Nietzsche, die Medien und die Künste im Zeitalter der Digitalisierung 9783111072890, 9783111072517

Can Nietzsche's media criticism of the contemporary mass press also be made productive for dealing with modern medi

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Nietzsche, die Medien und die Künste im Zeitalter der Digitalisierung
 9783111072890, 9783111072517

Table of contents :
Inhalt
Siglenverzeichnis
Editorial
Einleitung
Nietzsche, die Medien und Künste
Kunst, Leben, Wissenschaft: Bio-Art aus Nietzschescher Perspektive
Art and Media in the Age of Likeability: Nietzschean Perspectives
“Die Kunst in der Zeit der Arbeit”: Nietzsche on Acceleration and the Possibility of Cultural Transformation Through Art
Nietzsche, die Politik und die Öffentlichkeit
Nietzsche, Nach-Wahrheit und Medienkritik
Meinungen und Fake News: Journalismus und massenmediale Täuschungen. Nietzsches Medienkritik mit Blick auf die Digitalisierung
Nietzsche, die Daten und die Virtualisierung
Augmented Reality/Augmented Identity: Wirklichkeits- und Selbsterweiterung mit Nietzsche denken
Digitale Bruchstücke zwischen Faktalismus und Zukunftsnarration: Der Letzte Mensch und Algorithmische Regime
Nietzsche, die Maschinen und die Materialität der Medien
Friedrich Nietzsches Psychophysiologie der Philosophie
Mit Nietzsche in die Digitalität? Überlegungen im Anschluss an Nietzsches Musik- und Sprachverständnis
Nietzsche, Ashby und die logische Fiktion künstlicher Intelligenz
„[…] mit Klugheit läßt man Maschinen arbeiten, der Mensch wird mächtiger und geistiger.“ Über Friedrich Nietzsches Technikverständnis
Nietzsche als Medium
„Medium übermächtiger Gewalten“: Nietzsche und die Autotheorie
Zwischen Körper und Korpus: Nietzsche im Kino und auf digitalen Plattformen im Brasilien des 21. Jahrhunderts
Autorinnen und Autoren
Personenregister
Sachregister

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Nietzsche, die Medien und die Künste im Zeitalter der Digitalisierung

Nietzsche-Lektüren

Im Auftrag der Heidelberger Akademie der Wissenschaften und der Friedrich-Nietzsche-Stiftung herausgegeben von Andreas Urs Sommer, Sebastian Kaufmann, Katharina Grätz, Ralf Eichberg und Christian Benne Redaktionelle Verantwortung: Catarina Caetano da Rosa, Lena Gurske Wissenschaftlicher Beirat: Francisco Arenas-Dolz (Valencia), Paul Bishop (Glasgow), James Conant (Chicago/Leipzig), Jakob Dellinger (Wien), Paolo D’Iorio (Paris), Maria Cristina Fornari (Salento), Friederike F. Günther (Würzburg), Helmut Heit (Shanghai/Weimar), Beatrix Himmelmann (Tromsø), Soichiro Itoda (Tokio), Anthony Jensen (Providence), Enrico Müller (Leipzig), Axel Pichler (Stuttgart), Carlotta Santini (Paris), Philipp Schwab (Freiburg i. Br.), Hubert Thüring (Basel), Vivetta Vivarelli (Florenz), David Wellbery (Chicago), Patrick Wotling (Reims), Claus Zittel (Stuttgart)

Band 10

Nietzsche, die Medien und die Künste im Zeitalter der Digitalisierung Herausgegeben von Renate Reschke und Knut Ebeling

ISBN 978-3-11-107251-7 e-ISBN (PDF) 978-3-11-107289-0 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-107330-9 ISSN 2568-2229 Library of Congress Control Number: 2023933732 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2023 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com

Mit freundlicher Genehmigung von Ruth Tesmar

Inhalt Siglenverzeichnis Editorial

IX

1

Knut Ebeling, Renate Reschke 3 Einleitung

Nietzsche, die Medien und Künste Martin G. Weiß Kunst, Leben, Wissenschaft: Bio-Art aus Nietzschescher Perspektive Carlo Chiurco Art and Media in the Age of Likeability: Nietzschean Perspectives

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Charles Lebeau-Henry “Die Kunst in der Zeit der Arbeit”: Nietzsche on Acceleration and the 49 Possibility of Cultural Transformation Through Art

Nietzsche, die Politik und die Öffentlichkeit Martine Prange Nietzsche, Nach-Wahrheit und Medienkritik

63

Renate Reschke Meinungen und Fake News: Journalismus und massenmediale Täuschungen. Nietzsches Medienkritik mit Blick auf die Digitalisierung 89

Nietzsche, die Daten und die Virtualisierung Stephan Günzel Augmented Reality/Augmented Identity: Wirklichkeits- und Selbsterweiterung mit Nietzsche denken 115

VIII

Inhalt

Niklas Corall Digitale Bruchstücke zwischen Faktalismus und Zukunftsnarration: Der Letzte 135 Mensch und Algorithmische Regime

Nietzsche, die Maschinen und die Materialität der Medien Martin Stingelin Friedrich Nietzsches Psychophysiologie der Philosophie

155

Sybille Krämer Mit Nietzsche in die Digitalität? Überlegungen im Anschluss an Nietzsches Musik- und Sprachverständnis 171 Christina Vagt Nietzsche, Ashby und die logische Fiktion künstlicher Intelligenz

185

Manuel Clancett „[…] mit Klugheit läßt man Maschinen arbeiten, der Mensch wird mächtiger und geistiger.“ Über Friedrich Nietzsches Technikverständnis 201

Nietzsche als Medium Knut Ebeling „Medium übermächtiger Gewalten“: Nietzsche und die Autotheorie

217

Ricardo Bazilio Dalla Vecchia Zwischen Körper und Korpus: Nietzsche im Kino und auf digitalen Plattformen im Brasilien des 21. Jahrhunderts 237 Autorinnen und Autoren Personenregister Sachregister

255 259

251

Siglenverzeichnis Werkausgaben Werkausgaben nach den Kritischen Werk- /Briefausgaben von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, Berlin/New York: de Gruyter, 1967 ff., 1975 ff. und 1999. KGW Kritische Gesamtausgabe, Werke KGB Kritische Gesamtausgabe, Briefwechsel KSA Kritische Studienausgabe, Werke

Siglen einzelner Werke 1 Deutsche Siglen AC BA BAW DW EH FW GD GM GMD GT JGB MA NL NW VM WA WL WS Za

Der Antichrist Historisch-kritische Gesamtausgabe, Werke und Briefe Historisch-kritische Gesamtausgabe, Werke Die dionysische Weltanschauung Ecce homo Die fröhliche Wissenschaft Götzen-Dämmerung Zur Genealogie der Moral Das griechische Musikdrama Die Geburt der Tragödie Jenseits von Gut und Böse Menschliches, Allzumenschliches (I und II) Nachgelassene Fragmente Nietzsche contra Wagner Vermischte Meinungen und Sprüche (MA II) Der Fall Wagner Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne Der Wanderer und sein Schatten (MA II) Also sprach Zarathustra

2 Englische Siglen A BGE BT CW EH

The Antichrist Beyond Good and Evil The Birth of Tragedy The Case of Wagner Ecce homo

https://doi.org/10.1515/9783111072890-001

X

GM GS HH HL RWB WS

Siglenverzeichnis

On the Genealogy of Morals The Gay Science Human, All Too Human On the Use and Disadvantage of History for Life Richard Wagner in Bayreuth The Wanderer and His Shadow

Editorial Was wäre eine wissenschaftliche Konferenz ohne ihre Referentinnen und Referenten und ein aufmerksames Publikum? Was ein Konferenzband ohne seine Autorinnen und Autoren und seine kritischen Leserinnen und Leser? Und was wäre er ohne die notwendige finanzielle Förderung und Unterstützung und ohne einen Verlag, der seine Herausgabe übernimmt? So haben wir gute Gründe, an dieser Stelle herzlich Danke zu sagen. Wir tun es ausdrücklich und gerne. Zunächst danken wir allen, die uns ihre Beiträge zur Auswahl überlassen haben und bitten zugleich um Verständnis, dass nicht alle berücksichtigt werden konnten. Die hier aufgenommenen Beiträge geben, davon sind wir überzeugt, einen umfänglichen Eindruck der gegenwärtigen Nietzscheforschung und der medien- wie kunstwissenschaftlichen Themenkreise und Arbeitsergebnisse zum Thema, wie sie auf der Naumburger Internationalen NietzscheKonferenz 2021 Wie weiter, Herr Nietzsche? Medien und Künste im Zeitalter der Digitalisierung vorgestellt und diskutiert worden sind. – Wir danken ebenso herzlich Dr. Catarina Caetano da Rosa und Lena Gurske für ihre kompetente und umsichtige redaktionelle Einrichtung der Manuskripte sowie für die beratende Betreuung der Beiträgerinnen und Beiträger. Prof. Dr. Elmar Schenkel danken wir für die freundliche Unterstützung bei der Korrekturlektüre der englischen Texte. – Dem Direktorium der Friedrich-Nietzsche-Stiftung, vor allem dem Direktor Prof. Dr. Andreas Urs Sommer, sagen wir Dank für die Zusage ihrer großzügigen finanziellen Unterstützung bei der Drucklegung und dem Verlag Walter de Gruyter GmbH, besonders Christoph Schirmer, Senior Acquisitions Editor Philosophie, danken wir für die Aufnahme in die Reihe Nietzsche-Lektüren und die gute Zusammenarbeit bei den Vorbereitungen der Publikation. – Last but not least danken wir im Voraus allen, die bei der Lektüre auf kritische und weiterführende Gedanken kommen und sie in dem einen oder anderen medialen Format mit uns kommunizieren werden. Berlin, Januar 2023

https://doi.org/10.1515/9783111072890-002

Knut Ebeling, Renate Reschke

Knut Ebeling, Renate Reschke

Einleitung

Friedrich Nietzsche als Medienphilosoph und Theorie-Guru für die Medienwissenschaften oder als Ideengeber für kritische Besichtigungen der aufkommenden und aufstrebenden Massenmedien zu sehen: dies gehört seit Langem zum ABC aller, die sich mit dem Thema befassen. Nicht nur die French Theory, sondern, von ihr ausgehend, auch die jüngere Formation der Medientheorie, hat in Nietzsche, dem Philosophen des Scheins und der Verwandlung, ihren Doyen gefunden.¹ Schließlich philosophierte Nietzsche nicht nur unvergleichlich medial, d. h. vermittels tausenderlei gedanklicher Konstruktionen und Ideen, an deren Verfertigung er seine Leser und Leserinnen teilhaben ließ, und deren Konstruiertheit ihm bewusst war und geradezu zum Merkmal seines Philosophierens wurde. Darüber hinaus war Nietzsche jedoch auch Zeuge eines massenmedialen Schubs, der dem 19. Jahrhundert nicht nur die Massenpresse und den Journalismus, sondern auch die technischen Medien bescherte, die sein eigenes Schreiben beflügelten und veränderten, wie er am berühmten Beispiel seiner Schreibmaschine demonstriert hat. Die Bezüge zwischen Nietzsche, den Medien und Künsten sind so vielfältig, dass es scheint, es gäbe keinen anderen Philosophen des 19. Jahrhunderts, dessen Leben und Werk derart eng mit den historischen und kommenden Medien verknüpft gewesen ist. Nietzsche war nicht nur ein medial denkender und mit dem Medium der Schreibmaschine schaffender Philosoph, er war der erste Medienphilosoph überhaupt, bei dem die Medien immer eine mitlaufende Schicht und Frage seines Denkens darstellten. Nicht zuletzt darum avancierte er zum Fixstern einer einhundert Jahre später einsetzenden Medientheorie und -philosophie, die sein Bild als Philosophen mit dem Hammer durch das des Philosophen mit der Schreibmaschine ersetzte – einem Schreibwerkzeug, das ihn zu dem berühmten Eingeständnis an Heinrich Köselitz brachte, das fortan zum Evergreen der nietzscheanischen Medientheorie avancierte: „Sie haben Recht – unser Schreibzeug arbeitet mit an unseren Gedanken.“ (KGB III/1, Bf. 202) Nachdem diese Medientheorie ihre Gründerjahre hinter sich hat und in die Phase ihrer eigenen Historisierung eingetreten ist, ist es an der Zeit, das Thema Nietzsche und die Medien historisch und systematisch zu rekonstruieren. Diese Rekonstruktion ist kein leichtes Unterfangen, handelt es sich doch um ein Thema,

 Vgl. stellvertretend für viele andere: Friedrich Balke, Schriftkörper und Leseübung: Nietzsche als Stichwortgeber der Medien- und Kulturwissenschaft, in: Zeitschrift für Medien- und Kulturforschung 1/2011, hrsg. von Lorenz Engell und Bernhard Siegert, S. 11–28. https://doi.org/10.1515/9783111072890-003

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das die rein philosophische Reflexion rasch verlässt und sie um historische, kulturelle, soziale und technische Aspekte erweitert und sie zum exemplarischen Beispiel einer Medienkulturwissenschaft und -ästhetik werden lässt. Darin lassen sich methodisch fünf Schichten oder Achsen des Mediendenkens bei und nach Nietzsche unterscheiden, die in sich vielfältig sind und sich gegenseitig durchdringen und überlagern. Diese Achsen sind jedoch nicht mit den ebenfalls fünf Sektionen des vorliegenden Bandes identisch, sondern bewegen und überlagern sich in jedem der Beiträge neu. 1. In einer kulturkritischen Achse hat der Nietzsche seinen Auftritt, der selbst kritisch mit den Medien und medialen Erscheinungen seiner Zeit umging und neue Medienphänomene und Techniken frühzeitig analysierte. Diese für Nietzsche zeitgenössische Perspektive lässt sich in die heutige Medienkritik verlängern, und macht sie zum Werkzeug einer Kultur- und Medienkritik unserer krisengeschüttelten zeitgenössischen Medienumwelten: Nietzsche erscheint als Pionier eines anderen praktischen Umgangs mit Medien, und eines sozialeren Philosophierens. Seine Thematisierungen der Medien werden zu sozial- und kulturkritischen Argumentationsreihen, die fraglos aktuelles Potential besitzen. 2. Eine medienhistorische Achse analysiert Nietzsches eigene mediale Praktiken, ausgehend vom notorischen Typewriter-Nutzer, der mit seiner Malling-Hansen einen, wie man es später nennen wollte, Medienverbund gebildet, der medientechnische Interessen in den Fokus seines Philosophierens gestellt hat. Unzählige Selbstaussagen über die zunächst nicht ausbleibenden Schwierigkeiten im Umgang mit dem neuen Medium zeugen davon, ehe seine Reflexionen konstitutiv für sein Philosophieren geworden sind und ihre Aussagekraft nichts an Aktualität eingebüßt hat. Auch dass er die zeitgenössische Fachliteratur zur Kenntnis nahm und für sich zu nutzen wusste, ist belegt. 3. In einer medientheoretischen Achse wird die Entstehung einer ‚nietzscheanischen‘ Medientheorie historisch rekonstruiert und Nietzsche zum Pionier der French Theory, an der sich fast alle Autoren und Autorinnen der zeitgenössischen Medientheorie orientieren. Aus ihr entstehen sowohl die klassische Mediengeschichte, die philosophische Texte mit medialen Erfindungen und Konstruktionen gegenliest, als auch die meisten vorherrschenden Theorien des digitalen Scheins oder des Hyperrealen. 4. Eine philosophische Achse beschäftigt sich mit den medienphilosophischen Diskursen, die von Nietzsche angestoßen oder weitergeführt wurden. Hier erscheint Nietzsches Bedeutung in der und für die Technikphilosophien oder seine Vorläuferschaft für solche Spielarten der Philosophie, für die Wahrnehmung und Immersion kernbestimmend und denkzielführend werden, wie sie sich im 20. Jahrhundert entwickelt haben und im 21. Jahrhundert, den techni-

Einleitung

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schen Innovationen folgend und sie reflektierend, ihre ergebnisoffenen Resultate präsentieren. Schließlich erscheint Nietzsche in einer digitalen Achse, in deren Rahmen und Verlauf Nietzsche zum philosophischen Wegbereiter der digitalen Revolution, als Kritiker verwandter Phänomene wie der Kybernetik, der sozialen Medien oder digitaler Überwachungsstrategien geworden ist. In der Tat haben die digital humanities solche Dimensionen angenommen, dass die Forschung nach und innerhalb der digitalen Medien selbst eine eigene Disziplin geworden ist, die für kritische Nachforschungen und Nachfragen in der Tradition Nietzsches offen ist.Vor allem medienkritische Stimmen bedienen sich gern der kritischen ‚Fingerzeige‘ des Philosophen und formulieren entlang seiner strategischen Vorgaben ihre eigenen weiterführenden ‚Entdeckungen‘.

Ausgehend von solchen methodischen Unterscheidungen und um der unübersehbaren gegenwärtigen Forschungslandschaft nachvollziehbare Konturen zu geben, griff der 2021 in Naumburg (Saale) stattgefundene 31. Internationale NietzscheKongress Wie weiter, Herr Nietzsche? Medien und Künste im Zeitalter der Digitalisierung auf eine These Nietzsches zurück, die aus dem Jahr 1880 stammt: Niemand habe es bisher gewagt, aus den Prämissen des Maschinen-Zeitalters die notwendige „Conclusion“ zu ziehen (KSA 2, S. 674). Diese Behauptung diente als Ausgangspunkt für Frage- und Problemstellungen, die Nietzsche als Philosophen, Kulturkritiker und Medien-Denker befragen, wenn es um zukunftsorientierende Probleme der Möglichkeiten und Folgen der immer intensiveren Digitalisierung aller Lebens-, Kulturund Kunsträume geht, wenn der Mensch zum homo digitalis werden wird oder es bereits geworden ist. Wie oder was werden wir sein, wenn Algorithmen und KI unser Leben und unsere Entscheidungen bestimmen? Wie werden wir schreiben und denken, wenn Chat GPT das für uns übernimmt? Wie wird die Zukunft der Bildungsanstalten aussehen, die Nietzsche so umtrieb? – Herausforderungen, denen sich zu stellen auf der Tagesordnung steht. Längst teilt sich die wissenschaftliche Community in bedingungslose Befürworter solcher Prozesse und in die, die begründet glauben, warnen zu müssen. Wie der israelische Kulturhistoriker Yuval Noah Harari, der das Gefahrenpotential der Algorithmen darin sieht, dass sie den Menschen hacken und seine heimlichen Chefs werden. Andere sehen eine KI zur Herrschaft gelangen, die ohne und sogar gegen den Menschen ihren eigenen Programmen zur Realität verhilft, um ihren eigenen Innovationen Räume für deren Kreativität bereitzustellen – mit KI-internen Schlussfolgerungen, Gedächtnisleistungen und Programmen. Demgegenüber stehen Positionen, denen die Begeisterung über die neudimensionierenden Einflüsse der Digitalisierung vergangen ist, und für die die Erweiterungspotentiale medialer Kommunikation, sinnlicher Erfahrungs- und Wahrnehmungsräume oder künstlerische Bildwelten in immer

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schnelleren Zeitabläufen dennoch konstitutiv für ihre Theorieansätze sind. Mit diesen Prozessen und ihren differenten intellektuellen Reflexionen umzugehen, dafür Strategien zu entwickeln, die weder kulturpessimistische Endzeitstimmungen noch kritiklos Algorithmeneuphorien bedienen, sondern quasi Auge in Auge mit der Digitalisierung und der KI die Chancen ausloten und zugleich die Risiken bewusst zu halten, darum geht es. Da tritt Nietzsche ins Blickfeld. Oder anders: Da treten wir an Nietzsche heran mit der Frage, wie neu und/oder neu gewichtet die Probleme unserer gegenwärtigen und zukünftigen Kultur unter den Bedingungen einer allgemeinen Digitalisierung und der immer größeren Bedeutung der künstlichen Intelligenz in den künstlerischen, medientheoretischen und philosophischen Diskursen sind? Wie hat Nietzsche am Ende des 19. Jahrhunderts, zu Zeiten der Anfänge der durch technische Innovationen sich etablierenden Massenmedien und medienaffinen Künste seismographisch (wie ihm vielfach und zu Recht nachgesagt wird) Beobachtungen gemacht und Schlüsse gezogen, deren Reichweite bis in unsere Gegenwart auszuloten sind? Dabei fragt sich nicht nur, wo die Schnittstellen zwischen seinen Erkenntnissen und den Medien- und Kunstrealitäten heute liegen und wie groß sie sind, sondern auch, wie sich seine Einsicht und Forderung verwirklichen lässt, den intellektuellen und künstlerischen Mut aufzubringen, sich den Prämissen des neuen Informationszeitalters konstruktiv kritisch zu stellen, sie als methodisch wie inhaltlich konstitutiv anzunehmen, um sich der historischen wie sachbezogenen Unterschiede zu vergewissern. Lassen sich Nietzsches ‚Maschinen‘, ‚Presse‘ oder ‚Telegraph‘ einfach durch ‚Computer‘, ‚Social Media‘ oder ‚Algorithmus‘ ersetzen? Sicher nicht, aber man darf gespannt sein, inwieweit Nietzsches Blicke auf die Veränderungen in den Wahrnehmungs- und Verhaltenspraktiken deren Beeinflussbarkeit im Kern sichtbar werden lassen und seinen daraus gezogenen kulturkritischen Schlüssen Argumente geben. Können sie helfen, Antworten zu finden auf das Spektrum an Fragen, die sich im digitalen Zeitalter für den Menschen, seine Kultur und seine Zukunft ergeben? Das Plakat zu diesem Kongress, das die in Schwerin lebende Künstlerin Ruth Tesmar gestaltet hat, zeigt das bekannte Porträt Friedrich Nietzsches schräg ins Bild gesetzt und inmitten algorithmischer Zahlenkolonnen, die sich trichterförmig und unaufhörlich in den Raum ergießen, zwischen handgeschriebenen Textfragmenten, einem aufmerksamen, beobachtenden Auge und umgeben von unzähligen netzartig miteinander verbundenen und zugleich solitären Strukturen, deren scheinbare Unordnung sich jedoch durch pfeilartige Richtungspeilung sowohl zu einer beruhigenden Ordnung als auch zu zwingenden Mustern zusammenfügt. Der Philosoph selbst ist beabsichtig nicht Teil davon. Sein Konterfei ist auf den Netzwerken gelagert, vor den unendlichen Datenströmen. Als ob er wüsste, wie wichtig es ist, sich vor ihnen zu bewahren, sich nicht in sie hineinziehen zu lassen. Eine von Ruth

Einleitung

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Tesmar ins Bild gesetzte ästhetische Antwort auf unsere Fragen an Nietzsche? Jedenfalls eine, die dem Kongress und der hier vorgestellten Auswahl an Beiträgen eine bedenkenswerte Richtung vorgeschlagen hat. Medien allgemein, Massenmedien und Künste, auf die sich die Beiträge im Einzelnen konzentrieren, sind gewiss nur ein Ausschnitt aus dem Spektrum der groß angelegten Thematik. Sie sind wesentliche kulturelle Bereiche, von denen die Veränderungen ausgehen und deren Inhalt sie bilden. Dazu mit Nietzsche ins ‚Gespräch‘ zu kommen, hieß für alle, den Philosophen in seinem ureigensten Denkterrain aufzusuchen und zugleich sich im Zentrum gegenwärtiger, uns angehender Themen zu befinden. Künstliche Intelligenz und homo digitalis wären weitergehende zentrale Themen und Problemfelder. Wenn auch nicht explizit verhandelt, geben sie aber den generellen Background. Vor dem Hintergrund dieser einführenden Überlegungen haben wir die Beiträge unter fünf Schwerpunkte gegliedert, wenngleich uns und den Autorinnen und Autoren bewusst ist, dass sich die Themen in ihren konkreten Ausschreibungen kreuzen, überlagern oder wechselseitig sich ihre Argumentationsketten zuspielen:

1 Nietzsche, die Medien und Künste Nietzsches kritisch-skeptisches Interesse bildet den Hintergrund für den Blick auf die modernen Künste. Wenn auch dieses Interesse Nietzsches ‚aristokratischem‘ (Chiurco) Kunstverständnis zuwiderzulaufen scheint, gibt es unzählige Beispiele seiner Beschäftigung mit populären Künsten und Medien. Carlo Chiurco diskutiert anhand von Nietzsches Kunstphilosophie aktuelle Entwicklungen in der Performancekunst und in verbreiteten Selbsttechniken. Ausgehend von Nietzsches Bewertungen populärer „Techniken des Selbst“ (Michel Foucault), wie sie in der Performancekunst oder auch beim Bodybuilding zum Einsatz kommen, entwickelt der Beitrag eine nietzscheanische Perspektive auf aktuelle mediale Phänomene in den sozialen Medien sowie in derzeitigen Tendenzen der Virtualisierung breiter Lebensbereiche. Angesichts Nietzsches Musikphilosophie beschäftigt sich der Beitrag von Charles Lebeau-Henry mit Nietzsches Umgang mit populären Medien wie beispielsweise der von ihm genutzten Klavierauszüge. Über diese seltene Beschäftigung mit damals populären Medien – sowie den jeweiligen technischen Bedingungen – kommt der Autor zur Diskussion aktueller musikalischer Medien, wie sie beispielsweise in der Entwicklung der Muzak bestehen, einem aktuellen Musikstil zur Effizienzsteigerung. Martin G. Weiß wiederum widmet sich einer ungleich unpopuläreren Kunstrichtung aus nietzscheanischer Perspektive, der Bio-Art des brasilianisch-amerikanischen Künstlers Eduardo Kacs. Im Werk von Eduardo Kacs deckt sich für Weiß dessen „Hinterfragung des Reduktionismus der modernen Biologie

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[…] mit Nietzsches Kritik am Positivismus der modernen Naturwissenschaften.“ Dagegen beschwöre Nietzsche den „unaufhörlichen Wechsel der Erscheinungen“ und stehe für die Unverfügbarkeit des Lebens – auch des biologischen Lebens – ein.

2 Nietzsche, die Politik und die Öffentlichkeit Ein weiteres großes Feld stellt Nietzsches Umgang mit Öffentlichkeit(en) dar, gerade auch im Hinblick auf politische Fragen und Interventionen – Fragen, die unmittelbar auf heute aktuelle Problemfelder verweisen. Martine Prange nimmt angesichts der ‚Nach-Wahrheitsgesellschaft‘ die gegenwärtigen Angriffe auf die philosophische Postmoderne als Anlass für eine Neuverortung Nietzsches zwischen Aufklärung und Irrationalismus. Sie plädiert für eine aufklärerische Lesart Nietzsches, die die Grenzen der Vernunft befragt und entwickelt mit Foucault eine neue philosophische Frage der Post-Truth-Gesellschaft. Diese um die Wahrheit und das Wahrsprechen zentrierte Frage rekonstruiert sie bei Michel Foucault und Nietzsche, um die Frage anschließend medial zu wenden. Das heißt, mit Bezug auf die Medienphilosophie Neil Postmans,Wahrheit und Technik,Wahrheit und ihre medialen Präsentationen nicht nur zu thematisieren und sie in die Mitte notwendiger Positionsbestimmungen zu stellen, sondern zugleich auf ihre interne Widersprüchlichkeit und ihr Konfliktpotential aufmerksam zu machen. Renate Reschke nimmt Nietzsches generelle Kritik des zeitgenössischen Journalismus und des Massenmediums Presse zum Ausgangspunkt seiner bis heute nicht abgegoltenen Medienkritik, die zugleich eine tiefgreifende Kultur- und Gesellschaftskritik ist. Seit das Medium Massenpresse zur Herrschaft gekommen ist und die gesamte Bildung okkupiert hat, seit die dazugehörige Journalistenzunft sich in den Stand der Meinungs- und Wertebildner hochgearbeitet hat, ist Informiertsein das Ziel aller Bildung, Zeitunglesen der Weg zu manipulierender Anleitung zu politischem und sozialem Verhalten. Was am Ende des 19. Jahrhunderts sich in ersten Konturen abzeichnete, potenziert sich unter den Bedingungen und Möglichkeiten digitaler Medien um ein Vielfaches, wie kritischer Journalismus und medienwissenschaftliche Diskurse am Beginn des 21. Jahrhunderts zeigen.

3 Nietzsche, die Daten und die Virtualisierung Die Digitalisierung und Virtualisierung aller Lebensbereiche stellt einen weiteren Fragenhorizont dar, der mit Nietzsches Blick von der Konferenz perspektiviert wurde. – Niklas Corall diskutiert Nietzsche in sozialphilosophischer Perspektive, indem er seine Philosophie der Nicht-Normativität rekonstruiert. Diese wird im

Einleitung

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Hinblick auf aktuelle algorithmische Regime thematisiert, in denen die Normalität zur Normativität wird. Corall erhebt mit Michel Foucault Einspruch gegen die Diagnose einer individualisierten Gesellschaft und hält dem deren quantifizierbare und algorithmisierbare Aspekte entgegen. Indem die möglichst verlustfreie Ersetzung menschlicher Archivare durch digitale untersucht wird, zeigt sich, dass der Mensch durch ‚Data-Doubles‘ ersetzt werden kann. Demgegenüber stelle Zarathustra das ‚Dichten‘ menschlicher Zukunftsnarrative und damit das beständige ‚Rätselrathen‘ menschlicher Zukunft in den Fokus. Stephan Günzel diskutiert in seinem Beitrag verschiedene neuere Medientechnologien aus der Unterhaltungsund Überwachungsindustrie aus der Perspektive Nietzsches. Nach der Unterscheidung verschiedener geläufiger Begriffe wie Virtual oder Augmented Reality schließt er diese Technologien mit den von Nietzsche benutzten wie der Schreibmaschine kurz. Nachdem Nietzsches Konzeptionen mit medienhistorischen Begriffen abgeglichen wurden, kommt Günzel zu deren Einflechtung in Konzeptionen René Descartes, Immanuel Kants und Arthur Schopenhauers, um schließlich den Begriff eines erweiterten Geistes zu entwickeln.

4 Nietzsche, die Maschinen und die Materialität der Medien Ein großes Thema der Medientheorie ist Nietzsches ‚materieller‘ Blick auf Medien, der einen ganzen postnietzscheanischen Medien-Materialismus aus der Taufe gehoben hat. Eine entsprechende Archäologie von Nietzsches Medientheorie führt Martin Stingelin durch, der anhand von Nietzsches Bibliothek dessen Materialismus rekonstruiert: Diejenige Materialität, die später einmal als Materialität der Medien von Nietzsche ausbuchstabiert werden sollte, gelangte unter anderem durch das zeitgenössische physiologische und psychologische Denken zu Nietzsche. Indem Stingelin diese Quellen des verschütteten Physiologie-Diskurses des 19. Jahrhunderts wieder zugänglich macht, leistet er einen, mittlerweile klassischen, Beitrag zu Nietzsches Medientheorie der Sprach- und Erkenntnistheorie, wie sie nicht zuletzt in Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne anzutreffen ist. Sybille Krämer widerspricht in ihrem Beitrag der These von Nietzsche als Wegbereiter einer medialen Reflexion über Digitalität. Auf der Grundlage seines Musikverständnisses und seines Konzepts der mündlichen Sprache rekonstruiert sie den vordigitalen Zustand einer ursprünglichen Tonalität bei Nietzsche, die sowohl verbinde als auch trenne. Krämer zeigt, dass wir mit Nietzsche die Illusionen digitaler Kommunikation aufgeben und erkennen können, dass die vernetzte Kommunikation kein Akt der Emanzipation ist, sondern vielmehr ein Brennspiegel für

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Knut Ebeling, Renate Reschke

die Triebe, Abgründe und Potenziale menschlicher Interaktionen. Christina Vagt befragt im Anschluss an Nietzsches Sprachkritik und seiner Schreibmaschinenpraxis dessen Anschlussfähigkeit an das Maschinendenken sowie an frühe Theorien der künstlichen Intelligenz. Dem kybernetischen Positivismus des Psychiaters und Mathematikers William Ross Ashby beispielsweise hält sie Nietzsches Sprachskepsis entgegen: Während es Kybernetik und KI darum gehe, Maschinen zu bauen, die besser denken können als der Mensch, widerspricht Vagt dieser gängigen KI-Theorie mit Nietzsche durch den Verweis auf menschliche Fehlleistungen und Metaphernbildungen. Dem Technikbegriff Nietzsches widmet sich Manuel Clancett, der ihn weder als fatalistischen und nihilistischer Denker sieht, der die Übermacht der Technik über den Menschen betont, noch einem postmodernen Transhumanismus das Wort redet. Neben skeptischen Äußerungen findet Clancett auch Aussagen, in denen Nietzsche sich anerkennend über die Technisierung der Gesellschaft äußert und das Verhältnis von Mensch und Technik weder als ein rein verhängnisvolles noch als rein affirmatives Verhältnis versteht. Zwar kritisiere Nietzsche die Art und Weise, wie die Gesellschaft in ihrer arbeitsteiligen Produktion die Technik als Mittel zur Unterwerfung des Menschen behandle. In der Figur des Zarathustra plädiere Nietzsche jedoch für Praktiken, in denen er die Lösung für die Wiederherstellung eines Subjekts sieht, das in der Lage ist, die Technik als vernünftiges Mittel zum Zweck zu nutzen.

5 Nietzsche als Medium Eine abschließende Sektion wendet sich Verwendungen und Anverwandlungen Nietzsches zu, die seine Person und sein Schreiben selbst als Medium verstehen – für filmische Adaptionen ebenso wie für autofiktionale und autotheoretische Schreibweisen, die im Anschluss an Nietzsche erprobt werden. Ricardo Bazilio Dalla Vecchia wendet sich in transkultureller Perspektive dabei verschiedenen marginalen Video-Adaptionen Nietzsches zu, die in den letzten Jahren in Brasilien kursieren. Er entfaltet die nicht-akademische Rezeption Nietzsches im 21. Jahrhundert anhand von zwei Beispielen aus dem Kino und von digitalen Plattformen, die Nietzsche inmitten sozialer und politischer Kämpfe rekontextualisieren oder ihn in eine Umgangssprache voller Slang und Performance übersetzen. Knut Ebeling diskutiert Nietzsches Ecce Homo als Beginn des Diskurses der Autotheorie, der heute vor allem von feministischen Theoretikerinnen und Theoretikern vertreten wird. Indem Nietzsche historische Medien wie das Dynamometer eingesetzt und adaptiert habe, machte er sich selbst zum Instrument und zum Medium seiner Philosophie. Bis zu Ecce Homo steigert sich eine autotheoretische Dynamik, die am Ende nicht mehr zwischen Theorie und Autobiographie unterscheidet und auf diese

Einleitung

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Weise ein fiktives Ich in das autotheoretische Werk einschreibt. Als Geste der Selbstermächtigung interpretiert, unterläuft dieses autotheoretische Schreiben sowohl patriarchale als auch westliche Herrschaftsgesten, was heute sowohl von postkolonialen als auch von feministischen Diskursen aufgegriffen wird. Berlin, Januar 2023

Knut Ebeling, Renate Reschke

Nietzsche, die Medien und Künste

Martin G. Weiß

Kunst, Leben, Wissenschaft: Bio-Art aus Nietzschescher Perspektive Abstract: Art, Life, Science. Bio-Art from a Nietzschean Perspective. Bio-Art i. e., art that works with living material, explores the meaning and relationship of some of the key notions of modernity: „Science“, „Technology“, „Art“ and „Life“. So did Nietzsche. Therefore, after giving a tentative general definition of Bio-Art, the paper offers an Nietzschean interpretation of a specific work of art: Eduardo Kac’s „Genesis“-installation first exhibited in 1999. Looking at this artwork from an Nietzschean perspective reveals that it exemplifies three main points of Nietzsche’s philosophy: The critic of a reductionist and reifying concept of nature and life, the invocation of a pluralist interpretation of reality, and a vision of the essence of Being as Becoming.

In der Bio-Art, also jener aktuellen Kunstrichtung, die versucht Lebewesen bzw. lebendes Gewebe zum Material von Kunstwerken zu machen, spielen die Begriffe Wissenschaft bzw. Technik im Sinne der Technosciences ¹, Kunst und Leben eine zentrale Rolle – Begriffe also, denen auch im Werk von Nietzsche eine große Bedeutung zukommt. Im Folgenden möchte ich daher kurz klären, was ich unter BioArt verstehe, um dann ein konkretes Kunstwerk dieser Kunstgattung, Eduardo Kacs Genesis-Installation aus dem Jahr 1999, aus Nietzschescher Perspektive zu interpretieren. Dabei wird sich zeigen, dass Kacs Kunstwerk mindestens in drei Punkten mit Nietzsches Denken konvergiert: Erstens in einer Kritik der vergegenständlichenden reduktionistischen Weltdeutung der Technowissenschaften; zweitens in einer damit zusammenhängenden Forderung, eine Pluralität von Weltbildern offen zu halten und der Komplexität der Wirklichkeit dadurch gerecht zu werden, dass man sie multiperspektivisch betrachtet; und drittens in einem Verständnis des

 Unter Techno-Wissenschaft versteht man den Umstand, dass in der zeitgenössischen Forschung die Wissenschaft ihrer technischen Anwendung nicht mehr vorhergeht, sondern Wissenschaft immer schon durch Technik bedingt ist: „Wissenschaftliche Forschungsprozesse sind nicht nur abhängig von technologischem Wissen und Können, sie werden auch zunehmend durch dieses Wissen und Können gelenkt. Technologie ist nicht nur Anwendung, sondern auch Voraussetzung für Wissenschaft, die damit selbst ‚technische‘ Züge annimmt. Die alte Gewaltenteilung – Technik, die über die Gesellschaft, und Wissenschaft, die über die Technik herrscht – gilt, was das Verhältnis von Wissenschaft und Technik betrifft, nicht mehr.“ (Mittelstraß 1993, S. 23). https://doi.org/10.1515/9783111072890-004

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Martin G. Weiß

Wesens des Seins als Werden, Spontaneität bzw. Wille, wie es der frühe Nietzsche in der Geburt der Tragödie beschreibt.

1 Bio-Art Als Geburtsstunde der Bio-Art gilt die Ausstellung Edward Steichen’s Delphiniums, die 1936 im MoMa in New York stattfand (vgl. Reichle 2005, S. 28; Gedrim 2007, S. 347– 371). In der diese Rittersporn-Ausstellung ankündigenden Pressemitteilung des MoMa war zu lesen: It will be an exhibition of ‚Steichen Delphiniums’ – rare new American varieties developed through twenty-six years of cross-breeding and selection by Edward Steichen. Although Mr. Steichen is widely known for his photography, this is the first time his delphiniums have been given a public showing. They are original varieties, as creatively produced as his photographs. To avoid confusion, it should be noted that the actual delphiniums will be shown in the Museum – not paintings or photographs of them. It will be a ‚personal appearance’ of the flowers themselves.²

Bereits in dieser ersten Bio-Art-Ausstellung waren die hergestellten und gezeigten Kunstwerke Lebewesen, genauer „persönlich erscheinende“ Blumen. Bio-Art begnügt sich also nicht damit, Leben zu repräsentieren, sondern versucht im Medium des Lebendigen zu arbeiten, obschon auch vagere Definitionen in Umlauf sind. Denn obwohl heute niemand auf die Idee [käme], die konzeptuell in Öl gemalten Joysticks, Mäuse und Kabelsalate von Miltos Manetas als Computer- oder Medienkunst einzustufen, so geistert groteskerweise selbst in einschlägigen Publikation noch die Vorstellung umher, Biokunst sei an den repräsentierten Inhalten festzumachen: Biofiktionen in Erscheinung von ChimärenSkulpturen, DNA-Portraits, Chromosomen-Malerei oder Mutanten darstellende digitale Phototricks sind ebenso wenig Biokunst wie Claude Monets Impressionismus ‚Seerosen- oder Kathedralen-Kunst’ wäre. (Hauser 2005, S. 188)

Schematisch lassen sich mit Jens Hauser vier, die Biokunst im engeren Sinne auszeichnende Aspekte benennen: 1. Biokunst re-materialisiert sich zunehmend, die Faszination für den ‚Code des Lebens’ weicht einer phänomenologischen Auseinandersetzung mit Wetwork. 2. Statt darstellender Objekte, Abbilder oder Simulationen rücken transformatorische Prozesse mit Performance-Charakter in den Mittelpunkt. 3. Biokunst zieht zunehmend das Interesse von Performance-Künstlern der

 The Museum of Modern Art (1936).

Kunst, Leben, Wissenschaft: Bio-Art aus Nietzschescher Perspektive

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Bodyart auf sich, zwischen beiden Feldern gibt es Strukturverwandtschaften. 4. Als Medium der Biokunst lässt sich keine stoffliche oder verfahrenstechnische Definition festschreiben – die ‚Manipulation von Lebensmechanismen’ nimmt diskursiv und technisch stark unterschiedliche Formen an. (Hauser 2005, S. 189)

Definiert man Biokunst im engeren Sinne als Kunst, die im Medium des Lebendigen arbeitet, schränkt sich das Feld der Biokünstler und Biokünstlerinnen ein, obschon die Bandbreite möglicher Ausdrucksformen immer noch sehr weit bleibt. Denn zur Biokunst gehören dann die Werke der mit ihren Körpern arbeitenden Performance-Künstler/-innen Marina Abramović (die ihren Körper physischer und seelischer Gewalt aussetzt), Orlan (die ihrem Leib unzählige ästhetisch-chirurgische Eingriffe zumutet) und die Aktionen von Stelarc (der die Grenzen seines Körpers durch technische Prothesen und Implantate auslotet) ebenso wie die „transgene Kunst“ eines Eduardo Kac. Der 1962 in Rio der Janeiro geborene Künstler definiert „transgene Kunst“ folgendermaßen: Transgenic art […] is a new art form based on the use of genetic engineering techniques to create unique living beings. This can be accomplished by transferring synthetic genes to an organism, by mutating an organism’s own genes, or by transferring natural genetic material from one species into another. Molecular genetics allows the artist to engineer the plant and animal genomes and create new life forms. The nature of this art is defined not only by the birth and growth of a new plant or animal but above all by the nature of the relationship among artist, public, and transgenic organism. (Kac 2005, S. 236)

Ähnlich einem Frühwarnsystem oder einem „Vorausdenksystem“, nimmt die Kunst, in diesem Fall die Bio-Art, Entwicklungen in der Wissenschaft, hier der Biologie, zumindest konzeptuell voraus und stellt sie zur Diskussion, noch Jahre bevor sie in der Wirklichkeit erscheinen. Dabei ist Bio-Art oftmals Konzeptkunst, also eine Kunstform, in der die einem Werk zugrundeliegende Idee wichtiger ist als deren Konkretisierung. Ein beredtes Beispiel für diese Konzept-Bio-Art ist Kacs Werk GFP Bunny ³, also „Grün-fluoreszierendes Kaninchen“, aus dem Jahr 2000, das in der

 „Eines der heute wichtigsten Werkzeuge in der Zellbiologie ist das Green Fluorescent Protein (GFP). Dieses aus der Qualle Aequorea victoria stammende, grün fluoreszierende Protein wurde 1961 von Osamu Shimomura beschrieben. Bei Anregung mit blauem (oder UV-Licht) fluoresziert dieses Protein grün. Seine enorme Bedeutung liegt in der Möglichkeit, Zellen und sogar ganze Organismen mit diesem GFP-Gen zu transformieren. Dazu wird das GFP-Gen alleine oder mit beliebigen anderen Proteinen Gen-spezifisch fusioniert in die Zelle eingeschleust. Die Zelle produziert nun entweder das GFP alleine oder gemeinsam mit der Synthese des gekoppelten Proteins […]. Die Transformierung ist zwar sehr aufwendig, dafür ist die Präparation sehr einfach und die Zellen werden bei weitem weniger beeinflusst als durch Farbstoffe. Mittlerweile gibt es Varianten des original GFP, die

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Ankündigung der Erschaffung eines genetisch veränderten, unter UV-Licht fluoreszierenden Kaninchens namens Alba bestand. Und das, obwohl das beteiligte französische Gentechniklabor bestritt, dass es Alba in der von Kacs kolportierten Form überhaupt gab bzw. erklärte, dass ähnlich genetisch manipulierte Kaninchen regelmäßig zu Forschungszwecken hergestellt würden. Dennoch genügte allein die Ankündigung Kacs, ein Lebewesen ausdrücklich als zweckfreies Kunstwerk hergestellt zu haben und die darauf folgende Medienkampagne zur Befreiung von Alba aus dem Labor (das sich angeblich weigerte, es Kac auszuhändigen, um es als Haustier zu halten), um öffentliche Diskussionen anzustoßen, die es bis auf die ersten Seiten verschiedener Tageszeitungen und in internationale Fernsehnachrichten der BBC und ABC brachten. Ob es das Kunstwerk-Kaninchen wirklich je gab, oder nur sein Konzept, spielt dabei nur eine untergeordnete Rolle, sein bloßes Möglichsein war bereits wirkmächtig, das heißt wirklich, insofern es genau die Debatte über das Verhältnis von Wissenschaft, Leben, Kunst und Ethik ausgelöst hat, die Kac anstoßen wollte. Kac selbst schreibt: Meine transgenetische künstlerische Arbeit ‚GFP Bunny‘ umfasst die Schöpfung eines fluoreszierenden Hasen, den öffentlichen Dialog, der durch das Projekt entsteht und die soziale Integration des Hasen. (Kac 2000)

1.1 Synthetische Biologie ex ante Ein Beispiel für die vorausahnende, seismographische, ja divinatorische Funktion der Bio-Art Kacs stellt auch ihr Verhältnis zur Synthetischen Biologie dar. Anders als Kacs genetisch manipuliertes Kaninchen, schaffte es die Synthetische Biologie erst 2010 auf die Titelseiten der Tageszeitungen und Nachrichtenmagazine. Damals war es einem Forscherteam um den Biologen und Unternehmer Craig Venter, der für die Durchführung des „Human Genome Project“ bekannt ist, gelungen, das Genom einer Bakterienzelle durch das Genom einer sehr eng verwandten Art – das zuvor analysiert, digitalisiert und dann in Hefezellen synthetisiert worden war – zu ersetzen (vgl. Weiß 2011, S. 173–195). Die Zeitungen sprachen von der Erschaffung von Leben. Eine gute Illustration des Verständnisses dessen, was Craig Venter und sein Team getan hatten, lieferte das Titelbild des Economist. Unter der Überschrift And Man made Life war eine Variante von Michelangelos berühmter Darstellung der Beseelung Adams durch die Hand Gottes aus der Sixtinischen Kapelle zu sehen; nur auch in anderen Farben fluoreszieren. Entsprechend sind sie auch benannt: Blue Fluorescent Protein – BFP, Cyan Fluorescent Protein – CFP,Yellow Fluorescent Protein – YFP.“ (Volgger 2008, S. 171)

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dass hier nicht Gott den Menschen beseelt, sondern Adam Bakterien mit Hilfe eines Laptops auf seinem Schoß, der offensichtlich sein natürliches Zeugungsorgan ersetzt hat. Das Ziel der Synthetischen Biologie ist es, ein Minimal-Genom herzustellen, das lediglich die lebensnotwendigen Funktionen erfüllt, um es dann in einem zweiten Schritt um beliebige Eigenschaften erweitern zu können. Dabei geht es natürlich nicht darum, die neu erschaffenen Lebewesen mit ästhetischen Eigenschaften auszustatten, sondern mit nützlichen. Denn aus der Perspektive des Biokapitalismus (Sundar Rajan 2009) lässt sich die Welt und das Dasein nur als ökonomisches Phänomen rechtfertigen. Der deutsche Genetiker Michael Bölker fasst das Wesen und die Ziele der Synthetischen Biologie folgendermaßen zusammen: Das erklärte Ziel der Synthetischen Biologie ist die rationale Konstruktion neuartiger biologischer Systeme, die in dieser Form bisher in der Natur nicht existieren. Zur Erreichung dieses Ziels wurden bereits Zellen mit einem minimalisierten Genom erzeugt, die als Chassis für die Konstruktion synthetischer Zellen mit maßgeschneiderten Eigenschaften dienen sollen. Von diesen synthetischen Zellen erhofft man sich viele praktische Anwendungsmöglichkeiten, die von der Erzeugung von Biotreibstoffen in großem Maßstab bis zum gezielten Einsatz für biomedizinische Zwecke reichen. Die ingeneurmäßige Konstruktion solcher synthetischer Lebensformen wird durch die Verwendung standardisierter biologischer Funktionseinheiten (Biobricks) ermöglicht, die sich auf einfache und vielfältige Weise miteinander verknüpfen lassen. Dieser synthetische Zugang zur Biologie erlaubt nicht nur die Herstellung neuer Lebensformen, sondern liefert auch entscheidende Einsichten in die Designprinzipien natürlicher biologischer Systeme. Die technische Dekonstruktion und synthetische Rekonstruktion lebender Zellen berührt aber auch die grundlegende Frage nach dem Leben als solchem. (Bölker 2011, S. 27)

Ein dem biosynthetisierten Genom des von Venter künstlich hergestellten Bakteriums eingeprägtes genetisches Wasserzeichen – das in nicht-codierenden zusätzlichen DNS-Abschnitten besteht, deren Basenfolgen sich mithilfe eines im Internet publizierten Schlüssels in Buchstaben zurückübersetzen lässt – gibt denn auch das erkenntnistheoretische Motto der Synthetischen Biologie wieder, das in dieser Form auf Richard Feynman zurückgeht: „What I cannot create, I do not understand.“⁴ Bei diesem ingeneurwissenschaftlichen erkenntnistheoretischen Paradigma der Synthetischen Biologie handelt es sich in Wahrheit aber um nichts Neues, sondern um die Übernahme der Verum-factum-convertuntur-Hypothese des neu-

 Ein Foto einer Schiefertafel mit diesem Satz in Richard Feynmans Handschrift – der freilich meistens falsch in der Formulierung „I cannot understand, what I cannot build“ zitiert wird – ist auf der Homepage des California Institute of Technology abrufbar. (Feynman 1988)

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zeitlichen italienischen Philosophen Giambattista Vico, freilich in einer biochemisch-reduktionistischen, das heißt letztlich mechanistischen, Schwundform. In den Worten Hans Jonas’: Am Anfang des 18. Jahrhunderts verkündete Vico den Grundsatz, daß der Mensch nur verstehen kann, was er selber gemacht hat. Daraus folgerte er, daß nicht die Natur, die als von Gott gemachte dem Menschen gegenübersteht, sondern die Geschichte, die des Menschen eigenes Gemächte ist, vom Menschen verstanden werden kann. Nur ein factum – was gemacht wurde – kann ein verum sein. Aber indem er diesen Grundsatz der kartesischen Naturwissenschaft entgegensetzte, übersah Vico den Umstand, daß der Grundsatz – wenn nur ‚gemacht wurde’ zu ‚gemacht werden kann’ erweitert wird – auf die Natur sogar besser als auf die Geschichte paßt […]. Eine Sache kennen heißt wissen, wie sie gemacht ist oder gemacht werden kann, und heißt daher im Stande sein, den Herstellungsvorgang zu wiederholen oder zu variieren oder vorwegzunehmen. […] Der Mensch kann nicht einen kosmischen Nebel reproduzieren, aber angenommen er wisse, wie einer in der Natur produziert wird, wäre er im Prinzip im Stande, ebenfalls einen zu produzieren, wenn er genügend mächtig usw. wäre – und das ist es, was ein Wissen von den kosmischen Nebeln zu haben heißt. In Schlagwortform ausgedrückt ist das moderne Naturwissen, ungleich dem antiken, ein ‚Bescheidwissen, wie’, nicht ein ‚Wissen, was’, und macht auf dieser Grundlage Bacons Behauptung wahr, daß Wissen Macht sei. (Jonas 1991, S. 331)

Hannah Arendt nennt die Vorstellung, nach der vom Subjekt nur verstanden (erkannt, begriffen) werden kann, was es selbst hergestellt hat, den „neuzeitlichen, pragmatischen Wahrheitsbegriff […], demzufolge der Mensch nur wissen kann, was von Menschen gemacht ist oder im Prinzip auch von ihnen gemacht werden kann […].“ (Arendt 2001, S. 22) Nietzsche formuliert das Konzept in einem Nachlassfragment folgendermaßen: „Wir können nur eine Welt begreifen, die wir selber gemacht haben.“ Allerdings geht es bei Nietzsche nicht um die (potentielle) Herstellung von komplexen Gebilden aus atomaren Materieteilchen, sondern um die künstlerische Erschaffung der Welt im Rahmen seines auf Überleben ausgerichteten erkenntnistheoretischen und moralischen Perspektivismus. Das ganze Fragment lautet: ‚Der Sinn für Wahrheit‘ muß, wenn die Moralität des ‚Du sollst nicht lügen‘ abgewiesen ist, sich vor einem anderen Forum legitimiren. Als Mittel der Erhaltung von Mensch, a l s M a c h t – w i l l e . — ebenso unsere Liebe zum Schönen ist ebenfalls der g e s t a l t e n d e W i l l e . Beide Sinne stehen bei einander – der Sinn für das Wirkliche ist das Mittel, die Macht in die Hand zu bekommen, um die Dinge nach unserem Belieben zu gestalten. Die Lust am Gestalten und Umgestalten – eine Urlust! Wir können nur eine Welt b e g r e i f e n , die wir selber g e m a c h t haben. (NL 1884, KGW VII/2, S. 134)

Arendt macht in ihrer Formulierung auf einen wichtigen Aspekt des ingenieurwissenschaftlichen erkenntnistheoretischen Prinzips aufmerksam, dem wir bereits

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bei Jonas begegnet sind: Zumindest in seiner weiteren, über Vico hinausgehenden Fassung, behauptet das Prinzip nämlich nicht, dass etwas erst dann erkannt werde, wenn es tatsächlich hergestellt wird – was in Bezug etwa auf das Sonnensystem auch unsinnig wäre –, sondern lediglich, dass alles, was überhaupt verstehbar ist, prinzipiell als herstellbar, also in Analogie zum Hergestellten, gedacht werden müsse. Das aber heißt, dass etwas zu verstehen bedeutet, zu wissen, was getan werden müsste, wollte man es herstellen (unter der hypothetischen Annahme, man besäße die nötigen Mittel und Kräfte dies zu tun). Verstehbar ist lediglich, was als herstellbar vorstellbar ist. Die Welt ist damit immer schon als hergestellte, zumindest herstellbare, konzipiert. Folgerichtig werden in der Synthetischen Biologie Lebewesen als biologische Computer bzw. nasse Computer-Netzwerke betrachtet. (vgl. Andrianantoandro et al. 2006)

2 Genesis Eduardo Kacs transgenetisches Kunstwerk ‚Genesis‘ aus dem Jahr 1999 hat einige Möglichkeiten der Synthetischen Biologie nicht nur vorweggenommen, etwa die Idee der DNS eines künstlich erzeugten Bakteriums ein Zitat einzuschreiben, sondern hat mit Hilfe derselben Methoden der Synthetischen Biologie deren zugrundeliegendes reduktionistisches Verständnis von Leben ex ante in Frage gestellt und den Versuch unternommen, alternative Sichtweisen auf biologisches Leben offen zu halten. Kacs transgenetisches Kunstwerk ⁵ Genesis wurde zum ersten Mal 1999 auf der Ars Electronica in Linz präsentiert. Craig Venters Idee vorwegnehmend, im Genom genetisch veränderter Lebewesen in Buchstaben des Alphabets rückübersetzbare nichtcodierende Basenfolgen einzubauen (um dem veränderten Lebewesen so buchstäblich eine Botschaft einzuschreiben), hat Kac den berüchtigten Genesis-Vers „Seid fruchtbar und vermehrt euch, bevölkert die Erde, unterwerft sie euch und herrscht über die Fische des Meeres, über die Vögel des Himmels und über alle Tiere, die sich auf dem Land regen“ (Gen 1,28) – der in der klassischen Auslegung das Dominium terrae des Menschen postuliert – zuerst in binären Morsecode⁶ und

 1993 schreibt Peter Weibel: „Die genetische Kunst ist Erforschung des künstlichen Lebens wie dessen Kritik. Sie ist eine der wenigen Kunstformen der Gegenwart, die nicht rein kunstimmanent bleibt, sondern sich zentralen Punkten des Lebens nähert.“ (Weibel 1993, S. 421)  „I employed Morse code not out of a technical need but as a symbolic gesture meant not to expose the continuity of ideology and technology and to reveal important aspects of the rhetorical strategies of molecular biology. Samuel Morse embraced the radical Protestant movement of the 1830s known as nativism. The nativist platform was racist, anti-immigrant, anti-Catholic, and anti-Semitic. All his

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diesen dann in DNS-Basenpaare übersetzt, um ihn so seinen Genesis-Bakterien ins Erbgut einzupflanzen.⁷ Das auf diese Weise veränderte Erbgut der Bakterien, die in der Installation ausgestellt wurden, konnte dann von den Besuchern der Ausstellung oder via Internet von entfernten usern mithilfe einer UV-Lampe willentlich Mutagenen ausgesetzt werden. Nach der Ausstellung wurde das durch den Eingriff der Besucher erneut veränderte Genom der Genesis-Bakterien dann analysiert und die Veränderungen des in ihm enthaltenen Bibelverses dokumentiert: Genesis is a transgenic artwork […]. The key element […] is […] a synthetic gene that was created by translating a sentence from the biblical Book of Genesis into Morse code, and converting the Morse code into DNA base pairs […]. The sentence reads: ‘Let man have dominion over the fish of the sea, and over the fowl of the air and over every living thing that moves upon the earth.’ […] The Genesis-gene was incorporated into bacteria, which were shown in the gallery. Participants on the Web could turn on an ultraviolet light in the gallery, causing real, biological mutations in the bacteria. This changed the biblical sentence in the bacteria. After the show, the DNA of the bacteria was translated back into Morse code and then back into English. The mutation that took place in the DNA had changed the original sentence from the Bible. (Kac 2007, S. 164; vgl. auch Reichle 2005, S. 48–76)

Im Werk Genesis wird die Infragestellung der mechanistisch-reduktionistischen Deutung biologischen Lebens, das vom Herstellungsparadigma und der Identifikation von Lebewesen mit Biochemischen Maschinen geleitet ist, von Kac zunächst dadurch vollzogen, dass er aufzeigt, dass jeder willkürliche Manipulationsversuch life Morse hated and feared American Catholics, supported denying citizenship to the foreign-born, and wrote pamphlets against the abolishment of slavery. In my work Genesis, the translation of the KJV [King-James-Version] Genesis passage into Morse code represents the continuity from fierce British colonialism to the bigotry of nativist ideology. The industrialization of North America, in tandem with technological hegemony, was based on the gargantuan profits amassed from the slave trade in the eighteenth century. In 1844 Morse sent the first telegraphic message, from Baltimore to Washington, D.C.: ‘What hath God wrought!’ The translation from KJV/Morse to a gene is meant to reveal the continuity between imperialist ideology and the reductionist view of genetics, both focused on suppressing the complexity of historic, political, economic, and environmental forces that make up social life.“ (Kac 2005, S. 261–262) – Schrödinger verwendet die Morsemetapher in seinem erstmals 1944 erschienenen „Was ist Leben?“: „Es wurde oft gefragt, wie diese winzigen Stückchen Substanz, der Kern des befruchteten Eies einen ausgeklügelten Schlüssel enthalten kann, der die ganze zukünftige Entwicklung des Organismus in sich birgt. […] In der Tat braucht die Zahl der Atome in einer solchen Struktur nicht sehr groß zu sein, um eine beinahe unbegrenzte Zahl möglicher Anordnungen zu gestatten. Man stelle sich zur Erläuterung den Morsecode vor.“ (Schrödinger 1989, S. 111)  „Genesis explores the notion that biological processes are now writerly and programmable, as well as capable of storing and processing data in ways not unlike digital computers. […] The boundaries between carbon-based life and digital data are becoming as fragile as a cell membrane.“ (Kac 2005, S. 254)

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am Leben – hier symbolisiert durch die Aktivierung der UV-Lampe zur Veränderung der Gene des Bakteriums – unvorhersehbare Auswirkungen hat, womit sichtbar wird, dass jeder Versuch der Realisierung des Gebotes Macht Euch die Erde Untertan dieses seiner Unrealisierbarkeit überführt. Der Versuch, die Natur verfügbar zu machen, schlägt in Unverfügbarkeit um, was Kac dadurch veranschaulicht, dass der Versuch dem Bibelzitat Folge zu leisten, indem man das Genom des Bakteriums mithilfe der UV-Lampe verändert, gleichzeitig eben dieses Gebot unleserlich macht. Sodann vollzieht sich die von Kac angestrebte Kritik am reduktionistischen Lebensbegriff der modernen Biologie über die von ihm ausdrücklich erwähnte Einbettung der Gentechnologie in einen weiteren soziokulturellen Kontext. Im Genesis-Projekt spielt dabei die mehrfache Übersetzung des wörtlichen Bibelverses zunächst in Morsecode, der in seiner Binarität auch für die Digitalisierung steht, dann in DNS-Basenabfolgen, eine wichtige Rolle: In the nineteenth century the comparison made by Champollion based on the three languages of the Rosetta Stone (Greek, demotic script, hieroglyphs) was key to understanding the past. Today the triple system of Genesis (natural language, genetics, binary logic) is the key to understanding the future. (Kac 2005, S. 254)

Die Verwendung des Morsecodes impliziert aber konzeptuell noch weit mehr: I employed Morse code not out of a technical need but as a symbolic gesture meant to expose the continuity of ideology and technology and to reveal important aspects of the rhetorical strategies of molecular biology. Samuel Morse embraced the radical Protestant movement of the 1830s known as nativism. The nativist platform was racist, anti-immigrant, anti-Catholic, and anti-Semitic. All his life Morse hated and feared American Catholics, supported denying citizenship to the foreign-born, and wrote pamphlets against the abolishment of slavery. In my work Genesis, the translation of the KJV [King-James-Version] Genesis passage into Morse code represents the continuity from fierce British colonialism to the bigotry of nativist ideology. The industrialization of North America, in tandem with technological hegemony, was based on the gargantuan profits amassed from the slave trade in the eighteenth century. In 1844 Morse sent the first telegraphic message, from Baltimore to Washington, D.C.: “What hath God wrought!” The translation from KJV/Morse to a gene is meant to reveal the continuity between imperialist ideology and the reductionist view of genetics, both focused on suppressing the complexity of historic, political, economic, and environmental forces that make up social life. (Kac 2005, S. 261–262)

Kacs Hinterfragung des Reduktionismus der modernen Biologie deckt sich hinsichtlich seiner Grundeinsicht mit Nietzsches Kritik am Positivismus der modernen Naturwissenschaften (GM, KSA 5, S. 399), d. h. deren „Stehenbleiben-Wo l l e n vor dem Thatsächlichen, dem factum b r u t u m , jene[m] Fatalismus der ‚petits faits‘“ (GM 24; KSA 5, S. 399) wie es in der Genealogie der Moral heißt. Die Wissenschaft ist

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für Nietzsche wie die Kunst lediglich eine mögliche Weltdeutung von vielen und dazu unter Umständen noch eine der dümmsten (vgl. JGB, KSA 5, S. 28–29 u. S. 37). „Es dämmert jetzt vielleicht in fünf, sechs Köpfen, dass Physik auch nur eine Welt-Auslegung und -Zurechtlegung (nach uns! mit Verlaub gesagt) und n i c h t eine Welt-Erklärung ist […].“ (JGB, KSA 5, S. 28)

Das heißt, das Problem besteht in der Absolutsetzung des wissenschaftlichen Weltbildes, dem gegenüber es die Vieldeutigkeit der Wirklichkeit offen zu halten gilt. Im Abschnitt „‘Wissenschaft’ als Vorurteil“ der Fröhlichen Wissenschaft heißt es: Ebenso steht es mit jenem Glauben, mit dem sich jetzt so viele materialistische Naturforscher zufrieden geben, dem Glauben an eine Welt, welche im menschlichen Denken, in menschlichen Werthbegriffen ihr Äquivalent und Maass haben soll, an eine ‚Welt der Wahrheit‘, der man mit Hülfe unsrer viereckigen kleinen Menschenvernunft letztgültig beizukommen vermöchte – wie? wollen wir uns wirklich dergestalt das Dasein zu einer Rechenknechts-Uebung und Stubenhockerei für Mathematiker herabwürdigen lassen? Man soll es vor Allem nicht seines v i e l d e u t i g e n Charakters entkleiden wollen: das fordert der g u t e Geschmack, meine Herren, der Geschmack der Ehrfurcht vor Allem, was über euren Horizont geht! Dass allein eine Welt-Interpretation im Rechte sei, bei der i h r zu Rechte besteht, bei der wissenschaftlich in e u r e m Sinne (– ihr meint eigentlich m e c h a n i s t i s c h ?) geforscht und fortgearbeitet werden kann, eine solche, die Zählen, Rechnen, Wägen, Sehn und Greifen und nichts weiter zulässt, das ist eine Plumpheit und Naivetät, gesetzt, dass es keine Geisteskrankheit, kein Idiotismus ist. Wäre es umgekehrt nicht recht wahrscheinlich, dass sich gerade das Oberflächlichste und Aeusserlichste vom Dasein – sein Scheinbarstes, seine Haut und Versinnlichung – am Ersten fassen liesse? vielleicht sogar allein fassen liesse? Eine ‚wissenschaftliche‘ Welt-Interpretation, wie ihr sie versteht, könnte folglich immer noch eine der d ü m m s t e n , das heisst sinnärmsten aller möglichen Welt-Interpretationen sein: dies den Herrn Mechanikern in‘s Ohr und Gewissen gesagt, die heute gern unter die Philosophen laufen und durchaus vermeinen, Mechanik sei die Lehre von den ersten und letzten Gesetzen, auf denen wie auf einem Grundstocke alles Dasein aufgebaut sein müsse. Aber eine essentiell mechanische Welt wäre eine essentiell s i n n l o s e Welt! Gesetzt, man schätzte den We r t h einer Musik darnach ab, wie viel von ihr gezählt, berechnet, in Formeln gebracht werden könne – wie absurd wäre eine solche ‚wissenschaftliche‘ Abschätzung der Musik! Was hätte man von ihr begriffen, verstanden, erkannt! Nichts, geradezu Nichts von dem, was eigentlich an ihr ‚Musik‘ ist!… (FW 373, KSA 3, S. 625–626)

In Bezug auf unser Thema ließe sich hinzufügen: Was hätte man vom Leben begriffen, verstanden, erkannt, wenn man es als biochemische Maschine betrachtet, unter die letztlich auch wir selbst fallen würden? Was aber hätte man von sich selbst begriffen, verstanden, erkannt, wenn man sich als biochemische Maschine betrachtet? In populärwissenschaftlichen Bestsellern wird die lebensweltliche Entfremdung naturwissenschaftlicher Beschreibung allerdings auch heute noch völlig un-

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reflektiert als Wahrheit hinter unseren subjektiven Täuschungen präsentiert – so wenn wir etwa glauben, wir würden auf Stühlen sitzen, was doch gar nicht der Fall sei: Wenn ich auf einem Stuhl sitze, sitze ich eigentlich nicht dort, sondern ich schwebe in einer Höhe von ungefähr einem Ångström (einem Hundertmillionstel Zentimeter) darüber, weil meine Elektronen und die des Stuhls sich jedem engeren Kontakt widersetzen. (Bryson 2005, S. 208)

Was Nietzsche meint, wenn er davon spricht, solche naturwissenschaftlichen Weltdeutungen würden der Wirklichkeit jeglichen „Sinn“ nehmen bzw. seien kein Ausdruck von Wahrheit, sondern von Sinnlosigkeit und Dummheit, wird deutlich, wenn man Brysons Wahrheit über das Sitzen auf Umarmungen umlegt: Wenn ich eine Person umarme, umarme ich sie eigentlich nicht, sondern verharre in einer Entfernung von ungefähr einem Ångström (einem Hundertmillionstel Zentimeter) vor ihr, weil meine Elektronen und die der Person sich jedem engeren Kontakt widersetzen. Das heißt, niemand von uns hat jemals eine andere Person umarmt oder gar geküsst. Dass diese naturwissenschaftliche Beschreibung nicht wahrer ist als eine lebensweltliche oder gar künstlerische, sondern einfach nur dümmer, ist offensichtlich. Die berechenbaren Oberflächenphänomene, von denen Nietzsche spricht, werden in dieser Lesart zur objektiven Wirklichkeit unter den angeblich bloß subjektiven Erscheinungen. Diese objektive Welt der per definitionem mathematischen Naturwissenschaften ist freilich als solche nicht mehr erfahrbar, sondern wie Galileis mathematisierte Natur nur noch ideell berechenbar. Mit ausdrücklichem Bezug auf Husserls Krisis heißt es bei Hannah Arendt diesbezüglich: Das Naturbild der modernen Physik, dessen Anfänge man bis auf Galilei zurückverfolgen kann, und das dadurch entstand, daß das Vermögen des menschlichen Sinnesapparats, Wirklichkeit zu vermitteln, in Frage gestellt wurde, zeigt uns schließlich ein Universum, von dem wir nicht mehr wissen, als daß es in bestimmter Weise unsere Meßinstrumente affiziert; und das, was wir von unseren Apparaten ablesen können, sagt ü ber die wirklichen Eigenschaften […] nicht mehr aus, als eine Telephonnummer von dem aussagt, der sich meldet, wenn wir sie wählen. (Arendt 2001, S. 333)

3 Das Umschlagen von Wissenschaft in Kunst Eduardo Kacs Genesis veranschaulicht, wie der Versuch, die Spontaneität des Lebendigen durch technische Manipulation zu negieren, in die Erfahrung der Unverfügbarkeit, sprich in eine Erfahrung der φύσις bzw. des Lebens umschlägt.

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Übt der Mensch seine Macht der Naturmanipulation aus, untergräbt er sie zugleich und produziert letztlich unvorhersehbare Folgen, womit der explizite Versuch, die Natur zu beherrschen, implizit in die Erfahrung der Unverfügbarkeit der Natur umschlägt. „Hybris ist heute unsre ganze Stellung zur Natur, unsre NaturVergewaltigung mit Hülfe der Maschinen und der so unbedenklichen Technikerund Ingenieur-Erfindsamkeit“ (GM III 9; KSA 5, S. 357). Dabei schlägt Naturbeherrschung in Unverfügbarkeit und im Falle von Kacs Genesis-Installation, Wissenschaft in Kunst um. Bei Nietzsche heißt es, die vergegenständlichende Wissenschaft, ein Exzess des apollinischen Triebes, schlage in (dionysische) Kunst um. Denn die Wissenschaft ist […] eine tiefsinnige W a h n v o r s t e l l u n g , welche zuerst in der Person des Sokrates zur Welt kam, jener unerschütterliche Glaube, dass das Denken, an dem Leitfaden der Causalität, bis in die tiefsten Abgründe des Seins reiche, und dass das Denken das Sein nicht nur zu erkennen, sondern sogar zu c o r r i g i r e n im Stande sei. Dieser erhabene metaphysische Wahn ist als Instinct der Wissenschaft beigegeben und führt sie immer und immer wieder zu ihren Grenzen, an denen sie in Ku n s t umschlagen muss: auf welche es eigentlich, bei diesem Mechanismus, abgesehn ist. (GT, KSA 1, S. 99)

Im Versuch einer Selbstkritik, 16 Jahre nach dem Erscheinen der Geburt der Tragödie, spricht Nietzsche davon, das Problem, um das es ihm in der Geburt der Tragödie gegangen sei, sei das Problem der Wissenschaft gewesen, das nur von der Kunst aus, aus künstlerischer Perspektive angegangen werden könne. Es sei ihm darum gegangen „die Wissenschaft unter der Optik des Künstlers zu sehn, die Kunst aber unter der des Lebens…“ (GT, KSA 1, S. 14). Warum? Weil die Wissenschaft mit ihrem bis heute virulenten vergegenständlichenden Objektivismus dem Phänomen des Lebens, der Welt und dem Dasein nicht gerecht wird; nicht der menschlichen Lebenswelt und nicht dem Phänomen des nichtmenschlichen Lebens, „denn nur als a e s t h e t i s c h e s P h ä n o m e n ist das Dasein und die Welt ewig g e r e c h t f e r t i g t “. (GT, KSA 1, S. 47) Ist die hier von uns gleichsam unter der Hand vollzogene Gleichsetzung von Spontaneität, Ding an Sich, Wille und Leben aber von Nietzsches eigenen Aussagen gedeckt? Gibt es nicht Stellen, an denen Nietzsche ausdrücklich einer solchen Lebensphilosophie widerspricht? In der Fröhlichen Wissenschaft heißt es doch: H ü t e n w i r u n s ! – Hüten wir uns, zu denken, dass die Welt ein lebendiges Wesen sei. Wohin sollte sie sich ausdehnen? Wovon sollte sie sich nähren? Wie könnte sie wachsen und sich vermehren? Wir wissen ja ungefähr, was das Organische ist: und wir sollten das unsäglich Abgeleitete, Späte, Seltene, Zufällige, das wir nur auf der Kruste der Erde wahrnehmen, zum Wesentlichen, Allgemeinen, Ewigen umdeuten, wie es Jene tuhn, die das All einen Organismus nennen? Davor ekelt mir. (FW, KSA 3, S. 467)

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Allerdings ist Nietzsches Alternative zum Organizismus nicht die mechanistische Weltdeutung der alten und gegenwärtigen Naturwissenschaften, denn im nächsten Satz fährt er fort: Hüten wir uns schon davor, zu glauben, dass das All eine Maschine sei; es ist gewiss nicht auf Ein Ziel construirt, wir thun ihm mit dem Wort ‚Maschine‘ eine viel zu hohe Ehre an. […] Die astrale Ordnung, in der wir leben, ist eine Ausnahme; diese Ordnung und die ziemliche Dauer, welche durch sie bedingt ist, hat wieder die Ausnahme der Ausnahmen ermöglicht: die Bildung des Organischen. (FW, KSA 3, S. 467–468)

Wenn die Welt aber weder vitalistisch als Organismus noch mechanistisch als Maschine verstanden werden kann, wie lautet dann Nietzsches Deutungsvorschlag? Der Gesammt-Charakter der Welt ist dagegen in alle Ewigkeit Chaos, nicht im Sinne der fehlenden Nothwendigkeit, sondern der fehlenden Ordnung, Gliederung, Form, Schönheit, Weisheit, und wie alle unsere ästhetischen Menschlichkeiten heissen. […] Hüten wir uns, zu denken, die Welt schaffe ewig Neues. Es giebt keine ewig dauerhaften Substanzen; die Materie ist ein eben solcher Irrthum, wie der Gott der Eleaten. Aber wann werden wir am Ende mit unserer Vorsicht und Obhut sein! Wann werden uns alle diese Schatten Gottes nicht mehr verdunkeln? Wann werden wir die Natur ganz entgöttlicht haben! Wann werden wir anfangen dürfen, uns Menschen mit der reinen, neu gefundenen, neu erlösten Natur zu v e r n a t ü r l i c h e n ! (FW, KSA 3, S. 468)

Die mögliche Weltdeutung, die Nietzsche als Alternative sowohl zur organizistischen als auch zur mechanistischen vorschlägt, bewegt sich jenseits der Unterscheidungen von Organismus und Maschine, Selbstzweck und zweckmäßig, Zufall und Gesetz, Ordnung und Unordnung Leben und Tod und begreift die Welt, die Natur, primär als produktives, Endliches hervorbringendes, spontanes Chaos, dessen unterschiedliche Aspekte vielleicht in den Begriffen Leben, Werden und Wille angesprochen werden können. Gegenüber dem organizistisch-maschinellen Naturverständnis betont Nietzsche den produktiven Charakter der Natur. Sie wird verstanden als ständiges Werden, als griechisch verstandene hervorbringende physis, als natura naturans. In der dionysischen Kunst, das heißt in der Musik, wird nicht die Welt als Abbild des Dinges an sich nochmals abgebildet, wie in der apollinischen Kunst, etwa der Plastik, sondern das Leben, das Ding an sich, der hervorbringende, spontane Wille, wie Nietzsche mit Schopenhauer sagt, selbst zugänglich. Während die apollinische Kunst die natura naturata abbildet, macht die dionysische Kunst das der natura naturata zugrundeliegende Prinzip, das heißt die natura naturans erfahrbar: In der dionysischen Kunst und in deren tragischer Symbolik redet uns dieselbe Natur mit ihrer wahren, unverstellten Stimme an: ‚Seid wie ich bin! Unter dem unaufhörlichen Wechsel der

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Martin G. Weiß

Erscheinungen die ewig schöpferische, ewig zum Dasein zwingende, an diesem Erscheinungswechsel sich ewig befriedigende Urmutter!‘ (GT, KSA 1, S. 108)

Darin besteht der „metaphysische Trost, dass unter dem Wirbel der Erscheinungen das ewige Leben unzerstörbar weiterfliesst […].“ (GT, KSA 1, S. 115) Den hier von Nietzsche beschworenen „unaufhörlichen Wechsel der Erscheinungen“, das heißt die Unverfügbarkeit des Lebens, auch des biologischen Lebens, thematisiert Eduardo Kac ausdrücklich in einer Weiterführung seines GenesisWerkes, die er In Our Own Image betitelt hat. In Auseinandersetzung mit der neben der Genomik in den Medien besonders präsenten Proteomik, also der Wissenschaft, die sich mit dem Aufbau und der Funktion der Proteine beschäftigt, hat Kac eine dreidimensionale Proteine-Gestalt seines künstlichen Genesis-Gens erstellt und davon ein Video realisiert, in dem die Proteinskulptur ständig in Bewegung ist. Der Bildschirm, auf dem das Video zu sehen ist, ist in eine Kristallkugel eingebaut, wie sie Wahrsager verwenden, um die Zukunft vorauszusagen. Daneben befindet sich eine zweite Kristallkugel, diesmal mit dem Video sich bewegender Genesis-Bakterien-Kulturen: In Our Own Image is a pair of digital video sculptures that present, respectively, moving images of Genesis bacteria and the Genesis three-dimensional protein. […] This work displaces the specular reference of the title with the metaphor of „seeing the future“ through a crystal ball. The distortions and the restless movement of bacteria and protein suggest that even the most precise descent into the molecular strata of life is elusive and rife with uncontrollable unpredictability. (Kac 2007, S. 260)

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Carlo Chiurco

Art and Media in the Age of Likeability: Nietzschean Perspectives Abstract: Contemporary performative art seems opposed to Nietzsche’s spiritual aristocracy because it promotes a democratisation and anarchisation of art through the involvement of the public as performer, as well as the creators’ identification with their artwork. Social media have gone a step further, by linking performances to an even stricter submission to the verdict of the public. However, art in the age of likeability also preserves distinctive Nietzschean features. In the end, whether a form of creativity is prone to nihilism or life-affirming rests entirely on the spiritual health or sickness of the creator.

1 Introduction Nietzsche’s philosophy is often portrayed as a milestone in the liberation of Western civilisation from the fixed paradigms that shaped it through the centuries. However, whether such liberation fits the aristocratic radicalism he had in mind is sometimes questionable. Art, for instance, has followed a path of ever deeper democratisation, a process Nietzsche saw rooted in Kant’s aesthetics, which introduced the audience within the artwork. In another step along this democratisation process, some forms of contemporary performative art let the audience actively take part in the performance, while the artist/performer experiences a retreat in marginal or even passive roles, his/her body often becoming an artistic matter to be moulded, shaped, or even abused. Finally, the ubiquitous diffusion of social media may well mark the zenith of this process: who needs ‘professional’, institutionally recognised artists or performers anymore, when they may be substituted by the public altogether, giving to virtually everyone the possibility of being ‘performers of themselves’? As one would expect, such process looks deeply un-Nietzschean and essentially anti-aristocratic in its almost anarchical spontaneity, yet it can also be read in a different (indeed, opposite) way, Nietzsche speaking at length of the importance of “sculpting ourselves” and “making an artwork of our lives”. Furthermore, some art performances stage human self-overcoming through suffering and constraint, a message in sharp contrast with the aim of all “modern ideas” to provide “security, safety, contentment” to all. My paper is divided in two parts. In the first, I will begin by introducing art in Nietzsche with regard to man’s ennoblement: as Wagner’s case shows, art may not https://doi.org/10.1515/9783111072890-005

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only foster spiritual health, but also decay when it is not of the aristocratic sort (2). The ongoing art’s democratisation process, which Nietzsche ascribes to Kant (3), reaches an important turning point in the performances of Marina Abramović and their subversion of the roles of the public and the artist/performer respectively (4). As for the next and final stage of this process, featuring the rise of social media and their role in fostering the complete hybridisation of the artist with the public, I will consider the case of the performer Hungry (5). I finish this section by listing the main reasons why art in the age of likeability may not match Nietzsche’s requirements to be considered an expression of spiritual aristocratism (6). In the second part, reversing this point of view, I will show how contemporary performative art may also provide an opposite, aristocratic reading by analysing the ‘overhuman’ implications of the performances by Abramović and Matthew Barney (7). Therefore, I will draw the conclusion that even art in the age of likeability, though definitely being democratic per se, shows aristocratic traits: like all art, its ambivalence is capable to lead either to decay or to life affirmation, depending on the spiritual health of the artist/performer himself (8).

Part I The democratisation of art 2 Art and the ennoblement of man There are few doubts that, in the eyes of Nietzsche, of all human activities art is supremely equipped to achieve human ennoblement: “Art, wrote Keith AnsellPearson, is valued by Nietzsche for two main reasons; firstly, because it enables human beings to endure life in the face of the terror and absurdity of existence; and secondly, it acts as the great stimulus of life, encouraging human beings not to recoil from the horror of existence, but to seek its furtherance and perpetual self-overcoming” (Ansell-Pearson 1994, pp. 158–159). Nietzsche considered man’s self-overcoming and becoming who he is as inherently artistic activities since his early writings (“Man is not an artist anymore, he has become an artwork”: DW 1; KSA 1, p. 555)¹, and maintained this view throughout his production. Thus, we must become “the poets of our life” (GS 299; KSA 3, p. 538; Kaufmann 1974, p. 240), just like “Greek philosophers sought happiness in no other form but to

 When not differently stated, translations from Nietzsche’s works are mine.

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find themselves beautiful: also, by shaping by themselves the statue, whose sight is beneficial (it does cause neither fear nor nausea)” (NL 1884–1885, KSA 11, p. 36)². However, Nietzsche was aware from the very beginning that art is neither always noble nor necessarily beneficial, but it may also foster decay. In GT, for instance, Nietzsche polemically considered modern opera as a degeneration face to the ideal of tragic art (cf. BT 19; KSA 1, pp. 120–129). Even later, Nietzsche maintained that art may be “decadent”, as during the long Christian era of European civilization, though in this case the reason lies in the wider metaphysical frame in which it happened (see HH I 220; KSA 2, p. 180). Thus, metaphysics-inspired art is excusable (even if metaphysics is not) as a form of sickness that remains essentially healthy at heart, as shown by Nietzsche’s account of the great painter Raphael (1475–1520) in WS 73 (KSA 2, pp. 585–586). Raphael was a courtier artist, obliged to consider the wishes of his powerful ecclesiastic patrons, among whom there were two Popes, a condition hardly noble or free, stigmatised by Nietzsche as a lack of independence “in the world and against” it. Indeed artists “have at all times been valets of some morality, philosophy, or religion”, as well as “unfortunately often […] all-too-pliable courtiers of their own followers and patrons, and cunning flatterers of ancient or newly arrived powers”, because of their “need” for “protection, a prop, an established authority” (GM III 5; KSA 5, pp. 344–345; Kaufmann 1989, p. 105). Consequently, Raphael should be called a sick artist and a servant, yet in WS 73 Nietzsche admires his cunning in portraying, in his archfamous Madonna Sistina, a fully secularized vision of “a clever, spiritually distinguished” woman, while ridiculing his patrons’ faith in miracles by painting a child Jesus with the gaze of an adult man – “a pleasant paradox that believers have interpreted in the sense of their belief in miracles: just as the artist might even have expected from their art of interpretation and imposition” (WS 73; KSA 2, pp. 585–586; Handwerk 2013, p. 191). In other words, Raphael was capable to convey his own version of the Ja-sagen, the “saying yes to life”, by disguising it under the appearance of Christian devotion, while, as a matter of fact, rejecting metaphysics. Raphael did not belong to those “starvation victims of life who necessarily have to snatch things up, drain them dry, and make them thinner”: he was not an “anti-artist”, but he “said yes, Raphael did yes, which means that Raphael was no Christian” (TI, Skirmishes; 9, KSA 6, p. 117; Norman 2007, p. 196). In other words, since he was a spiritually healthy man, his art followed suit. On the contrary, Wagner’s music is a supremely decadent and sick form of art, causing a deep spiritual corruption on listeners, because Wagner was a living mockery of a great artist: disguised under the restorer of the tragic artistic ideal lay an “actor”,

 About the statue cf. Babich 2007.

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“an incomparable histrion, the greatest mime” (CW 8; KSA 6, pp. 29, 30; Norman 2007, p. 247).

3 Kant and the democratisation of modern art Despite art’s possible ambivalence, its scope is clear: it has the capacity to let humanity express its full potential in terms of will to power, but only if, and when, it is of a noble, aristocratic sort. Given that art’s task is to increase man’s power, it cannot be disinterested (Ridley 2007, p. 120)³, contrarily to the views of Kant and Schopenhauer (cf. GM III 6; KSA 5, pp. 347–349). Whereas Schopenhauer believed art liberates man from sexuality (cf. GM III 6; KSA 5, pp. 347–349; TI, Skirmishes 22; KSA 6, pp. 125–126), Nietzsche believes art to be impossible without intoxication, especially sexuality, which constitutes “the most ancient and original form of intoxication” (TI, Skirmishes 8; KSA 6, p. 116; Norman 2007, pp. 195–196). Quoting (for once) Plato, Nietzsche explains the flourishing of beauty in the world as that form of excitement⁴ pushing us to procreate, both physically and spiritually (TI, Skirmishes 22; KSA 6, p. 126). Briefly, while in Kant and Schopenhauer art is passive and made with no interest in sight, in Nietzsche it is active and exists out of man’s interest to increase his power. Accordingly, the artist’s instinct does not aim at art per se, but at “life, which is the meaning of art [den Sinn der Kunst, das Leben]” (TI, Skirmishes 24; KSA 6, p. 127; Norman 2007, p. 204). Art, then, is fully powerful when it is of a tragic, i. e. Dionysian sort, Dionysus being the god of “the triumphal yes to life over and above all death and change; the true life as the overall continuation of life through procreation, through the mysteries of sexuality” (TI, Ancients 4; KSA 6, p. 159; Norman 2007, p. 228). Consequently, music and tragedy, as the perfect forms of self-manifestation of the Dionysian, are also the most powerful forms of art, capable to enhance human power at its fullest. However, because of its nobility and its aristocratic nature, art demands in turn an aristocratic artist, namely someone

 On disinterestedness cf. Urpeth 2003; Came 2009; Lichtenstein 2019. As the latter rightly points out, “insofar as Schopenhauer’s interpretation of Kant is far from clearly correct, by comparison to less ascetic interpretations like Schiller’s, Nietzsche may well reject Schopenhauer’s Kantianism in a way that reflects his own positive influence by Schiller’s Kantianism” (Lichtenstein 2019, p. 259). Contra, cf. Denham 2014, who arguments in favour of a continuity between Schopenhauer and Nietzsche on art.  Cf. also TI, Skirmishes 24; KSA 6, p. 127 (Norman 2007, p. 204): “Art is the great stimulus to life”. Nietzsche quotes Stendhal (GM III 6 ; KSA 5, p. 347), who stated “La beauté n’est jamais, ce me semble, qu’une promesse de bonheur” (Stendhal 1854, p. 30). Cf. Lichtenstein 2019, pp. 256–257.

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who does not betray the basic tenet of the Dionysian which could be expressed as such: creation emerges only through suffering and destruction. As for the anti-artist, the sick artist, who fosters decadence and spiritual corruption instead of ennoblement, the case of Wagner is particularly telling. In his early works, Nietzsche depicted Wagner as the anti-modern hero, calling him “the most serious artist [der ernsteste Kü nstler]”, a noble spirit unappreciated by the pettiness of the bourgeois world, obliged by it “to move from city to city” and “go back to the gypsies and the outcasts of our civilisation [Cultur], being one of them” (RWB 3; KSA 1, p. 440)⁵. After Nietzsche’s extremely delusional experience at Bayreuth, Wagner morphed from outcast and victim of modernity to epitomising it (CW, Preface; KSA 6, p. 12), and from “most serious artist” to “histrion”. With its democratisation of taste and the steady rise of mass society, modernity plays an essential role in Wagner’s fall. The aristocratic artist does not bow to the public’s taste and supposed ‘right’ to be entertained, nor he seeks for approval or success, “the greatest liar” (BGE 269; KSA 5, p. 223; Norman 2002, p. 165). Abandoning the path of the tragic and the Dionysian, art loses its spiritual nobility and becomes entertainment, comedy. In his severe condemnation of the New Attic Comedy, which signals the rise to “predominance of the slaves” in Greek society, and, in Greek culture, of the “serenity of the slave who is incapable of taking responsibility for anything serious, of striving for anything great, of valuing anything past or future more than the present” (BT 11; KSA 1, p. 78; Smith 2000, p. 64), Nietzsche anticipates modernity as the age when entertainment – more correctly, the right to be entertained – became the rule, thus helping to provide “an easier life for all” (BGE 44; KSA 5, p. 61; Norman 2002, p. 41). Not coincidentally, modernity saw the vanquishing of tragic music in the quick success reaped by opera, itself a “sumptuous addiction to distraction and […] vanity” (BT 19; KSA 1, p. 120; Smith 2000, p. 101), “a kind of art” created by “the artistically impotent man […] precisely because he is none other than the essentially unartistic man. Because he has no sense of the Dionysian depth of music” (BT 19; KSA 1, p. 123; Smith 2000, p. 103). Despite Nietzsche’s severe judgement of opera, which he will retract later⁶, the key notion of “art as entertainment” as anti-art will remain a constant. Because of its egalitarianism, Nietzsche rejects “modern art” as essentially democratic, since it presupposes the public as its causa finalis: it is, quite literally, art for the people. Modern art systematically encloses the observer within the artwork⁷, a condition  On the gypsy figure in Nietzsche cf. Chiurco 2019.  One only needs to compare Nietzsche’s early condemnation of opera to his later enthusiasm for Bizet: cf. CW 2; KSA 6, p. 15.  Kant’s formalization of the artwork’s invasion (occupation?) by the spectator as the foundation of aesthetics is already found in Euripides: “Euripides brought the spectator onto the stage” (BT 11;

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unintentionally made paradigmatic by Kant: “Kant, like all philosophers, instead of envisaging the aesthetic problem from the point of view of the artist (the creator), considered art and the beautiful purely from that of the “spectator”, and unconsciously introduced the ‘spectator’ into the concept ‘beautiful’” (GM III 6; KSA 5, p. 346; Kaufmann 1989, pp. 103–104). From Kant onwards, the public becomes a necessary element of artistic creation, marking a lasting departure from tragic art, where only the presence of the chorus is real⁸, while the public becomes real only by means of its identification with the chorus⁹.

4 Art’s democratisation process: the performative art of Marina Abramović If the perspective of art for the public (art for the people) seems already opposed to Nietzsche’s aesthetic views, the twentieth century has witnessed totalitarian regimes championing the notion of art as belonging to the public for ideological-educational purposes (art of the people, which Nietzsche clearly rejects: cf. TI, Skirmishes 24; KSA 6, p. 127), while contemporary performative arts have moved even further by creating forms of art that necessarily require the active presence of the public (art by the people). A good example of the latter are the performances by the Serb artist (naturalised American) Marina Abramović (Belgrade, 1946), who occasionally described herself as “the grandmother of performative art”. In her 2010 performance The Artist Is Present, held at New York’s MOMA from 9th March to 31st May, Abramović sat for 736 hours at one side of a table, with an KSA 1, p. 76; Smith 2000, p. 66). In this sense, modernity is clearly a repetition of the Socratic assassination of the aristocratic Greece of old.  Cf. GT 8; KSA 1, pp. 62–63 (Smith 2000, p. 51): “The stage together with the action was basically and originally conceived only as a vision, that the sole ‘reality’ is precisely the chorus, which produces the vision from itself and speaks of it with the whole symbolism of dance, music, and word. In its vision this chorus beholds its lord and master Dionysus and is therefore eternally the chorus of servants: it watches how the latter, the god, suffers and glorifies himself, and therefore itself refrains from action”.  Cf. GT 8; KSA 1, p. 59 (Smith 2000, p. 48): “Only it must be remembered at all times that the public of Attic tragedy rediscovered itself in the chorus of the orchestra, that there was at bottom no opposition between public and chorus: for everything is only a great sublime chorus of dancing and singing satyrs or of people who let themselves be represented by these satyrs. […] The chorus is the ’ideal spectator’ in so far as it is the sole beholder, the beholder of the stage’s vision-world. A public of spectators as we know it was unknown to the Greeks: in their theatres, with their terraces rising in concentric circles around the auditorium, it was possible for everyone to have a real overview of the whole surrounding world of culture and in satisfied contemplation to imagine oneself a member of the chorus”.

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empty chair at the other; everybody was invited to sit down in front of her, while she kept hieratically staring at them in perfect stillness, an aspect emphasizing her withdrawing from the scene of action into the margins of passivity. The same characteristics had already been brutally extremised in Rhythm 0, a performance first held in her native Belgrade in 1974. Abramović placed on a table seventy-two objects, which people were left free to employ at their will on or against her for six hours; a sign informed them they held no responsibility for any of their actions. Some of the objects could give pleasure, while others could be wielded to inflict pain, or to severely harm her: among them there were a rose, a feather, honey, a whip, olive oil, scissors, a scalpel, a gun, and a single bullet. At first people did not do much, being mostly passive; but as they realised that Abramović would not react to any of their actions, the piece turned to brutality. By the end of the performance, the artist had been stripped down naked, physically and even sexually abused, and left with markings of aggression all over her body. On the contrary, in Thomas Lips, a performance held in the same year, Abramović inflicted herself every sort of harm, from cuts to burns to frostbite, until the public could bear no more and intervened to save her from assured death. Interestingly, she later stated it was only when the public intervened that the artistic and creative part of the event had truly begun. In all these cases, the public clearly possesses a creative role, sometimes sharing it with the performer, sometimes enacting it by itself. However, such notion of art seems opposed to Nietzsche’s aristocratic version of it. Art is definitely per se problematic, in that “the artist in reality (in ‘truth’) must play to the public in order to be an artist”¹⁰, which amounts to state that even the aristocratic, tragic artist must come to terms with the inherently vulgar element of “commonality or communion” (Babich 2000, p. 176), or the need, for art, to be expressed in public. But twentieth century performative art, by fostering the empowerment of the public, extremises such commonality into a potentially anarchical confusion between the artist and his audience, in the reversal of their classic roles: a process that the unstoppable rise of social media has likely pushed to its extreme consequences.

 Interestingly, in BT Nietzsche states that “The spectator without a play is a nonsensical concept” (BT 7; KSA 1, p. 54; Smith 2000, p. 44) – not the opposite.

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5 The final stage in art’s democratisation process and the role of social media: the case of Hungry Demoting art to entertainment is quintessentially modern. By considering art from the point of view of the spectator, and introducing the latter into the very conception of the beautiful, Kant formalised the loss of normativity at the roots of modern and contemporary art. The growing (indeed, essential) importance attributed to the public leads to the erosion and the subversion of the boundary between its role and that traditionally attributed to the artist, as in performance art. Such process has moved even further with the revolution brought about by social media: thanks to Instagram and TikTok, it seems the public has completely overcome the need of an officially recognised artist/performer, breaking his monopoly of creativity, and establishing a perfectly anarchical rule by abolishing the already thin distinction between itself and the artist/performer (who had already retired at the margins in complete passivity). Social media do not simply offer to everyone the possibility to expose themselves, as it is usually assumed, nor are they simply a means to spread an artist’s, or a performer’s, work, as the engravings by Domenico Campagnola and Marcantonio Raimondi did in the past for the masterpieces of, respectively, Titian and Raphael. The net itself accounts for a horizontally integrated, anarchical space that rejects any hierarchical verticality, thus triggering the possibility for virtually everyone to become ‘performers of themselves’, and for the performance to be exponentially shared and replicated in a way that, following Deleuze and Guattari’s famous metaphor, can rhizomatically give birth to thousands of variations, exploring endless connections in all directions, even creating them (cf. Deleuze/Guattari 1987). Therefore, even if most posts on social media are admittedly trivial, some users are capable to use them as forms of communications that transcend the common boundaries of artistic expression. The Berlin-based drag performer Hungry (whose real name is Johannes Jaruraak) has reached world recognition on Instagram (https://www.instagram.com/isshehungry/), where she enjoys the support of more than half a million followers, thanks to the extreme sophistication of her distorted make-up creations featuring transhuman dolls, as well as man-animal or man-vegetal hybrids. Hungry is paradigmatic of the many outcomes of the creation-creator hybridisation fostered by social media, where the artist/performer is neither “professional” (or professionally trained), nor institutionally recognised. Hungry turns this to her advantage, and by successfully sitting at the crossroads of some of the most important socio-cultural issues of our time, such as gender subversion, anti-speciesm, biocentrism, and trans-humanism, and interpreting them in a completely original and personal synthesis, she embodies the rhizomatic creativity imagined by Deleuze and Guattari. Yet this would not be possible without

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the anarchical environment provided by social media: in spite of her professional self-definition as “distorted drag”, Hungry’s performances are definitely intended to be first and foremost contemplated as pictures posted on Instagram, where the static beauty of her ethereal makeups attains the zenith of its inspirational ability. We simply do not expect her to walk on a stage, performing the usual lip-sync-cumballet show typical of drag queens. Hungry’s often biocentric and ‘biophile’ pagan cult of the body, as well as her spectacular way to trans-humanly enhance it, actualise Nietzsche’s constant identification between the process of becoming who we are and sculpture. Her creations could well represent a contemporary reprising of the Greeks’ obsession about becoming a living statue. In his description of the Greek musical drama, Nietzsche mentions “the living image, the living statue of the god” Dionysus, while the actors move on stage “like living bas-reliefs or animated figures on the pediment of a temple” (GMD, KSA 1, p. 527). Elsewhere he speaks of statues as dreams coming to life (cf. DW 1; KSA 1, p. 554), of “becoming a statue [Zur Statue warden]” as the human ideal in times (like those of Thucydides) of excessive suffering, when tragic poets had tried, on the contrary, to humanise statues (NL 1880–1882, KSA 9, p. 338). (Incidentally, de-humanisation is typically retorted against performances such as Abramović’s or Hungry’s because of their ‘excesses’.) Man himself is “the noblest clay, the most precious marble”, as he is “shaped by the artist Dionysus” (DW 1; KSA 1, p. 555): the tragic artist par excellence is himself a sculptor. By becoming “simultaneously subject and object” (BT 5; KSA 1, p. 47; Smith 2000, p. 38) – as it seemingly happens in this final stage of art’s democratisation process, when everyone may become ‘performer and performance of himself ’ – individuals could be released from themselves¹¹. This, at least, is what the a-normativity of the artistic and performative expressions considered so far seeks to achieve. Yet to draw such a conclusion seems again hazardous, for the age of social media – the age of likeability – seems not to match Nietzsche’s requirements for art to be considered truly aristocratic.

 About the fate of subjectivity, between overcoming and a-subjectivity, cf. Urpeth 2003. Even more radical is Came 2009, p. 98, who supposes that “the Nietzschean aesthetic entails a complete destruction of the subject.” A different position is expressed by Young 1992, who speaks of “transcendence of individuality”: “One loses one’s identity as an individual and identifies instead with ‘the will to life rejoicing over its own inexhaustibility’ [TI, Ancients, 5, KSA 6, p. 160; Young’s italics]. The tragic effect, in short, is, as it was in The Birth of Tragedy and in Schopenhauer’s account of tragedy, identified as the feeling of the sublime. As in The Birth, what tragedy does for life is to bring one the ‘metaphysical comfort’ [BT 7; KSA 1, p. 56] of feeling oneself to be at one with the ‘primal unity’, or as Nietzsche says, ‘the will to life’ “ (Young 1992, pp. 136–137). Ridley 2007, pp. 126–127, supports Young’s reading.

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6 Thumbs down: the limits of the age of likeability At the final stage of our journey from Kant to TikTok, beside the artist’s replacement by the public and the fusion between artistic creation and its creator, the verdict of the public, to which both creator and creation completely submit themselves, emerges as the last, but definitely not the least, feature of the age of likeability. Empowerment has gone two-ways: everybody can become his or her own/their creation and even their own public (the latter being a condition potentially expandable to anybody owning a connectable device and an account on a social platform), just as everybody may now universally express absolute approval or rejection through the ‘like’ button. Here, however, we are confronted by the limits of art in the age of likeability. Though narcissism and exhibitionism are often cited as major sources of the public’s willingness to expose itself to its own verdict, Narcissus fell in love with his own image by chance, while the selfie is actively planned and sought after. Instead, the felicitous conclusion of the tortuous process of becoming who we are “is to be able to interpret one’s development as the unconscious unfolding of one’s latent potential, as the gradual, invisible piecing-together of a coherent self. And the ‘happiness’ of such a development lies, as Nietzsche puts it, ‘in its fatefulness’ [EH, Wise 1; KSA 6, p. 264]” (Ridley 2007, p. 137). Just like in the myth of Narcissus, social media invariably show a reflection. However, its purpose is not the celebration the “redemption in appearance” of “the only subject which truly exists” (BT 5; KSA 1, p. 47; Smith 2000, p. 38), which was the real aim of the union of subject and object celebrated in Greek tragedy. The hard work behind a ‘professional’ selfie has the sole purpose to manifest a reflection of the self. The need to show and portray ourselves ultimately rests on the original urge, felt by each “living thing”, “to discharge its strength” (BGE 13; KSA 5, p. 27; Norman 2002, p. 15). According to Young 1992, pp. 138–139, followed by Ridley 2007, pp. 126–127, the pre-eminence given to discharging sort of betrays Nietzsche’s radical aristocratism, as it is expressed in the importance of honesty. Aristocratism implies honesty as “the only virtue we have left” (BGE 227; KSA 5, p. 162; Norman 2002, p. 118), making honesty the first step to be taken in our self-creation process. Being honest with ourselves about ourselves (cf. A 50, KSA 6, p. 230) amounts “to open our eyes on ourselves” (GM III 19; KSA 5, p. 386; Kaufmann 1989, p. 137) – a necessary move, given that “The most common lie is the one you tell yourself ” (A 55; KSA 6, p. 238; Norman 2007, p. 55). However, per se honesty is a double-edged virtue, which needs art in order to be life-affirming: “Honesty would lead to nausea and suicide. But now our honesty has a counterforce that helps us avoid such consequences: art, as the good will to appearance” (GS 107; KSA 3, p. 464; Kaufmann

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1974, p. 163)¹². Only when activated by art does honesty begin by surveying “all the strengths and weaknesses of [our] nature and then fit them into an artistic plan until every one of them appears as art and reason and even weaknesses delight the eye” (GS 290; KSA 3, p. 530; Kaufmann 1974, p. 232), eventually leading to the courage to face life as it is. The less falsification we need – that is, the less we resort to a bad sort of lie –, the stronger we are¹³. The key weakness in the creation of reflections of the self in social media is that it revolves entirely around the artist, not the artwork. In Nietzsche’s eyes, we must create ourselves, not another (or another’s) existence according to some paradigm (cf. Babich 2012, p. 28), no matter whether internal or external. Self-creation is the completion of an artwork as the actualisation of an image that lies sleeping within the stone, “the image of my images [das Bild meiner Bilder]” (Z, Blessed Islands; KSA 4, p. 111), not a reflection of the self ¹⁴, real or imag-

 Honesty not only differs from truth, but also maintains a complex relation with lies. Nietzsche defines “lies” as “not wanting to see what you see, not wanting to see it the way you do” (A 55; KSA 6, p. 238; Norman 2007, p. 55). However, what matters about lies is their purpose: as A 58 (KSA 6, p. 245) makes clear, what really matters when assessing lies is to ascertain their purpose: are they employed to affirm life, or discredit it? Christianism is an evil lie, because its purpose is to deny life (cf. A 56; KSA 6, p. 239; EH, Clever 10; KSA 6, pp. 295–296). Art is detached from truth and realism: “Nietzsche rejoices in art’s not seeing things for what they are, that latter being, he says, ‘anti-artistic’ [TI, Skirmishes, 7, KSA 6, pp. 115–116]” (Janaway 2014, p. 48). Janaway’s definition, closely recalling Nietzsche’s phrasing in A 55, is unfortunate, because in that quoted passage from TI Nietzsche speaks of artistic realism, which uses nature as a model, whereas “Artistically appraised, nature is no model” (TI, Skirmishes 7; KSA 6, p. 115; Norman 2007, p. 95). When Nietzsche speaks of the willingness to see what one sees, in the way he sees it, he refers to the courage of admitting the inherent horror of existence as it is entirely submitted to the capricious power of becoming. Therefore, a lie is admissible if it is healthily artistic, i. e. if it proceeds from life-affirming art, or “the good will to appearance” (GS 107; KSA 3, p. 464; Kaufmann 1974, p. 163). In this respect, lie is not opposed to honesty. About truth regarding art cf. Janaway 2014, pp. 51–56.  Young assesses the question from an ontological level: “In The Gay Science Dionysian man is conceived as loving his fate as an inhabitant of the realm of becoming. In Twilight, however, in the Dionysian state, one escapes becoming by transforming oneself, by becoming ‘oneself the eternal joy of becoming’. Dionysian man, in other words, identifies himself with the whole eternal process of becoming and, as such, achieves immunity to the penalties of being part of that flux. He has, in short, become a being. Whatever the merits of achieving this state, to do so is not to show the courage that is involved in facing one’s habitation of the world of becoming. If one conceives oneself as identical with the process of becoming, then one’s ‘freedom of feeling before a powerful enemy, before a sublime ‘becoming’ emerges, in a very striking way, as a truly excellent example of precisely the kind of art that Nietzsche labels, and condemns as, ‘Romantic’” (Young 1992, pp. 138–139). Cf. also Ridley 2007, p. 127. The meaning of, and conditions for, “Romantic art” are discussed shortly below in my text.  About the notion and the meaning of the image in Nietzsche cf. Denat 2006.

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ined, as betrayed by the need for social recognition embedded in social media¹⁵ (and remember that, for Nietzsche, success is always “the greatest liar”). The supreme criterion to judge whether art is good or bad seemingly lies in the different kind of suffering that triggers artistic self-creation: does it originate from aristocratic abundance of life, or slavish impoverishment of it (cf. GS 370; KSA 3, p. 620)? In self-creation, as expressed in the colonisation of social media by the unexhausted production of reflections of the self, we witness an extremely popularised version of “romantic pessimism”, as “the tyrannic will of one who suffers deeply, who struggles, is tormented, and would like to turn what is most personal, singular, and narrow, the real idiosyncrasy of his suffering, into a binding law and compulsion—one who, as it were, revenges himself on all things by forcing his own image, the image of his torture, on them, branding them with it” (GS 370; KSA 3, p. 622; Kaufmann 1974, p. 330). Falling short of producing a Wagner or a Schopenhauer, present-day versions of “romantic pessimism” reflect our torture, as we desperately struggle to force our own image on all things in order to fend off our sense of inadequacy face to the overwhelming diversity of models surrounding us, from advertising to political radicalism, which we introject and later elaborate as if they were our own. Furthermore, art in the age of likeability is dangerously close to anarchy in its maximized “psychological contiguity” between creator and creation, a condition Nietzsche abhorred: “One should guard against confusion through psychological contiguity, to use a British term, a confusion to which an artist himself is only too prone: as if he himself were what he is able to represent, conceive, and express” (GM III 4; KSA 5, pp. 343–344; Kaufmann 1989, p. 101). Psychological contiguity comes as the opposite of art, as another exchange of the centrality of the artwork for that of the artist. Therefore, art in the age of likeability seems to be the final stage in art’s long decay from its noblest form as tragedy to the eternal recurring of serialized mass stupidity too often featured on social media. While both twentieth-century performative art and creativity on social media promote hyper-subjectivation and hyper-individuality, tragedy insists on the denial of “the whole opposition between subjective and objective, […] since there the subject, the willing individual who promotes his own ends, can only be conceived as the enemy and not as the origin of art. But in so far as the subject is an artist, he has already been redeemed from his individual will and become as it were a medium, through which the only sub-

 The regulating mechanism behind such need for social recognition is intermittent reinforcement, as developed in gamification. Cf. the famous article by Harris 2016, later reprised and quoted in the successful Netflix tv documentary The Social Dilemma (2018).

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ject which truly exists celebrates its redemption in appearance” (BT 5; KSA 1, p. 47; Smith 2000, p. 38). True art, art of the tragic sort, begins only when we realize we are not “the real creators of that world of art, but” only “images and artistic projections for the true creator of that world”. Far from a hyperbolic celebration of our individual will, “our greatest dignity” lays not in subsuming in ourselves artist, public, and creation, but “in our meaning as works of art” (BT 5; KSA 1, p. 47; Smith 2000, p. 38).

Part II Aristocratism and performative art 7 Not all is lost. Why we should also appreciate art in the age of likeability For all the democratisation and the anarchy it brings about, art in the age of likeability also comes with features hardly condemnable from a Nietzschean perspective, since it incessantly challenges the very reflections of the self it tirelessly creates. By criticising established visions of the self, it opens new perspectives, and when it does so, as in Marina Abramović’s extreme performances, art fully regains its aristocratic nature. It brings forth the virtue of honesty, opening “our eyes on ourselves” (GM III 19; KSA 5, p. 386; Kaufmann 1989, p. 137) by showing “all the strengths and weaknesses of [our] nature” at their cruellest, namely our utmost physical and psychological limits. What remains is fitted “into an artistic plan” (GS 290; KSA 3, p. 530; Kaufmann 1974, p. 232) which could be translated as such: we are who we become. However, we become who we are only after crossing the desert of suffering, where the only water left to drink is necessity, the ἀνάγκη of the Greeks¹⁶. Due to their intensity, performances such as Abramović’s are clearly limited to a restricted elite, even if they are publicly performed. There is no reason to deny the suffering experienced by the artist the Dionysian dignity of the martyrised god-creator, experiencing reality as destructive creation not by means of mental, subjective representations (that is, reflections), but into her

 Cf. Ridley 2007, p. 132: “Nietzsche treats necessities of various kinds as material to be exploited and, where possible, affirmed. Indeed, he treats them as conditions of effective action, rather than as impediments to it, and hence as integral to the possibility of freedom, rather than as limits upon it”. It is important to note that “to see as beautiful what is necessary in things” (GS 276; KSA 3, p. 521; Kaufmann 1974, p. 223) is essential in order to affirm life. Necessity must not be simply tolerated, but loved (cf. EH, Clever 10; KSA 6, p. 297).

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own flesh. Far from being “cliche´-quality therapeutic counselling or television evangelism or new-age consolation (Write your life as literature! You create your own reality, you are responsible for – you cause your own illness) offered to the victims of cancer or other terminal illness”, “Nietzsche’s teaching of affirmation” cannot be imagined “without suffering, pain, anxiety and despair, that is, failing the intrusive presence of an oppressive and hard edge in life and love” (Babich 2000, p. 162). Even the selfie culture, in its blatant revealing the suffering of the lost self in the labyrinth of its own reflections, diverges from “the placebo new-age spirituality of popular culture”, which “blandly, blindly declares: There is no suffering” (Babich 2000, p. 162). Instagram heroes such as Hungry do not deny suffering in the “long practice and daily work” of their self-styling, the tyranny exerted by “the constraint of a single taste” – their own! – in the governing and forming process of “everything large and small” in their being. “Whether this taste was good or bad is less important than one might suppose, if only it was a single taste!”, explains Nietzsche. What matters, here, is that “the ugly that could not he removed is concealed; there it has been reinterpreted and made sublime”. Though their self-styling may not fully resemble that of great, universal artists in the intensity of its power, nevertheless they too “enjoy their finest gaiety in such constraint and perfection under a law of their own” (GS 290; KSA 3, p. 530; Kaufmann 1974, p. 232). Each “ ‘individual’ is left standing there, forced to give himself laws, forced to rely on his own arts and wiles of self-preservation, self-enhancement, self-redemption” (BGE 262; KSA 5, p. 216; Norman 2002, p. 159), dangerously swinging in its being “a variation”, and invariably fostering “wonders and monstrosities” (BGE 262; KSA 5, pp. 215–216; Norman 2002, p. 158). They are, at least, their own attempt at being the poets of their lives. Contrarily to what Young states, followed by Ridley, the pre-eminence Nietzsche gives to discharging one’s own power does not come at the expense of honesty and courage, which even bad forms of art still need. “Bad”, here, applies to forms of art ambiguously flirting with the forces of democratisation and anarchy, which indeed could lead to the dissolution of the self, thus eventually dissolving the very possibility of its overcoming, provided their creators are so weak or sick to succumb to those forces. If they do not, then even art sprung out of bad taste belongs to “the good will to appearance” (GS 107; KSA 3, p. 464; Kaufmann 1974, p. 163). Once more, the sole criterium to decide the fate of the whole process is the artist’s or creator’s ultimate spiritual health or sickness. If the need for falsification reveals our actual strength, and if “weak characters without power over themselves” are those “that hate the constraint of style” (GS 290; KSA 3, pp. 530–531; Kaufmann 1974, pp. 232–233), artists who openly challenge existing visions of the self (including their own) by exploring and testing the boundaries of the very notion of constraint, may be considered as belonging to the spiritual aristocracy of our time. The American performer artist and director Mat-

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thew Barney (San Francisco, 1967) created his Drawing Restraint cycle by hinting at the overhuman dimension in his performances. The cycle consists of several performances in which, as the title suggests, the artist fights against overwhelming physical and psychological obstacles – some natural, some self-inflicted – restraining him from accomplishing his creation, which is always the eventual outcome of a self-overcoming.

8 Conclusion A powerful force seems then to emerge from the bottom line of art’s long decay along the path of democratisation and anarchy. A truly Nietzschean perspective on art in the age of likeability can only be two-folded, reflecting art’s constitutive ambivalence as both life-affirming and decay-conveying. As it is customary with any powerful force, the virtual space needs to be employed for the ‘right’ goals, such as enacting the will to power, and saying yes to life by affirming the need of a superior culture. Being the poets of our lives means creating the culture, in which we must dwell: culture as art. Even the confusion between creator and artwork is not condemnable per se, given that it already occurred on stage when tragedies were performed in Athens, but only if it does not lead to the self-affirmation of a noble, superior culture, or if it leads to the denial of aristocratic values, eventually fostering resentment and nihilism. Therefore, Nietzsche’s philosophy, focused on the necessity of a constant revaluation of all values, seems to be the best Bildung to fully exploit the philosophically subversive potential conveyed by the virtual space at the core of the age of likeability. Virtuality brings about the danger of hyper-subjectivation in social media, fostering a potentially chaotic and anarchical confusion between public, artist, and artwork, as well as producing homologation on an unprecedented scale. A danger of opposite sort is the utmost dissolution of the subject, which, instead of overcoming itself, ends up being enslaved in virtual spaces such as “Second Life”, a condition often denounced in many movies, from The Matrix trilogy to Ready Player One (2018). Still, to condemn virtuality because of its potential dangers would be a reaction dictated by weakness. On the contrary, we must appreciate virtuality precisely because it is dangerous, hosting many different sorts of reality, and so many unknown paths and tracks still uncharted, as its possible outcomes. Danger is a necessary part of possibility because the latter is ontologically rich. In the end, weak and sick spirits will find in virtuality an unescapable trap, while strong, aristocratic natures will recognize in it the familiar condition of those who “have to embark on the sea” (GS 377; KSA 3, p. 630; Kaufmann 1974, p. 340) full of possibilities and new worlds to come.

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“Die Kunst in der Zeit der Arbeit”: Nietzsche on Acceleration and the Possibility of Cultural Transformation Through Art Abstract: This chapters provides an examination of how Nietzsche relates the effects of the acceleration characteristic of modernity with an apparent impossibility of cultural transformation through art, in the wake of what he saw as the failure of the first Festspiele in Bayreuth. The Wagnerian idea of the public’s profound need for art serves as the guiding thread of my analysis, as an idea that Nietzsche initially borrowed from the composer, but then revisits critically in the late 1870s. To evaluate the applicability of Nietzsche’s critical analysis to today’s context, I conclude with brief reflections on the effects of the technical developments in means of music distribution on how we now engage with musical works of art.

In the two volumes of Menschliches, Allzumenschliches, when Nietzsche no longer believed in the regeneration of culture through the influence of the Wagnerian Musikdrama, he looked for reasons why his contemporaries had not been and seemingly could not be significantly transformed by art. An astute observer of his times, he singled out as a significant factor the general movement of acceleration characteristic of modernity. One of the main reasons that precluded his contemporaries from engaging with art in a way that would allow them to transform themselves, he suggested, was internalized demands of ever-increasing efficiency that clashed with the demands of “high” art. The work-oriented modern individual saw the demands of art as too high a cost of entry for the mere frivolity of distraction or play it received from it, as he sought to find in it a respite of sorts from his daily toiling. Most of the modern public, according to the Nietzsche of the late 1870s, knew only how to weigh art’s value with the crude scale of an aimless but tenacious preoccupation for efficiency and had become insensitive to what higher possibilities it could offer. Nietzsche had long been acutely aware of the adverse effects of acceleration, but only now did they seem to him to entirely preclude the renewal of culture through art he had so strongly hoped for and tried to bring about in his Basel years. As he attempted, with his newly adopted historical method, to find the historical and psychological factors at play in this failure, he revisited a theme central https://doi.org/10.1515/9783111072890-006

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to any theory of cultural transformation through art, namely, the existence of a certain receptivity for art in the members of the public. In his earlier texts, this receptivity took the form of a profound need for the art that would allow for this transformation. But for the Nietzsche of the late 1870s, who had earlier believed if not in the existence of this need, at least in the possibility of awakening it, it now seemed a mere historical phenomenon, the mark of a past stage of culture in which art could still play a significant role. Nietzsche’s analysis, I would like to further argue, is still generally valid today, and can be of use to us if we wish to reflect on the effects of the cultural context of acceleration of modernity on our engagement with art and on the place that it may occupy in our lives. In the following sections, I will first approach the theoretical groundings of Nietzsche’s earlier hopes for art by mapping out the background of the idea of a need for art, starting with Wagner, with (and beyond) whom Nietzsche initially thought about the matter. I will then turn to the irremediable challenges posed by acceleration to the manifestation of a need for art, as Nietzsche describes them in Der Wanderer und sein Schatten § 170. Finally, by looking at the case of music through the lens of the technical developments in its modes of distribution since the late nineteenth century, I will offer some brief reflections on the applicability of Nietzsche’s frame of analysis to the ways we relate or are made to relate to music in today’s mediatic and artistic context.

1 Wagner’s theoretical writings played a very important role in Nietzsche’s thinking on art, even when he no longer supported the cause of Bayreuth. In the late 1870s, as he distanced himself from the composer and attempted to work out a new, more personal position on art as a cultural phenomenon, the questions that attracted his attention were still, for the most part, the very ones that had dominated Wagner’s reflections. After attempting to think with Wagner beyond Wagner in the fourth Unzeitgemässe Betrachtung (Borchmeyer/Salaquarda 1994, p. 1211) and after the first Bayreuth festival had failed to live up to his ideal,¹ Nietzsche sought to understand the reasons for this failure, mostly by revisiting a number of central questions of Wagnerian aesthetics. In the fourth section of Menschliches, Allzumenschliches, the critique of the (mostly) Schopenhauerian conception of genius served to recuse the metaphysical pretensions of artists—and were clearly directed towards the composer, who had explicitly appealed to this theory in his Beethoven

 See the letter to Mathilde Maier, 06.08.1878, KGB II/5, Bf. 741 and NL 1878, KSA 8, 30[1].

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(as had Nietzsche in Die Geburt der Tragödie). A parallel and equally important chain of thought in this section concerns the relation of artists to their public, and the capacity of their art to have a desirable effect on said public, this time contesting Wagner from the angle not of the representations surrounding his works and their creation, but of the very possibility of a practical efficiency of his art. The engagement with the theme of the need for art in the supplements to Menschliches, Allzumenschliches also belongs to this reevaluation of Wagner’s grand promises of cultural and social transformation, seen from the vantage point of the disappointment that Bayreuth had been.² In Das Kunstwerk der Zukunft, Wagner had used the idea of a natural need for art to ground his aesthetics of the Gesamtkunstwerk in fundamental human necessity.³ The ultimate form of art, Wagner’s own Musikdrama, was born out of and answered to a primordial need for wholeness, both individual and communal. The work of art of the future was to accompany the social revolution, the return to a common life of simpler, “absichtlos[en]” and “unwillkürlich[en]” needs (Wagner 1983, p. 9), which did not lead to the exploitation of the many by the few. Nietzsche, in Die Geburt der Tragödie, also viewed the existence of a deep need for art in the public as an essential condition of the transformative efficacy of tragedy in modern times. The Greeks had needed the beauty of Apollonian art because of a vital need for the transfiguration of the painful knowledge born out of Dionysian experiences; similarly, the rebirth of tragic culture depended upon the return of such a need for art in modern, “alexandrine” culture. In fact, the transition between the two parts of Die Geburt der Tragödie hinges on this very idea: the historical analysis of tragedy of the first part and the speculations on its Wagnerian rebirth in the second are linked together by the figure of the “musiktreibenden Sokrates,” announcing the return

 Nietzsche stresses (with insistent recourse to mountaineering metaphors) the importance of the new perspective gained from this experience in the notes of the summer of 1878 (mostly in the notes of the groups 27–30 in the Colli-Montinari edition), most notably in the tentative title of the book on Wagner he was then working on, “d e r n e u e U m b l i c k ” (NL 1878, KSA 8, 29[31]). Goethe’s poem “Harzreise im Winter”, to which Nietzsche refers in NL 1878, KSA 8, 27[85], seems to have been a decisive inspiration (see also NL 1878, KSA 8, 30[117]).  On this idea, see the first section of Das Kunstwerk der Zukunft, “Der Mensch und die Kunst im allgemeinen”, and in particular p. 30: “Daß die Kunst aber nicht ein künstliches Produkt, – daß das Bedürfnis der Kunst nicht ein willkürlich hervorgebrachtes, sondern ein dem natürlichen, wirklichen und unentstellten Menschen ureigenes ist, – wer beweist dies schlagender, als eben jene Völker [scil. die Völker, die ‘den normalen Menschen in sich begreifen, selbst der als rohest verschrienen’]?” For some helpful reflections on Wagner’s complex idea of nature in the Zürcher Schriften and their justificatory role, see Stolzenberg 2018, especially p. 68.

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of a “Kunstbedürftigkeit” in genius in a self-overcoming of sorts of Socratic optimism (GT 15–16; KSA 1, pp. 102–103).⁴ For both Nietzsche and Wagner, the satisfaction of this need for a higher art was the way towards the restoration of a lost unity on the model of attic Greek culture through a rebirth of tragedy. But differences in their anthropological perspectives ensured that this hope was more complicated for Nietzsche than it was for Wagner. In Wagner’s case, with the essentially human, natural need for art, a certain receptivity for his own works, the guarantee of their transformative effect and of their effectivity as a remedy for the diseases of modernity, was conveniently already there in the Volk, as if preserved from history. The young Nietzsche, as much as he believed in Wagner’s capacity to transform culture, never could adhere to this “idyllic” view of human nature, according to which humanity could be restored to a long-lost state of harmony, which it had somehow retained, intact, under the veneer of civilization.⁵ In the writings of the Basel period, Nietzsche made clear that the modern genius who wanted to have a transformative effect on culture through the effects of his art on the public also had to communicate the conditions of this need for art. No unchanged, essential need for works of art was already available in the public at large, as a lever for cultural change: it had, first, to be reawakened by Dionysian experiences. In the case of the modern public, who kept the problematic character of existence at bay with its comfortable confidence in its “Afterbildung” (HL 6; KSA 1, p. 295), the tragic work of art itself had to awaken this experience. And, as such, the Kunstbedürftigkeit of the public did not precede the experience of tragedy but was to be born out of (and satisfied by) the Wagnerian Musikdrama: “So ist mit der Wiedergeburt der Tragödie auch der a e s t h e t i s c h e Z u h ö r e r wieder geboren” (GT 22; KSA 1, p. 143), Nietzsche writes in a decisive passage. The need for tragedy would emerge as a result of the renewal of tragedy by Wagner. In this way, Nietzsche, it seems, hoped more of Wagner than Wagner himself; it was probably unavoidable that he would quickly be disappointed.

 Significantly, Kunstbedürftigkeit occurs both in GT 15, the last section of the first part, and in GT 16, the first section of the second, and nowhere else in the book.  This was in fact something for which he reproached modern opera: “Hier sehen wir in das innerlichste Werden dieser recht eigentlich modernen Kunstgattung, der Oper: ein mächtiges Bedürfniss erzwingt sich hier eine Kunst, aber ein Bedürfniss unaesthetischer Art: die Sehnsucht zum Idyll, der Glaube an eine urvorzeitliche Existenz des künstlerischen und guten Menschen.” (GT 19; KSA 1, p. 122) This “need of an unaesthetic sort” directed towards art is a moral one (cf. for example GT 22; KSA 1, pp. 143–144), which Nietzsche rejects as alien to authentic, Greek(‐inspired) tragedy (see the introduction to the course “Einleitung in die Tragödie des Sophocles” from 1870, KGW II/3, pp. 7–10).

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2 In both parts of Menschliches, Allzumenschliches, the question of the need for art of the public becomes of signal importance to the description of practices of reception and to the critical engagement with Wagner’s theory of art. The existence of a need for a higher art in the modern world and even its future possibility are not a given anymore, and Nietzsche is looking for new ways in which art could still have elevating cultural effects, by considering the effects it has and can have in the present. Nietzsche approaches the need for art as a wholly historical datum, influenced by culture and highly dynamic. And, importantly, there does not seem to be any one fundamental human experience (such as that of the Dionysian) that could guarantee the reemergence of the need for a higher art capable of transforming culture. This shift, then, implies a radical change in how Nietzsche reflects on art in relation to culture. The hope for a higher, unitary culture cannot anymore be paired with a corresponding and more or less obscured need for higher art that persisted in humanity (at least in potentia) since art’s highest manifestation in classical Greece. It would be a grave “Mangel an historischem Sinn” to believe in such permanence in the character of human beings (MA 2; KSA 2, p. 24). Moreover, without the existence of this need so assured, Nietzsche cannot take his departure from works of art that should both awaken and satisfy it and then look for ways to bring the public to it, as he had attempted to do by supporting the enterprise of Bayreuth. The proof was in fact in Bayreuth’s proverbial pudding: the first Festspiele, the performance of the entire Ring des Nibelungen, had not had the promised effect on the festival’s public, and this posed grave problems for Nietzsche’s faith in the positive effects art’s powers could have. Wagner, while a great artist, did not hold the keys to a new culture anymore in his eyes.⁶ This reconsideration of the appropriate, effective “treatment” for culture is, perhaps even more than the differing ideals for the resulting culture, the divergence that made further association with the composer impossible.⁷

 See again the letter to Mathilde Maier, 06.08.1878, KGB II/5, Bf. 741, where he writes that he remains a supporter of Wagner, but that he is now, rather than an “unbedingten”, a “bedingter” supporter.  As such, I would like to suggest that approaching the disagreement between Nietzsche and Wagner in the late 1870s as being about their diverging positions on the effectivity of art as a means that may bring about a (positive) cultural change in addition to being about the role art would play in a higher culture (as for example in Salaquarda 1999, p. 140) allows us to better understand Nietzsche’s persisting ambivalence towards Wagner, whose art he consistently sees both as a dangerous force working against culture and as an unsurpassed aesthetic achievement. In Menschliches, Allzumenschliches, art still has an important, if not dominant, role in Nietzsche’s portrait of a future

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Disillusioned with the capacity for great art to transform the public in order to make it receptive to its highest effects, Nietzsche’s interest turned to the public as it existed, with its needs and practices. Somewhat surprisingly perhaps, Nietzsche’s view of the public is in some ways more generous than that of many other theorists of popular art. According to him, the public never receives art passively, but is always looking for something in it, engaging with works of art according to certain preexisting and mostly extra-artistic needs. Certain lived experiences create needs for specific types of effects, and art is used by the members of the public to satisfy these needs.⁸ Consequently, the public is selective, and does not merely absorb just anything that is graciously handed to it. Or, more precisely, it does not merely undergo the effect of a work of art but plays an active role in its reception. Whatever is handed to it, it uses for its own ends. And since engaging with art is a sort of selfmedicating, Nietzsche, by showing his readers the diseases of which art is meant to alleviate the symptoms and by investigating their etiology, puts his readers face to face with their dependence upon art in order to encourage them to look elsewhere for solace.⁹ The main reason why we should renounce art, according to the Nietzsche of the late 1870s, is because it is mostly used as a “palliative”, in that it provides new interpretations meant to make difficult experiences easier to bear, but in doing so impedes us from tackling the underlying problematic situations (NL 1876, KSA 8, 23[148]). An important goal of Menschliches, Allzumenschliches is to encourage the readers to abandon all passing means of relief, so that dissatisfaction may lead them to confront the causes of their ills (MA 148; KSA 2, p. 143 and NL 1876, KSA 8, 16[7]). One such “disease” that led those who suffered from it to turn to art for relief is the disease that was brought about by the acceleration characteristic of modernity. It is first worth noting that Nietzsche was not wholly critical of acceleration. While he was acutely aware of both the technical acceleration and the ac-

“höheren v i e l s a i t i g e r e n Cultur” (MA 281; KSA 2, p. 230), but it is thoroughly rejected as the principal means of bringing about this higher culture in virtue of its lack of effectivity. “Hätten wir selbst die Kunst, – wo haben wir den Einfluss, i r g e n d e i n e n Einfluss der Kunst?”, he writes in MA 212 (KSA 2, p. 174). For Nietzsche, high art as high art exists in a sphere separated from world history in virtue of its lack of resonance in the public, but it is not “schuldlos und nicht blutbefleckt” as Schopenhauer would have it (Schopenhauer 1874, p. 80), and instead has a host of unintended and undesirable effects.  As a condition of access to a given work of art’s import, this is to be distinguished from the competence of the public as a condition of “adequate” reception, which is more often discussed in the philosophy of art. The two questions are complementary for Nietzsche, as he considers artistic competence to be a condition of the development of a need for art.  This (relative) confidence in the freeing power of knowledge is typical of the “enlightened” Nietzsche of Menschliches, Allzumenschliches.

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celeration of life in his times, his attitude was one of relative ambivalence; and as with most cultural phenomena, he did not want to reject it wholesale, but hoped to harness its power in his struggle for higher culture. With this out of the way, let me now turn to § 170 of Der Wanderer und sein Schatten, titled “D i e K u n s t i n d e r Z e i t d e r A r b e i t .” The text begins thus: Wir haben das Gewissen eines a r b e i t s a m e n Zeitalters: diess erlaubt uns nicht, die besten Stunden und Vormittage der Kunst zu geben, und wenn diese Kunst selber die grösste und würdigste wäre. Sie gilt uns als Sache der Musse, der Erholung: wir weihen ihr die R e s t e unserer Zeit, unserer Kräfte. (WS 170; KSA 2, p. 623)

Nietzsche argues here that the modern individual has incorporated an all-consuming concern with temporal efficiency, which leaves no place for activities that do not produce fast and tangible results. In the context of the “ungeheur[en] Beschleunigung des Lebens” (MA 282; KSA 2, p. 231) born out of the ever-increasing demands for speed of the “M a s c h i n e n - Z e i t a l t e r s ” (WS 278; KSA 2, p. 674), no time should be wasted anymore on an art that demands great effort and promises seemingly little in return. The hard workers, be they artisans, scholars (MA 284; KSA 2, p. 284), or else, instead feel the need for an art that is in the service of their concern for efficiency, an art which would allow them to rest and to temporarily divert their attention from the object of their daily toiling, so as to more readily return to it afterwards. To fulfill this demand of the public for distraction, the artist must have recourse to the “gewaltsamsten Erregungsmittel[n]” of what Nietzsche calls “k l e i n e Kunst”: “Betäubungen, Berauschungen, Erschütterungen, Thränenkrämpfe” (WS 170; KSA 2, p. 624). And the artists, even the great ones, provide these, because they must: if they did not adapt their art to the public’s needs, however trivial, art would not find a place in contemporary culture and would be in danger of disappearing. By disguising their art as an object of distraction, they are able to preserve their relationship with their public and are in a position to (eventually) contribute to its artistic education. Other sorts of needs for art also persist for those who are not under the spell of this “consciousness of an industrious time”. The “feineren Unzufriedenen” (VM 169; KSA 2, p. 447), unburdened by work, engage with art more readily, but do not have a need for what great art has to offer either. These “Gewissenlosen und Lässigen” (WS 170; KSA 2, p. 623) turn to art to forget themselves, and in hopes of a pessimistic transfiguration, which would offer them a reinterpretation of their faults as those of the world, in order to soothe their dissatisfaction. Art “soll ihnen für Stunden und Augenblicke das Unbehagen, die Langeweile, das halbschlechte Gewissen verscheuchen und womöglich den Fehler ihres Lebens und Charakters als Fehler des WeltenSchicksals in’s Grosse umdeuten” (VM 169; KSA 2, p. 447). As for the actual need

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for art of the Volk, upon which Wagner’s artistic-revolutionary hopes rested, Nietzsche insists that it is nothing to write home about, seeing as it is merely a need for “bad” art. “Nur bei A u s n a h m e - M e n s c h e n giebt es jetzt ein Kunstbedürfniss in h o h e m S t i l e ” (VM 169; KSA 2, p. 446), he suggests, but it seems dubious that this statement concerns anyone that is not a “genius.” As such, the capacity of art to effect any sort of cultural transformation by affecting the public seems blocked in all of its possible directions. It is instrumentalized by different tendencies, none of which aspire to use it as a springboard towards something higher, and it merely helps the public avert its gaze from the situations that are at the root of its discomfort. It is in the service of the status quo, and as such, according to Nietzsche, a danger for humanity’s development in his times.

3 Do Nietzsche’s reflections on the kinds of needs that motivate us to engage with art bear on the present day, especially after the changes brought about by the “digital revolution”? How far along can Nietzsche accompany us in our understanding of our relation to art, given the massive technological and social differences between our times and his? For the rest of this paper, I would like to take a look at a few representative examples, relating to music in particular, to attempt a modest answer. The movement of acceleration that Nietzsche witnessed in his times is still in full swing today; this much is not too controversial. With the “digital revolution”, a great leap in speed has been accomplished, the experience of which has perhaps made us feel with greater acuity effects of acceleration to which we had become accustomed (Rosa 2013, p. 44). But fundamentally, this conscience of the hard worker of which Nietzsche spoke, one of the driving forces of this movement of acceleration, is still our conscience. In this sense, it seems Nietzsche’s diagnosis of his times should still be applicable to ours, at least in part. To question this applicability of his analyses to contemporary experience, I suggest we take a brief look at effective practices of engagement with music in the present day as made possible by developments in the means of music distribution. Ways of relating to art are largely influenced by the technical means that allow us access to it. Nietzsche’s own musical education, for instance, had much to do with the technological developments of his times regarding the speed of production and distribution of sheet music. The Klavierauszüge (i. e., in this case, vocal scores) with the help of which he initially familiarized himself with the works

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of Wagner¹⁰ were part of a wide commercialization of music meant for a growing middle class, which was made possible by important developments in musical typography.¹¹ At the time, piano reductions were often the only way for the public (or even sometimes for musicians) to get to know a wider repertoire (Loos 1983, p. 25) and they sold many more copies than full scores.¹² Developments in music distribution continued with impressive haste in the late 19th and in the early 20th century, with the apparition of means of distributing recorded music, from wax cylinders to vinyl discs, and the parallel development of electrical broadcast apparatus (Sheridan et al. 2003). By dispensing with the need for the presence of performing musicians, whether in the concert hall or in the private sphere, recorded music could integrate daily life with much more ease. This opened new avenues for the use of music as a tool in the service of efficiency. Recorded music could now be broadcast in a variety of prosaic context with the aim of harnessing its notorious powers of influence, with limited interest – or, in some case, without interest – for its artistic import. One of the best-known attempts at producing music with exclusive concern for its effect is perhaps that of the makers of “Muzak”, music meant to make the most of the possibilities offered by music broadcast to support and boost productivity in the workplace. With an approach that strived to be “scientific”, the makers of this mood-enhancing music worked in conjunction with psychologists to create what they called the “Stimulus Progression Curve”, a pattern of composition meant to stimulate the workers just enough, so that they were neither bored nor made too excited by the music (Anderson 2015, p. 822). Muzak has little to do with any need for art in the public, seeing as it is instead an influence exerted from the outside on the working individual. It might not even have much to do with art, since it tries to pass unnoticed as part of the work environment.¹³ Conscious engagement with it is not desirable, as it would distract from the task at hand; instead of striving to imitate nature and suggest a reconfi-

 See EH, “Klug”, 6: “Von dem Augenblick an, wo es einen Klavierauszug des Tristan gab – mein Compliment, Herr von Bülow! –, war ich Wagnerianer.” (KSA 6, p. 289) Nietzsche played the reduction (for two hands) of Tristan und Isolde with Gustav Krug in early 1862 (Janz 1978, pp. 90–92). He also wrote a short (critical) review of the piano reduction of the Walküre in 1866 (KGW I/4, 43[1]).  Namely, the development of mosaic types from the second half of the 18th century. See Boorman et al. 2001, esp. pp. 337–339.  Cf. Loos 1983, pp. 12–13 for the numbers for most of Wagner’s operas. Nietzsche’s own music library gives us a glimpse of the practices of the time: of all the sheet music inventoried in Nietzsches persönliche Bibliothek (pp. 700–713), there is only seven volumes of pieces for the piano; apart from a few full scores (six in total), most of the music Nietzsche owned was made up of vocal music with piano accompaniment (44 items) and of piano reductions of a variety of orchestral and vocal works (23 items).  “Music is Art, Muzak is science”, touted an advertising slogan (quoted in Anderson 2015, p. 823).

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guration of its elements, Muzak strives to be seen as nature, to make inapparent its artificial, artifactual character. As such, it does not present the “public” (if we may call it so) with vital virtualities in its reorganization of appearance,¹⁴ but adds to the inert weight of the present. Nevertheless, it is representative of certain important developments made possible by new technologies of music distribution: music could now be used in very close proximity or even simultaneously with the experiences it is meant to “support”, and it could be more closely adapted to the listener’s circumstances. As means of distributing music developed through the 20th century and up to now, available recorded music progressively became much more varied¹⁵ and, importantly, useable in the privacy of one’s own home or through one’s portable device. Individuals who turned to music as something to numb their discomfort could now use it with increased efficiency: it was possible to obtain almost instantly and required overall less time to “consume.” With music listening no longer obeying concert schedules, it could be used before work, in order to prime one’s mood for upcoming affectively demanding work situations (DeNora 1999). Similarly, music streaming platforms now have a large offering of moodthemed playlists, some of which are explicitly tailored to the needs of workers (Anderson 2015). More recently, as spiritual successors of sorts to Muzak but marketed towards individuals, many applications are offering mood-conducive, AI-generated “wellness music”. One of the most well-known among them promises among other possible benefits a “7x increase in focus, maintained 95 % of listening time” with the help of its “personalized soundscapes”, which use the “[major] pentatonic scale and pure intonation to create simple sounds that are both pleasant and physiologically natural”, and are supposed to adapt to the weather and to the user’s heart rate and motion.¹⁶ These few examples show how music as a form of self-medicating in the service of work, with the developments of the technologies used to broadcast (or narrowcast) it and even to “create” it, has transformed into something quite different from what Nietzsche had in mind or could envision. But his main point seemingly still stands: one of the most widespread ways of engaging with art, perhaps even

 See Reschke 2020, p. 91, who suggests that, for the Nietzsche of Menschliches, Allzumenschliches and of Die Geburt der Tragödie, “[die Kunst kann] immer in verstörender Weise imaginieren und (be‐)schreiben […], wie es anders sein könnte.”  Most recently, through the “long tail effect” made possible by new modes of online distribution. On some effects of this development on contemporary music, see Lehmann 2012, pp. 66–69.  See “Endel: The Science of Endel”. The slip from the “purity” of the untempered scale, made up of pitches naturally occurring together as part of a harmonic series, to the “physiologically natural” character of the sounds and of their effects is typical of the often crude naturalism of these “scientific” approaches aiming to instrumentalize music in the service of productivity.

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more now than then, is in the service of our attempt at satisfying the demands of a culture of ever-increasing speed and efficiency. This has only been made more obvious by these new technologies. We are now able to expose ourselves simultaneously to the poison and to the remedy, to the unpleasant or painful experience of relentless work and to the soothing power of the music of our choosing. This, in a way, calls to mind the descriptions of the dual tragic artwork of Die Geburt der Tragödie. But work, unlike the Dionysian, is not in itself an experience that brings meaning despite its unpleasant side: the suffering it can cause is not necessarily accompanied by a joyous transfiguration of our view of ourselves or of our relationship to the world. Here, what receives compensation does not possess any intrinsic value for life; instead of opening new existential avenues, the above-described uses of music tend to hinder the apparition of new possibilities of life, in favor of a drive to activity within the confines of preexisting norms.¹⁷ The end result is more akin to that “philistine” engagement with art Nietzsche criticizes in the first of the Unzeitgemässe Betrachtungen, where the public uses art to attain homogeneity without true unity and strives for functionality alone without following the arts’ guiding thread towards something greater. Art, or at least music, is still mostly perceived through the lens of our “Wahnsinn der Bewegung” (NL 1876, KSA 8, 17[54]), and this tendency to use it in the service of efficiency is ours as much if not more as it was the public’s of Nietzsche’s time.

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 Compare Nietzsche’s comment on the “t h ä t i g e n M e n s c h e n” in MA 283, who are only “als Gattungswesen thätig, aber nicht als ganz bestimmte einzelne und einzige Menschen” (KSA 2, p. 231).

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Nietzsche, die Politik und die Öffentlichkeit

Martine Prange

Nietzsche, Nach-Wahrheit und Medienkritik Abstract: Nietzsche, Post-Truth and Media Critique. In this article, I argue that the current post-truth era forces us to re-pose the question of truth. I argue that if we want to understand who we are today and develop an „ontology of the present“ as Michel Foucault called it, we must develop a new question of truth based on Foucault’s remark that „whenever we need to rethink the truth, we must turn to Nietzsche.“ Next, I put forward my proposal for this renewed question, arguing first that this enquiry is a multi-layered one and, second, that Foucault and Nietzsche’s genealogical critique should be expanded to include a critique of media. I then demonstrate how such a media critique can fruitfully begin with Nietzsche by, first, looking more closely at his early reflections regarding which media can or cannot convey the truth. Finally, I argue that by considering Nietzsche’s own relationship with the public, we may learn how to bridge the gap between „the people“ and the „intellectual elite“ while maintaining the critical attitude that public intellectuals are supposed to maintain. Alle, die sagen, dass es für mich die Wahrheit nicht gibt, sind einfältig (Michel Foucault)¹

„P r ä m i s s e n d e s M a s c h i n e n - Z e i t a l t e r s . – Die Presse, die Maschine, die Eisenbahn, der Telegraph sind Prämissen, deren tausendjährige Conclusion noch Niemand zu ziehen gewagt hat“ (Friedrich Nietzsche, Der Wanderer und sein Schatten 278; KSA 2, S. 674).

1 Das Problem: Heute als Zeit der Nach-Wahrheit Der kanadische Medienguru Marshall McLuhan sagte in seinem Buch Understanding Media: The Extensions of Man aus dem Jahr 1964 das Aufkommen des World Wide Webs voraus. Laut seiner Einführung schrieb er dieses Buch in dem „tiefen Glauben“ („deep faith“, McLuhan 1964, S. 6), dass das World Wide Web zur Inte-

Danksagung: Ich danke Detlev Pätzold, Manuel Knoll und Ruth Rebecca Tietjens für Korrekturen an früheren Versionen dieses Textes.  „All those who say that for me the truth doesn’t exist are simple-minded“ (Foucault 1989, S. 456). https://doi.org/10.1515/9783111072890-007

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gration der Menschheit und zur Demokratisierung beitragen würde.² Dank des Internets würden marginalisierte Personengruppen an der öffentlichen Debatte teilnehmen können. Diese öffentliche Debatte könne letztlich auch zu einer globalen öffentlichen Debatte werden. Alle werde mit allen in Kontakt sein und als Mitglieder des „globalen Dorfes“ („global village“) – der berühmte Begriff wird von McLuhan hier eingeführt – werden wir uns alle für einander verantwortlich fühlen, genauso wie Kant es sich vorgestellt hatte in seiner Schrift Zum ewigen Frieden. Wie anders ist die Realität im Jahr 2021. Die öffentliche Debatte ist zu einem offenen Abwasserkanal verkommen, durch den vor allem verbaler Schmutz fließt. Dank der „Personalisierung“ ist das Internet zu einem globalen Dorf von privaten Inseln ohne Brücken geworden, wo das Entlüften der eigenen Emotionen und ständiges Sich-selbst-Beweisen wichtiger ist als das gemeinsame Finden oder Problematisieren der Wahrheit.³ Mit Maschinen und Software anstelle von Menschen als Torwächtern in der Medienlandschaft ist alle Ethik verschwunden und haben populistische Politiker ausgiebig Raum, die Medien und Gegner für die angebliche Produktion gefälschter Nachrichten, der sogenannten „Fake News“, zu diskreditieren.⁴ So sind wir in der sogenannten „Nach-Wahrheitsgesellschaft“ gelandet, in der Ressentiments gegen das Establishment, Hass gegen politische Korrektheit und AntiIntellektualismus mittels Memes und Tweets in sozialen Medien ein explosives Bündnis eingehen. Verschiedene Philosophinnen/Philosophen, wie Susan Neiman, Daniel Dennett und Steven Pinker, die sich um die Nach-Wahrheitsgesellschaft kümmern, machen den postmodernen „Relativismus“ und „Irrationalismus“ verantwortlich für den allgemeinen Niedergang des Glaubens an die Wahrheit.⁵ In einem Interview mit

 Obwohl er im ersten Kapitel ziemlich grob behauptet, dass die neuen elektronischen Medien eine innere Gefahr darstellen, während Hitler und Stalin äußere Gefahren waren (McLuhan 1964, S. 18– 19). Dies deutet auf einen tiefen Pessimismus hin und zeigt, dass McLuhan sich der allgegenwärtigen Gefahr der neuen Technologien bewusst ist.  Von jeder Insel aus wird ein persönlicher „Krieg gegen die Mainstream-Medien“ (Nagle 2017, S. 8) geführt. Wir vermissen „Torwächter“ (Nagle 2017, S. 9), da die Funktion des „Torwächters“ oder „Kurators“ (Pariser 2011, S. 51) den Algorithmen überlassen wird und damit ein System „ohne Moral“ (Pariser 2011, S. 75) und einer „maschinengesteuerten“ Zukunft (Pariser 2011, S. 52) initiiert werden.  Zuboff behauptet, dass der Kapitalismus durch die kommerzielle Nutzung der Algorithmen eine neue Form angenommen hat, die der „Überwachung“. Dieser „Überwachungskapitalismus“ („Surveillance Capitalism“, Zuboff 2015, 2019) tarnt den Menschen auf der Suche nach marktfähigen Daten zur Vorhersage des menschlichen Online- und Offline-Verhaltens so, dass der„menschliche Zustand“ („the human condition“, Arendt 1998) auf einen „tierischen Zustand“ reduziert wird, in dem der Mensch nur mechanisch, wie ein „Automat“ handelt.  Auf diese Weise setzen Neiman, Dennett, und Pinker die „Wissenschaftskriege“ („science wars“) fort, die 1994 mit der Veröffentlichung des Buches von Paul Gross und Norman Levitt, Higher Su-

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dem englischen Tagesblatts The Guardian erklärte Dennett beispielsweise, dass „die wirkliche Gefahr, die uns droht, darin besteht, dass wir den Respekt vor Wahrheiten und Fakten verloren haben“ („the real danger that’s facing us is we’ve lost respect for truths and facts“, Cadwalladr 2017, Abs. 5).⁶ Dennett macht die postmodernen Philosophinnen/Philosophen für den öffentlichen Verlust der Achtung vor der Wahrheit verantwortlich: „Ich denke, was die Postmodernen taten, war wirklich böse. Sie sind verantwortlich für die intellektuelle Modeerscheinung, die es respektabel machte, zynisch über Wahrheiten und Fakten zu sein“ („I think what the postmodernists did, was truly evil. They are responsible for the intellectual fad that made it respectable to be cynical about truths and facts“, Cadwalladr 2017, Abs. 9). Diese berühmten Philosophinnen/Philosophen plädieren für eine Rückkehr zur „Moderne“ als Lösung. Es gibt eine klare Sehnsucht nach der Aufklärung als Lösung des politischen und öffentlichen Mangels an Respekt für Wahrheit und Vernunft. Mit „Moderne“ meinen Dennett, Neiman und Pinker eine Rückkehr zu Kants aufklärerischem Denken als der Aufwertung von rationalem Denken und Wissenschaft. In dieser Sichtweise wird der Rationalist und Aufklärer Kant mit den Irrationalisten und Gegen-Aufklärern Nietzsche, Foucault und Derrida konfrontiert. Dabei ignorieren diese Beschützer von Wahrheit und Fakten selbst einige wichtige Fakten: 1. Sie missverstehen die politische Geschichte. „Fake News“ gab es schon immer und autoritäre, aber auch demokratisch gewählte Politiker haben immer wieder gelogen, wie Hannah Arendts berühmter Vortrag „Lying in Politics“ über die Pentagon-Papers aus dem Jahr 1971 zeigt. 2. Sie missverstehen die Geschichte der Philosophie. Die Skepsis gegenüber der menschlichen Fähigkeit, die Wahrheit zu erkennen (verstanden als „das Wesen

perstition: The Academic Left and Its Quarrels with Science begannen, in dem sie schreiben, dass diese postmoderne linke Kritik an der Wissenschaft die gegenwärtige Universität vergifte, nehme eine „Flucht vor der Vernunft“ („flight from reason“) an. Das Buch ist das Ergebnis einer Konferenz mit dem Titel: „The Flight from Reason“. Sie sind zu Recht besorgt über den Niedergang von Politik und Kultur, das Verschwinden der Vernunft aus Politik, Öffentlichkeit und Wissenschaft. Aber sie irren sich, wenn sie denken, dass Kulturkritiker wie Nietzsche und Foucault „anti-wissenschaftlich“ und „anti-rational“ sind, und „Fortschritt“ hassen. Sind postmoderne, kulturelle Kritiker wirklich gegen den sozialen, politischen und moralischen Fortschritt, den wir als Menschheit in den letzten zweihundert Jahren gemacht haben? Stellen sie nicht vielmehr bestimmte metaphysische Annahmen der Wissenschaften zur Diskussion, wie die Einheit der Natur, bestimmte Annahmen der wissenschaftlichen Methoden und die Nachteile des blinden Kampfes um Fortschritt? Könnte man nicht sagen, dass sie gerade aus Sorge um Wahrheit, Rationalität, Mensch und unseren wissenschaftlichen, wirtschaftlichen, und moralischen Fortschritt die „Rationalität der Rationalität“ untersuchen?  Übersetzt von Martine Prange.

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aller Dinge“) und/oder diese in diskursiven Gedanken und Sprache auszudrücken, ist einer ihrer wichtigsten und längsten, wenn nicht sogar der längste Strang. Angefangen bei den Vorsokratikern Heraklit und Parmenides und Sophisten wie Protagoras bis hin zu Hume und der Philosophie des linguistic turn (man denke an Wittgenstein) steht die Skepsis im Mittelpunkt der philosophischen Erkenntnistheorie.⁷ Sie missverstehen außerdem die „moderne“ Philosophie. Kants Aufklärungsschrift, in der er sich für wissenschaftliches Wissen als Grundlage der öffentlichen Meinung einsetzt, kann nicht von seinem kritischen Projekt einer Abmessung der Grenzen des menschlichen Wissens und der wissenschaftlichen Theorie gelöst werden. Dennett, Neiman und andere erkennen nicht, dass Kants aufklärerisches, kritisches Denken notwendigerweise zu Selbstkritik und Nihilismus führt. Jacobi zeigte dies bereits zu Kants Zeiten. Das bedeutet, dass der Ruf nach einer Rückkehr zu Kant eine Rückkehr zum gesamten Kreis des Rationalismus, Selbstkritik und Nihilismus impliziert. „Nihilismus“ wird dann nicht moralisch verstanden als „alles ist erlaubt“, aber epistemologisch als das Problem des letzten Grundes und das Problem des Solipsismus. Der Ruf nach der Moderne wird so automatisch ein Ruf nach der Postmoderne. Sie interpretieren die Postmoderne falsch. Erstens setzen sie diese einfach mit epistemologischem und moralischem Relativismus gleich, ohne weitere Erklärungen. Zweitens leugnen sie Nietzsches und Foucaults Dankesschuld gegenüber Kants kritischem Projekt. Nietzsche denkt über die extremen Folgen des von Kant begonnenen Projekts nach, und das postmoderne Denken baut auf diesem epistemologischen, skeptischen Erbe auf.

Also: so wie Kant kein eindeutiger Rationalist ist, so sind Nietzsche und Foucault keine eindeutigen Anti-Rationalisten.Wie Kant untersuchen sie kritisch die Grenzen menschlicher Rationalität und wahrer Erkenntnis. Man fragt sich, hat Kant in seinem Versuch, die Grenzen der Vernunft zu setzen, in seiner Kritik der reinen Vernunft nicht die Tür für die „Krise der Vernunft“ geöffnet? Und wäre es nicht eher unmodern und gegen den Geist von Kants Aufklärungsauffassung sowie wenig philosophisch, etablierte Doktrinen, einschließlich die der Moderne, des wissenschaftlichen Fortschritts und der Erkenntnis usw. nicht zu hinterfragen und zu kritisieren? Wir sollten uns nicht von der„Erpressung“ der Aufklärung („Blackmail“ of the Enlightenment, Foucault 1984, S. 42) täuschen lassen, die besagt, dass wir uns  Laut Simon Blackburn (2005) besteht der Unterschied zu Nietzsche und den Postmodernen darin, dass Skeptiker/-innen immer noch glauben, dass es eine Wahrheit gibt, aber dass sie nicht bekannt ist. Aber auch Nietzsche und postmoderne Philosophen wie Foucault und Derrida lassen Wahrheit und Realität nicht los und problematisieren vor allem die Möglichkeit, sie zu kennen.

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für oder gegen die Vernunft entscheiden müssen, sondern wir sollten versuchen, eine Philosophie und Methodik zu entwickeln, die Kants und Nietzsches Philosophie fruchtbar verbindet. Auf diese Weise missverstehen diese Denker auch das Nach-Wahrheitszeitalter. Die „Nach-Wahrheit“ (oder: das „post-faktische Zeitalter“) hat mehrere Aspekte, und es geht ihr nicht einfach darum, nicht an die Wahrheit als „rational begründeten Glauben“ zu glauben. Ihre vereinfachte Lösung ist auch daher keine Lösung. Was wir als heutige Philosophinnen und Philosophen tun müssen, ist vor allem (1) auf die Komplexität der Probleme hinweisen, für die „Nach-Wahrheit“ steht. Und wir sollen zusammenhängend damit (2) eine Lösung finden, die der modernen Geschichte der Philosophie gerecht wird, in der die Postmoderne das notwendige Ergebnis des kantischen Denkens und nicht seine schlichte Verleugnung ist. Wir müssen also eine Art Mittelweg zwischen der Wiederherstellung der Wahrheit, damit sie wieder als Leitfaden für die öffentliche Meinungsbildung dienen kann, und dem philosophischen, kritischen Umgang mit der Wahrheit, entwickeln. Unsere Suche nach der Wahrheit muss begleitet werden von dem Bewusstsein, dass es keine absolute Wahrheit gibt, dass die Geschichte der Philosophie viele Perspektiven auf die Idee der Wahrheit eröffnet hat, und dass eine wichtige Aufgabe der Philosophie darin besteht, die Wahrheit zu problematisieren, ohne in den Relativismus, begriffen als Mangel an Hierarchie der Werte oder Überzeugungen, zurückzufallen. Also, wenn ich von „der Wahrheit“ rede, dann meine ich im Weiteren einen pluralistischen Wahrheitsbegriff. Meiner Meinung nach beinhaltet eine neue ‚Politik der Wahrheit‘, wie Foucault sie nennt und warum wir Nietzsche brauchen, wie er sagt, drei Dinge: 1. Die Rückgewinnung/ Rehabilitierung der Wahrheit zur Rettung der öffentlichen Debatte. 2. Weiterhin eine kritische Überprüfung von Wahrheitsbegriffen und Wahrheitsansprüchen durchzuführen. 3. Das Verhältnis von Wahrheit, Kritik, Demokratie und Medien kritisch zu hinterfragen. Wie sollen wir als Philosophinnen und Philosophen mit der Wahrheit umgehen, während wir uns jetzt in der Position befinden, wo wir einerseits die Wahrheit zurückfordern und andererseits die Wahrheit weiter problematisieren müssen? Die Komplexität der Nach-Wahrheitsgesellschaft wird entlang dreier sich kreuzender Achsen dargestellt: einer politischen Achse, einer erkenntnistheoretischen Achse und einer technologischen Achse. Ich unterscheide also drei zentrale Merkmale der Nach-Wahrheitsgesellschaft: 1. Der Aufstieg der populistischen Politik und die damit verbundene wachsende Polarisierung von fortschrittlich und konservativ (der politische Aspekt);

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Emotionalität als Grundlage der Meinungsbildung anstelle von Wissen und Wahrheit (der epistemologische Aspekt);⁸ Soziale Medien als wichtigste Plattform für die öffentliche Debatte (der technologische Aspekt).

Diese drei Aspekte sind eng miteinander verknüpft: Der Aufstieg der populistischen Politik und die wachsende Polarisierung werden durch den Vorrang der Emotionen vor der Wahrheit genährt und soziale Medien scheinen das perfekte Ventil für politisch motivierte Emotionen.⁹ Zusammenfassend: Wir leben in einer PostWahrheitsgesellschaft, einer Gesellschaft, die zumindest teilweise wenig Respekt vor Wahrheit und Wissenschaft zeigt. Infolgedessen ist die öffentliche Debatte verwirrt und verfallen. Dies wird durch die neuen, sozialen Medien verewigt, die sehr schnell „gefälschte Nachrichten“ („Fake News“) verbreiten. Das gefährdet die Demokratie. Trotz der Querverweise auf die drei Aspekte beschäftige ich mich in diesem Artikel insbesondere mit den epistemologischen und technologischen Aspekten, zuerst mit Nietzsches möglichem Beitrag zu einer fruchtbaren Analyse und Deutung der epistemologischen Krise, der Wahrheitskrise, und nachher dem Verhältnis zwischen Wahrheit und Medien, also der Frage, inwiefern die Medien Schuld haben an dieser Wahrheitskrise.

 Ich betrachte die Nach-Wahrheitsgesellschaft nicht als eine Gesellschaft, aus der die Wahrheit verschwunden ist, sondern als eine Gesellschaft, in der alle behaupten oder behaupten können, die Wahrheit zu sagen. Die „Wahrheitskrise“ findet nicht statt, weil die Wahrheit irrelevant geworden ist, sondern weil viele Menschen auf unklarer epistemischer Grundlage behaupten, die Wahrheit zu sagen, da sie die wissenschaftlichen Beweise ignorieren. In der Tat gibt es nicht, wie manchmal behauptet, einen Verlust oder Mangel an Wahrheit, sondern einen Überschuss an Wahrheit. „PostWahrheit“ bedeutet also, dass wir den Wert der Wahrheit für die öffentliche Meinungsbildung als Fundament der Demokratie aus den Augen verloren haben (Prange 2017).  Ich betrachte die Nach-Wahrheitsgesellschaft als die letzte und gegenwärtige Phase der Informationsgesellschaft. Die Medien spielen daher eine entscheidende Rolle, und im Wesentlichen besteht ein Problem mit dem Verhältnis zwischen Information-Wissensbildung und Wahrheit. Der erkenntnistheoretische Aspekt bildet die Grundlage, dann gibt es ein Problem bei der technischen oder medialen Umsetzung von Wahrheit in Wissen und Informationstransfer durch die Medien. Die Frage, was neu ist und welche Rolle Medien bei der Wissensvermittlung spielen (z. B.: nicht sprachlich, sondern medial), ist daher untrennbar mit der Frage nach dem Verhältnis von Wahrheit und Demokratie verbunden. Wir müssen auch eine Analyse der Medien vornehmen, denn mit der Einführung des Bildschirms und dem Übergang von der Schrift- zur Bildschirmkultur sind wir als Publikum in der Tat immer weniger an Wahrheit, Ideen und anderen interessiert, sondern immer mehr an Unterhaltung, Performance und unserem eigenen Selbst, so wie Postman schon 1985 analysierte (nach Adorno und Horkheimer in Dialektik der Aufklärung).

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Zuerst werde ich die Frage stellen, welche philosophische Frage die richtige Frage ist, um auf die Wahrheitskrise der Nach-Wahrheitsgesellschaft zu thematisieren. Ich tue dies mit Rückgriff auf Kant, Nietzsche und Foucault. Im darauffolgenden Abschnitt werde ich kurz auf den Wahrheitsbegriff eingehen, der sich in Nietzsches Vorliebe für das gesprochene Wort zeigt, im Anschluss an eine Bemerkung, die der Medienphilosoph Neil Postman über den Aphorismus als Träger der Wahrheit gemacht hat. Damit komme ich zur Frage, ob und wie Nietzsche mit seiner Kritik als „mündlicher Denker“ oder„sprechende“ Denker versucht hat, eine Brücke zu seinem Publikum zu schlagen und sich gleichzeitig bewusst von ihm entfremdet hat. Was können wir Philosophinnen und Philosophen aus Nietzsche als „Gegendenker“ und „Brückenbauer“ lernen, wenn es um unsere kritische und öffentliche Aufgabe geht?

2 Eine neue philosophische Frage nach Wahrheit Laut Blackburn (in seinem Buch Truth. A Guide for the Perplexed aus dem Jahr 2005) beruht die Wahrheitskrise auf folgendem Problem: Wenn die Menschen sich Sorgen um eine ‚Wahrheitskrise‘ machen, z. B. in den Geisteswissenschaften, dann machen sie sich Sorgen darüber, dass wir […] in unvollständigen, subjektiven oder gar völlig illusorischen und fiktiven Ansichten gefangen sind. (Blackburn 2005, S. xvi)¹⁰

Nietzsche, der erklärte, dass es „keine Fakten gibt, sondern nur Interpretationen“ ist laut Blackburn maßgeblich für diese Wahrheitskrise verantwortlich. Er ist nicht nur derzeit der „einflussreichste der großen Philosophen“ (Blackburn 2005, S. 75), er ist auch „der bedeutendste moderne Nachkomme von Protagoras“ (Blackburn 2005, S. 72), „der Schutzpatron der Postmoderne“ (Blackburn 2005, S. 75), und damit „Hohepriester des Relativismus“ (Blackburn 2005, S. xv).¹¹ Und weiter:

 „When people worry about a ‚crisis of truth‘, for instance in the humanities, they are not primarily worrying about the sincerity and anxious care for accuracy of those in the field. They are worrying that however sincere and careful we are we are trapped in partial or perspectival or outright illusory and fictional views, with little or no chance of realizing our plight“ (Blackburn 2005, S. xvi). Übersetzt von Martine Prange.  „The implications of relativism, and the flashpoints that concern us today, may be new, but the war between those who locate themselves as something like ‘relativists’ and those who sound more like ‘absolutists’ is not. We know that it raged a long time ago, when Socrates confronted the sophists in the Athens of the fifth century BC.“ (Blackburn 2005, S. xv). „Relativism, by contrast, chips away at our right to disapprove of what anybody says. Its central message is that there are no asymmetries of

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Die Frage ist nicht zentral über die Tugenden des Wahrsagens: Aufrichtigkeit und Genauigkeit […]. Diese provozieren viele Probleme, aber die Integrität der Menschen wird nicht in Frage gestellt oder sollte es nicht sein. (Blackburn 2005, p. xvi)¹²

Das Problem der Nach-Wahrheitsgesellschaft ist aber gerade, dass es um die Tugenden des Wahrsagens geht. Laut Dennett und Anderen wurde die Aufrichtigkeit in Frage gestellt, weil Relativisten (Postmodernisten) den Wert der Wahrheit in Frage gestellt haben, indem sie den Eindruck erweckten, dass die Meinung aller gleichwertig ist.¹³ Wenn die Wahrheit wieder die Position einnehmen würde, die sie in der Rangordnung zwischen Meinung und Wahrheit verdient, dann würde das Problem des Wahrheitssprechers, als jemand, der die Wahrheit nur dann beansprucht, wenn er sie tatsächlich kennt, von ihm selbst gelöst werden. Leider führt uns dieser Weg nicht aus der Absolutismus-Relativismus-Debatte heraus. Deshalb schlage ich einen anderen Weg vor, inspiriert von Kant, Nietzsche und Foucault, nämlich zuerst die Tugenden des Wahrheitssprechenden zu betrachten und dann zu fragen, was die Wahrheit ist, die der Wahrheitssprechende spricht, und wie die Wahrheit dann wieder die Grundlage für die Meinungsbildung sein kann. Die richtige philosophische Frage, die man sich stellen muss, um die NachWahrheitsgesellschaft besser zu entwirren und ihre Probleme zu lösen, ist also: „Wer spricht die Wahrheit?“ Lassen Sie mich dies erklären. Meiner Meinung nach erfordert die heutige Nach-Wahrheitsgesellschaft eine neue philosophische Frage. Diese Frage leite ich aus Foucaults Beschreibung der Weichenstellung zwischen analytischer und kontinentaler Philosophie oder zwei Formen des kritischen, philosophischen Denkens ab. Foucault behauptet in seinem Vortrag über Kants Aufsatz „Was ist Aufklärung?“ (1984), dass Kant eine neue Art der Infragestellung der Moderne einführt, nämlich aus der Perspektive der Gegenwart und nicht aus der Unterscheidung gegenüber der Antike. Er behauptet

reason and knowledge, objectivity and truth. Relativism thus goes beyond counselling that we must try to understand those whose opinions are different. It is not only that we must try to understand them, but also that we must accept a complete symmetry of standing. Their opinions ‘deserve the same respect’ as our own.“ (Blackburn 2005, S. xviii).  „The issue is not centrally about the virtues of truth-telling: sincerity and accuracy […]. These provoke many issues, but it is not, or should not be, people’s integrity that is being doubted.“ (Blackburn 2005, S. xvi).  „We may be inclined to associate relativism with a soggy, tolerant, happy-clappy attitude to things. The two relativist mantras are: ‘Who is to say?’ (who is to say which opinion is better?) and ‘That’s just your opinion’ (my opinion is on all fours with yours); the implication is that there are only different views, each true ‚for‘ those who hold them. This attitude sounds spineless, and this spinelessness is one of the things that haunts the conservative commentators’ minds when they lecture their readers on the evils of postmodernism and pluralism.“ (Blackburn 2005, S. xvi–xvii).

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weiter, dass die kritische Philosophie seitdem in zwei Arten unterteilt werden kann: in die „Analyse der Wahrheit“ und diejenige, die „eine Ontologie der Gegenwart“ untersucht.¹⁴ Es scheint mir, dass wir, wenn wir unser Zeitalter der Nach-Wahrheit verstehen wollen, zur „Analyse der Wahrheit“ zurückkehren müssen. Mit anderen Worten, um eine Ontologie der Gegenwart zu erlangen, um unsere Gegenwart als „NachWahrheits-Zeit“ zu verstehen, brauchen wir eine neue, kritische „Analyse der Wahrheit“. Kritische Philosophie nicht als „entweder/oder“, sondern als „sowohl und auch“. Meine Frage ist also: „was wäre, wenn diese beiden Arten der kritischen Philosophie verschmelzen?“ Foucault selbst scheint in dem berühmten Interview „Wahrheit und Macht“ etwas Ähnliches vorzuschlagen, wenn er sagt, dass „die politische Frage […] nicht Irrtum, Illusion, entfremdetes Bewusstsein oder Ideologie, sondern Wahrheit selbst“ ist (Foucault 1980, S. 133).¹⁵ Also, die politische Frage ist eine epistemologische Frage, oder: die epistemologische Frage ist das Herz der Politik. „Daher“, so schließt er, „die Bedeutung von Nietzsche“ (Foucault 1980, S. 133). Warum Nietzsche? Eine Antwort auf diese Frage findet sich im Interview ‚Fragen zur Geographie‘: Es ist wahr, dass die westliche Philosophie, zumindest seit Descartes, immer mit dem Problem des Wissens zu tun hatte. Dem kann man nicht entkommen. Wenn jemand Philosoph werden wollte, sich aber nicht die Frage stellte: „Was ist Wissen“, oder „Was ist Wahrheit“, in welchem Sinne könnte man sagen, dass er ein Philosoph war? Und bei allem, was ich sagen möchte, bin ich kein Philosoph, aber wenn es um die Wahrheit geht, dann bin ich immer noch ein Philosoph. Seit Nietzsche hat sich diese Frage der Wahrheit gewandelt. Es geht nicht mehr darum, „Was ist der sicherste Weg zur Wahrheit“, sondern, „Was ist die gefährliche Karriere, der die Wahrheit gefolgt ist“. Das war Nietzsches Frage […]. Die Wissenschaft, der Zwang zur Wahrheit, die Verpflichtung zur Wahrheit und ritualisierte Verfahren zu ihrer Produktion durchziehen seit Jahrtausenden absolut die gesamte westliche Gesellschaft und sind heute so verallgemeinert, dass sie zum allgemeinen Gesetz für alle Zivilisationen werden. Was ist die Geschichte dieses „Willens zur Wahrheit“? Was sind seine Auswirkungen? Wie ist all dies mit den Machtverhältnissen verwoben? [….] (Foucault, 1980, S. 66).¹⁶

 Wir müssen uns entweder für eine kritische Philosophie entscheiden, die als analytische Philosophie der Wahrheit im Allgemeinen erscheint, oder für ein kritisches Denken, das die Form einer Ontologie von uns selbst als gegenwärtige Realität annimmt, meint Foucault (Foucault 2008, S. 21).  Übersetzt von Martine Prange.  „It is true that Western philosophy, since Descartes at least, has always been involved with the problem of knowledge. This is not something one can escape. If someone wanted to be a philosopher but didn’t ask himself the question, ‘What is knowledge?’, or, ‘What is truth?’, in what sense could one say he was a philosopher? And for all that I may like to say I’m not a philosopher, nonetheless if my concern is with truth then I am still a philosopher. Since Nietzsche this question of truth has been transformed. It is no longer, ‘What is the surest path to Truth?“, but, ‘What is the hazardous career that Truth has followed?’ That was Nietzsche’s question […] Science, the constraint to truth, the

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Lassen wir uns dieses Zitat für einen Moment betrachten. Es gibt zwei Behauptungen: 1. Philosophie bedeutet, sich mit der Wahrheit auseinanderzusetzen. 2. Nietzsche hat eine neue Frage in die Philosophie eingeführt, nämlich: „Weshalb das Bedürfnis nach Wahrheit?“ Foucault zufolge bedeutet die Einführung dieser neuen Frage, die „genealogische“ Erforschung der „gefährlichen Karriere“ der Wahrheit, also die Geschichte des Begriffs der Wahrheit und der Art und Weise, wie dieses Konzept in der westlichen Geschichte mit der Ausübung von Macht, der Bildung von Subjekten, und der Schaffung der Kultur, Wissenschaft und Rationalität verbunden wurde. Mit dem Beginn der Nach-Wahrheitsphase ist die Geschichte der Wahrheit nun vielleicht in die gefährlichste Phase ihrer Karriere eingetreten, denn es scheint mir, dass die Nietzscheanische Wahrheitsfrage jetzt verwandelt ist in die Frage, ob es überhaupt noch ein Bedürfnis nach Wahrheit gibt. Ist die Wahrheit nicht letztlich zu einer Maske des Scheins geworden, und nicht umgekehrt? Gibt es in der NachWahrheits-Gesellschaft nicht eher einen „Unwillen zur Wahrheit“? Ich muss den Punkten 1 und 2 auch noch einen Punkt hinzufügen. Denn Foucault selbst fügt der Tradition eine Frage der Wahrheit hinzu, nämlich, „Wer spricht die Wahrheit?“ Dies tut er vor allem am Ende seines Lebens, in seinen Forschungen und Vorträgen über „parrhesia“, das griechische Konzept des „freien Sprechens der Wahrheit.“ Was war sein Ziel dabei? Ich zitiere Foucault: Meine Absicht war es nicht, mich mit dem Problem der Wahrheit zu befassen, sondern mit dem Problem des Wahrheitsstifters oder des Wahrsagens als Aktivität: … wer ist in der Lage, die Wahrheit zu sagen, worüber, mit welchen Folgen und mit welchen Machtverhältnissen … Mit der Frage nach der Bedeutung des Sagens der Wahrheit, des Wissens, wer in der Lage ist die Wahrheit zu sagen, haben wir die Wurzeln dessen, was wir die „kritische“ Tradition im Westen nennen könnten (Foucault 2001, Motto).¹⁷

obligation of truth and ritualised procedures for its production have traversed absolutely the whole of Western society for millennia and are now so universalised as to become the general law for all civilisations.What is the history of this ‘will to truth’? What are its effects? How is all this interwoven with relations of power?“ (Foucault, 1980, S. 66).  „My intention was not to deal with the problem of truth, but with the problem of the truth-teller, or of truth-telling as an activity: … who is able to tell the truth, about what, with what consequences, and with what relations to power… [W]ith the question of the importance of telling the truth, knowing who is able to tell the truth, and knowing why we should tell the truth, we have the roots of what we could call the ‘critical’ tradition in the West“ (Foucault, 2001, motto).

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Diese Foucaultsche Frage ist in der Nach-Wahrheitsgesellschaft von wesentlicher Bedeutung, denn der Mangel an Respekt vor der Wahrheit drückt sich heutzutage vor allem in der Tatsache aus, dass alle behaupten, die Wahrheit zu sagen ohne sich tatsächlich um die Wahrheit zu kümmern. Wir müssen daher lernen zu unterscheiden, wer tatsächlich die Wahrheit spricht und wer sie beansprucht, ohne sie zu sagen. Das ist meiner Meinung nach die Schlüsselfrage zur Klärung der epistemologischen Krise. Aber sie ist nicht die Einzige. Wenn wir die „gefährliche Karriere der Wahrheit“ bis zur Nach-Wahrheitsgesellschaft verstehen wollen und eine „Ontologie der Gegenwart“ machen wollen, dann müssen wir als „Wahrheitsfrage“ mehrere Fragen stellen: 1. Wer spricht die Wahrheit? Wer hat recht, sie zu beanspruchen, und wer beansprucht die Wahrheit und den Mut zur Wahrheit rein aus Opportunismus heraus? 2. Was ist die Wahrheit? Ist es eine Aussage über die natürliche oder soziale Realität? Oder ist es „speaking truth to power“, den Mut zu haben, die Wahrheit der politischen Macht zu sagen, um diese politische Macht zu brechen? 3. Was ist der Wert der Wahrheit? Wie können wir sicherstellen, dass die Wahrheit, verstanden als wissenschaftlich getestete Wahrscheinlichkeit, wieder zum Prüfstein der öffentlichen Meinungsbildung wird, zum rational begründeten Glauben? 4. Besteht nach wie vor ein Bedarf an Wahrheit, und welche Rolle spielen die Medien bei dem Verlust des Wertes, den das Publikum der Wahrheit beimisst? 5. Was ist die Aufgabe der Philosophie? Was kann und sollte Kritik in Zeiten der Post-Wahrheit noch sein? 6. Was ist Wahrheit ohne ihre öffentliche Anerkennung und welche Rolle spielen soziale Medien beim Verlust jener Anerkennung? Die Genealogie wird damit zu einer kritischen Methode, die diese „gefährliche Karriere“ so weit beschreibt, dass die Frage nach der Karriere keine Einzelfrage mehr ist, nämlich „Was ist die Wahrheit?“ oder „Woher der ‚Wille zur Wahrheit‘?“ Oder „wer spricht die Wahrheit?“, sondern der gegenwärtige Punkt, an dem die Wahrheitsfrage diese Fragen zusammenfasst in der Frage, was der Wert der Wahrheit in einem Zeitalter der sozialen Medien ist. Was ist Wahrheit ohne ihre öffentliche Anerkennung und welche Rolle spielen soziale Medien beim Verlust jener Anerkennung?

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3 Nietzsche als Philosoph der Medien: Schrift-, Bild- und orale Kultur in Bezug auf die Wahrheit Es würde zu weit gehen, diese Fragen im Rahmen dieses Artikels gänzlich beantworten zu wollen. Aber es ist interessant zu sehen, wie Nietzsche über das Verhältnis von Wahrheit und Medien denkt. Darauf werde ich jetzt kurz eingehen. Lassen Sie mich vorerst kurz zusammenfassen, wie das Gesamtbild von Nietzsche als Wahrheitskritiker aussieht. Denn Nietzsche kritisiert die Wahrheit in vielerlei Hinsicht und dies ist aus einer Reihe von Gründen besonders wichtig. 1. (Wahrheit und Schein) – Mit seinem ersten Buch Die Geburt der Tragödie zeigt Nietzsche schon, dass Wahrheit und Schein keine Gegensätze sind, sondern dass sie zwei Seiten derselben Medaille sind. Der Traum ist, als Darstellung der Musik, die Quelle des Wissens über die Wahrheit. Die Wahrheit offenbart sich im Traum und ist nicht etwas, was wir mit wissenschaftlichen Methoden finden können. Die „Wahrheit“ bedeutet hier: die Essenz allen Lebens, das, was Mensch und Natur vereint. Später ist die Frage: Angenommen, es gibt keine zwei Welten, wie Platon dachte, sondern nur diese eine Welt, in der wir uns befinden, ist die Wahrheit dann nicht mehr als die Art und Weise, wie sich die Welt uns präsentiert, wie sie uns erscheint, wie Kant behauptete? Dieser Gedanke ist von zentraler Bedeutung für die Epistemologie von Nietzsches sogenannter Mittelperiode. Ist nicht „Realismus“ die Umarmung von Schein?¹⁸ Wenn wir verstehen wollen, inwieweit Wahrheit als Maske der Erscheinungen funktioniert, ist Nietzsche in unserer Nach-Wahrheitsgesellschaft ein besonders guter Lehrer, um die Analyse des Verhältnisses zwischen Wahrheit und Schein wieder aufzunehmen. Wenn wir verstehen wollen, wie unsere kognitiven Fähigkeiten funktionieren, müssen wir das Verhältnis von Vernunft und Einbildungskraft untersuchen, wie Nietzsche immer wieder deutlich macht. 2. (Wissen und Instinkt) – Ist „Wissen“ nicht nur so etwas wie ein Instinkt, eine Möglichkeit, dem Menschen als Spezies zu helfen, sein Leben in diesem riesigen Universum um eine Minute zu verlängern, wie Elefanten und Tiger Stoßzähne haben, und andere Tiere Krallen und Tarnfarben, so wie Nietzsche in seiner nachgelassenen Schrift „Ueber Wahrheit und Lügen im aussermoralischen Sinne“ (1873) schrieb? Nietzsche lehrt uns, dass wir, wenn wir wissen wollen, was Vernunft und Bewusstsein sind, sie vielleicht nicht von den Instinkten trennen, sondern sie als Instinkte verstehen müssen. Was ist Erkenntnis aus biologischer Sicht?

 Siehe zum Beispiel FW 54 (KSA 3, S. 416–417).

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(Erkenntnis und Sprache) – Ist die Sprache nicht eher ein Hindernis, eine Sperre für den Ausdruck unseres Wissens statt eines unproblematischen Instruments für den Ausdruck unseres Wissens und unserer Absichten? Reduziert die Sprache nicht private Angelegenheiten auf Allgemeingültigkeiten, die es in Wirklichkeit gar nicht gibt? Ist die Sprache nicht vor allem eine Frage der Konvention, der menschlichen Vereinbarungen, die es den Menschen ermöglicht, zusammenzuleben, und nicht ein nützliches Instrument des Wissens, wie Nietzsche auch in „Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne“ vorschlägt?¹⁹ Nietzsche macht hier auf die Frage aufmerksam, welches Medium für den Ausdruck von Wahrheit und Wissen am besten geeignet ist: Sprache oder Musik? Schriftlicher oder mündlicher Text? (Wahrheit und Interpretation) – Interpretieren wir nicht immer, wenn wir die Realität wahrnehmen, und sind diese Interpretationen nicht immer von der Kultur und der historischen Periode beeinflusst, in der wir uns befinden? Kurz gesagt, ist Wissen nicht eher kontingent als universell und immer gültig? Nietzsche schlägt vor, dass die menschliche Wahrnehmung historisch und kulturell bestimmt ist. Die Kritik als genealogische Kritik hängt damit zusammen.

Das sind die bekannten Fragen des skeptischen Philosophen Nietzsche. Diese wurden in der Nietzsche-Literatur bereits in den letzten hundertzwanzig Jahren ausführlich diskutiert, und ich möchte vermeiden, dass es zu einer Wiederholung von Argumenten kommt. Mich interessiert, was Nietzsches Vorliebe für das gesprochene Wort, für das Gespräch, den Monolog und den Dialog, über das geschriebene Wort, das wissenschaftliche Werk, über sein Verständnis der Wahrheit sagt. Welches Medium eignet sich am besten für die Vermittlung von Wahrheit und für die philosophische Kritik? Was ist das Verhältnis zwischen Wahrheit und Medium? Diese Frage ist nicht nur eine Kernfrage der Nach-Wahrheitsgesellschaft, in der epistemologische und technologische Aspekte verschmelzen, sondern ist auch wichtig, um einen besseren Einblick in Nietzsches Wahrheitsvorstellung, seine Vorstellungen von Kritik und seinen Stil des Philosophierens zu gewinnen. Eine Antwort auf diese Fragen kann uns hoffentlich auch helfen, weiter über das Ver-

 Was die Wahrheit betrifft, so hat Nietzsche seit der Geburt der Tragödie deutlich gemacht, dass sie nicht ohne Illusionen auskommt. Bereits 1873 verabschiedet sich Nietzsche mit WL von seiner sogenannten „Artistenmetaphysik“ und kritisiert von da an den dogmatischen und anthropologischen „Schlummer“ des Menschen. Er beginnt WL mit der Beobachtung, dass die Minute, in der der Mensch das Wissen erfand, die „hochmüthigste und verlogenste Minute der ‚Weltgeschichte‘“ (WL, KSA 1, S. 875) war.

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hältnis von Wahrheit, Kritik und Medien nachzudenken, also über Nietzsche hinaus. Meiner Meinung nach ist es merkwürdig, nach den historischen und kulturellen Bedingungen für die Möglichkeit des Wissens zu fragen und so eine genealogische Analyse der gefährlichen Laufbahn der Wahrheit vorzunehmen, ohne die technologischen oder medialen Bedingungen der Möglichkeit in sie einzubeziehen. Wie können wir eine richtige Ontologie von heute skizzieren, ohne Medienkritik?²⁰ Wenn die Genealogie nach den historischen und kulturellen Bedingungen der Erkenntnismöglichkeit oder der Wahrheitssprache und den Konstellationen zwischen Wahrheitssprache und Machtausübung fragt, wie ist es dann möglich, dass weder Nietzsche noch Foucault nach der Rolle des Mediums bei der Herstellung der verschiedenen Konstellationen, den verschiedenen Formen der Wahrheitssprache und der daraus resultierenden Konstitution des Selbst oder des Subjekts gefragt haben? Offensichtlich haben sie nach dem Einfluss der Sprache gefragt. Aber was sagt Nietzsche spezifisch über den Einfluss von gesprochener und geschriebener Sprache oder anderer Kommunikationsmittel auf die Wahrheit, den Menschen und die Kultur? In Der Wanderer und sein Schatten schreibt Nietzsche: „Die Presse, die Maschine, die Eisenbahn, der Telegraph sind Prämissen, deren tausendjährige Conclusion noch Niemand zu ziehen gewagt hat“ (WS 278; KSA 2, S. 674). Nietzsche sieht, dass die Erfindung des Buchdrucks, der Eisenbahn, des Telegrafen und der Maschinen im Allgemeinen einen nachhaltigen Einfluss auf den Menschen und die Kultur haben werden, aber er selbst nimmt keine kulturelle Analyse dieser technischen Entwicklungen vor. Foucault ist der Erbe von Nietzsches genealogischer Kritik und erläutert sie. Neil Postman können wir betrachten als den Erben von Nietzsches Medienkritik, wobei Postman, wie Marshall McLuhan, ausdrücklich von dem marxistischen Materialismus der Frankfurter Schule beeinflusst war. Lassen Sie mich zunächst auf

 Dies ist natürlich eine Frage, die sehr in den Rahmen von Kittler passt. Ich gehe nicht so weit wie Friedrich Kittler und andere Forschende aus Medienwissenschaft oder -archäologie, die die Technik als ontologisches Apriori der Wirklichkeit auffassen, ganz im Sinne eines radikalen Baudrillardismus. Im Gegensatz dazu folge ich McLuhans und Postmans Idee, dass Medien eine ‚Erweiterung‘ des Menschen sind. Während Nietzsche, McLuhan, Postman, Baudrillard und Kittler alle als ‚Materialisten‘ bezeichnet werden können, also nicht glauben, dass Geist und Körper oder die physische Welt (vollständig) trennbar sind, besteht für Nietzsche und Postman die wichtigste Aufgabe darin, den ‚Geist‘ als Synonym für Kultur zu bewahren. Kittler ist, wie Baudrillard, in seinem Materialismus viel radikaler. Abgesehen von dieser ontologischen Differenz nähere ich mich Nietzsche vor allem als Denker über Wahrheit und den möglichen Einfluss von Medien-/Kommunikationstechniken auf unser Verständnis von Wahrheit, weil ich einen Beitrag zur Postwahrheitsdebatte leisten möchte. Der Schwerpunkt von Kittlers Engagement liegt in der Medienwissenschaft, für die Nietzsche einer seiner Vorläufer ist, besonders wenn es um Kittlers ‚corporeality‘ geht (cf. Kittler 1990, S. xv).

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Nietzsches Kritik an den verschiedenen Medien eingehen, bevor ich Postmans Sicht des Wahrheitsbegriffs betrachte, die im aphoristischen Schreiben oder Sprechen enthalten ist. Das Interessante an der Betrachtung von Nietzsches Wahrheitsverständnis aus medialer Sicht ist in der Tat, dass wir versuchen, ein klareres Bild von Nietzsches positivem Wahrheitsbegriff zu erhalten, anstatt nur von seiner Wahrheitskritik. Denn Nietzsche hat nicht nur gegen die Wahrheit gekämpft, sondern auch mit der Frage gerungen, was Wahrheit ist und wie sie kommuniziert werden kann.²¹ Vielleicht kann man sagen, dass Nietzsches Kritik an der Wahrheit aus seiner Sorge um die Wahrheit entstanden ist, so wie sein Antihumanismus aus seiner Sorge um den Menschen entstand. Die Frage nach der Wahrheit stammt aus Nietzsches erstem philosophischen Buch, Die Geburt der Tragödie, das sich mit der Frage beschäftigt, welches Medium die Wahrheit am besten enthüllen kann. Für Nietzsche ist das die Musik. Texte und visuelle Technologien können die Wahrheit darstellen oder ausdrücken, sofern sie die Musik erfolgreich in Text und Bild umsetzen. Nietzsche stellt damit ausdrücklich die Beziehung zwischen Wahrheit und Medium her und erklärt, dass Text und Bild ohne Musik die Wahrheit nicht ausdrücken können: das genuin philosophische Medium ist nicht der Text, sondern die Musik. Liest man Nietzsche als Medienphilosoph, kommt man zu dem Schluss, dass er sich in der Geburt der Tragödie gegen den Text wendet und sich für Tonalität, Musik, Lyrik und den Traum als Medien einsetzt, die der Wahrheit gerecht werden können. In „Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne“ stellt er sich der Sprache und dem Glauben an ihren diskursiven Charakter entgegen, genau wie in Die Geburt der Tragödie; und in Menschliches, Allzumenschliches, Also sprach Zarathustra und Ecce Homo spricht er sich gegen das Buch und den geschriebenen

 Nietzsche wendet sich vor allem gegen die Diskursivität. Aber das bedeutet nicht unbedingt, dass er sich von der Wahrheit verabschiedet, auch wenn sie dem „Schein“ gleich ist und sich schwer ausdrücken lässt. Wir wissen, dass Nietzsche, wie alle Vertreter/-innen des Postmodernismus nach ihm, oft beschuldigt wurde, sich dessen schuldig gemacht zu haben, was Blackburn das „ReboundArgument“ nennt, und was wir auch als das „kretische Paradox“ kennen. Das „kretische Paradoxon“ lautet: „Alle Kreter lügen“. Aber was, wenn diese Aussage von einem Kreter gemacht wird? Mit anderen Worten, was sollen wir mit der Aussage: „Die Wahrheit existiert nicht“ machen, wie kann der Status dieser Aussage sein? Meiner Meinung nach gibt es hier zwei Dinge: (1) Der erkenntnistheoretische Status der Aussage „Es gibt keine Wahrheit“ unterscheidet sich vom Wahrheitsstatus der in dieser Aussage genannten Wahrheit. Laut Nietzsche gibt es keine absolute, metaphysische Wahrheit. Diese Aussage erfordert an sich keinen Glauben an eine absolute, metaphysische Wahrheit, sondern nur an die Möglichkeit von Wahrheit und Gültigkeit, auf deren Grundlage man zwischen gültigen und ungültigen Ansprüchen der Wahrheit unterscheiden kann; (2) Nietzsche hat einen Wahrheitsbegriff, auch in seinem nach-metaphysischen Denken.

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Text aus und vollzieht aktiv die Wende zum Oralen. Sein Denken profitiert vom direkten Kontakt mit der Natur, unvermittelt durch das Buch, und wenn wir Also sprach Zarathustra verstehen wollen, müssen wir uns zuerst auf dieses Buch als Zuhörer beziehen und lernen, seinen „halkyonischen Ton“ (EH, Vorwort 4; KSA 6, S. 259) zu hören.²² Was sagt Nietzsches Wendung zu oralen Techniken und zum Aphorismus über seinen Wahrheitsbegriff aus? Der Philologe und Hermeneutiker Nietzsche, der Akademiker und Professor für klassische Philologie, hatte als Philosoph eine Wahrheitsauffassung, die mit der Sprache in ihrer Vitalität vereinbar war und die Sprache als tote Buchstaben und trockene Abhandlung ablehnte. In seinem 1985 erschienenen Buch Amusing Ourselves to Death: Public Discourse in the Age of Show Business argumentiert Neil Postman, dass die Schrift für die philosophische Wahrheit das geeignete Medium ist, weil das Fernsehen als Massenmedium unser Bedürfnis nach Wahrheit erstickt. Der ‚Wert‘ des Fernsehens liegt in der Unterhaltung, die es bietet. Philosophie und Wahrheit sind jedoch nicht für das Fernsehen geeignet. Da man auf Kosten aller anderen Medien, ob Zeitung, Buch, Radio oder Film, für Nachrichten, politische Informationen und Unterhaltung an das Fernsehen appelliert, erreicht das Fernsehen die Massen auf eine allumfassende Weise, wie es noch keinem anderen Medium je gelungen ist. Es behält dieses Publikum jedoch nur, indem es alles, was es bietet, einschließlich Nachrichten und politischer Diskussionen, auf unterhaltsame Weise anbietet, denn Unterhaltung ist seine Stärke und Verführung. So wie sich Postman der visuellen Kultur widersetzt und sich für die schriftliche Kultur einsetzt, um das Denken, die Philosophie und die Wahrheit zu retten, so widersetzt sich Nietzsche der schriftlichen, textuellen und Bildkultur und verteidigt die orale Kultur, um Philosophie und Wahrheit zu retten. In diesem Zusammenhang ist es interessant, was Postman über die Beziehung zwischen Aphorismus, Oralkultur und Wahrheit sagt: „In einer rein oralen Kultur wird Intelligenz oft mit aphoristischem Einfallsreichtum assoziiert, d. h. der Fähigkeit, kompakte Sprüche mit breiter Anwendbarkeit zu erfinden“ (Postman, 2006, S. 25).²³ Erinnern Sie sich an Nietzsches berühmte Behauptung, dass er in einem Satz schreiben könne, wofür andere ein ganzes Buch bräuchten. Der Aphorismus ist der literarische Stil, für die Nietzsche sich schließlich entscheidet, und Nietzsche versucht, wie Platon, in seinen Schriften zu sprechen, einen Sprachstil zu verwenden, der eine Neigung für mündliche Tradition und

 Vergleiche auch EH Za 4 (KSA 6, S. 341).  „In a purely oral culture, intelligence is often associated with aphoristic ingenuity, that is, the power to invent compact sayings of wide applicability“ (Postman 2006, S. 25).

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Kultur verrät.²⁴ Der Philologe Nietzsche weiß daher besser als jeder andere, dass Sprache und Schrift mindestens so viel verbergen, wie sie verraten, und genau wie Platon schreibt er seine Gedanken, während er die Ohren des Lesenden anspricht und auch weiß, dass das Schreiben als Medium nicht nur „ein Echo einer Sprechstimme“, wie Postman es nennt, sondern „eine ganz andere Art von Stimme“ (Postman 2006, S. 13) ist. Das Schreiben, das Buch, ist, wie Postman in möglicher Bezugnahme auf den Untertitel von Also sprach Zarathustra schreibt, „ein Gespräch mit niemandem und jedem“ (Postman 2006, S. 13). Schriftsteller/-innen schreiben für ein imaginäres, unsichtbares Publikum und Lesende stellen Fragen und erhalten Schweigen als Antwort. Mit seiner Wendung zum Sprechen bringt Nietzsche uns zurück in eine Welt der Magie, der Eventualität, der „Vogelsteller“ (MA I Vorrede 1; KSA 2, S. 15), eines Weisen, der nur dann spricht, wenn es etwas gibt, worüber er zu Recht reden kann und der weiter schweigt („Man soll nur reden, wo man nicht schweigen darf“, MA II Vorrede 1; KSA 2, S. 369), eines, der eine mündliche Leistung erbringt, so wie Sokrates seine Apologie vor Geschworenen hält. „Die Wahrheit kommt nicht ungeschminkt daher und hat es auch nie getan. Sie muss in ihrem richtigen Gewand erscheinen“, schreibt Postman (Postman 2006, S. 22).²⁵ Damit meint er: „Jede Kultur versteht sie als am authentischsten ausgedrückt in bestimmten symbolischen Formen, die eine andere Kultur als trivial oder irrelevant betrachten kann“ (Postman 2006, S. 23).²⁶ Nietzsche sucht nach einer neuen Bildsprache, um Menschen zu verführen, seiner harten Botschaft zuzuhören. Er lässt keinen rhetorischen, literarischen oder philosophischen Stein unversucht, aber er findet „keine Ohren für diese Worte“. Seine Zeitgenossen waren nicht an seiner Wahrheit als Kritik an traditionellen Normen und Werten interessiert, die sich in jedem Medium widerspiegelt. Wir alle wissen, dass sich Zarathustra in Also sprach Zarathustra an die Tiere wendet, weil es in der agora an Menschen mangelt, die ihn verstehen können.

 Wir sollten nicht vergessen, dass Nietzsche sich auch aus praktischen Gründen für den aphoristischen Schreibstil entscheidet. Wegen schwerem Augenleiden konnte er nicht länger als zwanzig Minuten lesen oder schreiben (Prange 2005, S. 15).  „Truth does not, and never has, come unadorned. It must appear in its proper clothing“ (Postman 2006, S. 22).  „Each culture conceives of it as being most authentically expressed in certain symbolic forms that another culture may regard as trivial or irrelevant“ (Postman 2006, S. 23).

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4 Der Kritiker als Außenseiter und Brückenbauer Nietzsches ständige Verteidigung des oralen und musikalischen Klangs ist motiviert durch seine Sorge um unser Denken, Wissen, unsere Kultur, wie auch um die Philosophie und Kritik. Platons Interesse an der Erhaltung der oralen Kultur als Grundlage des Wissens ist inspiriert von seinem tiefen, metaphysischen Interesse an der Wahrheit, die wir nur durch einen freundschaftlichen Dialog erreichen können. Etwas Ähnliches scheint für Nietzsche zu gelten: Nur durch Freundschaft, die richtige Koordination, den richtigen Ton und den freundlichen Dialog können philosophische Ideen vermittelt, Ideen zwischen Gleichgesinnten ausgetauscht und so kritische kulturelle Reflexionen sinnvoll gestaltet werden. So wie der Phaidros zeigt, dass die Umgebung, in der ein Gespräch stattfindet, für den philosophischen Fortschritt auf dem Weg zur Wahrheit unerlässlich ist, so zeigt Nietzsche auch an mehreren Stellen, dass es möglich sein muss, Brücken zwischen Gleichgesinnten und natürlich auch Menschen zu bauen, die anderer Meinung sind, um ein sinnvolles Gespräch führen zu können, das sich auf Wissen, Wahrheit und Kritik konzentriert. Kant zeigt in „Was ist Aufklärung?“ (1784) dass es einer internationalen Gemeinschaft von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern freistehen muss, sich untereinander auszutauschen. Diese Freiheit ist eine politische Freiheit, die vom Souverän auf der einen Seite festgelegt und garantiert wird, sowie eine epistemologische Angelegenheit, die durch Fachwissen, akademisches Wissen und Wahrheit begrenzt und garantiert ist. Für Platon muss das freundschaftliche Gespräch in Freiheit stattfinden, und wenn es außerhalb der Stadtmauern in der Natur liegt, dann muss zumindest sicher sein, dass bestimmte Naturgeister die gemeinsame Suche nach der Wahrheit nicht behindern. Aber was ist, wenn man so einsam ist wie Nietzsche und trotzdem an das gesprochene Wort glaubt? Nietzsche nimmt als sprechender Denker immer die Spannung zwischen Monolog und Dialog auf, weil er den Dialog gerne benutzt, um seine philosophischen Gedanken zu entwickeln, aber es gibt nicht immer jemanden in der Nähe, der ihn verstehen kann. Nietzsches Umgang mit dieser Spannung kann uns vielleicht helfen, besser zu verstehen, wie wir als kritische Philosophen mit der Öffentlichkeit, mit unserem Publikum umgehen sollen. Im Vorwort zur Geburt der Tragödie erklärt Nietzsche, dass er das Buch geschrieben hat, als ob er im ständigen Gespräch mit Richard Wagner wäre. In Also sprach Zarathustra sucht Zarathustra Freunde und Unterstützer, denen er seine Lehren mitteilen kann oder mit denen er seine Gedanken teilen kann. Im Vorwort zu Menschliches, Allzumenschliches beschreibt er, wie er unter einem Mangel an öffentlicher Anerkennung und Freunden leidet. Er nennt dieses Buch sein „monologisches Buch“. Der Reisende spricht mit seinem

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Schatten und Nietzsche erfindet imaginäre Freunde, die er „Freigeister“ nennt – Figuren, die sich bald in Nietzsches Modell dessen verwandeln, was der (zukünftige) Philosoph sein muss. Nietzsche widmet das monologische Buch Menschliches, Allzumenschliches dem freien Geist Voltaire und lässt ihm ein Zitat aus einer Notiz von Descartes über die Befreiung vorausgehen, die er erlebt hat, sobald er wirklich den Weg der Philosophie, oder besser gesagt, seiner Philosophie gewählt hat. Nietzsches Bezug auf Voltaire und Descartes macht sofort deutlich, dass er eine neue Richtung eingeschlagen hat: Hier bezieht er sich auf zwei große französische Geister statt auf die beiden deutschen Geister Schopenhauer und Wagner, wie in Die Geburt der Tragödie und Unzeitgemässe Betrachtungen. Nietzsche bevorzugt daher die Gedankenfreiheit, was zu einem sehr eigenwilligen Buch führt, einem Buch, das nicht darauf abzielt, Wagner anzusprechen, sondern sich selbst zu finden und auszudrücken. So wie Descartes eines Tages beschloss, seinen eigenen Lebensweg zu gehen und sich der täglichen Suche nach der Wahrheit zu widmen, geht Nietzsche auch in diesem Buch darauf ein. Descartes fügt hinzu, dass diese Entscheidung seine Seele mit „Freude“ erfüllt hat, einer Freude, die ihn fast unantastbar und unerschütterlich machte. Jeden Tag, schreibt Descartes, macht er eine neue Entdeckung und glaubt, dass das Leben „nichts Angenehmeres“ und „nichts Unschuldigeres“ bietet als das: Die Entwicklung des eigenen Geistes und die Verfolgung der Spuren der Wahrheit auf seine eigene Weise. Hat Nietzsches radikales Überdenken ihm die gleiche Freude bereitet und zu einer ähnlichen Vereinigung mit sich selbst geführt? Nun, nicht ganz. Der Gegensatz zwischen Descartes’ Freude und Nietzsches Beschreibung der Folgen der eigenen Wahl hätte nicht größer sein können. Wo Descartes glücklich ist, wird Nietzsche von Einsamkeit gequält. Seine Wahl für sich selbst ist auch eine Wahl gegen die anderen, gegen seine Freunde, gegen sein Publikum, und gegen jede mögliche Freundschaft. Nietzsche hat sich mit seiner Wahl zu einem wahren Outsider gekrönt: Nicht nur zu einem sozial Ausgegrenzten, sondern auch zu einem wahren Außenseiter, der, nach Edward Saids Worten, eine ‚Gegenkultur‘ bildet, die versucht die vorherrschende Kultur zu transformieren. Kultur und Gegenkultur in einer Person, im Falle von Nietzsche und Said bedeutet dies, „weltoffen“, „kosmopolitisch“ oder wie Nietzsche auch sagt, „übernational“ sein.²⁷ Die Wahl seines eigenen Weges hat Nietzsche eine große Krise beschert und Menschliches, Allzumenschliches ist, wie er in Ecce Homo schreibt, das „Denkmal einer Krisis“ (EH MA 1; KSA 6, S. 322). Woraus genau bestand diese Krise? Die Krise wird in dem Vorwort beschrieben, das Nietzsche 1886 für die zweite Ausgabe des

 Vergleiche auch Prange (2007b, 2014).

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Buches schrieb. Menschliches, Allzumenschliches beginnt mit einer langen Litanei über die Qualen des sozialen Unverständnisses, der Einsamkeit und des Fehlens von Freundschaft, die seine umstrittene Sicht des Lebens erbracht hat.²⁸ Nach Ansicht seiner Leser/-innen lassen seine Bücher sie desillusioniert zurück, schreibt Nietzsche. Seine Schriften richteten „Schlingen und Netze für unvorsichtige Vögel“ (MA I Vorrede 1; KSA 2, S. 13) ein und befürworten die Unmoral, sagen sie. Seine Bücher, von der Geburt der Tragödie im Jahr 1872 bis hin zu Jenseits von Gut und Böse im Jahr 1886, sind ‚eine Schule des Misstrauens und sogar der Verachtung‘ gegenüber der vorherrschenden Moral. Nietzsche, wie ihn seine Leser/-innen beschuldigen, spielt den „Anwalt des Teufels“ (MA I Vorrede 1; KSA 2, S. 13). Nietzsche gibt zu, dass dieser Kommentar gerechtfertigt ist, aber, wie er in einer ironischen und theatralischen Passage sagt, ist er noch radikaler, als seine Leser/innen denken. „In der That“, schreibt er, „ich selbst glaube nicht, dass jemals Jemand mit einem gleich tiefen Verdachte in die Welt gesehn hat, und nicht nur als gelegentlicher Anwalt des Teufels, sondern ebenso sehr, theologisch zu reden, als Feind und Vorforderer Gottes“ (MA I Vorrede 1; KSA 2, S. 13). „[U]nd“, fährt er emotional und ebenso theatralisch fort, „wer etwas von den Folgen erräth, die in jedem tiefen Verdachte liegen, etwas von den Frösten und Aengsten vor Vereinsamung, zu denen jede unbedingte Ve r s c h i e d e n h e i t d e s B l i c k s den mit ihr Behafteten verurtheilt, wird auch verstehn, wie oft ich zur Erholung von mir, gleichsam zum zeitweiligen Selbstvergessen, irgendwo unterzutreten suchte […]“ (MA I Vorrede 1; KSA 2, S. 13–14). Nietzsche suchte Frieden und Zuflucht in Selbstvergebung und Selbstverleugnung, und diese Flucht von sich selbst brachte ihn zu Schopenhauer, Wagner und der Romantik. Anstatt ehrlich darüber zu sein, wer er war, wagte er es nicht, sich die ganze Zeit in die Augen zu sehen, obwohl er es tief in seinem Inneren besser wusste. Aber ihm fehlte der Mut, die Dinge anders zu betrachten, also wählte er den einfachen Weg – tatsächlich menschlich, allzu menschlich. Aber jetzt… Nietzsche akzeptiert, dass er keinen Freund, keinen Seelenverwandten hat: „Genug, ich lebe noch“ (MA I Vorrede 1; KSA 2, S. 14). Manchmal wurde seine Einsamkeit so anstrengend, dass er in FantasieFreundschaften mit sogenannten „freien Geistern“ flüchtete. Die freien Geister, schreibt Nietzsche im zweiten Absatz des Vorwortes, sind Fantasiefiguren, Produkte von Nietzsches Vorstellungskraft, die er brauchte, weil er Freunde brauchte, mit denen er lachen und Spaß haben konnte, und die er wieder wegschicken konnte,  In diesem Vorwort beschwert Nietzsche sich, dass er keine Freunde hat. Seine Einsamkeit führt ihn dazu, die freien Geister zu erfinden (siehe MA I Vorrede 2; KSA 2, S. 15), und es sind die freien Geister, die dann seine kritische Mission beginnen, indem sie ausprobieren „wie diese Dingen aussehn, w e n n man sie umkehrt“ (MA I Vorrede 3; KSA 2, S. 17).

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wenn er genug davon hatte.²⁹ Sie haben im wirklichen Leben noch nie existiert. Aber, schreibt er, hoffentlich kommen sie, nähern sich. Vielleicht gab es sie nicht, aber in Zukunft wird es trotzdem freie Geister geben. Nietzsche beschreibt dann die Hindernisse, die noch zu überwinden sind, oder die noch zu erfüllenden Bedingungen, um ihre Ankunft zu beschleunigen. Es handelt sich eindeutig nicht um eine kantische transzendentale Untersuchung der Bedingungen der Möglichkeit des freien Denkens, wie sie aus Nietzsches Begriff „Schicksalen“ anstelle von Bedingungen der Möglichkeit ersichtlich ist, sondern um eine Beschreibung der persönlichen, psychologischen Entwicklung eines pflichtbewussten, frommen Jugendlichen zu einem freien Geist, einer Art Jugend, die übrigens eine auffällige Parallele zu Kants Beschreibung der Emanzipation der Aufklärungsphilosophen in seinem Aufsatz „Was ist Aufklärung?“ (1784) zeigt. Der freie Geist ist also nicht nur eine Fantasiefigur, sondern ein „Typus“ (MA I Vorrede 3; KSA 2, S. 15), der eine Reihe von „Schicksalen“ (MA I Vorrede 2; KSA 2, S. 15) erleben muss, um ein Freidenker im Sinne Nietzsches zu werden. „Frei denken“ beinhaltet aktives Gegendenken als Methode. In Menschliches, Allzumenschliches II erwähnt Nietzsche sein Denken als ein „Gegendenken“. Reflexion, sagt er dort, enthält immer „G e g n e r s c h a f t “ (MA II Vorrede 1; KSA 2, S. 370). Diese Behauptung ist Teil seiner These, dass alle seine Bücher immer ein Denkmal für eine Phase sind, die Nietzsche überwunden hat und hinter sich lässt. Jedes Buch ist ein Abschied, ein Abschied vom Philosophen Nietzsche. Und jedes Buch ist ein Neuanfang, eine Neuerfindung des Philosophen Nietzsche. Also denken wie gegen sich selbst denken. Das ist es, was Nietzsche ausmacht. Er ist sein eigener Gegner, Feind, Kritiker, Heiler und Außenseiter. Die Grundlage dieses freien Denkens ist Nietzsches Perspektivismus: Es kann eine Realität geben, eine Wahrheit, eine Wahrheit, die wir nicht kennen, wir sehen nur, was uns erscheint. Auf jeden Fall, sobald der Philosoph denkt, dass er Wahrheit und Realität kennt, ist es die philosophische Aufgabe, alles in Frage zu stellen und sein „moralisches Gewissen“ mit seinem intellektuellen Gewissen zu überprüfen und zu fragen: „Kann man nicht a l l e Werthe umdrehn?“ (MA I Vorrede 3; KSA 2, S. 17). Dies wird stimuliert von dem Abstieg oder besser dem Eintauchen ins Fremde.³⁰ Der einsame Nietzsche versucht eine Brücke mittels des imaginären Freigeistes zu bauen, aber jedes Mal, wenn er die andere Seite zu erreichen scheint und festen Boden unter seinen Füßen spürt, zieht er sich auf der Suche nach einem neuen  Man beachte, dass Nietzsche den Dichter in GT 8 als eine Art „Geisterseher“ beschreibt: „[…] dass der Dichter nur dadurch Dichter ist, dass er von Gestalten sich umringt sieht, die vor ihm leben und handeln und in deren innerstes Wesen er hineinblickt“ (GT 8; KSA 1, S. 60).Vergleiche GT 8, wo er vom Satyr spricht als „Musiker, Dichter, Tänzer, Geisterseher in einer Person“ (GT 8; KSA 1, S. 63).  Prange (2005, 2007a, 2013). Siehe zu Nietzsches Perspektivismus: Knoll (2021).

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Horizont zurück.³¹ So ist die Bewegung des kritischen Philosophen immer eine Bewegung hin zu den Menschen und weg von ihnen. Hier wird deutlich, was die Position des Kritikers ist, der mit traditionellen Werten bricht. Er ist einsam und missverstanden, will keine Kompromisse eingehen, sucht aber dennoch Wege, in die Herzen und Köpfe der Menschen einzudringen, um sie von seinem Standpunkt zu überzeugen. Wie kann es der Kritiker dazu bringen, dass die Leute auf ihn hören wollen? Wie kann man Brücken bauen zwischen Wahrheit-Sager und Publikum, Kritik üben und doch nicht polarisieren? Wie kann man von Inseln ohne Brücken wieder eine gesunde Öffentlichkeit und Gespräch über öffentlichen Interessen machen? Die nicht vollständige Antwort lautet: Sie verführen, die Wahrheit auf verführerische Weise sprechen (daher Nietzsches Aussage „Vielleicht ist die Wahrheit ein Weib“, FW Vorrede 4; KSA 3, S. 352), mit einem halkyonischen Ton und appellieren an ihre Vorstellungskraft, nicht nur an den Geist.

5 Schlussfolgerung: Nietzsche, Nach-Wahrheit und Kritik In diesem Beitrag habe ich mit der Frage begonnen, wie wir Nietzsche nutzen können, um eine Ontologie der Gegenwart auf der Grundlage der Frage nach der Wahrheit unserer sogenannten Nach-Wahrheitsgesellschaft zu machen. Ich habe zunächst deutlich gemacht, dass wir nicht in den Fallstrick dessen laufen sollten, was Foucault „die Erpressung der Aufklärung“ nennt. Wir werden aus der ‚NachWahrheit‘ nicht herauskommen, solange wir glauben, dass wir als Philosophinnen und Philosophen uns für oder gegen Wahrheit und Rationalität, für oder gegen Modernität und Aufklärung entscheiden müssen. Die Nach-Wahrheitszeit ist komplex: Die Rückkehr zum Glauben an Wahrheit und Vernunft ist nicht die Lösung ihrer epistemologischen, politischen und medientechnischen Probleme. Außerdem habe ich argumentiert, dass der Ruf nach einer Rückkehr zur Moderne automatisch ein Ruf nach der Postmoderne ist, denn die Postmoderne folgt logisch und historisch aus der Moderne. Es ist nicht nur die Verleugnung und Opposition der Moderne, es ist ihr Erbe, der sich mit dem Nihilismus auseinandersetzen muss, in dem der Rationalismus Kants zwangsläufig endet. Dann habe ich angeführt, dass wir eine neue philosophische Frage brauchen. Philosophie ist nunmehr nicht eine Frage der Gegenwart oder der Wahrheit. Die Philosophie heute als „Ontologie der Gegenwart“ ist erneut die Frage nach der Wahrheit. Ich habe festgestellt, dass die Frage der Wahrheit mehrere Unterfragen  Vergleiche FW 124 (KSA 3, S. 480).

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hat. Wo die Philosophie traditionell die Frage stellt „Was ist Wahrheit?“, wandelte Nietzsche sie in „Warum der Wille zur Wahrheit?“ und Foucault in „Wer spricht die Wahrheit?“ um. Die aktuelle Frage ist die Frage, wer die Wahrheit spricht, welche Art von Wahrheit gesprochen wird und wie der Einfluss der Medien auf unser Verständnis der Wahrheit ist. Meiner Meinung nach ist es auffallend, dass Foucault die genealogische Kritik der Wahrheit bei Nietzsche gesehen hat, und auch andere Vertreter/-innen des Postmodernismus haben sich explizit mit seiner Sprachkritik als Teil des Wahrheitsproblems beschäftigt, aber sie haben nicht gesehen, dass Nietzsche noch eine Frage stellt: die Frage nach dem Verhältnis von Wahrheit und Medium oder Technik, als generelle Frage und nicht nur als Frage nach der Sprache. Genau diese Frage greift der Medienphilosoph Neil Postman auf.³² Auf der Grundlage seiner Bemerkung über Aphorismus und Wahrheitsverständnis in der Oralkultur habe ich mich mit Nietzsche als Medienphilosophen befasst. Ich habe untersucht, warum Nietzsche das mündliche dem schriftlichen Wort vorzieht. Welches Konzept von Wahrheit zeigt dies? Diese Frage zeigt, dass Nietzsche nicht nur die Wahrheit kritisierte, sondern auch ein positives Verständnis von ihr hatte. Diese Untersuchung zeigte auch, dass Nietzsche immer zwischen Monolog und Dialog changiert.Was sagt das über seine Vorstellung davon aus, wie der Kritiker mit seinem Publikum umgehen soll? Diese Frage ist interessant, denn ein typisches Merkmal der Nach-Wahrheitsgesellschaft sind die sozialen Probleme einer fragmentierten Gesellschaft: Es gibt nur noch Inseln und keine Brücken mehr.Wie kann man als Intellektueller/Intellektuelle eine kritische Haltung einnehmen und trotzdem versuchen, Brücken zu bauen, indem man seine Kritik äußert? Das ist die Frage, mit der dieser Artikel endet. Nietzsche ist, wie sich gezeigt hat, nicht nur als Wahrheitskritiker nützlich, sondern kann auch einen konstruktiven Beitrag leisten zu einem besseren Verständnis des Verhältnisses zwischen Wahrheit und Wahrheitsmedium und dem kritischen Beitrag, den wir als Intellektuelle zu einer gesünderen Debatte leisten können, als Außenseiter/-innen und Brückenbauende zugleich. Nun liegt es an uns, dies auf die Leitmedien unserer Zeit auszudehnen: Die sozialen Medien und den Stand der heutigen öffentlichen Debatte.

 Natürlich hat Jean Baudrillard einige sehr innovative Werke über die Beziehung zwischen Medien, Realität und Schein geschrieben, die sich unter anderem auf Nietzsche stützen. Siehe zum Beispiel Baudrillard (1994, 1995).

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Renate Reschke

Meinungen und Fake News: Journalismus und massenmediale Täuschungen. Nietzsches Medienkritik mit Blick auf die Digitalisierung Abstract: Opinions and Fake News. Journalism and mass media deceptions. Nietzsche’s media criticism with a view to digitization. Nietzsche’s criticism of modern mass media essentially is a criticism of the contemporary press and its journalists in the last third of the 19th century. Above all, he criticizes the journalists as problematic opinion leaders. They are the real makers of public opinion, they manipulate news and invent information, serve political or personal interests and give them linguistic expression. They serve the needs of the readers and at the same time they satisfy them with their information. A mutual dependency. In the 21th century mass media and its digitization give journalists new technical tools, they increase the speed of information flows and increase the possibilities for manipulative influence. That is why Nietzsche’s critique of the dependency of the press and its journalists is of current importance for the critique of digitally controlled information culture. As cultural criticism, it remains relevant.

1 Bullshit als Kennzeichen moderner Kommunikation Der amerikanische Philosoph Harry G. Frankfurt hat einen Essay veröffentlich mit dem provozierendem Titel Bullshit (Frankfurt 2006). Ihm geht es in seiner Abhandlung darum, dass in der modernen Kommunikation der sogenannten Wissensgesellschaft auffällig viele falsche, halbwahre, erfundene Informationen und Fakten von der Medien-Community widerspruchslos angenommen werden. Als Bestandteile von Weltbildern und lautstark verkündeten Meinungen über Ereignisse, die stattgefunden haben, die interessengesteuert manipuliert oder die erfunden, umgebogen, geschönt, dramatisiert o. ä. sind. Mit der Bezeichnung ‚Bullshit‘ schreibt er dieser Beobachtung eine signifikante Bedeutung für den ambivalenten Zusammenhang von massenmedialer Informationsvermittlung und der durch deren digitale Dignität verursachten Verunsicherungen, Trivialisierungen und Gebrauchs- wie Wertewandlungen ein. Ohne dass Termini wie Digitalisierung, Internet oder Infotainment und Social Media fallen: sie sind untergründig präsent. Der https://doi.org/10.1515/9783111072890-008

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Autor seziert sie scharfsichtig in ihrer Relevanz für seine Analyse. Unter dem Stichwort ‚Bullshit‘ kommt es nicht mehr auf Wahrheit(en) an, geht es nicht nur darum, diese von Lügen abzugrenzen oder eine Lücke zwischen Wissen und Nichtwissen zu schließen, über geschehene Ereignisse zu informieren oder Schlüsse für zukünftiges Handeln zu ziehen. Vielmehr faltet er ein Spektrum an Merkmalen auf, das gleichermaßen auf die gegenwärtige Medienlandschaft wie auf die kulturellen Mentalitäten ihrer Produzenten und Nutzer abzielt und sie kritisch ins Visier nimmt. Demnach gehört es zum Wesen von Bullshit, „[s]hort of lying (an Lüge grenzend)“ zu changieren (Frankfurt 2006, S. 17), Falschmeldungen oder irreführende Darstellungen als medienfähige Informationen und deren Gleichgültigkeit gegenüber der Wahrheit zu nobilitieren.¹ Als Ursachen nennt Frankfurt grundlegende Veränderungen in der mentalen Kultur der modernden Individuen, die von Reiz- und Informationsüberflutung ebenso überfordert sind wie durch die vermeintliche oder reale Nötigung, daraus resultierende Unsicherheiten durch den Anschein von Informiertheit zu überspielen und sie zum Non plus ultra moderner Kommunikation avancieren zu lassen: Die Produktion von Bullshit wird also dann angeregt, wenn ein Mensch in die Lage gerät oder gar verpflichtet ist, über ein Thema zu sprechen, das seinen Wissensstand hinsichtlich der für das Thema relevanten Tatsachen übersteigt. Diese Diskrepanz findet sich oft im öffentlichen Leben, in dem Menschen sich […] gedrängt sehen, sich eingehend über Gegenstände auszulassen, von denen sie wenig Ahnung haben. In dieselbe Richtung wirkt die weitverbreitete Überzeugung, in einer Demokratie sei der Bürger verpflichtet, Meinungen zu allen erdenklichen Themen zu entwickeln oder zumindest zu all jenen Fragen, die für die öffentlichen Angelegenheiten von Bedeutung sind. (Frankfurt 2006, S. 70–71)

Dass dabei oft jeder signifikante Zusammenhang „zwischen den Meinungen eines Menschen und seiner Kenntnis der Realität“ (Frankfurt 2006, S. 71) fehle, mache das Dilemma noch eklatanter. Dass Frankfurts Situationsbeschreibung und Analyse von Bullshit das Thema von Fake News und massenmedialen Täuschungen tangiert, liegt auf der Hand. Ebenso, dass dies eigentlich kein kulturelles Novum ist. Aber was hat es mit Nietzsche zu tun? Wusste der bereits, was Bullshit ist? Besitzt schon seine kritische Sicht am Ende des 19. Jahrhunderts auf die zeitgenössischen Printmedien, auf ihre

 „Gerade in dieser fehlenden Verbindung zur Wahrheit – in dieser Gleichgültigkeit gegenüber der Frage, wie die Dinge wirklich sind – liegt meines Erachtens das Wesen des Bullshits“ (Frankfurt 2006, S. 40). Fälschung der Dinge heißt nicht unbedingt, sie seien falsch (Frankfurt 2006, S. 55) und der sie produziert, ein Fälscher, aber: „Der Bullshitter […] weist die Autorität der Wahrheit nicht ab und widersetzt sich ihr nicht, wie es der Lügner tut. Er beachtet sie einfach gar nicht.“ (Frankfurt 2006, S. 68)

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Journalisten und deren Informationspolitik, auf die Folgen des technischen Knowhows der Informationsverbreitung und der entstehenden Netzwerke globaler Kommunikation das Potential, um, wenn nicht Antworten, so doch bedenkenswerte Fingerzeige für die Entwicklung am beginnenden 21. Jahrhundert zu geben? Ist es also sinnvoll, die Frage zu stellen: Wie weiter, Herr Nietzsche? Ist darüber mit dem Philosophen, eher dem Kulturkritiker, ins Gespräch zu kommen? Gesetzt den Fall, dass dies so ist, dann lassen sich Wege öffnen für einen Dialog, der sensibilisieren kann für Problemfelder, in denen wir uns heute als Produzenten und Konsumenten von Informationen in Text und Bild, real oder virtuell, analog oder digital bewegen. Oder uns bereits auseinanderzusetzen haben mit Informationen und Informationsverarbeitungen, die von KI produziert, gesteuert und eingespeist werden in die Kommunikations- und Algorithmennetzwerke, denen wir uns mehr oder weniger freiwillig aussetzen und in sie eintauchen. In andere Welten, andere Dimensionen von Erfahrung und Erlebnis, temporär entlassen aus den vermeintlichen Zwängen bzw. Grenzen einer Wirklichkeit, von der man glauben will oder soll, sie sei überwindbar, öffne das Eden ungeahnter Freiheit oder vermittle eine Sicht auf die Wirklichkeit, die diese in einem anderen, erweiternden Licht als dem gewohnten erscheinen lasse. Die rasante Ausbreitung digitaler Medien, immer neue digitale Plattformen und gesteuerte Selbstdarstellungsportale, dadurch neue Qualitäten massenmedialer Möglichkeiten von Desinformationen, die Schieflagen zwischen Information und Fake News berühren das kulturelle Selbstverständnis moderner Gesellschaften und ihrer Individuen grundsätzlich – all dies ist längst zu einem neudimensionierten Problem geworden, das auch die geisteswissenschaftlichen Diskurse umtreibt. Was Nietzsche an den Printmedien ent- und aufgedeckt und an ihren Machern, den Journalisten, als einer neuen Spezies von Kommunikationsmittlern kritisiert hat, soll im Folgenden dargestellt und mit Blick auf die Perspektive ihrer fortgesetzten Gültigkeit unter dem Vorzeichen von Digitalisierung befragt werden. Nicht nur, um deren Aktualität zu behaupten, sondern Nietzsche als Medienbeobachter zuzuhören, der auf den Punkt bringt, was das Medienzeitalter auszeichnet und einschränkt, indem er Strukturen und Muster aufzeigt, in denen sich die Transformationen von Wissen in bloßes Informiertsein in immer umfassendere Abhängigkeiten vollziehen.

2 Massenpresse und Journalismus in der Kritik Nietzsches Nietzsches Invektiven gegen die zeitgenössische Presse, ihre Verleger und Journalisten gehören zu den schärfsten Attacken seiner Kritik der Moderne. Früh for-

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muliert, versammeln sie alles, worin sich für den Philosophen die Krankheitsmerkmale der modernen Massen- und Maschinenkultur zeigen: „Er redet wie ein Mensch, der täglich die Zeitungen liest.“ (NL 1873, KSA 7, S. 605) In dieser lapidaren Feststellung, die auf David Friedrich Strauss abzielt, liegen auch die radikalen Invektiven gegen die neue Klasse der Informationsproduzenten und Informationsvermittler, die sich als Herren der neuen Medienlandschaft fühlen und ihr Terrain erfolgreich besetzt halten. Den Journalisten lastet er die Intoxikation des Wissens mit banaler Informiertheit ebenso an, wie er ihnen eine fatale Verantwortung für den „Geist und Ungeist des Tages und der Tageblätter“ (KSA 1, S. 365) zuspricht. Sie sind aus seiner Beobachtung Teil einer neuen geistigen Ochlokratie, die vor allem durch die und in der Presse sich krakenhaft ausbreitet und die Kultur, hier: die öffentliche Meinung, flächendeckend und ohne Widerspruch beherrscht. Aus ihren Netzwerken ist (geistige) Befreiung nur schwer möglich. Journalisten bringen es in dieser Funktion zur umfassenden Meisterschaft. Sie haben als erste begriffen und dieses Begreifen zu ihrem Beruf gemacht, sich des Momentanen anzunehmen, des Schnellvergänglichen und der Meinungen darüber und sie durch die Tagespresse der Gesellschaft zu offerieren. Sie stürzen sich in „hastigste Kenntniss und Ausnützung des Ephemeren“ (NL 1874, KSA 7, S. 817) auf alles augenblickliche Geschehen und machen zu ihrem Metier, es darzustellen, auszuschmücken, zurechtzustutzen, interessengebunden zu beurteilen, zu erfinden. Mit teilweise narrativer und performativer Willkür. Will heißen, sie vermitteln den Lesern ihr Bild der Ereignisse, ihre Meinung über das Geschehene als gültige und nicht zu hinterfragende Sicht. Indem sie oberflächlich sich der Ereignisse annehmen und sie schreibend inszenieren, sie in kurzlebige Informationen verwandeln und ihnen durch ihre Präsentation den Schein der Bedeutung geben, bedienen sie Bedürfnisse nach schnellem Informiertsein, unkomplizierter Kommunikation, nach, um ein heutiges Bedürfnis zu zitieren, einfacher Sprache. Dass sie selbst nur„Sclaven der drei M: des Moments, der Meinungen und der Moden“ (NL 1874, KSA 7, S. 817) sind, macht sie für Nietzsche zu den Verkörperern einer Kultur, die weiß, was die Stunde geschlagen hat. Als „papierne Sclave[n] des Tages“ und „heiter[ ] gebildete[ ] Schmetterling[e]“ (KSA 1, S. 130) reagieren sie auf die neuen Bedingungen einer technisierten Kultur und nutzen deren Mittel für ihre Absichten, für die Erfüllung der Forderungen, die an sie gestellt werden: Anpassungsfähigkeit, Schnelligkeit, Nostalgielosigkeit gegenüber tradierten Werten, schneller Wandel der Tätigkeitsfelder und Weltbilder, Verzicht auf gültige Wahrheiten, leichte Kost an Informationen, vermeintliche Konzentration auf im Augenblick Wichtiges, aufbereitete Ereigniseinordnungsstrategien. Ihrer politischen Verwertbarkeit setzt der Journalist keine Verfallszeit, sieht sich aufgefordert und verpflichtet, den Lesern in sich verkürzenden Zeitsequenzen, der sogenannten Jetztzeit, oder heute im Livestream, immer neue Sensationen, spektakuläre Neuheiten, die nur einfache geistige Handhabungen benö-

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tigen, bereitzustellen. Mit der Presse, so Nietzsche, wird nicht nur „der Gedanke plump“ (NL 1885, KSA 11, S. 450), sondern Journalisten bedienen bewusst „eine Entfesselung von Sich-gehen-lassen, von Bequem-haben-wollen, von inneren F a u l h e i t e n“ (NL 1885, KSA 11, S. 476). Insofern schaffen sie eine „uniformirte Mittelmäßigkeit“ (KSA 1, S. 680), geben der „zeitungslesenden Halbwelt des Geistes“ (KSA 5, S. 218) die Nahrung, die gebraucht wird, im Zeitalter der Schnelllebigkeit und besinnungs- und würdelosen, vor allem krankhaften Hast die notwendigen kulturell-mentalen Verhaltensstrategien zu entwickeln, die vonnöten sind, um in der modernen Arbeits- und Freizeitwelt bestehen und sich orientieren zu können. Die Moderne als Medienzeitalter braucht aus existentieller Notwendigkeit solche gestaltgebenden Protagonisten. Für Nietzsche kein Zweifel, Journalisten sind notwendige Gestalten und Gestalter der modernen Kultur. An ihrem Negativbild zeigt sich ihre Bedeutung als Promotoren dieser Entwicklung. Des Philosophen geringschätzendes Wort von der „Zeitungscultur“ (NL 1873, KSA 7, S. 635) fasst zusammen, wie sehr für ihn bereits der „oberflächliche[ ] und anmaaßliche[ ] Geist[ ]“ in der Kultur gesiegt habe (NL 1885, KSA 11, S. 653), der „permanente falsche L ä r m“ (NL 1878, KSA 8, S. 487) der Presse alle wirklichen Informationen, selbst Philosophie und Wissenschaften übertöne, taub und empfängnisresistent mache gegenüber faktenbasierten Wissensinhalten und Bildungsidealen. Das „Journal tritt geradezu an die Stelle der Bildung“ (KSA 1, S. 671). Nietzsche weiß, es sind kulturelle Veränderungsprozesse, geschuldet einer entfesselten Ökonomie und Technik. Wo sich alles dem Rhythmus der Maschinen, ihrem Tempo und ihren Funktionsmustern unterzuordnen hat, muss auch der Umgang mit Informationen und Wissen sich ihren Regeln unterwerfen. In dieser „Cultur der Großstädte, der Zeitungen, des Fiebers“ (NL 1887/1888, KSA 13, S. 93) verlieren sich im Labyrinth der Druckerschwärze der Tageszeitungen und danach in den Köpfen der „zeitungslesenden Halbwelt des Geistes“ (KSA 5, S. 218) die Informationen, werden mit Bildung verwechselt oder als vermeintlich selbst gebildete Meinung angenommen und kommuniziert. Grenzverwischungen zwischen Wissen und Meinen, Wahrnehmungen und Täuschungen, Aufklärung und Manipulation. Man merkt nicht mehr, so Nietzsche, dass man dem „bedenklichen Geiste unserer journalistischen Öffentlichkeit“ (KSA 1, S. 694) längst verfallen ist und dabei noch glaubt, durch tägliches Informiertsein nicht nur Akteur des Weltgeschehens zu sein, sondern dieses zugleich in seinen Wesenszügen zu durchschauen. Man nimmt Geist und Sprache der Journale in sich auf, fühlt sich der Bildung zugehörig, wenn sie nur „bequem“ und „modern“ ist (NL 1873, KSA 7, S. 608). Was die Presse berichtet, was und wie es der Journalist kommuniziert, besitzt weitgehend unhinterfragte Akzeptanz (siehe Reschke 2015, S. 44–53, 163–169). Dazu werden alle Register gezogen. Die Informationen, die dem Leser das Gefühl geben, dabei zu sein und selbst wertend urteilen zu können, sind die vom

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Journalisten bevorzugten. Ungenauigkeit ihrer Aufbereitung, Verdrehungen, Oberflächlichkeit, Verzicht auf eingehende Recherchen, Simulationen und textliche Übertreibungen gehören zum Handwerk, sind im Repertoire des modernen Journalismus notwendiges Material, wie Nietzsche weiß. Was die größte Wirkung und den Zuspruch der Masse der Leser erzielt, weil sie glaubt, gut informiert zu werden, besitzt den größten journalistischen Wert. So werden Zeitungen medienwirksame Bühnen und die Journalisten machen sie zum Ort ihrer Inszenierungen. Sie führen auf, was gefällt und gefällig ist. Dabei sind sie ohne Leidenschaft gegenüber dem, was sie tun und gegenüber ihren Resultaten „sittlich gleichgültig“ (KSA 2, S. 291).Wer Geld hat, kann ihre Meinungen kaufen, seine Meinung über sie in die Öffentlichkeit lancieren. Wer „Geld und Einfluss hat, [kann] jede Meinung zur öffentlichen machen“ (KSA 2, S. 291). Werte, die ihnen unterlegt werden, taugen so weit als ihr Manipulationspotential reicht. So entsteht die Tyrannei der öffentlichen Meinung: „Es ist alles erlaubt zu denken, aber im Grunde ist gerade nur die öffentliche Meinung erlaubt.“ (NL 1873, KSA 7, S. 685) Da den Zeitungsschreibern jede „C u l t u r p e r s p e k t i v e “ (NL 1879, KSA 8, S. 618) fehle, können sie nichts als diesen Zustand bedienen, d. h. ihn mit Informationen scheinlegitimieren. Die sogenannte Pressefreiheit tue ein Übriges, jeder könne ohne Gefahr sein „elendes Separatvotumchen schriftlich geben“ (NL 1873, KSA 7, S. 690). So avanciert die Presse zum „Mittel […], wodurch das Heerdenthier sich zum Herrn macht“ (NL 1885, KSA 11, S. 480). Zeitunglesen wird zur kulinarischen Kulturhaltung. Es geht nicht um Bildung, die ohnehin nicht Ziel der Presse ist, sondern darum, unterhaltend und entspannt informiert zu werden. Der Leser will von den Konflikten der Zeit wissen, aber aus schmerzindifferenter Distanz. Jede zu große Nähe würde sein Beruhigungs- und Gewöhnungsansinnen an die Zeitung, sein kulturelles Wohlbefinden stören. Aufgabe der Zeitung sei es, ihn die Not des Daseins, seine kulturelle Bedürftigkeit nicht spüren zu lassen, sie so auszublenden, „dass der Geist sich selbst nicht mehr so leicht als ‚Noth‘ empfindet!“ (KSA 5, S. 13): „Bequemlichkeit will man oder Betrunkenheit, wenn man liest: bei weitem das Meiste, was gelesen wird, ist Zeitung oder Zeitungs-Art“ (NL 1885, KSA 11, S. 440). Eine Bildungsphilisterkultur ohne Wertebedürfnisse: „wir finden sie bei ihren Frauen und Kindern unter ihren Zeitungen und politischen Alltagsgesprächen“ (KSA 1, S. 215), mit jener „halben Aufmerksamkeit“, die leichtverdauliche Kost will. Der Leser umgrenzt die Koordinaten der kultureller Werte, die ihm der Journalist vorsetzen soll und vorsetzt. Eine für die moderne medienvermittelte Realität charakteristische Liaison, eine stillschweigende Einigkeit zwischen Zeitungsschreiber und Lesergemeinde ist der geheime Grund, warum „die Presse in der Gesellschaft zur Herrschaft gekommen“ ist (KSA 1, S. 144). Den journalistischen Optimismus sieht Nietzsche darin begründet, dass die Medien „sich der Musse- und Verdauungsstunden des modernen Menschen, das heisst seiner

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‚Kulturmomente‘ zu bemächtigen und ihn […] durch bedrucktes Papier zu betäuben“ (KSA 1, S. 161) suchen und er dadurch in eine Abhängigkeit gebracht wird, die er nicht einmal merkt, geschweige denn, sich dagegen wehren könnte. Der moderne Mensch hat nichts anderes zu tun, als „die Zeitungen fortzulesen, die er gelesen hat“ (KSA 1, S. 316). Sein Interesse „gilt den Nachrichten, welche die Zeitung oder der Telegraph bringt. Den Augenblick benutzen und, um von ihm Nutzen zu haben, ihn so schnell wie möglich beurtheilen!“ (KSA 1, S. 462). „Geistesgegenwart“ ist die Haltung der Zeit, sie zu besitzen, höchstes Streben. So genügen Journalisten und Presse den Anforderungen, die an den Menschen der modernen Kultur zu stellen sind. Bildung definiert sich aus dieser Optik als „Einsicht, mit der man sich ‚auf der Höhe der Zeit‘ hält“, Bildungsziele sind, „möglichst ‚courante‘ Menschen“, solche, die die Mittel beherrschen, den Erwerb nicht nur zu sichern, sondern erfolgreich seine Vergrößerung anzustreben (KSA 1, S. 667). Journalisten sind, muss Nietzsche kritisch eingestehen, dabei die effektivsten modernen Bildungsträger und Zeitungen ihr wirksamstes Medium. Man könne nicht verantworten, dem modernen Menschen nicht die Mittel an die Hand zu geben, die er benötigt, um in der Welt der Maschinen- und Medienkultur sich orientieren und bestehen zu können. Dies schließt neue Wertehierarchien ein: Man horcht gierig nach der Zeitung, um das „schnelle Steigen und Fallen von Macht, Geld und Meinungen“ zu verfolgen (KSA 3, S. 184). Der moderne Mensch muss auf ganz neue Weise „reizbarer“ sein, um „die Fülle disparater Eindrücke […]: den K o s m o p o l i t i s m der Speisen, der Litteraturen, Zeitungen“ aufzunehmen, „das t e m p o dieser Einströmung ein p r e s t i s s i m o ; […] man wehrt sich instinktiv, etwas hereinzunehmen, t i e f zu nehmen“, man verwendet alle Kraft auf Anpassung, Abwehr, Selbstbehauptung, man agiert nicht mehr: „der Interpret, der Beobachter, […], der Leser – alles r e a k t i v e Talente“ (NL 1887, KSA 12, S. 464). Er verinnerlicht diese Veränderungen, nimmt sie in sich hinein: „die Börse und die Zeitung ebenso“ (NL 1880, KSA 9, S. 216). Der Journalist ist der erste, der diese Anpassung realisiert, um seinem Metier gerecht zu werden: Er ist ihr Adept und Multiplikator in einem. Er „ist eine nothwendige Reaktion: eine Geburt der sogenannten allgemeinen Bildung“ (NL 1871, KSA 7, S. 298). Es sind nicht nur die „verdorbene[n] Gelehrte[n]“, sondern auch „der künstlerisch gebildete Mensch [wird] zum Journalisten“ (KSA 1, S. 690). In einer Sprache und mit Bildern, die nicht mehr dem alten Bildungskanon verpflichtet und auf klassisch-ästhetische Normen fixiert sind, sondern Werte und Wahrnehmungen bewusst dem Rhythmus der Maschinenkultur anverwandeln. Urbanisierung und umfassende Mediatisierung der modernen Kultur sieht Nietzsche in wechselseitiger Beziehung, voneinander abhängig, aufeinander verweisend und historisch irreversibel.Von „Großstadt-Emeute und -Zeitung“ (NL 1880, KSA 9, S. 288) ist die Rede, beide durch und durch Schauspiel und unecht, aber‚wahr‘ im Hinblick auf die Moderne und ihrer kulturellen Werte. Der Rhythmus groß-

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städtischen Lebens strukturiert alle Lebensäußerungen, alle Wahrnehmungen, alle Maßstäbe des modernen Menschen. Da dieser in der hocharbeitsteilig-technisierten Welt solche Maßstäbe zur Orientierung braucht, aber seine physischen, intellektuellen, psychischen Kräfte für den Existenzerhalt einsetzen muss, braucht er Vermittlung, Vermittler, Vermittlungsmedien. Da ist die Presse als Medium, schnell und verständlich, immer zur Hand. Und der Journalist kommt als der, der die Informationen aufbereitet, zusammenhängend, interessant, unterhaltsam, scheinbar objektiv als gesichertes Wissen offeriert. Realitätsnah, aktuell, mit täuschend verbürgter Autorität. Nachprüfbar sind sie nicht. Der Takt ihrer Präsenz ist urban. Journalisten und Presse sind großstädtisch par excellence. Die Werte, die ihren Informationen angehängt sind, auch. Sie bewegen die Welt, denn: „Je schneller der Umschwung der Meinungen erfolgt, um so schneller läuft die Welt, die Chronik verwandelt sich in das Journal, und zuletzt stellt der Telegraph fest, worin in Stunden sich die Meinungen der Menschen verändert haben.“ (NL 1876, KSA 8, S. 352) Großstadt, Tempo, Presse gehören zusammen. Dabei verschleißt die Presse selbst ihre Informationen. So beobachtet Nietzsche: „Noch ist der Krieg nicht beendet, und schon wird er in bedrucktes Papier hunderttausendfach umgesetzt, schon wird er als neuestes Reizmittel dem ermüdeten Gaumen der nach Historie Gierigen vorgesetzt.“ (KSA 1, S. 279) Der Leser kann die ihm mit hoher Geschwindigkeit und schnellem Verfallswert hingeworfenen Informationen nicht verarbeiten. Sie sind durch andere ersetzt, ehe er sich ihrer bewusst werden kann. So hetzt er durch Zeitungen, wie er durchs Leben hetzt, „in würdelose[r] Hast“ (KSA 1, S. 392), wenn er sie auch nur in den Ruhestunden liest. Echtzeitjournalismus reicht schon lange nicht mehr. Sie vermitteln ein Wertedenken, das den Augenblick, die Schnelligkeit des Verschleißes, die Gier nach Neuem als Wesen der Kultur behauptet. Was Nietzsche beschreibt, ist der Presse und ihren Möglichkeiten am Ende des 19. Jahrhunderts abgesehen. 130 Jahre später resümiert Nikolaus Brender, der sogenannte „Echtzeitjournalismus“, reiche schon lange nicht mehr: „Die Endzeit muss es schon sein, über die die Journalisten berichten“, wenn sie auch gefakt ist und ihre „[f ]ingierte Brisanz“ nur behauptet wird. So seine Beobachtung aus moderner Sicht (Brender 2012). Heute spricht man vom „Turbo-Journalismus“ (Brender 2012), der permanent über die Live-Ticker abrufbar ist. Wenn es im Minutentakt keine News gibt, werden sie erfunden oder durch sichtverändernde Kombinationen als solche ausgegeben. Überprüfbar sind sie nicht. Da helfen inzwischen Avatare & Co. als Informationslieferer. Solche ‚new infinity‘ hat den massenmedialen Informationshorizont schon lange okkupiert. Mit Raum für Fakes in Text und Bild. Der moderne Journalist als Sklave seiner selbst fabrizierten Fakes, der ihnen Botschaften imputiert, von denen er glauben machen will, sie hätten etwas mit der Wirklichkeit zu tun, wo sie nichts sind als Multiplikatoren bloßer Ideologien oder

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politischer Interessen, unterbrochen von gezielten Werbeeinspielungen, die zum Grundmuster dieser Art Informationsvermittlung, d. h. Journalismus gehören.

2.1 Exkurs Antike Meinungsmacher: Die Sophisten Die Journalisten als Meinungsmacher haben berühmte Vorgänger. Man hat sie Wortund Rechtsverdreher, Wahrheitsfälscher genannt. Platon wollte sie nicht unter den Philosophen dulden. Zu suspekt schienen ihm die rhetorischen Fähigkeiten der Sophisten, mit denen sie erfolgreich die Bereiche Bildung, Rechtsprechung, Politik okkupierten und sich unentbehrlich machten. Als Lehrer und Politikberater, die aufklärerische Reden hielten, bisher geltende Gesellschafts- und Weltbilder infrage stellten und in Rechtsstreitigkeiten ihre Sprachpraxis als Instrument, Interessen durchzusetzen, gebrauchten (Buchheim 1986; Dreßler 2014). Rhetorik als Überredungskunst und Streitkunst, als Manipulationsmedium im öffentlichen Raum zum Zwecke individueller oder politischer Machtsicherung, der Lancierung, Täuschung und Manipulation privater oder öffentlicher Meinungen. Kaum ein Politiker, der in der Polis etwas bewirken wollte, kam mehr ohne sophistische Redeberater aus. Perikles hatte zeitweise Protagoras als Berater, Gorgias hielt in Athen in politischem Auftrag Reden, um die Bürger zur Kriegszustimmung gegen Syrakus zu bewegen. Vor den Gerichten ließen sich Kläger wie Angeklagte ihre jeweiligen Reden schreiben. Die Sophisten wussten als erste, wie groß die Macht der Sprache ist, wenn man ihre Strukturen und Regeln beherrscht und sie einzusetzen weiß (Gorgias 1989, Fragmente 11/11a, S. 4–6 und S. 17–19). Wer über die Sprache verfügt, besitzt den Schlüssel zu Herrschaft. Sie ist ihr fundamentales Medium und Instrument. Die auf Überwältigung und Täuschung zugeschnittene techné zeigte folgenreiche Verwerfungen im Gefüge öffentlicher Politikentscheidungen und der Mehrheitsverhältnisse politischer Gruppen. Man hörte auf die Sophisten, auf ihre Reden war Verlass. Sie sind die, die keinen Hehl daraus machten, alle rhetorischen Mittel dafür einzusetzen, eine bestimmte Meinung durchzusetzen gegen alle Widerstände, Argumente, Faktentreue,Wahrheiten. Die interne Militanz der Worte nutzen sie, um „die schwächere Meinung zur stärkeren zu machen“ (Protagoras 1935, Frgm. 6a, S. 266), den Gegner zur lächerlichen Figur zu stilisieren, ihn in Selbstwidersprüche zu verstricken. Redestärke,Wortgewalt, Plausibilität des Gesagten entscheiden, alles zu widerlegen, egal ob es richtig ist oder falsch. Es geht einzig darum, den anderen zum Verzicht auf seine Meinung zu bewegen. Ihn ‚auf die Bretter werfen‘, ein Begriff aus dem Kampfsport, im übertragenen Sinne: seinen Ruf zu schädigen, damit niemand mehr ihm folgt, Gerüchte zu streuen, etwas als geschehen zu behaupten, das so nie stattgefunden hat, Unsicherheit zu verbreiten durch suggestives In-Zweifel-ziehen

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bis zu dem Punkt, an dem der Zuhörer nicht mehr weiß, wem im Rededuell er glauben kann. So siegt durch sprachliche Manipulation nicht die Meinung, die die besseren Argumente auf ihrer Seite hat, sondern die, die sich wirksamer präsentieren und so das größere Interesse für sich verbuchen kann. Deren Absicht ist die Täuschung. So sehr, bis sie am Ende selbst der eigenen Täuschung erliegen. Die Sprachdienste der Sophisten waren nicht selbstlos. Sie haben sie sich gut bezahlen lassen. Je nach Preis waren ihre Leistungen. Sie sind reich dadurch geworden. Zugegeben, dies erschöpft nicht die Leistungen sophistischer Rhetorik, sie ist vielfältiger und mehrschichtiger. Hier ist ihr quasi hässliches Gesicht gezeigt. Aber es ist das, welches sie in der Praxis zu ersten Profi-Rednern, ersten Profi-Meinungsmachern, ersten Falschmünzern in Sachen Information gemacht hat. Mit Vergleichbarkeiten und Vorläuferqualitäten für alle späteren Vertreter in diesem Metier und mit gleicher Profession. Hochgerechnet zu den profiliertesten Produzenten und Verbreitern von Meinungen und Informationen, eigenen und bestellten, zweckdienlich und genau kalkuliert, haben sie von einer kulturellen Situation, vorrangig in demokratisch verfassten Poleis, profitiert, in der politische Entscheidungen öffentlich stattfanden und Parteinahmen auf der Grundlage vorgegebener Meinungen getroffen wurden. Noch war das Medium die gesprochene Sprache, das unmittelbare Wort, die direkte Kommunikation von Redner und Publikum. Doch eignet den Rhetoren vieles, was auch die späteren Journalisten, so wie Nietzsche sie sehen wollte, negativ auszeichnete. Sie zeichnen ihre „nichtswürdige Signatur“ (KSA 1, S. 666) in alles ein, geben ihr Markenzeichen als „bezahlte[ ] Diener der öffentlichen Meinung“ (NL 1885, KSA 11, S. 529) und willfährige mediale Akteure im „Zeitalter der unschuldigen Unverschämtheit“ (NL 1885, KSA 11, S. 588). So unschuldig allerdings waren weder die Antike noch die Moderne.

3 Presse-Kritik um 1860 und 1931. August Reichensperger und Walter Benjamin (im Anschluss an Karl Kraus) August Reichenspergers Phrasen und Schlagwörter. Ein Noth- und Hülfsbüchlein für Zeitungsleser von 1862/63 (Reichensperger 1863) sollte eine Hilfestellung für alle sein, die die von der liberalen Presse verbreiteten Informationen und Meinungen verstehen wollten. Dem Zeitungsleser sollte die Lektüre erleichtert werden. In Beiträgen zur öffentlichen Meinung und Publizität, Öffentlichkeit oder Mündigkeit geht es um Hintergrundwissen, um Demaskierung scheinbar wahrer Informationen, um die sauberen Westen ihrer Agenten. Woher kommen Informationen, wer erhält sie von wem, warum, wann und wie werden sie formuliert, wer bringt sie in

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wessen Auftrag und zu welchem Zeitpunkt in die Öffentlichkeit, wessen Vorstellungen transportieren sie, wie funktioniert das Medium Presse, wie vollzieht sich der Kreislauf der Abhängigkeiten zwischen Journalisten, Journalen und Zeitungslesern, öffentlicher Meinung und privaten Überzeugungen. Reichensperger demontiert die Selbstgewissheiten von Zeitungsmachern und Zeitungslesern, hält ihnen den Spiegel ihrer unmündigen Gesellschaftlichkeit vor, macht klar, wie sehr das neue Medium nicht per se Wissen und Werte vermittelt, die unkritisch anzunehmen sind, nur weil sie der öffentlichen Meinung entsprechen. Diese selbst steht zur Disposition, ebenso deren willfährige journalistische Werkzeuge und die, die sich dieser Werkzeuge als Sprachrohre für ihre Machtinteressen bedienen. Es bedarf der Aufklärung über ein scheinbar aufklärendes Massenmedium.² Reichensperger lässt keinen Zweifel, wie schmal der Grat ist zwischen wahrheitsgemäßer Berichterstattung und interessengebundenem Kommentar, Journalismus und Politik, situationsbedingter Informationsmanipulation und machtpolitischer Imagepflege. Wahrheit und Objektivität bleiben auf der Strecke. Den Bearbeitungen der Informationen nicht zu folgen, sollte das Resultat der Lektüre sein. Reichensperger deckt die unheilige Allianz auf zwischen Journalisten und Lesern: Die einen wollen nur zu gern, was die anderen schreiben, und diese schreiben, was die ersteren wollen. Der Journalist als Mittler zwischen Auftrag und Erwartung, objektiver Information und geforderter Anpassung, subjektivem Kommentar und öffentlicher Meinung. Journalisten sind Meinungsmacher per se, aber sie folgen dem, was in der herrschenden Politik en vogue ist, sie machen ihre Informationen politischen Interessen dienstbar, dienen sich den Machtinteressen an: Besonders gilt dies von solchen Zeitungen, deren Verfasser die Kunst verstehen, auf dem Wege der Insinuation oder der Ueberraschung eine Unmöglichkeit in eine Wahrscheinlichkeit, eine Lüge durch ausdauernde Wiederholung derselben in einen Gemeinplatz zu verwandeln, die so lange an der Wahrheit rütteln, […] bis sie endlich in ihren Fundamenten erschüttert zusammenbricht und der willkürlichen Fiction Platz macht. Die Lüge wie die Verläumdung wirken aber dann am sichersten, wenn sie nur nach und nach in möglichst kleinen Dosen, in jedem Zeitungsartikel nur einige Atome, gereicht werden […] Deshalb hütet sich denn auch der raffinirte Liberalismus so lange wie möglich davor, plump hinein zu fahren […]. Solche Ertödtung […] der Urtheilskraft erfolgt aber durch das gewohnheitsmäßige Lesen eines geschickt redigirten liberalistischen Blattes ganz unvermerkt […], ohne daß Jemand ein Arg dabei hat. – Eine ganz besondere Kunstfertigkeit erfordern die allmähligen Übergänge aus einer Tonart in die andere bis zur gerade entgegengesetzten hin, damit die Gläubigkeit der Abonnenten keinen Schaden leidet. (Reichensperger 1863, S. 56–57)

 Das Vorwort zur ersten Auflage beendete Reichensperger mit dem Satz des Herzogs de la Rochefoucauld: „Die Wahrheit bewirkt nicht so viel Gutes in der Welt, als ihr Schein Böses!“ (Reichensperger 1863, S. XII).

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Die manipulierende Medienalltäglichkeit zeigt nicht nur ein journalistisch-willfähriges Sich-in-Dienst-nehmen-lassen, sondern auch, wie sozio-politische Interessen eine zugerichtete Sprache brauchen, um sie als gemeingültige und allgemeine Werte der Öffentlichkeit so präsentieren zu können, damit diese nicht gegen sie opponiert, sondern für die zu streiten eine Angelegenheit mündiger Bürger sei. Als „Zeitungsphilister“ sind sie der Presse verfallen: „obgleich hundertmal durch die vorgedachten oder ähnliche Redensarten getäuscht“, lassen sie sich „von den Phrasendreschern an der Nase herumführen“, es gehe ihnen beim Zeitungslesen „[e]in Licht nach dem andern auf“ (Reichensperger, S. 70). Solche Mechanismen der Verkehrung kommen der Publizität zugute, „eine Haupterrungenschaft des 19. Jahrhunderts“, jene Praxis vom „Todtschweigen (das Seitenstück zum parlamentarischen Schlußmachen) seiner Gegner, beziehungsweise die Verstümmelung und Verdrehung dessen, was einen unerwünschten Effect zu machen geeignet erscheint“ (Reichensperger, S. 75). Politische Berichterstattung erscheint als Infiltration vorherrschender Interessen in die gesellschaftliche Öffentlichkeit, die Presse als massenmediale Einbruchstelle für die Verwandlung von Interessen in Informationen, von Informationen in sozial- und politrelevante Wertevorgaben. Der Journalist wird zum „Publizisten“, dessen „Beruf es ist, zu diesem Ende den Stoff zurecht zu machen, und insbesondere die Ruhmeskränze für die Männer der Partei zu flechten“ (Reichensperger, S. 75). Der kluge Publizist gibt dem Ganzen eine subjektive oder subjektiv scheinende Sprache, um dem Leser und sich selbst vorzutäuschen, er artikuliere seine Meinung. Seine Individualität hat sich der öffentlichen Meinung schon ergeben, bevor er diese als seine propagiert. Was er schreibt, sind Phrasen durch und durch bis zur ambivalenten Kenntlichkeit. Ein halbes Jahrhundert später machte Karl Kraus die Kritik an und den Kampf gegen die Phrase, gegen das Phrasenhafte des Journalismus zu seinem Thema. Selbst Herausgeber einer Zeitschrift, der berühmten Fackel, gab es für ihn kein charakteristischeres Merkmal, das Zeitschriftenwesen bloßzustellen, als seinen Umgang mit der Sprache, dem Herunterbringen alles Sprachlichen auf das Niveau des bloß Phrasen- und Floskelhaften. Ihr auf Parolen zusammengeschrumpfter Informationswert war für ihn ein Markenzeichen der Presse. Es kennzeichnet einen suspekten Umgang mit den Fakten und ihren internen Wahrheiten. Es gehe nicht um präzise Informationen, sondern darum, diese zu denunzieren: mit einer Uninteressiertheit an ihnen, die nur an dem Punkt unterbrochen und durchkreuzt wird, wo sie zu Ereignisketten zusammengeschlossen werden können, deren Existenz sich erst durch deren phrasenhafte, journalistische Aufbereitung legitimiert, denn die Phrase „ist eine Ausgeburt der Technik“ (Benjamin 1970, S. 128), wusste Walter Benjamin Anfang der 30er Jahre mit Blick auf Kraus diese einzuordnen: „Der Zeitungsapparat verlangt wie eine Fabrik Arbeits- und Absatzgebiete. Zu bestimmten Zeiten am Tage – zwei-, dreimal in größeren Zeitungen – muß für die

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Maschine ein bestimmtes Quantum Arbeit beschafft und vorbereitet sein.“ (Benjamin 1970, S. 128, Zitat Kraus) Er folgte Kraus aus guten Gründen. Seit Anfang des dritten Jahrzehnts zeigte sich, was der scharfe Beobachter aus Wien Jahrzehnte zuvor kommen sah, in neudimensionierter Gestalt. ‚Gleichschaltung‘ war das pressepolitische Zeichen der Zukunft. Informationen müssen aufbereitet sein, ihre Inhalte müssen zu Phrasen transformiert werden, denn nur sie machen die Ereignisse und Gedanken ‚verkehrsfähig‘, fügen sie in eine technisch gesteuerte Kommunikation ein, machen sie zu Teilen von Informationsströmen, die ihre kulturelle Nutzbarkeit daraus ziehen, systemisch zugeschnittene Meinungen über Ereignisse zu offerieren und sie zugleich selbst zu sein. Dem Journalisten fällt die Aufgabe zu, die Liaison von Technik und Phrase herzustellen, ihre per definitionem gegebene Verbindung zu garantieren. Dabei vergewissert er sich, dass seine Meinung sich in den „Warenumlauf“ der Informationen „einverleiben läßt“ (Benjamin 1970, S. 136) und dem Genüge tut, was erwartet wird: mit der Autorität der Phrasen Wirklichkeiten zu suggerieren, die keine sind, aber deren Einfluss gerade dadurch gewährleistet wird: Ist die Presse ein Bote? Nein: das Ereignis. Eine Rede? Nein: das Leben. Sie erhebt nicht nur den Anspruch, daß die wahren Ereignisse ihre Nachrichten über die Ereignisse seien, sie bewirkt auch diese unheimliche Identität, durch welche immer der Schein entsteht, daß Taten zuerst berichtet werden, ehe sie zu verrichten sind, oft auch die Möglichkeit davon […]. (Benjamin 1970, S. 138, Zitat Kraus)

Die Presse ist keine Dienstleistung, sie ist „Ereignis“ und: Wieder ist uns das Instrument über den Kopf gewachsen. Wir haben den Menschen, der die Feuersbrunst zu melden hat […] über die Welt gesetzt, über den Brand und über das Haus, über die Tatsache. (Benjamin 1970, S. 138, Zitat Kraus)

Daher gibt es weder eine objektive Berichterstattung noch eine „unparteiische[ ] Nachrichtenübermittlung“ (Benjamin 1970, S. 138, Zitat Kraus). Es sind die „immer gleichen Sensationen, mit denen die Tagespresse ihrem Publikum dient.“ (Benjamin 1970, S. 138, Zitat Kraus) Dem Publikum? Das bekommt vorgesetzt, was den gesellschaftlichen und politischen Interessen dient: „Die Zeitung ist ein Instrument der Macht. Sie kann ihren Wert nur von dem Charakter der Macht haben, die sie bedient; nicht nur in dem, was sie vertritt, auch in dem, wie es tut, ist sie ihr Ausdruck.“ (Benjamin 1970, S. 138, Zitat Kraus) Die Beschreibung des Zusammenhanges von Presse als Massenmedium, als Informationsvermittlung von politischen und ideologisch ausgerichteten Interessen trifft nicht nur die Situation in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts. Sie führt fort, was schon Nietzsche an der Massenpresse zu kritisieren wusste. Zugleich aber gilt seine Aufmerksamkeit mehr den

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technischen Abläufen, die selbst ökonomischen Zwängen folgen und zugleich von den Innovationen einer allgemeineren Technisierung aller kulturellen Prozesse profitieren, die wiederum die Wahrnehmungs- und Verhaltensstrategien der Konsumenten energisch beeinflussen und diesen ihre Muster einschreiben. Benjamin wusste nur zu gut um diese Bedeutung. Vieles von dem ist bis heute gültig – nicht nur für das Wesen und die Wirkung der Printmedien. Aber taugen sie auch für jene Veränderungen unter den Stichworten von Digitalisierung und Machine Learning oder KI-generierter Informationserstellung und -verarbeitung?

4 Muster-Entdeckungen und die neue Dimension des Digitalen So unter- und erliegt der Journalist, der Meinungsmacher par excellence dem Rhythmus einer von ihm nicht beherrschten Kultur und Technik und sucht ihr dadurch zu genügen, dass er ihren technisierten Lebenstakt annimmt, seine Arbeit als dessen wort- und bildgewordenen Ausdruck versteht, sich selbst als den, der ihn zu steuern und zu legitimieren weiß. Dass er dabei abhängig ist von der Technisierung seiner Arbeitsmittel und sie es sind, die seine Informationen und Botschaften bestimmen: mit dieser Erkenntnis ist Nietzsche einer der Vordenker ihrer medienkulturellen Würdigung und Kritik. Nicht nur, dass er über die Wirkung der Presse als informationsverbreitendes Massenmedium hinaussieht, ausdrücklich den damals neuesten Stand der Telegraphen einbezieht, sondern: dass, wie die Schreibmittel an den Gedanken mitarbeiten, das Medium am Inhalt seiner Botschaften beteiligt ist, die Inhalte strukturieren und ausschreiben. Seine zustimmende Antwort an Heinrich Köselitz hat Mediengeschichte geschrieben: „Sie haben Recht – unser Schreibzeug arbeitet mit an unseren Gedanken“ (Bf. an Heinrich Köselitz, Ende Februar 1882, KGB III/1, Bf. 202). Nicht nur die Bedürfnisse der Leser nach Unterhaltung und Entspannung profilieren die Informationen, auch die Anforderungen der Zeitung an das Profil der durch sie vermittelten Botschaften prägen sich in sie ein. So, dass das Medium selbst Botschaft wird, wie alle Medienphilosophie weiß. Nietzsche sieht das Medium selbst als Wert, Wertegeber und Wertevermittlung, eine Erkenntnis, die zwischen Anerkennung und Opposition changiert. In der digitalen Kommunikation potenzieren sich die Prozesse in einer Dimension, deren Wirkungspotential kaum abzuschätzen ist. Für ihn waren Presse und Telegraph Prämissen im Maschinenzeitalter, bei denen es ein Wagnis war, ihre „tausendjährige Conclusion […] zu ziehen“ (KSA 2, S. 674). Welches Wagnis ist es, aus den Prämissen des Computerzeitalters, der Digitalisierung, der Reichweite von Virtual Reality, Social Media und Algorithmenherrschaft Schlüsse auf die Zukunft in

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ihrer verändernden Wirkung auf die Informationsströme, deren Fabrikation und Einsatz in einer zunehmend von KI und Algorithmen bestimmten öffentlichen und privaten Kommunikation zu ziehen? Hinsichtlich ihrer Folgen für das Selbstverständnis des „homo digitalis“ (Schulz-Nieswandt 2019), dessen Sehnsucht nach Herrschaft über sich durch die Abgabe derselben an digital produzierte und gesteuerte Prozesse, deren Transparenz immer weniger an menschlicher Intelligenz hängt und von ihr beherrscht wird im Labyrinth der Algorithmen? Was wird aus den bisherigen Medienmachern, den Journalisten? Ist mit Nietzsche darüber ins Gespräch zu kommen? Unmittelbar sicher nicht. Aber des Kulturkritikers genaue Besichtigung der Zusammenhänge von Technik, Geschwindigkeit und Information, der Abhängigkeiten der Informationen von den sozialen Erwartungen an sie und an ihre Produzenten, die daraus resultierenden Folgen für Interaktionsräume zwischen ihnen geben Einblicke,Vorausblicke auch in die moderne Medienwelt, kennzeichnet ihre Akteure und deren Produkte, bindet sie an ihre Arbeitsgeräte und ihre notwendig beschränkte Sicht auf die Ereignisse, die sie beschreiben und/oder inszenieren und erfinden – dies zum einen; zum anderen gehört Nietzsches Bild vom Menschen als einem sich notwendig über die Wirklichkeit täuschenden und getäuscht-werden-wollenden Wesen in den Horizont von Erkenntnissen, die auch auf die Spur und die Besonderheiten digitaler Welterkenntnis zielen. Und schließlich gewinnt das diskursträchtige Stichwort von der Entdeckung von ‚Mustern‘ in allem, vorrangig in Informationen und Daten bis zu Big Data, die nicht nur deren Produktion, sondern die vor allem deren Nutzung, ihr Vernutzungslevel bestimmen und hochtreiben, konstitutive Bedeutung in den Diskursen. Das Erkennen solcher Muster und ihre Existenz sind, so weiß es Armin Nassehi aus soziologischer Sicht, längst ein Wesensmerkmal der Moderne, wie Digitalisierung, digitale Kommunikation insgesamt (Nassehi 2019). Für den Soziologen ist klar, dass die Erhebung von Daten und ihr Gebrauch, die Erstellung von meinungslenkenden Informationen weit älter sind als ihre elektronisch-digitalen Verarbeitungstechniken. Sie sind Arsenal und Bestimmungsmerkmal der Moderne. Die Digitalisierung sei keine Frage und Ergebnis nur technischer Entwicklung, sondern vielmehr eine „technische Antwort auf Fragen, die sich zu Beginn der Moderne mit ihrer steigenden Komplexität stellten.“ (Nutt 2020) Das Internet sei eine Antwort auf ein langes virulentes Bedürfnis nach Ordnungsmustern, die der Moderne adäquat seien: „Die Moderne ist nicht das Ende einer Ordnung, sie generiert Ordnungen in nie dagewesener Form“ (Nutt 2020), besitzt in den Digitalisierungsprozessen technische Möglichkeiten, die weit über bisherige Praktiken von Information, Wissen, Desinformation und Datenmissbrauch hinausreichen. Es wäre illusionär und/oder naiv, sich ihrer unmittelbaren Evidenz entledigen zu wollen, um Datenunsicherheiten und technischen Abhängigkeiten zu entgehen. In Nietzsche hätte er an dieser Stelle einen Fürsprecher. Unter Berufung auf Martin Heideggers Technik-Sicht, mit

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Niklas Luhmanns und Michel Foucaults systemtheoretischen Grundansichten als Referenzen drängt er auf eine Gesellschafts- und Medienauffassung, die sich ihrer internen, an die Prozesse von Technisierung und Digitalisierung als deren Promotoren und Existenz-Muster bindenden Notwendigkeit bewusst ist. Zugleich gerät eine große Gefahr ins Blickfeld: Sich der Muster zu vergewissern, nach denen alles abläuft, bedeutet immer auch, dass eine solche Gesellschaft zwar mehr über sich erfährt, aber die Datenmengen erschweren eine wirklich intensive Selbsterkenntnis der Strukturen, die sie reflektieren und bedeuten. Weil ihre Variations- und Kombinationsbreite exponentiell steigt, besteht eine permanente „Überhitzungsgefahr“ (Nutt 2020). Die moderne Gesellschaft könne dies transparent machen und bewusst halten und habe die Chance, durch die Digitalisierung, überzogen gesagt, „endlich selbst [zu] verstehen, dass es sie wirklich gibt.“ (Heisterhagen 2019) Nietzsche hätte auch dem zugestimmt. Zurück an den Anfang. Erstens: Nietzsches rigorose Kritik am zeitgenössischen Massenmedium Presse und ihren Dienern, den Journalisten, greift mit der Phänomenologie ihres Berufsstandes weit voraus in die Existenzformen ihrer gegenwärtigen Nachfolger und deren Arbeitsbedingungen wie Selbstverständnis. Dem modernen Journalisten eignet jene von den Anfängen charakteristische Arbeitsweise, stets auf der Jagd nach neuen Ereignissen zu sein, Bekanntes mit der Aura des Neuen zu versehen oder Gewusstes und Fiktives, heute: Virtuelles mit Realem so zu verbinden, dass stets der Eindruck des Neuesten entsteht – verständlich und bildreich aufbereitet, schnell produziert und in Teilen digital programmiert, ohne den Anspruch auf länger wirkende Gültig- und Verbindlichkeit. Die unablässig über den Ticker einströmenden Informationen lassen das eben noch Neueste von Null auf gleich veralten und vergessen. Gültigkeit ist nur für den Augenblick, und der verkürzt sich auf immer geringere Zeitsequenzen. Egal, wie aktuell die Nachrichten sind, ob sie der Realität entsprechen, wenn sie nur von der User-Community angenommen werden – auf TV-Kanälen, im Livestream, auf Facebook, Instagram & Co. In der Informationswelt der Social Media zählen die Likes, sie sind Ausweis der Wirksamkeit der digital vermittelten Informationen. Auf Nachprüfbarkeit kommt es nicht mehr an. Globale Vernetzung sorgt für den Erfolg. Nietzsches Erkenntnis, die Arbeitsmittel haben einen bestimmenden Part an deren Geschwindigkeit, sie bestimmt den Erfolg der Kommunikation: „Je schneller der Umschwung der Meinungen erfolgt, um so schneller läuft die Welt, die Chronik verwandelt sich in das Journal, und zuletzt stellt der Telegraph fest, worin in Stunden sich die Meinungen der Menschen verändert haben.“ (NL 1876, KSA 8, S. 352) Der Erfolg potenziert sich durch informationsverarbeitende, digitale Vernetzungstechnologien. Messages in den Social Media inklusive:

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Wenn wir heute etwas wissen wollen, dann öffnen wir ein Fenster. Es ist kein Zufall, dass dieses Format, in das wir unsere Fragen eingeben, so heißt. Dabei sind diese Fenster keine Öffnungen im Gemäuer, sondern die Benutzerschnittstelle auf unseren Bildschirmen. Es ist gleichwohl ein Blick nach draußen, wir haben uns an ihn gewöhnt wie jede andere Ansicht, die zum Alltag gehört. (Hohmann 2020)

So selbstverständlich, wie es klingt, ist es nicht. Bereits Nietzsche wusste, wie ambivalent Fenster sein können. Metaphorisch eingesetzt, waren sie ihm zunächst Rahmengeber für Wirklichkeitssichten, die Raumerfahrungen und deren Aufweitungen bedeuten, zugleich aber auch Begrenzungen, deren Ausschnitthaftes begründen. Dem Blick nach draußen gesellt sich zugleich der nach drinnen, und der Philosoph fragt weiter: Was aber, wenn das Fenster selbst zu sehen beginnt, nach drinnen und draußen und seine Blicke zu den maßgeblichen macht? Gilt dann noch, dass „ein Werkzeug seine eigene Tauglichkeit kritisiren k a n n ??“ (NL 1885/1886, KSA 12, S. 143), dass alle anderen Tätigkeiten und Resultate nicht zu Werten „zweiten Ranges“ (NL 1885/1886, KSA 12, S. 144) werden, wenn Lüge und Täuschung dabei sind und die Differenz zum Wirklichen verschwimmt? Wenn dass, was gesehen wird, jeden anderen Blick desavouiert: „Ist denn Das, was ihr durch diess Fenster von der Welt seht, so schön, dass ihr durchaus durch kein anderes Fenster mehr blicken wollt, – ja selbst Andere davon abzuhalten den Versuch macht?“ (KSA 2, S. 522). Bezeichnenderweise trägt dieser Aphorismus den Titel „Vor grauen Fensterscheiben“. Für Nietzsche eine Feststellung, die ihm klarmacht, wie sehr Aus- und Einblicke in die Welt immer nur Ausschnitte liefern, die von vielem abhängig sind: von den Rahmenbedingungen, den Wahrnehmungsfähigkeiten, dem Medium, das sie bereitstellt. Für uns eine Beobachtung mit Perspektive: Internet, Facebook, WhatsApp oder Netflix, die totale Computerisierung der Lebens-, Wahrnehmungsund Darstellungswelt manövrieren die User unbemerkt in eine als neu empfundene und gewertete Welt scheinbar uneingeschränkter Informiertheit (Schmitt 2021), die tatsächlich aber eine immer größere Abhängigkeit und überwachende Programmanwendung wird. Die Konturen, mit denen Nietzsche den Zeitungsleser seiner Zeit gezeichnet hat, als jemanden, der nach Zerstreuung sucht und diese unter dem Vorzeichen, gut informiert und über die Abhängigkeiten erhaben zu sein, konsumieren möchte, weil er diese und nur diese braucht, ohne sie zu hinterfragen oder hinterfragen zu können, das Muster solchen Konsumverhaltens gegenüber den angebotenen und zur Verfügung gestellten Informationen gilt auch für heutige User digitaler Medien. Computer und Internet geben Möglichkeiten an die Hand, diese Prozesse zu potenzieren. Die Muster ihrer Entstehung und Wirkung sind bekannt. Kontrollverluste oder Kontrollverzichte ebenso. Was für Nietzsche noch außerhalb des Blickfeldes lag, dass Informationsmobilität und Medienkompetenz samt ihren digitalen Innovationen auf eine Entwicklung treffen und sie ausfüllen, in der

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selbstbestimmte Lebensentwürfe immer stärker kollidieren mit einem Sich-einlassen auf die Einflüsterungen von Influencern und Streaming-Diensten, die Antworten geben auf Fragen, die gar nicht gestellt werden: „Die Zukunftsvisionen kommen […] von Technologie-Unternehmen. Microsoft, Facebook und andere sagen uns, wie unsere Zukunft aussieht.“ (Leonhard 2019) Zweitens: Täuschungen gehören in das Spektrum des Themas. Ihrer Übermacht zu widerstehen zählt zu den Strategien, die nicht nur Neuropsychologen empfehlen. Sie besitzen philosophisches, kulturtechnisches Potential. Nietzsche wusste: alle Sinneswahrnehmungen geben Täuschungen wieder, und der Mensch will getäuscht werden. Täuschungen gehören zum Überlebensarsenal. Insofern ist alles, was der Mensch glaubt zu erkennen und zu wissen, Täuschung sui generis, ohne die Leben nicht möglich wäre: „Wollte man heraus aus der Welt der Perspective, so gienge man zu Grunde. Auch ein R ü c k g ä n g i g -machen der großen bereits einverleibten Täuschungen zerstört die Menschheit.“ (NL 1884, KSA 11, S. 285) Was aber, wenn über diese erkenntnistheoretische Gewissheit hinaus, medienrelevante Argumente hinzukommen? Im frühen Fragment Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne sind schon alle intellektuellen Interaktionsräume des Menschen als das bezeichnet, was sie für Nietzsche bleiben werden: großangelegte Bedingungen für den existenziellen Selbstbetrug des Menschen als Stimulanz zum Leben, das ohne Täuschungen dem Druck des Existenziellen nicht standhalten könnte. Realität tritt nicht nur in den Hintergrund, sie wird zur generellen Bedrohung, muss ausgeblendet, umgewertet, als Illusion begriffen werden. Dem Intellekt kommt es zu, „ein Mittel zur Erhaltung des Individuums“ zu sein, seine „Hauptkräfte“ zu kultivieren, „Verstellung“ zu sein (KSA 1, S. 876). Hochmütig lege er „verblendende Nebel über die Augen und die Sinne der Menschen […], täuscht sie also über den Werth des Daseins […] Seine allgemeinste Wirkung ist Täuschung“ (KSA 1, S. 876). Dabei treibt er diese Kraft auf den Gipfel: „Täuschung, das Schmeicheln, Lügen und Trügen, das Hinter-dem-Rücken-Reden, das Repräsentiren […], das Maskirtsein, die verhüllende Convention, das Bühnenspiel vor Anderen und vor sich selbst“ sind „die Regel und das Gesetz“ (KSA 1, S. 876) zugleich. Man nimmt Oberflächen wahr, begnügt sich mit deren Reizen, befriedigt diese mit den Mitteln, die für Konflikte der Realität unempfänglich machen. Indem sie in von der Sprache erfundenen Zeichen und Konventionen ruhiggestellt sind und für verbindlich erklärt, werden Zeichen und Bilder zu den machtwirksamsten medialen Mitteln ihrer garantierten Täuschungsoptionen. Könnte dies taugen zur deskriptiven Vorwegnahme und Bestätigung derjenigen Prozesse, in die die digitale Welt den gegenwärtigen Menschen zieht und den zukünftigen ziehen wird? Wer die Netflix-Dokumentation Das Dilemma mit den sozialen Medien kennt, ahnt, wie groß die Differenz ist zwischen den von Nietzsche avisierten und philosophisch konnotierten Plädoyers für die Täuschung und den

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sich-täuschen-lassenden Wahrnehmungsapparat des menschlichen Intellekts. Den digitalen sozialen Medien kommt es zu, auf eine andere Weise ihr Täuschungspotential zum Suchtpotential werden und keine Freiräume zu lassen. Sie machen ihre Nutzer nicht nur zu Abhängigen, die für die Produkte, denen sie sich ausliefern und für die sie zahlen, sie sind oder werden selbst zu den Produkten der Plattformen und Formate, an die sie ihre Wahrnehmung der Welt und ihre Selbstwahrnehmung binden. Sie nehmen die gelieferten Codes und Algorithmen für sich an. Täuschung und Verführung werden ununterscheidbar, Abhängigkeit von den Medien irreversibel. Logarithmenbasierte Datenverarbeitungssysteme bestimmen, wie die Wirklichkeit zu sehen und zu erleben ist, ohne einen Zweifel daran zulassen, dass ihre Bilder und Informationen sich aus den Daten speisen, die selbst immer stärker computergeneriert sind, Fakes samt Risiken einbeschlossen. Der moderne Journalist wird Promotor von Fake News und Fake Bildern, von ungenierten Erfindungen, falschen Zusammenhängen und in die Öffentlichkeit lancierten Meinungen. Die Indienstnahme der Medien für politische Zwecke zieht so ihre Bahn vom Ende des 19. Jahrhunderts bis heute. Was Nietzsche 1876 über die Bedeutung der Psychologie für die Presse gesagt hat: „Die Parteipresse hat thatsächlich ein Stückchen Psychologie, auch die Diplomatie – alles als Praxis“ (NL 1876, KSA 8, S. 355) gehört zur Aufdeckung ihres Produktionsmusters. Die Berichterstattung über den DeutschFranzösischen Krieg 1871 sah er als „Benehmen der deutschen Zeitungsschreiber“ (KSA 1, S. 161) in direkter Entsprechung zu den Erwartungen an die journalistische Verwandlung von Fakten in Fiktionen oder Fakes. Man wollte lesen, was gemeint werden sollte: „alles, was mit der öffentlichen Meinung meint, hat sich die Augen verbunden und die Ohren verstopft“ (KSA 1, S. 164): Der demagogische Charakter und die Absicht, auf die Massen zu wirken, ist gegenwärtig allen politischen Parteien gemeinsam: sie alle sind genöthigt, der genannten Absicht wegen, ihre Principien zu grossen Alfresco-Dummheiten umzuwandeln und sie so an die Wand zu malen. (KSA 2, S. 285)

Den Manipulationen und Fakes sind Tür und Tor geöffnet. ‚Alfresco-Dummheiten‘ – welch ein Wort anstelle des modernen ‚Fake News‘! Für den Journalisten heißt dies, er muss die Leser dazu bringen, die offerierten Nachrichten nicht nur als solche anzunehmen, sondern auch deren transportierte Wertungen als gültig zu begreifen und zu handhaben. Dafür müsse er nach Nietzsche zuvor aber diese für sich selbst als solche angenommen haben. Was für die Politiker gilt, gilt auch für den Journalisten: „Wenn man die Leute dazu treiben kann, sich öffentlich für Etwas zu erklären, so hat man sie meistens auch dazu gebracht, sich innerlich dafür zu erklären; sie wollen fürderhin als consequent erfunden werden“ (KSA 2, S. 329). Der Journalist avanciert zum konsequenten Meinungsmacher in der Spur des politi-

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schen mainstreams und ist derjenige, dem diese Spur Wegmarken und Richtung verdankt.³ Wie der Journalist, so die Presse. Informationen werden zur politischen Nutzbarkeit zurechtgebogen, mit erfundenen Details aufgerüstet, um von den wirklichen Entscheidungen abzulenken: Erwägt man, wie auch jetzt noch alle grossen politischen Vorgänge sich heimlich und verhüllt auf das Theater schleichen, wie sie von unbedeutenden Ereignissen verdeckt werden […], welche Bedeutung kann man da der Presse zugestehen, wie sie jetzt ist, mit ihrem täglichen Aufwand von Lunge, um zu schreien, zu übertäuben, zu erregen, zu erschrecken, – ist sie mehr als der p e r m a n e n t e b l i n d e L ä r m , der die Ohren und Sinne nach einer falschen Richtung ablenkt? (KSA 2, S. 511)

Bis der Leser an den Betrug gewöhnt ist und für objektive Berichterstattung hält. Die „Benutzung der kleinsten Unredlichkeit“ gehört zum journalistischen Handwerk und summiert sich zu großen Lügen: Die Macht der Presse besteht darin, dass jeder Einzelne, der ihr dient, sich nur ganz wenig verpflichtet und verbunden fühlt. Er sagt für gewöhnlich s e i n e Meinung, aber sagt sie einmal auch n i c h t , um seiner Partei oder der Politik seines Landes oder endlich sich selbst zu nützen. Solche kleine Vergehen der Unredlichkeit oder vielleicht nur einer unredlichen Verschwiegenheit sind von dem Einzelnen nicht schwer zu tragen, doch sind die Folgen ausserordentlich […]. (KSA 2, S. 290)

So gehört der Journalist zu den „gefährliche[n] Mensch[en]“ (KSA 2, S. 291). Im Zeitalter von Echtzeitjournalismus, übermächtiger Datenfluten, digitaler Technik und Datenmanipulation steht die Frage nach dem Wandel wertevermittelnder Integrationskraft der Medien nach wie vor im Raum – wie auch die nach den Aufgaben und dem Selbstverständnis von Journalisten. In einer Medienkultur, in dem der Leser längst zum User auch von Google & Co. geworden ist und der Journalist zum „Schamanen von heute“ (Alexander 2014), ist Souveränität eine Illusion, verfängt sich die Selbstermächtigung des Journalisten in den medialen Datenkäfigen. Mit Blick auf den sogenannten ‚Ganzkörper-Journalismus‘, der es dem Nutzer erlaubt, mit VR-Headset, Kopfhörern und Laptop entlang einer vorgegebenen Linie von QR-Codes in die Räume des simulierten Geschehens einzutauchen und quasi selbst die Informationen und Daten über Ereignisse abzurufen, zu modellieren und zu erfinden, während Grenzen zwischen Realität und Virtual Reality neue Wahrnehmungszugänge schaffen, kann man selbst zum Journalisten werden.  Nietzsches Beschreibung, wie man die Stimmung in der Gesellschaft in Vorbereitung von Kriegen solange hochheizt, bis ihr Einverständnis in punkto Rüstungsausgaben und Feindbild zu erwarten ist, und welchen Anteil die Massenmedien daran haben, gehört zu den bemerkenswertesten in dieser Zeit (KSA 2, S. 678).

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Nietzsches Beobachtungen haben sie weit überholt. Die Berechenbarkeit der Daten, ihre digitale Nachbereitung geben dem Journalisten Werkzeuge an die Hand, die den Eindruck ihrer universalen Beherrschbarkeit wecken. Aber in Wirklichkeit erhöht sich nur die Abhängigkeit von der Geschwindigkeit, in der sie verarbeitet werden müssen. Was Nikolaus Brender über die TV-Arbeit sagt, trifft alle Medien: Alle zwei Stunden werden die Aufmacher gewechselt. Neue Aufmerksamkeiten werden gesetzt, neue Fährten gelegt. Wenn es der Text nicht hergibt, muss es das Bild bringen. Ein EU-Treffen wird mit einem Foto aus dem Blaulichtmilieu angefixt. Das eine hat mit dem anderen nichts zu tun. (Brender 2012)

Anschläge auf Touristen in Ägypten wurden so bildträchtig gefakt: Dem Hatschepsut-Tempel wurde eine überdimensionale Blutspur in Rot eingefügt; der Irakkrieg wurde mit einem ölverschmierten Vogel eingeleitet und Luftaufnahmen mit angeblichen Beweisen chemischer Waffen. Als politische Fakes wurden sie erst später entlarvt. Solche „fingierte Brisanz“ charakterisiert den von Effekten abhängigen Journalismus. Der Journalist als Daytrader (ein Begriff aus der Börsenpraxis), der rund um die Uhr den Sensationen nachjagt, um der Erste zu sein, der sie in Informationen umsetzt, um sie, so hat es Nietzsche gesagt, den Gaumen der Gierigen vorzusetzen. Bei Brender heißt es: „Keiner will auch nur der Zweite sein. Und jedem steckt die Angst im Nacken, den Trend zu verpassen, nicht dabei zu sein beim Halali des Tages.“ (Brender 2012) Alle stehen unter Konkurrenz- und Zeitdruck als Ursache und Folge der computergesteuerten globalen Kommunikation. Dies gilt für Politik, Kultur, Wirtschaft und Medien. Brender weiter: „Sie ordnen sich dem gleichen Zeittakt unter, sie folgen der gleichen Reaktionsmechanik und filtern nach der gleichen Prioritätenstruktur.“ (Brender 2012) Dieses Agieren im Live-Takt entbindet von kritischer Reflexion, vom analysierenden Kommentar und notwendiger zeitlicher Distanz vom Geschehen, die erst ein Denken in und ein Präsentieren von Zusammenhängen möglich machen würde. War im 18./19. Jahrhundert schnelle Information ein Mittel gegen das Herrschaftswissen und von den Herrschenden gefürchtet, hat sich im 20./21. Jahrhundert die Angst vor schneller Information ins Gegenteil verkehrt. Noch einmal Brender: „Schnelle Berichte fürchten Politiker, Unternehmen, Verbände und auch die Gewerkschaften schon lange nicht mehr. Gefahr im Verzug kommt für sie aber dann auf, wenn sich ein Journalist Zeit nimmt. Das scheint verdächtig.“ (Brender 2012) Er braucht keine Zeit, um Überlegungen anzustellen. Er soll allein die Informationen verbreiten, besetzt mit den deutenden Fingerzeigen derer, die sie in die Welt setzen. Das einzige, das er abzuwarten hat, sind die zum Kommunikationsritual gehörenden Pressekonferenzen als der semiöffentliche Raum, in dem der Journalist zum Multiplikator politischer Meinungen

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gemacht wird resp. sich machen lässt, damit der Leser seiner Berichte zum ‚informierten‘ Leser werden kann. Nietzsches Perspektive auf den Zusammenhang gilt noch immer: „Politik Presse Partei Gesellschaft“ (NL 1877, KSA 8, S. 479). Markt als Stichwort wäre hinzufügen. Nach seinen Gesetzen strukturiert sich auch die Medienrealität. Sie ist sein Konstrukt. Er ist es, dem das Verwertungspotential an Informationen und Daten seine Konjunkturen garantiert. Die algorithmische Steuerung, die effektive Zurechenbarkeit der Daten und Informationen formt ihre Produzenten und Nutzer gleichermaßen nach dem Vorbild und Muster der Algorithmen selbst. Allerdings müsse sich der Reichweite und ihrer impliziten Gefahren bewusst sein, wer sie nutzt und sich ihnen überlässt. Denn mediale Kommunikation, algorithmengesteuert, bedarf korrigierender Prämissen, auf die sich einzulassen immer stärker als notwendig erkannt wird. Aber ist „[m]it dem Algorithmus tanzen“ (Maier 2021), sich von ihm nicht instrumentalisieren zu lassen, ein Weg in eine souveräne Handhabung seiner Möglichkeiten? Können auf diese Weise digitale Tools so genutzt werden, dass sie der Selbstermächtigung der Algorithmen zu widerstehen vermögen? Wenn ja, was hieße es für die Verarbeitung der Datenmengen und Informationsströme in der Hand der Massenmedien und Social Media-Programme? Ließen sich die vielfältigen digitalen Transformationen der Daten und Informationen in eine kulturelle Transformation ihrer Möglichkeiten wandeln? Aufs Internet bezogen, wäre zu fragen: „Das Internet ist eine schöne Metapher dafür, eine Art gigantischer Menschheitsbibliothek, in der wahrscheinlich alles, was uns möglich ist, irgendwo vorkommt. Sollen wir die Maschinen dafür bestrafen, daß sie uns mit uns selber konfrontieren?“ (Detje 1998) Pikanterweise die Frage eines Journalisten. Eine Frage, die offen bleibt. Nicht nur mit Blick auf Nietzsche.

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Meinungen und Fake News: Journalismus und massenmediale Täuschungen

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Nietzsche, die Daten und die Virtualisierung

Stephan Günzel

Augmented Reality/Augmented Identity: Wirklichkeits- und Selbsterweiterung mit Nietzsche denken Abstract: Augmented Reality/Augmented Identity. Thinking reality and self-expansion with Nietzsche. This article focuses on the media culture of augmented reality (AR) in regard to Nietzsche’s philosophy, even though the digital implementation of AR dates to 1968. It can be shown that precursor technologies of AR have been accessible to the public since the 18th century at the latest, and Nietzsche could thus certainly have been aware of the phenomenon of the medial expansion of reality. Furthermore, in the following we will not only deal with technical applications of AR, but also with an idea that is expressed in the technologies – that of the augmented self, which Nietzsche envisioned in his concept of ‘dividuality’. The moment of augmentation of reality can therefore be thought with Nietzsche as complementary to augmented identity.

1 Mit Nietzsche denken In diesem Beitrag soll das Augenmerk auf ein Phänomen der heutigen, aber auch schon der historischen Medienkultur gerichtet werden, nämlich auf dasjenige der erweiterten Realität, der Augmented Reality (AR). Diese wird in der derzeitigen Euphorie über Systeme der Virtual Reality (VR) meist nur stiefkindlich behandelt. Dass in diesem Zusammenhang auf Nietzsche Bezug genommen werden kann, mag zunächst überraschend sein, jedoch kann gezeigt werden, dass bereits spätestens seit dem 18. Jahrhundert Vorläufertechnologien der AR der Öffentlichkeit zugänglich waren und Nietzsche so durchaus von dem Phänomen der medialen Wirklichkeitserweiterung Kenntnis gehabt haben könnte. Darüber hinaus soll es im Folgenden auch nicht allein um technische Applikationen von AR gehen, sondern auch um eine Idee, die sich in den Technologien ausdrückt – diejenige des erweiterten Selbst, welche Nietzsche in seinem Konzept der ‚Dividualität‘ vorgedacht hat. Das Moment der Augmentierung von Realität lässt sich von daher mit Nietzsche komplementär zur augmented identity denken. Dass solch ‚spekulatives‘ Denken mit Nietzsche möglich ist, zeigen einzelne Vorschläge, Nietzsche schon als (kritischen) Denker der Virtual Reality in Betracht zu ziehen. Miriam Ommeln etwa nimmt an, dass Nietzsches Zurückweisung des propositionalen Wahrheitsbegriffs im ‚Pathos der Distanz‘ zu einer Entbergung des https://doi.org/10.1515/9783111072890-009

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Stephan Günzel

Wesens von VR als Medium führt, das gerade im Infragestellen der Realität durch Virtualität besteht: Das Medium der virtuellen Realität […] weist den Weg zur Klärung seiner eigenen Doppeldeutigkeit als Technologie und als Medium. Im Pathos der Distanz […] werden die Charakterisierungen von […] Nietzsche einsichtig, da die virtuelle Realität, bzw. jede mediale Tätigkeit von den beiden Tätigkeiten des Aktiven und des Passiven getragen sein sollte […]. (Ommeln 2008, S. 111)

Thorsten Botz-Bornstein wiederum zieht den darüber hinausgehenden Vergleich zwischen der Dichotomie des Apollinischen und des Dionysischen mit dem Gegensatz von ‚virtuell‘ und ‚real‘, um ebenfalls auf eine mögliche Ablehnung von VR durch Nietzsche zu spekulieren: Within Nietzsche’s mythological system, the Apolline dream world of the stage action is married to the Dionysian ‘real’ world of the satyr-chorus: what is born is the tragedy as a reflection of real life. However, neither Dionysus nor Apollo suggests a flight from reality into an abstract virtuality. Both are advocates of reality even though they attain the stage of reality only through a paradox: the Dionysian man manages to stay close to reality only through the dreamlike element of the Apolline. Nietzsche might have been against virtual reality because for him it is the tragic consciousness of the drunken gambler and not the self-righteous enjoyment of the cold technocrat that creates the Dionysian spirit. Nietzsche puts forward ‘reality’ as a transcendent interplay of the Apolline and the Dionysian. Nietzsche might, however, have had sympathies towards another, more interactive form of VR in which a Dionysian quantity constantly challenges too static forms of the Apolline, preventing it from becoming an official world. What is required is, rather, the correct management of a paradox already anticipated by Nietzsche. (Botz-Bornstein 2011, S. 99)

Es ließe sich von hier schließen, dass die ‚interaktivere‘ Form von VR, in welcher das apollinische durch das dionysische Element herausgefordert und gleichermaßen von ihm durchdrungen wird, konsequenterweise die AR ist. Nur ist gerade dieser affirmative Aspekt in der Nietzscheforschung bislang nicht thematisiert worden, wenn man von Martin Heideggers pauschalisierender Lesart des technischen (Hin‐)Übermenschens einmal absieht, die Nietzsches Anthropologie in Richtung des Transhumanismus verschiebt: Jetzt zeigt sich, was Nietzsche bereits metaphysisch erkannte, daß die neuzeitliche ‚machinale Ökonomie‘, die maschinenmäßige Durchrechnung alles Handelns und Planens in ihrer unbedingten Gestalt ein neues Menschentum fordert, das über den bisherigen Menschen hinausgeht. Es genügt nicht, daß man Panzerwagen, Flugzeuge und Nachrichtengeräte besitzt; es genügt auch nicht, daß man über Menschen verfügt, die dergleichen bedienen können; es genügt nicht einmal, daß der Mensch die Technik nur beherrscht, als sei diese etwas an sich Gleichgültiges jenseits von Nutzen und Schaden, Aufbau und Zerstörung, beliebig von irgendwem zu beliebigen Zwecken nutzbar. Es bedarf eines Menschentums, das von Grund aus

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dem einzigartigen Grundwesen der neuzeitlichen Technik und ihrer metaphysischen Wahrheit gemäß ist, d. h. vom Wesen der Technik sich ganz beherrschen läßt, um so gerade selbst die einzelnen technischen Vorgänge und Möglichkeiten zu lenken und zu nützen. (Heidegger 1997, S. 165–166)

2 Technische Augmentierung Als Annäherung an die technischen Grundlagen von Augmentierung kann knapp formuliert werden, dass es sich um Verfahren der Überlagerung von physischer Wirklichkeit und virtuellen Inhalten – in Form von Symbolen oder Objekten – handelt. Die Forschungsliteratur zum Thema kennt dabei zwei Begriffsbestimmungen, welche eine weitere und eine engere Definition von AR umfassen. Die sehr weit gefasste Definition geht auf Paul Milgram und Fumio Kishino (1994) zurück, die AR in einem Kontinuum von Realität und Virtualität verorten, wobei sie den gesamten Bereich zwischen wirklicher Realität (als das, was ist) und Virtualität (als dem, was sein kann) als ‚Mixed Reality‘ bezeichnen. Der erste Schritt hin zur Virtualisierung wäre demnach die Erweiterung der Realität mit virtuellen Elementen – und genau dies sei AR. Die Überlagerung des Kamerabildes von Smartphones mit Richtungsanzeigen wäre hierfür ein Beispiel. Eine engere Bestimmung geht auf Ronald Azuma (1997) zurück, der den Begriff AR ausschließlich für Head Mounted Displays (HMDs) reserviert sehen will, welche drei Kriterien erfüllen müssen: 1. sie kombinieren Reales und Virtuelles; 2. die Anzeigen sind interaktiv in Echtzeit; und 3. die Objekte sind im dreidimensionalen Raum verortet, verbleiben also an einer definierten Stelle der Wirklichkeit. Dies schließt manche als AR bezeichnete Anwendungen aus, wenn etwa nur nummerische Informationen in das Sichtfeld eingeblendet werden. Dies ist etwa bei den sogenannten Head-up-Displays (HUDs) in Flugzeugen der Fall, welche den Neigungswinkel der Maschine im Sichtfeld der Piloten anzeigen. Geht man von der engeren Bestimmung Azumas aus, ist AR in medienphilosophischer Hinsicht als ideale Form des Bildes zu denken: Das Imaginäre wird mit dem Wirklichen derart in Beziehung gesetzt, dass der Bildträger in seiner Funktion als Medium gänzlich zurücktreten kann. Das, was im Bild (interaktiv) repräsentiert wird, ist selbst in der repräsentierten Welt zu sehen. Es besteht also diejenige Transparenz, welche sich Leon Battista Alberti schon im 15. Jahrhundert von Bildern wünschte, wenn er sie mit einem „offenstehenden Fenster“ verglich (Alberti 2007, S. 93). Bilder der Augmented Reality sind hierdurch von Bildern der Virtual Reality unterschieden, bei denen es sich streng genommen nicht um geöffnete Fenster

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handelt, sondern (wenn man bei der Metapher bleiben will) um bemalte Scheiben, die gänzlich opak sind. Nun haben sich Bildtheoretiker schon immer für die Transparenz des Bildes interessiert. Ein wichtiger Vertreter ist Edmund Husserl, der das Wechselspiel von Medium und Darstellung Anfang des 20. Jahrhunderts zum konstitutiven Moment jedweden Bildes erklärt hat, wenn er mit Blick auf den deutschen Ausdruck „Bild“ nochmals das „physische Bild“ oder den Bildträger als materiellen vom „erscheinende[n] Bildobjekt“ als immateriellem Aspekt unterscheidet (Husserl 1980, S. 19). Zwischen beiden besteht nach Husserl ein „Widerstreit“, in dem das Bild insgesamt zu einer reinen Differenz- oder Aufhebungserscheinung wird: „[D]as Bild streitet mit der wirklichen Gegenwart, es ist bloss ‚Bild‘“ und so „sehr es erscheint“, es ist „ein Nichts“ (Husserl 1980, S. 46). Husserl definiert das Bild gar durch einen doppelten Widerstreit, weil sich das Bildobjekt nicht nur von seinem Träger unterscheidet, sondern auch von den repräsentierten Dingen (also dem, wofür Bilder als Zeichen stehen können), dem von ihm sogenannten „Bildsujet“ (Husserl 1980, S. 19). Transparenz oder Opazität ergibt sich entsprechend aus der jeweiligen Zurichtung des Mediums, aber auch aus der Eigenart der Bildobjekte im Verhältnis zur Welt. Die Displays der Augmented Reality sind somit darauf angelegt, ‚durchschaut‘ zu werden: Denn hier fällt der Blick zugleich auf ein Bild [‚Bildobjekt‘; St.G.] und durch ein Artefakt [‚Bildträger‘; St.G.]: Die Überlagerung des natürlichen Sichtfelds des Betrachters mit visuellen Darstellungen suggeriert einerseits ein Hindurchschauen und entspricht andererseits dem Blick auf eine zumindest teilweise opake Fläche. (Queisner 2016, S. 300)

Je weniger das Medium selbst sichtbar ist, desto größer ist die Transparenz. Ebenso erhöht sich der Grad an Transparenz, je mehr die Bildobjekte perspektivisch oder dreidimensional in Bezug auf den hinter dem Bild liegenden Raum gestaltet sind, oder sich gar dynamisch an diesen anpassen. Bei HUDs, so erklärt sich Azumas Zurückweisung, verhält sich nicht jedes Bildelement widerspruchsfrei zur durchscheinenden Außenwelt des Bildes; vor allem die Anzeige von Zahlenwerten und anderen Symbolen schließt die vollkommene Transparenz aus; aber auch die farbliche Hervorhebung der Horizontlinie oder die Akzentuierung von Richtungsanzeigen erzeugen Widerstreit. Entsprechend ließe sich ein Vorschlag zur vorläufigen Definition der erweiterten Realität formulieren: Im Falle der Augmented Reality wird die wahrgenommene Wirklichkeit selbst zum Bildträger, so dass der Widerstreit von Medium und Erscheinung getilgt wird. Erhalten bleiben kann hingegen der zweite Widerstreit – derjenige von Bilderscheinung und Referenzobjekt.

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3 AR vs. VR Die erweiterte Realität lässt sich auch vom Phänomen der virtuellen Realität (dem opaken Fenster) abgrenzen. Dort sind nämliche beide Widerstreite getilgt: Nicht mehr nur das Medium lässt sich nicht direkt wahrnehmen, sondern auch Bildobjekt und bezeichnete Wirklichkeit sind eins geworden; sie widerstreiten einander nicht mehr. Dies erfolgt in erster Linie durch zwei Faktoren: Zum einen nimmt das Bild bei einer VR-Brille idealerweise das gesamte Sichtfeld ein, zum anderen kann dieses gemeinhin als 360°-Darstellung in Bewegung betrachtet werden, so dass es – außer bei Abnahme der Brille oder bei Störungen – nicht möglich ist, das Medium selbst zu sehen. Je nach Kontext wird dieser Effekt der Virtual Reality als ‚Immersion‘ (wörtlich: Eintauchen) beschrieben. Hierbei kann der gewöhnliche Bildcharakter verloren gehen und der Effekt einer Gleichsetzung von Wirklichkeit und Imagination eintreten (Wiesing 2005). Der Unterschied zwischen VR und AR ist daher mindestens ein doppelter: 1. Auch wenn in beiden Fällen der Widerstreit von Medium und Phänomen entfällt, so geschieht dies in der Virtual Reality durch die visuelle Ausgrenzung der Wirklichkeit, in der Augmented Reality hingegen durch deren Einbeziehung. 2. Vor allem aber kann der Widerstreit von Bildphänomen und Wirklichkeit in AR erhalten bleiben, wohingegen er in VR entfällt. Eben das wäre laut Botz-Bornstein denn auch das Misstrauen, welches der Autor der Geburt der Tragödie der virtuellen Realität entgegengebracht hätte. Gleichwohl sollte nicht vergessen werden, dass Nietzsche bereits ein Jahr später in dem von ihm unveröffentlicht belassenen Aufsatz Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne durchaus nahelegt, dass wir uns mit den äußeren Sinnen und durch den Sprachgebrauch in einer platonischen Höhle befinden, aus der es keinen Ausgang gibt; also in einer Realität, die wir für die wirkliche halten, obwohl wir es nur mit chladnischen Metaphorisierungen zu tun haben: Das ‚Ding an sich‘ (das würde eben die reine folgenlose Wahrheit sein) ist auch dem Sprachbildner ganz unfasslich und ganz und gar nicht erstrebenswerth. Er bezeichnet nur die Relationen der Dinge zu den Menschen und nimmt zu deren Ausdrucke die kühnsten Metaphern zu Hülfe. Ein Nervenreiz zuerst übertragen in ein Bild! erste Metapher. Das Bild wird nachgeformt in einem Laut! Zweite Metapher. Und jedesmal vollständiges Ueberspringen der Sphäre, mitten hinein in eine ganz andere und neue. (KSA 1, S. 879)

Das Eintauchen in einen virtuellen Raum als zweite, disjunkte Realität ist daher eine, wenn nicht gar die Utopie der westlichen Medienkultur seit Platon. Filme wie The Matrix (USA/AUS 1999) führen die platonische Höhle auf Erden emblematisch

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vor Augen und eines der ersten VR-Systeme hieß denn auch in Anlehnung an Platon CAVE oder ‚Cave Automatic Virtual Environment‘ am Chicago Electronic Visualization Laboratory (Cruz-Neira et al. 1992). Immersive Anwendungen stehen entsprechend im Fokus, wenn sogenannte Head-Mounted-Displays (HMDs) im Unterhaltungssektor vermarktet werden. Bekannte Beispiele aus jüngster Zeit sind die Oculus Rift, die Vive von HTC oder Sonys PlayStation VR, zu denen dann auch noch jeweils Audio-Ausgabe- und Steuerungs-Eingabegeräte gehören. Ein AugmentedReality-System, welches die Kriterien von Milgram und Kishino erfüllt, ist dagegen das seit 2013 erhältliche Google Glass, das sich von oben genannten Modellen auch durch die weitgehende Unabhängigkeit von Anzeigeninhalt und durchscheinender Welt sowie durch die Reduktion von (schriftlicher) Information unterscheidet. Dagegen hat Microsoft 2016 mit der HoloLens ein Augmentierungssystem vorgestellt, welches der Definition von Azuma genügt, wonach virtuelle und interaktive Objekte an definierten Positionen im physischen Raum angezeigt werden. Der Marktsituation im Konsumentenbereich nach sind Systeme der erweiterten Realität derzeit zwar noch eine Nische, das dürfte sich in absehbarer Zeit jedoch ändern. Indizien hierfür sind in dem derzeitigen VR-Boom zu sehen, denn dieser ist vor allem das Wiederaufbäumen einer bereits zusammengebrochenen Welle. Hierauf weist auch schon Lev Manovich in seinem Text über The Poetics of Augmented Space hin: „The 1990s were about the virtual. […] At the beginning of the 21st century, the research agendas, media attention, and practical applications have come to focus on […] physical space filled with electronic and visual information.“ (Manovich 2006, S. 220–221) – Eine vorhergehende Konjunktur immersiver Bilder datiert nämlich bereits auf die besagten 1990er Jahre und geht dort einher mit der Cyberspace-Euphorie und den Hypertexterfahrungen der ersten kommerziellen Internetnutzenden. Aus jenen Jahren stammt denn auch die weitgehende Gleichsetzung aller Virtualisierungstechniken mit dem Immersionsvorgang, der zu einer weitgehenden Entgrenzung des Immersionsbegriffs führte (Günzel 2015). Zu denken ist etwa an die bis heute übliche Rede vieler Computerspieler/-innen, wenn sie davon sprechen, in den Charakter einer Spielfigur zu ‚schlüpfen‘, um in die virtuelle Welt ‚einzutauchen‘. Hierbei artikuliert sich die Annahme, dass die eigene Identität vollständig zugunsten einer virtuellen aufgegeben wird. Allein schon technisch ist diese landläufige Rede der Spieler/-innen unzutreffend: Denn die meisten Games werden heute weder an riesigen stereoskopischen Monitoren noch mit VR-Brillen genutzt. Ganz im Gegenteil verlagert sich die Spielenutzung überhaupt weg von großen und hin zu kleinen Bildschirmen und mobilen Endgeräten. Beispielhaft ist hierfür der große Erfolg des von der US-amerikanischen Firma Niantic entwickelten AR-Spiels Pokémon Go aus dem Jahr 2016, durch das sich der Marktwert des japanischen Publishers Nintendo quasi über Nacht verdoppelte.

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Die tatsächlich immersiven VR-Spielgeräte wurden in den 1990er Jahren zunächst in sogenannten Cybercafés aufgestellt und schafften nie den Weg in die heimischen Wohnungen. Dass sich die Nutzer/ -innen schnell von VR abwandten, lag schlichtweg nicht am hohen Preis oder der auftretenden motion sickness, sondern daran, dass sich die meisten Inhalte für diese Plattformen als unbrauchbar erwiesen. Überraschenderweise gilt dies gerade für die sogenannten 3D-Spiele, wie dem damals populären Duke Nukem 3D (von Herrmann 2014). Denn bei einem solchen Ego-Shooter-Spiel in VR führt die stereoskopische Darstellung, mit der die Objekte hintereinander gestaffelt werden, zu einer erheblichen Verringerung der Zielgenauigkeit. Vielmehr erlaubt gerade die Projektion aller Objekte in die Fläche, in der alle nebeneinander am konventionellen Bildschirm erscheinen, eine präzisere Zentrierung – ganz zu schweigen von der Unmöglichkeit bei VR-Headsets, das Fadenkreuz im Bild mittels Kopfbewegung genau auszurichten.

4 ‚Erweiterung‘ als informationstechnisches und medienanthropologisches Projekt Dagegen bewährt sich für die Spieleingabe bis heute die Computermaus. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, dass ihr Entwickler auch die Person ist, welche den Begriff der Augmentierung in die Computertechnik eingeführt hat: Die Rede ist von Douglas Engelbart, der 1962 zunächst sein Konzeptpapier Augmenting Human Intellect vorlegt und im Jahr darauf sein epochales Eingabegerät präsentiert. In seinem Aufsatz formuliert Engelbart das Ziel einer Verbesserung der „comprehension“ (Engelbart 1963, S. 1), d. h. des Verstehens komplexer Situationen. Hierfür will er Objekte erschaffen, die durch die Manipulation von Dingen und Symbolen dem „human comfort“ (Engelbart 1963, S. 4), also der Bequemlichkeit zuträglich sein sollen. Der Erfolg der Computermaus liegt daher nicht nur in der seit ihrer Einführung stetig erhöhten Abtastrate begründet, sondern darin, dass es sich um ein Augmentierungs-Device handelt. Damit wird ermöglicht, Wissen in der Fläche zu organisieren. Diese Form der Anordnung hat sich für Menschen als zugänglicher erwiesen als eine im dreidimensionalen Raum. Seinen ‚greifbaren‘ Ausdruck hat die Augmentierung des Selbst in der DesktopMetapher des Computers gefunden. 1973 wurde die für Xerox von dem TaylorSchüler Frank B. Gilbreth arbeitswissenschaftlich rationalisierte Fläche von Butler W. Lampson, Charles P. Thacker und anderen als Computermetapher implementiert (Pias 2002, S. 29–53 und S. 102–104). Jedweder Versuch zur Rückführung der 2D- in eine 3D-Ansicht – zu denken ist nur an die Funktion Aero Flip 3D des Betriebssys-

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tems Windows Vista, mit der die einzelnen Bildschirmfenster wie in einem Karteikartenkarussell aufgereiht waren – scheint von vornherein zum Scheitern verurteilt. Zur Erklärung der anthropologischen Flächenpräferenz kann auf evolutionsbiologische Untersuchungen verwiesen werden: Wie der französische Paläontologe André Leroi-Gourhan zeitnah zu Engelbart in seiner Untersuchung La geste et la parole gezeigt hat, geht die ‚Humanisierung‘ des Tieres einher mit der verbesserten Koordination von Hand und Gesicht, in erster Linie, um die Nahrung zum Mund zu führen. Zwischen diesen beiden Polen wird nach Leroi-Gourhan ein von ihm sogenanntes „Relationsfeld“ aufgespannt, in dem schließlich auch die Bewegung der Extremitäten visuell kontrolliert wird (Leroi-Gourhan 1988, S. 50). Dieses Feld entspricht der Spezifik der nach vorn gerichteten Augen, die Raum weitgehend auf eine zweidimensionale Fläche reduzieren. Vilém Flusser (Flusser 1995, S. 9–11) wiederum hat seitens der phänomenologischen Medienanthropologie den menschlichen Körper in einen Zusammenhang mit der Reduktion von Raum gestellt, und zwar in Form einer dimensionalen Verminderung: Beanspruchte die Skulptur als erste Reduktion der vierdimensionalen Wirklichkeit zu einem festen 3D-Körper noch den ganzen Leib des Menschen (der um das Objekt herumgehen oder es auch allererst aus dem Stein schlagen musste), so wird durch die Verwendung von Gemälde und Papyri die Räumlichkeit immer weiter reduziert und über die Ebene des Bildes gar zur Linearität der Schrift. Im Zuge dessen wird auch der Körper immer weniger in seiner Ganzheit an der Wahrnehmung beteiligt, stattdessen verlagert sich die aktive Beteiligung auf die Glieder der Hand, bis schließlich nur noch die Fingerspritzen mit der Tastatur in Kontakt stehen. Nach Flussers Entwicklungsvorstellung der Medienkultur kann von hier aus zwar mittels Codes die vierdimensionale Wirklichkeit im Virtuellen wiedererstehen (das wäre dann der Schritt in die Immersion), aber die maximale Reduktion oder Medienentwicklung ist erreicht. Nietzsche hat zwar keine derart ausführliche Mediengeschichte hinterlassen, aber mit seiner „Geschichte eines Irrthums“ die Abwendung von der platonischen Sonne hin zum „Augenblick des kürzesten Schattens“ (KSA 6, S. 81) beschrieben; im Konzept des Apollinischen wurden die dreidimensionalen Raumkünste gefasst, während das Dionysische eine eher lineare Ordnung aufweist, sofern Musik – um in der lessingschen Trennung zu bleiben – als Zeitkunst einen linearen Charakter besitzt. Nicht zuletzt ist Nietzsche als erster Philosoph, der eine Schreibmaschine nutzte, sich der Medialität des Schreibens und der Konfiguration von Text auf Papier im höchsten Maße bewusst (Windgätter 2006): „Schreibkugel ist ein Ding gleich mir: von Eisen / Und doch leicht zu verdrehn zumal auf Reisen. / Geduld und Takt muss reichlich man besitzen / Und feine Fingerchen, uns zu benuetzen.“ (KSA 9, 18[2]; kursiv, St. G.) Ganz im Sinne der Gleichschaltung von Maschine und (in die

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Maschine ausgelagertem) Selbst bei Nietzsche (Kittler 1985) hat Sherry Turkle (Turkle 1986) vom Computer als second self gesprochen.

5 AR als Überwachungstechnologie Für die Thematik der Selbsterweiterung lohnt sich ein Blick weg von der Unterhaltungsindustrie hin zu Überwachungstechnologien. Denn Google Glass findet sich mittlerweile als Klon in China: Dort hat das Ministerium für öffentliche Sicherheit Polizeibeamtinnen und -beamte der Stadt Zhengzhou mit der Augmented-RealityBrille GLXSS der Firma LLVision ausgestattet. Diese überprüft die Identität der Passantinnen und Passanten mittels eingebauter Kamera und markiert Verdächtige über ein Prisma im Sehfeld der Beobachterinnen und Beobachter. Im Zusammenspiel mit stationären Überwachungskameras lässt sich der öffentliche Raum dadurch nahezu lückenlos überwachen. Angedachte Einsatzgebiete für die smart glasses sind neben der Verkehrsüberwachung (schnellere Identifikation von Nummernschildern) die Kontrolle der ethnischen Minderheiten, wie etwa in der nordwestlichen Provinz Xinjiang. Hier geht es nicht (nur) darum, etwaige Straftäterinnen und -täter zu identifizieren, sondern vor allem darum, die Mobilität der unter Terrorgeneralverdacht stehenden sunnitischen Uigurinnen und Uiguren einzuschränken, damit diese die ihnen zugedachten Stadtteile nicht verlassen. Für eine kulturtheoretische Einordnung ließe sich mit Gilles Deleuze sagen, dass Augmented-Reality-Systeme dem Dispositiv der Kontrollgesellschaft angehören und nicht mehr dem der Disziplinargesellschaft, die sich, wie Michel Foucault zeigt, im panoptischen Gefängnis verdichtet. Dennoch können AR-Systeme Teil einer panoptischen Überwachung sein: So ist die topologische Struktur des Panoptikums – die darin besteht, „vollständig gesehen [zu werden], ohne jemals zu sehen“ (Foucault 1977, S. 259) – im Beispiel in Reinform vorhanden. Die Außenstehenden vermögen nicht einzuschätzen, worauf die Polizistinnen und Polizisten hinter der modifizierten Sonnenbrille blicken; und nicht einmal diese selbst wissen, worauf sich ihre Blicke als nächstes zu richten haben. Die Parallele – so könnte argumentiert werden – liegt darin, dass AR-Systeme die Welt mit erweiterter Sichtbarkeit überziehen. Das heißt also: Die Individuen sind nicht nur in ihrer äußeren Erscheinung für den Staat im öffentlichen Raum jederzeit sichtbar, sondern auch mit Blick auf sie betreffende Informationen. Die Folge ist jedoch nicht wie im Panoptikum Disziplinierung, sondern Kontrolle. Es geht nicht darum, die Delinquenten zu resozialisieren, sondern – wie Deleuze dies in Anlehnung an Friedrich Nietzsche nennt (Ott 2014) – eine ‚Dividualisierung‘ zu betreiben: „Die Individuen sind ‚dividuell‘ geworden, und die Massen Stichproben, Daten, Märkte oder ‚Banken‘.“ (Deleuze 1993, S. 258) Dem konkreten Einzelnen wird ein Datensatz an die

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Seite gestellt, aufgrund dessen er oder sie eingeordnet wird. Im Fall der Uiguren wäre dies die Überhöhung der ethnischen Zugehörigkeit zum wesentlichen Identitätsmerkmal. Slavoj Žižek hat daher auch ein harsches, wenngleich berechtigtes Urteil gefällt: Die Verwendung augmentierter Realitätssysteme käme „eine[r] Externalisierung des Grundmechanismus von Ideologie“ gleich und sei daher stets „falsches Bewusstsein“ (Žižek 2016). Nietzsche selbst präsentiert den Begriff der Dividualität im ersten Band von Menschliches, Allzumenschliches. Er versteht darunter eine moralische „Selbstzertheilung“, bei der die Abspaltung einer einzelnen Eigenschaft erfolgt, die – quasi metonymisch – dann für das Individuum steht: Das liebende Mädchen wünscht, dass sie die hingebende Treue ihrer Liebe an der Untreue des Geliebten bewähren könne. Der Soldat wünscht, dass er für sein siegreiches Vaterland auf dem Schlachtfeld falle: denn in dem Siege seines Vaterlandes siegt sein höchstes Wünschen mit. Die Mutter giebt dem Kinde, was sie sich selber entzieht, Schlaf, die beste Speise, unter Umständen ihre Gesundheit, ihr Vermögen. […] Ist es nicht deutlich, dass in all diesen Fällen der Mensch E t w a s v o n s i c h , einen Gedanken, ein Verlangen, ein Erzeugniss mehr liebt, als e t w a s A n d e r e s v o n s i c h , dass er also sein Wesen z e r t h e i l t und dem einen Theil den anderen zum Opfer bringt? […] D i e N e i g u n g z u E t w a s (Wunsch, Trieb, Verlangen) ist in allen genannten Fällen vorhanden […]. – In der Moral behandelt sich der Mensch nicht als individuum, sondern als dividuum. (KSA 2, S. 76)

Es ließe sich für die durch Nietzsche aufgezeigte dividuelle Subjektform in ihrer ganzen Bandbreite der Begriff der augmented identity verwenden. Oder anders gesagt: die ‚erweiterte Identität‘ ist ein Kennzeichen und vielleicht auch der Inbegriff der heutigen (Medien‐)Kultur. Bislang wird der Ausdruck der erweiterten Identität ebenfalls nur im technologischen Sektor verwendet. Fast jede/jeder besitzt bereits eine solche augmentierte Identität in Form von Krankenkassenkarten oder neueren Personalausweisen, mit gespeicherten Fingerabdrücken, Online-Identifikationsmöglichkeiten und biometrischem Foto. Als Beispiel für einen global operierenden Konzern, der Augmented-Identity-Technologien anbietet, ist die französische IDEMIA (o. J.) zu nennen, die mit dem Versprechen antritt, eine „sicherere und glattere Identifikation“ zu ermöglichen: „a safer, more streamlined identification“. Auch ohne dass hier Augmented-Reality-Brillen zum Einsatz kommen, soll die Applikation auf dem Smartphone kontextrelevante Daten des Individuums außerhalb seiner selbst zur Verfügung stellen. Nur sind diese Informationen nicht für Dritte, sondern für die Kunden selbst bestimmt. Treffend lautet das tautologische Versprechen von IDEMIA: „Only you can be you.“ – Die Dividualisierung ist in diesem Slogan also bereits unfreiwillig mitgedacht. In China wiederum wird die Dividualisierung ganz offen vorangetrieben: Denn parallel zum Project GLXSS wurde hier ein social credit-System eingeführt, mit dem die einzelnen Bürger und

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Bürgerinnen entsprechend ihrer finanziellen, vor allem aber sozialen Integrität (über ihren citizen score) eingestuft werden; und bereits heute schon werden potenziell gefährliche Artikel (wie Messer) mit einer Markierung versehen, durch die sie bei einem möglichen späteren Einsatz im Zuge eines Verbrechens eindeutig dem Halter/der Halterin zugeordnet werden können.

6 Mediengeschichte der AR Medienhistorisch ist zu verzeichnen, dass im Kern von Virtual Reality immer schon Augmented Reality eingelagert war. Hierfür muss nur ein genauer Blick auf, oder besser durch das erste Head-Mounted-Display aus dem Jahr 1968 gerichtet werden, das von seinem Erfinder Ivan E. Sutherland als ‚Schwert des Damokles‘ bezeichnet wurde. Es handelt sich hierbei keineswegs um eine Virtual-Reality-Brille, für die die Vorrichtung zumeist gehalten wird, sondern um ein System zur Erweiterung des physischen Raums. Dieses Display erzeugte zwar einen stereoskopischen Effekt, jedoch wurden die Wire-Frame-Geometrien auf zwei transparente Screens projiziert. Dass Sutherlands Wahl auf eine AR-Vorrichtung fiel, lag nicht allein an der damaligen Beschränkung der grafischen Echtzeitdarstellung. Denn die Gittermodelle hätten auch schlichtweg vor einem schwarzen Hintergrund angezeigt werden können. Maßgeblichen Einfluss auf Sutherlands Entwicklung hatte Vannevar Bushs Vision des memex: Dieser memory extender wurde von dem Ingenieur 1945 in seinem epochalen Aufsatz As We May Think beschrieben, den wiederum Engelbart in seinem Augmentierungsaufsatz als Inspirationsquelle nennt. Mit dem Gedächtniserweiterer prognostiziert Bush (2007) auf teils krude Weise ein Gerät, mit der individuell erworbenes Wissen auf einer Art Mikrofiche ausgelagert werden kann, um später bequem nachvollzogen und geteilt werden zu können. Sutherlands Sword of Damocles ist zwar kein solcher Wissensspeicher, aber folgt doch der Grundidee Bushs zu einer Erweiterung – in diesem Fall zu einer Erweiterung der Wahrnehmung. Von hier aus lässt sich nun auch eine Korrektur an einem Missverständnis in der Rezeption Sutherlands vornehmen: Der aus Sutherlands Feder stammende Text mit dem sprichwörtlich gewordenen Titel The Ultimate Display von 1965 handelt eben nicht von einem holodeck, auf dem eine ganz andere Wirklichkeit erzeugt wird, sondern von Bildschirmen, welche die Möglichkeit bereitstellen, die gegebene Wirklichkeit zu erweitern. So spricht Sutherland in seinem Text in der berüchtigten Schlusspassage davon, dass in dem auf der ultimativen Anzeige sichtbaren Raum „ein gezeigter Stuhl gut genug sei, sich darauf zu setzen“, das Haptische also mit dem Visuellen in eins fallen kann: „Das ultimative Display wäre – natürlich – ein Raum, in welchem der Computer die Existenz der Materie kontrollieren kann. Ein in einem

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solchen Raum dargestellter [displayed] Stuhl wäre zum Sitzen geeignet. In einem solchen Raum dargestellte [displayed] Handschellen würden fesseln und ein in einem solchen Raum dargestelltes [displayed] Geschoß wäre tödlich. Mit der angemessenen Programmierung könnte ein solches Display buchstäblich das Wunderland sein, in welches Alice ging.“ (Sutherland 2007, S. 32) – Tatsächlich ist dies aber gerade keine Eigenschaft von VR-, sondern von AR-Systemen, welche die materielle Welt (im Sinne der Tilgung des Widerstreits zwischen Bildträger und -objekt) in die aktuelle Wahrnehmung einbeziehen. Von hier aus kann eine weitergehende Korrektur an der Einschätzung stereoskopischer Bilder vorgenommen werden. So lassen sich Stereografien mit Jonathan Crary aufgrund des binokularen Tiefeneffekts als Bilder beschreiben, die auf einen epistemischen Bruch in der Mediengeschichte verweisen, durch den es erst zu einem „subjektive[n] Sehen“ im physiologischen Sinne kommt (Crary 2002, S. 73). Auch die historischen Stereodarstellungen werden aufgrund der visuellen Abschottung der Betrachter/ -innen von der Außenwelt im Diskurs der Medienwissenschaft zumeist als ‚immersiv‘ klassifiziert und mit Panoramabildern in eine Reihe gestellt (Grau 2001). Tatsächlich unterscheidet sich das ‚Eintauchen‘ in ein Rundgemälde von der stereoskopischen Betrachtung jedoch durch den merkwürdigen Effekt einer Staffelung der Bildebenen. Dieser Effekt ist auch noch im heutigen 3D-Film wahrzunehmen: Tiefe entsteht aus der Schichtung von Vorder-, Mittel- und Hintergrund. Daher wirken solche Bilder trotz allem flächig – eben in Form der einzelnen Ebenen, die jede für sich zweidimensional ist, womit es sich um ‚transplane Bilder‘ (Schröter 2009) handelt. Das für die Idee der Augmentierung entscheidende Merkmal ist in einem Moment zu finden, das Crary ausdrücklich „obszön“ nennt, wobei er eine Etymologie voraussetzt, in der obscene von off-scene (aus dem Lateinischen ob scenum für ‚außerhalb der Öffentlichkeit‘) hergeleitet wird (wahrscheinlich ist hingegen, dass sich ‚obszön‘ vom Lateinischen obsce(a)nus für ‚zum‘ (obs‐) ‚Schmutz‘ (ce[a]num) ableitet; im übertragenen Sinne dann als Verb obscaenare für ‚über etwas mit Schmutz verbreiten‘): Das Stereoskop als Mittel der Repräsentation war inhärent obszön, und zwar im ursprünglichen Sinne des Wortes. Es zerstörte den szenischen Bezug zwischen Betrachter und Objekt, der für die grundlegend theatralische Anordnung der Camera obscura noch charakteristisch war. […] [D]as Funktionieren des Stereoskops [beruhte] auf der visuellen Priorität des Objekts, das dem Betrachter am nächsten war, und auf der Abwesenheit jeglicher Vermittlung zwischen Auge und Bild. (Williams 2003, S. 242–243)

Nach Crary (Crary 1996, S. 131) entfalten Stereobilder ihre Wirkung durch die Einbeziehung des Körpers der Betrachter als eine weitere, vor dem Bildträger liegende Ebene – dem besagten ‚Außerhalb‘ der Szene. Das Bild fungiert dabei ebenso als

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Erweiterung des menschlichen Körpers wie dieser eine Erweiterung des Bildes darstellt, insofern das Stereoskop, wie Crary schreibt, die Nähe des Betrachters verlangt: Das Stereoskop erforderte […] die körperliche Nähe […] des Betrachters. […] [Dies] bezeug[t] die veränderte Beziehung zwischen Auge und optischem Apparat im 19. Jahrhundert. Im 17. und 18. Jahrhundert war die Beziehung zwischen Auge und optischem Gerät im Wesentlichen eine metaphorische gewesen: Auge und Camera obscura […] beruhten auf den gleichen Konzepten, wobei die Autorität eines idealen Auges unangefochten blieb. Mit Beginn des 19. Jahrhunderts wandelt sich die Beziehung zwischen Auge und optischem Gerät zu einem metonymischen. Beide werden nun als nebeneinander auf derselben Funktionsebene angeordnete und durch unterschiedliche Möglichkeiten und Merkmale ausgezeichnete Instrumente gedacht. (Crary 1996, S. 133 und S. 135)

Auge und Körper als Instanzen des Sehens oder allgemein der Wahrnehmung werden dadurch zu einem Teil des benutzten Apparats und nicht zu einem Ersatz (wie noch bei der Kamera). Von dieser Stelle aus kann die weiterführende Frage gestellt werden, wie weit die Technik der Augmentierung zurückreicht: Für Bildphänomene der Augmentierung kann gelten, dass sie mindestens seit der Renaissance existieren. Zu denken ist zunächst an das Relief. Auch wenn es überraschend klingen mag, aber es handelt sich beim Relief um ein einschlägiges Beispiel für eine erweiterte Realität (van der Veen 2020). In einem Relief wird der Widerstreit zwischen den Bildelementen und dem materiellen Träger insofern getilgt, als das Medium selbst zum Moment des sichtbaren Bildes geworden ist. Dies geschieht, wenn der Untergrund des Reliefs zum Teil der Darstellung wird – also zum Hintergrund. Das Medium ist zwar noch nicht wie bei einem Head-up-Display transparent, aber die vorhandene Wirklichkeit ist selbst zum Bildobjekt geworden. Im Zuge dessen kann es sich lohnen, die Entstehungsgeschichte der Zentralprojektion neu zu bewerten und sie ebenfalls als eine Form der Augmentierung zu begreifen. Ihre Entwicklung wurde unter anderem 1927 von Erwin Panofsky in seinem Aufsatz über Die Perspektive als ‚symbolische Form‘ rekonstruiert. Panofsky sieht in dem mittels Perspektive erzeugten Bildraum ein Erbe der mittelalterlichen Malerei: Der Weg zu dieser neuen Einheit [der Vielheit von Einzeldingen] führt aber […] zunächst […] zur Erstarrung und Isolierung der ehemals durch körperlich-mimische und räumlich-perspektivische Verbindung zusammengeschlossenen Einzeldinge. Mit dem Ausgang des Altertums […] beginnt die frei-vertiefte Landschaft und der geschlossene Innenraum sich zu zersetzen; […] die einzelnen Bildelemente […] verwandeln sich in […] auf die Ebene bezogene Formen, die sich von Goldgrund oder von neutraler Folie abheben und ohne Rücksicht auf die bisherige kompositorische Logik aneinandergereiht werden. (Panofsky 1998, S. 700–701)

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In der mittelalterlichen Malerei fungiert der Goldgrund als ein Symbol des jenseitigen Raums und erweitert den irdischen Raum hin auf den göttlichen. Der monochrome Hintergrund wirkt auf die Betrachter zwar noch nicht als visuelle Tiefe, aber er tritt wie derjenige späterer Renaissancegemälde als homogenes Gebilde oder „Systemraum“ (Panofsky 1998, S. 719) auf. Ein Hinweis darauf, dass nun auch das Perspektivbild als Augmentierung fungiert, ergibt sich aus dem Umstand, dass genau der Künstler, der in seinem Schaffen selbst vom Goldgrund auf die naturalistische Sichtweise umstellt, seine berühmteste Darstellung als erweiterte Wirklichkeit anlegt: Masaccio und sein um 1425 entstandenes Dreifaltigkeitsgemälde (Boehm 2012): Das Fresko ist nicht nur perspektivisch organisiert, sondern fungiert in der Basilika zudem als Scheinarchitektur. Im Gegensatz zum Relief wird hier zwar nicht ein Materialteil des Bildträgers zum Bildobjekt erhoben, wohl aber wird die umliegende Architektur durch das Bild erweitert. Diese Entwicklung findet ihren Höhepunkt schließlich in Andrea Pozzos Scheinarchitektur, die den irdischen Raum auf den himmlischen Raum auch als einen objekthaft-ansichtigen hin öffnet. Auch wenn weder das Relief noch Masaccios Gemälde kunstgeschichtlich mit zur Tradition des Trompe-l’œils gerechnet werden (Westheider/Philipp 2010), so können sie dies gleichwohl hinsichtlich einer Mediengeschichte der Augmentierung. Als letzter Hinweis darauf, dass die Zentralperspektive ein Realitätserweiterungsmittel ist, kann angeführt werden, dass der Begriff der Projektion, welchen Panofsky identisch zum Begriff der Perspektivkonstruktion verwendete, aus der Alchemie stammt. Bis Mitte des 18. Jahrhunderts war die Wendung „Projection thun“ (Arnaldus 1748, S. 113; kursiv St. G.) geläufig, mit der die Aufwertung eines niederen Elements zu einem höheren (vor allem die Umformung eines beliebigen Metalls zu Gold) gemeint war. Die Wirklichkeit wird also durch die Projektion angereichert und letztlich verändert.

7 Projektion des Geistes Als die der Projektion entsprechende Maschine wäre demnach die ab dem 17. Jahrhundert verbreitete Laterna magica zu betrachten, oder schlicht der Projektor (Hick 1999, S. 115–156), durch den ebenfalls die materielle Wirklichkeit – zumeist die (Lein‐)Wand (Sommer 2016) – durch Bildelemente erweitert wird. Dass es sich hierbei nicht einfach nur um einen Lichtapparat handelt, sondern um ein mediales Dispositiv, das mit einem zugehörigen (epistemologischen) Diskurs einhergeht, lässt sich wiederum in Anlehnung an Jonathan Crary zeigen: Für ihn drückt sich das Paradigma des stereoskopischen Sehens im Denken Arthur Schopenhauers aus, also genau im Schreiben desjenigen, der wiederum erheblichen Einfluss auf die gesamte

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Philosophie Nietzsches hatte und von dem er sich bis zu seinem letzten, abgebrochenen Werk Der Wille zur Macht kritisch auseinandersetzte. Schopenhauer hatte die „Welt“ in seinem Hauptwerk titelgebend zu einem bloßen Produkt von „Wille und Vorstellung“ erklärt (Schopenhauer 1996). Für Crary ist dies die Konsequenz aus der Entdeckung des Nachbildeffekts, der bei Schließung einer Camera obscura auftritt. Wenn das in Frage stehende Phänomen der Augmentierung jedoch an der Technologie des Projektors hängt, dann ist nicht die Camera obscura der entscheidende Apparat, sondern dessen Umkehrung zur Laterna magica. Das philosophische Pendant der ‚Zauberlaterne‘ wäre entsprechend nicht bei Schopenhauer zu finden, sondern historisch bereits früher: Laut Friedrich Kittler ist die korrespondierende Struktur, in der „die Vorstellung, die sich dem Subjekt vorstellt, ihm noch einmal also solche vorzustellen“ (Kittler 2002, S. 91), ein Kennzeichen der Philosophie René Descartes’ oder des neuzeitlichen Rationalismus. Im Speziellen aber ist das Augmentierungsmodell in der Erkenntnistheorie Immanuel Kants anzutreffen. Kants Kritik der reinen Vernunft zufolge kann die Anschauung bekanntlich keine „Dinge[] an sich selbst“ erfassen, sondern nur, wie Kant diese ausdrücklich nennt, „Erscheinungen“, die allein sich „theoretisch erkennen“ (Kant 1956, S. 27) lassen. Diese werden vom Verstand mit Kategorien (wie ‚Ursache‘ und ‚Wirkung‘ oder ‚Ganzes‘ und ‚Teil‘) überzogen und in Begriffe überführt. Anders gesagt: Die Wirklichkeit existiert zufolge der kantischen Philosophie für den Menschen bereits als eine stets schon durch die Erkenntnis erweiterte. Tatsächlich gibt es aus der Medienarchäologie deutliche Hinweise darauf, dass Kant den Begriff ‚Erscheinung‘ im Blick auf die zeitgenössische Verbreitung der Laterna magica verwendet (Andriopoulos 2011, Beil 2014). So nennt Kant etwa die Theologie eine „Zauberlaterne von Hirngespenstern“ und bezeichnet den transzendentalen Schein als „Blendwerk“ (Kant 1929, S. 162), das er wiederum mit dem Trompe-l’œil als „Augenverblendnis“ gleichsetzt: Aus Wahrnehmungen kann nun, entweder durch ein bloßes Spiel der Einbildung, oder auch vermittels der Erfahrung, Erkenntnis der Gegenstände erzeugt werden. Und da können allerdings trügliche Vorstellungen entspringen, denen die Gegenstände nicht entsprechen und wobei die Täuschung bald einem Blendwerke der Einbildung, (im Traume), bald einem Fehltritte der Urteilskraft (beim sogenannten Betruge der Sinne) beizumessen ist. Um nun hierin dem falschen Scheine zu entgehen, verfährt man nach der Regel: Was mit einer Wahrnehmung nach empirischen Gesetzen zusammenhängt, ist wirklich. (Kant 1956, S. 405)

Eine „Illusion“ ist dann „dasjenige Blendwerk, welches bleibt, ob man gleich weiß, daß der vermeinte Gegenstand nicht wirklich ist.“ (Kant 1964, S. 440). Während aber der empirische Schein (also das, was eine Laterna magica produziert) letztlich doch als Täuschung sinnlich aufgeklärt werden kann, ist der transzendentale Schein eine

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unumgängliche Illusion – die Kant gar als „natürlich[]“ (Kant 1956, S. 337) bezeichnet –, und die damit unter keinen Umständen vermieden werden kann, weil der Verstand von sich aus stets seine Grenzen überschreiten wird (also etwa nach einem Anfang der Welt fragt). Rückgewendet auf die Frage nach der augmented identity ließe sich mit Kant sagen: Das Selbst ist schon über die Verstandesgrenzen hinaus (erweitert). Während Nietzsche in Wahrheit und Lüge somit noch dem Schopenhauerischen Gedanken einer nihilistischen Immanenz verpflichtet ist, weist sein ursprünglich in moralischer Hinsicht entwickeltes Dividualitätskonzept epistemische Strukturen der kantischen Projektionstheorie auf. Und schon im Umfeld von Die Geburt der Tragödie notierte er: Wir sind einerseits r e i n e A n s c h a u u n g (d. h. projicirte Bilder eines rein entzückten Wesens, das in diesem Anschaun höchste Ruhe hat), andernseits sind wir das eine Wesen selbst. Also ganz real sind wir nur das Leiden, das Wollen, der Schmerz: als Vorstellungen haben wir keine Realität, obwohl doch eine andre Art von Realität. Wenn wir uns als das e i n e Wesen fühlen, so werden wir sofort in die Sphäre der reinen Anschauung gehoben, die ganz schmerzlos ist: obwohl wir dann zugleich der reine Wille, das reine Leiden sind. Solange wir aber selbst nur ‚Vorgestelltes‘ sind, haben wir keinen Antheil an jener Schmerzlosigkeit: während das Vorstellende sie rein genießt. […] [D]ie einzelne Projektion des Willens […] ist ja real nichts als der eine Wille: kommt aber nur als Projektion zum Gefühl seiner Willensnatur d. h. in den Banden von Raum Zeit Causalität, und kann somit nicht das Leid und die Lust des e i n e n Willens tragen. Die Projektion kommt zum Bewußtsein nur als Erscheinung, sie fühlt sich durch und durch nur als Erscheinung, ihr Leiden wird nur durch die Vorstellung vermittelt, und dadurch gebrochen. Der Wille und dessen Urgrund, das Leid, ist nicht direkt zu erfassen, sondern durch die Objektivation hindurch. (NL 1870/1871, KSA 7, S. 214–215)

Kants Formulierung vom ‚Ding an sich‘ zieht Nietzsche später zwar, wie oben zitiert, ins Lächerliche, das damit verbundene Projektionsdenken, die Augmentierung und gleichfalls Überlagerung der Wirklichkeit mit Verstandesbegriffen teilt jedoch auch Nietzsche. Von hier aus lassen sich schließlich gegenwärtige Ansätze der Philosophie des Geistes in Beziehung bringen zum Konzept der erweiterten Identität oder der Dividualität nach Nietzsche, wenngleich es dort einen anderen Namen trägt – nämlich ‚erweiterter Geist‘. So haben die Autoren Andy Clark und David Chalmers 1998 in ihrem Aufsatz The Extended Mind die These vorgebracht, dass der Schädel nicht die Grenze zwischen Innen und Außen oder zwischen Geist und Materie markiert, sondern dass das Denken vielmehr in die Umwelt ausgelagert sein kann. Dies betrifft sowohl Artefakte, welche die Ratio unterstützen (in erster Linie Rechenmaschinen), wie auch Medien zur Aufzeichnung von Überzeugungen und Tatsachen (zu denken ist hierbei insbesondere an Landkarten). Clark und Chalmers (2013) rekurrieren auf Alzheimer-Patientinnen und -Patienten, die zur Strukturierung

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ihres Alltags gezwungen sind, auf Notizen zurückzugreifen. Aber auch ohne Erkrankung des Gedächtnisses zeigt sich, dass Wissen überhaupt erst durch die Auslagerung verstetigt wird. Andere Ansätze, wie die des sogenannten Enaktivismus gehen von einer noch deutlicheren Verkörperung und Situiertheit des Denkens aus und verlegen das Gehirn gänzlich in die Außen- oder viel mehr in die Sozialwelt (Noë 2010). Denn wie schon Nietzsche wusste, ist „[d]er Leib“ nicht nur „die grosse Vernunft“ (KSA 4, S. 39), sondern ist der Mensch „ein Thier […], das v e r s p r e c h e n d a r f “ (KSA 5, S. 291).

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Niklas Corall

Digitale Bruchstücke zwischen Faktalismus und Zukunftsnarration: Der Letzte Mensch und Algorithmische Regime Abstract: Digital Fragments between Factalism and Future Narration. The Last Human and Algorithmic Regimes. Nietzsche provides the reader with an analytical toolkit that allows a thorough understanding of the relation between subjects and „algorithmic regimes“ in modern digital societies. Nietzsche coins the expression „petit faitalisme“ – translated as „factalism“ in a combination of fatalism and facts – which comprises two central aspects of modern automated sorting and decisionmaking: Firstly, it describes the belief that only what is considered true, factual, or statistically normal can constitute normative value and secondly, it illustrates the understanding of individuals as composite factual fragments. This paper argues that the Last Human should be considered the result of a progressive normalization through the Will to Truth. Understanding current societies as the origins of Zarathustras metaphorical future-narrative can provide fruitful insights into the current direction of digitization and social sorting by algorithms. The paper begins with Nietzsche before focusing on the relationship of individualization and normalization – mainly in Foucault – and current discourses concerning the practices of truth and subjectivation in the understanding of modern algorithmic regimes. Nietzsche does not only serve as a provider of keywords, but the paper will end in considering the scope of his philosophical response to the crisis, a narrative practical philosophy with a specific focus on providing human future-narratives that allow for a dynamic agonistic process of constantly renegotiating what else it can mean to be human.

1 Bruchstücke des Letzten Menschen Nietzsche beschreibt in Aphorismus 143 der Fröhlichen Wissenschaft die Entwicklung zum „Normalmenschen“ als die „grösste Gefahr“ der gegenwärtigen Menschheit (FW 143; KSA 3, S. 490). Dies wird als problematisch verstanden, da es die Eigenschaft des Menschen sei, als das in doppelter Hinsicht „n o c h n i c h t f e s t -

Anmerkung: Ich habe in anderen Texten die verschiedenen Normperspektiven ausführlicher behandelt. Für eine präzisere Darstellung der Argumentationslinien siehe Corall 2020; 2022a; 2022b. https://doi.org/10.1515/9783111072890-010

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g e s t e l l t e T h i e r “ (JGB 62; KSA 5, S. 81) die Werthorizonte eigener Existenz fortwährend verschieben zu können und Entwürfe des Menschseins agonistisch zu erproben. Nietzsche verdeutlicht dies in der genealogischen Unterscheidung polytheistischer und monotheistischer Interpretationsrahmen. Im Polytheismus sei es möglich gewesen, von der Herde abweichende Vorstellungen menschlicher Norm durch Schaffung eines Volksgottes als Resultat göttlicher Eingebung zu rechtfertigen. So gewonnene „Tafel[n] des Guten“ (Za 1001 Ziel; KSA 4, S. 74), Wertschätzungen hinsichtlich postulierter Wachstumsbedingungen eines Volkes, konnten in der Folge gegen andere Völker und Volksgötter lebenspraktisch erprobt werden. Konnte sich das personalisierte Ideal nicht bewähren, so habe man den Volksgott „fahren lassen“ können (AC 25; KSA 6, S. 193). Im Monotheismus hingegen wurde der Pluralismus menschlicher Entwürfe ausgeschlossen und die „wahre“ Norm des Menschen der agonistischen Erprobung gegenüber „Lügengöttern“ enthoben. Die singuläre und absolute monotheistische Norm habe sich nicht im Wettkampf der Völker zu messen, sondern sei legitimiert durch den wahrhaftigen Gott. Die normative Wertordnung funktioniert unabhängig ihrer lebenspraktischen Bewährung und verweist stattdessen auf jenseitige, künftige oder symbolische Erfolge hinsichtlich der über das Leben gelegten „wahren“ Ordnung der Dinge, anhand derer die Realität notfalls neu interpretiert werden müsse (FW 143; KSA 3, S. 490–491/ AC 25; KSA 6, S. 193–194). Nach dem ‚Tod Gottes‘ (FW 125; KSA 3, S. 480–482) haben beide theistischen Begründungen an Gewicht verloren, nicht jedoch der zugrundeliegende Unterschied zweier Perspektiven auf Normen: Einerseits lebenspraktisch zu erprobender und prozessual zu evaluierender Normen und andererseits metaphysische Postulate wahrhaftiger Norm, an der die Realität sich zu messen hat. Eine Form dieser Dualität findet sich in Also sprach Zarathustra. Es werden zwei mögliche Entwicklungspfade des Menschen skizziert, einerseits zum „Übermenschen“ – in „Von tausend und Einem Ziele“ (Za, KSA 4, S. 74–76) und „Von der Nächsten-Liebe“ (Za, KSA 4, S. 77–79) dem Völkerkontext zugeordnet – und dem „Letzten Menschen“. Eine leere Idealfolie niemals abzuschließender Selbstüberwindungen des Menschen – mit dem Risiko, an den Überwindungen zu Grunde zu gehen (Za Vorrede 4; KSA 4, S. 16–18) – steht der vollständig normalisierten menschlichen Gemeinschaft entgegen. Letztere wird hier ausgeführt. Individuelle Präferenzen und Dispositionen gewinnen ihren Wert allein im Rückbezug auf gesamtgemeinschaftliche Vorstellungen. Es wird positiv konnotiert, was „man“ tut, denkt oder fühlt. Die Gesellschaft funktioniert ohne Machtausübung durch eine souveräne Instanz, wie sich in der Formel „Kein Hirt und Eine Heerde!“ ausdrückt. Sie beschreibt ein Gehorchen ohne Befehle, in der die Normalität zur Normativität wird und Abweichungen vom allgemeinen Willen zu freiwilliger Selbsteinweisung in Korrekturinstitutionen führt: „Jeder will das Gleiche, Jeder ist gleich: wer anders fühlt, geht freiwillig in’s Irrenhaus.“ (Za Vorrede 5; KSA 4, S. 20). Nicht die Lebens-

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praxis gibt retrospektiven Aufschluss über die Qualität entwicklungsrelevanter gelebter Normen, sondern die Übereinstimmung mit und Abweichung von der postulierten Normalität des „man“ gibt dem Individuum Einsicht in seinen eigenen geistigen oder körperlichen Zustand von Gesundheit und Pathologie. Nietzsche prägt in seiner Streitschrift zur Genealogie der Moral in polemischer Absicht einen Begriff, der das Funktionieren der Gesellschaft der letzten Menschen, sowie gegenwärtiger algorithmisierter Gesellschaften präzise beschreibt: Der „Fatalismus der ‚petits faits‘ (ce petit faitalisme, wie ich ihn nenne)“ (GM III 24; KSA 5, S. 399–400) – frei übersetzt – „Faktalismus“ bezeichnet den Glauben daran, dass das Faktum gleichzeitig das Gesetz stellt, dass allein was als faktisch, normal oder „wahr“ verstanden wird, auch normatives Gewicht habe. Fakten werden zum Fatum, Normalität zur Normativität hinsichtlich der Gesellschaft und Individuen. Unter Berücksichtigung von Nietzsches Schilderung individueller Fragmentierung im Kapitel „Von der Erlösung“ bietet der Faktalismus weiteren Anschluss an moderne Analysen: das Individuum wird zur Zusammensetzung gesellschaftlich relevanter, quantifizierbarer „Bruchstücke“, die statt seiner berücksichtigt werden. Zarathustra wandelt „unter den Menschen wie unter den Bruchstücken“ von Menschen und schildert, dass er den Menschen „zertrümmert finde[t] und zerstreuet wie über ein Schlacht- und Schlächterfeld hin“ (Za, Erlösung; KSA 4, S. 178). Dieser Bezug auf einen „Schlächter“, dessen Aufgabe die Zerteilung von Tieren in konsumierbare Teile darstellt, umschreibt eine moderne Form der Sortierung von Individuen und ihrer subjektivierenden Adressierung als diskursfunktional zusammengesetzte Bruchstücke. Faktalismus beschreibt sowohl eine gesamtgesellschaftliche Ebene der Wertfokussierung auf einen Bereich, der als faktisch verstanden wird (Wahrheit, Normalität, „rohe Daten“) und auf subjektiver Ebene ein Verständnis des Individuum als Fatum seiner quantifizierbaren „faktischen“ Bestandteile, die eine Adressierung als verkörpertem Träger funktionaler Kompetenzen gesamtgesellschaftlicher Anforderungen nahelegt. Es erfolgt eine normative Dopplung der Normalität, deren Faktizität fortan als Wert an sich verstanden wird, dem man sich zu beugen hat (Foucault 2014, S. 136). Die vollständige Entfaltung des „Willen zur Wahrheit“ und Faktalismus in seiner normalisierenden Funktion soll über Umwege moderner Algorithmen als performative Grundlage des Letzten Menschen kenntlich gemacht werden. Die Tendenz zur Entwicklung in Richtung des Letzten Menschen wird trotz aller Rede von Personalisierung und Individualisierung durch die neue digitale und algorithmisierte Wirklichkeit befördert und beschleunigt. Die Betrachtung dieser Form von Adressierung gesellschaftlicher Subjekte wird kritisch geführt, allerdings geht es weder bei Nietzsche noch in diesem Beitrag darum, eine Aussage über die richtige Beschaffenheit oder Adressierung gesellschaftlicher Subjekte zu erarbeiten. Im Fokus steht die Etablierung einer theoreti-

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schen Betrachtungsebene, auf deren Basis prägende und handlungsrelevante Weisen gesellschaftlicher Adressierung von Subjekten nachvollzogen werden können, um Möglichkeiten ihrer gezielten Kritik oder Affirmation auszuloten. Nietzsche bietet mit seiner Schilderung des Letzten Menschen, des Faktalismus und der Bruchstückmetapher fruchtbare Ausgangspunkte, um gegenwärtig zentrale Formen moderner Normalisierung zu betrachten.

2 Individuum und Normalität – Von der Statistik zum algorithmengeleiteten Faktalismus Die Rede von einer Normalisierung durch den Willen zur Wahrheit produziert zwei Einwände: Einerseits steht die Moderne im Zeichen der Individualisierung. Noch nie standen Individuum und individuelles Glück stärker im Vordergrund als gegenwärtig. Es bestehen Möglichkeiten, die eigene Meinung zu entwickeln und weitläufig mitzuteilen und eine gewisse Flexibilität hinsichtlich der Gestaltung eigener Zukunft oder eines individuellen „Lebensstils“. Darüber hinaus scheint ein Fokus auf dem „Willen zur Wahrheit“ als Triebfeder unplausibel in einer Zeit, die keine allgemeinen Wahrheiten annimmt. Wir sprechen von Objektivität, wissenschaftlicher Methode, Statistiken und Fakten – nicht von „Wahrheiten“. Beiden Einwänden werde ich in der Folge widersprechen. Zunächst werde ich mit Foucault nachzeichnen, inwiefern „Individualisierung“ im Zeichen der Normalisierung quantifizierbarer Aspekte von Individualität verstanden werden muss (Abschnitt 2.1). Anschließend werde ich zeigen, wie diese Individualisierung sich mit zunehmender Algorithmisierung wandelt und nicht mehr gesellschaftliche Subjekte adressiert werden, sondern supra-individuelle Datenamalgame, die jedoch lebenspraktische Auswirkungen auf ihre verkörperten Projektionsflächen haben (Abschnitt 2.2). Abschließend möchte ich die Wirkungsmacht von Algorithmen als basierend auf dem Willen zur Wahrheit verstehen und Nietzsches philosophisches Projekt des Zarathustras als Antwort auf die resultierende Problematik fortschreitender Normalisierung andeuten (Abschnitt 3).

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2.1 Die Normalität der Abweichung – Digitale Archivare und die Gesellschaft der Algorithmen Michel Foucault beschreibt den Individualismus als zentralen Fokus der Moderne. Gleichzeitig zeigt er, dass sich das fortschreitende Verständnis des Individuums und die Berücksichtigung individueller Besonderheiten nur innerhalb einer Perspektive der Normalisierung und Quantifizierung verstehen lässt. Das Individuum wird wissenschaftlich durchdrungen, damit zugleich „festgestellt“ hinsichtlich der Quantifizierung individueller Unterschiede und der Fixierung eines Bereichs von Normalität und Pathologie. In Überwachen und Strafen beschreibt er diese Doppelbewegung wie folgt: einerseits konstituiert sich das Individuum als beschreibbarer und analysierbarer Gegenstand, der aber nicht wie das Lebewesen der Naturforscher in ‚Spezifische Eigenschaften‘ zerlegt wird, sondern unter dem Blick eines beständigen Wissens in seinen besonderen Zügen, in seiner eigentümlichen Entwicklung, in seinen eigenen Fähigkeiten und Fertigkeiten festgehalten wird; anderseits baut sich ein Vergleichssystem auf, das die Messung globaler Phänomene, die Beschreibung von Gruppen, die Charakterisierung kollektiver Tatbestände, die Einschätzung der Abstände zwischen den Individuen und ihre Verteilung in einer ‚Bevölkerung‘ erlaubt. (Foucault 1994, S. 245)

Das Individuum und seine Individualität werden zum Gegenstand der Erkenntnis, der Erfassung und der Dokumentation, und dies nicht allein als Exemplar einer präziser zu verstehenden Gattung, sondern hinsichtlich individueller Besonderheiten, die erst mittels neuer Techniken erfasst werden können. Diese Foucault’sche Doppelbewegung umschreibt Deleuze mit den Metaphern „Signatur“ und „Zahl“ (Deleuze 1993, S. 257). „Signatur“ steht zunächst für die unverkennbare Handschrift, die individuell erfasst wird. Das Individuum unterliegt beständigen Messungen, Untersuchungen, Prüfungen, in denen es zum „Fall“ wird, zu demjenigen „Individuum, wie man es beschreiben, abschätzen, messen, mit andern vergleichen kann und zwar in seiner Individualität selbst.“ (Foucault 1994, S. 246) „Signatur“ umschreibt ebenfalls die jederzeit erforderliche Anwesenheit des Subjekts im Ausdruck und der Aktualisierung seiner Selbst im Geständnis. Neben immer effizienteren Möglichkeiten der Messung objektiver Phänomenbereiche individueller Existenz (Leistungen, Noten, Krankheitsverläufe) sollen nun auch die nicht unmittelbar auf der Oberfläche ablesbaren Befindlichkeiten nach außen gewendet und quantifizierbar gemacht werden. Foucault arbeitet die Entwicklung der „Geständnis-Wissenschaft“ (Foucault 1983, S. 68) heraus, innerhalb derer die Aufgabe verfolgt wird, eine Wissenschaft um einen Bereich herum zu etablieren, der keine quantifizierbaren Daten zur Verfügung hat, sondern diese aus subjektiven Aussagen zu untersuchender Laien und

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Laiinnen erst generieren muss. Aussagen sollen ermutigt und forciert werden, um dann in objektive Erkenntnisformen und archivierbare Daten übertragen zu werden. Subjektive Befindlichkeiten werden auf der analytischen Ebene durch quantifizierbare Platzhalter ersetzt – bspw. Antworten von 1–10 auf einem standardisierten Fragebogen – und Erkenntnisobjekte auf diese Weise diskursiv hergestellt, die im Anschluss vom Subjekt als hinter seinen Geständnissen verborgene Ursache in sich erkannt werden müssen. Dieser Prozess bezeichnet eine Form der „Subjektivierung“, in welcher das Individuum lernt, sich selbst anhand dieser quantifizierbaren Parameter zu verstehen, den objektiven Fakten über sich selbst mehr Glauben zu schenken als bloß subjektiven Befindlichkeiten. Das Individuum wird immer präziser verstanden, dies jedoch, indem es als Gegenstand eines wissenschaftlichen Diskurses messbar und verständlich gedacht wird. Was wie ein vertiefter Einblick in die vormals undurchsichtige individuelle Psyche und privater Neigungen oder Emotionen wirkt, ist gerade „nicht ein System von Repräsentationen“ (Foucault 1983, S. 72), denn nicht die innere Struktur des Individuums wird abgebildet, sondern das Individuum wird zu einem „Fall“, der den „Anforderungen eines Diskurses, der seine¹ Wahrheit produzieren muss“ (Foucault 1983, S. 71), entsprechend aufbereitet ist. Die metaphorische Signatur unter solchermaßen geleisteten Geständnissen, die dem gesellschaftlichen Subjekt nun als objektives und vertiefendes Wissen über sich selbst „zurückgespiegelt“ wird, die unterschriebene Zeugenaussage und die damit verbundene Aussage, dass man selbst es ist, der dieses Geständnis über sich legitimiert, ist die zweite Bedeutung, in welcher die „Signatur“ verstanden werden kann. Eine Orientierung bietende und Optimierungsdruck ausübende Norm wird jedoch nicht allein aus dem uneinsichtigen Innenleben der Subjekte extrahiert, sondern erst die Zusammenarbeit mit der metrisch aufgebauten Relationalität der Individuen untereinander erlaubt eine präzise Platzierung hinsichtlich Normalität und Abweichung, wie es in der Metapher der „Zahl“ ausgedrückt ist. Der zweite Pol – die „Zahl“ – stellt eine komplementäre Gegendynamik dar. Die neuen Techniken der Messung sowie die Ergebnisse der Geständniswissenschaften können nun mit den Techniken der Archivierung und Statistik zusammengeführt werden, so dass neben der immer präziseren Erfassung individueller Daten auch die Möglichkeiten ihrer Interrelation ausgeweitet werden (vgl. Foucault 1994, S. 243– 247). Je umfassender die Aufzeichnungen und Auswertungen, umso mehr Bereiche lassen sich auf individuelle Eigentümlichkeiten des vorliegenden Individuums untersuchen. Es wird möglich, Individualität als solche geltend zu machen und für

 Im Textabschnitt wird die Sexualität des Individuums thematisiert, es wird hier ausgeweitet und auf „innere“ Befindlichkeiten allgemein bezogen interpretiert.

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andere nachvollziehbar zu kommunizieren. Optimierungspraktiken richten sich an „Defiziten“ oder „Stärken“ aus, die es zu kompensieren oder zu fördern gilt. Die wissenschaftliche Durchdringung der Individualität ermöglicht die Etablierung einer korrelativen, statistischen Norm, die jedem Individuum potenziell die Möglichkeit gibt, sich innerhalb der relevanten Vergleichsgruppe zu verorten. Aus dieser statistischen Norm können zunächst subjektiv empfundene normative Verpflichtungen hervorgehen, wenn die Einordnung des Individuums im Vergleichsfeld und die Kenntnis der eigenen Position gegenüber der Norm das Subjekt ohne direkten Zwang zur „Arbeit an sich selbst“ nötigt. Die moderne „Individualisierung“ bezeichnet ein Verständnis der Abweichung von einer korrelativ konstituierten Norm, die jederzeit innerhalb der Normalität gedacht werden muss. Individualität, die nicht innerhalb der Parameter der Normalität gedacht werden kann, wird als Pathologie verstanden, als bedrohliches „Außen“ der diskursiv nachvollziehbaren rational begründbaren Varianz individuellen Verhaltens und Denkens. Dieser Blickwinkel erlaubt ein präziseres Verständnis des Erfolgs automatisierter und algorithmisierter sozialer Sortierungspraktiken. Ausgehend von der Vorstellung, dass die neu entdeckte Individualität im Selbstverständnis der Subjekte durch die dem objektiven Diskurs angemessene metrische Parameter repräsentiert werden, macht es verständlich, warum algorithmisierte Sortierungspraktiken flächendeckend Fuß fassen konnten. Diese funktionieren gegenwärtig meist nicht inhaltsbasiert, sondern „kollaborativ filternd“ (Lury/Day 2019, S. 22). Wurde bei inhaltsbasierter Empfehlung das Feld der Objekte geordnet – bspw. in Empfehlungsalgorithmen, welche die Nähe von Produktkategorien zum Ausgangspunkt für Folgeempfehlungen nehmen –, so ordnen kollaborativ filternde Algorithmen die agierenden Subjekte. Es werden Subjekte postuliert, die nicht nur Gruppen und Typen von Subjekten zugeordnet werden können, sondern für die „errechnet“ wird, welche Empfehlung ihnen entspricht. In einer ersten Annäherung ist die algorithmengeleitete Automatisierung sozialer Praktiken eine umfassende, aber graduelle Steigerung der von Foucault beschriebenen statistischen Effizienz. Das relationale und quantifizierte Verständnis von Individualität erlaubt die verlustfreie Ersetzung menschlicher Archivare durch digitale. Das statistisch erfasste Spannungsfeld von Signatur und Zahl erlaubt eine fortschreitende Normalisierung gesellschaftlicher Subjekte, die als Fortschritt der Individualisierung verstanden wird.

2.2 Von der Abweichung zum Code – Der Mensch der Algorithmen Das Spannungsverhältnis von „Signatur und Zahl“ verschwindet zunehmend und wird durch die Zuordnung individueller bzw. personalisierter „Codes“ abgelöst.

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„Code“ verstehe ich – in einer sehr losen Lesart Foucaults und Deleuzes (Deleuze 1990; Foucault 1976, S. 244) – als flexible Übertragung körperlicher oder mentaler Phänomene in maschinell lesbare und archivierbare Information. Es erscheint als Fortschritt der Individualisierung, das Individuum nicht allein in Abständen zur Gesamtheit, sondern in seiner Individualität zu erfassen. Je vollständiger die digital erfasste „Repräsentation“ eines Individuums ausfällt, desto personalisierter und präziser könne es von der Gesellschaft adressiert und berücksichtigt werden. Bei genauer Betrachtung liegt jedoch weder ein Repräsentationsverhältnis vor, noch passt sich die Gesellschaft an Individuen an, sondern Subjekte müssen einer digitalen Normalität gerecht werden. Das im Diskurs omnipräsente Individuum wird reduziert auf eine verkörperte Projektionsfläche für die Zusammensetzung unterschiedlicher Bruchstücke, deren An- und Abwesenheit sowie Ausprägung sich als „Code“ fassen lassen.

2.2.1 Data-Doubles – Jenseits von Erkenntnis und Repräsentation „Code“ könnte man zunächst wie eine hochkomplexe Weiterführung eines Persönlichkeitsfragebogens verstehen. Hundert Fragen auf einer Skala von 1–10 werden hinsichtlich der Zustimmung des Individuums beantwortet, so dass ein 100-stelliger „Code“ resultiert, der in seinem individuellen Muster das Individuum objektiv verständlich macht. Hier werden Daten basierend auf theoriebasierten Kategorien von den Subjekten erhoben. Automatisierte digitale Datenerhebung hingegen funktioniert weitgehend „without subject“ (Rouvroy 2013, S. 144). Auf Basis exponentiell wachsender Rechenleistung wird unter dem Begriff „Big Data“ ein immer größerer Datenpool durch kollaborativ filternde Algorithmen sortiert, wodurch temporale und kausale Zusammenhänge von Generierung/Erhebung, Analyse und Anwendung von Daten aufgegeben werden. Bestand innerhalb des Spannungsfeldes von „Signatur und Zahl“ noch eine prinzipielle Verbindung von Individuum und Daten hinsichtlich der Abweichung von einer Norm, so ist nun die Datenerhebung universell, die Analyse nicht an kontextbezogene Erhebungen und betroffene Subjekte gekoppelt. Es werden jederzeit beliebige Daten erhoben und gespeichert, die zu einem anderen Zeitpunkt und in anderen Anwendungsfall – damit auch für andere Subjekte – herangezogen werden können (Matzner 2018, S. 77). Individuen werden dabei nicht als solche verstanden, sondern als fatalistische Träger und Vervollständiger wiederkehrender markanter Verhaltensmuster aus signaturlosen Datenpools. Das Individuum wird in seiner Adressierung von fluktuierenden Datenamalgamen ersetzt. Diese „Data-Doubles“ (Haggerty/Ericson 2018, S. 49) werden in Echtzeitprozessen der Sortierung und Entscheidung an dessen Stelle berücksichtigt – mit ganz realen Auswirkungen für die Individuen.

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Data-Doubles sind jedoch keine singuläre Repräsentationen zugehöriger Subjekte, sondern pragmatische und in unterschiedlichen Bezugskontexten handhabbare Verbindungen digitaler Bruchstücke, die – analog zu Foucaults Beschreibung der Sexualität der scientia sexualis (Foucault 1983, S. 71–72) – den funktionellen Anforderungen des digitalen Echtzeitdiskurses entsprechend konstituiert werden: Rather than being accurate or inaccurate portrayals of real individuals, they are a form of pragmatics: differentiated according to how useful they are in allowing institutions to make discriminations among populations. (Haggerty/Ericson 2018, S. 49)

Die „richtige“ Repräsentation von Subjekten durch Algorithmen wird hierdurch zu einer Frage der Effizienz.² Da nicht der Versuch unternommen wird, ein erkenntnisbasiertes, einheitliches digitales Abbild der Individuen zu erstellen, wird die „Richtigkeit“ der Repräsentation retrospektiv verstanden in Abhängigkeit von der Effizienz von auf Data-Doubles basierenden und in Echtzeit bestimmten Eingriffen. Sobald eine automatisierte Sortierung bessere Ergebnisse liefert als theoriegeleitete Erkenntnisse der Humanwissenschaften, so legitimiert dies eine Umstellung und die Verabschiedung der offenbar ineffizienteren – und damit weniger „richtigen“ – Erkenntnisebene. Es gibt hierbei nicht „das“ Data-Double eines bestimmten Individuums, sondern „digitale Subjekte“ werden je nach Kontext und Anforderungen ihrer Adressierung neu „geboren“ (Goriunova 2019, S. 135). Data-Doubles werden jeweils den Anforderungen eines konkreten digitalen Echtzeitdiskurses gemäß erstellt und sind kein umfassendes digitales Abbild des Individuums, das immer wieder von neuen Seiten beleuchtet oder ergänzt würde. Data-Doubles sind nach Bedarf zusammengesetzte Bruchstücke und Korrelationen, derer es zur automatisierten Entscheidung in jeweils gegebenen Situationen bedarf. Dies wird umso wichtiger, wenn die Art der herangezogenen Bruchstücke genauer betrachtet wird, denn diese liegen in den meisten Fällen in einiger „Entfernung“ (Goriunova 2019, S. 129–130) zu ihrem verkörperten Verankerungspunkt. Erfasst werden nicht Individuen, sondern: „infraindividual data and supra-individual patterns without, at any moment, calling the subject to account for himself.“ (Rouvroy 2013, S. 143–144) „Supra-individuelle“ Muster im erhobenen Datenpool dienen zur Vervollständigung der Prognose über erwartbares Verhalten oder Präferenzen des adressierten Subjekts. Von einem solchermaßen adressierten Subjekt wird – mittels „personalisierter Empfehlung“ – erwartet, dass es den digitalen Fußspuren statistisch ausgetretener Pfade folgt und

 Auf diesen Punkt komme ich in allgemeiner Form noch einmal in Abschnitt 3 ausführlicher zurück.

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die wahrscheinlichste Option der Vervollständigung eines bestimmten Musters vollzieht, in welchem es seine Individualität zu erkennen hat. Eine zweite wichtige temporale Umstellung ist bereits angedeutet worden: Die Adressierung und Berücksichtigung von Subjekten bezieht sich in den meisten Fällen nicht auf ein gegenwärtiges Selbst, sondern auf eine zukünftige Potenzialität (Amoore 2011, S. 29). Die Leerstelle innerhalb möglicher Datenerfassung – die Zukunft – bildet den Fokus und das Ziel algorithmisierter Entscheidungsfindung. Gegenwärtige und vergangene Realitäten anderer Subjekte werden als Korrelationsmuster großer Datenmengen generiert und als mögliche Zukunft einem gegenwärtigen Subjekt angehängt, das nach diesen Potenzialitäten sortiert, gehemmt oder gefördert wird. Einen Passagier am Flughafen durch algorithmengeleitete Entscheidungsfindung als potenzielle Bedrohung auszusortieren, basiert auf einer Prognose möglicher Zukunft ausgehend von einer Übereinstimmung von Datenmustern mit vergangenen Datenerhebungen. Das Individuum am Flughafenschalter ist der passive Rezipient derjenigen Maßnahmen, die ihm als verkörperte Projektionsfläche berechnungsrelevanter Daten in zeitlicher und räumlicher Distanz zugeordnet werden. Eine Kontinuität gibt es weder hinsichtlich der Herkunft der verwendeten Bruchstücke, noch in der Zeit und Verwendung unterschiedlicher Data Doubles zur Vertretung des gesellschaftlichen Subjekts in unterschiedlichen Kontexten. Kollaborativ filternde Algorithmen sind flexibel und effizient hinsichtlich der Anwendbarkeit, trotzdem liegt ihnen eine vermeintlich paradoxe Aufgabenstellung zugrunde. Von Algorithmen geleitete Analysen müssen eine Stabilität der Welt voraussetzen, in welcher Menschen bestimmte feste Gewohnheiten verfolgen. Dies einerseits hinsichtlich der temporalen Entkoppelung von Daten und ihrer Anwendung: Die Annahme, Daten des Vorjahres hinsichtlich des Konsumverhaltens entfernter Subjekte auf ein bestimmtes gegenwärtiges Subjekt am Flughafen anwenden zu können, impliziert die Annahme, dass Daten und ihre Korrelationen stabil sind in ihrer Aussagefähigkeit (Matzner 2019, S. 126). Gleichzeitig jedoch lässt sich das Paradox auf eine sozialphilosophisch interessante Weise weiterführen. Bei einem Empfehlungsalgorithmus wird formal davon ausgegangen, dass auf Basis vorliegender Daten eine Rechnung möglich wird, die das richtige Resultat präsentiert und als Entscheidung nahelegt. Es muss in Echtzeit eine pseudo-stabile Welt isoliert und berechnet werden, deren „eigentliche“ Struktur in der besten aller Welten mit der auszurechnenden Folgeempfehlung vervollständigt würde. Paradox wird die Aufgabenstellung dadurch, dass einerseits von Fakten und faktengeleiteter Entscheidung gesprochen wird – diese Entscheidung aber erst durch Empfehlung herbeigeführt werden muss. Der Algorithmus „weiß“, was das Individuum möchte, noch bevor es dies selbst weiß oder möchte. Die Fakten werden geschildet als Erkenntnisse über das Individuum, dessen Fatum

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von der Faktenlage vorgegeben ist, der eigentliche Faktalismus wird jedoch erst durch beständige Empfehlungen der Algorithmen herbeigeführt. Diese paradoxe Gestalt lässt sich aufheben, wenn wir die Ebene von Algorithmen als Analysewerkzeuge verlassen und stattdessen ihre Performativität, dasjenige, was sie mit Individuen und der Welt „machen“, berücksichtigen.

2.2.2 Subjektivierung und Normalisierung Die Tatsache, dass keine Subjekte unmittelbar adressiert, sondern nur Data-Doubles zur Berechnung herangezogen werden, lässt Antoinette Rouvroy davon sprechen, dass in „algorithmischen Regimen“ keinerlei Subjektivierungspraktiken stattfinden (Rouvroy 2013). Dennoch befinden sich gesellschaftliche Subjekte zunehmend in einem Zwang, sich anhand maschinell lesbarer Daten zu verstehen, sich in ihren digitalen Erscheinungsformen wiederfinden zu müssen. Data-Doubles mögen keine Repräsentationen von Individuen sein, doch werden diese als Data-Doubles adressiert und berücksichtigt, so dass es immer wichtiger wird, sich selbst hinsichtlich der Daten, von denen ausgehend die Adressierung der eigenen Person angeleitet wird, zu verstehen und sich diesbezüglich zu „optimieren“. Das Wissen darüber, ausgehend von Daten sortiert und (über)lebensrelevant adressiert und berücksichtigt zu werden, wirkt sich auf Verhalten und Selbstbezüglichkeit von Subjekten aus. Mit steigendem Bewusstsein über datengeleitete Sortierprozesse, wird eine Optimierung hinsichtlich geahnter oder bestätigter Parameter attraktiv oder gar existenziell bedeutsam – ein für automatisierte Sortierprozesse optimierter Lebenslauf ersetzt zuvor einzuübende Antworten, die in persönlichen Bewerbungsgesprächen fallen mussten. Traditionelle soziokulturelle Identifikationsangebote werden durch datenbasierte Stellvertreter ersetzt, in denen sich Subjekte zu verorten oder sich wiederzuerkennen haben – Berühmtheit wird nicht mehr anhand von Abbildungen in Printmedien, sondern sozialmedialer „Reichweite“ bemessen (vgl. Matzner 2016). Die Intransparenz vieler algorithmisierter Sortierprozesse fungiert dabei als ungesehener Beobachter des Panopticons, der in allen Bereichen als potenzieller Evaluator auftauchen kann (vgl. Bröckling 2001). „Algorithmische Gouvernementalität“ mag keine intentionale Subjektivierung darstellen, versetzt das Subjekt jedoch in einen permanenten Zwang, sich hinsichtlich potenziell relevanter Parameter zum Gegenstand der Selbsterkenntnis und Optimierungsarbeit zu machen. Selbst wenn man Rouvroy darin beipflichtet,

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dass es sich hierbei nicht um eine intentionale Subjektivierung handelt,³ so muss der sanfte Zwang zum permanenten Geständnis, das Wissen über die allgegenwärtige Erhebung und Generierung von Daten und die Selbstbezüglichkeit hinsichtlich dessen, was „unser“ Data-Double tun würde, als Form der Subjektivierung verstanden werden. Es handelt sich nicht um eine gerichtete Praxis der Disziplinierung von Subjekten, aber um „heterogeneous, distributed moments of subjectification“ (Matzner 2018, S. 78). In der Gesamtheit möchte ich unter Rückgriff auf Nietzsche eine vielleicht nicht intentionale, dennoch systematische Form der Subjektivierung herausstellen, deren „Ziel“ die fortschreitende Normalisierung – damit die erwähnte Gesellschaft des „Letzten Menschen“ – darstellt. Die vermeintlich paradoxe Grundstruktur von postulierter Stabilität und notwendiger Empfehlung lässt sich auflösen, wenn algorithmengeleitete Sortierung als performative Reproduktion und Verfestigung quantifizierbarer Normalität verstanden wird. Kollaboratives Filtern orientiert sich an wiederkehrenden Mustern von Verhalten in großen Datenpools, möglichst prognostisch wahrscheinliche Empfehlungen bauen daher auf den statistisch wahrscheinlichsten Folgeverhaltensmustern auf. Ohne also eine Theorie der Welt oder eine kausale Analyse sozialer Beziehungen der Welt zu denken, werden damit häufige Verhaltensmuster bei anderen Subjekten verfestigt. Die Enthaltung jeglicher Form von Wertung und jeglichen Zieles über den Gegenwartsmenschen hinaus verläuft in Richtung einer Produktion von „Herde ohne Hirten“, zu einer normalisierten Gesellschaft, die sich an Feldern der Normalität orientiert, ohne diese erst normativ vorgeschrieben zu bekommen. Die eingangs ostentativ als positive Dimension von Algorithmen beschriebene faire, vorurteilsfreie und faktenbasierte Entscheidungsfindung, die keiner Ideologie oder Theorie untergeordnet ist, sondern „rohe Daten“ und pure Faktizität bemüht, entpuppt sich in dieser Perspektive als omnipräsente und subtile Form der Normalisierung.

3 Faktalismus, Wille zur Wahrheit und eine narrative Philosophie der Zukunft Im Gegensatz zur wissenschaftlichen oder theoriegeleiteten Erkenntnis, deren Aussagen anhand der Realität beständig geprüft und aktualisiert werden müssen, wird um das epistemologische Funktionieren von Algorithmen ein abweichendes Narrativ gesponnen: Eine Überprüfung anhand der Realität sei hier obsolet, da das  Ich teile diese Meinung nicht, möchte dies in diesem Beitrag jedoch nicht ausführlicher diskutieren. Für die weiterführende Diskussion siehe Matzner (2019) oder Rouvroy/Stiegler (2016).

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produzierte Wissen aus bloßer Korrelation roher Daten aufgebaut sei. Algorithmen postulieren nichts, sondern sortieren die Realität. Daten sind in diesem Verständnis keine Repräsentation von Realität, sondern die festgehaltene Realität selbst. Algorithmen – so die Argumentation – sortieren konkrete lebensweltliche Tatsachen, haben nichts mit symbolischen Ordnungen oder Ideologien zu tun, sondern real stattfindende Phänomene hinter dem, was sonst als Theorie vorangestellt wird, werden erfasst. Egal wie bspw. Krankheit verstanden wird – die erhobenen Blutwerte haben nichts mit der Falschheit oder Richtigkeit medizinischer Diagnostik zu tun, sondern sind rohe Fakten, deren Auslegung nun in den Händen von Medizinern und Medizinerinnen liegen mag. Algorithmen können Korrelationen von bestimmten Blutbildern und der Häufigkeit spezifischer Gerinnungserkrankungen sichtbar machen – dies ist jedoch keine theoretische Repräsentation von Wirklichkeit, sondern die Wirklichkeit liegt bereits in den Daten und den Korrelationen. Eine fehlbare Dimension theoretischer Erkenntnis erhält erst im zweiten Schritt Einzug. Messfehler sind möglich, doch der Verweis auf diesen Umstand stärkt die These, dass wir es im Fall sauberer Generierungsbedingungen von Daten mit dem Innersten der Wirklichkeit zu tun hätten. Bei sozial sortierenden Algorithmen wird argumentiert, dass durch automatisierte Entscheidungsprozesse einer potenziell vorurteilsbehafteten, ideologischen, fehleranfälligen Interpretation ausgewichen wird. Daten stehen in Bezug mit Daten, die eine bestimmte Wahrscheinlichkeit einer Gefahr, eines Kaufes o. ä. als drittes Glied einer Korrelation erscheinen lassen, ohne dass Kausalitäten, Natürlichkeit oder Wesenszüge postuliert werden müssten. Ein bestimmtes Muster von rohen Daten erlaubt die Antizipation einer Fortführung bestimmter Muster, dies alles ohne dem Irrtum einen Raum zu geben. Zwar gibt es in diesem Kontext keine „Wahrheiten“, jedoch gibt es rohe Daten und eine immer besser werdende Effizienz der Prädiktion, von der traditionelle Vorhersagemodelle abgehängt werden. Die Effizienz innerhalb prädiktiver Modelle, bei der allein Fakten und deren interpretationsfreie Korrelation mit potenziellen zukünftigem Verhalten bestehen, begründen den Glauben an die Algorithmen als „Wahrheitsregime“ der Gegenwart. Einerseits produzieren algorithmisierte Entscheidungsprozesse Wissen und Realität und setzen gegenüber anderen Formen der Wissensproduktion die Kriterien dessen, was als epistemische Gewissheit gewertet werden kann. Darüber hinaus begründen sie auch die zweite Wirkung von „Wahrheitsregimen“ (Foucault 2014, S. 134), namentlich dasjenige, was von Nietzsche als „Wille zur Wahrheit“ verstanden wird, als Glaube an einen „Wert der Wahrheit an sich“, der aus diesem Grund unbedingt Folge zu leisten ist (FW 344; KSA 3, S. 575/GM III 24; KSA 5, S. 398–401). Die Verwechslung von Faktum und einer angenommenen zwingenden Wirkung des Faktums bezeichnen den Unterschied zwischen der epistemologischen Frage nach der Wahrheit und der moralischen Frage nach dem Willen zur Wahrheit. Wahr-

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heitsregime – wie gegenwärtige Algorithmen – geben die Kriterien des Wissens (in diesem Fall die Effizienz der Prädiktion) und nötigen in einer subtilen Weise, dem produzierten „Wissen“ Folge zu leisten, wie in Abschnitt 2.2 anhand der Subjektivierungs- und Normalisierungspraktiken gezeigt wurde. Die Wichtigkeit dieser Unterscheidung wird vor allem daran deutlich, dass die klassische Kritik an Algorithmen ihre Stellung als Wahrheitsregime nur verstärkt. Wie besprochen stellen Data-Doubles keine Repräsentation der Individuen dar, die algorithmengeleitete Adressierung dieser digitalen Doppel wirkt sich jedoch auf eben diese verkörperten Projektionsflächen aus. Die am häufigsten angeführte Kritik besteht in der Sorge um eine falsche Repräsentation der eigenen Person, einer Sorge, dass innerhalb der faktenbasierten Sortierung nicht alle Fakten berücksichtigt werden, die das Individuum besonders machen und eine erfolgreiche Personalisierung erlauben. Es wird nicht reflektiert, warum es selbstverständlich erscheint, sich einer „wahren“ Vorstellung der eigenen Person zu fügen, warum es unproblematisch sein würde, sich einem automatisierten Sortierungsprozess zu fügen, wenn dieser tatsächlich die Gesamtheit der individuellen Persönlichkeit erfassen könnte. „Dies ist wahr, also beuge ich mich!“ (Foucault 2014, S. 136) bleibt als Konfundierung von Wahrheit und angenommenem Wert der Wahrheit bestehen und macht die Analyse von Fakten und die faktenbasierte Entscheidung zu einem Faktalismus, in dem das Individuum sein Schicksal in den als repräsentativ verstandenen Data-Doubles seiner selbst zu erkennen hat. Die zur „Wahrheit“ erhobene Datenrealität, der immer weiter beförderte unbedingte Glaube an einen Wert der Wahrheit an sich und der Wunsch, sich nach dieser zu richten ohne subjektivierende Herrschaft überhaupt zu benötigen, wird im Zarathustra als größte Gefahr in Form des „Letzten Menschen“ geschildert, in welcher das Individuum in Abweichung mit dem allgemeinen Willen freiwillig eine Korrekturanstalt aufsucht. Foucault formuliert in „Das Subjekt und die Macht“ Nietzsches Weichenstellung der Vorreden 3–5 des Zarathustra neu, wenn er auch nicht über Nietzsche hinausgeht: Das Hauptziel besteht heute zweifellos nicht darin, herauszufinden, sondern abzulehnen, was wir sind. Wir müssen uns vorstellen und konstruieren, was wir sein könnten, wenn wir uns dem doppelten politischen Zwang entziehen wollen, der in der gleichzeitigen Individualisierung und Totalisierung der modernen Machtstrukturen liegt. (Foucault 2005, S. 280)

Weder Foucault noch Nietzsche sehen die Weichenstellung zwischen einer romantischen Rückkehr zum ganzheitlichen transzendentalen Subjekt und damit in einer Abwendung von den Bruchstücken, stattdessen wird die Verantwortung des Umgangs mit einer komplexen Realität der Bruchstücke als Gestaltungs- und Wertungsauftrag in die Hände des Gegenwartsmenschen gelegt:

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Ich wandle unter Menschen als den Bruchstücken der Zukunft: jener Zukunft, die ich schaue. Und das ist all mein Dichten und Trachten, dass ich in Eins dichte und zusammentrage, was Bruchstück ist und Räthsel und grauser Zufall. Und wie ertrüge ich es, Mensch zu sein, wenn der Mensch nicht auch Dichter und Räthselrather und Erlöser des Zufalls wäre! (Za, KSA 4, S. 179)

Zarathustra stellt der Fokussierung auf eine in der Normalität gedachten Individualität der Bruchstücke eine narrative Gestaltungsaufgabe hinsichtlich menschlicher Zukunft gegenüber. Es soll keine spezifische alternative Zukunft forciert, sondern stattdessen der Fokus verschoben werden: weg von dem Versuch einer singulären Erkenntnis der Natur des Menschen und hin zu einer Pluralität agonistischer Entwürfe, was der Begriff ‚Mensch‘ zukünftig bedeuten mag. Entgegen dem, was Nietzsche als Faktalismus beschreibt, wird gestaltende Verantwortung eingefordert, den Zufall „zu erlösen“, indem man ihn als Spielfeld eigener Verantwortung akzeptiert. Das bewusste und aktive Setzen von Wertordnungen verschiedener Entwürfe menschlicher Gesellschaft und individueller Norm, die gegeneinander erprobt werden, stehen im Zentrum der narrativen Philosophie Zarathustras. Im Gegenentwurf zu einer vom Agonismus der Zukunft befreiten, normalisierten und einem geteilten Willen unterliegenden – damit postdemokratischen – technokratischen Verwaltung des Lebens fordert Nietzsche den niemals abzuschließenden radikaldemokratischen Aushandlungsprozess hinsichtlich menschlicher Zukunftsperspektiven. Der bruchstückhafte Charakter zeitgenössischer Gesellschaft und Individualität wird nicht geleugnet, jedoch als Gestaltungsauftrag in neue Perspektive versetzt. In seiner Zukunftserzählung formuliert Zarathustra ein singuläres Ziel, die Überwindung des „Menschen“ hin zum Übermenschen, dies jedoch nicht im Sinne einer posthumanistischen Forderung oder eines Gattungsideals. Nicht der Mensch soll überwunden werden, sondern die normierende, normalisierende und normative Idee „der Mensch“. Der Übermensch als neue Singularität des Zwecks beinhaltet nicht die Annahme eines normalen oder richtigen Weges zur Überwindung des „Menschlichen“, sondern ein fortlaufendes Experimentieren mit verschiedenen Entwürfen davon, was „Mensch“ in seinen Entfaltungen bedeuten kann. Dem letzten Menschen – der Gefahr des „Normalmenschen“ (FW 143; KSA 3, S. 490) – wird der Agonismus des Weges zum ergebnisoffenen Übermenschen entgegengestellt. Algorithmen an sich sind weder gut noch böse. Problematisch ist der im Glauben an Algorithmen wirkende Wille zur Wahrheit und die Tendenz zur faktalistischen Feststellung des Menschen. Algorithmen erwirken eine mögliche „Lösung“ des Rätsels „Mensch“, eine Feststellung unter dem Kriterium der Normalität. Zarathustra stellt demgegenüber das „Dichten“ menschlicher Zukunftsnarrative und damit das beständige „Räthselrathen“ menschlicher Zukunft in den

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Fokus, damit das agonistische Ratespiel eines Rätsels, das niemals gelöst werden soll.

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Nietzsche, die Maschinen und die Materialität der Medien

Martin Stingelin

Friedrich Nietzsches Psychophysiologie der Philosophie Abstract: Friedrich Nietzsches psychophysiology of philosophy. An archaeology of Nietzsche’s media theory is carried out by a classical text by Martin Stingelin, who reconstructs Nietzsche’s materalism on the basis of Nietzsche’s library: That materiality which would later be spelled out by Nietzsche as the materiality of media reached Nietzsche through contemporary physiological and psychological thought, among other sources. By making these sources of the buried 19th century physiological discourse accessible again, Stingelin makes a – by now classic – media-historical contribution to the understanding of Nietzsche’s media theory of language and epistemology, as found not least in Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne.

Um die These meines Statements vorwegzunehmen: Die Experimente der Physiologie sind die historische Voraussetzung dafür, dass die Experimentalphilosophie von Friedrich Nietzsche das Wesen der menschlichen Natur als Interpretationsbedürftigkeit interpretieren konnte. Beim Nachweis der Stichhaltigkeit dieser These werde ich mich rein deskriptiv im Diesseits der Philosophie als Gesetzgebung bewegen, das heißt in Nietzsches Bibliothek. Was ich dokumentiere, sind philologische Befunde. Ihre normativen Implikationen dürften allerdings nicht das geringste Problem darstellen, mit denen sich ein Forschungsprojekt zur Geschichte experimenteller Physiologie und Psychologie des 19. Jahrhunderts konfrontiert sehen wird. Das beharrliche Vorurteil, Friedrich Nietzsche sei „ein wenig szientistischer Denker“ (Rolf 1999, S. 32) gewesen, das jüngst Thomas Rolf in seiner phänomenologisch-pragmatischen Abhandlung über eine der „selbstverständlichsten Selbstverständlichkeiten“ (Husserl 1954, zit. nach Rolf 1999, S. 94)¹, die „Normalität“, bekräftigt hat, sieht das geschulte Auge bei einem Blick in Nietzsches Werke und nachgelassene Schriften auf nahezu jeder Seite widerlegt. Um hier nur das von Thomas Rolf unvollständig zitierte nachgelassene Fragment aus dem Frühjahr 1888

Anmerkung: Der Abdruck dieses Beitrags erfolgt mit der freundlichen Genehmigung des Autors. Die Erstveröffentlichung findet sich hier: Stingelin (1999a).  zit. nach Rolf, Normalität (Anm. 1). https://doi.org/10.1515/9783111072890-011

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herauszugreifen, das den bezeichnenden, der biologischen Degenerationsthese verpflichteten Titel „décad“ trägt: der Werth aller morbiden Zustände ist, daß sie in einem Vergrößerungsglas gewisse Zustände, die normal aber als normal schlecht sichtbar sind, zeigen … G e s u n d h e i t und K r a n k h e i t sind nichts wesentlich Verschiedenes, wie es die alten Mediziner und heute noch einige Praktiker glauben. Man muß nicht distinkte Principien, oder Entitäten daraus machen, die sich um den lebenden Organismus streiten und aus ihm ihren Kampfplatz machen. Das ist altes Zeug und Geschwätz, das zu nichts mehr taugt. Thatsächlich giebt es zwischen diesen beiden Arten des Daseins nur Gradunterschiede: die Übertreibung, die Disproportion, die Nicht-Harmonie der normalen Phänomene constituiren den krankhaften Zustand. Claude Bernard. (NL 1888, KSA 13, S. 250).²

Sowohl von Mazzino Montinaris Kommentar zur kritischen Studienausgabe wie von Thomas Rolf unbemerkt, handelt es sich beim Abschnitt über „ G e s u n d h e i t und K r a n k h e i t “ tatsächlich um ein wörtliches Zitat aus Claude Bernards zehn Jahre zuvor erschienenen Leçons sur la chaleur animale, wie Georges Canguilhem schon 1943 in Le normal et le pathologique nachgewiesen hat.³ Der radikale Umsturz und die gänzliche Neuordnung im Verhältnis zwischen dem „Pathologischen“ und dem „Normalen“, der sich hier ausdrücklich von der Physiologie Claude Bernards herschreibt, hat das Feld der Sichtbarkeit umgepflügt und erweitert: Wo ihr Verhältnis im Anschluß an das Broussais-Comtesche Prinzip der Homogenität und  Rolf, Normalität (Anm. 1), S. 31–32, S. 32, zitiert den Abschnitt über „G e s u n d h e i t und K r a n k h e i t “ ohne Nietzsches Hinweis auf „Claude Bernard“. Der Topos vom Organismus als „Kampfplatz“ ist Nietzsche spätestens seit dem Studium von Wilhelm Roux, Der Kampf der Teile im Organismus. Ein Beitrag zur Vervollständigung der mechanischen Zweckmäßigkeitslehre, Leipzig 1881, vertraut; vgl. Wolfgang Müller-Lauter, „Der Organismus als innerer Kampf. Der Einfluß von Wilhelm Roux auf Friedrich Nietzsche“, in: Nietzsche-Studien. Internationales Jahrbuch für die Nietzsche-Forschung 7 (1978), S. 189–223 (mit anschließender Diskussion, S. 224–235). Zu Nietzsches Begriff der décadence vgl. mit weiterführenden bibliographischen Hinweisen Vf., „Nietzsche, die Rhetorik, die décadence“, in: Sprache und Literatur in Wissenschaft und Unterricht 26. Jg. (1995a), Heft 75/76 (1./2. Halbjahr) [1996], S. 27–44.  Claude Bernard, Leçons sur la chaleur animale, Paris: J.-B. Baillière 1876, S. 391: „La santé et la maladie ne sont pas deux modes différant essentiellement, comme ont pu le croire les anciens médecins et comme le croient encore quelques praticiens. Il ne faut pas en faire des principes distincts, des entités qui se disputent l’organisme vivant et qui en font le théâtre de leurs luttes. Ce sont là des vieilleries médicales. Dans la réalité, il n’y a entre ces deux manières d’être que des différences de degré: l’exagération, la disproportion, la désharmonie des phénomènes normaux constituent l’état maladif“, zit. nach Georges Canguilhem, Le normal et le pathologique (1943), Paris: Presses Universitaires de France 1966, 1991, S. 36 (der Hinweis auf Nietzsches Abhängigkeit findet sich auf S. 16). Auf diesen Fund Canguilhems hat Henning Ritter, „Normal, Normalität“, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, herausgegeben von Joachim Ritter und Karlfried Gründer, Band 6: Mo-O, Basel: Schwabe 1984, Sp. 921–928, Sp. 924, aufmerksam gemacht.

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Kontinuität von Normalität und Anormalität nicht mehr als starre Abgrenzung gedacht wird, sondern sich das „Normale“ und das „Pathologische“ auf einer gleitenden Skala von ,Gradunterschieden‘ zu berühren beginnen, kann das eine in das andere übersetzt, das bislang Nicht-Sichtbare, der„Normal“-Zustand, stellvertretend durch seine Vergröberung im „pathologischen“ Zustand sichtbar gemacht werden. Als Analogie für dieses Verhältnis bieten sich deshalb optische Hilfsmittel der Erkenntnis an, und wo um die Jahrhundertwende vom Verhältnis zwischen dem „Normalen“ und dem „Pathologischen“ die Rede ist, blicken der Leserin oder dem Leser aus den Texten Vergrößerungsgläser und Mikroskope entgegen. Nietzsche selbst las 1888 im „Essai physiologique“ Dégénéréscence et criminalité von Charles Féré, einem Mitarbeiter von Jean-Martin Charcot in der Pariser Salpêtrière, dass dessen Wahl bei der myographischen Messung von motorischen Reaktionen, die durch „sensitivo-sensorielle“ Erregungen ausgelöst wurden, deshalb auf Hysteriker fiel, „parce qu’ils ont la propriété d’exagérer des phénomènes moins facilement saisissables sur des sujets normaux“ (Féré 1888, S. 24)⁴. Folgerichtig hat Nietzsche in seiner Ästhetik der décadence Férés „Dynamometer“⁵ beigezogen, um Wagners

 (weil sie die Eigenschaft haben, Phänomene zu übertreiben, die bei normalen Versuchspersonen weniger leicht zu fassen sind). Zu Nietzsches Féré-Rezeption vgl. Hans-Erich Lampl, „Ex oblivione: Das Féré-Palimpsest“, in: Nietzsche-Studien. Internationales Jahrbuch für die Nietzsche-Forschung 15 (1986), S. 225–264, und Bettina Wahrig-Schmidt, „,Irgendwie, jedenfalls physiologisch‘. Friedrich Nietzsche, Alexandre Herzen (fils) und Charles Féré 1888“, in: Nietzsche-Studien. Internationales Jahrbuch für die Nietzsche-Forschung 17 (1988), S. 434–464.  Vgl. Nietzsche, Götzen-Dämmerung, Streifzüge eines Unzeitgemässen 20, KSA 6, S. 124; vgl. KSA 13, 409–411, S. 410: 15[10]; S. 498–500, S. 499: 16[40] (): „Alles Häßliche schwächt und betrübt den Menschen: es erinnert ihn an Verfall, Gefahr, Ohnmacht. Man kann den Eindruck des Häßlichen mit dem Dynamometer messen. Wo er niedergedrückt wird, da wirkt irgend ein Häßliches. Das Gefühl der Macht, der Wille zur Macht – das wächst mit dem Schönen, das fällt mit dem Häßlichen“, und S. 526–527, S. 526: 17[5]: „Die Muskelkraft eines Mädchens w ä c h s t , sobald nur ein Mann in seine Nähe kommt; es giebt Instrumente, dies zu messen.“ Schon 1885 systematisierte und „objektivierte“ Sigmund Freud seine Selbstexperimente mit Kokain, indem er die Zunahme der Armmuskelkraft unter Kokaineinfluß mit dem Dynamometer und die Verkürzung der psychischen Reaktionszeit mit dem Exnerschen Neuramöbimeter prüfte; vgl. Sigmund Freud, „Über Coca“ (1884), in: Sigmund Freud, Schriften über Kokain, aufgrund der Vorarbeiten von Paul Vogel herausgegeben und eingeleitet von Albrecht Hirschmüller, Frankfurt/Main: Fischer Taschenbuch Verlag 1996, S. 41–86, insbes. S. 84–85 („Nachträge“), und Sigmund Freud, „Beitrag zur Kenntnis der Cocawirkung“ (1885), S. 87–98, insbes. S. 90–98. Freud testete das Kokain im Selbstversuch, „weil keines der mir zur Verfügung stehenden Individuen eine so gleichmässige Reaktion gegen Cocaïn aufwies“ (S. 91), wie sie für jene Evidenz der Ergebnisse vonnöten war, mit der Freud sich als Naturwissenschaftler einen Namen zu machen hoffte; vgl. dazu im erweiterten Kontext der Hysterie-Studien und der Traumdeutung Vf., „,O pudenda origo!‘ Zur psychoanalytischen Poetik der Nachträglichkeit“, Nachwort zu: Mikkel Borch-Jacobsen, Anna O. zum Gedächtnis. Eine hundertjährige Irreführung (1995b), aus dem Fran-

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Kunst als „Ausdruck physiologischer Degenerescenz (genauer, eine Form des Hysterismus)“ (KSA 6, S. 27)⁶, zu bestimmen. Als Konsequenz aus diesem erkenntnisstrategischen Topos zitierte etwa der Berner Psychiater Walter Morgenthaler 1921 als Motto zu seiner Monographie Ein Geisteskranker als Künstler. Adolf Wölfli die Feststellung des Experimentalpsychologen Hermann Ebbinghaus: „Die pathologischen Erscheinungen bedeuten für das Verständnis der Normalen häufig etwas ähnliches wie das Vergrößerungsglas für Dinge, die mit unbewaffneten Augen schwer wahrnehmbar sind.“ (Morgenthaler 1921, S. VII)⁷. Die Reihe analoger Zitate ließe sich über Sigmund Freud und August Stärcke bis hin zu Walter Benjamins „Kunstwerk“-Aufsatz fortschreiben⁸, doch bei diesen Hinweisen zu dem, was Jürgen Link den Widerstreit zwischen „Protonormalismus“ und „Flexibilitäts-Normalismus“ genannt hat⁹, möchte ich es hier belassen, um mich dem unmittelbaren Einfluss der Physiologie auf Nietzsche zu widmen, der 1868 im Anschluß an die Lektüre von Friedrich August Langes Geschichte des Materialismus eine Dissertation zum Thema „Der Begriff des Organischen seit Kant“ plante¹⁰. Unter dem Stichwort „Zu lesen sind“ notierte sich Nietzsche dabei u. a.

zösischen übersetzt und mit einem Nachwort von Martin Stingelin, München: Wilhelm Fink Verlag 1997, S. 121–154.  Nietzsche, Der Fall Wagner 7, KSA 6, S. 26–29. Zu Nietzsches Physiologie der Kunst vgl. allgemein Friedrich A. Kittler, „Nietzsche (1844–1900)“, in: Horst Turk (Hrsg.), Klassiker der Literaturtheorie, München: Beck 1979 (= Beck’sche Schwarze Reihe 192), S. 191–205 und S. 338–340, insbes. S. 194–197, in Der Fall Wagner im besonderen Wolfgang Müller-Lauter, „Artistische décadence als physiologische décadence. Zu Friedrich Nietzsches später Kritik am späten Richard Wagner“, in: Horst Bürkle und Gerhold Becker (Hrsg.), Communicatio fidei, Festschrift für Eugen Biser zum 65. Geburtstag, Regensburg: Verlag Friedrich Pustet 1983, S. 285–294.  Zur Vergrößerung psychopathologischer Symptome durch die Psychiatrie vgl. am Beispiel von Adolf Wölfli Vf., „Wölflis Moderne“, in: Bettina Hunger et al. (Hrsg.), Porträt eines produktiven Unfalls – Adolf Wölfli. Dokumente und Recherchen, Basel, Frankfurt/Main: Stroemfeld/Nexus 1993 (= Nexus 5), S. 13–32, insbes. S. 21–24.  Michael Hagner, „Kluge Köpfe und geniale Gehirne: Zur Anthropologie des Wissenschaftlers im 19. Jahrhundert“, in: Hans Erich Bödeker, Peter Hanns Reill und Jürgen Schlumbohm (Hrsg.), Wissenschaft als kulturelle Praxis, 1750–1900, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1999 (= Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 154), S. 299–333, hat auf die Zirkulation aufmerksam gemacht, dass die Erkenntnisstrategie, den „normalen“ Menschen auf der Skala gleitender Übergänge im Vergrößerungsglas krankhafter Ausnahmezustände und Übertreibungen zu studieren, von der Physiognomik des 18. Jahrhunderts herrührt und im 19. Jahrhundert in die Physiologie eingeht, von wo sie auf die Anthropologie und Soziologie zurückwirkt.  Vgl. Jürgen Link, Versuch über den Normalismus. Wie Normalität produziert wird, Opladen: Westdeutscher Verlag 1997.  Vgl. Curt Paul Janz, Friedrich Nietzsche, Biographie, Band 1: Kindheit und Jugend / Die zehn Basler Jahre (1978), München: Deutscher Taschenbuch Verlag 1981, S. 238–240. Zu Nietzsches Lange-Rezeption vgl. Jörg Salaquarda, „Nietzsche und Lange“, in: Nietzsche-Studien. Internationales Jahrbuch

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Virchow 4 Reden über Leben und Kranksein Berlin 1862. gesamm. Abhandl. zur wissen. Med. Frankf. 1856. […] Helmholz über die Erhaltung der Kraft Berlin 1847. über die Wechselwirkung der Naturkräfte 1854. Wundt über die Menschen- und Thierseele Lotze Streitschriften Leipz 1857 Medicin. Psychologie 1852 […] Bichat sur la vie et la mort zu lesen. Joh. Müller / über das organ. Leben. über die Physiologie der Sinne. […] Schleiden über den Materialis. in der Naturwissensch. Leipz. 1863. (bei Schleiden mechan. Erklärbark. der Organismen) […] Oken die Zeugung 1805 Lehrb. der Naturphilosophie 1809 II Aufl. 1843 Carus Grundzüge der vergl. Anatomie und Physiologie 1825. (BAW 3, S. 393–394)

Auf Anregung von Lange hat sich Nietzsche nachweislich Bücher von Zöllner, Teichmüller, Fechner und Du Bois-Reymond beschafft.¹¹ Die von Lange betriebene „Biologisierung der apriorischen Bedingungen des Erkennens“ (Salaquarda 1978, S. 239)¹² hat Nietzsche in eigentümlicher Weise noch verschärft. Spätestens seit Nietzsches Abhandlung „Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne“ vom Sommer 1873 ist die „physiologische Kritik“, wie ich die Reflexion der organischen Bedingungen der Möglichkeit von Erkenntnis hier nennen möchte, das Gelenk, das Nietzsches Sprachkritik und Nietzsches historische Kritik miteinander verbindet: „Wahrheit“ nennt Nietzsche hier soziale Konventionen des Sprachgebrauchs, die „ursprünglich“ von subjektiven körperlichen Reizen herrühren, deren physiologische Bedingtheit im Verlaufe der phylo- und ontoge-

für die Nietzsche-Forschung 7 (1978), S. 236–253 (mit anschließender Diskussion, S. 254–260). Spuren von Nietzsches Dissertationsprojekt finden sich in den „Philosophischen Notizen (Herbst 1867Frühjahr 1868)“, in: Friedrich Nietzsche, Werke. Historisch-kritische Gesamtausgabe (1933–1940), Band 3: Schriften der Studenten und Militärzeit 1864–1868, herausgegeben von Hans Joachim Mette und Karl Schlechta, München: Deutscher Taschenbuch Verlag 1994 (= BAW, Band und Seitenzahl), S. 371–394.  Vgl. Salaquarda, „Nietzsche und Lange“ (Anm. 11), S. 243.  Vgl. die anschließende Diskussion, S. 258.

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netischen Entwicklungsgeschichte des Menschen aber durch eine dreifach potenzierte metaphorische Übertragung vergessen gegangen ist. Ich möchte nur die in der Philosophiegeschichte selten genug physiologisch akzentuierte Schlüsselstelle aus dem ersten Abschnitt von „Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne“ in Erinnerung rufen: „Ein Nervenreiz zuerst übertragen in ein Bild! erste Metapher. Das Bild wieder nachgeformt in einem Laut! Zweite Metapher. Und jedesmal vollständiges Ueberspringen der Sphäre, mitten hinein in eine ganz andere und neue.“ (KSA 1, S. 879)¹³. Der Begriff ist nach Nietzsche also die habitualisierte Metapher der Metapher einer Metapher, ein ausdrücklich „physiologischer Prozeß“, den Nietzsche in einem nachgelassenen Fragment aus der Zeit zwischen Sommer 1872 und Anfang 1873 sowohl aus der Perspektive der historischen Kritik wie der Sprachkritik und der physiologischen Kritik noch genauer reflektiert: „Die Natur hat den Menschen in lauter Illusionen gebettet. – Das ist sein eigentliches Element. Formen sieht er, Reize empfindet er statt der Wahrheiten. […] Nur das Ähnliche percipirt das Ähnliche: ein physiologischer Prozeß.“ (KSA 7, 19[179]). Die Erkenntnis verwechselt also ihre vermeintlichen Gegenstände mit den – von Nietzsche als physiologische Entsprechung gedachten – Bedingungen ihrer Möglichkeit. Um ein Beispiel zu geben: Der kausallogische Zusammenhang von Ursache und Wirkung, Grund und Erscheinung verdankt sich der metonymischen Kontiguitätsmechanik des Perzeptions- und Apperzeptionsapparates, dessen Form der Wahrnehmung dasjenige privilegiert, was sich mit ihm berührt, was ihn reizt, was ihm in die Augen fällt, der diese durch seinen eigenen physiologischen Bau bedingte Wirkung aber gleichzeitig mit ihrer Ursache verwechselt, wenn er etwa glaubt, von den είδη (eide), der bildlichen Gestalt, auf die ίδέαι (ideai), die Ideen, schließen zu können: Jene Begriffe, die lediglich unserer Empfindung ihr Entstehen verdanken, werden als das innere Wesen der Dinge vorausgesetzt: wir schieben den Erscheinungen als G r u n d unter, was doch nur Folge ist. Die Abstrakta erregen die Täuschung als seien s i e jenes Wesen, welches die Eigenschaften bewirkt, während sie nur in Folge jener Eigenschaften von uns bildliches Dasein erhalten. Sehr lehrreich der Übergang der είδη in ίδέαι bei Plato: hier ist die Metonymie, Vertauschung von Ursache und Wirkung vollständig.¹⁴

Hier ereignet sich mehr als nur Metaphysikkritik in Form von Metonymiekritik, was an sich schon ungewöhnlich genug ist. Tatsächlich zerlegt Nietzsche in seinen

 Friedrich Nietzsche, „Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne“ 1, KSA 1, S. 873–890.  Friedrich Nietzsche, , in: Friedrich Nietzsche, Werke. Kritische Gesamtausgabe, begründet von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, weitergeführt von Wolfgang Müller-Lauter und Karl Pestalozzi, Abteilung II/4: Vorlesungsaufzeichnungen (WS 1871/72WS 1874/75), herausgegeben von Fritz Bornmann, bearbeitet von Fritz Bornmann und Mario Carpitella, Berlin, New York: De Gruyter 1995, S. 413–502, S. 446; vgl. etwa auch KSA 7, S. 495–496: 19[242].

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Schriften von 1872/73 mit dem analytischen Werkzeug der antiken Terminologie die physiologisch bedingte Mechanik des menschlichen Perzeptions- und Apperzeptionsapparates in seine rhetorischen Einzelteile. Nietzsches Basler Rhetorikvorlesung vom Wintersemester 1872/73 liest sich unter diesen Vorzeichen wie eine Blaupause, ein Bauplan des Räderwerks menschlicher Seelenregungen, deren mechanische Schaltstellen Namen tragen wie „Metapher, Synecdoche Metonymie Antonomasie Onomatopoiie Katachrese Metalepsis Epitheton Allegorie Ironie Periphrasis Hyperbaton Anastrophe Parenthesis Hyperbel“¹⁵, Pleonasmus – Epanalepsis, Perissologia, Periphrasis –, Ellipse – Aposiopese, Zeugma –, Enallage und Annominatio¹⁶, um nur die wichtigsten zu nennen, und man hätte sich neben den beiden einzigen Hörern, dem Juristen Kelterborn und dem Germanisten Stückelberger, auch einen Ingenieur der Seele wie Sigmund Freud, den psychoanalytischen Konstrukteur des psychischen Apparats, im Publikum gewünscht¹⁷. Damit kann aber gleichzeitig die Idee entstehen, als Remedium für die „décadence“ des individuellen und des kollektiven Körpers die isolierten Einzelteile neu zusammenzusetzen und einen anderen Menschen aus ihnen hervorgehen zu lassen. Hier wird Rhetorik historisch zur physiologischen Wunschmaschine. Ein Großteil der unbestreitbaren Aporien von Nietzsches Philosophie entspringt seinem zeitlebens vergeblichen Versuch, ein Integrationsmodell zu finden, das diese drei miteinander um die Vorherrschaft ringenden Formen der Erkenntniskritik vermittelt. Dominiert im Frühwerk die Sprachkritik, der die Dekonstruktion ihre Umwege verdankt, so dominiert in der mittleren Phase die historische Kritik, auf deren Amboß Michel Foucault die Werkzeuge seiner Archäologie und  Nietzsche 1995, S. 443.  Vgl. Nietzsche 1995, S. 449–457 („§ 8 . D i e r h e t o r i s c h e n F i g u r e n“).  Zur Bedeutung der (aristotelischen) Rhetorik als Brücke zwischen Friedrich Nietzsche und Sigmund Freud vgl. Gonsalv K. Mainberger, „Rhetorische Techne (Nietzsche) in der psychoanalytischen Technik (Freud). Prologomena zur Rationalität der Psychoanalyse“, in: Johann Figl (Hrsg.), Von Nietzsche zu Freud. Übereinstimmungen und Differenzen von Denkmotiven, Wien: WUV-Universitätsverlag 1996, S. 68–95. Jacques Lacan wird schließlich die rhetorisch analysierbare Figuralität der unbewußten Affektregungen ohne das bei Nietzsche stets mitgedachte physiologische Substrat reformulieren; vgl. „Das Drängen des Buchstabens im Unbewußten oder die Vernunft seit Freud“ (1957), aus dem Französischen übersetzt von Norbert Haas, in: Norbert Haas, Schriften II, ausgewählt und herausgegeben von Norbert Haas, Olten-Freiburg/Br.: Walter-Verlag 1975, S. 15–55, S. 47, wo Lacan die Abwehrmechanismen als „die Kehrseite dessen“ bezeichnet, „wovon die Mechanismen des Unbewußten die Vorderseite darstellen: Periphrase, Hyperbaton, Ellipse, Suspension, Antizipation, Retractatio, Verneinung, Exkurs, Ironie sind die Stilfiguren (Quintilians figurae sententiarum); Katachrese, Litotes, Antonomasie, Hypotyposis die Tropen, die als Begriffe sich am besten dazu eignen, diese Mechanismen zu bezeichnen. Genügt es, in ihnen nur simple Redeweisen zu sehen, wo sie doch die Figuren darstellen, die in der Rhetorik des Diskurses wirksam werden, der effektiv vom Analysierten gesprochen wird?“

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Genealogie geschmiedet hat¹⁸, während das Spätwerk zusehends mehr unter dem Vorzeichen der physiologischen Kritik steht, an der sich das Fin de Siècle berauschte. Dafür werde ich gleich weitere Beispiele geben. Nie aber kann man diese drei Formen der Erkenntniskritik in Nietzsches Werk unabhängig voneinander denken, ohne die Zahl der Aporien unnötig zu vermehren. Das setzt allerdings gerade im Fall der meist übersehenen physiologischen Kritik voraus, dass man das historische Apriori von Nietzsches Philosophie erkennt. Als „historisches Apriori“ hat Michel Foucault in der Archäologie des Wissens „die Bedingungen des Auftauchens von Aussagen, das Gesetz ihrer Koexistenz mit anderen, die spezifische Form ihrer Seinsweise und die Prinzipien […], nach denen sie fortbestehen, sich transformieren und verschwinden“ (Foucault, S. 184)¹⁹, bezeichnet. Den epistemologischen Raum, den diese Aussagen bilden, nennt Foucault „Archiv“²⁰. Dieses Archiv wird in Nietzsches Bibliothek buchstäblich handgreiflich, wenn dies methodisch auch nicht die Regel, methodologisch nicht unabdingbare Voraussetzung von Foucaults Begriff des „Archivs“ ist. Als Spurensicherung der Psychophysiologie in der Philosophie möchte ich hier in der gebotenen Kürze einen kursorischen Überblick über die von Nietzsche nachweislich rezipierten Bücher aus den Disziplinen Psychologie, Psychiatrie und Physiologie geben. Nachdem ich bereits dokumentiert habe, wie die Sprachkritik die historische und die physiologische Kritik in der ersten Werkphase, die physiologische Kritik die Sprachkritik und die historische Kritik in der letzten Werkphase dominiert, möchte ich exemplarisch für die mittlere Werkphase Beispiele herausgreifen, die die sprach- und physiologiekritisch gebrochene Dominanz der historischen Kritik belegen, ehe ich das Panorama abschließend stakkatoartig um Nietzsches psychophysiologische Lektüren erweitere. Bevor Nietzsches forcierte Historisierung sich mit dem „Wert der Werte“ auf die Moral erstreckt, ist ihr bevorzugter Gegenstand die Logik. Nietzsche entwirft eine biologische Entwicklungsgeschichte der menschlichen Erkenntnis, deren ,höhere Functionen, die Wahrnehmungen der Sinne und jede Art von Empfindung überhaupt‘ in „uralt einverleibten Grundirrthümern“ (KSA 3, S. 469)²¹ gründen. Diese  Zur Sprachkritik und zur historischen Kritik im Werk von Friedrich Nietzsche vgl. Vf., „Unsere ganze Philosophie ist Berichtigung des Sprachgebrauchs“. Friedrich Nietzsches Lichtenberg-Rezeption im Spannungsfeld zwischen Sprachkritik (Rhetorik) und historischer Kritik (Genealogie), München: Wilhelm Fink Verlag 1996 (= Figuren 3).  Michel Foucault, Archäologie des Wissens (1969), aus dem Französischen übersetzt von Ulrich Köppen, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1973, 1986, S. 183–190 („Das historische Apriori und das Archiv“), S. 184.  Foucault (1969), S. 186–187: „Alle diese Aussagensysteme (Ereignisse einerseits und Dinge andererseits) schlage ich vor, Archiv zu nennen.“  Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft 110 ( „ U r s p r u n g d e r E r k e n n t n i s s “ ) , KSA 3, S. 469– 471.

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logischen ,Grundirrtümer‘, aus denen sich die Logik zusammensetzt, sind Atavismen, die sich im Arterhaltungskampf als nützlich erwiesen haben: „unzählig viele Wesen, welche anders schlossen, als wir jetzt schliessen, giengen zu Grunde: es könnte immer noch wahrer gewesen sein!“ (KSA 3, S. 471)²² Den Nachweis dieser physiologischen Entwicklungsgeschichte der menschlichen Erkenntnis führt Nietzsche im ersten Teil von Menschliches, Allzumenschliches unter anderem am Beispiel des Traums. Die Erklärung, dass die „vermeintliche Ursache“ der sogenannten Nervenreiz- und Leibreizträume „aus der Wirkung erschlossen und n a c h der Wirkung vorgestellt“ (KSA 2, S. 34)²³ wird, folgt dabei Hermann von Helmholtz’ „Lehre von den Gesichtswahrnehmungen“ aus seinem Handbuch der Physiologischen Optik (Leipzig 1867), das Nietzsche am 5. April 1873 aus der Basler Universitätsbibliothek ausgeliehen hat. Nach dem von Helmholtz vorgegebenen Modell parallelisiert Nietzsche die „Logik der Wahrnehmung“, die „Logik des Traumes“ und die „Logik des wilden Denkens“²⁴. Die ,paläo-physiologische Frage‘: „Hat das menschliche Empfinden, hat die Sinneswahrnehmung eine Geschichte?“ (Geiger 1871, S. 46)²⁵, greift Nietzsche in der Morgenröthe im Aphorismus 426 über die geschichtliche Entwicklung des Farbensinns seit den antiken Griechen auf; Nietzsche entnimmt die Anregung zu diesem Aphorismus wahrscheinlich der Zeitschrift Kosmos, in der 1877 eine physiologische Debatte über die Thesen der Bücher Zur Entwicklungsgeschichte der Menschheit (Stuttgart 1871) von Lazarus Geiger und Die geschichtliche Entwicklung des Farbensinns (Leipzig 1877) von Hugo Magnus ausgetragen wird. Nur kurz hinweisen möchte ich schließlich darauf, dass Nietzsches Kritik der dem menschlichen Willen unterstellten Kausalität, die er durch den physiologischen Begriff der „Auslösung“ ersetzt, wesentliche Anregungen Robert Mayers Aufsatz „Über Auslösung“ (1876) und Michael Fosters Lehrbuch der Phy-

 Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft 111 ( „ H e r k u n f t d e s L o g i s c h e n“ ) , KSA 3, S. 471–472.  Nietzsche, Menschliches, Allzumenschliches I, 1. Von den ersten und letzten Dingen 13 ( „ L o g i k d e s T r a u m e s “ ) , KSA 2, S. 32–35.  Vgl. Hubert Treiber, „Zur ,Logik des Traumes‘ bei Nietzsche. Anmerkungen zu den TraumAphorismen aus Menschliches, Allzumenschliches“, in: Nietzsche-Studien. Internationales Jahrbuch für die Nietzsche-Forschung 23 (1994), S. 1–41, zu Nietzsches Helmholtz-Rezeption insbes. S. 11 und S. 13–22, zu den „Vergleichsmöglichkeiten: ,Logik der Wahrnehmung‘ und ,Logik des Traumes‘, ,Logik des Traumes‘ und ,Logik des wilden Denkens‘“ vgl. S. 22–34.  Zit. nach Andreas Orsucci, Orient – Okzident. Nietzsches Versuch einer Loslösung vom europäischen Weltbild, Berlin, New York: De Gruyter 1996 (= Monographien und Texte zur Nietzsche-Forschung 32), S. 236–247 („VI. Kapitel: Die ,linguistische Archäologie‘ und die geschichtliche Entwicklung des Farbensinns: ein Kommentar zum Aphorismus 426 der ,Morgenröthe‘“), S. 236; Vorabdruck unter dem Titel „Die geschichtliche Entwicklung des Farbensinns und die ,linguistische Archäologie‘ von L. Geiger und H. Magnus: Ein Kommentar zum Aphorismus 426 von Morgenröthe“, in: NietzscheStudien. Internationales Jahrbuch für die Nietzsche-Forschung 22 (1993), S. 243–256.

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siologie (Heidelberg 1881) verdankt.²⁶ Spuren dieser physiologischen Geschichtsschreibung finden sich noch in Nietzsches semiotischem Projekt einer medizinischsymptomatologischen „Genealogie der Moral“, wo davon die Rede ist, dass „die ganze Geschichte eines ,Dings‘, eines Organs, eines Brauchs […] eine fortgesetzte Zeichen-Kette von immer neuen Interpretationen und Zurechtmachungen sein“ (KSA 5, S. 314)²⁷ kann. Nietzsche beklagt im Hinblick auf diese „Willen zur Macht“ ausdrücklich den methodischen Irrtum, dass „der moderne M i s a r c h i s m u s […] schon über die ganze Physiologie und Lehre vom Leben Herr geworden zu sein“ (KSA 5, S. 315) scheint. Nimmt man Nietzsches Versuch, die Wissenschaftslehre seiner Zeit umzuwerten, ernst, ist es vielleicht von Interesse zu erfahren, dass er am 8. November 1887 Freiexemplare seiner Streitschrift Zur Genealogie der Moral, zusammen mit Jenseits von Gut und Böse, unter anderem an 17 24

Herrn Professor Dr. Wundt, Leipzig […] Dem Geheimrath Prof. Dr Helmholtz

26

Berlin […] Herrn Professor Dr. Du Bois-Reymond

27

Berlin, v. Wilhelmsstr. 15 Herrn Professor Dr. Ernst Mach Prag II Weinberggasse 3 (Bf. an Constantin Georg Naumann, 08.11.1887, KGB III/5, Bf. 946)²⁸

schicken lässt. Nietzsche will durch seine beiden programmatischen Bücher offenbar zur Gründung einer internationalen Liga der Physiologie im Dienst einer besseren Interpretation des Menschen anregen. Mach reagierte als einziger und bedankte sich seinerseits mit einem Nietzsche „hochachtungsvoll“ gewidmeten

 Vgl. Marco Brusotti, Die Leidenschaft der Erkenntnis. Philosophie und ästhetische Lebensgestaltung bei Nietzsche von Morgenröthe bis Also sprach Zarathustra, Berlin, New York: De Gruyter 1997 (= Monographien und Texte zur Nietzsche-Forschung 37), S. 56–65 („1.2. Exkurs: Auslösungsbegriff und Willenskritik“).  Nietzsche, Zur Genealogie der Moral, Zweite Abhandlung: „Schuld“, „schlechtes Gewissen“, Verwandtes 12, KSA 5, S. 313–316.  Nietzsche an Constantin Georg Naumann in Leipzig, Nizza, [8. November 1887).

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Sonderdruck aus dem Repertorium der Physik über die „Photographische Fixierung der durch Projektile in der Luft eingeleiteten Vorgänge“.²⁹ In den 80er Jahren steht also jene strikt physiologisch konzipierte Psychologie im Brennpunkt von Nietzsches Interesse, die ganz der Wiederholbarkeit und der Überprüfbarkeit empirischer Untersuchungsergebnisse vertraute. Bis dahin überwiegen moralpsychologische Erwägungen, die Nietzsche anfangs mit Paul Rée, Psychologische Beobachtungen (Berlin 1875), teilt.³⁰ Der vertiefte Zugang zur psychologischen Forschung seiner Zeit erschließt sich Nietzsche über die Psychiatrie: Auf Henry Maudsley, Die Zurechnungsfähigkeit der Geisteskranken (Leipzig 1875), von Nietzsche 1881 studiert, gehen die verschiedenen Ausführungen über die psychologische Charakteristik der epileptischen Neurose in der Morgenröthe zurück.³¹ Festzustellen ist, dass Nietzsches Rezeption der Psychologie im Verlaufe seines Werks immer aktueller wird, bis sie sich zuletzt gänzlich auf der Höhe seiner Zeit bewegt. Eine besondere Vermittlungsfunktion kommt dabei der vom Psychologen Théodule Ribot herausgegebenen Revue philosophique de la France et de l’étranger zu, auf die Nietzsche im August 1877 Rée und Malwida von Meysenbug hinweist. Hier kann Nietzsche Aufsätze oder Rezensionen der Werke etwa von Bergson, Bernheim, Binet, Bourru und Burot, Delbœuf, Espinas, Fechner, Ferri, Helmholtz, Herzen, James, Janet, Lombroso, Richet, Tarde oder Wundt über Themen wie vergleichende Psychologie, Wahrnehmungs-, Bewußtseins-, Assoziations- und Traumpsychologie, Hypnotismus, multiple Persönlichkeitsstörung oder Psychophysiologie gelesen haben. Zwei Bücher und die Tragweite ihres Einflusses auf Nietzsches Spätphilosophie seien hier exemplarisch hervorgehoben. Charles Féré: Das neben Maudsley durch das Studium des Kapitels über „Moral insanity und Verbrechernaturen“ aus Salomon Strickers Physiologie des Rechts (Wien 1884) und die Lektüre von A. Krauss vorgeprägte Interesse für Die Psychologie des Verbrechens (Tübingen 1884) findet den am intensivsten studierten Gegenstand schließlich in Charles Férés Dégénérescence et criminalité. Essai physiologique (Paris 1888), woraus Nietzsche sich verschiedene Beobachtungen über die „induction psycho-motrice“ notiert. Es ist bei Nietzsches intensivem Interesse für

 Mach, E. und Salcher, P., „Photographische Fixierung der durch Projektile in der Luft eingeleiteten Vorgänge1).“ „1) Von den Herren Verf. mitgetheilt aus Wiener Akad. Bd. 95, S. 765 (1887). Separatdruck aus dem Repertorium der Physik. Hg. v. F. Exner“. Nationale Forschungs- und Gedenkstätten Weimar, Zentralbibliothek der deutschen Klassik: C 395.Widmung auf dem Deckblatt: „Herrn Prof. Dr Nietzsche / hochachtungsvoll / Ech.“  Vgl. Hubert Treiber, „Zur Genealogie einer ,science positive de la morale en Allemagne‘. Die Geburt der ,r(é)ealistischen Moralwissenschaft‘ aus der Idee einer monistischen Naturkonzeption“, in: Nietzsche-Studien. Internationales Jahrbuch für die Nietzsche-Forschung 22 (1993), S. 165–221.  Vgl. Brusotti, Die Leidenschaft der Erkenntnis (Anm. 29), S. 224–237.

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die Forschungsergebnisse der Salpêtrière nicht auszuschließen, dass er auch die Neuen Vorlesungen über die Krankheiten des Nervensystems, insbesondere über Hysterie von Jean-Martin Charcot in der kommentierten deutschen Übersetzung von Sigmund Freud (Leipzig/Wien 1886) zur Kenntnis genommen hat. Die nosologische Terminologie der Hysterie-Forschungen von Féré u. a. prägt vor allem das Vokabular von Der Fall Wagner: „W a g n e r e s t u n e n é v r o s e “ (KSA 6, S. 22)³²; „Wagnerische Heldinnen“ bezeichnet Nietzsche als „ein Präparat zu allerlei neurotisch-hypnotisch-erotischen Experimenten Pariser Psychologen“ (KSA 13, 15[6], Nr. 7). Francis Galton: Auch die Inquiries into Human Faculty and its Development (London 1883) des britischen Eugenikers Francis Galton liest Nietzsche im Frühjahr und Sommer 1884 auf Anregung von Josef Paneth mit betont kriminalanthropologischem Interesse. Exzerpte aus dem Kapitel „Criminals and the Insane“ finden Eingang in den vierten Teil von Also sprach Zarathustra ³³ und bilden das Skelett von Nietzsches Typologie des Verbrechers als Metapher der décadence in der GötzenDämmerung ³⁴. Das Kapitel „Antechamber of Consciousness“ ist eine Quelle, die Nietzsche mit dem Paneth-Freund Sigmund Freud teilt.³⁵ Galtons Inquiries into Human Faculty and its Development hat Josef Paneth Nietzsche im März 1884 zum Abschied geschenkt; mehrere Male hatte der Philosoph den Physiologen, Schüler Ernst von Brückes, zwischen Dezember 1883 und März 1884 im physiologischen Laboratorium der zoologischen Station in Villefranche bei Nizza besucht.³⁶ Das ist, soweit ich sehe, das einzige Mal, dass Nietzsche tatsächlich die Gelegenheit wahrgenommen hat, die Versuchsanordnungen physiologischer Experimente im Labor zu studieren. Seine Physiologie war Buchwissen und konzentrierte sich auf Konzepte und Erkenntnisstrategien, die er philosophisch instrumentalisieren konnte.

 Nietzsche, Der Fall Wagner 5, KSA 6, S. 21–23.  Vgl. Marie-Luise Haase, „Friedrich Nietzsche liest Francis Galton“, in: Nietzsche-Studien. Internationales Jahrbuch für die Nietzsche-Forschung 18 (1989), S. 633–658.  Vgl. dazu Vf., „Verbrechen als Lebenskunst. Das Problem der Identität, die Identifizierung von Verbrechern und die Identifikation mit Verbrechern bei Friedrich Nietzsche“, in: Verbrechen – Justiz – Medien. Konstellationen in Deutschland von 1900 bis zur Gegenwart, Vorträge eines DFGRundgesprächs am literaturwissenschaftlichen Seminar der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel, 18.–21. Oktober 1994, herausgegeben von Joachim Linder und Claus-Michael Ort in Zusammenarbeit mit Jörg Schönert und Marianne Wünsch, Tübingen: Max Niemeyer Verlag (1999b).  Vgl. Andreas Mayer, „Von Galtons Mischphotographien zu Freuds Traumfiguren. Psychometrische und pschoanalytische Inszenierungen von Typen und Fällen“, in: Michael Hagner (Hrsg.), Ecce cortex. Zur Geschichte des modernen Gehirns, Göttingen: Wallstein (1999).  Vgl. Richard Frank Krummel, „Josef Paneth über seine Begegnung mit Nietzsche in der Zarathustra-Zeit“, in: Nietzsche-Studien. Internationales Jahrbuch für die Nietzsche-Forschung 17 (1988), S. 478–495.

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Dem auf Wiederholbarkeit und Überprüfbarkeit beschränkten Begriff der physiologischen Experimente steht Nietzsches Versuch gegenüber, ihre Ergebnisse zu entgrenzen.

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Sybille Krämer

Mit Nietzsche in die Digitalität? Überlegungen im Anschluss an Nietzsches Musik- und Sprachverständnis Abstract: With Nietzsche into Digitality? Reflections Following Nietzsche’s Understanding of Music and Language. Although Nietzsche is prominent as a media thinker ‘avant la lettre’, his thought can hardly be reconstructed as preparing the way for medial reflection on digitality. Nietzsche’s imagination is rather the returning of a pre-digital condition in the form of analog performance. This will be reconstructed from two perspectives: on the basis of his understanding of music and his concept of oral language. In both, Nietzsche reveals the dimension of a tonality that has a primordial power to connect but also to divide. Thus, in the end, it can be shown that with Nietzsche we can abandon the illusions about digital communication and recognize that networked digital communication is not an act of emancipation, but rather a focal mirror for the urges, abysses, and potentials of human interactions.

1 Philosophen vergangener Epochen mit lebendigen Gegenwartsdiskursen zu verknüpfen, ist sinnvoll. Nicht nur um in dem, was in der Gegenwart als disruptiv erfahren wird, dann doch Dimensionen von Kontinuität und Tradition frei zu legen, sondern auch, um zu zeitgenössischen Phänomenen in Abstand zu gehen und in den Reflexionen eines ‚vergangenen Denkens‘ fruchtbare Elemente einer Auseinandersetzung mit dem Gegenwärtigen zu entdecken. Dass Nietzsche in vielen Hinsichten medienphilosophische Annahmen gegenwärtiger Debatten in einem fast buchstäblichen Sinne (Motto: „Unser Schreibwerkzeug arbeitet mit an unseren Gedanken“) tatsächlich vorausgedacht hat, ist nicht nur bekannt, sondern auch gut sondiert. (Eberwein 2005; Fitz 1992; Windgätter 2005).¹ Dieses an manchen Stellen aufblitzende Medienbewusstsein unterscheidet ihn von der in der Philosophie zu Windgätter 2005, S. 50 betont allerdings, dass die medientheoretische Zäsur, die mit diesem Gedanken von Nietzsche assoziiert wird, von Nietzsche selbst nur als eine eher unglückselige Serie von Widrigkeiten und Störmomenten wahrgenommen wird. Bei Disser 2006, S. 49 findet sich eine instruktive Aneinanderreihung diesbezüglicher Zitate, die von einer großen Ernüchterung Nietzsches im Umgang mit seiner den Dienst allzu oft verweigernden Schreibmaschine zeugen. https://doi.org/10.1515/9783111072890-012

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meist üblichen Medienvergessenheit. Da liegt es durchaus nahe, Nietzsches Medienbezüge auszuweiten zu der Frage, ob sich bei ihm auch „Fingerzeige und Anregungen“ (Call for Papers, 31. Internationaler Nietzsche-Kongress: „Wie weiter, Herr Nietzsche? Medien und Künste im Zeitalter der Digitalisierung.“) finden lassen, nach jenem Wohin der Medien und Künste, das durch die Digitalisierung gegenwärtig evoziert wird. Um es gleich vorweg zu sagen: Genau so möchte ich Nietzsche nicht interpretieren, sondern geradezu andersherum vorgehen. Nietzsches Bewusstsein um die mediale Rolle der Schrift führt ihn in eine grundständige Kritik an einer abendlandtypischen primordialen Textorientierung und zwar nicht nur innerhalb der Philosophie, sondern auch in der Sprachtheorie und erst recht in vielen Künsten. Eine solche Vorgängigkeit der Textualität sei wirksam geworden, seit die griechische Theaterkunst sich – Hand in Hand mit der Prämierung des Augensinns – als ‚Lesedrama‘ konstituiert und etabliert habe. Doch eine Nietzscheanische Kritik der Textualität schließt nolens volens eine Kritik der Digitalität mit ein, denn bereits das Alphabet – das jedenfalls ist meine Annahme (Krämer 2022, S. 10/11) – bildet eine Protoform des Digitalen. Das eine mediale Zukunft vorausdenkende Element bei Nietzsche wäre damit nicht so etwas wie eine reflexive Wegbahnung des Digitalen, sondern weit mehr einer Imagination von der Wiederkehr des Vordigitalen verwandt. Und mit dem ‚Vordigitalen‘ wollen wir andeuten, dass es Nietzsche um Prozesse geht, deren Darstellungsform in ‚analoger Performanz‘ wurzelt. Diese analoge Performanz ist für Nietzsche zutiefst verbunden mit dem Musikalischen. In Nietzsches Verhältnis zur Musik kristallisiert sich somit aus, was eine Kunst jenseits der Textualität bedeuten kann. Doch damit ist keineswegs einer dichotomisierenden Aufspaltung von Wort und Musik zugearbeitet, so als ob die Musik anstelle des Wortes zu treten habe. Vielmehr geht es darum, gerade das, was ‚Sprache‘ und ‚Wort‘ für Nietzsche bedeuten, von ihrer latenten Skripturalität abzulösen und in ihrer stimmlichen Tonalität nach dem Vorbild des Musikalischen zu denken. Daher möchte ich das Verhältnis Nietzsches zur Musik nicht nur klären hinsichtlich seiner Ideen zur Musikkunst, sondern auch in Gestalt seiner Ideen über die ‚Natur‘ der menschlichen Sprache selbst.

2 Was heißt es, Nietzsches musikphilosophischen Impulse in einer medientheoretischen Perspektive zu akzentuieren? Bedenken wir das Phänomen des abendländischen Okularzentrismus: Im Übergang von der Oralität zur Literalität im antiken

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Griechenland vollzog sich eine Umwertung im System der Sinne, die zu einer Präferenz für das Auge und das Sehen und einer Abwertung des Ohrs und des Hörens führte (Riedel 1984, 227–237). Heraklits Aussage: die „Augen sind bessere Zeugen als die Ohren“ (Heraklit 2004, 22B, 101a) bildet dafür eine signifikante Zäsur. Ein Übergang vom Akroamatischen, also dem, was hörbar ist, zum Apodeiktischen, dem, was sichtbar ist, vollzieht sich. Für nahezu 2000 Jahre entsteht eine Hegemonie des Sehens (Levin 1993) und ein Okularzentrismus, der das Sehen und die Visualität epistemologisch präferiert. Hans Jonas (1997) hat diese epistemische Präferenz des Augensinns gegenüber den anderen Sinnen argumentativ begründet. So entsteht im Rahmen der Alphabetisierung der Sprache – ausgehend vom klassischen griechischen Denken – eine logosorientierte Auffassung humaner Sprachlichkeit. In der Folge der Verschriftung der Sprache wird diese als ein ‚zu den Augen sprechendes‘, grammatisch organisiertes System im Schriftbild beobachtbar und auch begreifbar: Entkleidet ihrer prosodischen, tonalen Merkmale, löst sich die Sprache von der Körperlichkeit der Stimme ab. Sprache und Geist werden im Medium von Bedeutung und Begriff konzipiert. Im Kreuzungspunkt dieser Konstellation entsteht das abendländische Projekt der Philosophie. Mit Platon, dem Schüler von Sokrates, und endgültig dann mit Aristoteles, wird Philosophie zur Auseinandersetzung mit und in (visuellen!) Texten, deren Gelenkstelle der Behauptungssatz und das Argument ist: Sprache und Geist werden philosophisch wirksam im Medium der Textualität. Das ist in gebotener Kürze der Horizont, vor dem Nietzsches Vorhaben Profil gewinnt. Sein Denken kann als Versuch einer radikalen Umkehrung dieser okularzentrischen Entwicklung und damit der an Rationalität und Textualität orientierten Philosophie verstanden werden. Und es ist die Musik, welche für Nietzsche zum Bezugspunkt dieser fundamentalen Revision wird. Nietzsche neigt zu einer ‚ästhetischen Metaphysik‘, indem er unser Verhältnis zur Welt und zu uns selbst nur als ein ästhetisches als tragbar und lebbar empfindet.² Und genau dabei spielt das Musikalische eine entscheidende und zugleich zweifache Rolle, die es jetzt zu entbergen gilt: Einerseits ist Musik für ihn eine das Dionysische verkörpernde Klangkunst; andererseits wirkt Musikalisches auch in der Tonalität und Rhythmik des Sprechens und grundiert damit auch sein musikalisch orientiertes Sprachverständnis. Beide Gesichtspunkte seien im Folgenden erörtert.

 „dass nur als ein aesthetisches Phänomen das Dasein und die Welt gerechtfertigt erscheint…“ (GT, KSA 1, S. 152).

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3 Nietzsches veröffentlichte und unveröffentlichte Schriften sind durchtränkt mit Aspekten des Musikalischen. Sein Vater improvisiert am Klavier, um den kleinen Friedrich zu beruhigen. Seine Leidenschaft für die Musik entdeckt Nietzsche im 9. Lebensjahr: Er spielt Klavier und entwickelt sich zum guten Pianisten, er improvisiert und komponiert schließlich auch eigene Stücke (Janz 1972, S. 175). Er betrachtet „die Sache der Musik wie seine e i g e n e Sache, wie seine e i g e n e Leidensgeschichte“ (WA, KSA 6, S. 357). Und er entwickelt ein nahezu leibliches Verhältnis zur Musik (Brömsel 2000, S. 287), die mit ihren kühnen, ausgelassenen Rhythmen – so Nietzsche – „alle animalischen Funktionen“ beschleunigt. (NW, KSA 6, S. 419) Überdies trägt der Stil, in dem Nietzsche schreibt, seinerseits musikalische Züge: So ist er bestrebt, den Zarathustra ³ oder die Dionysos-Dithyramben zu komponieren wie Musik (Celestini 2016, S. 7) und das Schreiben selbst wie eine Art des Tanzens zu interpretieren (Celestini 2015, S. 256); nicht zuletzt gemahnt der aphoristische Stil seiner Schriften an die musikalische Improvisationskunst. Geist und Musik werden für Nietzsche fast kongruent: „Hat man bemerkt, dass die Musik den Geist f r e i m a c h t ? dem Gedanken Flügel giebt? dass man um so mehr Philosoph wird, je mehr man Musiker wird?“ (KSA 6, S. 14). Meine Annahme ist nun, dass Musik für Nietzsche zu einer Gelenkstelle wird, um die textbasierte, logoszentrierte Philosophie zu revidieren. Doch wie ist das begründbar? Gehen wir zu Nietzsches Verhältnis zu Richard Wagner, sich wandelnd von ursprünglicher Verherrlichung zu hasserfüllter Abwendung (Decker 2012; Köhler 1998; Zuckerman 1974). Rekapitulieren wir die originäre Anziehungskraft, die Wagner auf Nietzsche ausübt. In dessen Musikdramen wird – jedenfalls für Nietzsche – ein ursprünglicher griechischer Geist vor dessen Wende zur Literalität wirksam. Wagner bildet für den Altphilologen Nietzsche daher ein Bindeglied zu einer Periode im antiken Griechentum, welche die Aufspaltung von Wort und Musik noch nicht vollzogen hat. Der altgriechische Begriff musiké bedeutete nicht ‚Musik‘ im heutigen Sinne, sondern notierte die kultische Einheit von Musik, Wort und Tanz verbunden durch den Rhythmus (Georgiades 1958, S. 37; Koller 1963; Celestini 2016, S. 18.). Für Nietzsche ist die griechische Tragödie daher durch einen multimedialen Charakter ausgezeichnet, weswegen hier auch die Erklärung für seine Affinität zu Wagner liegt. Die performative Verbindung der Medien, Künste und Kulte wird in Wagners Musikdramen als Gesamtkunstwerken bewahrt und zu einem neuen Höhepunkt geführt.

 „Man darf vielleicht den ganzen Zarathustra unter die Musik rechnen […].“ Za, KSA 6, S. 335.

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Für Nietzsche bedeutet das rationalistische Prinzip, welches – einsetzend mit Platons Sokrates – den griechischen Geist als Logos konstituiert, geradezu den Tod der Tragödie: Die kultische Einheit der musiké wird aufgelöst; die attische Tragödie degeneriert zum Lesedrama und Textbuch (Celini 2016, S. 24). Nun erfahren Wort, Text und Sprache eine Verabsolutierung und bilden das tragende Fundament eines neuen Menschentyps: des ‚theoretischen Menschen‘. Dessen frühe Manifestation ist für Nietzsche die Figur des Sokrates, ist der „sokratische Rationalismus“. (GT, KSA 1, S. 98) Auch sein späterer Bruch mit Wagner, in dem Nietzsche ursprünglich den Kulminationspunkt einer wieder gewonnen Einheit von Wort und Musik sah, ist in dieser Perspektive deutbar. Denn Nietzsche rückt in seinen späteren Jahren gerade ab von der Idee einer ursprünglichen Einheit von Wort und Musik, vollzieht eine gewisse Wendung zur reinen, zur konzentrierten, aber auch zur ‚leichteren‘ Musik: Es geht ihm nicht länger um die Vereinigung von Wort und Musik, sondern um die Überbietung und Überwindung des Wortes durch die Musik: Die Musik wird zum Organon, um sich von den Fesseln der Sprache zu befreien: „Im Ve r h ä l t n i ß z u r M u s i k ist alle Mittheilung durch Wo r t e von schamloser Art; das Wort verdünnt und verdummt; das Wort entpersönlicht: das Wort macht das Ungemeine gemein.“ (NL 1887, KSA 12, S. 498) Somit ist in Nietzsches Musikauffassung angelegt, dass das, was Musik ist, gerade nicht nach dem Vorbild der Sprache zu denken ist. An die Stelle der für Nietzsche ursprünglich attraktiven Multimedialität, wie sie die griechische musiké und eben auch Wagners Musikdrama verkörperte, tritt in den späteren Jahren eine absolute Musik, die den Dienst am Text abschüttelt und verweigert (Brömsel 2000, S. 287).⁴ Nietzsche hoffte diese textbefreite, vitale Musik in Verbindung mit dem Mediterranen, also dem südlichen Temperament zu finden.⁵ Er identifiziert insbesondere Mozart mit dieser Art unsentimentaler Musik, findet sie allerdings auch bei Rossini, Bizet and Chopin, die eine „ironische Antithese“ zu Wagner verkörpern.⁶ Wie ist diese merkwürdige Tendenz zur ‚reinen Musik‘ erklärbar? Sie steht – so ist zu vermuten – im Zusammenhang mit Nietzsches Wandel vom Altphilologen zum Philosophen. Als kritischer Altphilologe hat er die griechische Tragödie in ihrer performativen Einheit von Wort und Musik gedeutet, die dann – einsetzend mit Sokrates als philosophischer Gründerfigur – durch eine einseitige Fokussierung auf das Wort und eine Verabsolutierung der Sprache verloren ging. ‚Logos‘ im Grie „So gewiß auch die Musik nie Mittel, im Dienste des Textes, werden kann, sondern auf jeden Fall den Text überwindet […]“ NL 1870/1871, KSA 7, S. 187.  Der „[…] Südländer, nicht der Abkunft, sondern dem G l a u b e n nach […]“ JGB 255; KSA 5, S. 200.  Carl Fuchs, (27.12.1888) zit. Brömsel 2000, S. 287.

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chischen bedeutet ja zuerst einmal ‚Sprache‘ und ‚Rede‘ und nimmt dann erst die Bedeutung von ‚Rationalität‘ an. Als kritischer Philosoph sieht Nietzsche seine Aufgabe darin, eben diese Logosorientierung zu revidieren, indem die Musik nicht wieder mit Sprache zusammengeführt wird, vielmehr als Kontrahentin und Gegenspielerin zur Sprache auftritt. Dies vermag Musik, weil sie die Inkarnation dionysischer Kraft ist. Um also zu verstehen, warum unter den Künsten gerade die Musik zum Angelpunkt einer Überwindung abendländischer logosorientierter Metaphysik für Nietzsche wird, müssen wir seine Deutung des Apollinischen und Dionysischen nachvollziehen.

4 Schon bei Friedrich Schlegel (1947, S. 133) und Friedrich Schelling (1858, S. 25) ist eine Wiederentdeckung des Dionysischen angelegt, indem der Gott Dionysos mit der griechischen Poesie assoziiert wird und als Erwecker einer romantischen Mythologie gilt. Nietzsche arbeitet das Begriffspaar dionysisch-apollinisch nun sowohl als kunsttheoretische, aber auch allgemeinphilosophische Polarität aus. Im Zarathustra charakterisiert Nietzsche seine eigene Philosophie als eine Art dionysischen Denkens. Über die Dualität von Dionysischem und Apollinischem ist viel geschrieben worden (Del Caro 1989, S. 589–605) und sie wurde – von altphilologischer Seite – vielfach kritisiert (Lypp 1984; Ottmann 1999, S. 62). Doch uns interessiert nur, um welche Art von Differenz zwischen unterschiedlichen Denkfiguren es bei dieser Polarität geht.Wenn Nietzsche auf das Prinzip des Dionysischen zurückgreift und es in ein Verhältnis setzt zum Apollinischen, kann das, was er damit intendiert, in drei Hinsichten bzw. Facetten akzentuiert werden: 1. Das Dionysische verkörpert für Nietzsche das, was wesentlich ist für Musik. 2. Das Dionysische ist ein Kraft- und Lebensprinzip, das – allerdings nur in komplementärer Verbindung mit dem Apollinischen – die Bewegung von Kulturen und Künsten bedingt. 3. Insofern die Philosophie auf einer idealisierenden Verabsolutierung des Apollinischen beruht, kann eine forcierte Präferenz für das Dionysische zur Revision und Umkehrung traditioneller Metaphysik führen. Versuchen wir diesen Zusammenhang – so kursorisch-thetisch das hier auch nur sein kann – zu verdeutlichen. Mit dem Begriff des Apollinischen verbindet Nietzsche das Olympisch-Klare, welches nach Form, Distanz, Ordnung, Maß, Begrenzung und Gestalt sucht. Das Apollinische strebt nach Typisierung, vermeidet das Zweideutige und Ambivalente, ist mit Verbildlichung und den Wissenskünsten im Bunde

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und folgt einem rationalen, aufklärerischen Gestus. Das Apollinische ist verknüpft mit Individuierung und Individualität. Der Begriff des Dionysischen dagegen meint das Formlose, den Rausch, ist überschäumende Lebensfreude jenseits von Struktur und Ordnung; es drängt ins Ungebundene, Flutende, Grenzenlose, auch Zerstörerische. Es ist triebhaft und sinnlich und oftmals im Bunde mit dem Irrationalen. Das Dionysische strebt nach der Auflösung von Individualität, ist das Aufgehen des Einzelnen in der Gemeinschaft. So, wie das Apollinische seine originäre Verkörperung im Bild findet, ist das Dionysische genuin verkörpert in der Erzeugung und Erfahrung von Musik. Dabei ist für Nietzsche von Anbeginn klar, dass die polaren Prinzipien der Ratio und des Triebes keine dichotomischen Alternativen bilden. Vielmehr ist unserem Weltverhältnis, ist allen Kulturen und damit auch Künsten der Spannungsbogen beider Schaffensprinzipien inhärent. Das Apollinische ist nicht einfach das Andere des Dionysischen, sondern ist dessen Transformation; es negiert das Dionysische nicht, sondern zehrt von ihm (Celini 2016, S. 117). Daher ist die attische Tragödie ein „ebenso dionysisches als apollinisches Kunstwerk“ (Schüle 2000, S. 188). Es ist erst der„Bruderbund“ (GT, KSA 1, S. 140) von Dionysos und Apoll, der die in der Tragödie sich verdichtenden Spannungen und Ambivalenzen des griechischen Geistes zum Ausdruck bringt. Doch diese Komplementarität des Dionysischen und Apollinischen ist noch nicht die ‚ganze Wahrheit‘. Denn Nietzsche sieht sich in einer strategischen Situation, in der eine forcierte Hinwendung zum Dionysischen eine philosophische Mission zu erfüllen hat. Bezogen auf die griechische Antike besteht diese Mission darin, zu zeigen, dass mit der Verwandlung der Tragödie in ein ihrer performativen Dimensionen beraubtes Lesedrama und Textstück, die Philosophie die dionysische Dimension der attischen Tragödie annulliert und verdrängt. Bezogen auf Nietzsches Gegenwart, auf das im 19. Jahrhundert allgegenwärtige Übergewicht des Theoretisch-Begrifflichen, war es Nietzsches Bestreben, kreatürliche Lebendigkeit als kosmisch-metaphysisches Prinzip philosophisch zu rehabilitieren. Wenn also einerseits das Apollinische als eine formstiftende Transformation des Dionysischen gilt, so will Nietzsche andererseits den inversen Prozess einer dionysischen Auflösung der verfestigten apollinischen Form evozieren: Das Dionysische soll in seinem Potenzial, Grenzen zu überschreiten und Strukturen aufzulösen, gegen die Hypostasierung und Idealisierung des Apollinischen eingesetzt werden. Diese dionysische Kraft ist für Nietzsche allererst die Kraft der Musik. Eine Musik, die Nietzsche explizit nicht als „eine allgemeine überzeitliche Sprache“ begreift, sondern als Erfahrung einer Emotionalität und Zeitlichkeit, welche die konkrete Situierung einer Kultur „als inneres Gesetz in sich trägt.“ (Nietzsche 1954,

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S. 802)⁷ Die Zeitkunst Musik wird ihrerseits zur Verkörperung der zeitbezogenen Signatur und Prozessualität einer Kultur.

5 An dieser Stelle, wo der Gefühlsbezug und die Zeitlichkeit der Musik thematisch werden, wollen wir uns dem zweiten Aspekt einer Wirksamkeit des Musikalischen bei Nietzsche zuwenden. Jetzt geht es nicht mehr unmittelbar um Musik und ihre Rolle, sondern um die Sprache in ihrer Tonalität. Nietzsche entwickelt eine Philosophie der Sprache aus dem Geiste der Musik, indem er die Sprache im Horizont ihrer Lautlichkeit und Rhythmizität begreift. Nietzsche ist also nicht nur ein Kritiker des rationalistisch-apollinischen Sprachkonzeptes im Namen einer dionysischen Musikauffassung, sondern er entwirft ein alternatives Sprachkonzept im Ausgang von der konstitutiven Tonalität im Sprechen. Rudolf Fitz (1992) hat gezeigt, dass Nietzsche ein bemerkenswertes Sprachkonzept entfaltet, das im Tonuntergrund der Sprache und in der Expressivität der Stimme verwurzelt ist. Dabei allerdings überträgt Fitz die semiotischen Eigenschaften der Musik auf die Sprache, insofern beide für ihn Systeme der Repräsentation sind. Doch in Kontrast zu dieser repräsentationalen Perspektive möchte ich zeigen, dass Nietzsche nicht einfach das semiotische Paradigma von der Musik auf die Sprache überträgt, sondern dass er die Idee der zeichenhaften, symbolischen Repräsentation als philosophischen Generalansatz zu überwinden trachtet. Nietzsche wird zum Proponenten einer nicht-semiotischen, nicht-repräsentationalen Sprachbetrachtung, indem die Vokalität und Rhythmizität im Sprechen in den Fokus sprachphilosophischer Reflexion rücken. Wir müssen allerdings bedenken, dass Nietzsche keinen einzelnen Text zu einer Idee der Sprache in der Perspektive des Musikalischen geschrieben hat. Doch die musikästhetischen Ideen des jungen Nietzsche haben in den verstreuten Facetten seiner Sprachreflexion bemerkenswerte Spuren hinterlassen. Nur ansatzweise und als Stückwerk sind diese hier zu rekonstruieren. Nietzsche betont: „Das Verständliche an der Sprache ist nicht das Wort selber, sondern Ton, Stärke, Modulation, Tempo, mit denen eine Reihe von Worten gesprochen wird, kurz die Musik hinter den Worten.“ (Nietzsche 1956, S. 190, [508]) Und genau hier treffen wir auf die Bedeutsamkeit der Differenz zwischen dem  „Die Musik ist eben nicht eine allgemeine überzeitliche Sprache, wie man so oft zu ihrer Ehre gesagt hat, sondern entspricht genau einem Gefühls-, Wärme- und Zeitmaß, welches eine ganz bestimmte einzelne, zeitlich und örtlich gebundene Kultur als inneres Gesetz in sich trägt.“ Nietzsche 1954, S. 802.

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Apollinischen und Dionysischen, die Nietzsche in sprachphilosophischer Perspektive allerdings überblendet und zusammenführt mit dem von ihm konzipierten Duo von ‚Gebärdensprache‘ und ‚Tonsprache‘. Für Nietzsche erfüllt die Sprache zwar auch begriffliche Funktionen, doch es bleibt im Sprachgebrauch immer ein im Begriffssprachlichen nicht „unauflösbarer Rest“ (KSA 1, S. 572). Dieser Rest kommt kaum zu Bewusstsein, wird nicht absichtsvoll gesteuert, sondern instinktiv, doch gleichwohl ist er „zweckmäßig wirkend[ ]“ (KSA 1, S. 572). Dieses Nicht-Begriffliche der Sprache realisiert sich in zwei Modalitäten: als Gebärdensprache und als Tonsprache. Diese Differenz zwischen Gebärde und Ton bezieht sich keineswegs – obwohl die Wortbedeutung das nahelegt – auf die Unterscheidung zwischen Gestik und Stimme. Vielmehr geht es Nietzsche um eine Doppelung von etwas, das alleine stimmlich und im Sprechfluss, mithin im gesprochenen Wort selbst wirksam wird. Das Interessante an dieser Zweiheit, die dem Sprechen inhäriert ist, ist, dass Nietzsche sie mit der Polarität des Dionysischen und des Apollinischen zu erklären versucht. Denn in der Differenz von Gebärde und Ton innerhalb der mündlichen Sprache findet Nietzsche die Zweiheit von apollinischem Bild und dionysischer Musik wieder, die somit im Sprechen „uranfänglich vorgebildet“ ist (KSA 7, S. 362). Unter ‚Gebärde‘ versteht Nietzsche die „Mundgeberde“ (KSA 1, S. 576), deren Bildhaftes darin besteht, dass sie mit einer „begleitenden Vorstellung“ (KSA 1, S. 576) verknüpft ist. Wichtiger als dieser Vorstellungsgehalt ist allerdings, dass Nietzsche die Konsonanten und Vokale zu dieser Gebärdensymbolik zählt und zwar ohne ihre Tonalität, nur als eine spezifische Stellung und Figuration der Sprechorgane gedacht (s. NL 1871/1872, KSA 7, S. 379). Es ist diese Dimension der ‚Mundgeberde‘, in der die Sprache in ihrer Funktion in den Blick kommt, verständliche Zeichen zu erzeugen. Der Ton dagegen – und nun tritt der dionysische Aspekt hervor – ist nicht mit Vorstellungen, sondern mit „Strebungen des Willens“ (KSA 1, S. 572) verknüpft, die sich als „Lust und Unlust“ äußern (KSA 1, S. 574). Es ist das Zusammenspiel von Mundgebärde und Tonalität, aus dem dann die Lautsprache hervorgeht. Die innigste und häufigste Verschmelzung von einer Art Geberdensymbolik und dem Ton nennt man S p r a c h e . Im Wort wird durch den Ton und seinen Fall, die Stärke und den Rhythmus seines Erklingens das Wesen des Dinges symbolisirt, durch die Mundgeberde die begleitende Vorstellung, das Bild, die Erscheinung des Wesens. (KSA 1, S. 575–576).

Dass Nietzsche hier von „Wesen“ und „Erscheinung“ redet, das Wesentliche der Sprache damit in der Tonalität des Sprechens verbindet, ist ein Hinweis darauf, dass für ihn das Verhältnis von Ton und Gebärde keineswegs symmetrisch und auf Augenhöhe angelegt ist. Vielmehr ist der ‚Tonuntergrund‘ der Sprache ihr tragendes

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Fundament – mit den Worten von Corina Caduff: Er ist für Nietzsche so etwas wie der „alleinige und universelle Ursprungsort“ (Caduff 1997, S. 48) für sprachliche Bedeutung.

6 Indem Nietzsche die Differenz zwischen ‚Gebärdensprache‘ im Sinne einer apollinischen und ‚Tonsprache‘ im Sinne einer dionysischen Dimension in seine Sprachbetrachtung einführt, bewirkt er einen sprachphilosophischen Neuansatz. In der Philosophie gilt Sprache zumeist als archimedischer Punkt von Kultur, als letztbegründende und unhintergehbare Instanz des menschlichen Weltverhältnisses. Doch für Nietzsche ist Sprache keineswegs ein Erstes und alles Überwölbendes, sondern ein Abgeleitetes: Denn Sprache wird von ihm zurückgeführt auf ein Zusammenwirken von Bild und Musik. Das eröffnet eine folgenreiche Umakzentuierung auch in der Reflexion der Musik selbst: Der Gedanke, dass Musik als eine spezifische Form von Sprache anzusehen sei, hat Tradition und ist vertraut. Adorno (1984) hat nachdrücklich die Idee einer Sprachähnlichkeit von Musik vertreten; und – in seiner Nachfolge – ist Albrecht Wellmers (2009) Musikphilosophie inspiriert und getragen von der Annahme, Musik als eine Art von Sprache zu deuten. Doch mit Nietzsche kann diese Blickrichtung auch umgedreht und die Sprache ihrerseits nach dem Vorbild des Musikalischen gedeutet werden. Nicht die Sprachähnlichkeit von Musik, sondern die Musikähnlichkeit von Sprache ist das für Nietzsche grundlegende Phänomen. Im Horizont dieser methodischen Umorientierung kann das MiteinanderKommunizieren in Analogie zum gemeinsamen Musizieren begriffen werden.⁸ Verständigung zwischen Kommunizierenden wird dann nicht erreicht durch eine Gleichgerichtetheit in den jeweiligen Wortbedeutungen. Entscheidend ist vielmehr eine Übereinstimmung – oder Nicht-Übereinstimmung – in den ‚Wellenlängen‘ des miteinander Sprechens: Tonus und Rhythmus unserer Rede bilden dann die Sphären, innerhalb deren sich die soziale Bindungskraft – aber auch das Entzweiungspotenzial – sprachlicher Kommunikation auf basaler Ebene entfaltet oder auch: entlädt. Diese Auffassung hat Implikationen für eine Theorie der Kommunikation: Seit Habermas’ universalpragmatischer Kommunikationstheorie (Habermas 1984) wird das Erreichen einer Übereinstimmung im Gespräch mit der Fähigkeit verbunden, Geltungsansprüche dialogisch zu erheben und diese auch erörtern, kritisieren und

 Diesen Ansatz entwickeln ausführlich Nothdurft/Schwitalla 1995.

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zurückweisen zu können. Doch die Anerkennung einer Musikalität im Sprechen kann Phänomene von Konsens und Dissonanz im Kommunizieren auf die präpropositionalen Bereiche des Sprechens als einem musikaffinen Lautgeschehen zurückführen. Nothdurft und Schwitalla (1995) haben dies unternommen – allerdings ohne Rekurs auf Nietzsche. Doch noch einen weiteren sprachphilosophischen Gedanken evoziert Nietzsches Idee von der Geburt der gesprochenen Sprache aus der Verbindung zwischen Musik und Bild. Dadurch, dass Nietzsche gerade nicht kurzschlüssig das Dionysische mit der Modalität der mündlichen und das Apollinische mit der Modalität der schriftlichen Sprache verbindet, vielmehr die Polarität des Dionysischen/Apollinischen innerhalb der gesprochenen Sprache selbst verortet, fällt ein neues Licht auf Phänomen und Konzept der Stimme. Die Orality/Literacy Debatte hat die Literalität mit Propositionalität, Rationalität, schlussfolgerndem Denken sowie Wissenschaftlichkeit verbunden. Dies wiederum hatte zur Folge, dass die Stimme und damit Oralität zumeist mit dem Außerrationalen und dem Vorprädikativen, den affektiven und appellativen Dimensionen im Kommunizieren assoziiert wurden. Doch diese stereotype Aufteilung von Stimme und Schrift auf die Pole des Dionysischen und des Apollinischen geht – wenn wir Nietzsches Denkweise folgen – fehl. Vielmehr gilt es, das komplexe Zusammenspiel beider Dynamiken in der mündlichen ebenso wie in der schriftlichen Kommunikation zu untersuchen. Die Janusköpfigkeit von Kommunikation wird unabweisbar, da sie immer schon eine Mixtur aus dionysischen und apollinischen Impulsen bildet. Insofern das Dionysische eben nicht nur die Evokation von Bindung und Gemeinschaftlichkeit ist, sondern zugleich die Macht der Entzweiung und Gewalt verkörpert, bildet die Gewaltförmigkeit der Kommunikation nicht einfach deren Deformation, sondern ist in unserem Sprachvermögen genuin angelegt. Kommunikation in Nietzsches Perspektive birgt dann gleichursprünglich – neben vielem Anderem – das Potenzial zu Gewaltverhinderung und Gewaltanwendung in und durch unser Reden und Schreiben. Die Hassrede – aber auch das Pamphlet – bilden keine Betriebsunfälle der Sprachlichkeit, sondern sind als Potenziale im Reden und Schreiben originär angelegt.

7 So erreicht unser Gedankengang dann doch einen Punkt, der es erlaubt, Phänomene des Digitalen an dieser Stelle ins Spiel zu bringen. Augenfällig ist, dass mit der digitalen Vernetzung die Schrift zu einem Medium wird, das zunehmend Züge der mündlichen Kommunikation annimmt: Der Stil der E-Mails entfernt sich von den formalen Gepflogenheiten tradierter Briefkommunikation; auf Plattformen sozialer Medien entwickelt sich ein restringierter, rudimentärer Sprachgebrauch aus Ver-

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satzstücken, die nur noch entfernt Ähnlichkeit mit hochsprachlicher Schriftkommunikation haben; Emoticons simulieren – mehr schlecht als recht – Gestik und Mimik der Rede. Und die Explosion der Hassrede und des Shitstorms im Netz hat nachhaltig aufgeräumt mit jenen Träumen, mit denen in den Anfangsjahren der Digitalisierung das emanzipative Potenzial kommunikativer Vernetzung gefeiert wurde: als eine Möglichkeit – gänzlich befreit von den geschlechtlichen, ethnischen, sozialen und religiösen Grenzen – in kommunikativen Austausch zu treten. Doch wenn Stimme wie Schrift mit Nietzsche als Medien zu denken sind, welche die janusköpfige Ambivalenz kommunikativer Anerkennung und Aberkennung, Wertschätzung und Verletzung des Anderen bergen, so wird klar, dass die Digitalisierung weniger ein Befreiungsakt ist und eher wie ein Brennspiegel wirkt, der die Triebe und Potenziale, die menschlicher Kommunikation inhärent sind, verstärken und steigern wird. Mit Nietzsche könnten wir uns von den Illusionen digitalisierter Kommunikation befreien.

Literaturverzeichnis Adorno, Theodor W. (1984): „Über das gegenwärtige Verhältnis von Philosophie und Musik“ (erstveröffentlicht in: Archivio di Filosofia Nr. 1 Filsofia dell’ Arte Roma 1953). In: Gesammelte Schriften. Bd. 18. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, S. 149–176. Brömsel, Sven (2000): „Musik“. In: Henning Ottmann (Hrsg.): Nietzsche Handbuch. Stuttgart, Weimar: Metzler, S. 286–288. Caduff, Corina (1997): „Vom ‚Urgrund‘ zum Supplement. Musik in den Sprachtheorien von Rousseau, Nietzsche und Kristeva“. In: Musik & Ästhetik 1, S. 37–55. Celestini, Federico (2015): „Nietzsches Philologie des Tanzes (1869–1876)“. In: Gabriele Busch-Salmen/Monika Fink/Thomas Nußbaumer (Hrsg.): Der Tanz in der Dichtung – Dichter tanzen. Hildesheim, Zürich, New York: Olms, S. 255–266. Celestini, Federico (2016): Nietzsches Musikphilosophie. Paderborn: Fink. Decker, Kerstin (2012): Nietzsche und Wagner. Geschichte einer Hassliebe. Berlin: List. Del Caro, Adrian (1989): „Dionysian Classicism, or Nietzsche’s Appropriation of an Aesthetic Norm“. In: Journal of the History of Ideas 50. No. 4, S. 589–605. Disser, Monika (2006): „Friedrich Nietzsche und das ‚Experiment Schreibmaschine‘“. In: Archiv für Stenografie, Textverarbeitung, Informationstechnologie 48. Nr. 2, S. 47–51. https://www. forschungsstaette.de/PDF/Eberwein%2C%20Nietzsche%20FT%20BT.pdf, besucht am 27. 06. 2022. Eberwein, Dieter (2005): Nietzsches Schreibkugel. Ein Blick auf Nietzsches Schreibmaschinenzeit durch die Restauration der Schreibkugel. Schauenburg: Typoskript Verlag. Fitz, Rudolf (1992): Medienphilosophie. Musik, Sprache und Schrift bei Friedrich Nietzsche. Würzburg: Königshausen & Neumann. Georgiades, Thrasybulos G. (1958): Musik und Rhythmus bei den Griechen. Zum Ursprung der abendländischen Musik. Hamburg: Rowohlt.

Mit Nietzsche in die Digitalität?

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Christina Vagt

Nietzsche, Ashby und die logische Fiktion künstlicher Intelligenz Abstract: Nietzsche, Ashby and the Logical Fiction of Artificial Intelligence. The article discusses the cybernetic beginnings of artificial intelligence and cognitive science against the backdrop of Nietzsche polemic against Kant. The juxtaposition of Nietzsche’s language philosophy and Ashby’s cybernetic ‘brain designs’ provides a media historical background for the discourse on artificial intelligence. When it comes to the question of intellect and intelligence, typewriters, servomechanisms, and computers, it is fair to say that our tools are also working on our thoughts. The case of Nietzsche and Ashby can shine a light on the problem, why this media technological dependency is being continuously forgotten within the discourses of AI and cognitive science. The power of the models depends on what Nietzsche termed ‘logical fictions.’

Im Folgenden soll es im Rückgang auf Nietzsche und eines der ersten kybernetischen Modelle künstlicher Gehirne gehen. Dabei soll zum einen an die philosophisch-technische Vorgeschichte der künstlichen Intelligenz im 18. und 19. Jahrhundert erinnern werden, zum anderen daran, dass sich das Machtverhältnis von Psychologie und Technik mit den neuen kybernetischen Modellen und Technologien grundlegend verschiebt, und zwar zugunsten der Technik. Heute kommt keine Kognitionswissenschaft mehr ohne Computermodelle, -simulationen oder digitale Bildgebungsverfahren aus. Allerdings werden die kybernetischen Anfänge dabei meistens und mit gutem Grund verdrängt.¹ Um das den kognitiven Simulationen eingebaute Vergessen überhaupt denken zu können hilft es, die kybernetische Gründungsszene dieser Technologien mit Nietzsche quer zu lesen.

1 Logische Fiktion Nietzsche schickt seiner kleinen Schrift Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne eine kleine Fabel über „kluge Thiere“ (KSA 1, S. 875) voraus. Der Intellekt diene dem Menschen beim Überleben, aber keineswegs bei der Wahrheitsfindung, denn „[d]er Intellekt, als ein Mittel zur Erhaltung des Individuums, entfaltet seine  Vgl. Dupuy 2009, S. IX. https://doi.org/10.1515/9783111072890-013

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Hauptkräfte in der Verstellung […].“ (KSA 1, S. 876) Intellekt, das heißt also bei Nietzsche Dissimulation und Simulation, und zwar zumeist und zunächst als Selbsttäuschung. Nur so lasse sich erklären, was die „klugen Tiere“ zur Annahme verleitet, sie unterlägen einem „Trieb zur Wahrheit“ (KSA 1, S. 876). Wenn doch, „in Wahrheit“, dass, was Menschen und Tiere unterscheidet, nichts anderes als die Tatsache sei, dass Tiere nicht lügen, während Menschen sich in ihren immer komplexer werdenden Sozialgefügen durch Intellekt und Verstand auszeichnen. Statt einem Trieb oder Willen zur Wahrheit bescheinigt Nietzsche seiner eigenen Art lediglich einen Willen zur Metapher: Jener Trieb zur Metapherbildung, jener Fundamentaltrieb des Menschen, den man keinen Augenblick wegrechnen kann, weil man damit den Menschen selbst wegrechnen wü rde, ist dadurch, dass aus seinen verflü chtigten Erzeugnissen, den Begriffen, eine regulä re und starre neue Welt als eine Zwingburg fü r ihn gebaut wird, in Wahrheit nicht bezwungen und kaum gebä ndigt. Er sucht sich ein neues Bereich seines Wirkens und ein anderes Flussbette und findet es im Mythus und ü berhaupt in der Kunst. Fortwä hrend verwirrt er die Rubriken und Zellen der Begriffe dadurch dass er neue Uebertragungen, Metaphern, Metonymien hinstellt, fortwä hrend zeigt er die Begierde, die vorhandene Welt des wachen Menschen so bunt unregelmä ssig folgenlos unzusammenhä ngend, reizvoll und ewig neu zu gestalten, wie es die Welt des Traumes ist. (KSA 1, S. 887)

Das weltbildende Vermögen namens Sprache basiert auf Ersetzen, Übersetzen, und vor allem auf der Fähigkeit, zu vergessen. Nur mittels des Vergessens kann der menschliche Intellekt sich selbst über die Tatsache hinwegtäuschen, dass jeder Gegenstand von Erkenntnis und Vernunft in Wissenschaft und Philosophie im Grunde nichts anderes sei als ein Strom aus Metaphern und Metonymien, und keineswegs die Dinge-an-sich. Für Nietzsche, in seiner anhaltenden Kritik Kants, gibt es kein Ding ‚an sich‘. Es gibt nur ‚diesen Stuhl‘, und ‚jenes Fenster‘. Was auch immer der Intellekt in Begriffen der Allgemeinheit und Abstraktion zu definieren sucht, gründet sich ursprünglich lediglich auf subjektive und kontingente Nervenreize, die nur deshalb wahr geworden sind, weil sie immer und immer wiederholt wurden – nichts weiter als eine Metapher, die so lange und oft wiederholt wird, bis sie schließlich zu einem Begriff aushärtet. Dieser Vorbehalt gegenüber dem Intellekt und dessen zentraler Rolle innerhalb der europäischen Philosophiegeschichte hat ihrerseits philosophische Vorbilder (wie etwa Schopenhauers Misstrauen gegenüber der menschlichen Vernunft oder Descartes’ radikaler Zweifel am Grunde des ‚Ichs‘). Als Nietzsche 1882 notgedrungen beginnt, eine Schreibmaschine zu benutzen, und damit „von Argumenten zu Aphorismen, von Gedanken zu Wortspielen, von Rhetorik zu Telegrammstil“ (Kittler 1986, S. 296) wechselt, als er also nicht mehr nur wie andere vor ihm über medientechnische Abhängigkeiten der Gedanken spekuliert, sondern diese vielmehr

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demonstriert, indem er ihr Mitwirken am ästhetischen Verfahren namens Schrift vor Augen führt und reflektiert, wurde aus dieser Schreibmaschinenpoetologie eine Sternstunde der Medientheorie, die mittlerweile mehrere Dekaden darauf verwendet hat, die verhärteten Metaphern der Philosophiegeschichte auf die Techniken und das Verhalten vergessener Instrumente und Maschinen zurückzuführen.² Wenn es im Folgenden um ein frühes Modell der künstlichen Intelligenz als logische Fiktion geht, kann Nietzsche nicht nur helfen, den zerstreuten Zusammenhang von Technik und Vergessen im Diskurs der KI genealogisch aufzuschließen. Viel wichtiger ist, die dem Intellekt innewohnende Täuschung mit Nietzsche nicht als einen bloßen Defekt, als Betriebsstörung, sondern als eine Bedingung des Wissens anzuerkennen, und dass es eben die (Schreib‐)Maschinen sind, die uns das intrinsische Vergessen bei der Verfertigung der Gedanken aufzuzeigen vermögen. Es geht also darum, die Maschinen als Modell des Intellekts ernst zu nehmen, sich ihrer Äußerlichkeit zu bedienen, um der historischen Fehl- und Wandelbarkeit der Intelligenz auf die Spur zu kommen. Denn es ist ein genealogisches Argument, dass Nietzsche gegen Kants „intelligible[n] Charakter der Dinge“ (KSA 5, S. 364) sowie das „zeitlose[ ] Subjekt“ (KSA 5, S. 365) ins Feld führt. Während der Wille als organisches Element, Substanz oder auch Prinzip dem Leben als solchem vermeintlich innewohnt, ist der Intellekt bei Nietzsche dem historisch-technischen Wandel unterworfen, anders als der Wille unterliegt er Zeit und Veränderung, also der Geschichte. Diese Formbarkeit und Wandelbarkeit, die zeitliche Verfasstheit des Intellekts aber entgeht der Philosophie in ihrem „Columbarium[ ]“ (KSA 1, S. 882) der Begriffe. Besonders deutlich wird Nietzsche in Bezug auf die von Kant in seiner Kritik der reinen Vernunft formulierte neue Urteilskategorie des synthetischen Apriori. „In allen theoretischen Wissenschaften sind synthetische Urteile a priori als Prinzipien enthalten“, so Kant.³ Synthetische Urteile a priori basieren weder auf Erfahrung (das wäre a posteriori), noch handelt es sich bei ihnen um rein logische Deduktionen (wie etwa die analytischen Urteile der Aussagenlogik). Wissenschaftliche Urteile sind synthetische Urteile a priori, weil sie auf Anschauungen beruhen. Logisch gesprochen, ist bei ihnen das Prädikat nicht im Subjekt enthalten; „das Pferd ist schwarz“ ist zum Beispiel ein synthetisches Urteil, denn um zu entscheiden, ob der Satz wahr oder falsch ist, muss spezifiziert werden, welches Pferd gemeint ist.⁴ Die Urteile der Newtonschen Mechanik basieren bei Kant auf den reinen Anschauungen von Raum und Zeit, die nicht zu den Dingen an sich, sondern zum Gemüt des

 Vgl. Nietzsche 2009.  KrV B14.  Vgl. KrV A6-A10/B11-B14.

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Subjektes gehören. Alle Anschauungen, auch die unreinen, sind Vorstellungen des Gemüts, und sie sind den individuellen Erfahrungen des Subjektes vorgängig, eben a priori. Kants Kritik enthält eine Art von kognitiver Codierung wissenschaftlicher Erkenntnis, die allerdings nur mittels des Begriffs der Anschauung Sinn ergibt. Bei Kant hängen dann auch mathematische Urteile von Anschauungen ab, sind synthetische Urteile a priori: Ob der Satz „7+5=12“ wahr oder falsch ist, entscheidet sich erst, wenn die abstrakten Zahlbegriffe mit konkreten Vorstellungen wie etwa Äpfeln oder Fingern verknüpft werden. Denn der Begriff „12“ ist nicht enthalten im Begriff „=“. Anschauungen sind (innere) Vorstellungen, denn niemand muss tatsächlich mit Fingern oder Äpfeln zählen. Es reicht, sich das Bild einer Menge von zählbaren Elementen vorzustellen.⁵ Synthetische Urteile a priori sind notwendig, weil sie unabhängig von individueller Erfahrung sind, aber ihre Abhängigkeit von Anschauung macht sie auch kontingent, d. h. eine Aussage wie „das Pferd lahmt“ kann wahr oder falsch sein, je nachdem, was in der mentalen Repräsentation geschieht.Wohingegen „der Schimmel ist weiß“ eine Tautologie ist und damit in jedem Fall wahr sein muss. Analytische a priori Urteile sind notwendig, während synthetische a priori Urteile notwendig und kontingent sind. Kants synthetisches Apriori rief vor allem unter Logikern und Mathematikern einigen Unmut hervor. Frege konstatiert bereits 1884, dass sich die Mathematik höchst wahrscheinlich auf Logik reduzieren lasse, was bedeuten würde, dass arithmetische Wahrheiten tatsächlich analytisch und nicht synthetisch sind, kann es aber nicht beweisen.⁶ Im Laufe des 20. Jahrhundert wurde schlussendlich entschieden, dass die Logik, die zu einer solchen Reduzierung fähig ist, die Mengenlehre enthält, also der Mathematik bedarf.⁷ Die semantische Tradition der mathematischen Logik nach Tarski geht sogar soweit, Kants synthetisches Apriori als „schlechte Semantik“ abzuurteilen, und sieht den Grund dafür in dessen „psychologischen Konzeption der Semantik.“ (Coffa 1993, S. 20) Die mathematische Logik hat fast 100 Jahre gebraucht, um den „semantischen Sumpf“, den Kants neue Urteilskategorie hinterlassen habe, trockenzulegen (Coffa 1993, S. 21). Nietzsche gelingt das scheinbar mühelos, wenn er ungefähr zur selben Zeit wie Frege wohlüberlegte Kritik aus dem Geiste mathematischer Logik gegen Kants synthetisches Apriori polemisiert und solche Urteile schlicht als „logische Fiktionen“ bezeichnet. Wie der Intellekt als solcher erscheinen ihm die logischen Fiktionen als notwendig für das Überleben der menschlichen Art zu sein, aber sie taugen eben

 Vgl. KrV B14–16.  Vgl. Frege 1884, S. 102.  Vgl. Quine 1998, S. 65–66.

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nicht der Wahrheitsfindung. Wer den synthetischen Urteilen a priori glaubt, der tue dies im Wissen, dass sie genauso gut falsch sein könnten: [E]s ist endlich an der Zeit, die Kantsche Frage ,wie sind synthetische Urtheile a priori möglich?‘ durch eine andre Frage zu ersetzen […] – nämlich zu begreifen, dass zum Zweck der Erhaltung von Wesen unsrer Art solche Urtheile als wahr g e g l a u b t werden müssen; weshalb sie natürlich noch f a l s c h e Urtheile sein könnten! Oder, deutliche geredet und grob und gründlich: synthetische Urtheile a priori sollten gar nicht ,möglich sein’: wir haben kein Recht auf sie, in unserm Mund sind es lauter falsche Urtheile. Nur ist allerdings der Glaube an ihre Wahrheit nöthig, als ein Vordergrunds-Glaube und Augenschein, der in die Perspektiven-Optik des Lebens gehört. (KSA 5, S. 25–26) [W]ir sind grundsätzlich geneigt zu behaupten, dass die falschesten Urtheile (zu denen die synthetischen Urtheile a priori gehören) uns die unentbehrlichsten sind, dass ohne ein Geltenlassen der logischen Fiktionen, ohne ein Messen der Wirklichkeit an der rein erfundenen Welt des Unbedingten, Sich-selbst-Gleichen, ohne eine beständige Fälschung der Welt durch die Zahl der Mensch nicht leben könnte, – dass Verzichtleisten auf falsche Urtheile ein Verzichtleisten auf Leben, eine Verneinung des Lebens wäre. Die Unwahrheit als Lebensbedingung zugestehn: das heisst freilich auf eine gefährliche Weise den gewohnten Werthgefühlen Widerstand leisten; und eine Philosophie, die das wagt, stellt sich damit allein schon jenseits von Gut und Böse. (KSA 5, S. 18)

Nietzsche formuliert sein eigenes philosophisches Projekt im Durchgang der dominanten Transzendentalphilosophie seiner Zeit, wenn er die fundamentale Rolle von Unwahrheit, Fiktion, und Metapher am Grunde neuzeitlicher systematischer Wissenschaftskonzeption aufzeigt, um zugleich ihren Nutzen zu betonen. Es kann nicht darum gehen, die logischen Fiktionen abzuschaffen (diesem Projekt wird sich der logische Positivismus verschreiben). Dieser zugegebenermaßen prekäre Standpunkt Nietzsches gegenüber dem logisch-wackligen Grund eines wissenschaftlich/technischen Wissens erscheint mir zentral für jede medienarchäologische oder medientheoretische Kritik an den ontologischen Hypothesen, die all jenen Kognitionsmodellen zugrunde liegen, die heute behaupten, dass sie die Intelligenz, den Geist oder auch das Denken an sich modellieren. Intelligenz, das zeigt schon die Geschichte der Logik, ist im Falle des Menschen einem historischen Apriori unterworfen, keinem synthetischen, um es mit Nietzsche und Foucault (und eben nicht mit Kant) zu sagen.⁸ Nur so lässt sich erklären, dass die intellektuelle Gedankenverfertigung immer schon in Techniken und Verfahren, wie etwa Vokalalphabeten, Druckerpressen, Schreibmaschinen, kinematographischen Bildern oder auch digitalen Computern ausgelagert wurde. Der Intellekt ist keine anthropologische Konstante, sondern eine anthropologische Variable, da er sowohl begrenzt als auch modifizierbar erscheint,  Vgl. Foucault 2020, S. 184–186.

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und aus diesem Grund ist ihm philosophisch – nach Schopenhauer und Nietzsche – mit Misstrauen zu begegnen. Seiner selbst nicht gewahr, kalkuliert der Intellekt, um seinen Widersacher, den Willen zu bezwingen. Nietzsches eingangs zitierter Fabel zufolge ist dieser Kampf des Intellekts gegen den Willen allerdings aussichtslos. Denn innerhalb der Kategorie des Lebendigen gewinnt am Ende immer der Wille, gewinnen und überdauern immer die transindividuellen Lebenskräfte jedes individuell Seiende. Die vitalistischen (Willens‐)Anteile in der modernen Anschauung von Intelligenz scheinen ebenso wie die mathematisch-logische Problematik des synthetischen Apriori in Vergessenheit geraten zu sein, spätestens seit sie als machine intelligence in Kognitionswissenschaften des 20. und 21. Jahrhunderts übersetzt wurden. Selbstverständlich hat das den logischen Fiktionen keinen Abbruch getan, die heute sowohl in Form von Machbarkeitsfantasien als auch in dystopischen Szenarien künstlicher Intelligenz Konjunktur haben. Catherine Malabou thematisiert das Verschwinden der Grenze zwischen symbolischem Intellekt und biologischer Intelligenz durch die jüngsten Kognition/Computer Synthesen: Until very recently the border between intelligence and intellect, between the dual – biological and symbolic – nature of intelligence, played a role of what Freud called a ‘protective shield’, that is, a means of resisting psychic invaders. This protective shield was used to block a dangerous concept, namely, intelligence as described by psychologists and the threat it presented in terms of normalizing, standardizing, and instrumentalizing thought and behavior. But today we must recognize that this protective shield is obsolete and the return of ‘intelligence’ in the cognitive era is one of the most important theoretical issues of the early twenty-first century. Admittedly, the paranoid reaction to the reduction of the intellect to the two forms – neuronal and cybernetic – is still going strong. But it has no future. The fragility of the borders between intelligence and intellect, brain and intellect, machine and intellect, (natural) intelligence and (artificial) intelligence, has become so evident that it prohibits any guarantee of sharing among the biological, mechanical, and symbolic. The cognitive era names a new economy of scientific reason that grants the empirical and biological data of thought a central position even as every day it further erases the difference between the brain and its cybernetic replica. (Malabou 2019, S. 8–9)

Ich stimme mit Malabou darin überein, dass die Technikphobie der Philosophie nicht gerade geholfen hat, die Synthese der Kognitionswissenschaften aus Neurowissenschaft und Kybernetik zu verstehen. Es kann nicht länger darum gehen, an der Dualität von biologischer und symbolischer Intelligenz festzuhalten. Medientheorie nach Nietzsche und Foucault jedenfalls müsste nach dem Dazwischen, nach dem dritten Ort oder auch der Relation zwischen Subjekt und Objekt fragen, also nach dem, was weder im Biologischen noch im Symbolischen restlos aufgeht. Statt den Intellekt oder das, was Malabou die „symbolische Natur der Intelligenz“ nennt, philosophisch wieder einzubalsamieren, soll es hier darum gehen nachzuvollzie-

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hen, wie sich Intellekt/Intelligenz unter medienhistorischen Bedingungen transformiert. Daher beschäftige ich mich im Folgenden etwas näher mit dem, was Malabou „kybernetische Replika des Gehirns“ nennt, und zwar indem ich das erste künstliche Gehirnmodell des britischen Psychiaters und Kybernetikers Willbur Rosh Ashby diskutiere.

2 It is not the typewriter anymore – neue Maschinenmodelle der Intelligenz Ab den 1940er Jahren liefert die Wissenschaft der Kybernetik den logischen Fiktionen neues Material. Anhand der Erfindungen von William Ross Ashby, einem Psychiater und Mathematiker unter den frühen Kybernetikern, lässt sich zeigen, wie die Kybernetik sowohl neue analytische Modelle zur Analyse des Verhaltens von Menschen und Gehirnen als auch synthetische Modelle für das Design der KI produzierte. Die Kybernetik führt Nietzsches Medienreflektion der Schreibmaschine in gewisser Weise fort, wenn sie das Gehirn und die Intelligenz in mechanischen oder maschinellen Begriffen beschreibt und dabei auf die technische Entwicklung der Maschinen selbst verweist. It has become apparent that when we used to doubt whether the brain could be a machine, our doubts were due chiefly to the fact that by a ‘machine’ we understood some mechanism of very simply type. Familiar with the bicycle and the typewriter, we were in great danger of taking them as the type of all machines. The last decade, however, has corrected this error. (Ashby 1951, S. 1)

Ashby ist sich der Tatsache bewusst, dass in jeder Wissenschaft und ganz besonders in einer, die sich mit der Mechanik der Neurophysiologie befasst, die Instrumente auch die Ergebnisse beeinflussen.⁹ Mit der Ankunft des Computers versteht er Intelligenz daher explizit nicht mehr im Sinne der Schreibmaschine, sondern in Begriffen selbstorganisierender Maschinen, die sich an dynamische Umgebungen selbstständig anpassen können. Was an diesem Moment besonders interessiert, um den nachhaltigen Effekt, den die Kybernetik auf die Entwicklung der Kognitionswissenschaften und der KI ausgeübt hat, verstehen zu können, ist die Tatsache, dass die Kybernetik nicht mehr ontologisch argumentiert: Mit dem Take-off selbst-organisierender Maschinen lautet die Frage nicht mehr ob das Gehirn eine Maschine

 Vgl. Asaro 2008, S. 153.

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ist, sondern wie es sich als eine Maschine modellieren und bauen lässt.¹⁰ Es geht bei der kybernetischen Modellierung um eine neue Form der Synthese, eine Art des Verhaltensdesigns.¹¹ Es scheint mir wichtig, diese historische Szene kybernetischer Hirnmodelle der 1940/50er Jahre noch einmal aufzusuchen, in der die Mechanismen hinter den Gedankenprozessen nicht mehr länger als Schreibmaschinen verstanden werden, weil das neue Modell der homöostatischen, selbstregulierenden oder selbstschaltenden Maschine es von nun an gestattet, die Unterscheidung zwischen symbolischem Intellekt und biologischer Intelligenz, wie Malabou es formuliert, zu tilgen. Das homöostatische, selbstorganisierende Modell operiert streng und ausschließlich nach den mathematisch-stochastischen Gesetzen von Entropie und Information. Nicht nur waren die neuen Maschinen in der Lage, sich an dynamische Umgebungen anzupassen, sondern sie sollten schließlich auch die menschliche Intelligenz übertreffen, folgt man den Spekulationen von Ashby und anderen. Das kybernetische Phantasma einer dem Menschen überlegenen Maschinenintelligenz, einer wahrhaft künstlichen Intelligenz, die alle bisherigen Modelle und Medien von Intelligenz veralten ließe, beruht allerdings wiederum auf einem Kunstgriff, nämlich der Reduktion der Intelligenz auf zwei Faktoren, Unterscheidung und Selektion.¹² Den kybernetischen Kniff, Intelligenz in Modellen mathematischer Kommunikationstheorie aufgehen zu lassen, indem man sie zunächst auf simple maschinisierbare Operationen reduziert, lese ich nicht positivistisch, im Sinne eines etwaigen Fortschritts auf dem Weg zur heutigen Kognitionswissenschaft, sondern mit Nietzsche als ein Symptom für etwas, das dem menschlichen Wissen immanent ist: als eine Funktion des Vergessens. Denn wirklich neu an Ashbys Intelligenzmodell erscheint mir lediglich die Idee, den Begriff der Intelligenz an statistische Variablen zu koppeln. In „Design of an Intelligence Amplifier“ verbindet er Intelligenz mit Entropie, indem er sie als Selektionsprozess innerhalb einer zufälligen Anzahl von Möglichkeiten definiert.¹³  Philip Mirowski hat das in direktem Bezug auf Ashby die „flache Ontologie“ der Kybernetik getauft. Vgl. Mirowski 2002, S. 453.  Zum Begriff des Verhaltensdesigns, vgl. Vagt 2020, S. 175–187.  Als Beispiel und Begründung für die zentrale Rolle dieser Grundfunktionen nennt Ashby das Lernverhalten von Kindern und den Selektionsprozess biologischer Evolution. Gleichwohl sei es, so Ashby, wichtig zu unterstreichen, dass es sich bei dieser Analogie nicht um Ontologie handelt. Er spricht nicht von der ‚wahren Natur‘ der Intelligenz, sondern bezieht sich einzig auf die Modelle der Intelligenz im Sinne der noch neuen mathematischen Theorie der Information. Vgl. Ashby 1981, S. 263.  „What the intelligence engineer does first to build a system, X and S, that has the tendency, by the laws of nature, to go to a state of equilibrium. He arranges the coupling between them so that ‘not at

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Nicht nur Intelligenz, sondern die wissenschaftliche Methode als solche bestehe darin, ein Modell zu bauen, das besser selektieren könne als sein Erfinder, ein Modell, dass besser selektieren kann als das physikalische System, das es modelliert. So funktionieren Computer, und so funktioniere auch die ganze Mathematik.¹⁴ Ashbys bevorzugtes Gehirn- oder Selektionsmodell ist eines, das er selbst entworfen hat, den sogenannten Homöostat, eine elektrische Maschine, die demonstriert, wie die Verkopplung eines Systems mit einem Rausch- oder Zufallsgenerator es gestattet, sogenannte Ultrastabilität zu erreichen – was nichts anderes heißt, als dass es sich bei schwankenden Umweltbedingungen immer wieder selbst stabilisieren kann. In „Design for an Intelligence-Amplifier“ führt Ashby die logisch-mathematische Argumentation aus, der zufolge es prinzipiell möglich sein muss, eine Maschine zu bauen, deren Selektionsverstärker selektiver ist als der Ingenieur, der sie gebaut hat. Oder um es mit Nietzsche zu reformulieren: Es ist möglich, eine Maschine zu bauen, die effektiver vergessen kann als ihr Konstrukteur. Der Homöostat ist für Ashby ein allgemeines Modell für adaptives Verhalten, weil er demonstriert wie ein System, das Stabilität verliert, wenn es Information mit seiner Umgebung austauscht, diese mittels eines zufälligen Selektionsprozesses wiederherstellen kann. Was aber versteht man in der Kybernetik genau unter „adaptivem Verhalten“? Ein Thermostat etwa ist auch eine Maschine mit negativem Feedback-Prinzip, passt sich also an äußere Bedingungen an, weil er in der Lage ist, die Temperatur eines Raumes stabil zu halten, indem er die Heizung immer dann anschaltet, wenn die Zimmertemperatur unter ein festgesetztes Maß sinkt. Aber dieses kritische Maß muss vorher festgelegt werden. Die innere Organisation eines Thermostats oder Servo-Mechanismus ist festgelegt. Unter einem adaptiven System versteht die Kybernetik dagegen etwas, das seine innere Organisation, seine innere Struktur schwankenden Außenbedingungen anpassen kann. Der Homöostat demonstriert, wie sich ein eingangs chaotisches System mittels Rückkopplung und Zufallsgenerator zu einem Servomechanismus entwickeln kann.¹⁵ Ashby entlehnt

equilibrium’ is coupled to not-N, and ‘at equilibrium’ to N. He then lets the system go, confident that as the passage of time takes the whole to an equilibrium, so will the conditions in X have to change from not N to N. He does not make the conditions in X change by his own efforts but allows the basic drive of nature to do the work. This is the fundamental principle of our intelligence amplifier. Its driving power is the tendency for entropy to increase, where ‘entropy’ is used, not as understood in heat engines but as understood in stochastic processes“ (Ashby 1981, S. 268–269). Strenggenommen war aber auch diese Idee nicht von Ashby. Leo Szilard verknüpfte den Begriff der Entropie bereits 1929 mit „intelligenten Wesen“. Zwar fehlte ihm noch der technische Begriff der Information, aber den Maxwellschen Dämon wusste er auf diese Art bereits auszutreiben (vgl. Dupuy 2009, S. 181).  „Mathematics itself provides a vast range of models which can be handled on paper, or made to ‘behave’, far faster than the systems to which they refer“ (Ashby 1981, S. 272).  Vgl. Pickering 2010, S. 100.

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den Namen seiner Maschine der Homöostase, ein Begriff der Physiologie, der die Fähigkeit eines Organismus bezeichnet, lebensnotwendige Werte wie Körpertemperatur, den PH-Wert oder auch den Sauerstoffgehalt des Blutes konstant innerhalb eines dynamischen Gleichgewichts zu halten. Der Homöostat demonstriert Homöostase als automatische Suche per Selektion nach einer stabilen inneren Organisation unter instabilen Außenbedingungen. Woher der kybernetische Begriff des Verhaltens stammt, der nicht nur bei Ashby, sondern auch bei Norbert Wiener und anderen Kybernetikerinnen/Kybernetikern in Bezug auf Tiere, Maschinen und Menschen kursiert, ist umstritten. Laut Peter Asaro hat er weniger mit dem psychologischen Behaviorismus eines Watsons oder Skinners zu tun als vielmehr mit der philosophischen Tradition des logischen Positivismus und dessen Beharren auf „beobachtbarem Verhalten“.¹⁶ Fest steht, dass Ashby die Kybernetik als „funktional und behavioristisch“ begreift: Cybernetics treats not things but ways of behaving. It does not ask ‘what is this thing?’ but ‘what does it do?’… It is thus essentially functional and behaviouristic. Cybernetics deals with all forms of behavior in so far as they are regular, or determinate, or reproducible. The materiality is irrelevant. (Ashby 1957, S. 1)

Darüber hinaus, so hat Evelyn Fox Keller gezeigt, stammt die Inspiration für Ashbys Homöostat nicht von Studien physiologischer Regulation (wie etwa von Walter Cannon), sondern von Studien behavioristischer Adaption bei Biologen wie Ivan Pavlov, die eine wechselseitige Bedingtheit zwischen Adaption, Überleben und Gleichgewicht untersuchten.¹⁷ Ashbys kybernetische Hirn-Replika wäre ohne die behavioristische Adaptionstheorie der Biologie also kaum denkbar. Und ein noch schlagkräftigeres Argument für die Rolle der theoretischen Biologie für Ashbys Homöostaten liefert Roberto Cordeschi, indem er zeigt, dass Ashby Uexkülls Begriff des Funktionskreises – circuit – verwendet, bevor Wiener den Begriff des feedbacks liefert.¹⁸ Adaptives Verhalten ist nach Ashby etwas, dass sich maschinell demonstrieren lässt, das aber als Prinzip aus der Beziehung zwischen biologischem Organismus und Umwelt hervorgeht. In diesem Sinne ist der Homöostat ein Apparat, der keine andere innerweltliche Anwendung hat als die Übertragbarkeit des biologischen Funktionskreises auf Maschinen zu demonstrieren. Als Demonstrationsmaschine ist der Homöostat daher ein gutes Beispiel für die Rolle, die Modelle innerhalb der Kybernetik spielen. Indem dasselbe Modell dazu dient, das Verhalten von organischen, sozialen, psychischen, physikalischen

 Vgl. Asaro 2008, S. 157.  Vgl. Keller 2009, S. 67.  Vgl. Cordeschi 2002, S. 120.

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und mathematischen Systemen zu modellieren, wird diese Übertragung epistemologisch legitimiert. Modelle werden so zu epistemologischen Medien, die Vergleichbarkeit und Übertragbarkeit zwischen ganz unterschiedlichen Diskursen, unterschiedlichen Ontologien gestatten. Ashbys Homöostat ist, Andrew Pickering zufolge, eine Maschine, die sich adaptiv gegenüber ihrer äußeren Umgebung verhält, ohne über eine innere Repräsentation dieser Umgebung zu verfügen. Eine Maschine, die sich verhält, ohne zu wissen.¹⁹ Mit Kant gesprochen handelt es sich um eine Maschine ohne Anschauung. Damit verkörpert der Homöostat die neue Rolle, welche die mathematische Logik und mathematische Modelle im Kontext adaptiver Maschinen zu dieser Zeit zu spielen begannen. Nach Jan Müggenburg ist die Übertragung von Ashbys Maschine auf das menschliche Gehirn möglich, weil sich beide auf dieselbe Art und Weise verhalten – selbstorganisierendes Verhalten lasse sich als maschinelles Verhalten beschreiben.²⁰ Wobei ich darauf bestehen würde, dass sich Gehirne und Maschinen eben gerade nicht gleich verhalten, denn anders als Maschinen zeichnen sich menschliche Gehirne durch Fehlleistungen und sprachliche Fähigkeiten wie Metaphernbildung aus. Wenn ein Modell Intelligenz in Begriffen mathematischer Informationstheorie, also stochastischer Entropie, definiert, und damit auf Selektion reduziert, und dieses Modell dann wiederum zur Modellierung künstlicher Gehirne oder Intelligenz verwendet wird, dann wird die Tatsache, dass der Wille zur Metapher eben nicht in Selektion, sondern im Erfinden, Übertragen, Übersetzen, Ersetzen etc. besteht, effektiv vergessen. Sprache aber ist immer mehr als Selektion, wie nach Nietzsche auch die strukturale Linguistik von Roman Jakobson in Bezug auf die zentrale Bedeutung von Metonymie und Metapher gezeigt hat.²¹ Der Homöostat ist keine symbolverarbeitende Maschine, seine einzigen Zeichen sind die Zeiger, die Stromstärken- und Spannungsindikatoren, er verfügt über keinerlei Speicher. Dem Homöostat fehlt jeglicher Bezug zu Gedächtnis und Sprache, und damit auch die Fähigkeit, Zukunft zu antizipieren. Gilbert Simondon bringt diesen Sachverhalt bereits in den 1950er Jahren sehr schön auf den Punkt, wenn er Ashbys Homöostaten dazu benutzt, keine Analogie zwischen Maschine und Gehirn zu behaupten, sondern die wesentliche Differenz zwischen Lebewesen und Maschine klarer zu fassen. Für die (kybernetische) Maschine gibt es keine Probleme, nur Daten, und die existieren immer nur in der Gegenwart: Die Lösung der echten Probleme ist eine Funktion des Lebens. Sie setzt einen rekursiven Handlungsmodus voraus, den es in einer Maschine nicht geben kann: die Rekursion, das Zurücklaufen der Zukunft in die Gegenwart, des Virtuellen in das Aktuelle […]. Wenn Ashbys

 Vgl. Pickering 2010, S. 108.  Vgl. Müggenburg 2018, S. 195.  Vgl. Jakobson 1987, S. 95–114.

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Homöostat sich während seines Funktionsablaufs selbst umschaltet (denn man kann dieser Maschine die Fähigkeit zuschreiben, auf ihre eigenen Wahlschalter einzuwirken), ereignet sich ein Sprung in den Eigenschaften, der den gesamten vorherigen Funktionsablauf zunichtemacht; in jedem Augenblick existiert die Maschine im Aktuellen […]. Sie kann nur auf etwas positiv Gegebenes, etwas aktuell Getanes reagieren. Die Fähigkeit, sich abhängig vom Virtuellen zu modifizieren, über die das Lebewesen verfügt, ist der Sinn für die Zeit, den die Maschine nicht hat, weil sie nicht lebt. (Simondon 2012, S. 132)

Die kybernetischen Repliken und Gehirnmodelle in der Nachfolge des Homöostaten haben nie eine ontologische Behauptung über die Natur des menschlichen Gehirns oder der menschlichen Intelligenz getroffen, denn sie wurden als logische Fiktionen entworfen: Damit sind sie durchaus nützlich und notwendig, um innerhalb des wissenschaftlich-technischen Diskurses ihrer Zeit Evidenz zu produzieren, aber sie bleiben dabei eben auch kontingent – was sich in der langen und anhaltenden Entwicklungsgeschichte kognitiver Simulationsmaschinen ausdrückt. Diesen Modellen wird geglaubt, obwohl klar ist, dass sie genauso gut falsch sein könnten. Nietzsches Antwort auf die eigene Frage, warum uns die „falschesten Urteile“ die unentbehrlichsten sind, müsste heute von der Philosophie an die Forschung in Kognitionswissenschaften und KI mit Hinweis auf deren kybernetische Anfänge weitergereicht werden. Denn mit wachsender sozialer Komplexität wird diese neue Art intellektueller Selbsttäuschung in Form von Maschinenmodellen der Intelligenz zunehmend bedeutsam und folgenreicher. Was Ashby in Form von operationalen oder behavioristischen Begriffen als Intelligenz neu definiert, ist der Versuch, genau das abzuschaffen, was nach Nietzsche die conditio humana ausmacht, auch wenn diese nur in Form des Vergessens bewusst erscheinen kann: denn den Willen zur Metapher, die sprachliche, nicht berechenbare Verfasstheit der „klugen Tiere“ müssen diese notwendigerweise vergessen. Ashbys Maschine steht am Anfang einer modernen Technologie, die das Wissen um die Metaphernhaftigkeit des Wissens, um die zentrale Rolle, die logische Fiktionen und ihre Verdinglichungen spielen, radikaler vergessen lässt, als es die Schreibmaschine und ihresgleichen vermochte, also etwas, womit Nietzsche (und in seiner Folge Freud) noch zu arbeiten versuchen: Wille zur Metapher, Wille zur Täuschung, Wille zur Simulation, all das ist um 1900 noch Teil des (mathematisch) unberechenbaren Weltbezugs der klugen Tiere namens Sprache. Die kybernetische Maschinerie des 20. Jahrhunderts scheint dagegen auf den ersten Blick jeder poetischen, fiktionalen oder philosophischen Verfasstheit menschlicher Existenz zu widersprechen. Dabei ist es gerade das Ins-Werk-Setzen der logischen Fiktion, dass sich als poetisch bezeichnen ließe. Heidegger wird dafür in den 1940er Jahren den Begriff der ‚Vergessung‘ prägen, eine radikale technische Verfahrensweise des Vergessens, die in der Sprache selbst ihren Ursprung hat, und die er noch in Er-

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mangelung adaptiver Maschinen etwas nebulös mit Schreibmaschinen und Wolken zu umschreiben versucht.²² Dass sich die behavioristisch-kybernetische Auffassung von Intelligenz im 20. und 21. Jahrhundert durchgesetzt hat, hat eben etwas mit der technischen Entwicklung adaptiver Maschinen zu tun. Ashby selbst beschreibt in den frühen 1960er Jahren in „Simulation of a Brain“ den Siegeszug der mathematischen Logik nicht nur für die Modellierung physikalischer Systeme, sondern auch für physiologische und psychologische Systeme.²³ Obwohl er weiß, dass sich in physiologischen und psychologischen Systemen die jeweiligen Zustände nicht unmittelbar aus den vorhergehenden Zuständen ableiten lassen, obwohl er weiß, dass sich weder ein physiologisches noch ein psychologisches System wie eine universelle Turingmaschine verhält, wähnt er ein neues Zeitalter „maschinenhaften Verhaltens“ am Horizont, regiert und reguliert einzig von rekursivem Verhalten. Die Welt des Homöostaten besteht ausschließlich aus weiteren Homöostaten.²⁴ Es braucht keine ontologische Argumentation der Intelligenz mehr, denn die „Logik des Mechanismus“ bedarf keiner Referenz auf Welt, sie bedarf keiner Anschauung. Wenn beide unter einen bestimmten Maschinentypus subsumierbar sind, fällt schlussendlich auch die Unterscheidung zwischen Gehirn und Welt. Eigentlich verfügte Ashby über genug mathematisch-logisches Wissen, um sich darüber im Klaren zu sein, dass die neue Logik des Mechanismus keinen absoluten und widerspruchsfreien Rahmen garantiert, wie es Gödel und nach ihm Church und Turing bereits in den 1930er Jahren mathematisch-logisch bewiesen hatten. Dass er trotzdem an der Idee festhielt, immer komplexere, gehirnartige Systeme in Form von vernetzten Homöostaten zu bauen, obwohl das zwangsläufig zu analytisch (mathematisch) unlösbaren Problemen führt, lässt sich mit der von Evelyn Fox Keller identifizierten Funktion von Computersimulationen im biologischen Kontext begreifen, bei der es weniger um die Analyse natürlicher Systeme als vielmehr um die Synthese, ums Design neuer

 Vgl. Heidegger 1982, S. 131.  „The ‘logic of the mechanism’ or of mathematics, which has been developed, does not attempt to dogmatize about what the real world may or may not be; its aim is to provide an absolutely unambiguous and rigorous framework of concepts and theorems in which ideas about the real world may find their exact expression […]. Of outstanding importance are those systems with the characteristic that their next state is uniquely determined by their immediately preceding state. This postulate is true of the great majority of systems that are treated in physics, and it is slowly being made true for the systems studied in physiology and psychology. When it is true, a machine can then be defined as a system whose behavior corresponds to a mapping of M into M. This definition has this advantage: it directly relates the essentially behavioristic concept of ‘machinelike behavior’ to one of the fundamental concepts of mathematics. Once joined in this way, the concept can be related, as Bourbaki has shown, to the whole rigorous world of mathematics.“ (Ashby 1962, S. 457–458).  Vgl. Pickering 2010, S. 106.

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und „eindeutig realer Objekte“ geht.²⁵ Es geht (zumindest bei den Anfängen) der KI nicht darum, menschliche Gehirne zu verstehen oder nachzubauen, sondern darum, Intelligenz in maschinelle Systeme auszulagern und so zu optimieren. Es geht nicht um Wahrheit, sondern um Modellierbarkeit.²⁶ Was zählt, ist das funktionstüchtige Modell, das es dem System erlaubt, Information so weit zu reduzieren, zu ‚vergessen‘, dass es steuerbar wird. Was aber modelliert denn das Modell? Ashbys psychiatrischer Hintergrund beeinflusste seine Konzeption des Homöostaten von Anfang an. Die psychiatrische Tradition der 1940/50er Jahre fasste Geisteskrankheiten als ein Versagen des Gehirns auf, sich an seine Außenwelt anzupassen. Im Fall einer Manie etwa ging Ashby davon aus, dass es im Gehirn zu einem Informationsüberfluss gekommen war, während er eine Depression als Unfähigkeit des Gehirns, seine innere Strukturierung äußeren Anforderungen anzupassen, auffasste.²⁷ Der Homöostat funktionierte also genauso wie eine Elektroschocktherapie: Ein multistabiles System gewöhnt sich an wiederholte Störungen und spielt sich in einer Art Gleichgewicht ein – wobei Gleichgewicht eben für ein Gehirn kein wünschenswerter Zustand ist, denn das bedeutet Stagnation, das Gehirn hört auf zu reagieren. In Ashbys Modell muss das ‚kranke‘ weil statische Gehirn mittels Schock aus dem herrschenden Gleichgewicht gebracht werden, was bedeutet, dass es seinen vorherigen Zustand löscht/vergisst. Vor dem klinischen Hintergrund des kybernetischen Gehirndesigns wird deutlich, dass der Homöostat weder das Gehirn noch das Denken modelliert – wie sollte er auch, so ganz ohne Sprach- und Gedächtnisfunktionen – sondern die psychiatrischen Behandlungsmodelle der 1940/1950er Jahre. Aber das ist schnell in Vergessenheit geraten.

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 Vgl. Keller 2002, S. 212–213.  Vgl. Pickering 2010, S. 150.  Vgl. Ashby, The Applications of Cybernetics to Psychiatry (1954), S. 121.

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„[…] mit Klugheit läßt man Maschinen arbeiten, der Mensch wird mächtiger und geistiger.“ Über Friedrich Nietzsches Technikverständnis Abstract: „[…] with cleverness one lets machines work, the human being becomes more powerful and more spiritual“ – On Friedrich Nietzsche’s Concept of Technology. In the discussion on technology Nietzsche has often been interpreted either as a fatalist and nihilist thinker who emphasizes the superior force of technology over mankind, or scholars implemented Nietzsche’s concept of the overman as a utopian figure through which a postmodern and transhuman technological relation were to be established. Neither approach attempts to describe systematically what Nietzsche’s notion of technology could be. Beside many skeptical expressions about the technological condition in Nietzsche’s oeuvre, we also find several statements where Nietzsche speaks appreciative about the mechanization of society. In these declarations Nietzsche remarks: When technology is used in a reasonable way it realizes its potential in uplifting society to a greater level. In this regard it is to argue that Nietzsche understands the relation of human and technology neither as a purely disastrous relation nor as something mankind should entirely affirm. Nietzsche thoroughly criticizes the way society in its production under the condition of the division of labor treats technology as an end to subjugate the human being. Within the figure of Zarathustra however, Nietzsche advocates for collective, educational, and organizational practices wherein he sees the solution to recover a subject that is capable to use technology as reasonable mean to an end.

Friedrich Nietzsches Technikverständnis wurde bisher wegweisend von einem postmodernen Technikdiskurs herausgearbeitet, welcher Nietzsche entweder einen pessimistischen Technikfatalismus überschrieb oder in die Figur des Übermenschen einen transhumanistischen Technikoptimismus hineinprojizierte. In Anlehnung an Martin Heideggers Nietzsche-Interpretation stützt sich dieses Denken wesentlich auf ein – wie zu zeigen bleibt – konservatives Technikverständnis der Nachkriegszeit. Heidegger begründet einen unmissverständlichen Technikfatalismus, indem er die Technik als ein eigenmächtiges, sich jedweder subjekthaften Mittel-Zweck-Beziehung entziehendes Gestell begreift (vgl. Heidegger 2000, S. 5). https://doi.org/10.1515/9783111072890-014

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Diese Theoretisierung Heideggers speist sich unter anderem von Nietzsches kulturpessimistischen Analysen des ohnmächtigen Subjekts in der „machinale[n] Ökonomie“ (Heidegger 1997, S. 165; vgl. NL 1887, KSA 12, S. 460). Diesem gestellten Verhängnis sei nur mithilfe eines neuen Menschentums zu entkommen, welches Heidegger in Nietzsches Übermenschen begründet sieht (vgl. Heidegger 1997, S. 165– 166, 26–27). Sowohl die Deutung des technischen Weltzusammenhangs als auch die Erlösung aus diesem wird bei Heidegger mit Nietzsche begründet. Der postmoderne Technikdiskurs, etwa mit Hans-Martin Schönherrs Die Technik und die Schwäche. Ökologie nach Nietzsche, Heidegger und dem ‚schwachen Denken‘ (1989), knüpft erneut an beide Figuren – Nietzsche und Heidegger – an, wobei Nietzsche für ein Technikverständnis jenseits des aristotelischen Modells inauguriert wird. Da Nietzsche bereits das moderne Subjekt individueller Autonomie transzendiere, welches die Technik in Form einer Mittel-Zweck-Beziehung begreift, sei das technoökologische Denken mit Nietzsche fähig eine neue „postmetaphysische Ontologie“ (Schönherr 1989, S. 17) des Mit-Seins mit Anderen, mit Tieren, mit Objekten und insbesondere mit der Maschine als nicht mehr prothetisch-verstandene Beziehung zu vollziehen (vgl. Schönherr 1989, S. 214). Nun ist es so, dass die fatalistische Gestimmtheit eines ontogenetisch-ökologischen Technikverhältnisses der Postmoderne, wie es im ersten Teil herausgearbeitet wird, selbst von Nietzsche als ideologische Gottgläubigkeit gebrandmarkt wird (vgl. NL 1887, KSA 12, S. 457). Gegen eine Absicht der Auflösungstendenzen des modernen Subjekts gibt es bei Nietzsche gerade in Bezug auf die Maschine das Votum für eine rationale, aufgeklärte und autonome Mittel-Zweck-Beziehung zur Technik, was viel eher für eine ambivalente Technikdeutung bei Nietzsche spricht (vgl. NL 1885/1886, KSA 12, S. 41; NL 1883, KSA 10, S. 599). Es wäre also zwingend erforderlich, Nietzsches Technikverständnis erneut in systematischer Art und Weise zu untersuchen. In Rückkehr zu Nietzsche soll dahingehend nach der Bedeutung der Technik in Nietzsches Denken gefragt werden. Anders als die postmoderne Auslegung soll dieser Beitrag Nietzsche als einen Denker vorstellen, der, wenn er überhaupt von Technik spricht, einen Begriff entwickelt, der – dem aufgeklärten Denken erwachsend – für eine gebildete Autonomie des Subjekts in Bezug auf die Technik votiert. Gemessen an den lähmenden Verhältnissen einer Massenkultur, kann diese nur in kollektiven Organisations- und Bildungsprozessen vollzogen werden. Nietzsche argumentiert weder für eine bewusstlose Hingabe und Verschmelzung mit der Technik noch für eine finale Resignation vor ihrer vermeintlichen Übermacht. Er plädiert für einen zweckmäßigen Umgang mit dieser, der ein vernünftiges Subjekt imaginiert, welches sich die Technik als reflektierte und bewusste Mittel-ZweckBeziehung zur geistigen Erhöhung zunutze machen kann. Diese Fortführung der Aufklärung in Bezug auf die Subjekt-Maschine-Beziehung ist mit Nietzsche lediglich vor dem Hintergrund der gesellschaftlichen Befreiung des Subjekts denkbar.

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Um diese These zu veranschaulichen, sollen zunächst die Grundzüge eines postmodernen Technikfatalismus wie -optimismus dargelegt werden, der bis dato die Deutung von Nietzsches Technikverständnis enorm beeinflusst hat. Danach wird dementgegen versucht zu bestimmen, welche Ebenen Nietzsches doch sehr begrenzter Technikbegriff umfasst. Zuletzt soll Nietzsches pessimistische Einstellung gegenüber der Technik auf die Frage hin gedeutet werden, wie letztlich eine Befreiung zu einem vernünftigen, das heißt emanzipatorischen Umgang mit der Technik gelingen kann.

1 Das Zeitalter des postmodernen Technikdiskurses Wir müssen die epochale Rede vom Zeitalter der Technik, wie sie sich für uns heute darstellt, in die Nachkriegszeit datieren (vgl.Voller 2012, S. 249).¹ Dort erhebt sich ein fatalistisch gestimmter Konservativismus, der die globale Rolle der Technik zu deuten versuchte. Stellvertretend dafür kann die Vortragsreihe Die Künste im Technischen Zeitalter (1953) an der TU München gelten, bei der laut August Rucker (1956), dem Organisator der Reihe, geklärt werden sollte: „[o]b die gegenwärtige Entwicklung [der technischen Überformung der Welt], die zwar unabwendbar ist, nicht doch lenkbar sei“ (Rucker 1956, S. 9–10; zit. nach Voller 2012, S. 255). Mit Spenglers Rede von der ‚Spätblüte der Kultur‘ und ihrem nahenden Untergang im Gepäck einigen sich die dort vertretenden Vortragenden Romano Guardini, Friedrich Georg Jünger und Martin Heidegger in ihrer pessimistischen Grundstimmung. Sie warnen vor der ausgewiesenen Gefahr der Technik, dem Verlust des Geistigen in der Kunst, der sich durch einen eigenmächtigen, unaufhaltsamen Willen zur Herrschaft der Technik über den Menschen und die Natur artikuliere, wie Christian Voller herausstellt (vgl. Voller 2012, S. 255–259). In Demut müsse mit Heidegger das unabwendbare Geschick der Technik als Gestell, das kein Mensch zu meistern vermöge, lichtend geschaut werden (vgl. Heidegger 2000, S. 34–35). In diesen für das heutige Technikverständnis überaus prägenden Positionen lässt sich ein grundlegender Fatalismus erkennen, der der Technik einen agitationistischen Geist einflößt und ihr so eine anonyme Autorität und unter Nietzsches Schirmherrschaft einen subjektiven Willen zur Macht attestiert (vgl. auch Blätter 2016, S. 60–70). In den

 Im Folgenden wird sich auf die Ausführungen von Christian Voller (2012) zum konservativen Technikverständnis der Nachkriegszeit in seinem Aufsatz „Im Zeitalter der Technik? Technikfetisch und Postfaschismus“ bezogen, der darin die These zum Technikfetischismus der Nachkriegszeit maßgebend entfaltet.

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Worten Heideggers ließe sich dieses Verhängnis der Technik nur im Übermenschen transzendieren: Es genügt nicht, daß man Panzerwagen, Flugzeuge und Nachrichtengeräte besitzt […] es genügt nicht einmal, daß der Mensch die Technik nur beherrscht, als sei diese etwas an sich Gleichgültiges jenseits von Nutzen und Schaden […]. Es bedarf eines Menschentums, das von Grund aus dem einzigartigen Grundwesen der neuzeitlichen Technik und ihrer metaphysischen Wahrheit gemäß ist, d. h. vom Wesen der Technik sich ganz beherrschen läßt, um so gerade selbst die einzelnen technischen Vorgänge und Möglichkeiten zu lenken und zu nützen. Der unbedingten ‚machinalen Ökonomie‘ ist im Sinne der Metaphysik Nietzsches nur der Übermensch gemäß, und umgekehrt: dieser bedarf jener zur Einrichtung der unbedingten Herrschaft über die Erde. (Heidegger 1997, S. 165–166)

Die metaphysische Überwindung der Technik im Übermenschen und der darin aufgehobene Mystizismus einer nahezu unüberwindlichen, fremden Macht jener, dessen Vokabular sich übrigens auch Karl Marx bediente, wenn er von „dämonischen“ Kräften der Maschine und dem Menschen als „lebendiges Anhängsel“ (Marx 1971, S. 402) an dieselbe spricht, muss schließlich mit Marx aber als eine fetischistische Auffassung der Technik gelten, wie Voller argumentiert (vgl.Voller 2012, S. 251– 254). In Wirklichkeit agiert, so Marx, nicht die gegenständliche Gestalt der Technik selbst als Triebkraft der unaufhaltsam fortschreitenden Technologisierung, vielmehr sind es die menschengemachten Produktionsverhältnisse, die entwickelten Produktivkräfte, die rationale Optimierung der Produktionssphäre und die Ausbeutung der Lohnarbeit, dessen produktivstes Mittel die Entwicklung von Maschinen zur Kürzung der lebendigen Arbeit ist, die die technische Entwicklung vorantreiben. Unterm Strich bleibt der mystische Motor der Technik das Kapitalverhältnis. Nicht „die Maschinerie an sich“ waltet als eigenmächtiges Gestell, vielmehr resultiert das „Wesen der Technik […] aus der Form, in der sie angewendet wird“ (Voller 2012, S. 252; vgl. Heidegger 2000, S. 28). Demgemäß sind die konservativen Positionen, die von einer sich selbst erzeugenden Technik sprechen, damit die kapitalistische, und menschengemachte Triebkraft dahinter verkehren, mit Voller als Technikfetischismus zu bezeichnen, der hinter das aufgeklärte Denken zurückfällt und eine erneute Verzauberung der Welt bemüht. Heute setzt sich dieser Technikfetischismus im postmodernen Denken in Anschluss an Heidegger und Nietzsche fort. Schönherr spricht unentwegt vom sich auflösenden Subjekt, was vom „technisch-wissenschaftlichen System ergriffen und festgestellt“ (Schönherr 1989, S. 208) ist, vom „Geist der Maschinen, die uns antreiben“, wo „nur ein Prozeß waltet und kein Individuum“ (Schönherr 1989, S. 230), sodass „wir einsehen müssen, dass nicht mehr wir die Geschichte gestalten, sondern

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ein verselbständiger technischer Fortschritt“ (Schönherr 1989, S. 243).² Mit Nietzsche sei vor diesem unaufhaltsamen Schicksal das Projekt der Aufklärung im Namen des Übermenschen aufzugeben, der nicht mehr als „Subjekt gedacht werden kann“ (Schönherr 1989, S. 194). Der technisch-instrumentelle Gewaltzusammenhang der Vernunft sei nicht mehr zu hintergehen. Autonomes Handeln sei nicht mehr vorstellbar und so läute der Übermensch ein posthumanes Zeitalter ein (vgl. Schönherr 1989, S. 195). Der Übermensch müsse eine Lichtung finden, um von dort den durch technischen Kalkül verstellten Zugang zu den Dingen zu entbergen; das Wesen der Technik zu schauen und ihre Wirkungen zu verwinden (vgl. Schönherr 1989, S. 235). Befreundete technoökologische Positionen wie die von Gilles Deleuze und Félix Guattari (1992; 1995) teilen diese Übermacht der Technik, wollen sie aber nicht schauen, sondern sich an die gigantische Maschine mit ihrer Qualität zur Desubjektivierung anschließen, bis sie sich selbst zerstört³, was heute in linken wie rechten akzelerationistischen Theoretisierungen nachklingt (vgl. Deleuze/Guattari 1992, S. 7; und vgl. Mackay/Avanessian 2015, S. 14). Eine andere Spielart dieser Argumentation wäre ein Transhumanismus, der den Menschen als Teil des perfekt funktionierenden, maschinischen Komplexes in cyborghafter Synergie mit der Technik mittels Übermenschen auf eine neue Stufe stellen will (vgl. Schmaus 2016, S. 206–208). Sowohl der verhängnisvolle, dezidiert moderne und technische Weltzusammenhang sowie die unbedingte Hineingabe in diesen als auch die konservative Ablehnung derselben sind bei Heideggers Technikbegriff angelegt, der immer wieder auf Nietzsche referiert. Die postmoderne Spielart derselben zeigt sich entweder in einem Technikfatalismus, einem Technikoptimismus oder in der beidseitigen Verschränkung derselben, die jedwede vernünftige Mittel-Zweck-Beziehung des Subjekts zur Technik an ihr Ende gekommen sehen und sich in die eigenmächtige Technik hineingeben wollen, um sich schließlich von dieser zu befreien. Die ökonomischen Voraussetzungen und die historische Gestalt der Technik werden darin verkannt.

 Weiter spricht Schönherr vom „Ende“ und notwendigen „Verfall“ des Menschen durch den „brutalen Technizismus“ (Schönherr 1989, S. 204).  In Anti-Ödipus (1992) wird das Anschlussbegehren, das Verschmelzenwollen der Autoren mit der Technik folgendermaßen deutlich: „Nicht mehr geht es darum, Mensch und Maschine zu konfrontieren, um darin die möglichen oder unmöglichen Korrespondenzen, Verlängerungen und Ersetzungen des einen oder anderen einzuschätzen, vielmehr darum, beide zu verbinden und zu zeigen, wie der Mensch mit der Maschine, oder wie er mit anderen Dingen zu einem Stü ck (einer Einheit) wird, um so eine Maschine zu konstituieren.“ (Deleuze/Guattari 1995, S. 498) Bei Deleuze und Guattari ist es die Metapher der Anschlussfähigkeit und Verknüpfbarkeit des Maschinischen, welche im Zentrum ihres Technikverhältnisses stehen. Nach Katrin Weiden (2017) betreiben sie eine medial zu verstehende Ökologie des Und, „durch welche neue vitale Kräfte des Gesellschaftlichen und Sozialen freigesetzt werden.“ (Weiden 2016, S. 22)

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Unter der erzwungenen Schirmherrschaft Nietzsches überantwortet sich das technoökologische Denken einer eigenmächtigen – gar göttlichen – Technik mit unheimlichen Eigenleben. Nietzsche selbst ahnte schon, welche neuen Götzen kommen würden, wenn er schreibt: „Selbst noch der F a t a l i s m , unsere jetzige Form der philosophischen Sensibilität, ist eine Folge jenes l ä n g s t e n Glaubens an göttliche Fügung, eine unbewußte Folge: nämlich als ob es eben nicht auf u n s ankomme, wie Alles geht […]“ (NL 1887, KSA 12, S. 457). Im Folgenden soll daher Nietzsches anti-fatalistische und aufgeklärte Grundhaltung als Kontrastfolie zum öko-technischen Diskurs in Bezug auf sein Technikverständnis herausgearbeitet werden, denn so Horkheimer: „Wenn man sich nicht gegen die Veränderung auf Invarianten berufen kann“, etwa in Form neuer Ontologien oder Ökologien, „dann ist in der Tat Nietzsches Philosophie nicht nur konservativ“, im Sinne von gegen bestimmte moderne Phänomene gerichtet, „dann will Nietzsche auch die soziale Veränderung“ (Horkheimer 1989, S. 119). Vor diesem Hintergrund soll daher Nietzsches Technikverständnis erneut befragt werden.

2 Nietzsches philosophische Ortsbestimmungen der Technik Wie Ernst Oldemeyer (2019) zurecht bemerkt, ist das, was wir heute unter dem Begriff Technik subsumieren, bei Nietzsche nicht als Gesamterscheinung zum Problem geworden (Oldemeyer 2019, S. 20). Dennoch finden sich in Nietzsches Werk nicht wenige philosophische Ortsbestimmungen zum „M a s c h i n e n - Z e i t a l t e r “ (MA II, KSA 2, S. 674). Nietzsche geht es vornehmlich um das technische Erkenntnisinteresse der neuzeitlichen Naturwissenschaften und ihre Disposition zu einem einseitigen Herrschaftswissen. Techne wird hier im Sinne Platons in Zusammenhang mit der Episteme verstanden.⁴ Damit einhergehend geht es Nietzsche, medientheoretisch spezifiziert, um die materielle Voraussetzung des Wissens der neu aufkommenden Massen-Medien und ihrem technischen Gerät, etwa der Druckerpresse, die als technifiziertes Wissen die Masse halbbildet (vgl. Reschke 2009, S. 22). Damit eng verknüpft skizziert Nietzsche bestimmte gesellschaftliche Auswirkungen der Maschinalisierung in Bezug auf die Transformation der menschlichen Arbeit.

 Nach Platon beruht jede Techne – im Gorgias verstanden als Rhetorik und Überredungstechnik des Wissens – auf der Episteme. Dieses Wissen richtet sich am Gegenstand aus, mit dem sie in Form von Techne zu tun hat. Daraus ergibt sich bei der platonischen Techne ein intentionales Verhältnis zu ihrem Gegenstand. Bei Platon wäre allerdings nicht nur die Rhetorik im Sinne der Techne gefasst, sondern allgemeiner die gesamte Wissenschaft (vgl. Platon 2014, 459b, S. 36; 74).

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Dabei wird die ökonomische Überformung der Technik nicht von der Technik als Episteme abgesondert, sondern immer verschränkt betrachtet, wie im Folgenden gezeigt werden soll. Nietzsche diagnostiziert seiner Zeit eine eigentümliche, „historische Krankheit“ (HL, KSA 1, S. 329). Diese Krankheit tritt in Form einer gesellschaftlichen Pathologie auf. Sie ist Folge eines „Jahrhunderts der Masse“ (NW, KSA 6, S. 428), welches selbst nur als Resultat einer „M a s c h i n e n - C u l t u r “ (MA II, KSA 2, S. 653) oder „industriellen Cultur“ (FW, KSA 3, S. 407) begriffen werden kann, in der „[d]ie Fabrik herrscht“ und der Mensch zur Schraube wird (NL 1871, KSA 7, S. 298). Mit diesen Äußerungen kommt Nietzsche auf die immensen materiell-technischen und damit eng verbundenen epistemischen Transformationen des 19. Jahrhunderts zu sprechen. Die massentaugliche Drucker-Presse, die Schreibmaschine, die Eisenbahn, der Telegraph, all diese „P r ä m i s s e n d e s M a s c h i n e n - Z e i t a l t e r s “ (MA II, KSA 2, S. 674) erzeugen eine arbeitsteilige Massenkultur mit „Jedermanns-Weisheit“ (HL, KSA 1, S. 292), die für Nietzsche nicht bloß den zu bildenden Pöbel krank macht, sondern der auch die Wissenschaft erliegt. Die Presse und ihre menschliche Inkarnation im Journalistentum, aber auch die verdinglichte Vernunft der positivistischen Wissenschaft erzeugen für Nietzsche eine konstitutive Geschichtsvergessenheit, die sich durch eine Überfülle an zusammenhangslosen Fakten und der „Entgrenzung der geschichtlichen Horizonte“ ins universell-beliebige auszeichnet, wie Renate Reschke herausstellt (Reschke 2009, S. 28). Der moderne Mensch des 19. Jahrhunderts werde, so Nietzsche, mit einer „ungeheure[n] Menge“ an „unverdaulichen Wissenssteinen“ (HL, KSA 1, S. 272) konfrontiert, die keine aktive historische Haltung zur Gegenwart mehr ermöglichen, sondern in einem kranken Halbbewusstsein münden. Der Massen-Mensch sei nur noch Ohr, nur noch Auge (vgl. BA, KSA 1, S. 740). Die mediale Vermittlung von Informationen durch die Presse, wissenschaftliche Fachzeitschriften, Unterhaltungsliteratur usw. verursache diesen Verfall der Bildung und die damit einhergehenden Desubjektivierung, indem das Subjekt „vom Augenblick beherrscht“ wird (NL 1873, KSA 7, S. 741) und alles Wissen zur Nachricht, zur Information und zum einmaligen Erlebnis verkommt (vgl. Reschke 2009, S. 30). Der moderne Mensch – zum „flüchtigen Spaziergänger in der Historie“ (HL, KSA 1, S. 327) degradiert – verliert den zuletzt durch die Aufklärung erworbenen Subjektstatus in diesem Prozess. Die technischen Innovationen (Druckerpresse), das meint die Möglichkeit zur Belieferung der Massen mit halbgaren Informationen, aber auch die fortgeschrittene Arbeitsteilung in Bildung und Betrieb, veranlasse die Maschinisierung des menschlichen Bewusstseins (vgl. BA, KSA 1, S. 670). Ohne wirklichen Sinn ausgestattet, krank von der Überlieferung entgrenzter historischer Tatsachen könne der Mensch sich für Nietzsche zur Information nicht mehr verhalten. Diese Taubheit

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wirkt im Bildungswesen fort, dass sich jetzt zur Aufgabe macht „[a]us dem Menschen [selbst] eine Maschine zu machen“ (GD, KSA 6, S. 129). Das Vorbild dafür ist nicht etwa der halbgebildete Journalist, sondern der ehrwürdige „Philolog“, der mit dem „Begriff der Pflicht“ (GD, KSA 6, S. 129) Ochsen lehrt und „M a s c h i n e n -T u g e n d e n“ (NL, KSA 12, S. 459) hervorbringt. Die „allgemeinste Wirkung“ der Maschine ist es „Centralisation zu lehren“ (WS, KSA 2, S. 653). Die gleichmachende zentralisierte Bildungmaschine kann daher nicht mehr, wie Theodor W. Adorno (2003) in seinem Halbbildungsaufsatz anmerkt, den Widerstand gegen den „Druck der hinfälligen, von Menschen gemachten Ordnung“ artikulieren, was aber Bildung stets ihrem Ideal nach anstrebte (Adorno 2003, S. 96). Im Verlust des historischen Bewusstseins und der maschinellen Vereinzelung vergeht auch die bildungsstiftende Identifikation, „woran der Verstand“ (Adorno 2003, S. 104) sich hätte bilden können. Bildung wird konsumierbares Produkt. Mit Nietzsche erzeugt die kranke historische Bildung nur noch partikulare „Denk-, Schreib- und Redemaschinen“ (HL, KSA 1, S. 282). In diesem arbeitsteiligen Prozess fügt sich der halbgebildete, atomisierte Mensch dem Zwang der Maschinerie, die er nicht mehr überblickt (vgl. NL 1887, KSA 12, S. 462–465). Die Masse ist das vom Bildungssystem integrierte, zur Maschinen-Tugend erzogene Proletariat. Dies verweist auf die zweite, damit eng verbundene ökonomische Dimension des technischen Zeitalters, die Nietzsche davon nicht abgesondert begreift: die Auswirkung der Maschinalisierung auf die menschliche Arbeit und der darin aufgehobenen Verunmöglichung der menschlichen Bildung. In der industriellen Kultur hat sich für Nietzsche der „versklavende Charakter der Lohnarbeit verschärft“ (Oldemeyer 2019, S. 23). Eigentlich bedeute die Entwicklung der Maschine eine fortschrittliche Leistung des menschlichen Geistes, wie Nietzsche konstatiert: „[M]it Klugheit läßt man Maschinen arbeiten, der Mensch wird m ä c h t i g e r u n d g e i s t i g e r “ (NL 1885/1886, KSA 12, S. 41). Sofern man aber dazu tendiert, die Arbeitenden bewusstlos an die Maschine anzuschließen, erschafft man einen gegenteiligen Zweck des „unpersönlichen Sclaventhums“ (WS, KSA 2, S. 683) und zur gleichen Zeit eine „Fabrikanten-Vulgarität“ (FW, KSA 3, S. 408) auf Seiten der Bourgeoisie. Aus vielen Arbeitenden entsteht „eine Maschine und aus jedem einzelnen ein Werkzeug zu einem Zwecke“ (WS, KSA 2, S. 653). Die Arbeitsteilung der geistigen und materiellen Arbeit wird durch diesen Prozess forciert: „[d]ie Maschine, selber ein Erzeugniss der höchsten Denkkraft, setzt bei den Personen, welche sie bedienen, fast nur die niederen gedankenlosen Kräfte in Bewegung“ (WS, KSA 2, S. 653). Die „Fabrik-Sclaverei“ (FW, KSA 3, S. 183), die „machinale Tätigkeit“ und ihre absolute „Regularität“ (GM, KSA 5, S. 382) erzeugen ausbeutende Entfremdung, die Nietzsche in ihren Symptomen der Instrumentalisierung der Vernunft und der „Langeweile der Seele“ (WS, KSA 2, S. 653) klassenspezifisch charakterisiert.

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Nietzsche erkennt demgemäß und dies kongruent zum jungen Marx die Transformationsprozesse der menschlichen, psychosozialen Konstitution, die durch eine Veränderung in den Produktionsprozessen freigesetzt werden: „harte“ Arbeit von „früh bis spät“, die zum „Nachdenken, Grübeln, Träumen, Sorgen, Lieben, Hassen“ zu wenig Raum lässt (M, KSA 3, S. 154). Die ideologische Verklärung dieser Halbbildung und Maschinisierung der Arbeit übt die Bourgeoisie in ihrer „Verherrlichung“ derselben aus, die dazu dient, die arbeitende Klasse „im Zaume“ zu halten (M, KSA 3, S. 154). Wir dürfen also bei Nietzsche von einer zunehmenden Maschinisierung der gesellschaftlichen Arbeit sprechen, die ihre Zweckmäßigkeit, nämlich den Menschen zu einem geistigen und höheren Wesen zu machen, umkehrt und die Maschinisierung der Episteme als „technologische Sinnverschiebung“ (Hörl 2011, S. 11) herbeiführt. So vollziehen die sozioökonomischen materiellen Umwälzungsprozesse hin zur industriellen Kultur neue Formen der Arbeit und, damit verschränkt, im Nachgang neue kulturelle Bildungsformen, die den menschlichen Geist maschinisieren. Nietzsches Technikbegriff ist demnach auf doppelte Weise an den Begriff der Episteme gebunden. Die maschinale Tätigkeit wird ihrer Form nach kritisiert, die durch epistemische Auswirkungen der gesellschaftlichen Organisation, welche vornehmlich die arbeitenden Klassen betreffen, zu degenerativen Effekten der Halbbildung führen. Diese desubjektivierenden Effekte verunmöglichen einen vernünftigen, das heißt bewussten Gebrauch der Technik, welcher wünschenswert wäre. Nicht die Technik an sich ist für Nietzsche ein Verhängnis, sondern die Form ihrer gesellschaftlichen Anwendung. Die Frage der Technik wird demnach bei Nietzsche unter die Frage der gesellschaftlichen Produktion und der gesellschaftlichen Distribution von Episteme subsumiert.

3 Emanzipation als Voraussetzung für die vernünftige Zwecksetzung der Technik Wie kann nun die bewusste und wirklich aufgeklärte Beziehung des Menschen zur Technik als Zweck der Selbstermächtigung des Subjekts, als Zweck zum höheren Geiste realisiert werden? Votiert Nietzsche, wie Heidegger annimmt, für eine Überwindung des Menschen und seiner modernen Konstitution? Nietzsche verfällt den desaströsen Folgen einer Ökonomie gemäß, die „[…] die Absicht auf möglichste Ausnutzung von Individual-Kraft gegen die Verschwendung alles Ausnahmsweisen“ (NL 1887, KSA 12, S. 458) produziert, in keine Resignation. Vielmehr hält er der Technik seine Vorstellungen von einer strengen, selbstschaffenden, fröhlichen Wissenschaft entgegen, die sich gegen die „Bildungsmaschine“

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(BA, KSA 1, S. 740) – wo „ein Fachgelehrter“ dem „Fabrikarbeiter“ (BA, KSA 1, S. 670) ähnelt – richtet. Anstelle der von der Bildungsmaschine produzierten, „unaufhaltsam rollende[n] Maschine im Kopfe“ (FW, KSA 3, S. 378) muss, für Nietzsche, die fröhliche Wissenschaft etabliert werden, die dem „Chaos so viel Regularität und Formen auferlegen, als es [dem] praktischen Bedürfniß genug thut“ (NL 1888, KSA 13, S. 333; vgl. Zittel 2015, S. 52–53). Nietzsche hat keine Abdankung des Subjekts vor dieser Übermacht der bildenden Technik im Sinn, sondern im Gegenteil ein Hoch auf die Physik: Wir aber w o l l e n D i e w e r d e n , d i e w i r s i n d , – die Neuen, die Einmaligen, […] die Sichselber-Gesetzgebenden, die Sich-selber-Schaffenden! Und dazu mü ssen wir die besten Lerner und Entdecker alles Gesetzlichen und Nothwendigen in der Welt werden: wir mü ssen P h y s i k e r sein, um, in jenem Sinne, S c h ö p f e r sein zu können […]. (FW, KSA 3, S. 563–564)

In Anbetracht der fatalen gesellschaftlichen Lage des ökonomischen Zwangs, die Nietzsche selbst diagnostiziert hat, klingt dieser Versuch einer wissenschaftlichselbstschaffenden Bildung naiv. Auf den ersten Blick fehlt diesem Entwurf das dialektische Salz. Folgen wir dem jungen Horkheimer, so: „[…] prägt er [Nietzsche] den Massen ein, dass nur Furcht sie abhält den Apparat zu brechen“ (Horkheimer 1934, S. 248). Doch können wir annehmen, dass Nietzsche vor dem Hintergrund seiner kritischen Analyse und Negation dieser sozial-technischen Pathologie so einfältig war? Rät Nietzsche den ohnmächtigen Massen, deren Leid er sieht, ungeachtet der sozialen Bedingungen zur individuellen Selbstüberwindung? Vielleicht. Oder ließe sich annehmen, dass „die vollendete Negativität einmal ganz ins Auge gefasst“, sich nicht „zur Spiegelschrift ihres Gegenteils“ zusammenschließt, wie es in der Dialektik der Aufklärung heißt (Horkheimer/Adorno 2010, S. 127)? In Nietzsches Zarathustra lässt sich eine andere Deutungsmöglichkeit in Bezug auf den Ausgang der Frage nach der ohnmächtig machenden Technik vornehmen. In Anbetracht der „A u s b e u t u n g d e s M e n s c h e n“ durch die Maschinerie hätte die Menschheit ein neues „‚Wozu‘“ (NL 1887, KSA 12, S. 463) nötig, welches im Stande wäre die Frage des Umgangs mit der Technik zu synthetisieren. Gegen den maschinisierten letzten Menschen zeichnet Zarathustra den befreiten Übermenschen, der nicht einfach die individuelle Selbstüberwindung verkörpert und so auch nicht der realen Ohnmacht der maschinisierten Massen eine archaische Selbstwerdung auftischt. Nietzsche geht es im Zarathustra um die gesamtgesellschaftliche Befreiung vom modernen Leid, das durch (fröhliche) Bildungsprozesse ergo durch die Organisation von Selbstbewusstsein auf der Ebene des Kollektivsubjekts sich formiert und sich so an ein emanzipatorisches Selbst richtet. Der befreite Mensch ist jener, welcher in seinem Dasein erst die Gesamtgesellschaft rechtfertigt. Nietzsche geht es darum zu erweisen, dass es zu einem „immer ökonomischeren Verbrauch

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von Mensch und Menschheit“ kommt, dies nennt er in den Nachgelassenen Fragmenten eine „immer fester in einander verschlungene[ ] ,Maschinerie‘“ (NL 1887, KSA 12, S. 462). Diese Entwicklung verlange eine „G e g e n b e w e g u n g “ (NL 1887, KSA 12, S. 462), die die doppelten Bildungsprozesse im Sinne von Gemeinschaftsbildung (Selbstschaffung) und wissenschaftlicher Gesetzgebung (Bildung der Episteme) aus dem Hoch der Physik synthetisiert. Erst wenn die Krankheit des letzten Menschen kollektiv besiegt ist, stellt sich ein Gattungs-Subjekt der freien und bewussten Lebenstätigkeit ein. Dann erst kann ein vernünftiges Verhältnis zur Technik/Maschine folgen. Daher sucht Zarathustra Gefährten, Freunde und Mitschaffende, die den gemeinsamen Bildungsprozess in der Praxis vollziehen wollen: „Gefährten […] und Miterntende [sucht Zarathustra]: denn Alles steht bei ihm reif zur Ernte. Aber ihm fehlen die hundert Sicheln […]. Gefährten [sucht Zarathustra] und solche, die ihre Sicheln zu wetzen wissen“ (Za I, KSA 4, S. 26). Wird hier noch an das isolierte, sich selbst überwindende Subjekt appelliert? Die materiellen Verhältnisse werden im Symbol der Sichel gebündelt, die sich im Übermenschen als Prinzip Hoffnung und revolutionäre Umgestaltungsfigur hin zu „einer höheren Gemeinsamkeit“, in der der „Sclave ein freier Mann“ ist (GT, KSA 1, S. 29–30), wie es noch in der Geburt der Tragödie heißt, entladen. Diese „Brücke in die Zukunft wird nicht von Einsamen geschlagen“, wie Horkheimer es Nietzsche vorgehalten hatte, sondern eben doch durch „organisierte Anstrengung“ (Horkheimer 1972, S. 216). Der Übermensch, so kann wiederum gegen Horkheimer eingewendet werden, bündelt diese organisierte Hoffnung auf eine wirklich freie Gesellschaft der Selbst-Bildung und nicht auf eine nur bedingt freie Gesellschaft der formalen Gleichheit und halbgebildeten Masse. Wie Annemarie Pieper (2010) schreibt, ist der Übermensch das Subjekt, „das nach einem Selbstmissverständnis zu sich selbst kommt und wahrhaft als Mensch existiert“ (Pieper 2010, S. 61). Dies gelingt auch für Nietzsche nur, wenn der Mensch sich als Mensch durch seine Gattung hindurch realisiert und nicht durch das heroische Einzelwesen. Technik bleibt demzufolge bei Nietzsche immer an die Episteme gebunden. In der kritischen Analyse der industriellen Kultur spitzt sich die durch Maschine und Arbeitsprozess vermittelte Verkümmerung der Episteme durch die Techne zu. Die Antwort auf diesen degenerativen Effekt der Technik formuliert Nietzsche, anders als von Heidegger und nachfolgend angenommen, nicht in der Überwindung der Mittel-Zweck-Beziehung von Subjekt und Technik überhaupt, sondern in der Realisierung einer bewussten Herrschaft über die Technik, die den Menschen insgesamt auf eine höhere Stufe stellt. Dies kann für Nietzsche nur in einem gemeinsamen Bildungsprozess vollzogen werden, der sich die verkümmerte Episteme durch Techniken der Selbstgesetzgebung aneignet. Kollektiv müssen diese Organisationsprozesse vollzogen werden, da die Krankheit der Episteme selbst gesellschaftlich bedingt ist. Nietzsches Zarathustra ist eine Figur, die das individualisierte und

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entfremdete Subjekt des Staates, des Mitleids, letztlich das an die Maschine angeschlossen Subjekt der Technologisierung in eine neue kollektiv-subjektive Praxis übermenschlicher Subjektivität überführen will.⁵ Technik ist erst dann in einem vernünftigen, das heißt emanzipatorischen Sinne zu gebrauchen, wenn sich der Mensch nicht mehr halbbewusst an sie anschließen lässt, sondern sie gesamtgesellschaftlich im Sinne von wirklich aufgeklärt, zweckmäßig zum höheren Geiste gebraucht. Dafür muss er für eine „Umgestaltung der Maschine in’s Schöne“ sich organisieren und „[m]ehr Maschinen“ (NL 1883, KSA 10, S. 599) über die bestehenden Verhältnisse hinaus fordern.

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 Dabei trägt Nietzsche dem Hegel’schen Gedanken des Volkssubjekt und dem Wagnerischen Pendant des Gemeinschaftsgeists praxeologisch Rechnung, indem er das Individuum nicht bloß als Individuelles begreift, sondern als gesellschaftliches Subjekt, was immer in Bezug zum Anderen konstituiert ist (vgl. Zhavoronkov 2018, S. 346–348). Dieses Subjekt bleibt wesentlich an das Bildungsideal der Aufklärung gebunden. Das Subjekt der Aufklärung wird von Nietzsche nur insofern weitergeführt, als dass es Bildung in ‚Gemeinsamkeit‘ – das heißt organisiert – vollziehen muss und nicht im Einzelnen. Auch wenn ein Vergleich mit Marx hier naheliegt, kann dieser nicht aufgehen, da Nietzsche keinesfalls die ökonomischen Bedingungen der Halbbildung im Kapitalverhältnis durchdringt, sondern vielmehr auf eine degenerierte Kultur zu sprechen kommt.

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Nietzsche als Medium

Knut Ebeling

„Medium übermächtiger Gewalten“: Nietzsche und die Autotheorie Abstract: „Medium of Overpowering Forces“. Nietzsche and the Auto-Theory. This article discusses Nietzsche’s Ecce Homo as the beginning and medium of the discourse of auto-theory, which today is mainly represented by feminist theorists. By employing and adapting historical media such as the dynamometer, Nietzsche comes to use himself as an instrument of his own philosophy. Until Ecce Homo, an autotheoretical dynamic increases, which no longer differentiates between theory and autobiography and in this way inscribes a fictitious I into the then autofictional work. Interpreted as a gesture of self-empowerment, Nietzsche’s autofictional writing subverts both patriarchal and Western gestures of domination, which both postcolonial and feminist discourses pick up on today. One example is Luce Irigaray’s Amante Marine (1980), which adapts Nietzsche as the medium and muse of a feminist materialist philosophizing. Based on Pierre Klossowski’s and Georges Bataille’s readings, the ego is no longer interpreted as a transcendent „medium of overpowering forces“ (Nietzsche), but mediality is folded back to the immanent writing of the autotheoretical ego.

1 Prolog Irgendwann während der Vorbereitung auf diese Konferenz träume ich, ich sei für ein Referat zur Autotheorie Nietzsches eingesprungen, parke überhastet mit einem Auto in eine Parklücke ein und… viel mehr erinnere ich nicht von dem Traum, außer das Wort „eingesprungen“. Eingesprungen, denke ich später, das passt zu einem Referat über Nietzsches Auto-Theorie, wobei die Autotheorie zusammen mit dem Einparken nicht an die Führerscheinprüfung erinnern soll (auch wenn sich die ersten zigtausend Google-Einträge zur Autotheorie um dieses Thema drehen). Die Autotheorie ist ein neues Genre in (feministischer) Theorie und Literatur – wo man eher von Autofiktion spricht –, in dem es um das Schreiben des sowie um Zugänge zum Selbst geht (Fournier 2021). Und die Autotheorie ist ein aktuelles Genre, das dringend eine Geschichte, eine Tradition benötigt – womit man bei Nietzsche und dem Ecce Homo wäre, dieser autofiktionalen Programmschrift avant la lettre, dieser „Schrift übers eigene Schreiben“ (Kittler 2000, S. 76), von der man ständig den Eindruck hat, Nietzsche wäre für sich selbst eingesprungen, als Interpret, Agent und

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Vertreter seiner eigenen Theorie, die von ihm verdoppelt, souffliert und eigenmächtig interpretiert wird.

2 Die autobiographische Wende der Theorie Während die hinlänglich diskutierte Autofiktion ein Genre ist, in dem der Zugang zum Selbst mit literarischen Medien vollzogen wird, ist es in der Autotheorie entsprechend die Theorie, die zum Medium des Selbst wird. Deswegen wird in der Autotheorie das schreibende Ich nicht verborgen oder verschleiert, wie im Großteil der Theoriegeschichte, sondern drängt sich umgekehrt wie bei Nietzsche in den Vordergrund: Das Ich wird zum Material einer Theorie, die im Gegenzug zu einer Form des Werdens tendiert, die das Ich mit verhandelt. Weil das autofiktionale Ich fortwährend wird, weil es ständig zum anderen wird, ist die Autofiktion auch nicht als ‚Rückkehr zum Ich‘ zu verstehen, was nach den Diskursen über den ‚Tod des Autors‘ nahe läge; eher ist sie eine sowohl fiktionale als auch theoretische Erforschung des Selbst, das derzeit so intensiv durchleuchtet wird, dass man von einer „autobiographischen Wende der Theorie“ (Thomä et al. 2015, S. 13) sprechen könnte. Eine tatsächliche „Wende“ bedeutet es vor dem Hintergrund der Ichabstinenz der Theorie- und vor allem der Philosophiegeschichte: Es gibt eine Ausschlussgeschichte des Egos aus der Philosophie, die nicht erst mit dem Motto des berühmtesten Werks der modernen Philosophie, der Kritik der reinen Vernunft einsetzt, in der Kant sich von Francis Bacon das Motto leiht: De nobis ipsis silemus (Von uns selbst schweigen wir)¹ – eine Geschichte, die auch nicht mit Hegels gespiegeltem Statement endet: „Was in meinen Bü chern von mir ist, ist falsch!“ (Gutknecht 2002) Diese beiden Statements machen bereits deutlich, dass wenigstens die moderne, westliche Philosophie eine Disziplin ist, die unter dem normativen Ausschluss der Selbstschreibung zu sich selbst kam – mit unzähligen ebenso berühmten wie männlichen Ausnahmen wohlgemerkt, von Augustinus bis Montaigne, von Rousseau bis Kierkegaard und von Barthes bis Derrida. Die Autoren eines Bandes, der die Theorie als geheime Autobiographie betreibt, beschreiben das Un-Verhältnis zwischen Philosophie und Autobiographie folgendermaßen: Die meisten, die Theorie treiben, fassen das eigene Leben mit spitzen Fingern an und tun sich mit dem Reden und Schreiben darüber schwer.Viele Theoretiker reden gern über die Welt, wie sie ist, oder über das, was der Fall ist, aber ungern über sich. […] Sie sehen ihre Aufgabe darin, Allgemeingültiges zu sagen und Persönliches auszublenden. (Thomä et al. 2015, S. 7)

 Vgl. Thomä et al. 2015, S. 11, 373.

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Die Autoren sprechen gar von einem „Gesetz, das im Reich des Geistes über viele Jahrhunderte weithin gegolten hat: dass nämlich die Denker ihre Stimme erheben, jedoch nicht in eigener Sache sprechen, dass sie so tun sollten, als ginge es nicht um sie, als gäbe es sie eigentlich gar nicht.“ (Thomä et al. 2015, S. 9) Dieses heimliche Herausstehlen der Philosophie aus der Autobiographie wird jedoch durchkreuzt durch jenes autotheoretische „Misstrauen, dass man an sich vorbeiredet, wenn man große Worte macht, die angeblich die Welt bedeuten.“ (Thomä et al. 2015, S. 13) Zwischen philosophischer Selbstverfehlung und literarischer Selbst(er)findung überraschen die jüngsten Umarmungsgesten zwischen Philosophie und Autobiographie. In ihrem Zentrum steht, natürlich, Nietzsche, der mit seiner „Politik des Eigennamens“ (Derrida 2000) als einer der „Anstifter der autobiographischen Wende“ (Thomä et al. 2015, S. 13) gehandelt wird. Zu Recht: Wir kennen Nietzsche als Autor, der das Ich wenn nicht in die Philosophie eingeführt, so doch es jedenfalls groß herausgebracht hat, größer als alle vor und vielleicht auch nach ihm. Bei Nietzsche denkt man zuerst an die Person und dann an die Philosophie – und wenn uns Philosopheme in den Sinn kommen, so sind sie fast immer an die Person zurückgebunden. Nietzsche philosophiert (fast) immer von einem subjektiven und persönlichen, betroffenen und verletzbaren Standpunkt aus, dafür ist er bekannt, dafür wurde er geliebt, dafür wurde er geächtet. Er hat sich exponiert und verletzlich gemacht wie kein zweiter Philosoph, er war ein Pionier der Vulnerabilität, einem zentralen Thema des feministischen Diskurses (Butler 2004; Butler 2018). Nietzsche hat sein verletzliches Ich in seinem gesamten Werk umkreist, sein Werk dreht sich um seine Person und umgekehrt – und ebenso viele Perspektiven, wie Nietzsche darauf einnimmt, gibt es Interpretationen des Irrgartens zwischen Leben und Werk (Kaufmann 1982, S. 23–82). „Der Name Nietzsche“, so hat es Derrida bezeugt, „ist vielleicht heute für uns im Abendland der Name des einzigen, der von Philosophie und Leben, von Wissenschaft und Philosophie des Lebens mit seinem Namen, in seinem Namen gehandelt hat. Der einzige vielleicht, der seinen Namen – seine Namen – ins Spiel brachte und seine Biographien.“ (Derrida 2000, S. 24) Seinen Namen ins Spiel zu bringen, heißt beispielsweise im Ecce Homo, sich notorisch und nachträglich ins eigene Werk einzumischen, sich andauernd selbst zu kommentieren, älteren Werken neue Vorreden und Lektüreanleitungen zu verpassen – garniert mit der abschließenden Frage oder Drohung: „Hat man mich verstanden?“ (EH, KSA 6, S. 37)²

 Zur Entstehung und Textgeschichte des EH vgl. Mazzino Montinari, Ein neuer Abschnitt in Nietzsches „Ecce homo“, in: Nietzsche-Studien 1 (1972), S. 380–418, sowie ders., Nietzsches Nachlass von 1885 bis 1888 oder Textkritik und Wille zur Macht, in: Jörg Salaquarda (Hrsg.), Nietzsche, Darmstadt 1980, S. 323–349.

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Doch was heißt es, Nietzsche zu verstehen, inmitten seines autobiographischen Irrgartens? Was heißt es, in seinem Namen zu philosophieren und auf eigene Rechnung zu schreiben, wenn derjenige, der diese Rechnung ausstellt, sich andauernd verflüchtigt wie der Geist aus der Flasche? Nietzsche ist sein ganzes Leben lang damit beschäftigt, diejenigen Dinge zusammenzustellen, die er später, im Ecce Homo, in Rechnung stellen würde. Schon früh suchte er nach dem Persönlichen in der Philosophie. Schon in der frühen und unvollendeten „Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen“ von 1873 trägt er Skizzen zu den Vorsokratikern zusammen. Im Vorwort verkündet er, er hätte die Lehren ausgewählt, „in denen das Persönliche eines Philosophen am stärksten nachklingt“ (KSA 1, S. 803). Denn genau dies würde durch eine positivistische Schreibweise, „eine vollständige Aufzählung aller möglichen überlieferten Lehrsätze“, verhindert und „das völlige Verstummen des Persönlichen“ (KSA 1, S. 803) bewirkt werden. Der Schmerz über dieses Verstummen oder diese Verstümmelung ist schon früh präsent bei Nietzsche, über jene Ausschlussgeschichte des Autobiographischen, für die er sich in seinem eigenen Schreiben so gründlich rächte. Beispielsweise mit einem Ecce Homo, dessen Autor mutmaßt, mit dem Erzählen von den „kleinen und nach herkömmlichem Urtheil gleichgültigen Dingen“ würde man ‚sich selbst schaden‘ (EH, KSA 6, S. 295) – ein Urteil, das von dem selben Buch widerlegt wurde, in dem dieser Satz erschien: „Antwort: diese kleinen Dinge […] sind über alle Begriffe hinaus wichtiger als Alles, was man bisher wichtig nahm.“ (EH, KSA 6, S. 295)

3 Der Zugang zum Selbst Man hat also guten Grund, die Affirmation der „theoretisch-autobiographischen Liaison“ als „gut nietzscheanisch“ (Thomä et al. 2015, S. 14) zu bezeichnen. Und Maurice Merleau-Ponty hat ebenso Grund zu schreiben, „alles wird anders, sobald eine Philosophie es sich zur Aufgabe macht, nicht etwa die Welt zu erklären […], sondern eine Erfahrung der Welt, eine Berührung mit der Welt zur Sprache zu bringen, die allem Nachdenken über die Welt vorausgeht.“(Merleau-Ponty 2000, S. 36–37) Merleau-Pontys ontologische Repräsentationskritik gilt genauso für Autotheorie und Autofiktion. Beide verkehren die geläufige Beziehung zwischen Selbst und Theorie, beziehungsweise Literatur, ins Gegenteil: Das Selbst verschafft nicht den Zugang zu Theorie und Literatur, sondern Theorie und Literatur sorgen für den Zugang zum Selbst. In dieser apriorischen Selbstschreibung liegt der Clou der Autotheorie: Nicht über das Persönliche und über Personen zu sprechen, sondern als Person zu sprechen, seine Person zu sprechen – das kann als das Projekt der Autotheorie betrachtet werden: Nicht der Philosophie additiv das Thema des Selbst hinzufügen, sondern dieses Selbst philosophisch zu schreiben und sich über die

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Philosophie einen Zugang zum Selbst zu verschaffen, sowie dieses autotheoretische oder autofiktionale Selbst wieder in die Theorie zurückzutragen. Das Selbst ist also kein neues Thema der Theorie, die philosophische Theorie vermittelt dem Selbst zuallererst einen Zugang zu sich, der im autotheoretischen Schreiben entfaltet wird. Das Selbst wird der Philosophie also apriorisch eingeschrieben, die Philosophie schreibt sich mit dem Mittel und Medium eines Selbst, das kein Gegenstand seiner aposteriorischen Erfahrung ist, weil es diese erst ermöglicht. Weil Nietzsche nicht über sich schreibt, sondern sich selbst schreibt, muss der mediale Selbstschreiber umgekehrt alle fremden Sprechakte zerstören, die über ihn schreiben und ihn beurteilen. Und so muss dieses Monster der Selbstermächtigung am 27. Dezember 1888 in einem Brief an Carl Fuchs schreiben: „Alles erwogen, lieber Freund, hat es von jetzt ab keinen Sinn mehr, ü b e r mich zu reden und zu schreiben; ich habe die Frage, w e r i c h b i n , mit der Schrift, an der wir drucken E c c e H o m o für die nächste Ewigkeit ad acta gelegt.“ (KGB III/5, Bf. 1214) Fürwahr, eine ungeheuerliche Geste, eine Geste der Selbstermächtigung, die all jene aktuellen autofiktionalen Selbstermächtigungen vorwegnimmt, mit denen marginalisierte Sprecherinnen und Sprecher sich derzeit Sprechpositionen verschaffen. Ihre Ungeheuerlichkeit wurde in Deutschland totgeschwiegen und in Frankreich lesbar gemacht, beispielsweise von Pierre Klossowski (1969, S. 323; 1986, S. 349) oder Georges Bataille (Bataille 2005). Ausbuchstabiert wurde sie im Anschluss an die French Theory beispielsweise von einem Friedrich Kittler, der Nietzsches „Kurzschluss zwischen Autor und Interpret“ (Kittler 2000, S. 92) in seiner ganzen Anmaßung und Monstrosität durchmisst: „Nietzsches letztes Buch ist Übertretung und nichts als Übertretung“ (Kittler 2000, S. 68), weil es „Deuten selber als Macht ausübt“ (Kittler 2000, S. 91). Das ist das souveräne Schreiben: „Der selber als das Gesetz auftritt, ist keinem Gesetz mehr untertan.“ (Kittler 2000, S. 94) – und spricht „die Sprache eines We l t r e g i e r e n d e n“ (KGB III/5, Bf. 1176), wie Nietzsche ebenfalls im Dezember 1888 an August Strindberg protzt. Bekanntlich verliert der Regierende dieser Texte aber die Kontrolle über sie, weswegen sein Schreiben zwischen Größenwahn und Jämmerlichkeit, Ohnmacht und Ermächtigung changiert. Sein irrlichterndes Schreiben lenkt die Blicke nicht mehr von sich ab, wie der Großteil der Philosophiegeschichte, sondern sagt allen im Verborgenen Schreibenden und Lesenden: Ecce Homo! Weswegen sein Sprechakt nicht nur Selbstverherrlichung und -ermächtigung ist, sondern auch reine Verzweiflung: In einem kurzen Moment des Aufbäumens bekundet der Schreibende sich selbst und seine Vulnerabilität, er setzt sich den Lektüren der anderen aus, die er nicht erträgt, weil sie ihn überdauern werden und er sie nicht mehr kontrollieren kann. In dieser Situation einer Ohnmacht gegenüber seinen Leserinnen und Lesern ergreift Nietzsche die Notwehr und schreibt gegen die Autonomie des Werkes an –

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gegen ein Werk, mit dem sich der Schreibende umso weniger zu identifizieren vermag, als seine Einsicht in dessen Unabänderlichkeit voranschreitet.

4 Das Medium Nietzsche Bis zu Nietzsche, so könnte man sagen, schrieb man in der Philosophie wie hinter einer verspiegelten Glasscheibe: Man schrieb und gab in der Theorie zu sehen, ohne selbst gesehen zu werden. Man verbarg sich wie unter einer Tarnkappe im Zeigen der Welt. Indem Nietzsche nicht nur die Welt zu sehen gibt, sondern auch sich selbst, zerstört er den Schutzraum der Theorie und ändert den Begriff der Philosophie: Philosophie ist fortan nicht nur das Medium, um etwas über die Welt zu sagen, sondern auch über sich; indem Nietzsche die Verspiegelung einer Glasscheibe durchbricht, ändert er die Medialität der Philosophie: Nietzsche verwendet sich als Medium der Theorie, um ohne Tarnkappe „Texte der schieren Selbstoffenbarung“ (Kittler 2000, S. 84) zu schreiben. Und mehr noch, er verwendet sich nicht nur selbst als Medium der Theorie – verwirrenderweise verwendet er für seine Anmaßung auch noch Medien, die weit über verspiegelte Glasscheiben hinausgehen. Nietzsches Verwendung von tatsächlichen Medien ist auch das Argument, das seine Autotheorie über eine reine Reflexivitätsfigur hinaushebt. Nietzsche schreibt eben nicht nur über sich selbst und verwendete sich selbstreflexiv als Medium – er verwendete auch exzessiv tatsächliche, materielle Medien. Und so lautet Nietzsches medienthistorisch unvermeidlicher, noch dazu auf einer Schreibmaschine geschriebener Satz an Heinrich Köselitz vom Februar 1882: „Sie haben Recht – unser Schreibzeug arbeitet mit an unseren Gedanken.“ (KGB III/1, Bf. 202) Zum Medium wird hier wie später bei McLuhan der Träger der Botschaft selbst, die immer nur einen Inhalt kennt: und zwar Friedrich Nietzsche. Wenn man sagt, dass Nietzsche sich selbst als Botschaft hatte, dass wichtige Botschaften seiner Philosophie an seine Person gebunden waren, so ist das nicht im Sinne einer Kritik eines narzisstischen oder egozentrischen Schreibens gemeint. Wenn Nietzsche die Botschaft des Mediums Nietzsche war, soll das nicht heißen, dass er nur um sich selbst gekreist wäre und es zu keiner anderen Erkenntnis gebracht hätte, weil er nicht in der Lage war, über den eigenen Tellerrand oder die eigene Befindlichkeit hinaus zu blicken – das Gegenteil ist der Fall: Indem er sich hemmungslos zum Medium und Instrument der eigenen Philosophie machte, erreichte er ein halluzinierendes Erkenntnisniveau, das in der Moderne seinesgleichen sucht. Nietzsche setzte seine Person und seine Biographie auf eine Weise in der Philosophie ein, dass man von einem Medium oder einer Medialität sprechen kann: Nietzsche ist sich selbst zum Medium geworden, er

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war das Medium und die Botschaft seiner eigenen Philosophie in Personalunion: The medium is the message. Es sind zwei Argumente, die im Fall Nietzsches (und womöglich in der gesamten Autotheorie) gegen den Vorbehalt sprechen, hier handle es sich um einen reflexiven Medienbegriff: Erstens verabschiedete Nietzsche die Selbstreflexivität des Übersein-Leben-Schreibens zugunsten der Materialität „biotechnischer Sprachregelungen“, was zu der verwirrenden Logik führte, „zugleich schreiben und über sein Schreiben schreiben.“ (Kittler 2000, S. 81) Gegen eine bloß selbstreflexive Autorschaft spricht zweitens, wie wörtlich, buchstäblich und materialistisch Nietzsches Instrumental-Anordnung zu verstehen war³ – zum Beispiel im Ecce Homo: „Jetzt, wo ich die Wirkungen klimatischen und meteorologischen Ursprungs aus langer Übung an mir als an einem sehr feinen und zuverlässigen Instrumente ablese und bei einer kurzen Reise schon, etwa von Turin nach Mailand, den Wechsel in den Graden der Luftfeuchtigkeit physiologisch bei mir nachrechne […]“ (EH, KSA 6, S. 282). Nietzsche „rechnet“ also „den Wechsel in den Graden der Luftfeuchtigkeit“ bei sich selbst nach – und wird mit dieser „Messtechnik“ nicht nur zum „Milieutheoretiker der eigenen Autorschaft“ (Kittler 2000, S. 78). Er beschreibt sich damit auch selbst als Instrument und Medium avant la lettre. Ja, er beschreibt sich als ein Medium, mit dem sich nicht nur klimatische Daten „nachrechnen“ lassen, sondern auch autobiographische. Denn Nietzsches Instrument schlägt auch bei ihm selbst an, also bei psycho- oder physiologischen Daten. Das zeigt seine Beschäftigung mit einem, man müsste jetzt sagen: ‚tatsächlichen‘ Medium – dem Dynamometer. Wem der Medienbegriff hier bislang zu metaphorisch war, wende sich dem Dynamometer zu. Denn Nietzsche machte sich nicht nur zum eigenen ‚Medium‘ – es besteht Anlass zu der medienhistorischen Vermutung, dass er sich nur deshalb zum Medium in eigener Sache machen konnte, weil er mit tatsächlichen Medien experimentierte: mit Hydrometern ebenso wie mit den ersten Schreibmaschinen – sowie mit anderen Medien, die das Schreiben des Selbst messen konnten wie das Dynamometer.⁴ 1888 las Nietzsche, wie Martin Stingelin nachweist,⁵ den „Essai physiologique“ De´ge´ne´re´scence et criminalite´ von Charles Fe´re´. Fortan geistert der Erregungsmesser in der Zeit des Ecce Homo durch Nietzsches Schriften und Briefe.⁶ In der Götzen-Dämmerung lässt sich Nietzsche zu dem (unter Medienhistorikerinnen und -historikern berühmten) Statement hinreißen, man könne „die Wirkung des Hässlichen mit dem Dynamometer messen“ (GD, KSA 6, S. 124)⁷ – also jetzt nicht     

Zur Buchstäblichkeit im Ecce Homo vgl. Kittler 2000, S. 68, 74, 78. Vgl. zur Messbarkeit des Schreibens: Kittler 2000, S. 78. Vgl. Stingelin, Aufsatz in diesem Band. Vgl. Stingelin, Aufsatz in diesem Band; Kittler 1979. Vgl. Nietzsche, KSA 13, S. 409–411, S. 498–500.

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mehr das Klima oder Erregungen messen, sondern ästhetische Urteile, auf deren Begründung Kant ein ganzes Hauptwerk verwendet hatte. Und damit nicht genug: Nietzsche stellt sich auch vor, dass es nicht nur Instrumente gibt, um Klima und Erregung an sich selbst nachzurechnen – er bezeichnet schließlich auch sein Werk als dieses Instrument. In einem ebenfalls von Stingelin zitierten Brief an Georg Brandes heißt es von der Morgenröthe rückblickend: Dies Buch ist eine Art ‚Dynamometer‘ für mich: ich habe es mit einem M i n i m u m von Kraft und Gesundheit verfaßt.Von 1882 an ging es, s e h r langsam freilich, wieder aufwärts: die Krisis schien überwunden (– mein Vater ist sehr jung gestorben, exakt in dem Lebensjahr, in dem ich selbst dem Tode am nächsten war). (KGB III/5, Bf. 1014)

Mit anderen Worten: Nun wird das eigene Schreiben zum Dynamometer, zum Kraftund Emotionsmesser in eigener Sache. Ganz abgesehen davon, dass Nietzsche das ganz ähnlich im Ecce Homo wiederholen wird und abgesehen auch davon, dass er das wahrscheinlich von jedem seiner Bücher behaupten könnte – behauptet er hier deutlicher als an jeder anderen Stelle seines Werks: Mein Buch wird zum Medium, zum Medium meines eigenen Vermögens, meiner eigenen Kraft und dynamis. Wie man heute an einem Fieberthermometer oder am Corona-Test seinen Zustand abliest, so liest Nietzsche ihn an seinem eigenen Werk ab – das zum Medium der Autotheorie und des autotheoretischen Schreibens wird. „Ecce Homo programmiert also“, so Kittler, „die Selbstproduktion eines Autors“ (Kittler 2000, 78). Und so ist Nietzsche unermüdlich darin, die Effekte der eigenen Philosophie auf sich selbst „nachzurechnen“, wie er schreibt, Codierungen des Werks im Ich zu sondieren und umgekehrt. Über nichts schrieb und schwadronierte er lieber als über das eigene Werk, er agierte als Plaudertasche der eigenen Ideen und ihrer Produktion – folglich werden Prahlen, Hoch- und Tiefstapeln ins Vokabular der Philosophie aufgenommen. Worüber andere Philosophinnen und Philosophen sich ihr Leben lang vornehm ausschweigen, wird von Nietzsche mit der Diskretion eines Marktschreiers (oder eben auch: Mediums) verbreitet. Anstatt es bei Heideggers Haiku zu belassen: „Aristoteles wurde geboren, arbeitete und starb“, wurde Nietzsche zum Livereporter jedes Einfalls und zum Papparazzi jeder kommentierten Zeile. Man kann sich ausmalen, was Nietzsche mit den sozialen Medien angefangen hätte – oder was diese mit ihm angefangen hätten: Hätte er einen Facebook-Account, würde er twittern, bloggen oder auf Youtube auftreten? Oder hielte er sich angewidert zurück angesichts der neuen Normalität der Selbstentblößung? Würden ihn die sozialen Medien anlocken oder anwidern, würde er sie so kritisieren und ihre Strategien

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gleichzeitig verwenden, wie er dies mit dem ihm zeitgenössischen Journalismus gemacht hat?⁸ Man hat Nietzsches Auftritte schon hundertfünfzig Jahre vor Youtube und hundert Jahre vor der Erfindung von selbstbespiegelnden Videos notorisch narzisstisch gefunden. Ohne jeden Zweifel wäre er in die Falle einer „Ästhetik des Narzissmus“ (Krauss 1976) getappt, die Rosalind Krauss dem Künstler-Video bescheinigte. Dagegen spricht im Falle Nietzsches nicht nur, dass man sich in Schreibmaschinen weniger gut spiegeln kann als in Videos – es ist vor allem die Tatsache, dass er sich an seinen Schriften nicht nur berauscht, sondern auch von ihnen beherrscht ist. Nietzsche spricht nie nur als narzisstisch Genießender, sondern immer auch als jemand, der seinen Affizierungen und Passionen unterworfen ist. Die Selbstermächtigung ist also immer auch eine Entmächtigung eines unterlegenen Subjektes, das seiner Leiblichkeit ebenso unterliegt wie den Launen des Zufalls. Aus genau diesem Grund, weil er die grausame „Zufälligkeit seines Seins rechtfertigt“ (Klossowski 1986, S. 349), wie Pierre Klossowski beobachtet hat, „beschäftigte sich [Nietzsche] seit seiner Jugendzeit […] mit einer Wiederaneignung seiner eigenen Vergangenheit, also mit einer autobiographischen Konstruktion“ (Klossowski 1986, S. 349).

5 Auto = Fiktion Für Klossowski scheint klar zu sein, dass der Selbstbezug des Schreibens nicht zu Authentizität und Wahrheit führt, sondern zu Konstruktion und Fiktion. Ebenso wie die spätere autofiktionale Literatur geht er davon aus, dass das Auto- von Autofiktion und Autotheorie selbst fiktiver Natur ist; schließlich nennt sich das derzeitige literarische Boomgenre nicht deshalb Autofiktion, weil zu einem authentischen Autobiographischen noch etwas Fiktionales hinzu käme, sondern weil der autobiographische Selbstbezug selbst durch und durch fiktional ist. Auto = Fiktion! Spätestens wenn man das Ich schreibt, wird es zum Anderen, zum Double, zur Maske. Das Ich zerrinnt zwischen den schreibenden Fingern, sobald man es zu fassen versucht. „Nietzsche behandelt“, schreibt Klossowski weiter, „sein eigenes notwendiges Ich wie eine Maske.“ (Klossowski 1986, S. 349) Im Gegensatz zur Autobiographie gehen Autofiktion und -theorie mit Klossowski davon aus, dass das „Problem des nicht mittelbaren Authentischen“ (Klossowski 1986, S. 39) nicht lösbar ist, dass eine Maskierung also alternativlos ist, während die Autobiographie an der Vorstellung einer authentischen Bezeugung des Eigenen festhält. Dagegen scheint

 Vgl. den Beitrag von Renate Reschke in diesem Band.

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Nietzsche in seinem Schreiben die Erfahrung zu machen, dass es nur Annäherungen, Verwirbelungen und Differenzen im Eigenen gibt, aber keinerlei Identität, die er beim Schreiben nicht findet, sondern verliert: eine „ontologische Katastrophe“ (Klossowski 1986, S. 39). Nach dem Tod Gottes, der als „der absolute Garant der Identität des verantwortlichen Ich im Horizont von Nietzsches Bewusstsein verschwindet, von Nietzsche, der seinerseits sich mit diesem Verschwinden vermischt“ (Klossowski 1986, S. 40), landet dieser nicht bei der selbstversichernden Identität seines Werks, sondern bei verstörenden Differenzen: Das scheinbar Natürlichste und Einfachste, der Selbstbezug des Schreibens, wird plötzlich zum Schwersten. Der Autor kann sein Leben nicht mehr bezeugen, er muss es erzählen: „[…] ich sah rückwärts […]. Und so erzähle ich mir mein Leben“ (EH, KSA 6, S. 263) – ein Vorgehen, das immer wieder als Maskierung und Fiktionalisierung beschrieben worden ist. Oder auch als „Strategie der Projektion“: Durch die Brille seiner Projektion „sieht man in der Selbstinszenierung des Autors nichts als eine theoretische Fingerübung. Der Autor konstruiert sich selbst, er legt sich sein Leben zurecht, wie es seiner Theorie gefällt. Sein Ich ist ein Effekt, die Autobiographie wird zur Projektion der Theorie.“ (Thomä et al. 2015, S. 8) Doch Nietzsches Fall ist noch komplizierter als der der konventionellen Autobiographie. Gibt es dort gewöhnlich die zwei Pole Leben und Schreiben, kommt bei Nietzsche noch ein dritter und komplizierender hinzu: die Theorie und das Werk. Die Theorie verwirrt alles – besonders wenn man schreibt, besonders über sich selbst. Vielleicht wollte die Philosophiegeschichte es sich mit ihrer Ichabstinenz auch einfach nicht so schwer machen. Denn dagegen ist der Ecce Homo ein Bermudadreieck zwischen Leben, Schreiben und Theorie. Man kann nachverfolgen, was nacheinander in diesem Dreieck verschwindet: Das erste ist das Leben, oder „die Erfindung des Menschen hinter den Wörtern“ (Kittler 2000, S. 74). Ein authentisch verbürgtes Ich muss zuerst dran glauben. Das zweite ist das erzählte Leben, denn hier erzählt jemand gerade nicht sein Leben, wie Nietzsche beteuert, sondern seine Theorie – aber mit dem Mittel und dem Medium des eigenen Lebens. Hier schreibt jemand nicht sein Leben, hier überschreibt jemand sein Leben, während er vorgibt, über sein Leben zu schreiben; das heißt, hier verschweigt jemand sein Leben, noch während er es überschreibt. Hier erzählt jemand, wie er sich sein Leben erzähle – und redet fortwährend über nichts anderes als diese Rede über sein Leben, das heißt: über seine Theorie. Denn die Theorie ist das dritte, das im Strudel der selbstreferenziellen Schleifen um sich selbst im Bermudadreieck verschwindet.

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6 Das Inferno des Ich Mit einer derart autofiktional unreinen Theorie, mit einem so „unreinen Diskurs“ (Vuarnet 1973) erntet Nietzsche nur Kopfschütteln. Das Werk, das Nietzsches Werk erzählen sollte, endet bekanntlich in einer gewaltigen Implosion desselben. Der Ecce Homo ist ein Inferno des Ich. Dieses Inferno, der unreine Diskurs des Autotheoretikers, bringt alles zum Verschwinden, das Leben ebenso wie das Werk.Wenn Nietzsche zurück blickt – „Ich sah rückwärts…“ –, gerät weniger sein Leben als das Werk in den Blick, weniger die Vergangenheit als die Gegenwart, nicht die Ereignisse, sondern deren Effekte auf ihren Autoren. Die Schreibszene Nietzsche sorgt nicht für eine Rekonstruktion der Vergangenheit, sondern für deren Verschwinden im gegenwärtigen Labyrinth aus Euphemismen und Umwegen. Eigentlich geht es hier um überhaupt keine Vergangenheit, sondern um deren Wiederaufführung aus präsenten Erregungszuständen: keine Biographie, sondern Autotheorie. Auch wenn sie dauernd adressiert wird, ist die Vergangenheit nicht Gegenstand dieser Rede – Gegenstand ist einzig und allein die Erzählung des Vergangenen in der Gegenwart: „Und so erzähle ich mir mein Leben“: also sozusagen eine Autobiographie zweiter Ordnung. In dieser Autobiographie zweiter Ordnung sieht Nietzsche im Rückblick genau das, was sein Medium – das heißt: er selbst – ihm zeigt. Und nichts anderes. Im Fall des Brandes-Briefes ist das nicht das Klima oder eine Erregung, sondern sein Werk, seine Bücher, seine Theorie. Nietzsches Medien, das heißt: er selbst als Medium, beginnen, das Schreiben so zu schreiben, wie er sich selbst aufschrieb; und er selbst schrieb sich genau so, wie es die Medien, in diesem Fall das Dynamometer, immer schon taten. Nietzsches Medien verwandeln sein Leben in die Theorie, die er selbst als Medium macht; und das Medium des autotheoretischen Schreibens verwandelt seine Theorie in das, was das Dynamometer ihm anzeigt. Nietzsche theoretisiert nicht das Leben, er lebt die Theorie; diese Theorie erklärt aber nicht ihren Autoren, sondern verrätselt das Werk. Deswegen stellt er an den Beginn von „Warum ich so weise bin“ – wonach man eine philosophische Autobiographie erwarten könnte – auch keinen Bildungsroman, sondern eine „Räthselform“ (EH, KSA 6, S. 264), wie er das nennt, kurz: eine Theorie. Und diese Theorie ist, wie der ganze Ecce Homo, durch und durch autobiographisch imprägniert und projiziert. Doch was dann folgt, ist eben nicht autobiographisch, sind eben keine Anekdoten aus Nietzsches Leben und Wirken. Es sind Anekdoten aus seiner Theorie, oder besser: der Verwandlung des Lebens in Theorie und Projektionen der Theorie aufs Leben. Entsprechend zeigt sich dieser Autor über nichts auskunftsfreudiger als über die Produktion seiner Theorie, ja, Nietzsche ist geradezu besessen davon, Indiskretionen und Details des Verfassens seiner tollen Bücher auszuplaudern. Das kann man neurotisch nennen

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oder auch einfach modern: the Making of Nietzsche. Hundert Jahre vor der Inflation der Making-ofs auf sozialen und anderen Medien erzählt hier jemand sein eigenes Werden: Wie man wird, was man ist – was andererseits der„Autobiographie das Ziel vorgibt, schreibend die Werke aus dem Menschen herzuleiten, der Namen und Identität im Schreiben dieser Werke erlangte.“ (Kittler 2000, S. 69) Bei diesen Kreisläufen eines doppelten Man – „man wird… was man ist“ – ist tatsächlich die von Heidegger attackierte Anonymität des Man entscheidend. Denn nicht nur das Man, auch Nietzsche erzählt eben nicht „Wie ich wurde, was ich bin“. Er generalisiert seine Autobiographie mit Hilfe des Man zur Theorie, zur Autotheorie, zur Autobiographie zweiter Ordnung. Entsprechend folgen im Ecce Homo auch keine praktischen Ratschläge aus dem eigenen Leben, sondern eher theoretische Empfehlungen zur „Kunst der Selbsterhaltung“ (EH, KSA 6, S. 293). Nietzsches Produktionsästhetik des eigenen Werks berauscht sich derart an sich selbst, dass man über das persönliche und singuläre ‚Leben‘ dahinter kaum etwas erfährt: „Das Eine bin ich, das Andre sind meine Schriften.“ (EH, KSA 6, S. 298) Doch Auskunft gibt Nietzsche nur über seine Schriften – über das Ich hüllt er sich zwar nicht in Schweigen, im Gegenteil; aber er verrät nur, wie das Leben aus der projizierten Wunschperspektive seiner Theorie aussieht. Stanley Cavell (2001) hat im Schreiben des Autobiographischen zwei Stimmen unterschieden, die Stimme des Gewöhnlichen und die Stimme der Metaphysik. Man zögert keine Sekunde, um Nietzsche sofort auf die Seite der verschlungenen metaphysischen Rede zu schlagen, die bei Cavell eher den Sinn von ‚theoretisch‘ hat – und die von ihm ebenso gemieden wird wie Derridas verschlungener Diskurs. Gegen beide empfiehlt Cavell die gewöhnliche Stimme des Kindes. Einmal abgesehen von der Frage, wie vereinfachend oder naiv diese Unterscheidung ist, stellt sich die Frage, ob es diese einfache autobiographische Rede bei Nietzsche gibt? Redet er jemals mit der Einfachheit eines Kindes über sich, von dem man sagt, dass es nicht lüge? Jenes Kindes, das Nietzsche so sehr zum Ideal erhob? Derlei Schlichtheiten sind bei Nietzsche ebenso schwer zu finden wie bei Derrida. Daher durchfährt auch Kittler die Einsicht in die unausweichliche Verstrickung ins Selbst – „Die jähe Erleuchtung, dass Nietzsches Schriften immer schon und immer nur ihren Schreiber beschrieben haben.“ (Kittler 2000, S. 82) Nietzsche ist das beste und dramatischste Beispiel für einen Autoren, der sich andauernd selbst thematisiert und buchstäblich instrumentalisiert – und seine authentische Autorschaft (vielleicht auch sein authentisches Selbst) auf diese Weise abschafft: Wie man abschafft, wovon man spricht heißt denn auch Kittlers kongeniale Nietzsche-Deutung (Kittler 2000).

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7 „Ich = Ich-sagen“ Kittler macht eher ein diskursanalytisches als ein mediales Argument: Indem Nietzsche notorisch Lektüreanweisungen und Interpretationsvorschriften herausgibt, unterläuft er jene Institution namens Literatur, die sich im Aufschreibesystem 1800 gerade in Autoren, Leser und Interpreten ausdifferenziert hatte. Mit jener Grundoperation, die im Ecce Homo lautet: „Ich = Ich-sagen“ (Kittler 2000, S. 83) gründet er nicht nur ein Genre namens Autotheorie, er schafft sich auch selbst als interpretierbaren Autoren ab, aus dessen Leben man Rückschlüsse aufs Werk ziehen kann (Kittler 2000, S. 68). Denn Nietzsche sagt alles selbst und übernimmt die Rollen des Lesers, des Interpreten und des Kritikers in Personalunion – oder besser: als Medienverbund. Die Interpretierbarkeit hatte im oben beschriebenen Medium der verspiegelten Glasscheibe bestanden, die philosophische Autorinnen und Autoren davor schützte, in ihren Schriften als leibhaftige Menschen in Erscheinung treten zu müssen, weswegen man an ihrer Stelle Mutmaßungen über ihr Leben und Werk anstellen konnte. Man las ihre Schriften und erfand die Menschen dahinter. Doch wenn die Autorin oder der Autor die Verspiegelung zerstört und „als Mensch erkannt ist“ (Kittler 2000, S. 68), wenn sie oder er mit ihrem oder seinem Leben, ihren oder seinen Schwächen und Neurosen in Erscheinung tritt, ist es mit dieser Interpretierbarkeit namens Literatur vorbei. Nach der Autorschaft, also der „Erfindung des Menschen hinter den Wörtern“ (Kittler 2000, S. 74), tritt der Mensch in seiner Materialität hervor. Die Autorin oder der Autor sagt selbst, was sie oder er meint und was sie oder er ist; diese selbstermächtigte Materialität definiert die Schreibszene Nietzsche; das ist der berühmte „Leitfaden des Leibes: Morbid und gesund, tot und lebendig zugleich durchmisst Nietzsche die Vielheit, die er ist.“ (Kittler 2000, S. 76) Kittler interpretiert nicht Nietzsches Schriften, sondern analysiert diskursanalytisch ein literarisches Handeln. Seit das in der Gleichung „Ich = Ich-sagen“ besteht, gibt es nichts mehr zu interpretieren, nur noch zu lesen. In der Geste buchstäblichen Schreibens verschwindet die Glasscheibe der Projektion und es erscheint der selbstoffenbarte Autor als Materialität. Ist das das Ende einer theoretischen Literatur und der Anfang eines neuen Mythos (Kittler 2000, S. 72)? Eines Mythos, den Bataille mit der Nietzsche-Gruppe Acéphale schreiben oder besser: leben wollte? Wenn Theorie bislang hieß, den Anschein zu erwecken, über etwas anderes zu sprechen und etwas anderes zu sehen zu geben als man selbst ist, schafft Nietzsche die Theorie ab, weil er nur noch über, von oder mit sich selbst spricht. Doch ein repräsentationskritisch Schreibender, der nicht mehr über sich selbst schreibt, sondern sich nur noch selbst spricht und aufzeichnet, verliert „seine transzendentale Würde.“ (Kittler 2000, S. 92) Ohne diese Würde der Repräsentation

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und der Distanz schaffenden Rede über wird der Autor zum „factum brutum“; ohne jede majestätische Repräsentanz erscheint er „erschöpft und ausgeschöpft in all seinen empirischen Bedingungen bis hin zu Vorspeise und Wohnort“ (Kittler 2000, S. 92). Als nackte Tatsache seiner selbst durchstößt Nietzsche den Schleier der Repräsentation. Er sagt. Alles. Selbst. Diese Selbst(er)findung ist die Chance der Autotheorie – im Sinne Batailles (2005) sowohl Möglichkeit als auch Risiko des autotheoretischen Projekts: Nietzsche demonstriert, was bei dieser Offensive des Eigenen geschehen kann, welches Drama sich entfalten kann, wenn sich Persönliches und Philosophisches überlagern: Das Schreiben wird zur Bühne eines Schreibenden, der sich dauernd zwischen Denken, Fühlen und Erfahren verheddert. Und ein Drama ganz neuen Ausmaßes aufführt. Der Denker auf der Bühne hat Peter Sloterdijk (1986) dieses Drama der philosophischen Indiskretion einmal genannt. Man kann es nicht bestreiten: Das im Wahnsinn geendete Drama Nietzsches gibt auch der Ausschlussgeschichte des Ich gewichtige Argumente an die Hand: Hat die westliche Philosophie nicht Recht damit gehabt, das Autobiographische auszuschließen? Zeigt nicht allen voran der Größenwahn eines Ecce Homo, dass Theorie und Autobiographie, Philosophie und Leben strikt zu trennen sind? Und dass sein Autor nicht nur Autotheorie, sondern auch noch, weitaus schlimmer, „Autotherapie“ (Kittler 2000, S. 79) betreibt? Schließlich zeigt, so könnte man die Theoriegeschichte seit Nietzsche verstehen, der postnietzscheanische Diskurs, was die Philosophie mit diesen Einfällen des Lebens aufs Spiel setzt – die Abgründe und Kollateralschäden eines ichbemächtigten Theoretisierens sind nicht zu übersehen. Die Autotheorie ist nicht nur eine Chance für die Philosophie, sie ist auch ein Risiko, das direkt in die Autotherapie führen kann. Daher argumentiert nicht nur die positivistische, sondern auch die konservative Tradition der Philosophie, es sei richtig, das Selbst aus der Philosophie auszuschließen und jede Autotheorie zu vereiteln: Das ist ja gar keine Philosophie mehr! Genau davor müssen wir uns schützen! Schaut euch doch an, was der Philosophie sonst blüht! Heute kann es nicht mehr darum gehen, die Autotheorie gemeinsam mit Nietzsche zu feiern. Nach der philosophischen Moderne mit ihren Krisen und Katastrophen muss man auch Rechenschaft über ihre Risiken ablegen und eine Negativrechnung aufstellen. Denn tatsächlich hat die Philosophie- und Theoriegeschichte auf diese Risiken unterschiedlich reagiert: mit konservativen und besitzstandswahrenden Manövern einerseits, die weiterhin auf den Ausschluss des Egos aus der Philosophie setzen. Oder aber mit den aktuellen aktivistischen Manövern der postkolonialen und feministischen Theorie, die die Geste Nietzsches eher radikalisieren als sie abzuschwächen. Denn trotz oder gerade wegen seiner irrlichternden Politik der Autorschaft wird Nietzsches Kritik am Ausschluss des Autobiographischen heute von vielen feministischen und postkolonialen Autorinnen

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und Autoren aufgegriffen: Der postkoloniale Diskurs argumentiert, die westliche, also schon griechische Philosophie, habe sich seit ihren Anfängen auktorial und imperial in Szene gesetzt – unter anderem durch den Ausschluss des Selbst und eine normative Setzung eines anonymen erkennenden Subjekts, das jedoch in Wahrheit immer das privilegierte weiße und männliche gewesen sei.

8 Feministische Autotheorie Entsprechend kritisiert der feministische Diskurs, dass die normative Setzung des Subjekts eben auch eine patriarchale und männliche gewesen sei: Das erkennende Subjekt sei nicht nur ichfrei, sondern auch fraufrei – oder beide sind Komplizen, denn die Fraufreiheit des philosophischen Diskurses baue auf seiner Ichfreiheit auf und umgekehrt. In Wahrheit aber sei es unmöglich, ohne sein Geschlecht und ohne sein Ich zu philosophieren – und jedes Mal, wenn die Philosophie dies vorgebe und einen neutralen Diskurs zu führen pflege, schreibe ihr uneingestandenes männliches Geschlecht mit – selbst und besonders dort, wo sie vorgibt, dies nicht zu tun. Die selbstvergessene Formulierung der Philosophie sei eine männliche. Noch das von Nietzsche beeinflusste poststrukturalistische Denken, das von Vielen als Gründungsakte des aktuellen feministischen und postkolonialen Diskurses betrachtet wird, hat diese Setzung der Philosophie als einer ich-abgewandten Wissenschaft befragt und bestritten; besonders der Dekonstruktivismus mit Jacques Derrida und Hélène Cixous, Luce Irigaray und Judith Butler hat immer wieder nach der Ausschlussgeschichte gefragt und versucht, das ich-reine Denken durch diskrete aber gezielte Disseminierungen zu durchsetzen. Schließlich gelte es, mit dem falschen „Reinheitsgebot [zu brechen], wonach die Theorie sich jeder Vermischung mit anderen Formen des Sprechens peinlich zu enthalten hätte.“ (Thomä et al. 2015, S. 15) Von Derrida, der diese Ausschlussgeschichte am deutlichsten und intensivsten bedauert hat – man könnte die Dekonstruktion als fortgesetzte Trauerarbeit dieses Ausschlusses deuten –, ist in einem der Filme, die mit ihm gedreht wurden, die Frage zu vernehmen, warum die westliche Philosophie das Ich aus ihren Werken vertrieben habe (Fathy 2012). Nietzsches Autotheorie hat also Folgen gehabt – eine poststrukturalistische Philosophie, eine materialistische Medientheorie, einen nietzscheanischen Feminismus. Alle Effekte im Verbund kann man bei Luce Irigaray bestaunen, die ihren feministischen Nietzsche-Diskurs im Anschluss an die berühmten französischen Nietzsche-Lektüren der 1970er Jahre zeitgleich zu ersten materialistischen Medienbegriffen entwickelt. Zur gleichen Zeit, als die Medientheorie neu erfunden wurde und sie Nietzsche als ihren Pionier ausmachte, der auf seine Maschinen, Apparate und Instrumente hin durchsucht wurde, entwickelt Irigaray einen eso-

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terischen feministischen Materialismus im Zeichen Nietzsches, der erst heute wiederentdeckt wird.⁹ Man betrachte nur Irigarays Amante Marine von 1980, ein besonders spannendes Beispiel für diesen feministischen autotheoretischen Diskurs (Irigaray 1980).Weil die Form dieses Buches mehr als ungewöhnlich ist, wird es gern auf seinen Inhalt reduziert: Irigaray hält Nietzsche das Vergessen der maternalen Wasser vor, aus dem alle Menschen kämen und die er aber gegen die gebirgige Höhenluft seines Denkens eingetauscht habe; ferner wird ihm das Vergessen eines Dionysos angekreidet, der auch der sinnliche Gott der Frauen gewesen sei, der ohne Brutalität über die wuchernde Natur und die gefährlichen Wasser geherrscht habe; schließlich wird Nietzsche mitsamt der oberflächenverliebten French Theory eine Vernachlässigung der Tiefe vorgehalten; stattdessen wird eine elementare Philosophie der tiefen Milieus entwickelt, der Erde und der Luft, des Feuers und der Wasser.¹⁰ Betrachtet man jedoch die Form des Buches von Irigaray, so kann man eine autotheoretische Ecriture bestaunen, die sich an der autobiographischen Form par excellence, dem Brief, orientiert – ja sogar am Liebesbrief. Amante Marine ist, der unübersetzbare Titel signalisiert es, Philosophie im Medium des Liebesbriefes: der Liebesbrief einer enttäuschten Liebhaberin von Nietzsches Schriften – ein Buch, das Irigaray beschreibt als „nicht ein Buch über Nietzsche, sondern mit Nietzsche“, der „für mich der Partner meiner Liebe ist.“ (Irigaray 1993, S. 44) Entsprechend heißt das Buch im Untertitel auch de (also von) Friedrich Nietzsche und nicht sur (also über), was vermutlich auch der Grund dafür ist, dass der erste Teil des Buches wie der abschließende Liebesbrief einer bittersüßen Affäre formuliert ist. Um es vorwegzunehmen: In diesem langen Leserinnen- und Liebesbrief erfolgt, wie schon bei Georges Bataille, keine Interpretation oder Deutung Nietzsches (Oliver 2016). Der intime Nietzsche-Diskurs Irigarays schreibt da weiter, wo Bataille endete, nämlich beim Bilden einer intimen Gemeinschaft durch die Schrift (Bataille 2005). Ebenso wie beim aktuellen Schlüsselroman der Autofiktion, Chris Kraus’ I love Dick, folgt man einer mysteriösen Rede, einer esoterischen Anrede, einem verschlungenen intimen Dialog. Doch während die Form von Irigarays Rede ebenso unklar und esoterisch bleibt wie bei Kraus, macht sie Nietzsche umso unmissverständlicher zu ihrem Medium und sich zu seiner Muse: Nietzsche wird zum Medium einer feministischen Ecriture, wobei Medium hier, wie in griechischen Verwendungen, eben auch Muse meint: Irigaray macht Nietzsche zu ihrer männlichen Muse – und sich zu der Partnerin, die er nie hatte, aber sich, wenn wir den Zeugnissen trauen dürfen, durchaus wünschte. Daher strotzt dieser Text vor medialen Metaphern: Die Autorin ist Ohr und Mund für

 Vgl. Oliver 1995, 1993.  Vgl. Deutscher 2011, Lemm 2015a, 2015b.

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Nietzsches Text, sein Lautsprecher und sein Verstärker, seine Membran und, ja: sein Medium. Vielleicht geht es auch um ein Übersetzen Nietzsches ins Weibliche, ins Maternale – vielleicht geht es in Amante Marine weniger darum, den selbst ernannten „Psycholog des Ewig-Weiblichen“ (EH, KSA 6, S. 305) zu erfinden, von dem Nietzsche schwadronierte, sondern einen weiblichen Nietzsche, der seine schlummernden maternalen Potenziale entfaltet. Um einen männlichen Philosophen, der sorgt und, ja, liebt: Kein Begriff wird von Irigaray so oft bemüht wie der der Liebe. Weswegen ihre liebende Philosophie von Erde, Wasser und Luft sich wie eine Frühversion aktuellen feministischen und materialistischen Philosophierens liest.

9 Epilog Dieser Text endet mit dem autotheoretischen Einsatz, mit dem er eingesetzt hat: also mit dem Ichsagen. Vor einiger Zeit publizierte ich eine Kritik (Ebeling 2021) der eigenen Theorie der Materialität im Anschluss an das archäologische Projekt (Ebeling 2012, 2016). Darin enthalten waren autotheoretische Überlegungen zu einem materialistischen und repräsentationskritischen Schreiben, das ein Schreiben über zugunsten eines Schreibens von oder mit verwirft. Ich fragte, ob ein ‚wirkliches‘ und ‚echtes‘ materialistisches Schreiben sich nicht aus der – materiell messbaren – Erregung während des Schreibens speisen müsse und ob man aus diesem Grund nicht Theorien über Materialität durch die Materialität des eigenen Schreibens ersetzen müsse – als wäre man selbst an das Dynamometer angeschlossen. So ist im Ecce Homo von „Eine[r] Entzückung [die Rede], deren ungeheure Spannung sich mitunter in einen Thränenstrom auslöst […], ein vollkommnes Ausser-sich-sein mit dem distinktesten Bewusstsein einer Unzahl feiner Schauder und Überrieselungen bis in die Fusszehen“ (EH, KSA 6, S. 339). Genau diese Stelle wird fünfzig Jahre später von genau dem Autoren zitiert, der die Autotheorie nach Nietzsche am exzessivsten betrieb: von Georges Bataille. Bataille zitiert in seinem Nietzsche-Buch, das er im Anschluss an die Erfahrung von Acéphale schrieb, genau diese Stelle des Ecce Homo. Sie führt den surrealistischen Dissidenten jedoch nicht zum automatischen Schreiben einer écriture automatique, auch wenn die Surrealistinnen und Surrealisten um ihn herum damit direkt an Nietzsche anzuschließen meinten – durchaus nicht zu Unrecht, wie Kittler bemerkte.¹¹ Bataille buchstabiert Nietzsches Autotheorie als Theorie der Souveränität

 „Die Hand gleitet schreibend übers Papier und dann am besten, wenn Nietzsche am wenigsten auf sie aufpasst – wie er denn diese écriture-automatique-Hand ‚mitunter mit einigem Misstrauen ansieht‘“. Kittler (2000), S. 83.

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aus; aus Nietzsches Theorie der Inspiration wird das Schreiben einer Souveränität, die sich zentral auf die autotheoretische (Anti‐)Autorität Nietzsches stützt (Bataille 2005, S. 129–130). Denn in der von Bataille zitierten Stelle wechselt Nietzsche nahtlos von der materiellen Beschreibung seiner Schreib-Spannungen über zu einer Theorie der Inspiration; der Inspirierte sei, so zitiert Bataille Nietzsche medienmaterialistisch, „bloss Incarnation, bloss Mundstück, bloss medium übermächtiger Gewalten“ (Bataille 2005, S. 129–130). Bataille distanziert sich jedoch sogleich von Nietzsches Formel einer „übermächtigen Gewalt“, in der sich eine Transzendenz wieder einschleichen könne, mit der man nach dem Tod Gottes (und dem Ende des Faschismus) nicht mehr arbeiten könne. Er ersetzt sie kurzerhand durch das Spiel der „Chance“ – Batailles Begriff der Kontingenz, der Nietzsches Begriff der Macht überschreibt, womit der Philosoph des „Willens zur Macht“ zum Vordenker des „Willens zur Chance“ wird, mit dem Bataille seinen Nietzsche mitten in der nationalsozialistischen Vereinnahmung wieder lesbar macht: Ich stelle mir keine ‚übermächtigen Gewalten‘ vor. Ich sehe die Chance in ihrer Unkompliziertheit, die unerträgliche, gute, glühende… und ohne welche die Menschen wären, was sie sind. Was im Schatten vor uns erraten werden will: der betörende Reiz eines opalenen Jenseits, die Gewissheit eines Sees der Wonnen. (Bataille 2005, S. 129–130)

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Zwischen Körper und Korpus: Nietzsche im Kino und auf digitalen Plattformen im Brasilien des 21. Jahrhunderts Abstract: Between Body and Corpus. Nietzsche in Cinema and Digital Platforms in 21st Century Brazil. In the age of digitalization Nietzsche’s corpus assumes a peculiar form and rhythm. In Brazil, especially outside the academic and university environment, on the one hand, he is engaged in a political, social and cultural struggle and is used for current contemporary problems such as functional illiteracy and lack of basic sanitation. On the other hand, his iconic image becomes a phenomenon of internet-views when translated into a colloquial language, full of slang and performance, producing engagement. My aim is to present and discuss the nonacademic reception of Nietzsche in 21st century Brazil, using two examples from cinema and digital platforms.

1 Wie man wird, was man isst Es gibt hier ein zusätzliches „s“ in der Schreibweise des Verbs „sein“ in der dritten Person Singular. Wie weiter, Herr Nietzsche? Was werden wir weiter schaffen? Oder besser gesagt, wie können wir erschaffen? Der Mensch ist ein Formen- und Rhythmen-bildendes Geschöpf; er ist in nichts besser geübt und es scheint daß er an nichts mehr Lust hat als am Erfinden von Gestalten. […] Der Mensch lernt seine Kraft dabei als eine widerstrebende und mehr noch als eine bestimmende Kraft kennen — abweisend, auswählend, zurechtformend, in seine Schemata einreihend. Es ist etwas Aktives daran, daß wir einen Reiz überhaupt annehmen und daß wir ihn als solchen Reiz annehmen. Dieser Aktivität ist es zu eigen, nicht nur Formen, Rhythmen und Aufeinanderfolgen der Formen zu setzen, sondern auch das geschaffene Gebilde in Bezug auf Einverleibung oder Abweisung abzuschätzen. So entsteht unsre Welt, unsre ganze Welt: und dieser ganzen uns allein zugehörigen, von uns erst geschaffenen Welt entspricht keine vermeinte „eigentliche Wirklichkeit“, kein „An sich der Dinge“: sondern sie selber ist unsre einzige Wirklichkeit, und „Erkenntniß“ erweist sich, dergestalt betrachtet, nur als ein Mittel der Ernährung. Aber wir sind schwer zu ernährende Wesen und haben überall Feinde und gleichsam Unverdauliches —: darüber ist die menschliche Erkenntniß fein geworden und zuletzt so stolz noch auf ihre Feinheit, daß sie es nicht hören mag, sie sei kein Ziel, sondern ein Mittel oder gar ein Werkzeug des Magens, — wenn nicht selber eine Art von Magen! — — (KSA 11, S. 608-609)

https://doi.org/10.1515/9783111072890-016

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Nach Nietzsches Erkenntnistheorie bzw. seiner Physiologie funktioniert die menschliche Erkenntnis ähnlich wie ein Verdauungsprozess: Selektion, Aufnahme, Abweisung. Darin besteht unsere grundlegende Tätigkeit; darin sind wir aktiv, kreativ, wählerisch. Indem wir dem Verb im Untertitel von Ecce Homo ein „s“ hinzufügen, wollen wir es mit dem Zischlaut zum Vibrieren bringen. Ein brasilianischer Nietzsche, verdaut von einem Magen, der an frische Nahrung (leider auch den Hunger) gewöhnt ist. Ein Körper nimmt Gestalt an, indem er sich andere Körper einverleibt. Nietzsche führte diese Diätetik zu ihren letzten Konsequenzen. Er hat nicht nur andere Kulturgüter aufgenommen und abgewiesen, sondern auch ein eigenartiges Experiment der Selbstverdauung durchgeführt, was ihm viel Dyspepsie verursacht hat. Und auch Nietzsches Körper/Korpus selbst durchlief diesen Prozess. Er wurde von den unterschiedlichsten Autorinnen und Autoren, Vorreiterinnen und Vorreitern sowie von Denkströmungen ausgewählt, aufgenommen und verworfen. Ein bedeutender Teil der Intelligentzija des zwanzigsten Jahrhunderts hat sich durch die Aufnahme von Nietzsches Werk einen Körper gegeben. Die verschiedenen Ausgaben von Nietzsches Werk sind in gewisser Weise Ausgangs- und Endpunkt, Produkt und Nährboden dieser Einverleibungen. Auch die Interpretinnen und Interpreten haben, wie im vorangegangenen Zitat erwähnt, dazu beigetragen, Nietzsches Korpus Form und Rhythmus zu geben: So entsteht manchmal ein Nietzsche, der sich mehr an politischen Fragen orientiert, manchmal ein von der künstlerischen Avantgarde vereinnahmter, manchmal ein von ideologischen Fragen benutzter und verzerrter. In der Zeit der Digitalisierung ist eine neue Ent- bzw. Inkorporation im Gange. Ein Körper/Korpus on demand, der in verschiedenen Medien zugänglich ist, nicht nur für Leserinnen und Leser, schon gar nicht für einen geduldigen Leser des Horaz (KSA 6, S. 305), sondern für fans, followers, friends, haters oder einfach für die Konsumenten der berüchtigten Generationen X, Z und A. Und der brasilianische Nietzsche, insbesondere derjenige, der außerhalb des akademischen und universitären Umfelds in Medien wie Filmproduktionen und digitale Plattformen zu finden ist, nimmt eine besondere Form und einen besonderen Rhythmus an. Einerseits kann Nietzsche einen politischen, sozialen und kulturellen Kampf in einer zeitlich und räumlich weit entfernten Realität anführen, wie z.B. gegen funktionalen Analphabetismus oder das Fehlen einer sanitären Grundversorgung. Andererseits wird Nietzsche zu einem Phänomen der views, wenn er in eine Umgangssprache übersetzt wird, die voll von Slang und einer Performance ist, um das berüchtigte Engagement zu erzeugen. Mein Ziel ist es, die nicht-akademische Rezeption von Nietzsche im Brasilien des 21. Jahrhunderts anhand von zwei Beispielen aus dem Kino und von digitalen Plattformen vorzustellen und zu diskutieren.

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2 Mein Freund Nietzsche (Meu amigo Nietzsche) Die erste Produktion, die ich als Beispiel vorstellen möchte, ist der Kurzfilm Mein Freund Nietzsche (Fáuston da Silva, Fiction, Farbe, 35 mm, 15 min, DF, 2012)¹. Der Kurzfilm, der hauptsächlich mit Amateurdarstellerinnen und -darstellern gedreht wurde (darunter auch der Protagonist) beginnt mit dem schrillen Geräusch der Sirene einer Schule. Zeitlich und räumlich weit entfernt von den Glocken von Genua, die Nietzsches philosophisches Szenario bilden (KSA 4, S. 233), ist der Schauplatz des Kurzfilms die „Cidade Estrutural“, eine Gemeinde am Rande der brasilianischen Hauptstadt Brasilia². Die Hauptfigur, Lucas, trägt die Ungleichheiten des letzten Landes Amerikas, das die Sklaverei abgeschafft hat, auf seiner Mischhaut. Da er Analphabet ist, wird er von seiner Lehrerin ermahnt, lesen zu lernen, um in der Schule nicht durchzufallen. Der Kurzfilm oszilliert zwischen der sozialen Tragödie des Jungen und einem Epos über das Lesenlernen, mit einer guten Portion Komik in den Details, zwischen den Genres und zwischen verschiedenen Medien, wie in der folgenden Szene zu sehen ist. In einem Sekundenbruchteil (0:47) wird das berühmt gewordene Foto gezeigt, das Jules Bonnet im Mai 1882 aufgenommen hat.³ Unmittelbar unter dem Wort „Salomé“ sind abgebildet: ein lächelndes Mädchen in einem Blumenkleid (Lou), ein Junge mit einer Königskrone (Rée; ein Wortspiel, denn im Portugiesischen bedeutet Rei König) und, an der Stelle des Pferdes, ein Junge mit hängenden Schultern, geröteten Wangen und einem kitschigen Herz-T-Shirt (Nietzsche). Rechts neben der Zeichnung steht „Picasso hat nicht Graffiti gesprüht“, das Motto einer Debatte, die die Volks- und die Hochkultur, das Zentrum und die Peripherie, vor allem in den Großstädten, trennt.⁴ Indem er Bonnets Bild auf eine Wand in der brasilianischen Peripherie malt, wechselt der Kurzfilm nicht nur zwischen verschiedenen Medien, sondern er stellt auch die ursprüngliche Botschaft wieder her, greift in sie ein, aktualisiert sie und engagiert sich für neue ästhetische und politische Aufgaben. Dann blasen die tropischen Winde einen verwehten Drachen weg; es ist die Peripherie, die das Schicksal von Lucas mit dem von Nietzsche verbinden wird. Die Sequenz (1:20) des Rennens der Jungen führt die Zuschauerinnen und Zuschauer in die Geografie der brasilianischen Peripherie: unbefestigte Straßen,

 Vgl. https://www.youtube.com/watch?v=FroyMvgYfm0&t=242s  Cidade Estrutural wurde in den 1960er Jahren von Müllsammlern gegründet, die ihre Hütten in der Nähe der Mülldeponie errichteten, wo ein Teil des Grundstücks bebaut ist.  Benders et al. 2000, S. 514.  In Brasilien gilt Graffiti nach dem Gesetz als Straftat (9.605/98, § 65).

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fehlende sanitäre Grundversorgung, Müllhalden unter freiem Himmel (und die Ausbreitung neopentekostaler Kirchen), eine Geografie des Hungers.⁵ Am Zaun der Mülldeponie steht ein Schild mit der Aufschrift: „Kinder haben hier keinen Zutritt“. Die Kinder halten sich jedoch nicht an diesen kategorischen Imperativ, schließlich können sie nicht lesen. Die ersten Töne der Trompete von Also sprach Zarathustra (Richard Strauss) kündigen die große Begegnung des Kurzfilms an. Inmitten von Milchkartons und Papierfiltern, die nicht richtig recycelt wurden, findet Lucas eine alte Buchausgabe von Also sprach Zarathustra. Diese kurze Szene (2:43) verdichtet die Prekarität und Inkohärenz des brasilianischen Zeitalters der Digitalisierung: Inmitten einer Müllhalde am Rande der brasilianischen Hauptstadt befinden sich ein halbgebildeter Junge, eine veraltete Übersetzung eines deutschen Buches, ein altes Handy einer finnischen Firma und über die Telefonleitung eine Mutter, die sich Sorgen um ihren Sohn macht. Jenseits von Gutenberg, Niemeyer, Martin Cooper, Freud und Nietzsche bringt diese absurde Begegnung das Moderne und das Archaische, das Zivilisierte und das Barbarische, das Digitale und das Analoge, das Gelehrte und das Volkstümliche, das Zentrale und das Periphere, die Kolonisierenden und die Kolonisierten, den Luxus und den Schund, die Reichen und die Armen zusammen. Wie wir sehen, muss das Motto, das uns inspiriert, „Wie weiter, Herr Nietzsche?“, durch andere W-Fragen ergänzt werden: Wo? Wer? Warum? Die nächste Szene führt uns in ein typisches Volkshaus in der brasilianischen Peripherie. Zwei Nebendarsteller konkurrieren um Lucas’ Aufmerksamkeit: Man sieht einmal die Mutter, die sich durch ihre Kleidung und ihr langes Haar auszeichnet,⁶ und einmal ein archaisches Fernsehgerät, mit dem der Vater versucht,⁷ ein Fußballspiel einzustellen. Abgesehen von dem Klischee des Fußballs als brasilianisches „Opium des Volkes“ ist es wichtig, festzustellen, dass Lucas’ funktionaler Analphabetismus den seiner Eltern erweitert, die glauben, dass die Worte auf dem Umschlag von Nietzsches Buch in englischer Sprache geschrieben sind. Lucas entgegnet jedoch, dass die Worte auf dem Einband zwar (angeblich) auf Englisch ge-

 Für Castro (1984, S. 19) ist gerade der Hunger ein Tabuthema: „Das Thema dieses Buches ist ziemlich heikel und gefährlich. So heikel und gefährlich, dass es zu einem der Tabus unserer Zivilisation geworden ist“.  Der lange Rock ist das Symbol einer brasilianischen neopentekostalen Religion, der Assembléia de Deus (die in der Eröffnungsszene in 1:32 auftaucht), der Lucas’ Mutter angehört. Diese Ausrichtung zeugt von einer eher konservativen, pietistischen Haltung und stützt sich auf eine merkwürdige Auslegung von Deuteronomium 22,5.  Brasilien hat ein ernstes Problem mit der Anerkennung der Vaterschaft. Im Jahr 2019 gab es mehr als 5,5 Millionen Kinder ohne den Namen des Vaters auf ihrer Geburtsurkunde, nicht eingerechnet diejenigen, die den Namen des Vaters tragen, aber ausgesetzt werden: https://ibdfam.org.br/noticias/ 7024/Paternidade+respons%C3%A1vel:+mais+de+5,5+milh%C3%B5es+de+crian%C3%A7as+brasilei ras+n%C3%A3o+t%C3%AAm+o+nome+do+pai+na+certid%C3%A3o+de+nascimento

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schrieben sind, das Innere des Buches jedoch in der „brasilianischen“ Sprache verfasst ist. Lucas’ Analphabetismus ist nicht nur funktional, sondern auch historisch bedingt; er weiß nicht, dass die Sprache, die er kaum spricht und die er nicht richtig lesen und schreiben kann, die Sprache seiner Vorfahren, der portugiesischen Kolonialmacht, ist. Die Unwissenheit entspricht der fehlenden Grundstruktur des kleinen Hauses, dessen fehlender Strom Lucas davor bewahrt, seiner Mutter eine schlechte Schulnote zeigen zu müssen (4:26). Die Mutter rückt aber nun in den Mittelpunkt und stellt ihre Fähigkeit unter Beweis, den Widrigkeiten eines elenden Lebens zu trotzen und ihren Sohn unter Androhung der Kastration zum Lernen zu bewegen. Da dieser nicht auf die Hilfe seiner Eltern zählen kann, beginnt der kleine Junge im Trikot der brasilianischen Fußballnationalmannschaft seine sprachliche Odyssee. Es ist interessant zu sehen, wo der Junge nach Informationen sucht. Sein eingeschränkter und unvollständiger Zugang zu Informationsquellen und den verschiedenen Medien veranlasst ihn, die Informationen, die er braucht, bei den Menschen zu suchen, mit denen er zusammenlebt. Ein komisches Beispiel ist die Suche nach der Bedeutung des Wortes „Morgenröte“. Nachdem er eine Dame auf der Straße gefragt hat, antwortet sie, dass Morgenröte der Name ihrer Nachbarin sei (weil Aurora/Morgenröte im Portugiesischen ein weiblicher Name ist). Auf jeden Fall beginnt seine Suche nach Wissen mit der Lektüre eines Buches, einem antiquierten Gegenstand, der in seinem sozialen Umfeld keinen Wert hat. Als Lucas das Lesen aufgeben will, wird er von einem Müllsammler, einem Diogenes brasilianischer Prägung, vor der Urheberschaft des Buches und seinem Autor gewarnt.⁸ Der Müllmann informiert Lucas, dass der Autor des Buches Nietzsche heißt, aber der Junge ist nicht damit zufrieden, dass so viele Buchstaben, neun an der Zahl, so kurz ausgesprochen werden können: „Nit“⁹. Der Müllmann erklärt Lucas, dass Nietzsche diesen Namen trägt, weil er aus dem Nordosten kommt. Der Junge findet das seltsam, denn er kennt keinen Nordostler mit diesem Namen¹⁰.

 Nach Angaben der Nationalen Bewegung der Wertstoffsammler (MNCR) sind in Brasilien rund 800 Tausend Wertstoffsammler tätig; 70 % von ihnen sind Frauen. Siehe: https://www.brasildefato. com.br/2021/09/14/catadores-de-materiais-reciclaveis-sentem-impacto-da-pandemia-na-producao-eno-bolso-em-pe  Insbesondere das brasilianische Portugiesisch hat eine starke Tendenz zu offenen Silben, die auf Vokale enden. Da in dieser neulateinischen Sprache die längste konsonantische Begegnung nur zwei Konsonanten vereint („lh“, „sp“, „br“ usw.), ist es sowohl für Gebildete als auch für Analphabeten seltsam und folglich schwierig, lange konsonantische Begegnungen wie „tzsch“ zu lesen und auszusprechen.  Obwohl Lucas nicht lesen kann, weiß er den nordöstlichen Akzent von dem „brasilianischen“ seiner Mutter zu unterscheiden, die, wie so viele andere Brasilianer, aus den ärmeren Regionen des Nordens und Nordostens Brasiliens auf der Suche nach Arbeit in reichere Regionen wie den Süd-

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Als er herausfindet, dass es tatsächlich um den Nordosten Europas, Deutschland, geht, interessiert sich der Junge wieder für das Buch und vermutet einen möglichen Zusammenhang mit der deutschen Fußballnationalmannschaft, was der Müllmann auch nicht abstreitet. Lucas’ sokratische Suche nach der Bedeutung von Worten in den Randgebieten der brasilianischen Polis endet mit einem Exorzismus in der neopentekostalen Kirche des Viertels, nachdem er seine Mutter gefragt hat, ob Gott wirklich tot sei. Auf dem Weg aus der Kirche, nach dem Exorzismus, fragt ihn seine Mutter, wo und von wem er so viel „Dummheit“ gelernt habe¹¹. Der Junge mit den kleinen Ohren antwortet, dass er das von einem Freund, Nietzsche, gelernt habe, der auch aus dem Nordosten käme, und versucht damit, die Sympathie seiner Mutter zu gewinnen.Von diesem Moment an (10:13) werden Lucas’ Worte zu Zitaten aus der brasilianischen Übersetzung von Also sprach Zarathustra. Die Stimme des Jungen, der Passagen aus dem Buch rezitiert, bildet den Hintergrund für eine Sequenz von halb beleuchteten Bildern, die die eigentümliche Ästhetik der prekären und ungeplanten Urbanisierung der brasilianischen Peripherie mit viel Müll und freilaufenden Tieren auf den Straßen offenbaren und verbergen. Dieser kleine Ausschnitt veranschaulicht gut, was wir eine anthropophagische Rezeption nennen. Also sprach Zarathustra ist in die brasilianische Lebensweise eingebunden, aktualisiert, machtvoll und engagiert. Nach der Exorzismus-Szene lobt die Lehrerin Lucas, dem es dank des Erwachens durch das Lesen des Zarathustra gelingt, seine Schulnoten zu verbessern; das komische Detail ist das mit Kreide auf die grüne Tafel gezeichnete Herz, das die Namen von Lou und Rée einrahmt. Im folgenden Dialog mit der Lehrerin sind die Antworten allesamt Zitate aus dem Zarathustra. Strauss’ Trompetentöne kehren in die Szene zurück und kündigen den Höhepunkt an. Lucas antwortet der Lehrerin, dass er Superman werden möchte, wenn er groß ist. Die Lehrerin wendet sich daraufhin an die Schulbehörde, um dies anzuzeigen, aber da sich Lucas’ Noten verbessert haben, gibt es keine Möglichkeit, ihn zu bestrafen, zumindest nicht auf institutionellem Wege, weshalb sie seine Mutter einschalten. Es ist interessant festzustellen, dass die Verkündung des Übermenschen durch Lucas, anders als durch Zarathustra auf dem Marktplatz, viele offene Ohren findet.

osten, den Süden oder sogar den mittleren Westen mit seiner Dienstleistungs- und AgrobusinessAgglomeration, wie Brasilia, auswandert ist.  Die Reaktion von Lucas’ Mutter spiegelt, abgesehen von ihrer Unwissenheit und ihrem Konservatismus, eine gewisse Abneigung gegen Wissen, Wissenschaft und gelehrte Kultur wider, die in jüngster Zeit in Brasilien mit einer populistischen Regierung der extremen Rechten an Stärke gewonnen hat, die Positionen wie Antivax vertritt, was sich nicht nur auf die Nietzsche-Rezeption, sondern auf die Entwicklung wissenschaftlicher Erkenntnisse in Brasilien insgesamt auswirkt.

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Superman wird von den Kindern bejubelt, die seinen Namen schreiend wiederholen. Zu Hause stellt Lucas fest, dass seine Mutter das Buch an den Ort zurückgebracht hat, an dem er es ursprünglich gefunden hatte: in den Müll. Das Kommen und Gehen des Buches, sein Gebrauch und sein Nichtgebrauch (und Missbrauch) ist eine Metapher für die Ambiguität des brasilianischen digitalen Zeitalters, das zwischen der analogen und der digitalen Welt, Tablets, Kindles, Podcasts auf der einen, Büchern, Zeitungen und bedrucktes Papier auf der anderen Seite oszilliert. Symbolisch ist es jedoch das Buch, das durch die Hände von Lucas’ Mutter in den Müll wandert. In ihrer prekären Art, die Welt zu lesen, weiß sie vielleicht nicht, dass ihr Sohn seinen Freund Nietzsche über verschiedene andere Medien erreichen kann. Aber sie weiß um das Potential von Büchern und ihren Ideen, auch im Zeitalter der Digitalisierung, denn sie selbst trägt ein Buch mit in die Kirche, wie wir in der Exorzismus-Szene sehen. Da die einzige Verbindung hierzu für Lucas das weggeworfene Buch bildet, besteht Lucas’ einzige Alternative darin, zurück zur Müllkippe zu gehen und das Buch zu suchen, um es zu konsumieren, um zu konsumieren, was übrig ist – um Müll zu essen. Dies ist eine weitere Metapher, nunmehr für unser Verhältnis zur alten Welt. Die Musik zu ihrem Bankett des Elends wird ein Auszug aus Nietzsches Hymnus an das Leben (1887) sein, an dessen Ende sich ein weiteres Liebesdreieck bildet: Inmitten des Mülls findet Lucas nicht mehr Nietzsche, sondern Marx, durch eine alte Ausgabe des Manifests der Kommunistischen Partei, mit jenem bekannten Schlusssatz, der Die Internationale intoniert. Der Regisseur des Kurzfilms, Fáuston da Silva, kennt die Realität der brasilianischen Peripherie aus zwei Gründen gut, insbesondere die von Brasilia. Erstens wegen seiner eigenen Erlebnisse, denn auch er kommt aus der Peripherie. Wie so viele andere junge Menschen und auch bei Marcelo, den ich im nächsten Abschnitt vorstellen werde, wurde auch da Silvas Hochschulausbildung nur durch die Programme zur Ausweitung der Hochschulbildung in Brasilien ermöglicht.¹² Der zweite Grund ist kurioser: Da in Brasilien die Anreize für Kultur gering sind und mit dem Wegfall des Kulturministeriums im Jahr 2019 (das den Film 2012 unterstützt hat, wie im Vorspann zu sehen ist) noch weiter reduziert wurden, müssen junge und

 Insbesondere in den ersten beiden Jahrzehnten des 21. Jahrhunderts. Allein zwischen den Jahren 2003 und 2012, als der Kurzfilm veröffentlicht wurde, stieg die Zahl der Einschreibungen an brasilianischen Hochschulen um 81 %, von 3,8 Millionen auf 7 Millionen Studierende: https://g1.globo. com/educacao/noticia/2013/10/numero-de-matriculas-no-ensino-superior-cresce-81-em-dez-anos. html. Trotzdem sind auch heute nur noch 18,1 % der jungen Brasilianer zwischen 18 und 24 Jahren an einer Hochschule eingeschrieben: https://www.cnnbrasil.com.br/nacional/apenas-18-1-dos-jovens-de18-a-24-anos-estao-matriculados-no-ensino-superior/

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sogar erfahrene Filmschaffende in anderen Jobs arbeiten, um ihre Produktionen zu finanzieren. So ist Fáuston da Silva nicht nur Filmemacher – sein Kurzfilm, den wir untersucht haben, wurde in verschiedenen Ländern mit mehr als hundert Preisen¹³ ausgezeichnet und wird auf digitalen Plattformen sehr häufig angesehen –, sondern auch Militärpolizist. In einem Interview¹⁴ stellt der Regisseur jedoch klar, dass es ihm im Gegensatz zu vielen ausländischen Produktionen und Blockbustern darum geht, Filme in der Peripherie und über die Peripherie zu machen, ohne die Peripherie zu verletzen, d. h. ohne die Stereotypen und Vorurteile zu verstärken, die allgemein mit den Peripherien, Favelas usw. verbunden werden. Auf die Frage nach dem Verhältnis zwischen seiner filmischen Perspektive und seiner Karriere als Polizist antwortet der Filmemacher „Leider ist in vielen Regionen Brasiliens der längste Arm des Staates die Repression. Die Polizei kommt dorthin, wo Gesundheit und Bildung nicht hinkommen“. Der Regisseur Fausto, der den gleichen Namen wie der Protagonist von Goethes Tragödie und auch der eines beliebten brasilianischen Fernsehmoderators, Fausto Silva, trägt, erinnert sich auch daran, dass Mitglieder seines Teams während einer der Aufnahmen des Kurzfilms am Rande von Brasilia von Anwohnerinnen und Anwohnern nach der Handlung des Films gefragt wurden. Als diese antworteten, dass es sich um einen Film über Nietzsche handle, fragte jemand, ohne eine Ahnung zu haben, worum es ging, ob Nietzsche der Name eines Drogendealers sei. Bei der Analyse der YouTube-Videos, die wir nacheinander durchführen werden, wird sich diese Assoziation wiederholen.

3 Nietzsche: o famoso roba brisa Das zweite Beispiel, das ich vorstellen möchte, ist ein Video, das auf einem brasilianischen YouTube-Kanal viral gegangen ist. Die Übersetzung des Titels ist die erste Herausforderung: Nietzsche: o famoso roba brisa würde auf Deutsch etwa „Nietzsche: der berühmte Dieb der Brise“ heißen. Ich habe die Art und Weise beibehalten, wie der Titel heute noch auf der Plattform geschrieben wird¹⁵, mit einem Akzentuierungsfehler (der Doppelpunkt ist durch ein Leerzeichen vom Wort getrennt) und dem Wort „roba“, das ohne den Vokal „u“ geschrieben wird (richtig wäre rouba). Diese Klarstellung ist in der Tat das Ergebnis einer gewissen intellektuellen

 Vgl. https://hojefilmes.com.br/sobre/  Vgl. https://www.youtube.com/watch?v=q8dHpTrHdVg&t=474s  https://www.youtube.com/watch?v=0cJnYjnjNjU&t=367s, besucht im März 2022.

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Arroganz und verdeutlicht die Distanz zwischen diesem Autor und seiner angemaßten Autorität und dem jungen Urheber des Videos. Schließlich handelt es sich um einen Slang im Titel eines Videos, das auf einer öffentlich zugänglichen Plattform zur Verfügung gestellt wird und das schon von seiner Form her darauf abzielt, Followers zu gewinnen und Views zu erzielen. ‚Brise‘ bezieht sich in diesem Jargon nicht auf „die Luft [des Herbstes] ist so kristallklar“ (Bf. an Franziska und Elisabeth Nietzsche, 06.09.1863, KGB I/1, Bf. 376) von Pforta und Umgebung, die schon der Knabe Nietzsche zu schätzen wusste, sondern auf die beruhigende Wirkung von Drogen wie Marihuana. ‚Die Luft/Brise stehlen‘ bedeutet also, jemanden aus einem Zustand der Lethargie, der Ruhe oder der Entspannung herauszuholen, z. B. eine konkrete, realistische Version der Tatsachen zu präsentieren statt einer eher chimärenhaften, fantastischen Version. Der Schöpfer, Urheber und Verbreiter des Videos (Eigenschaften, die nicht einmal Nietzsche selbst in Bezug auf sein Werk besaß) ist der junge Marcelo Marques, der sich mit dem Künstlernamen „Audino Bösewicht“ vorstellt. Wie wir sehen werden, ist „Bösewicht“¹⁶ auch der Spitzname, den Nietzsche im Video erhält und auch Marques’ Unterschrift, um Derrida zu zitieren.¹⁷ Der junge Mann der Generation Z ist auf digitalen Plattformen für seine Initiative bekannt geworden, die Gedanken großer Philosophen für die Allgemeinheit zu übersetzen und populär zu machen. Mit einer Reihe von Slangs aus der brasilianischen Peripherie und alltäglichen Beispielen, die meist die Realität der armen Bevölkerung Brasiliens beschreiben, hat Audino bereits Inhalte zu Foucault, Durkheim, Marx, Themen aus Politik und Geschichte und sogar ein exotisches Video produziert, in dem er vorschlägt, Kants Kritik der reinen Vernunft zu erklären, während er sich die Haare schneidet.¹⁸ Audino beginnt mit einem Dank an Gott für die zweitausend Abonnenten seines Kanals im Jahr 2020. Zum Zeitpunkt der Abfassung dieses Kapitels, im März 2022, sind es mehr als einhundertdreißigtausend. Nachdem er seine Hände in einer typisch christlichen Geste zum Himmel erhoben hat, ergänzt er, dass er seine Follower-Zahlen sogar noch vergrößern wird, wenn Bàbá Mi Ògún (eine der Begrüßungsformen für einen òrìṣà in der Sprache der Yorùbá) ihm hilft. Sein Armband aus Muschelschalen und das Wort Laróyè („kümmere dich um mich“, auch in Yorùbá), das auf seine Brust tätowiert ist (aus irgendeinem Grund unter einem Zylinder), lassen die Religion der afrikanischen Stämme, in diesem Fall Candomblé,  Ich danke Helmut Heit für das nette Gespräch über die Unterschiede in der deutschen Sprache zwischen Bösewicht, Schuft, Betrüger, Übeltäter usw.  Vgl. Jacques Derrida, Otobiographies. L’enseignement de Nietzsche et la politique du nom propre, Paris 1984.  Vgl. https://www.youtube.com/watch?v=U72Nye3hrFs

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durchscheinen, zu der sich der junge Mann in der Sequenz des Videos bekennen wird, im Rahmen der Erläuterung von Nietzsches Religionskritik. Ich weise auf diese kleinen anfänglichen Details hin, um die Fülle an Symbolen, Einflüssen, Informationen und Kulturen zu verdeutlichen, ein wahres Big Data, das die Rezeption oder die kreative Verwirrung dieses Videos (und vieler anderer) leitet.¹⁹ Es gäbe kein besseres Bild, um die Form zu veranschaulichen, die Nietzsches Korpus in Videos wie diesem annimmt, als das eines Palimpsests, in dem Zitate, Verweise, Klischees übereinander gelegt werden. Nach einer Minute der Danksagung, die für die Generationen Z und A wohl eine Ewigkeit dauert, nimmt Audino eine entspannte Haltung ein, während er sein Thema oder seinen „speziellen Trödel“ zur Feier der zweitausend Abonnenten des Senders ankündigt (1:04): „Heute bringen wir den Bösewicht, den Kerl, der Ihnen den Wind aus den Segeln nimmt“, und während er das Cover einer Taschenbuchübersetzung der Götzendämmerung einrahmt, auf dem Nietzsche abgebildet ist, fügt er hinzu: „Schauen Sie sich seinen Schnurrbart an, den Schnurrbart des Bösewichts“ und vergleicht Nietzsche dann mit zwei ikonischen Figuren der lateinamerikanischen Marginalität, dem italienisch-amerikanischen Gangster Al Capone und dem kolumbianischen Drogenhändler Pablo Escobar. Nietzsches Gesicht mit seinem ikonischen Schnurrbart, das ironischerweise auf dem Umschlag des Buches mit dem Titel Götzendämmerung abgebildet ist, trägt dazu bei, ein neues Idol zu schaffen, einen Anti-Helden, einen Ausgestoßenen des Denkens, der die Ruhe, die Lethargie derer stiehlt, die in ihren Überzeugungen versunken sind. Das Totem ist vollständig. In seiner Einleitung sagt Audino, dass er sich mit Nietzsche befassen wird, einem „Bruder“, über den alle reden, aber den nur wenige verstehen, der auf eine schwierige Art spricht (schreibt) und komplexe Ideen hat, die er zu übersetzen versucht. Das reicht aus, damit die unkonzentrierte Generation, die ihm zusieht, nicht auf ein anderes Video umschaltet. Es ist interessant und frustrierend zugleich, dass in Brasilien die wirtschaftliche und soziale Ungleichheit so groß und die gelehrte Kultur (die akademische Welt) so weit vom Volk entfernt ist, dass man eine Übersetzung der eigenen Sprache braucht, um einige philosophische Themen zu verstehen. In gewisser Weise war dies auch die Aufgabe von Lucas in dem zuvor vorgestellten Kurzfilm, nämlich die eines Analphabeten, der eine exklusive (gelehrte) Sprache lernen muss, um sie in großem Umfang zu übersetzen. Im Grunde  Eines der Videos über Nietzsche mit den meisten Aufrufen auf YouTube, rund sechs Millionen, ist das Comedy-Video des brasilianischen Kanals „Galo Frito“, das eine Debatte zwischen Nietzsche und der Figur Don Jamon („Seu Madruga“, in der brasilianisch-portugiesischen Übersetzung) aus der mexikanischen Comedy-Serie Chaves inszeniert, die in Brasilien im frei empfangbaren Fernsehen sehr beliebt ist.

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genommen handelt es sich bei den beiden hier besprochenen Produktionen um eine Übersetzungsarbeit, die jedoch, anders als das alte italienische Sprichwort traduttore, traditore, nicht der Treue zum Text verpflichtet ist, sich nicht dem Text und der Autorität der Autorin oder des Autors unterwirft, sondern diesen in einem anthropophagischen Ritual verschlingt.²⁰ Kurz gesagt, die Darstellung der Philosophie des Bösewichts Nietzsche-Al Capone-Escobar läuft auf einige wenige Begriffe hinaus, die durch die Interpretation von Martin Heidegger heiliggesprochen wurden und die Audino aus einem veralteten brasilianischen Philosophie-Handbuch oder aus Wikipedia entnommen haben muss. Ich möchte nur zwei Beispiele hervorheben, die Audino verwendet, um Nietzsches Gedanken zu aktualisieren und auf die brasilianische soziale Realität anzuwenden. Das erste Beispiel (8:20) betrifft Audinos Unbehagen im Umgang mit Nietzsches Religionskritik. Nachdem er wiederholt gesagt hat, dass es sich nicht um eine „Kritik“ handelt (das ist bezeichnend für das, was er unter Philosophie im Allgemeinen versteht), dass die Absicht nur„didaktisch“ sei, macht Audino eine Reihe von Aussagen über Nietzsche, die zwischen Oberflächlichkeit und Selbsthilfe oszillieren, indem er darauf besteht, dass das Problem der religiösen Menschen (nur) ihr Mangel an Aufrichtigkeit sei. Audino ist sich bewusst, dass sein Publikum, das große Publikum, das in dem Kurzfilm durch die Figur von Lucas’ Mutter dargestellt wird, stark religiös und konservativ geprägt ist, und dass die Religionskritik möglicherweise das am weitesten von der aktuellen brasilianischen Realität entfernte Element in Nietzsches Denken ist. Es stimmt, dass die Kritik auch einige „heikle“ Themen (das Prädikat stammt von Audino) von Nietzsches Denken ausspart, wie seine frauenfeindlichen (KSA 6, S. 63) oder eugenischen (KSA 13, S. 99–100) Aussagen. Für die Dynamik bzw. das Kapital des Zeitalters der Digitalisierung ist es jedoch wichtiger, ein Produkt zu schaffen, das dem Mainstream des Konsums entspricht, selbst wenn es notwendig ist, einige Merkmale zu kürzen oder zu verbergen, um damit politische und ideologische Themen zu umgehen. Anders als die Verachtung für den Verrückten in dem bekannten Aphorismus 125 der Fröhlichen Wissenschaft würde die Ankündigung von Gottes Tod auch heute noch in Brasilien den Zorn der Cancel Culture hervorrufen, schließlich ähnelt der brasilianische Durchschnittsmensch am ehesten Za-

 In meinem Vortrag auf dem 31. Internationalen Nietzsche-Kongress habe ich die Anthropophagie als Metapher verwendet, um über den Prozess der Einverleibung nachzudenken, der mit der Rezeption von Nietzsche, insbesondere in Brasilien,verbunden ist. Zu diesem Thema: Andrade, Oswald de (2011), „Manifesto Antropófago“. In: Revista Periferia 3, Nr. 1.; Nunes, Benedito (1979), Oswald canibal. São Paulo: Perspectiva.

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rathustras „altem Heiligen“, der immer noch nicht weiß, dass Gott tot ist (was das Internet zu verbergen hilft). Das zweite Beispiel ist ironischerweise mit unserem theoretischen Rahmen verbunden. Um die Lehre von der Ewigen Wiederkehr (4:10) zu erklären, greift Audino auf das Beispiel der sich wiederholenden und stagnierenden Arbeit von Essenslieferdiensten zurück (in Apps wie Ifood usw.). Angesichts des Anstiegs der Arbeitslosigkeit und der daraus resultierenden Zunahme der Schwarzarbeit in Brasilien in den letzten Jahren war die Arbeit (ohne rechtliche und soziale Garantien) des Lieferdienstes (hypertrophiert durch die Pandemie von COVID 19) die einzige und letzte Option für viele Brasilianerinnen und Brasilianer.²¹ Über die Strategie der Verknüpfung von Nietzsches Philosophie mit einer Alltagssituation, die Identifikation schafft und Engagement erzeugt, hinaus, ist das Beispiel besonders interessant, weil es die untergeordnete Position der brasilianischen Konsumierenden, Erwartungsvollen, Anhängerinnen und Anhänger bzw. Leserinnen und Lesern gegenüber dem Konsumgut, in diesem Fall Nietzsches Philosophie, zeigt. In Audinos Beispiel transportiert der Lieferdienst die Konsumgüter, während die Figur Lucas in dem Kurzfilm nur Zugang zu dem hat, was davon übrig ist: dem Müll. Indem wir diese Situation anprangern, werden die beiden Beispiele, die wir vorgestellt haben, unter Nietzsches Vorwand zu den wirklichen Bösewichten, die die Brise unserer sozialen Heuchelei stehlen. Der Abstand zwischen barbarisch und zivilisiert muss hier neu überdacht werden.

4 Schluss Über eine neue Version oder einen neuen Trend hinaus hat das Zeitalter der Digitalisierung eine Inkorporation, Re-Inkorporation und Dis-Inkorporation verschiedener Kulturkorpora ausgelöst. Während Nietzsches Eingangszitat den aktiven Charakter unserer kognitiv-schöpferischen und verdauungsfördernden Fähigkeit hervorhebt, zwingt uns die entkörperlichte virtuelle Welt die Passivität von Followers und Viewers auf. Das rituelle Slow Food, das z. B. von brasilianischen anthropophagen Indigenen kultiviert wird und dessen intellektuelle Version sich Nietzsche von seinen Lesern wünschte, das Slow Reading (KSA 1, S. 648), wird von der Zeit des Fast Food-Konsums überrollt.

 Die Arbeitslosenquote in Brasilien lag Ende 2021 bei etwa 12,5 %. Nach Angaben des IBGE sind von den 86,7 Millionen Beschäftigten in Brasilien 34,7 Millionen informell tätig, z. B. als Zusteller in Verbindung mit Apps: https://www.ibge.gov.br/explica/desemprego.php

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Was bleibt in dieser neuen Diätetik der „geträumten Speise“ (KSA 3, S. 112) vom Text, von der Autorschaft, von der Philosophie? Hat der binomische Korpus-Corpus überhaupt noch einen Sinn? Was können wir in einer Zeit, in der der Papst in 140 Zeichen auf Twitter kommuniziert, vom Autor des Antichrist und seiner Rezeption erwarten? Den Wahrheitsanspruch gedruckter Veröffentlichungen? Oder ein Zukunfts- Korpus, um an die Kritik von Wilamowitz-Moellendorff zu erinnern? Diese Fragen scheinen an ein Petit Comité gerichtet zu sein. Ein solches würde wohl nur wenige Views erhalten. Es gibt kein Engagement. In der Zwischenzeit wird Nietzsche zumindest in Brasilien, wie ich hoffentlich gezeigt habe, von der großen Öffentlichkeit verschlungen und verinnerlicht, und zwar in einem Ritual, bei dem man nicht um Erlaubnis bitten muss, sich an den Tisch zu setzen – Wo man im Stehen isst. Wenn man isst. Kants Frage „Was soll ich tun?“ hat hier keinen Sinn. Ganz einfach weil wir, wie Foucault vor über vierzig Jahren warnte, nicht aufgefordert wurden, eine Meinung zu äußern: „Or ce que les intellectuels ont découvert depuis la poussée récente, c’est que les masses n’ont pas besoin d’eux pour savoir; elles savent parfaitement, clairement, beaucoup mieux qu’eux; et elles le disent fort bien“ (Foucault 1994, S. 308). Offensichtlich werden wir, die Intellektuellen, zumindest an diesem Bankett nicht teilnehmen.

Literaturverzeichnis Andrade, Oswald de (2011): „Manifesto Antropófago“. In: Revista Periferia 3, Nr. 1. Benders, Raymond/Oetermann, Stephan/Reich, Hauke (Hrsg.) (2000): Friedrich Nietzsche. Chronik in Bildern und Texten. München, Wien: Deutscher Taschenbuchverlag. Bezerra, Lucila (2021): Catadores de materiais recicláveis sentem impacto da pandemia na produção e no bolso em PE. Recife: Brasil de Fato https://www.brasildefato.com.br/2021/09/14/catadores-demateriais-reciclaveis-sentem-impacto-da-pandemia-na-producao-e-no-bolso-em-pe, besucht am 19. 08. 2022. Blondel, Éric (2006): Nietzsche. Le corps et la culture. Paris: L’Harmattan. Cabral, Bárbara (2014): Meu amigo Nietzsche. [Interview mit dem Regisseur Fáuston da Silva]. Brasília: UnBTV Lanterninha. https://www.youtube.com/watch?v=q8dHpTrHdVg&t=474s, besucht am 19. 08. 2022. Castro, Eduardo Viveiros de (2015): Metafísicas canibais. Elementos para uma antropologia estrutural. São Paulo: Cosac Naify. Castro, Josué de (1984): Geografia da Fome. Rio de Janeiro: Ed. Antares. Derrida, Jacques (1984): Otobiographies. L’enseignement de Nietzsche et la politique du nom propre. Paris: Éd. Galilée. Foucault, Michel (1994): Dits et écrits. 1954-1988. Édition de Daniel Defert, François Ewald et Jacques Lagrange. Paris: Gallimard. Hojefilmes (2022): https://hojefilmes.com.br/sobre/, besucht am 19. 08. 2022.

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Autorinnen und Autoren Carlo Chiurco is associate professor of ethics and bioethics at the University of Verona, Italy, where he teaches at the Dept. of Engineering for Innovation Medicine. He is currently leading the research project „HEALING – Health and Illness in Nietzsche and the Greeks“ on the role and meaning of health and illness physiologically understood in Nietzsche’s philosophy, and the influence of Greek philosophy and medicine in the making of such notions and the Marie Sklodowska-Curie project „NET – Nietzsche’s environmental ethics“. His latest publications on Nietzsche include articles for the 2018 and 2019 Nietzsche Tagungen volumes, an article on the gypsy figure as paradigm of the liberated man, an article on resentment and (rather than against) aristocracy, and another on Nietzsche and Plato about tyranny and the passion for power. He recently published Transfigured Europe. Philosophy of Power between Nietzsche and Guardini (in Italian), a book about Europe’s decline in relation to the philosophy of power (ETS, Pisa 2022), and is currently editing (together with Francesco Cattaneo) the autumn issue of Studi di estetica entitled Nietzsche’s aesthetics: the human between health and illness. Manuel Clancett studierte Liberal Arts und Kulturwissenschaften – Schwerpunkt Philosophie und Literaturwissenschaften – an der Leuphana Universität Lüneburg mit Aufenthalten in Paris Ouest, Frankreich und am Marlboro College, USA. Heute promoviert er an der Leuphana Universität zu Friedrich Nietzsches und Karl Marx’ Subjekttheorien und ihren historischen Wirkungszusammenhängen. Seine Arbeitsschwerpunkte liegen innerhalb der Kritischen Theorie. Darüber hinaus arbeitet er zu Bertolt Brecht, mit besonderem Augenmerk auf Brechts Boxbegeisterung und seinen soziologischen Versuchen. Zuletzt ist ein Artikel zum Thema Brecht und Recht in den Weimarer Beiträgen erschienen. Niklas Corall studierte Philosophie, Soziologie und Psychologie an den Universitäten Tübingen und Valencia. Seine Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der gegenwarts- und digitalisierungsbezogenen Sozialphilosophie in der Theorietradition Nietzsches und Foucaults. Zuletzt veröffentlichte er den Aufsatz „Reformation und Regierungskunst: Wahrheit als Grundlage normalisierender Macht bei Nietzsche und Foucault“ (De Gruyter, 2020) in den Nietzsche-Lektüren: Nietzsche und die Reformation. In englischer Sprache erschienen die Artikel „The Greatest Advantage of Polytheism: Monotheism and Normalization through Truth“ (De Gruyter, 2022) in Nietzsche Today: Nietzsche’s God(s) und „Voluntary Submission and the ‚Politics of Truth‘: Nietzsche and Foucault on the Danger of the Fully Normalised ‚Last Human‘“ (De Gruyter, 2022) in Nietzsche and the Politics of Difference. Niklas Corall arbeitet als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Paderborn. Ricardo Bazilio Dalla Vecchia ist Professor an der Philosophischen Fakultät der Bundesuniversität von Goiás, Brasilien. Die Promotion erfolgte in Philosophie an der Staatlichen Universität von Campinas, mit einem Forschungspraktikum (2010–2011) an der Universität Greifswald. Er legte ein Postdoktoratsstudium an der Technischen Universität Berlin und an der Neuen Universität Lissabon (2021) ab. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen der Geschichte der modernen und zeitgenössischen Philosophie, Ethik und Erkenntnistheorie, wobei er sich auf Autoren wie Nietzsche, Kant, Schopenhauer und Foucault konzentriert. Knut Ebeling ist Professor für Medientheorie und Ästhetik an der weißensee – kunsthochschule berlin. Studium in Berlin und Paris, Arbeitsfelder: moderne und zeitgenössische Philosophie, ästhetische Theorien, Medien des kulturellen Gedächtnisses (Archiv, Sammlung, Museum), Theorie, Ästhetik und https://doi.org/10.1515/9783111072890-017

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Autorinnen und Autoren

Epistemologie der materiellen Kultur, Archäologie der zeitgenössischen Kunst. Jüngste Publikationen: Wilde Archäologien 1. Theorien materieller Kultur von Kant bis Kittler, Berlin: Kadmos 2012; Wilde Archäologien 2. Begriffe der Materialität der Zeit von Archiv bis Zerstörung, Berlin: Kadmos 2016; There Is No Now. An Archaeology of Contemporaneity, Berlin: Sternberg Press 2017; Sorge. Autotheorie der Trauer, Hamburg: textem 2021; Permeationen – Durchdringungen zwischen ästhetischer Theorie und künstlerischer Forschung (Mithrsg.), Leipzig: Spector Books 2023. Stephan Günzel ist seit 2011 Professor für Medientheorie an der University of Europe for Applied Sciences (UE) in Berlin im Fachbereich Art & Design tätig. Er leitet dort seit 2016 das Institut für gestalterisches Forschen und war 2012 bis 2013 Forschungsdekan. 2014 gründete er den Bachelor-Studiengang Game Design der UE, nachdem er ab 2008 das von ihm mitgegründete Zentrum für Computerspielforschung an der Universität Potsdam koordinierte. Derzeit ist er Leiter des Masterprogramms New Media Design. Von 2018 bis 2022 war er Gastprofessor und Fachgebietsleiter für Medienwissenschaft an der TU Berlin sowie 2009 Gastprofessor für Kulturtheorie und Raumwissenschaften an der Humboldt-Universität zu Berlin. Als Visiting Fellow war er 2010 am Historisch-Kulturwissenschaftlichen Forschungszentrum der Universität Trier sowie 2012 und 2014 im DFG-Graduiertenkolleg „Dynamiken von Raum und Geschlecht“ an der Universitäten Kassel und Göttingen tätig. Seit 2009 ist er zudem als Gastdozent für Philosophie an der Alpen Adria Universität in Klagenfurt tätig. Seine Forschungsschwerpunkte sind Bild-, Kultur-, Medien- und Raumtheorie, Game Studies, Philosophie des 19. und 20. Jahrhunderts sowie Virtual und Augmented Reality. Sybille Krämer war bis zum Ruhestand 2018 Professorin für Philosophie an der Freien Universität Berlin und ist jetzt Gastprofessorin an der Leuphana Universität Lüneburg. Mitglied im Wissenschaftsrat (2000–2006), im European Research Council (2007–2014), im Senat der Deutschen Forschungsgemeinschaft (2009–2015), Permanent Fellow am Wissenschaftskolleg zu Berlin/ Institute for Advanced Study (2005–2008). Gastprofessuren u. a. in University of California Santa Barbara, Chile, Yale, Shanghai, Tokyo, Wien, Zürich, Luzern; 2016 Ehrendoktorat verliehen von Linköping University/Sweden. Forschungsfelder: Philosophie der Medien (Sprache, Schrift, Bild), Mathematik und Philosophie, Soziale Epistemologie, Theorie und Geschichte der Kulturtechniken und des Digitalen, Theorien des Performativen. Buchveröffentlichungen: Medium, Bote, Übertragung. Kleine Metaphysik der Medialität (2008), Frankfurt am Main: Suhrkamp (übers.: japanisch, englisch, italienisch, chinesisch). Figuration, Anschauung, Erkenntnis: Grundlinien einer Diagrammatologie (2016), Berlin: Suhrkamp. Mit Ch. Ljungberg (Hrsg.): Thinking with Diagrams – The Semiotic Basis of Human Cognition, Boston/ Berlin 2016. Mit Sigrid Weigel: Testimony/Bearing Witness. Epistemology, Ethics, History, Culture, London 2017. Charles Lebeau-Henry is a doctoral candidate in philosophy at the Université catholique de Louvain in Louvain-la-Neuve, Belgium, where he is preparing a dissertation on the role of the arts and of artists in Nietzsche’s „middle period“ philosophy with the support of fellowships from the Fonds de recherche du Québec – Société et culture (Canada) and of Wallonie-Bruxelles International (Belgium). His broader research interests concern the historical and contemporary philosophy of art, the philosophical debates on the „powers“ of the arts and especially of music, German philosophy and philosophy of culture. Martine Prange hat die Professur für Philosophie des Menschen, Kultur und Gesellschaft am Fachbereich Philosophie der Universität Tilburg (Niederlande) inne. Prange arbeitet derzeit über Nietzsche und das Problem der Nach-Wahrheit. Prange leitet die Forschungsprojekte Countering Cancel Culture: Towards a New Ethics of Listening (2021–2022) und Trolling Attacks and Hate Campaigns: Towards a Heal-

Autorinnen und Autoren

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thy Use of Social Media in the Public Sphere (2019–2023). Das Forschungsprojekt Free Speech Reconsidered: Parrhesiasthes and the Changing Dutch Public Sphere (2017–2018) hat Prange erfolgreich zum Abschluss gebracht. Prange interessiert sich besonders für die Nach-Wahrheitsgesellschaft, die Beziehung zwischen Wahrheit und Demokratie (Foucault und parrhesia), Wahrheit und öffentliche Meinung (Kant) und philosophische Theorien der Medien (McLuhan, Postman, Zuboff ). Dazu bereitet Prange derzeit das Buch Parrhesia, Critique, and Media sowie (mit Dr. R. Bamford) den Sammelband Nietzsche and Humanity: (Anti‐)Humanismus, Posthumanismus, Transhumanismus vor. Renate Reschke, Studium Kulturwissenschaft und Germanistik; Promotion zur Ästhetik und Geschichtsphilosophie Friedrich Hölderlins (1972), Habilitation (Dr. sc.) zur Ästhetik und Kulturkritik Friedrich Nietzsches (1984); bis zur Emeritierung Inhaberin der Lehrstuhls Geschichte des ästhetischen Denkens am Seminar für Ästhetik, Humboldt-Universität zu Berlin (1993–2009); Gründungsmitglied der Nietzsche-Gesellschaft, stellv. Direktorin der Nietzsche-Stiftung (seit 2008 Ehrenmitglied des Direktoriums), Herausgeberin des Jahrbuches Nietzscheforschung; BKV (2015); neueste Veröffentlichungen u. a.: Hölderlin liest Winckelmann – Nietzsche liest Hölderlin. Was Lektüren bewirken…, Akzidenzen 23, Flugblätter der Winckelmann-Gesellschaft, Stendal 2021; Ästhetische Bildung bei Friedrich Nietzsche, in: Zeitschrift für Didaktik der Philosophie und Ethik, Heft 3 (2022); Nietzsche im Horizont der Literatur (Hrsg., zusammen mit Jutta Georg und Vivetta Vivarelli), Paderborn 2022. Martin Stingelin, geb. 1963 in Binningen bei Basel; Studium der Germanistik und der Geschichtswissenschaften in Basel und Essen; nach einer SNF-Förderungsprofessur für Neuere Deutsche Literaturwissenschaft am Deutschen Seminar der Universität Basel (2001–2006) Ordinarius für Neuere Deutsche Literatur an der Kulturwissenschaftlichen Fakultät der Universität Dortmund; Mithrsg. (zusammen mit Moritz Hiller) der Werkausgabe von Friedrich Kittler (Leipzig 2021 ff.); Publikationen: „Unsere ganze Philosophie ist Berichtigung des Sprachgebrauchs“. Friedrich Nietzsches Lichtenberg-Rezeption im Spannungsfeld zwischen Sprachkritik (Rhetorik) und historischer Kritik (Genealogie), München 1996; Das Netzwerk von Gilles Deleuze. Immanenz im Internet und auf Video, Berlin 2000; Aufsätze zur Literaturtheorie, zur Literatur- im Verhältnis zur Rechts- und Psychiatriegeschichte, zu Dürrenmatt, Freud, Glauser, Goethe, Kraus, Laederach, Lichtenberg, Nietzsche, Schreber, Valentin, Wölfli u. a.; Übersetzungen aus dem Englischen (Salman Rushdie, Thomas Pynchon) und Französischen (Mikkel Borch-Jacobsen, Georges Didi-Huberman, Michel Foucault). Christina Vagt ist Professorin für Medienwissenschaft und Germanistik an der University of California in Santa Barbara. Sie forscht zur Geschichte und Theorie von Medien und Kulturtechniken im Kontext von Naturwissenschaft und Technik. An der Humboldt-Universität zu Berlin war sie Principal Investigator der Forschungsgruppe Selbstbewegende Materialien am Exzellenzcluster Bild Wissen Gestaltung sowie als Gastprofessorin für Kulturwissenschaft tätig. Ihre erste Begegnung mit Philosophie geschah als Studentin der Kulturwissenschaft in der Vorlesung von Renate Reschke in Berlin. Zu ihren Veröffentlichungen zählen Geschickte Sprünge. Physik und Medium bei Martin Heidegger (2012); Action at A Distance, gemeinsam mit John Durham Peters und Florian Sprenger (2020); sowie Verhaltensdesign. Technologische und ästhetische Programme der 1960er und 1970er Jahre, gemeinsam mit Jeannie Moser (2018). Martin G. Weiß ist Vorstand des Instituts für Philosophie der Universität Klagenfurt. Nach seiner Promotion bei Günther Pöltner und Helmuth Vetter in Wien, war er u. a. Universitätsassistent am Institut für Philosophie der katholisch-theologischen Fakultät der Universität Graz, Post-Doc-Fellow am Centro per le scienze religiose der Fondazione Bruno Kessler in Trient, Fellow des Nietzschekollegs in Weimar

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Autorinnen und Autoren

und Visiting scholar am Rhetoric Department der University of California at Berkeley. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen: Philosophie der Religion, Italienische Philosophie, Phänomenologie, Hermeneutik, Bioethik und Biopolitik. Publikationen: „Vom Existentialismus zum Nationalsozialismus? Martin Heideggers Denken nach den Schwarzen Heften“ (2021), in: Geschichte und Gegenwart der Existenzphilosophie. Hrsg. von Dennis Sölch. Basel: Schwabe, S. 87–113; „Logische Form als Sage. Versuch einen Gedanken Wittgensteins mit Heidegger zu denken“ (2021), in: Wittgenstein und die Philosophiegeschichte. Hrsg. von Bernhard Ritter. Freiburg/Br.: Alber, S. 313–333; An der Grenze. Die biotechnologische Überwachung von Migration (2016). Hrsg. von Torsten Heinemann und Martin G. Weiß. Frankfurt/M.: Campus; Gianni Vattimo. Einführung. Mit einem Gespräch mit Gianni Vattimo (2012). 3. Aufl. Wien: Passagen; Bios und Zoë. Die menschliche Natur im Zeitalter ihrer technischen Reproduzierbarkeit (2009). Hrsg. von Martin G. Weiß. Frankfurt/M.: Suhrkamp; Hermeneutik des Unerschöpflichen. Das Denken Luigi Pareysons (2004). Pontes. Philosophisch-theologische Brückenschläge. Hrsg. von Klaus Müller. Bd. 21. Münster: LIT.

Personenregister Abramović, Marina 17, 32, 36 f., 39, 43 Adorno, Theodor W. 68, 180, 208, 210 Alberti, Leon Battista 117 Amoore, Louise 144 Andreas-Salomé, Lou 239, 242 Ansell-Pearson, Keith 32 Arendt, Hannah 20, 25, 64 f. Aristoteles 173, 224 Asaro, Peter 191, 194 Ashby, William Ross 10, 185, 191–198 Audino (i. e. Marcelo Marques) 245–248 Augustinus, von Hippo 218 Avanessian, Armen 205 Azuma, Ronald T. 117 f., 120 Babich, Babette 33, 37, 41, 44 Bacon, Francis 20, 218 Barney, Matthew 32, 45 Barthes, Roland 218 Bataille, Georges 217, 221, 229 f., 232–234 Baudrillard, Jean 76, 85 Beethoven, Ludwig van 50 Benjamin, Walter 98, 100–102, 158 Bergson, Henri 165 Bernard, Claude 156 Bernheim, Hippolyte 165 Bichat, Xavier 159 Binet, Alfred 165 Bizet, Georges 35, 175 Blackburn, Simon 66, 69 f., 77 Blätter, Christine 203 Bölker, Michael 19 Bonnet, Jules 239 Botz-Bornstein, Thorsten 116, 119 Bourru, Henri 165 Brandes, Georg 224, 227 Brender, Nikolaus 96, 109 Brömsel, Sven 174 f. Broussais, François 156 Brücke, Ernst von 166 Bryson, Bill 25 Burot, Ferdinand 165

https://doi.org/10.1515/9783111072890-018

Bush, Vannevar 125 Butler, Judith 219, 231 Caduff, Corina 180 Came, Daniel 34, 39 Canguilhem, Georges 156 Cannon, Walter 194 Capone, Al 246 f. Carus, Carl Gustav 159 Cavell, Stanley 228 Celestini, Federico 174 Chalmers, David 130 Charcot, Jean-Martin 157, 166 Chiurco, Carlo 7, 31, 35 Chopin, Frédéric 175 Church, Alonzo 197 Cixous, Hélène 231 Clancett, Manuel 10, 201 Clark, Andy 130 Comte, Auguste 156 Cooper, Martin 240 Corall, Niklas 8 f., 135 Cordeschi, Roberto 194 Crary, Jonathan 126–129 Dalla Vecchia, Ricardo Bazilio 10, 237 Decker, Kerstin 174 Del Caro, Adrian 176 Delbœuf, Joseph 165 Deleuze, Gilles 38, 123, 139, 142, 205 Denat, Céline 41 Dennett, Daniel 64–66, 70 Derrida, Jacques 65 f., 218 f., 228, 231, 245 Descartes, René 9, 71, 81, 129, 186 Disser, Monika 171 Du Bois-Reymond, Emil 159, 164 Durkheim, Émile 245 Ebbinghaus, Hermann 158 Ebeling, Knut 1, 3, 10 f., 217, 233 Eberwein, Dieter 171 Engelbart, Douglas C. 121 f., 125 Escobar, Pablo 246 f.

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Espinas, Alfred Euripides 35

Personenregister

165

Fechner, Gustav Theodor 159, 165 Féré, Charles 157, 165 f. Ferri, Luigi 165 Feynman, Richard 19 Fitz, Rudolf 171, 178 Flusser, Vilém 122 Foster, Michael 163 Foucault, Michel 7–9, 63, 65–67, 69–73, 76, 84 f., 104, 123, 135, 137–143, 147 f., 161 f., 189 f., 245, 249 Frankfurt, Harry G. 89 f. Frege, Gottlob 188 Freud, Sigmund 157 f., 161, 166, 190, 196, 240 Fuchs, Carl 175, 221 Galilei, Galileo 25 Galton, Francis 166 Geiger, Lazarus 163 Georgiades, Thrasybulos G. 174 Gilbreth, Frank B. 121 Gödel, Kurt 197 Goethe, Johann Wolfgang von 51, 244 Gorgias 97, 206 Guardini, Romano 203 Guattari, Félix 38, 205 Günzel, Stephan 9, 115, 120 Gurske, Lena 1 Gutenberg, Johannes 240 Habermas, Jürgen 180 Harari, Yuval Noah 5 Harris, Tristan 42 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 212, 218 Heidegger, Martin 103, 116 f., 196 f., 201–205, 209, 211, 224, 228, 247 Helmholtz, Hermann von 163–165 Heraklit 66, 173 Herzen, Alexander Iwanowitsch 157, 165 Horkheimer, Max 68, 206, 210 f. Hörl, Erich 209 Hume, David 66 Hungry (i. e. Johannes J. Jaruraak) 32, 38 f., 44 Husserl, Edmund 25, 118, 155

Irigaray, Luce

217, 231–233

Jacobi, Friedrich Heinrich 66 Jakobson, Roman 195 James, William 165 Janaway, Christopher 41 Janet, Pierre 165 Janz, Curt Paul 57, 158, 174 Jesus Christus 33 Jonas, Hans 20 f., 173 Jünger, Friedrich Georg 203 Kac, Eduardo 7, 15, 17 f., 21–23, 25 f., 28 Kant, Immanuel 9, 31 f., 34–36, 38, 40, 64–67, 69 f., 74, 80, 83 f., 129 f., 158, 185–189, 195, 218, 224, 245, 249 Keller, Evelyn Fox 194, 197 f. Kelterborn, Louis 161 Kierkegaard, Søren 218 Kishino, Fumino 117, 120 Kittler, Friedrich 76, 123, 129, 158, 186, 217, 221– 224, 226, 228–230, 233 f. Klossowski, Pierre 217, 221, 225 f. Köhler, Joachim 174 Koller, Hermann 174 Köselitz, Heinrich 3, 102, 222 Krämer, Sybille 9, 171 f. Kraus, Chris 232 Kraus, Karl 98, 100 f. Krauss, August 165 Krauss, Rosalind 225 Lange, Friedrich August 158 f. Lampson, Butler Wright 121 Lebeau-Henry, Charles 7, 49 Leroi-Gourhan, André 122 Levin, David Michael 173 Lichtenstein, Eli I. 34 Link, Jürgen 158 Lombroso, Cesare 165 Lotze, Hermann 159 Luhmann, Niklas 104 Lypp, Bernhard 176 Mach, Ernst 164 f. Mackay, Robin 205 Magnus, Hugo 163

Personenregister

Maier, Mathilde 50, 53 Maier, Tanja 110 Malabou, Catherine 190–192 Manovich, Lev 120 Marx, Karl 204, 209, 212, 243, 245 Masaccio (i. e. Tommaso di ser Giovanni di Mone di Andreuccio) 128 Matzner, Tobias 142, 144–146 Maudsley, Henry 165 Mayer, Robert 163 Mayer, Andreas 166 McLuhan, Marshall 63 f., 76, 222 Merleau-Ponty, Maurice 220 Meysenbug, Malwida von 165 Michelangelo (i. e. Michelangelo Buonarroti) 18 Milgram, Paul 117, 120 Montaigne, Michel de 218 Montinari, Mazzino 51, 156, 160, 219 Morgenthaler, Walter 158 Müggenburg, Jan 195 Müller, Johannes Peter 159 Müller-Lauter, Wolfgang 156, 158, 160 Nassehi, Armin 103 Naumann, Constantin Georg Neiman, Susan 64–66 Niemeyer, Oscar 240 Nothdurft, Werner 180 f.

164

Oken, Lorenz 159 Oldemeyer, Ernst 206, 208 Ommeln, Miriam 115 f. Orlan (i. e. Mireille Suzanne Francette Porte) Ottmann, Henning 176 Paneth, Josef 166 Panofsky, Erwin 127 f. Parmenides 66 Pavlov, Ivan 194 Perikles 97 Pickering, Andrew 193, 195, 197 f. Pieper, Annemarie 211 Pinker, Steven 64 f. Platon 34, 74, 78–80, 97, 119 f., 160, 173, 175, 206 Postman, Neil 8, 68 f., 76–79, 85 Pozzo, Andrea 128

17

257

Prange, Martine 8, 63, 65, 68 f., 71, 79, 81, 83 Protagoras 66, 69, 97 Raphael (i. e. Raffaello Sanzio da Urbino) 33, 38 Rée, Paul 165, 239, 242 Reichensperger, August 98–100 Reschke, Renate 1, 3, 8, 11, 58, 89, 93, 206 f., 225 Ribot, Théodule 165 Richet, Charles 165 Ridley, Aaron 34, 39–41, 43 f. Riedel, Manfred 173 Rolf, Thomas 155 f. Rosa, Catarina Caetano da 1 Rosa, Hartmut 56 Rossini, Gioachino 175 Rousseau, Jean-Jacques 218 Rouvroy, Antoinette 142 f., 145 f. Rucker, August 203 Said, Edward 81 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph 176 Schenkel, Elmar 1 Schiller, Friedrich 34 Schirmer, Christoph 1 Schlegel, Friedrich 176 Schleiden, Matthias Jacob 159 Schmaus, Thomas 205 Schönherr, Hans-Martin 202, 204 f. Schopenhauer, Arthur 9, 27, 34, 39, 42, 50, 54, 81 f., 128 f., 186, 190 Schüle, Christian 177 Schwitalla, Johannes 180 f. Silva, Fáuston da 239, 243 f. Simondon, Gilbert 195 f. Sokrates 26, 51, 79, 173, 175 Sommer, Andreas Urs 1 Sommer, Manfred 128 Spengler, Oswald 203 Stärcke, August 158 Steichen, Edward 16 Stelarc (i. e. Stelios Arcadiou) 17 Stendhal (i. e. Marie-Henri Beyle) 34 Stingelin, Martin 9, 155, 158, 223 f. Strauss, Richard 240 Strauss, David Friedrich 92 Stricker, Salomon 165

258

Personenregister

Strindberg, August 221 Stückelberger, Karl 161 Sutherland, Ivan E. 125 f. Tarde, Gabriel 165 Tarski, Alfred 188 Teichmüller, Gustav 159 Tesmar, Ruth 6 f. Thacker, Charles Patrick 121 Thucydides 39 Turing, Alan 197 Turkle, Sherry 123

Voller, Christian 203 f. Vuarnet, Jean-Noël 227 Wagner, Richard 31, 33, 35, 42, 50–53, 56 f., 80–82, 157 f., 166, 174 f. Weiß, Martin G. 7, 15, 18 Wellmer, Albrecht 180 Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von 249 Windgätter, Christof 122, 171 Wittgenstein, Ludwig 66 Wundt, Wilhelm 159, 164 f. Young, Julian

Uexküll, Jakob von 194 Urpeth, Jim 34, 39 Vagt, Christina 10, 185, 192 Venter, Craig 18 f., 21 Vico, Giambattista 20 f.

39–41, 44

Zhavoronkov, Alexey 212 Zittel, Claus 210 Žižek, Slavoj 124 Zöllner, Johann Karl Friedrich Zuckerman, Elliott 174

159

Sachregister Abhängigkeit 91, 95, 99, 103, 105, 107, 109, 143, 156, 186, 188 acceleration 49 f., 54–56 Algorithmus, algorithmisch 6, 9, 102, 110, 135, 144 f. Alphabet 21, 172 f., 189 Analphabetismus 238–241, 246 Anthropologie, anthropologisch 52, 75, 116, 121 f., 158, 166, 189 Apollinische, das 26 f., 116, 122, 176–181 artistic 32 f., 35–43, 50, 54 f., 57 Ästhetik 4, 157, 225, 228, 242 Aufklärung, aufklärerisch 8, 65 f., 68, 70, 80, 83 f., 93, 97, 99, 177, 202, 205, 207, 210, 212 Augenblick 55, 57, 92, 95 f., 104, 122, 186, 196, 207 Autobiographie, autobiographisch 10, 217–220, 223, 225–228, 230, 232 Autofiktion, autofiktional 10, 217 f., 220 f., 225, 227, 232 Autotheorie 10, 217 f., 220, 222–225, 227–231, 233 Bayreuth 35, 49–51, 53 Beobachter/-in 91, 95, 101, 123, 145 Berichterstattung 99–101, 107 f. Berlin 1, 11, 38, 159 f., 163–165 Bibliothek 9, 57, 110, 155, 162 f., 165 Big Data 103, 142, 246 Bildschirm 28, 68, 105, 120–122, 125 Bildung 8, 27, 45, 72, 93–95, 97, 202, 207 f., 210–212, 243 f. Bio-Art 7, 15–18 Botschaft 21, 79, 96, 102, 222 f., 239 Brasilien 10, 237–249 Buch 63–65, 69, 74, 77–83, 163, 166, 175, 220 f., 224, 232 f., 240–243, 246 f. Buchstaben 19, 21, 78, 161, 241 Camera obscura / Laterna magica 126–129 Computer 6, 16, 21 f., 102, 105, 107, 109, 121, 123, 125, 185, 189–191, 193

https://doi.org/10.1515/9783111072890-019

Daten 6, 8, 64, 103 f., 107–110, 123 f., 137–140, 142–148, 195, 223 décadence 35, 156–158, 161, 166 Demokratie, demokratisch 64 f., 67 f., 90, 98, 149 Digitale Plattform 10, 68, 91, 107, 121, 181, 237 f., 244 f. dionysisch / dionysian 26 f., 34 f., 41, 43, 51–53, 59, 116, 122, 173, 176–181 Dynamik, dynamisch 10, 118, 140, 181, 191 f., 194, 224, 247 Dynamometer 10, 157, 217, 223 f., 227, 233 Echtzeit 96, 108, 117, 125, 142–144 Ereignis 89 f., 92, 100 f., 103 f., 108, 162, 227 erweiterte Realität / augmented reality (AR) 9, 115, 117–120, 123–125, 127 f. Fake News 64 f., 68, 89–91, 96, 107, 109 Faktalismus 135, 137 f., 145 f., 148 f. Fiktion, Fiktionalisierung, fiktiv 11, 69, 104, 107, 185, 187–191, 196, 225 f. Film, filmisch 10, 78, 119, 126, 231, 238–240, 243 f., 246–248 Gehirn 131, 158, 166, 185, 191, 193, 195–198 Genealogie 23, 73, 76, 137, 162, 164 f. Gesundheit / health 31–33, 41, 44, 124, 137, 156, 224, 244 Gewalt 17, 26, 55, 97, 181, 205, 217, 234 Greece, Greek 23, 32, 35 f., 39 f., 43, 51–53 Halbbildung 208 f., 212 Hass 64 f., 174, 181 f., 209 Herrschaft 5, 8, 11, 94, 97, 102 f., 109, 148, 161, 203 f., 206, 211 Homöostat, homöostatisch 192–198 Ideologie 71, 96, 124, 146 f. Imagination, imaginär, imagine 36, 38, 44, 58, 79, 81, 83, 117, 119, 171 f., 202 Individuum 106, 124, 137–144, 148, 185, 204, 212

260

Sachregister

Information 68, 78, 89–94, 96, 98–105, 107– 110, 117, 120, 123 f., 142, 192 f., 198, 207, 241, 246 Instrument / instrument 10, 25, 75, 97, 101, 127, 157, 187, 191, 217, 222–224, 231 Intellekt, intellektuell 6, 64 f., 83, 85, 96, 106 f., 185–192, 196, 244, 248 f. Interesse 4, 7, 16, 80, 84, 89, 92, 95, 97–101, 164–166, 206 Internet 19, 22, 64, 89, 103, 105, 110, 120, 237, 248 Interpretation / interpretation 15, 24, 33 f., 54 f., 69, 75, 95, 136, 147, 155, 164, 201, 219, 221, 229, 232, 247 Journal (siehe auch: Zeitung) 93, 96, 99, 104 Journalismus, journalistisch 3, 8, 89, 91, 93 f., 96 f., 99 f., 107–109, 225 Journalist/in 89, 91–104, 107–110, 207 f. Kommunikation 5, 9, 89–92, 98, 101–104, 109 f., 180–182 Konsument/-in 91, 102, 120, 238 Konsum 105, 144, 208, 247 f. Körper, körperlich 3, 17, 76, 108, 122, 126 f., 137, 142, 159, 161, 173, 237 f., 248 Kraft 95, 106, 159, 176 f., 209, 224, 237 Krankheit / sickness 24, 31, 33, 44, 92, 121, 139, 147, 156, 166, 198, 207, 211 Künstliche Intelligenz (KI) / artificial intelligence (AI) 5–7, 10, 78, 91, 102 f., 185, 187, 190– 192, 196, 198 Kunst / art 7, 15–18, 21 f., 24, 26 f., 31–45, 49– 59, 67, 97, 99, 122, 157 f., 172, 178, 228 Kunstwerk / work of art 15 f., 18, 21, 51 f., 54, 158, 174, 177 Kybernetik 5, 10, 190–194 Leser/in 1, 3, 82, 92–96, 98–100, 102, 105, 107 f., 110, 157, 221, 229, 232, 238, 248 Literalität / literacy 172, 174, 181, 237 Logik 127, 162 f., 187–189, 195, 197, 223 Lüge 9, 20, 74 f., 77, 90, 99, 105 f., 108, 119, 130, 155, 159 f., 185 f., 228 Lust, Unlust 20, 130, 179, 237

Macht 20, 26, 71–73, 95, 97, 99, 101, 108, 148, 157, 181, 185, 203 f., 219, 221, 234 Manipulation 17, 22, 25–26, 93–94, 97 f., 107, 121 Maschine 6, 9 f., 22, 24, 26 f., 63 f., 76, 92 f., 95, 101, 110, 117, 122 f., 128, 187, 191–197, 201 f., 204 f., 207 f., 211 f., 231 Maschinen-Zeitalter 5, 55, 63, 102 f., 206 f. Massenmedium 8, 78, 99, 101 f., 104, 206 Materialist, materialistisch 24, 76, 217, 223, 231, 233 f. Meinung 8, 66–68, 70, 73, 89 f., 92–101, 104, 107–109, 138, 249 Metapher 10, 22, 110, 118 f., 121, 139 f., 160 f., 166, 186 f., 189, 195 f., 205, 232, 243, 247 Metaphysik 173, 176, 204, 228 Moral 23, 52, 64, 82, 124, 137, 162, 164 f. Musik / music 24, 27, 33–35, 49–52, 56–59, 74 f., 77, 122, 172–181, 243 Muster 6, 91, 102–105, 110, 142–144, 146 f. Nachricht 64, 68, 78, 95, 101, 104, 107, 207 Nach-Wahrheit / Post-Truth 8, 63, 67–71, 73, 75, 84 f. Natur, nature 15, 17, 19 f., 23, 25–27, 41, 43, 51, 57 f., 65, 74, 78, 80, 160, 192 f., 203, 232 Natur (im Sinne von Eigenschaft, Eigenart, Beschaffenheit) 34, 45, 52, 149, 155, 172, 190, 196, 225 Naturwissenschaft 8, 20, 23, 25, 27, 157, 206 Netzwerk 6, 21, 91 f. Normalisierung 138 f., 141, 145 f. Nutzer/-in 4, 90, 107 f., 110, 121 Öffentlichkeit, öffentlich / public 8, 65, 80, 84, 93 f., 98–100, 107, 115, 126, 249 Optimismus / optimism 52, 94, 201, 203, 205 Ordnung, Ordnungsmuster 6, 27, 70, 103, 122, 136, 147, 149, 156, 176 f., 208 Organismus, organism 17, 22, 26 f., 156, 159, 194 Performanz / performance 7, 10, 16 f., 31 f., 36– 39, 43, 45, 53, 68, 171 f., 237 f. Perspektive 4, 7–10, 15, 19, 26, 67, 70, 91, 94, 105, 110, 127 f., 136, 139, 146, 149, 160, 172, 175, 178 f., 181, 189, 219, 228, 244

Sachregister

Physiologie 9, 155 f., 158 f., 162, 164–166, 194, 238 Plattform 10, 68, 91, 107, 121, 181, 237 f., 244 f. Politik, politisch 8, 64 f., 67 f., 71, 91, 97, 99, 107–110, 219, 230, 245 Postmoderne, postmodern, Postmodernisten / postmodernism 8, 10, 64–67, 69 f., 77, 84 f., 201–205 Potenzial, Potenzialität 10, 144, 177, 180–182, 233 Presse 3, 6, 8, 63, 76, 91–96, 98–102, 104, 107 f., 110, 207 Produzent/-in 90 f., 98, 103, 110 Projektion 121, 128, 130, 226 f., 229 Projektionsfläche 138, 142, 144, 148 Psychiatrie 158, 162, 165 Psychologie 107, 155, 159, 162, 165, 185 Psychophysiologie 155, 162, 165 Publikum 1, 68 f., 73, 78–81, 84 f., 98, 101, 161, 247 Rationalismus 66, 84, 129, 175 Rationalität 65 f., 72, 84, 161, 173, 176, 181 Raum 6, 97, 109, 117–123, 125 f., 128, 130, 162, 187, 193, 209 Reiz 90, 96, 106, 159 f., 234, 237 Repräsentation 126, 140, 142 f., 145, 147 f., 178, 188, 195, 220, 229 f. Rhetorik 97 f., 156, 160–162, 186, 206 Rhythmus, Rhythmizität 93, 95, 102, 174, 178– 180, 238 Schein 3 f., 72, 74, 77, 85, 92, 99, 101, 128 f. Schreibmaschine 3, 9, 122, 171, 186 f., 189, 191 f., 196 f., 207, 222 f., 225 Schrift, schriftlich 51, 64, 68, 74 f., 78 f., 85, 94, 120, 122, 139, 172, 181 f., 187, 232 Selbstermächtigung 11, 108, 110, 209, 221, 225 Simulation 16, 94, 185 f., 196–198 Sophisten 66, 97 f. Sprachkritik 10, 85, 159–162 Struktur, Strukturierung 6, 17, 22, 91, 97, 104, 109, 123, 129 f., 140, 144, 146, 148, 177, 193, 198, 241

261

System / system 17, 19, 21, 23, 64, 107, 115 f., 120, 123–126, 128, 139 f., 162, 166, 173, 178, 192 f., 195, 197 f., 204, 208, 229 Täuschung 25, 89 f., 93, 97 f., 105–107, 129, 160, 187, 196 Technisierung 10, 102, 104 Telegraph, telegraphic 6, 22 f., 63, 76, 95 f., 102, 104, 207 Tragödie / tragedy 34, 36, 39 f., 42, 51 f., 116, 174 f., 177, 239, 244 Transformation 49–51, 56, 91, 110, 177, 206 f., 209 Transhumanismus 10, 116, 205 Transparenz, transparent 103, 117 f., 125, 127 Transzendental 83, 129, 148, 189, 229 Traum 74, 77, 129, 163, 186, 217 Trieb 10, 26, 124, 138, 177, 182, 186, 204 Unterhaltung

9, 68, 78, 102

Vergessen, Vergessenheit 192 f., 196, 198, 232 Vernetzung, globale 104, 181 f. Video 10, 28, 225, 244–246 virtuelle Realität / virtual reality 45, 102, 108, 115–117, 119, 125 Wahrnehmung 4–6, 75, 93, 95 f., 102, 105, 107, 122, 125–127, 129, 160, 162 f., 165 Weltbild, weltbildend 15, 24, 89, 92, 97, 163, 186 Wertung 65, 107, 110, 128, 140, 146, 148, 173 Wille 16, 26 f., 71, 73, 85, 129 f., 136–138, 146– 149, 179, 163 f., 186 f., 190, 195 f., 203 Wille zur Macht 20, 129, 157, 164, 219 Wirklichkeit 15, 17, 24 f., 76, 91, 96, 101, 103, 105, 107, 115, 117–119, 122, 125, 127–130, 137, 147, 189, 237 Wissenschaft 5, 17 f., 23–26, 65, 68, 71 f., 93, 139, 156, 158, 186 f., 191, 206 f., 219, 231, 242 YouTube

224 f., 244, 246

Zeitung (siehe auch: Journal) 98–102, 105, 107, 243

18, 78, 92–96,