohlfühlen, geben wir mitunter den Stand auf beiden Füßen auf und verlagern das Gewicht auf ein Standbein, während wir das andere Bein auf die Fußspitze stellen oder es sich anderweitig bewegen lassen: Es wird zum Spielbein. In Verbindung mit der Charakteristik der beiden Gehirnhälften erlauben die Wahrnehmung eines dominanten Standbeins und Spielbeins weitere Rückschlüsse. Dabei signalisieren sie nicht einen statischen und dauerhaften Charakter-Typ, sondern lassen Interpretationen darüber zu, was gerade im Gesprächspartner vorgeht und welche Aspekte ihm beim aktuellen Thema wichtig sind. Beim nächsten Thema kann sich schon eine andere Einstellung zeigen, der Wechsel zieht jedoch fast immer auch einen Wechsel des Standbeins nach sich und oft zeigt sich eine generelle Veranlagung für eine dominante Seite. Dient das rechte Bein als Standbein, zeigt es die Dominanz der linken Hemisphäre: Begünstigt werden Struktur, sachliche und analytische Themen, Kalkül, Details sowie Kritik und Logik. Der linke Fuß hat den Boden verlassen und dient als Spielbein: Hier haben Gefühle nur wenig Platz und harte Fakten werden bevorzugt [7]. Umgekehrt

13.1  Grundlagen Beine und Füße

343

dominiert beim linken Standbein die rechte Hemisphäre und begünstigt Themen wie Beziehungen, analoge Inhalte, Gefühle und ganzheitliche Wahrnehmung. Diesmal gibt der rechte Fuß den Kontakt zum Boden auf und Themen wie Ratio und Sachlichkeit werden hintenangestellt, Gefühle und Emotionen sind wichtiger [7]. Erfolgt dagegen ein schneller oder regelmäßiger Wechsel des Stand- und Spielbeins, zeigt dies einerseits die Unentschlossenheit, sich auf eine Seite festzulegen, gleichzeitig gehen damit aber auch Offenheit für beide Seiten und Flexibilität einher. Der schnell Wechselnde kann aber auch zu Nervosität und Launenhaftigkeit neigen: Wer öfter das Standbein wechselt, wird auch leichter einmal auf dem falschen Fuß erwischt. Der Einfluss von Stand- und Spielbein lässt sich beispielsweise beobachten, wenn man sich nach der Begrüßung nicht sofort setzt, sondern noch im Stehen ein kurzer Smalltalk erfolgt. Ebenso kann nach Gesprächsende, wenn man aufgestanden ist und der Bewerber zur Tür begleitet wurde, noch ein unverfängliches Thema angeschnitten werden. Soll im Rahmen eines Betriebsrundganges eine Pause eingelegt werden, begünstigen Stehtische die Beobachtung. Übereinandergeschlagene Beine Durch die eingeschränkte Möglichkeit, direkt in Aktion zu treten, drücken Beine, die übereinander geschlagenen werden, eine reserviertere Haltung aus, als wenn beide Füße hüftbreit bis schulterbreit aufgestellt werden. Stehen beim Sitzen beide Füße fest auf dem Boden und sind die Beine geöffnet, signalisiert dies zumindest bei männlichen Bewerbern Offenheit, Selbstvertrauen und Standfestigkeit. Öffnen sich die Beine noch weiter, versucht der Mann unbewusst zu imponieren. Solche Sitzhaltungen sind von weiblichen Bewerbern nicht zu erwarten, in der Regel werden diese ihre Beine übereinanderschlagen. Dabei hat jeder und jede eine bevorzugte Schokoladenseite, welches Bein er oder sie lieber über das andere schlägt. Es kann jedoch beobachtet werden, ob sich bei übereinandergeschlagenen Beinen tendenziell zum Interviewer hingewandt wird oder von diesem weg. Molcho beschreibt die Hinwendung zum Interviewer als positives Signal und die abwendende Bewegung als noch zögernde und tendenziell ablehnende Haltung [8]. Die Haut der Außenseiten unserer Arme und Beine ist robuster und widerstandsfähiger als jene der empfindlichen Innenseiten. So haben wir in Bezug auf die Innenseiten ein erhöhtes Schutzbedürfnis und neigen dazu, sie erst dann zu öffnen, wenn wir uns sicher fühlen. Von daher stellen übereinandergeschlagene Beine, bei denen wir unserem Gesprächspartner die Außenseite zuwenden, eine ablehnendere Haltung dar, als wenn umgekehrt die empfindlichere Innenseite zugewandt wird.

War sie früher hauptsächlich in den USA zu sehen, hat sich, nicht zuletzt durch den Einfluss von Hollywood, auch bei deutschen Männern in den vergangenen Jahrzehnten die „4“ etabliert, bei der der Knöchel des einen Beines auf dem Knie des anderen Beines abgelegt wird. Es ergibt sich ein Dreieck um Knöchel, Knie und Genitalien, das durch das quergelegte Bein eine Barriere bildet, die verstärkt werden kann, wenn mit den Händen der Unterschenkel des quergelegten Beines gehalten wird. In diesem Fall erhält

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die Haltung, die sonst durch den Raum, den sie in Anspruch nimmt, einen dominanten Charakter hat, eine schutzbedürftige Note mit teils bangendem Charakter. Wird die „4“ gezeigt, ohne die Unterschenkel zu umfassen, bildet sie zugleich einen spitzen Winkel um die Genitalien des Mannes und betont diese dabei. Da Frauen in diesem Bereich allgemein subtilere Signale senden, zeigen sie auch die „4“ nur selten. Natürlich kann es immer auch anatomische oder gesundheitliche Gründe für etwaige Haltungen geben. Gerade die Haltung imitieren wir schon früh von unseren Bezugspersonen und Vorbildern. Durch die unterschiedliche Belastung der Sehnen entwickeln wir dann im Laufe der Zeit eine bevorzugte Seite, die sich bequemer und entspannter anfühlt und unsere fest implementierte Gewohnheit ausdrückt. So stellen auch übergeschlagene Beine keinen generellen Indikator oder ein alleiniges Kriterium für Zuneigung oder Ablehnung dar. Allgemein wenden wir uns jedoch dem Thema zu, das uns interessiert, und so setzen wir uns mit übereinandergeschlagenen Beinen in angenehmen Gesprächen eher in Richtung des sympathischen Gesprächspartners und wenden uns diesem zu, während wir uns in negativen Situationen zurückziehen und abwenden. In Schlüsselsituationen ist ein abrupter Wechsel des übereinandergeschlagenen Beines ein sicherer Indikator für einen Musterwechsel. Wenn im Zug beispielsweise eben noch die Beine in Richtung des freien Platzes übereinandergeschlagen waren und dieser nun besetzt wird, erfolgt oftmals eine direkte Änderung, wenn ein neuer Mitfahrer hinzukommt. Unbewusst setzt man sich aus Höflichkeit etwas ordentlicher hin, dabei werden die Beine meist direkt in die andere Richtung übereinandergeschlagen und dem neuen Mitfahrer die unempfindliche Außenseite zugewandt. In Gesprächen, die eben noch harmonisch verliefen und nun auf einen kritischen Punkt treffen, lässt sich oft beobachten, dass der Gesprächspartner direkt reagiert und die eben noch in unsere Richtung übereinandergeschlagenen Beine abrupt wechselt und zur anderen Richtung ausrichtet. Die kritische Aussage wurde als verbaler Angriff empfunden und man schützt sich erst einmal. Ebenso kann der Gesprächspartner normal gesessen haben und nun wird in die Haltung mit übereinandergeschlagenen Beinen gewechselt. Je nach Intensität des Auslösers weist diese Reaktion auf die Empfindlichkeit des Gesprächspartners hin. Darüber hinaus kann die Reaktion die Einstellung zum Umgang mit Kritik anzeigen. Während der eine Kritik als Bedrohung ansieht und sich vor ihr abwendet sowie zurückzieht, sieht sie der andere als Chance zum Wachstum, wendet sich ihr zu, lässt sich auf die Konfrontation ein und neigt sich mehr in das Gespräch hinein, um eine Lösung zu suchen. Auch bei übereinandergeschlagenen Beinen sollte zunächst das Normalverhalten bestimmt werden. Bewerber, die zum regelmäßigen Wechsel neigen und alle paar Minuten das übereinandergeschlagene Bein wechseln, sind in der Regel auch von ihrem ganzen Wesen her quirliger, wechselhafter und unentschlossener als jene, die stoisch in einer Haltung verharren. Gleichzeitig können sie jedoch flexibler sowie anpassungsfähiger sein und aktiver im freien Denken und Assoziieren oder bei kreativen Prozessen. Im negativen Fall neigen sie zur Nervosität. Ein bewegter Geist bewirkt einen ebenso

13.1  Grundlagen Beine und Füße

345

bewegten Körper, was sich im häufigen Wechsel des übereinandergeschlagenen Beines zeigen kann [9]. Hat man das Normalverhalten bestimmt und ein Gefühl für den Rhythmus entwickelt, mit dem das übereinandergeschlagene Bein gewechselt wird, kann man aus einer Rhythmusbeschleunigung, die mit positiven anderen nonverbalen Signalen einhergeht, auf wachsende Handlungsbereitschaft schließen. Geht die Rhythmusbeschleunigung dagegen mit negativen, Stress anzeigenden Signalen einher oder verlangsamt sich der Rhythmus, kann man auf einen Rückzug aus dem Gespräch schließen. Werden die Beine im Sitzen eng aneinandergelegt oder stark verschränkt, weist dies auf Verspannung hin. Während bei übereinandergeschlagenen Beinen der entspannt baumelnde oder leicht wippende Fuß Wohlbefinden signalisiert, nehmen Spannung und Abwehr zu, wenn die Beine angespannt und eng übereinandergeschlagen werden. Eine noch stärkere Verschränkung ergibt sich schließlich, wenn der Fuß des übereinadergeschlagenen Beines hinter das Standbein geführt wird. Diese Haltung hat ein Minimum an Beweglichkeit und Flexibilität, nimmt so wenig Raum wie möglich ein, ist sehr auf sich bezogen und wirkt verklemmt. Die ineinander verschraubten und hintereinander geklemmten Beine ermöglichen keinerlei Bewegung, können jedoch eine hohe Spannung aufbauen, die den Körper von unten her hochschraubt, den Oberkörper stützt und ihn dabei unterstützt, den eigenen Standpunkt zu behaupten oder anderen mitzuteilen. Solange das Umfeld die Meinung annimmt, kann das durchaus gut gehen, doch geht es zu deren Lasten und bewirkt ein einseitiges Gesprächs- und Machtverhältnis. Für andere Meinungen ist kaum Spielraum vorhanden, die mangelnde Flexibilität der verschränkten Beine kann keinen Schritt auf andere zugehen, und so droht die Stimmung bei Gegenwehr oder anderen Ansichten schlagartig zu kippen. Knöchelverschluss Sind die Füße im Sitzen erst einmal unter den eigenen Stuhl zurückgezogen, zeigt sich oftmals, dass ein Fuß am Knöchel über den anderen gelegt wird. Der so Sitzende ist nicht handlungsbereit, ihm fehlt ein klarer Standpunkt, die Füße sind nicht nur defensiv zurückgezogen, sondern zugleich noch dort unten hinten miteinander verschränkt – keine gute Haltung also, um in Aktion zu treten oder eine Entscheidung zu treffen: Sollte jemand in dieser Haltung spontan starten, würde dies an den eigenen Füßen scheitern. Auch wenn der Knöchelverschluss unter dem Tisch stattfindet, lässt er sich erkennen, da sich der Körperschwerpunkt verändert. Gleichzeitig mit den nach hinten genommenen, gekreuzten Knöcheln beugt sich der Oberkörper leicht nach vorne, d. h., während man oben Kontakt sucht und ein gewisses Interesse zeigt, fehlt unten die Beweglichkeit und damit die letzte Konsequenz, um tatsächlich eine Entscheidung zu treffen und zur Sache zu kommen. Noch sind latente Vorbehalte vorhanden oder noch keine eindeutige Entscheidung möglich, der Bewerber ist noch nicht bereit, sich ganz festzulegen. Wie Pease beschreibt, handelt es sich beim Knöchelverschluss um ein mentales Auf-die-LippenBeißen, das sich beim Zurückhalten einer negativen Emotion wie Unsicherheit oder Angst zeigt [10].

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13  Beine und Füße

Mitunter sind die Füße nur auf der Zehenspitze des unteren Fußes aufgestellt. Die dadurch fehlende Erdung verhindert, dass Energie abfließen und Sicherheit gewonnen werden kann, wir haben es oftmals mit einem latent unsicheren oder nervösen Typus zu tun. Durch die fehlende Stabilität der nicht aufgestellten Füße zeigt die gesamte Sitzhaltung eine gewisse Unruhe. Zwar ist die Haltung beweglich und flexibel, doch kann es langwierig sein, zum Kern des Gespräches zu kommen, die geistige Flexibilität in Verbindung mit der mangelnden Handlungsbereitschaft führt zu dem einen oder anderen Wenn und Aber. Fällt eine Neigung zu verschlossenen Knöcheln auf, handelt es sich oftmals um zwar flexible, aber unsichere und mitunter zaghafte Typen. Geschulte Verkäufer achten auf den Knöchelverschluss und stellen die Abschlussfrage nicht, solange dieser noch nicht aufgelöst wurde: Sind die Knöchel noch nicht geöffnet, ist die Einwandbehandlung noch nicht beendet. Nachhaltige Entscheidungen werden in der Regel erst getroffen, wenn beide Füße auf dem Boden aufgestellt werden. Bewerber, die mit übereinandergeschlagenen Beinen, einer „4“ oder mit verschlossenen Knöcheln sitzen, sollten nicht zu einer Entscheidung gedrängt werden. Dagegen sollte man ihnen die Möglichkeit geben, Zweifel und Vorbehalte zu kommunizieren. Wie Pease [11] beschreibt, konnten in 42 % der Fälle die Bewerber durch Fragen wieder geöffnet werden. Eine weitere Variante war, dass sich der Interviewer auf die andere Seite des Schreibtisches begab, auch dann öffneten sich die Bewerber und es ergab sich ein persönlicheres Gespräch [11]. Diese Situation könnte beispielsweise herbeigeführt werden, wenn man dem Bewerber Unterlagen zeigt oder diese gemeinsam mit ihm zusammen durchsieht. Führt der Recruiter den Bewerber durch die richtigen Fragen auf einen für diesen interessanten Aspekt, wird er sich vorbeugen und beide Füße aufstellen, um in Aktionsbereitschaft zu kommen. Knöchelverschluss beim Zahnarzt Beim Zahnarzt müssen wir uns der Situation stellen, auch wenn es einmal wehtun kann. Die mit dem Knöchelverschluss verbundene Kontraktion verhindert den Informationsfluss im Körper, gleichzeitig hindert er uns am Weglaufen. Bei Routineuntersuchungen bei Zahnärzten verschlossen 68 % der Patienten ihre Knöchel. Musste gebohrt werden, stieg die Anzahl der Verschlüsse auf 88 %. Der Spitzenwert wurde erreicht, als die Spritze gesetzt wurde: Nun verschlossen 98 % der Patienten ihre Knöchel [10].

Gekreuzte Beine zeigen sich auch im Stehen und markieren dann eine defensive Haltung, der aktuell das Selbstbewusstsein fehlt. Der eigene Platzanspruch wird auf ein Minimum reduziert, Bewegungen oder eine Änderung des Standpunktes sind aus dieser Haltung heraus nicht möglich. Diese Haltung wirkt schüchtern bis verklemmt und vermittelt die unausgesprochene Bitte, den Kelch eines tieferen oder konfrontativeren Gesprächs am so Stehenden doch bitte vorbeiziehen zu lassen. Dem Wunsch sollte zunächst im Rahmen des Möglichen stattgegeben werden in der Hoffnung, dass der gegebene Raum den Betroffenen hilft, sich zu öffnen und sich in seiner eigenen Geschwindigkeit anzunähern. Die Ressourcen und Rücksichtnahme, die aufgebracht werden müssen, um Bewerber, die sich beim Smalltalk oder bei Pausen beim Gang durch den Betrieb in dieser Art zeigen, in das Gespräch zu integrieren, liefern einen Vorgeschmack auf die möglichen zusätzlich entstehenden Erfordernisse, wenn diese in den Betrieb integriert werden sollen. Je nach Position und deren Vernetzungs- und Kommunikationslastigkeit kann das einen höheren oder niedrigeren Aufwand bedeuten.

13.2  Die eigenen Füße

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Das Bedürfnis nach Schutz erreicht sein Maximum, wenn die Füße der zurückgenommenen Beine von innen um die Stuhlbeine geschlungen werden, mitunter sitzt der Bewerber dabei noch auf den eigenen Händen, sodass in keiner Weise ersichtlich ist, wie der so dasitzende Bewerber seinen Weg in das Unternehmen finden oder gar dort mit anpacken könnte. Vergleichbar mit einem Schneckenhaus, aus dem er mühsam herausgelockt werden muss, ist er zwar vom Oberkörper her bereit für Angebote, doch die unten sitzenden Blockaden machen daraus eine ausgeprägte Nehmerhaltung, die durch eine gewisse Ängstlichkeit und Handlungsverweigerung charakterisiert ist. Er „weiß nicht so recht …“.

13.2 Die eigenen Füße Wie auch bei Mimik, Haltung und Gestik kann durch das Prinzip der Wechselwirkung über das bewusste Einnehmen verschiedener Fuß- und Beinhaltungen Einfluss auf das eigene Empfinden genommen werden. Über den bewusst eingenommenen Knöchelverschluss kann beispielsweise der eigene emotionale Zustand kontrolliert und einer vorschnellen Entscheidung entgegengewirkt werden. Personaler, die dagegen zum Knöchelverschluss neigen, können bewusst registrieren, wie häufig sie diese Position bei verschiedenen Bewerbern einnehmen und ob dies sich bei verschiedenen Gesprächspartnern unterscheidet. Im Sinne einer objektiven Entscheidungsfindung kann der Knöchelverschluss dann bewusst von Zeit zu Zeit aufgelöst werden oder der verstärkte Hang zum Schließen bei einzelnen Bewerbern wahrgenommen und bewusst als Signal genutzt werden, um weiterzudenken und sich zu fragen, was dazu führt, dass sich bei diesem Typus vermehrt verschlossen wird. Erdung Alexander Lowen leitet her, dass die emotionale Sicherheit nicht von der physikalischen Sicherheit und der Bodenhaftung der Füße getrennt werden kann [12]. Bei der Beobachtung und Wahrnehmung der Erdung ergibt sich in der Praxis regelmäßig eine Herausforderung für Menschen, die bei sich selbst nicht das Gefühl der Erdung und eines bewusst wahrgenommenen physischen Standpunktes entwickelt haben. Glücklicherweise kann dieses Gefühl mit nur wenig Übung entwickelt werden. 

Übung: Die eigene Erdung wahrnehmen Idealerweise, aber nicht zwingend, wird die Übung barfuß auf Naturboden durchgeführt. Zunächst sollten Sie einen etwas mehr als schulterbreiten Stand einnehmen und die Knie leicht beugen. Verlagern Sie Ihr Gewicht gleichmäßig auf beide Füße und versuchen Sie, gut zwischen Ballen und Ferse ausbalanciert zu stehen und den Oberkörper gerade zu halten. Mit geschlossenen Augen fällt es nun leichter, sich ein bis zwei Minuten auf die Fußsohlen zu konzentrieren und zu spüren, wie diese auf dem Boden aufliegen. Schieben Sie nun den Oberkörper gerade

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13  Beine und Füße

über das linke Bein, ohne das rechte vom Boden zu nehmen. Dabei beugt sich das linke Bein etwas stärker, während sich das rechte Bein streckt. Drücken Sie bewusst den belasteten Fuß auf den Boden und schieben Sie den geraden Oberkörper einige Male von einem Fuß über den anderen. Bei dieser Übung ist es wichtig, darauf zu achten, dass der Wechselimpuls, der den Oberkörper verschiebt, drückend von den Füßen ausgeht und nicht ziehend von den Schultern. Halten Sie nach mehreren Gewichtsverlagerungen inne und fühlen Sie in Ihre Füße hinein. Diese werden sich schwerer und wärmer anfühlen, auch das Gefühl für den Boden unter Ihnen wird ausgeprägter sein. Molcho vergleicht dieses Empfinden mit dem Gefühl, Magnetschuhe zu tragen. Richten Sie nun Ihren Blick auf einen Punkt im Raum, gehen Sie Schritt für Schritt auf diesen zu und versuchen Sie dabei, das Gefühl für den Boden unter Ihnen zu behalten. Molcho empfiehlt, diese oder andere Übungen regelmäßig auszuführen, um die Bodenhaftung zu verbessern und innere Ruhe sowie ein höheres Sicherheitsgefühl zu erlangen [13].

Motiviert uns eine herausfordernde Situation, aktiviert der Körper den Sympathikus und stellt uns zusätzliche Energie zur Verfügung, um diese Herausforderung erfolgreich zu meistern. Doch das Vorhandensein von zusätzlicher Energie ist nur die halbe Miete: Die Wirkung ergibt sich erst durch deren zielgerichteten Einsatz. Geübte Kommunikatoren nutzen sie, um den Funken auf ihre Gesprächspartner überspringen zu lassen. Ungeübte Kommunikatoren sind dagegen oftmals mit der zusätzlichen Energie überfordert und nehmen sie lediglich undifferenziert als Nervosität wahr. Wird diese nicht zielgerichtet gelenkt, sucht sie sich über verschiedene Übersprunghandlungen, Adaptoren, eine zu schnelle Aussprache oder fahrige Bewegungen andere Wege, um sich abzubauen. Das ist nicht nur unangenehm, sondern auch kontraproduktiv. Um dem entgegenzuwirken, hilft die Entwicklung eines sicheren Gefühls der Bodenhaftung. Ein geerdeter Standpunkt, bei man dem bewusst beide Füße auf den Boden setzt und den Boden spürt, gibt Sicherheit und wirkt ausgleichend. Werden die Füße nebeneinander aufgestellt und fest auf dem Boden verwurzelt, kann dies mit der innerlichen Visualisierung von Wurzeln, die man durch die Fußsohlen in die Erde wachsen lässt, unterstützt werden. Die stabil und satt aufgesetzten Füße bewirken als weiteren positiven Effekt eine ergonomischere und stabilere Haltung des restlichen Körpers, in der wir leichter und ohne Dehnungen auf unserem gesamten Sitzapparat sitzen können. Die gewonnene Stabilität strahlt auch Zuverlässigkeit aus und trifft damit ein grundlegendes Bedürfnis der Bewerber nach einem zuverlässigen und sicheren Arbeitgeber und Arbeitsplatz. Wie Molcho [14] beschreibt, kommt in Zusammenhang mit dem Energiemanagement auch dem Beckenbereich eine kritische Bedeutung zu. Ein bewegliches Becken ermöglicht der Energie, im Körper zu fließen und sich zu verteilen. Ein steifes, unbewegliches Becken blockiert den Energiefluss und teilt den Körper, sodass dieser in seinem ganzheitlichen Ausdruck behindert wird. Die Bioenergetik arbeitet ebenfalls mit diesen

13.3  Fazit: Beine und Füße

349

­ rinzipien und bietet Methoden, um sich den ganzheitlichen Zugang wieder zu erschlieP ßen. Neben dem Becken bilden auch andere Gelenke wie Ellbogen oder Knie mögliche Engpässe, die den freien Energiefluss im Körper, der die Basis für eine überzeugende Wirkung darstellt, erschweren können, sofern sie blockiert sind. Don’ts Die Knie sollten beim Sitzen nicht oberhalb der Tischebene zu sehen sein. In einigen Kulturen gelten sichtbare Schuhsohlen als sehr beleidigend, und auch in unserem Kulturkreis stellt es ein Dominanzsignal dar, wenn die Beine in der Form übereinandergeschlagen werden, dass die Schuhsohlen sichtbar werden oder auf einen anderen Gesprächspartner weisen. Dazu kann es allenfalls kommen, wenn man die Beine zur „4“ übereinanderlegt und sich zusätzlich etwas zurücklehnt. Bei übereinandergeschlagenen Beinen darf der Fuß zwar in Richtung des Gesprächspartners weisen, die Fußspitze sollte aber nicht zwischen dessen Beine gerichtet werden: Auf einer unbewussten Ebene fühlt er sich sonst bedroht [8]. Wer dazu neigt, die Füße um die Stuhlbeine zu schlingen, sollte daran arbeiten, sich diese Haltung wieder abzugewöhnen, und den Ursachen dafür auf den Grund gehen. Das dauerhafte Aufstellen der Füße auf die Zehenspitzen kostet Erdung, überkreuzte Knöchel können Entscheidungsschwierigkeiten nach sich ziehen, denen durch eine bewusste Auseinandersetzung mit den Ursachen entgegengewirkt werden kann. Wie auch beim Bewerber, hört für den Recruiter das Territorialverhalten unter dem Tisch nicht auf. Dort viel Platz einzunehmen ist ein dominantes Zeichen, das den Bewerber einschüchtern und zu unangenehmen Situationen führen kann. Auch unter dem Tisch gilt die Mitte des Tisches als Grenze der beiden Bereiche: Recruiter, die dazu neigen, sich unter dem Tisch auszubreiten, können den eigenen Stuhl ein wenig zurückziehen, um territorialen Übergriffen vorzubeugen.

13.3 Fazit: Beine und Füße Die Signale der Füße werden häufig übersehen oder vernachlässigt, deshalb erlauben sie meist ungefilterte Einblicke in die ehrlichen Absichten und Gefühlszustände des Bewerbers. Ihre Impulsbewegungen zeigen, ob unser Gesprächspartner sich anderen Themen zuwenden, sich tiefer auf das Gespräch einlassen oder zurückziehen will. Die Richtung, in der im Sitzen die Beine übereinandergeschlagen werden, kann anzeigen, wohin unser Interesse geht. Zu einem gewissen Grad wird die Ausrichtung auch durch Gewohnheiten, die durch die soziale Rolle geprägt sind, oder durch anatomische Veranlagungen beeinflusst. Der Knöchelverschluss zeigt an, dass es noch Hemmnisse hinsichtlich einer Entscheidung gibt. Das Gefühl für die eigene Erdung bildet eine notwendige Voraussetzung, um diese auch bei anderen zu erkennen. Dieses Gefühl lässt sich schnell entwickeln, erhöht die eigene Sicherheit und hilft anschließend, sich souveräner und sicherer zu präsentieren.

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13  Beine und Füße

Literatur 1. Allan & Barbara Pease: Die kalte Schulter und der warme Händedruck, S. 199; Ullstein Taschenbuch, Berlin, 2009 2. Desmond Morris: Körpersignale, S. 244; Wilhelm Heyne Verlag GmbH, München, 1986 3. Joe Navarro: Menschen Lesen, S. 71; mvg Verlag, München, 2011 4. Joe Navarro: Menschen Lesen, S. 73; mvg Verlag, München, 2011 5. Samy Molcho: Alles über Körpersprache, S. 156; Wilhelm Goldmann Verlag, München, 2001 6. Samy Molcho: Mit Körpersprache zum Erfolg 3.0, PC-DVD ROM; USM, München, 2010 7. Samy Molcho: Körpersprache, S. 95 f; der Goldmann Verlag, München, 1996 8. Samy Molcho: Körpersprache, S. 121; der Goldmann Verlag, München, 1996 9. Samy Molcho: Seminar: Der Körper spricht immer; Jürgen Höller Akademie, Schweinfurt, 2013 10. Allan & Barbara Pease: Die kalte Schulter und der warme Händedruck, S. 208; Ullstein-Verlag, Berlin, 2006 11. Allan & Barbara Pease: Die kalte Schulter und der warme Händedruck, S. 209; Ullstein-Verlag, Berlin, 2006 12. Vera F. Birkenbihl, Signale des Körpers, S. 72; mvg Verlag, München, 2001 13. Samy Molcho: Körpersprache des Erfolgs, S. 43 f; Heinricht Hugendubel Verlag, München, 2005 14. Samy Molcho: Körpersprache des Erfolgs, S. 52 ff; Heinricht Hugendubel Verlag, München, 2005

Leitfaden

14

Zusammenfassung

Kap. 14 führt die Inhalte der vorstehenden Kapitel zusammen und zeigt, wie diese im Gespräch systematisch integriert werden können und welche Hindernisse und Gefahren dabei berücksichtigt werden sollten. Dabei wird eine der zentralen Ursachen des gefühlten Fachkräftemangels beschrieben und aufgezeigt, wie der Situation durch ein fortgeschrittenes Kommunikationsverhalten entgegengewirkt werden kann. In den vorstehenden Kapiteln wurden die für das Recruiting relevanten Elemente der nonverbalen Kommunikation beschrieben und erläutert. Doch wie gelingt nun, über das Verständnis hinaus, der Transfer in die Praxis, um einerseits die Qualität der Auswahl zu erhöhen und andererseits die begehrtesten Kandidaten für das eigene Unternehmen zu gewinnen?

14.1 Konsolidierung Wie beschrieben, werden im Lernprozess verschiedene Engpässe entstehen, bevor neue Kompetenzplateaus erreicht werden. Die Inhalte dieses Buches sind kompakt dargestellt und die für das Recruiting relevante Essenz aus Hunderten von Büchern, Seminaren, Studien, Artikeln, DVDs, Videobeiträgen und der langjährigen Erfahrung aus Einzelcoachings, Beratung und Gruppentrainings. Da nonverbale Kommunikation ganzheitlich geschieht, die Inhalte im Buch aber notwendigerweise nach und nach behandelt werden, ist es empfehlenswert, das Buch zweimal zu lesen: Das beim ersten Lesen gewonnene Verständnis ermöglicht es, beim zweiten Lesen die Inhalte der einzelnen Kapitel nachhaltiger zu verinnerlichen und zu verknüpfen.

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 C. Bernhardt, Nonverbale Kommunikation im Recruiting, https://doi.org/10.1007/978-3-658-25276-2_14

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14 Leitfaden

Erst richtig, dann schnell Beim Erwerb neuer Kompetenzen gilt prinzipiell, dass man neue Kenntnisse zunächst richtig beherrschen sollte, bevor man die Geschwindigkeit erhöhen kann. So sollte man sich auch bei der Körpersprache Zeit nehmen: Während ein bis zwei Wochen und für mehrere Gespräche sollte man sich jeweils auf ein einzelnes Themengebiet konzentrieren und die Fähigkeit, dessen Signale zu erkennen, verbessern. So werden nach und nach die gesamten Inhalte verinnerlicht und fügen sich anschließend zu einem Ganzen zusammen. Nun können die einzelnen Tells ins Verhältnis zum Gesamtbild gesetzt werden und damit voreiligen Interpretationen vorgebeugt werden, die sonst drohen, wenn der Materie lediglich oberflächlich begegnet wurde und einzelne oder die auffälligsten Tells undifferenziert gedeutet wurden. Eigene Wahrnehmung und Interpretation hinterfragen Michael Grinder [1] empfiehlt, für jede Wahrnehmung stets drei Interpretationen zu bilden und diese auf ihre Richtigkeit zu prüfen. Wurde Signal X, zum Beispiel „sich schließende Arme“, beobachtet und die Ursache des Signals als a) „Kälteempfindung“, b) „Rückzug aus dem Gespräch“ oder c) „reine Bequemlichkeit“ interpretiert, hilft die Prognose der nächsten Handlung, um die Hypothese zu verifizieren. Bei a) sollten als Nächstes die Schultern hochgezogen werden oder die Hände die Oberarme reiben, bei b) könnte auf Distanz gegangen oder sparsamer kommuniziert werden, bei c) könnten dagegen behagliche Signale und freundliche Mimik folgen. Wenn wir uns darüber bewusst werden, in welchen Fällen unsere Prognosen nicht zutreffen, verfeinern wir durch das Aha Erlebnis nach und nach unsere Wahrnehmung und können unsere Prognosesicherheit sukzessive verbessern. Das Verständnis für die Körpersprache anderer hängt vom Zugang zum eigenen Körper ab Die vorgeschlagenen Übungen erleichtern den Transfer und das intuitive Verständnis für die Systematik und die Prinzipien, die der nonverbalen Kommunikation zugrunde liegen. Auch diese sollte man zumindest einmal durchführen und wo beschrieben wiederholen bzw. über einen längeren Zeitraum praktizieren. Wie Lowen beschreibt, hängt unser Vermögen, die Körpersprache anderer zu verstehen, von unserer Wahrnehmungsfähigkeit der eigenen Körpersignale ab [2]. Infolge jahrelanger Gewohnheiten hat sich bei vielen der Bezug zum eigenen Körper und das feine Empfinden für dessen Signale verschlechtert. Von daher ist es zunächst notwendig, dieses Bewusstsein zurückzugewinnen und zu schärfen. Die beschriebenen Übungen helfen, die Inhalte selbst zu erfahren und auf dieser Basis nicht nur ein grundlegendes Verständnis zu entwickeln, sondern auch die Basis zu schaffen, um neue Signale intuitiver zu verstehen. Während man das Buch liest, sollte man die beschriebenen Tells und Haltungen selbst ausführen und sich auf die entstehenden Empfindungen konzentrieren: Werden sie selbst erlebt, während die Wirkung gelesen wird, ergibt sich ein tieferes Verständnis für ihre Bedeutung [3]. Wer das Bewusstsein über die Signale des eigenen Körpers noch intensiver erhöhen möchte, kann einer Theatergruppe beitreten oder eine Sportart betreiben, die die Aufmerksamkeit nach innen lenkt,

14.1 Konsolidierung

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b­ eispielsweise Yoga. Auch regelmäßige Achtsamkeitstrainings und Meditationen leiten das Bewusstsein in den eigenen Körper und verbessern den Zugang zu dessen Empfindungen. Feedback und systematische Analyse Nicht nur das Feedback des eigenen Körpers ist wichtig, auch die Rückmeldung von außen über die Richtigkeit oder Fehlerhaftigkeit unserer Interpretation ermöglichen, unsere Kompetenzen rascher zu entwickeln und alternative Möglichkeiten in unsere Deutung zu integrieren. Hierfür bieten Interview-Simulationen im geschützten Rahmen für beide Seiten einen enormen Mehrwert. Diese sollten von mindestens zwei Coaches durchgeführt werden. Im Rahmen der Interview-Trainings der viasell GmbH [4], in denen ich als Körpersprache-Trainer mitwirke [5], führen wir in der Regel Interviews mindestens zu zweit, meistens jedoch zu dritt durch und zeichnen diese, nach Absprache mit dem Coachee, auf Video auf. Im Anschluss an das Gespräch geben wir dem Coachee ein direktes Feedback und besprechen die kritischen Punkte seiner nonverbalen Kommunikation sowie mögliche Interpretationen unsererseits. Als Raster für die Beobachtung und Qualifizierung der Antworten verwenden wir das viasell® Interview Rating, welches den Auftritt des Bewerbers nach zehn Dimensionen differenziert. Kriterien des viasell® Rating-Systems für die Interview-Performance des Bewerbers 1. Persönliches Auftreten 2. Verbale Kommunikation 3. Nonverbale Kommunikation 4. Wechselmotivation 5. CV-Sellingstory; Kommentierung des eigenen Lebenslaufes 6. Stimmige Vermittlung der Fachkenntnisse 7. Kritik- und Konfliktfähigkeit 8. Sympathie/Matchingfaktor 9. Stabilität 10. Potenzial

Die zehn Kriterien lenken die Wahrnehmung und tragen in der 8. Kategorie auch dem persönlichen Eindruck bzw. dem Bauchgefühl des Recruiters Rechnung. Neben der Berücksichtigung des ersten Eindrucks und der Unterscheidung in verbale und nonverbale Kommunikation prägt auch in den Rubriken 4 bis 7 die Kommunikation die Wirkung des Bewerbers. Danach analysieren wir die Videoaufnahmen und gleichen kritische nonverbale Signale mit den zugehörigen verbalen Aussagen ab. Dabei sind die Mikro-Expressionen, subtile Expressionen, aber auch Gestiken, Fußbewegungen und die Haltung und Bewegungen des Rumpfes aufschlussreich. Darüber hinaus beachten wir die verbale Orientierung, die auf der Metaebene anzeigt, wie sich zu bestimmten Themen positioniert wird und welche Motive und Glaubenssätze der Einstellung zugrunde liegen. Diese Inhalte bereiten wir für das nächste Treffen vor. Die Coachees sind teils erstaunt über die direkten Signale, die sie senden, und wenn das Video gemeinsam ausgewertet wird, sind die Inkongruenzen zum Teil frappierend. Anschließend gleichen wir im Dialog mit

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14 Leitfaden

dem Coachees die Wirkung seiner Kommunikation mit seinen tatsächlichen Treibern und Hintergründen ab. Dies ermöglicht nicht nur dem Bewerber die Selbstklärung und im Anschuss eine stimmigere Kommunikation, sondern stellt auch für uns Coaches ein direktes, ehrliches Feedback dar, das uns hilft, die Interpretation unserer Beobachtungen zu verifizieren und unseren Bezugsrahmen zu erweitern, sodass wir zukünftig noch differenzierter deuten können. Die Treiber und Hintergründe der nonverbalen Kommunikation des Coachees klären und reframen wir anschließend mit verschiedenen kommunikationspsychologischen Methoden und Techniken und verhelfen ihm so zu einem authentischeren zukünftigen Ausdruck. Wenn das Verhältnis der Betriebsvertreter zu scheidenden Mitarbeitern nicht allzu belastet ist, können ihnen im Rahmen von Outplacements die beschriebenen Interview-Simulationen angeboten werden. Alternativ könnten diese mit einem Kooperationsbetrieb im Wechsel durchgeführt werden. Personaler A führt sie bei den freizusetzenden Mitarbeitern von Unternehmen B durch und umgekehrt. Eine Alternative könnte darin bestehen, im Rahmen von Employer-Branding-Veranstaltungen an Projekttagen von Schulen oder in Kooperation mit den Karriereservicecentern der Universitäten anzubieten, mit den dortigen Absolventen Interviewtrainings durchzuführen. Da junge Menschen deutlichere Signale senden, stellt es einen probaten Einstieg für den Recruiter und ein dankbares Übungsfeld dar und kann darüber hinaus eine Employer-Branding-Maßnahme sein, durch die in Kontakt zur Zielgruppe getreten werden kann. Dazu kann gerne ein Mitarbeiter aus den Fachbereichen hinzugezogen werden. Google stellt beispielsweise seine Mitarbeiter regelmäßig für die Teilnahme an Recruiting-Gesprächen frei [6]. So entwickeln diese nicht nur ihre Recruiting-Kompetenz, sondern verinnerlichen die Ansprüche der Organisation an neue Mitarbeiter intuitiv und treffen bei der Empfehlung potenzieller neuer Mitarbeiter eine differenziertere Auswahl. Zudem erweitern die fachlichen Inputs der Fachexperten den Bezugsrahmen des Recruiters. Aber auch interne Interviewtrainings könnten angeboten werden. Werden Gespräche aufgezeichnet, kann das aus mehreren Perspektiven erfolgen, auch die Füße erfasst und Großaufnahmen vom Gesicht gemacht werden, um zusätzliche Einsichten zu gewinnen. Um die Kompetenz der Recruiter nachhaltig und systematisch zu entwickeln, kann, mit Zustimmung aller Beteiligten und unter Einhaltung der gesetzlichen Vorgaben, das Gespräch zu Qualitätszwecken aufgezeichnet und aufbewahrt werden. Kommt es dann zu einer unverhofften Auflösung des Arbeitsverhältnisses, können die damaligen Gespräche analysiert werden und darauf geachtet werden, ob damals die richtigen Fragen gestellt wurden, um die Einflüsse, die letztlich zum Scheitern geführt haben, zu prüfen. Darüber hinaus können die damaligen Antworten des gescheiterten Mitarbeiters analysiert werden, um zu untersuchen, an welchen Stellen im Interview einzelne Tells auf das spätere Scheitern hinweisen hätten können. Verschiedene Schwierigkeitsniveaus wählen Bei der Entwicklung der eigenen nonverbalen Kompetenz bieten verschiedene Partner unterschiedliche Schwierigkeitsniveaus an, um sich stets mit dem richtigen Grad an

14.1 Konsolidierung

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Herausforderung weiterzuentwickeln. Wird zu schnell eine zu hohe Herausforderung gewählt, droht Frustration. Ist es dagegen zu einfach, schleicht sich Langeweile ein. Junge Menschen zeigen ihre inneren Empfindungen in der Regel ungefilterter als ältere. Die glattere Haut junger Gesichter erleichtert die Erkennung von subtilen Mimiken, während von Falten geprägte ältere Gesichter eine feinere Wahrnehmung und Übung erfordern. Frauen senden mehr nonverbale Signale als Männer und haben auch eine aktivere Mimik. So kann sich der Recruiter von Niveau zu Niveau entwickeln. Dabei bieten nicht nur das Recruiting, sondern auch andere soziale Interaktionen ein breites Übungsfeld, darüber hinaus lässt sich auch bei Interviews im Fernsehen, Diskussionsrunden oder bei Vorträgen von Vorstandsmitgliedern und Ähnlichem üben. Setzen Sie sich in die erste Reihe und beobachten Sie, wie der Körper die oft politischen und diplomatischen Aussagen konterkariert oder kommentiert, und bilden Sie sich eine eigene Meinung, die Sie mit der zukünftigen Entwicklung vergleichen können. Wenn Sie bei Beobachtungen im Betrieb als Kadermitglied über weiterführende Informationen verfügen, lassen sich die Beobachtungen noch differenzierter analysieren. Gesprächsführung des Recruiters und systematische Erfassung der Tells Der Recruiter selbst sollte so kommunizieren, dass sich im Kopf des Bewerbers Bilder entwickeln können, auf die dessen limbisches System reagieren und nonverbale Signale veranlassen kann. Neben prägnanter, konkreter, positiver und bildhafter Sprache bilden ausreichend Pausen und die Berücksichtigung, ob bewerberseitige Sendeerlaubnis vorliegt, wichtige Punkte für eine gelingende Kommunikation. Neben dem individuellen Fragenkatalog bietet es sich an, für die verschiedenen nonverbalen Signale eine Checkliste zu erstellen und ein System zu entwickeln, mit dem schnell das Beobachtete erfasst werden kann. Werden Notizen erstellt, liegt die Kunst nämlich darin, im Gespräch gleichzeitig den Kontext des Gesagten und auffällige nonverbale Signale festzuhalten, die sich dabei gezeigt haben. Beim Schreiben werden jedoch die Augen abgewendet und es droht die Gefahr, wichtige Signale zu übersehen. Von daher sollte man einerseits nicht sofort losschreiben, wenn ein Tell beobachtet wurde, sondern man sollte sich in Sinnabschnitten eine Notiz machen. Eine symbolische Codierung der Signale und ein Beobachtungsbogen erleichtern die Erstellung von aussagekräftigen Notizen. Horst Rückle [7] hat hierzu ein effizientes System entwickelt, an das der folgende Beobachtungsbogen angelehnt wurde (Tab. 14.1). Für die Praxis sollte man den Beobachtungsbogen auf Din A4 im Querformat übertragen und in die erste Spalte die vorbereiteten Fragen eintragen. Um nicht in Platznot zu geraten, empfiehlt es sich, Leerzeilen, frei zu lassen, da zu einer Frage mehrere nonverbale Signale auftauchen werden. Der Fragekatalog, den die einzelnen Interviewpartner dem Bewerber stellen, sollte man den anderen am Gespräch Beteiligten zuvor bereitstellen, so kann jeder Beobachter an der passenden Stelle seine Notizen machen und anschließend das Gespräch auswerten.

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14 Leitfaden

Tab. 14.1  Beobachtungsbogen nonverbale Kommunikation im Recruiting

In medias res – wenn Gespräche ohne Vorbereitung geführt werden müssen Für Gespräche, zu deren ausführlicher Vorbereitung die Zeit fehlte, hilft diese verkürzte Anleitung, um effizient und effektiv mehr Tiefe in das Gespräch zu bringen und die eigenen Fragen durch Berücksichtigung der nonverbalen Kommunikation des Bewerbers schnell und zielgerichtet zu den für die Entscheidung relevanten Punkten zu führen. Schon beim Sichten des Lebenslaufes werden erfahrenen Recruitern kritische Stationen ins Auge fallen und damit Themenfelder signalisieren, die angesprochen werden sollten, um Klarheit zu gewinnen. Darüber hinaus bieten die Selbstvorstellung des Bewerbers und die Antwort zu seiner Wechselmotivation zwei wichtige Phasen im Gespräch, bei denen dieser direkt durch seine nonverbalen Signale anzeigt, hinter welchen Stationen sich relevante Themenfelder verbergen und wo nachgehakt werden sollte. Kommentiert das Gesicht oder die Gestik des Bewerbers dessen verbale Beschreibung früherer Stationen seiner Vita oder signalisieren Pausen, Musterwechsel, Versprecher, Rhythmusänderungen, Änderungen im Blickverhalten, der Gestikulation oder anderer in diesem Buch beschriebenen Verhaltensweisen mögliche Inkongruenzen, dann sollten diese mit dem Kontext und dem genauen Wortlaut des Bewerbers in Verbindung gebracht oder notiert werden. Werden die nonverbalen Signale später angesprochen, kommt man näher an den Bewerber heran. Dabei sollte dieses Nachhaken stets wertschätzend erfolgen. Beispielsweise: „Sie haben vorher, als Sie vom Übergang der Uni in Ihr erstes Arbeitsverhältnis berichtet haben, etwas nachdenklich/kritisch/zögerlich gewirkt … und da habe ich mich gefragt, was genau Sie da zum Nachdenken gebracht hat?“ Oft muss der zweite Teil der Frage gar nicht mehr gestellt werden: wenn freundlich gelächelt und mit gehobenen Augenbrauen, leicht geneigtem Kopf und aufmunterndem Nicken die Pause gesetzt wird. Wurde die richtige Verbalisierung getroffen, dockt diese beim kritischen Gedanken des Bewerbers an und führt oftmals dazu, dass er sich direkt mitteilt. Dabei stellt die Einstellung des Recruiters einen kritischen Punkt dar, der seine Kommunikation und den Charakter des Gesprächs prägt. Die Einstellung sollte nicht jene eines Richters sein, der über den Bewerber urteilt, sondern jene eines Lernenden, der den Bewerber besser kennenlernen möchte und nach Möglichkeiten sucht, einen Zugang zu

14.1 Konsolidierung

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ihm zu finden. Je nach Einstellung werden auf der Beziehungsebene unterschiedliche Botschaften vermittelt. Für eine gelingende Kommunikation sollte das Credo nicht etwa „Ich will dich entlarven“ sein, sondern „Ich will dich besser verstehen“. Während sich im ersten Fall ein Verhör-Charakter ergibt, der dem Bewerber Täuschungen unterstellt und durch die, bei der Suche entstehende, Anspannung das Gespräch verhärten kann, was gleichzeitig das Erkennen aussagekräftiger Botschaften erschwert, zeigt sich bei der zweiten Einstellung das ehrliche Bestreben herauszufinden, ob der Bewerber zur Stelle, zum Team und Betrieb passt. Das beinhaltet auch die Bereitschaft, in Kauf zu nehmen, dass er nicht überall und immer perfekt ist. Das Streben nach Perfektion oder die Angst davor, es sein zu müssen, ist es, was Menschen Angst entwickeln und blockieren lässt und schließlich dazu führt, dass sie sich Masken aufsetzen und ein authentischer Auftritt verwirkt wird. Beziehung zum Bewerber verstärken Um die Beziehung zu anderen Menschen zu vertiefen, eignen sich mehrere kurze Treffen besser als ein langes. Darüber hinaus lassen sich, da wir verschiedene Tagesformen haben, durch mehrere, kürzere Interviews differenziertere Einsichten gewinnen. Google führt beispielsweise fünf 30-min Interviews durch [6]. Während des gesamten Recruiting-Prozesses sollte man in kontinuierlichem Kontakt zum Bewerber stehen und das Informationsloch, das sich regelmäßig ergibt, nachdem die erste automatische Antwortmail den Eingang der Bewerbungsunterlagen bestätigt hat, überbrücken. Dieses zu unterlassen stellt nach wie vor eines der meistmonierten Negativerlebnisse der Kandidaten im Bewerbungsprozess dar. Gerade im Wettbewerb um die attraktivsten Profile gilt, dass das „Recruiting-Eisen geschmiedet werden sollte, solange es heiß ist“. Dabei droht besonders bei kleinen Unternehmen die Gefahr, den Prozess zu lange zu verschleppen. Wenn die Personalarbeit nebenher erledigt wird, gerät die Sichtung neuer Profile oftmals gegenüber den „dringenderen“ Anforderungen des Tagesgeschäfts ins Hintertreffen. Aber die Konkurrenz schläft nicht, und wenn man zu lange wartet, bis man sich beim Bewerber meldet, kann es gut sein, dass dieser schon bei einem anderen Betrieb eingestellt wurde. Antwortet man nach der Ausschreibung einer Stelle und dem Eintreffen verschiedener Bewerbungen diesen erst nach einigen Wochen, sind häufig nur noch jene Bewerber übrig, die die schneller rekrutierende Konkurrenz übrig gelassen hat. Von daher sollte ein realistischer Besetzungszeitraum für die Besetzung der neuen Stelle kalkuliert werden. Wer unter Druck entscheiden muss, neigt zu Fehlern sowie Zugeständnissen und seine Fähigkeit zur Empathie und damit zur Stärkung der Beziehungsebene ist eingeschränkt. Infolgedessen ergeben sich suboptimale und damit oftmals weniger nachhaltige Besetzungen. Anfang 2019 beträgt in Deutschland die durchschnittliche Vakanzzeit über alle Berufsbilder hinweg 113 Tage [8]. Im Arbeitsmarktmonitor der Agentur für Arbeit lassen sich für die unterschiedlichen Berufsbilder und Regionen bzw. Agenturbezirke in Deutschland die genauen Zahlen recherchieren und ermöglichen eine Orientierung über den benötigten Vorlauf bei Stellenneubesetzungen.

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14 Leitfaden

Die Erfahrung, dass mehrere kurze Kontakte die Bindung stärker erhöhen als ein einzelner langer Kontakt, wird ergänzt um Erfahrungen, die dabei gemacht werden und die Abwechslung, die dabei entsteht. Von daher empfiehlt es sich, den Bewerber in unterschiedlichen Räumlichkeiten zu empfangen sowie ihn in unterschiedlichen Konstellationen zu interviewen. Beispielsweise könnte in der zweiten Runde der Personaler, den der Bewerber schon aus der ersten Runde kennt, als vertrauter Betriebsvertreter erhalten bleiben, während die beiden anderen Interviewpartner sich verändern. Anschließend könnte der Bewerber vom Personaler durch den Betrieb zum Geschäftsführer geführt werden, welcher mit ihm ein Gespräch unter vier Augen führt, dabei kann dieser eine andere Sitzkonstellation wählen als zuvor oder wie oben beschrieben die Stuhlart variieren. Die Aufnahmeprüfungen verschiedener Studentenverbindungen und anderer Organisationen zeigen, dass die spätere Bindung eines neuen Mitglieds umso stärker ist, je höher die zu überwindenden Zugangshürden waren. Gruppen, in die man leicht hineinkommt, haben etwas weniger Exklusives und man verliert nichts, wenn man sie wieder verlässt. Muss man dagegen an seine Grenzen gehen, um aufgenommen zu werden, fühlt man sich privilegiert und setzt die neue Errungenschaft später nicht so einfach wieder aufs Spiel. Ein mehrstufiger Auswahlprozess verbessert also nicht nur die Qualität der Auswahl, sondern kann den Bewerber stärker an das Unternehmen binden. Dabei ist es wichtig, den Prozess nicht unnötig hinauszuzögern, sondern ihn strukturiert und mit transparenter sowie wertschätzender Kommunikation zu führen. Die Schwierigkeit, eine neue Stelle zu bekommen, darf nicht darin liegen, nachlässige HR-Prozesse zu überwinden. Ist ein Unternehmen dazu aktuell nicht in der Lage, sollte ein externer Personaler mit der Aufgabe betraut werden, um professionelle Prozesse und nachhaltige Ergebnisse sicherzustellen. Der selbstverantwortete Fachkräftemangel Ein kritischer Unterschied zwischen erfolgreich rekrutierenden Unternehmen und weniger erfolgreichen ist die Einstellung der Beteiligten. Während Personalarbeit bei Ersteren Chefsache ist und die Gewinnung neuer Mitarbeiter oberste Priorität hat, wird Personalarbeit von Letzteren teilweise als ein lästiges Übel empfunden, das irgendwie erledigt werden muss. Diese Beobachtung zeigt sich gerade bei kleinen Unternehmen, welche durch die herausfordernde Situation am Arbeitsmarkt oftmals unterbesetzt sind und versuchen, die Fülle an Aufträgen irgendwie zu bewältigen. Durch die Recruting-Erfahrung aus jenen Zeiten, in denen es noch ausreichend Bewerber gab, und die damit verbundene Prägung fehlt oftmals noch das Bewusstsein, dass es sich bei Personal um eine strategische Ressource handelt, die einen erweiterten Planungshorizont erfordert. Im Stress und durch die vermeintlich dringenderen Aufgaben des Tagesgeschäfts abgelenkt, gerät die Gewinnung neuer Mitarbeiter zur Nebensache und führt zu einem Teufelskreis. Wird versäumt, die guten Kandidaten zu verpflichten und im Zuge einer oberflächlichen Auswahl eine Zufallsauswahl getroffen, scheitert oftmals die nachhaltige Stellenbesetzung und der Kreislauf beginnt erneut, mit diesmal verschlechterten Ausgangsbedingungen, denn häufig wird die Nachhaltigkeit der Personalarbeit bei der

14.1 Konsolidierung

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Bewerberkommunikation nicht berücksichtigt. Fakt ist, dass heute weniger qualifizierte potenzielle Kandidaten zur Verfügung stehen als noch vor einigen Jahren. Dennoch hat auch Gaedt recht, wenn er vom Mythos Fachkräftemangel spricht [9]. Denn die Volatilität des Arbeitsmarktes hat sich gravierend verändert. Stephan Jung [10] berichtet, wie die aktuell ins Berufsleben einsteigende Generation im Laufe ihrer Karriere durchschnittlich bis zu 17 Stellenwechsel durchlaufen wird. Andere Studien zeigen, dass im Durchschnitt ein Drittel der Mitarbeiter in Unternehmen wechselbereit ist. Von daher stünden durchaus interessierte Kandidaten zur Verfügung. Das zeigt sich beispielsweise in den bis zu 6000 Bewerbungen, die Google auf eine offene Stelle erhält. Die Ursache dafür, dass bei vielen Unternehmen die Bewerberzahlen so stark zurückgehen und zum gefühlten Fachkräftemangel führen, sind häufig hausgemacht und liegen nicht selten im fahrlässigen Kommunikationsverhalten der Recruiter begründet. Wurden in der Vergangenheit die Stellen besetzt, hat man oftmals jenen Bewerbern, die damals nicht infrage kamen, kurz oder gar nicht abgesagt. Hat man früher teilweise erst bis zu einem halben Jahr später die Bewerbungsunterlagen zurückgeschickt, werden heute E-Mail-Bewerbungen oftmals von gestressten Personalern oder Geschäftsführern am Ende des Prozesses auch mal einfach gelöscht, um Zeit zu sparen und zum nächsten Punkt auf der Tagesordnung übergehen zu können. Doch genau hier liegt die Krux. Ein Bewerber, der aktuell nicht zu passen scheint, kann in zwei oder drei Jahren der perfekte Kandidat sein. Und wahrscheinlich wäre er dann sogar prinzipiell wechselbereit, aber unsere Firma ist für ihn verbrannt. Er erinnert sich an den Rüffel, den er sich beim letzten Bewerbungsverfahren geholt hat und daran, dass er nach seiner Bewerbung gar nichts mehr von dem Unternehmen gehört hat oder nach langem Warten ein unpersönliches Standardschreiben erhalten hat. Der Großteil der Bewerber generalisiert das Verhalten der Betriebe und bildet sich die Meinung, dass er sich auch zukünftige Bewerbungen sparen kann, da ihn der Betrieb „sowieso nicht will“. Nur die wenigsten bewerben sich mehrmals. Ergänzend dazu greift eine Faustregel aus dem Vertrieb, nach der ein unzufriedener Kunde seine Unzufriedenheit sieben weiteren Kunden mitteilt. Da das Ziel ist, sich durch das Teilen der negativen Meinung seelische Erleichterung zu verschaffen, ist diese umso höher, je kompetenter der Gesprächspartner in Bezug auf ein Thema ist. Zu allem Unglück informieren abgelehnte Bewerber also oftmals genau jene Menschen in ihrem Umfeld, die einen Bezug zum Berufsbild haben oder zu dem Betrieb, dessen Verhalten bemängelt wird. Die implizite Gefahr bei der Drei-Stapel-Auswahl Dabei birgt das nachlässige Verhalten mancher Recruiter eine gewisse Tragik, denn oft wird gerade mit den Falschen anständig kommuniziert und jene, auf die man sich fokussieren sollte, werden vernachlässigt. Die Ursache dafür liegt in der klassischen Drei-Stapel-Methode. Auf dem ersten Stapel landen jene Bewerber, die man unbedingt treffen möchte, auf dem zweiten Stapel jene, die infrage kommen könnten, wenn es mit keinem der Kandidaten vom Top-Stapel klappt. Den dritten Stapel bildet die Gruppe jener Kandidaten, die auf keinen Fall infrage kommen. Regelmäßig werden die guten Vorsätze einer bewerberfreundlichen Kommunikation noch bei den unpassenden Bewerbern der

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14 Leitfaden

dritten Gruppe beherzigt und diesen höflich und direkt abgesagt, damit dieser Teil des Prozesses erledigt ist. Gleichzeitig werden die Top-Profile hofiert und das Auswahlverfahren eingeleitet. Die Bewerber des zweiten Stapels werden jedoch auf dem „Abstellgleis“ geparkt, indem man ihnen diplomatisch mitteilt, dass der Auswahlprozess noch etwas dauere und man sich wieder melden würde. Bedauerlicherweise verstehen nur die wenigsten dieser potenziell interessanten Bewerber, dass sie gerade auf die lange Bank geschoben werden und dem Betrieb eigentlich nur als Lückenbüßer dienen, sondern sie rechnen sich tatsächlich noch Chancen aus, später eingeladen zu werden. Nun zieht sich das Auswahlverfahren hin, und wenn die Stelle dann schließlich mit einem der Kandidaten des ersten Stapels besetzt wurde, sind oftmals viele Wochen vergangen. Nun drohen mehrere Gefahren: Entweder sind alle Beteiligten im Unternehmen froh, die Stelle endlich besetzt zu haben, und schließen das Verfahren ab. Genauso kann es aber passieren, dass sich dringendere neue Themen in den Vordergrund schieben oder dass es dem Recruiter einfach unangenehm ist, sich nach der langen Zeit noch bei den Bewerbern des zweiten Stapels zu melden, noch dazu mit einer Absage. Ein Gespräch wäre nicht nur unangenehm, sondern kostet Zeit und ist (kurzfristig) ohnehin nicht ergebnisrelevant, von daher wird es oftmals in der Praxis nicht geführt. Wer überbringt schon gerne schlechte Nachrichten? Liegen die Unterlagen digital vor, werden sie häufig gelöscht und die Sache ist erledigt – für den Betrieb, aber nicht für den Bewerber. Dieser wartet nämlich noch immer auf eine Antwort. Die Verhaltensweise, dass der Betrieb irgendwann nichts mehr von sich hören lässt, ist nach wie vor eine der meistmonierten in Candidate-Experience-Studien. Doch wo aktuell das Verhalten des Recruiters augenscheinlich nicht ergebnisrelevant scheint, holt es ihn bei zukünftigen Stellenbesetzungen ein. Die Bewerber des zweiten Stapels, der in der Regel mehr Kandidaten als der erste Stapel umfasst, wurden einst als mögliche Alternativen klassifiziert. Wenn sie sich seit damals gut entwickelt haben, wären sie heute oftmals geeignete Kandidaten für den Top-Stapel. Nur reagieren sie nun nicht mehr auf die aktuellen Stellenanzeigen: Damals wollte man sie nicht, sie haben gelernt, dass unsere Firma an ihnen kein Interesse hat oder es nicht einmal nötig hat, ihnen anständig abzusagen. Kaum etwas ist kontraproduktiver und schwerer zu kitten als enttäuschte Erwartungen und verletzter Stolz. Es sind enorm viele Bewerber, die auf diese Weise schon bei einem einzigen Auswahlprozess verbrannt werden können, von daher muss der für den Auswahlprozess Verantwortliche zwingend verhindern, dass bei abgelehnten Bewerbern der Eindruck entsteht, dass es sich um eine generelle Ablehnung handelt, denn sonst fehlen sie in der Zukunft. Klassisch war die schriftliche, juristisch abgesegnete Standard-Absage, Betriebe haben üblicherweise Angst, dass Bewerber eine Absage als nicht AGG-konform betrachten und vor Gericht ziehen. Das spart zwar aktuell Zeit, ist aber unpersönlich und reduziert die Bewerberzahlen bei der nächsten Stellenbesetzung. Auch die Bewerber sind unsicher, sie erhalten diplomatisch formulierte Absagen, wissen aber nicht, warum. Hier mit den Bewerbern des zweiten Stapels ein kurzes Gespräch zu führen, kostet zwar Zeit, doch ist diese gut investiert. Aus Datenschutzgründen dürfen die Bewerbungsunterlagen

14.2 Stolpersteine

361

nur für eine überschaubare Zeit gespeichert werden. Doch kein Datenschützer verbietet es, sich mit Bewerbern über Xing und ähnlichen Plattformen zu vernetzen. Sagt man in einem kurzen Anruf den Bewerbern des zweiten Stapels verständnisvoll ab und teilt ehrlich mündlich mit, warum ein anderer für die ausgeschriebene Stelle besser passte, können die meisten mit dieser Form der Absage umgehen, gerade wenn die Absage nicht in der Persönlichkeit begründet lag. Kann dem Bewerber dann eventuell noch ein Tipp für zukünftige Verfahren gegeben werden und wird ihm angeboten, sich zu vernetzen, damit man in der Zukunft wieder miteinander in Kontakt treten kann, schlagen die wenigsten dieses Angebot aus. Auf diese Art und Weise können diese Kandidaten zukünftig bei Stellenneubesetzungen direkt kontaktiert werden und auch bei neueren Recruiting-Verfahren wie Crowdrecruiting aktiviert werden. Crowd Recruiting Beim Crowd Recruiting wird, ähnlich der Stellenbesetzung über einen Headhunter, ein gewisses Budget für die Neubesetzung einer Stelle bereitgestellt. Dieses wird jedoch dem Netzwerk angeboten und auf dem Pfad des Netzwerkes verteilt, über den die Neueinstellung schließlich zustande kam. Hat beispielsweise ein Recruiter ein Budget zur Neubesetzung von 10.000 EUR und 100 potenzielle Xing-Kontakte, können diese zunächst angeschrieben werden. Von diesen 100 Kandidaten sollten 20 % bis 40 % für eine Ansprache offen sein, je nachdem, wie der Vorkontakt war und wie passgenau die Ansprache platziert wird. Ein Drittel wird absagen und das letzte Drittel meldet sich gar nicht. Kann die Stelle nicht besetzt werden, kann jenen, die abgesagt haben, angeboten werden, ihr Netzwerk zu aktivieren und im Erfolgsfall das Budget auf den erfolgreichen Pfad im Netzwerk zu verteilen. Wurde von 50 der Kandidaten (A) abgesagt und verteilen von diesen nur 20 die Stelle in ihrem Netzwerk an jeweils 20 potenzielle Kandidaten (B) weiter, erfahren 400 handverlesene potenzielle Bewerber von der vakanten Stelle. Informieren diese wiederum jeder 20 potenzielle Kandidaten (C), erreicht man schon 8000 mögliche Kandidaten. Im Vertrieb entscheiden wir uns erheblich leichter für ein Produkt, das wir von einem Bekannten empfohlen bekommen haben, ein ähnlicher Effekt kann sich auch beim Crowd Recruiting ergeben. Kommt schließlich ein Arbeitsvertrag zustande, werden die 10.000 EUR auf den erfolgreichen Pfad aufgeteilt. Der Betrieb hat schlussendlich das gleiche Geld ausgegeben wie früher für Zeitungsanzeigen oder Personalvermittler, hat aber den Vorteil, dass er mit einem Teil seines Netzwerkes gute Geschäfte gemacht hat und diese mit Sicherheit auch in der Zukunft für vergleichbare Aktionen offen sind. Auch hier gilt natürlich, dass jenen Bewerbern, die das Netzwerk generiert und denen abgesagt werden muss, wertschätzend und in einer Form abgesagt werden sollte, dass sie in das Netzwerk integriert und für zukünftige Ausschreibungen oder Crowd Recruiting-Aktionen gewonnen werden können.

14.2 Stolpersteine In der Arbeitsmarktberatung gilt als Faustregel, dass je kleiner ein Unternehmen ist, es umso flexibler, aber auch chaotischer und unstrukturierter ist. Je größer dagegen das Unternehmen ist, desto mehr Prozesse sind systematisiert und normiert. So auch das Recruiting. Aus diesem Grund empfiehlt Martin John Yate [11] Bewerbern, darauf zu

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14 Leitfaden

achten, ob das Interview von einem Profi oder einem Amateur geführt wird. Gerade kleinen Unternehmen, bei denen Auswahlgespräche nicht an der Tagesordnung sind, drohen von daher Stolpersteine, die den nachhaltigen Recruiting-Erfolg gefährden können. 

Stolpersteine auf dem Weg zum professionellen Recruiting   1.  Keine dezidierte Stellenbeschreibung im Vorfeld, keine benannten Benefits für den Bewerber. 2. Keine zielführenden Veröffentlichungskanäle, lediglich „post & pray Recruiting“. 3. Mangelndes Wissen in Bezug auf die zu besetzende Stelle, da es unterlassen wurde, gerade bei differenzierten, komplexen Stellen von der Linie eine vertiefte Beschreibung einzufordern. 4. Mangelnde Kenntnis der Fachabteilungen der tatsächlichen Lage am Arbeitsmarkt. 5.  Mangelnde Differenzierung der Stelle, Interview wird nicht anforderungsbezogen geführt. 6.  Die Interviewdauer ist zu kurz oder zu lang in Bezug auf die zu besetzende Stelle. 7. Unrealistische zeitliche Planung, es wird zu wenig Zeit veranschlagt, sodass man im Gespräch unter Zeitdruck gerät. 8.  Mangelhafte Vorbereitung des Interviewers, keine schriftliche Vorbereitung, unstrukturiertes Gespräch, keine Fragen oder allgemein bekannte Standardfragen. 9. Keine individuelle Vorbereitung mit kritischer Sichtung des Lebenslaufs des Bewerbers. 10. Keine schriftlichen Aufzeichnungen während des Interviews. 11. Zu wenige Interviewrunden (Knoblauch empfiehlt ein bis zu neunstufiges Auswahlverfahren, wobei nicht alle Stufen aus Interviews bestehen). 12. Recruiter lässt sich vom ersten Eindruck leiten, obwohl dieser für ein differenziertes Urteil nicht ausreicht. 13. Das Gespräch wird zu früh geführt und man erliegt dem „Prinzip des passenden Gesichts“. Leslie A. Zebrowitz [12] empfiehlt, zunächst mit Mitteln wie Unterlagen, Empfehlungen, Vorabtests und E-Mails Informationen zu sammeln und erst dann Vorstellungsgespräche zu führen. 14. Der Recruiter erliegt dem Halo-Effekt: weil der Bewerber gut aussieht oder bekannte Unternehmen im Lebenslauf hat, wird er bevorzugt. 15. Der Recruiter stellt jemanden ein, weil dieser ihm ähnelt. Je nach zu besetzender Stelle ist Ähnlichkeit aber gerade das, was nicht benötigt wird. 16. Der Recruiter lässt sich zu stark durch Sympathie beeinflussen.

14.3  Fehlentscheidungen entgegenwirken

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17. Gesprächsanteil des Interviewers ist größer als der des Bewerbers. Die Aufteilung sollte ein Drittel zu zwei Drittel sein. 18.  Gespräche werden alleine geführt: Es könnte also genauso gut gewürfelt werden. 19. Es wird versäumt, für alle Bewerber vergleichbare Bedingungen zu schaffen. Mangelnde Kenntnis über die weitverzweigten Einflüsse auf die Einstellungsbildung. 20. Mangelhaftes Timing (1): Man reagiert zu spät auf Bewerbungen – die besten Bewerber sind bei der Konkurrenz, während man selbst mit B-Kandidaten vorliebnehmen muss. 21. Mangelhaftes Timing (2): Man macht sich zu spät auf die Suche nach Bewerbern und die Vakanzzeiten werden nicht berücksichtigt oder unterschätzt. 22.  Kein aktualisiertes Rollenverständnis: Bewerber werden von oben herab oder als Bittsteller behandelt. Kein vertriebsorientiertes Verhalten des Recruiters. 23. Keine nachhaltige Kommunikation mit abgelehnten Bewerbern. Nach dem Gespräch ist vor dem Gespräch: Bewerber, die heute vergrault werden, tragen zum morgigen Fachkräftemangel bei.

14.3 Fehlentscheidungen entgegenwirken Die meisten Stolpersteine drohen, wie beschrieben, auf der prozessualen Ebene. Aber auch im Gespräch selbst begründen Dutzende, wenn nicht Hunderte kommunikationspsychologische Heuristiken und Verhaltensweisen die Entstehung von Fehlentscheidungen. Dabei gründet die Ursache regelmäßig darin, dass unser Gehirn als Energieverbraucher Nummer 1 im Körper effizient sein muss und so im Laufe der Evolution aufgrund der begrenzten Verarbeitungskapazität des Bewusstseins begonnen hat, Vereinfachungen zu bilden. Diese führten zu automatisierten Verarbeitungen, die zwar im Alltag funktionieren, bei den abstrakten und komplexen Anforderungen, die ein Auswahlgespräch zu erfüllen hat, jedoch eine der Hauptursachen für Fehlurteile bilden. Kahneman [13] leitete daraus die Vorteile eines strukturierten Interviews und klarer Antwortparameter ab und zeigte auf, wie gut evaluierte Algorithmen die menschlichen Fehler bei der Entscheidungsfindung reduzieren können, was einen praktikablen Ansatz für mehrstufige, teilautomatisierte Recruiting-Verfahren mit Feedbackschleifen, großen Datenmengen und längerfristigen Erhebungszeiträumen bedeuten kann. Dennoch muss auch die Intuition des Recruiters berücksichtigt werden. Gerd Gigerenzer [14] unterscheidet zwischen (Kahnemans) Entscheidungen unter kalkulierbarem Risiko und jenen unter unkalkulierbarer Ungewissheit und erörterte, wie bei komplexen Entscheidungen unter Ungewissheit Heuristiken in Form von Faustregeln in der Praxis dennoch oft erfolgreicher sind als aufwendige Berechnungen.

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14 Leitfaden

Der Recruiter 2.0 in der Industrie 4.0 wird beide Ansätze integrieren. Hierzu empfiehlt es sich, ein strukturiertes Recruiting aufzubauen, große Datenmengen zu sammeln und über lange Zeiträume auszuwerten, um die gewonnenen Erkenntnisse in die zukünftige Vorauswahl einfließen zu lassen. Genauso wichtig ist es jedoch, Faustregeln für die tägliche Praxis zu verfassen. Die Grundlage für deren Anwendung bilden die Wahrnehmung und die Kenntnis der Elemente der nonverbalen Kommunikation im Bewerbungsgespräch. Dabei gibt es verschiedene Wahrnehmungsfehler, die den Recruiter beeinflussen und die er zumindest kennen sollte, um ihnen entgegenwirken zu können. Die gängigsten wie der Halo-Effekt, der Ähnlichkeits-Bias sowie der Primacy- und Recency-Effekt und der Pygmalion-Effekt wurden an verschiedenen Stellen im Buch beschrieben. Einschlägige Publikationen wie jene von Daniel Kahneman [15], Dan Ariely [18] oder Carl Naughton [16] ermöglichen hier vertiefende Einsichten. Nach einem Gespräch empfindet jener, der sich mitteilen konnte, das Gespräch in der Regel als gelungener als jener, der nur zuhören durfte und selbst nicht zu Wort kam. Im Bedürfnis, uns mitzuteilen, sind wir oft so von den eigenen Absichten programmiert, dass wir die subtilen Informationen des Gesprächspartners nicht wahrnehmen, sie sogar als störend empfinden oder gar ignorieren. Dabei unterliegen wir der Tendenz, gemachte Beobachtungen zu verwerfen, zu verdrängen oder zugunsten unserer Absichten und Ziele umzudeuten. Diese Vorgehensweisen verfälschen auch unsere Wahrnehmung und begünstigen damit die Bildung von Fehlurteilen. Dass ein Bewerber ein guter Zuhörer ist und der Recruiter in einem Interview viel erzählen konnte und sich danach besser fühlt, sagt nichts über die Passung des Bewerbers aus. Dagegen kann Schweigen Gold sein: Recruiter, die sich selbst disziplinieren und den Bewerber reden lassen, erfahren nicht nur mehr von dessen verbaler und nonverbaler Kommunikation, sondern lassen diesen sich auch besser fühlen und begünstigen damit eine mögliche Entscheidung des Bewerbers zugunsten des eigenen Betriebs. Dazu tragen wir alle ein elementares Bedürfnis nach Sicherheit in uns. Archaisch bedingt ist im Gespräch der entspannte Organismus des Gegenübers ein wichtiger Indikator für eine gefahrenfreie Gesamtlage. Wir reagieren unbewusst auf den Spannungsgrad des Gesprächspartners, und während wir uns von Entspannung angezogen fühlen und uns ebenso entspannen sowie tiefer auf die Situation einlassen können, tendieren wir bei Verspannung zum Rückzug. Bislang tauchten Druck und Nervosität überwiegend auf der Bewerberseite auf. Mit steigendem Druck im Recruiting wächst nun auch für Recruiter oder Geschäftsführer kleinerer Unternehmen die Gefahr, zu verspannen und dadurch den Betrieb weniger attraktiv zu repräsentieren. Darüber hinaus reduziert Kontraktion die Informationsaufnahme und steigert die Gefahr, blind für die nonverbalen, teilweise sogar taub für die verbalen Signale des Bewerbers zu werden und so für die Entscheidung wichtige Botschaften zu übersehen. Auch das begünstigt Fehlurteile, die durch eine höhere Kommunikationskompetenz reduziert werden können.

14.4  Fazit: Leitfaden komprimiert

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Wirtschaftsästhetik Wolfgang Eckelt beschreibt auf Basis der Veröffentlichungen von Gernot Böhme und Brigitte Biehl-Missal die recruitingrelevanten Erkenntnisse der Wirtschaftsästhetik [17]. Produkte werden immer austauschbarer und damit wird zunehmend maßgeblicher, dass sich der Kauf für den Konsumenten gut anfühlt, was mit dessen ästhetischem Empfinden verbunden ist. Dieses Kundenbedürfnis müssen Betriebe auf allen Kommunikationskanälen erfüllen. Je nach Position sind die Ansprüche an den Bewerber, zu dieser Ästhetik zu passen, unterschiedlich hoch, und so wird vom Bewerber im Gespräch verlangt – ob es dem Recruiter bewusst ist oder nicht –, auch genau diese Ansprüche zu erfüllen, um als passend empfunden zu werden. Der Recruiter selbst bewegt sich dabei, vergleichbar mit dem Fisch im Wasser, im ästhetischen Feld des Betriebes und ist sich durch fehlende Referenzpunkte dieses Feldes nicht oder nur latent bewusst. Erst wenn davon deutlich abweichende Bewerber auftauchen, nimmt er deren Andersartigkeit wahr und empfindet sie als unpassend. Bei seiner Momentaufnahme unterschätzt er jedoch den dynamischen Aspekt des Einflusses des Betriebsfeldes auf neu eingestellte Mitarbeiter und versäumt oftmals gleichzeitig die Chance, das gesamte Feld des Betriebes durch gezielte Neueinstellungen an die Veränderungen des Marktes anzupassen und zum Feldcharakter kommender Herausforderungen hinzuführen. Da auch diese Auswahl unbewusst erfolgt und durch die Signale der nonverbalen Kommunikation begründet ist, besteht auch hier der erste kritische Schritt darin, diese bewusst wahrzunehmen und zu verarbeiten. So können bislang gemachte Fehler erkannt und verbessert werden. Wer dabei das Wahrgenommene zunächst auf sich wirken lässt und wertfrei annimmt, bevor er es interpretiert, beugt den oben beschriebenen Wahrnehmungsfehlern vor und kann die Qualität seiner Entscheidung erhöhen. Gleichzeitig strebt er ein hohes Ziel an. Der indische Philosoph Jiddu Krishnamurti beschrieb einst diese Fähigkeit, zu beobachten, ohne zu bewerten, als die höchste Form menschlicher Intelligenz.

14.4 Fazit: Leitfaden komprimiert Wie können wir also konkret vorgehen? Formen wir nachfolgend aus den wichtigsten Punkten im Sinne von Gigerenzer Faustregeln für ein gelingendes Interview: 1. Es sollten mindestens zwei Interviewer das Gespräch führen, idealerweise unterscheiden sich diese nach Geschlecht, kulturellem Background und Hierarchiestufe im Betrieb. 2. Jeder Interviewer sollte vor dem Auswahlverfahren überlegen, wer der ideale Kandidat sein könnte oder wie dieser sein sollte, und für sich schriftlich in Worte fassen, welche Eigenschaften dessen Eignung für die Stelle begründen. Dann sollte jeder Interviewer sich Fragen notieren, auf die er Antworten braucht, um sich entscheiden zu können.

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14 Leitfaden

3. Darüber hinaus sollten individuelle Fragen zu kritischen Stationen des Lebenslaufs vorbereitet werden. 4. Dabei sollten keine oder so wenige Standardfragen wie möglich verwendet werden. 5. Offene, zirkuläre, hypothetische und Stimulierungsfragen sind das A und O, um dem Bewerber zu ermöglichen, sich zu öffnen. 6. Diese Fragen sollten jedoch nur den Einstieg bilden. Fällt die Antwort nicht überzeugend aus, sollte der Interviewer in die Tiefe gehen oder sich das Verhalten des Bewerbers merken, um später nochmals auf diesen Gesichtspunkt zurückzukommen. 7. Dabei sollte der Recruiter die innere Einstellung eines Lernenden einnehmen und nicht die eines Urteilenden. 8. Bei der Erzählaufforderung „Erzählen Sie uns doch bitte etwas über sich“ sollte der Recruiter sich zu jenen Punkten Notizen machen, an denen dem Bewerber die Mimik entgleist. 9. Ein weiterer Aspekt sollte dem Wording gelten und der verbalen Orientierung des Bewerbers. Nutzt dieser relativierende Floskeln oder unspezifische Beschreibungen, stellt sich die Frage nach seiner inneren Klarheit und wirklichen Zielorientierung. 10. Wichtig ist, dass alle drei Interviewer aufmerksam sind. Wenn einem Interviewer etwas auffällt, wird er während des Schreibens nicht mehr auf die Körpersprache des Bewerbers achten können. Die Notizen sollten also kurz und aussagekräftig sein, idealerweise werden kurze Vertiefungsfragen formuliert, mit denen das Thema später wieder aufgegriffen wird. 11. Bei der Frage nach der Wechselmotivation sollte auf Mikroexpressionen und die Art der Formulierung geachtet werden. Herrscht eine Hin-zu-Formulierung zur neuen Position oder eine Weg-von-Motivation? Wenn Weg-von-Formulierungen verwendet werden, sollte der Interviewer sich fragen, wie hoch die Motivation zum Wechsel zu dem Unternehmen tatsächlich ist oder ob es nicht primär darum geht, den alten Betrieb zu verlassen. Auch hier zeigen nonverbale Signale, ob es weitere Gründe für den Wechsel gibt, die verschwiegen werden. 12. Der Recruiter sollte regelmäßig den Blick defokussieren, um Mikroexpressionen besser zu erkennen. 13. Eine Uhr sollte unauffällig einsehbar im Blickfeld stehen, damit sich der Recruiter aktualisieren kann und nicht in Zeitnot gerät. 14. Er sollte innerlich regelmäßig auf die Metaebene wechseln und sich fragen, ob gerade eine kooperative oder konkurrierende Atmosphäre herrscht und ob der Bewerber Behagen oder Unbehagen empfindet. 15. Ebenso sollte der Recruiter den Bezugsrahmen erweitern um die Ebene des Anbieter-Abnehmer-Rhythmus. Wer folgt wem, bewirbt sich der Betrieb beim Bewerber oder umgekehrt? Das Ziel ist, in einen gemeinsamen Rhythmus zu gelangen. Herrscht dieser vor, kann beobachtet werden, ob der Bewerber beginnt, dem Recruiter bei Bewegungsänderungen zu folgen. Dies signalisiert eine stärker werdende Verbindung und hohe Sendeerlaubnis.

14.4  Fazit: Leitfaden komprimiert

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16. Eine konfrontative Haltung und ein massiver Schreibtisch zwischen den Beteiligten beeinflussen die Entscheidungsfindung und erschweren die Kontaktaufnahme sowie ein konstruktives Gespräch. Von daher kann es gerade in späteren Auswahlrunden empfehlenswert sein, das Gespräch an runden Tischen oder an Tischen in Gruppenräumen über Eck zu führen. Dort kann man im rechten Winkel zueinander sitzen, was die Entstehung einer kooperativen Atmosphäre begünstigt. Welche Anordnung in welcher Phase des Auswahlprozesses und für welche Position passend ist, wird jeder Betrieb für sich entscheiden. 17. Für eine objektive Auswahl im Recruiting sollten für alle Bewerber vergleichbare Bedingungen geschaffen werden. 18. Ist dies gelungen, kann in späteren Gesprächsrunden im Einzelfall gezielt und mit System von ihnen abgewichen werden, um aufgestellte Hypothesen zu überprüfen. 19. Mit jedem Bewerber sollten mindestens zwei, idealerweise drei persönliche Gespräche geführt werden. Werden diese strukturiert geführt, reichen 30–60 min pro Gespräch. 20. Nach dem Gespräch sollte zunächst jeder Recruiter für sich alleine das Gespräch kurz schriftlich anhand eigener Kriterien oder anhand der aufgeführten zehn Kriterien beurteilen, für jedes Kriterium mit einer Schulnote von 1 bis 6. Die Verschriftlichung ist notwendig, sie zwingt dazu, Gedanken zu klären und zu Ende zu führen, zusätzlich erhöht sie beim späteren Austausch die Identifikation mit der eigenen Meinung. Erst daran anschließend sollte der Austausch mit den Kollegen erfolgen und die Beobachtungen und Eindrücke verglichen werden. Erfolgt der Austausch dagegen direkt nach dem Gespräch und wurde sich nichts notiert, besteht die Gefahr, sich undifferenziert dem Meinungsführer anzuschließen. 21. Je nach Auswahlrunde und Anzahl der geführten Gespräche kann dem eigenen Unbewussten ein Teil der Entscheidung überlassen werden, indem zunächst zwar Notizen erstellt werden, aber man die Entscheidung zwischen zwei Bewerbern bewusst über Nacht überdenkt, bevor man sie mit den Kollegen bespricht. Im Schlaf konsolidieren wir die gesammelten Informationen und oftmals liegt am nächsten Morgen die Entscheidung klar auf der Hand. 22. Werden mehrere Gespräche geführt, sollten der Primacy- und Recency-Effekt beachtet werden, um zu verhindern, dass die in der Mitte interviewten Kandidaten durchs psychologische Raster fallen. 23. Von daher sollte man von der Reihenfolge des ersten Gesprächs beim zweiten Durchgang bewusst abweichen. 24. Das Bewerberfeld sollte erst zur dritten Runde hin reduziert werden. 25. Eine professionelle Nachbereitung und Vernetzung mit den abgelehnten Bewerbern des mittleren Stapels und besonders mit jenen, mit denen persönliche Gespräche geführt wurden, ist unabdingbar.

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Literatur 1. Michael Grinder: Seminar Nonverbale Kommunikation: Ein Training in differenzierter Wahrnehmung, Offenhausen/Nürnberg, 14.05.–17.05.2015 2. Alexander Lowen: Bio-Energetik, S. 87; Rowohlt Taschenbuch-Verlag, Reinbek bei Hamburg, 1979 3. Alexander Lowen: Bio-Energetik, S. 86; Rowohlt Taschenbuch-Verlag, Reinbek bei Hamburg, 1979 4. www.viasell.ch 5. www.bernhardt-trainings.com 6. Jörg Knoblauch: Das Geheimnis der Champions: Wie exzellente Unternehmen die besten Mitarbeiter finden und binden, Kapitel zu Google; Hörbuch, tempus GmbH, Giengen, 2016 7. Horst Rückle: Körpersprache für Manager, S. 413 f; Verlag Moderne Industrie, Landsberg/ Lech 1992 8. https://arbeitsmarktmonitor.arbeitsagentur.de/faktencheck/fachkraefte/tabelle/515/­ 9/0/?r=&b=&o=indikatoren aufgerufen am 04.01.2019 9. Martin Gaedt: Mythos Fachkräftemangel, Wiley-VCH Verlag & Co. KGaA, Weinheim, 2014 10. Stephan Jung: Vortrag: So lebst du morgen! Im Rahmen des Studium Generale der DHBW Lörrach am 26.09.2018 11. Martin John Yate: Das erfolgreiche Bewerbungsgespräch, S. 9; Campus Verlag, Frankfurt am Main, 2005 12. Richard Conniff: Was für ein Affentheater, S. 209; Campus Verlag, Frankfurt am Main, 2006 13. Daniel Kahneman: Schnelles Denken, langsames Denken, S. 284–286: Siedler Verlag, ­München, 2012 14. Gerd Gigerenzer: Risiko, S. 145–146; btb Verlag, München, 2014 15. Kahneman: Schnelles Denken langsames Denken: Siedler Verlag, München, 2012 16. Carl Naughton: Denken lernen; Gabal Verlag GmbH, Offenbach, 2016 17. Wolfgang J. Eckelt: Kandidaten lesen, S. 110; Springer Gabler, Wiesbaden, 2016 18. Dan Ariely: Denken hilft zwar, nützt aber nichts; Droemer Knaur GmbH & Co. KG, München, 2015