›Nichts anderes als ein Austausch von Worten‹: Sprachliches Handeln in der Psychotherapie 9783110319033, 9783110318852

According to Freud, psychotherapy is “nothing more than an exchange of words.” This linguistic study explores how it is

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›Nichts anderes als ein Austausch von Worten‹: Sprachliches Handeln in der Psychotherapie
 9783110319033, 9783110318852

Table of contents :
1 Einleitung
1.1 Motivation und Zielsetzung
1.2 Vorgehen
1.3 Zur Auszeichnung von Begriffen
2 Stand der Forschung
2.1 Psychotherapie als Gespräch
2.2 Psychotherapie als Diskursart
2.3 Psychotherapie als Ensemble alltäglicher und therapeutischer Handlungen
2.3.1 Erzählen
2.3.2 „Formulierungen“
2.3.3 Fragen
2.3.4 ›Fokussierungen‹
2.3.5 ›Verbalisieren des emotionalen Erlebnisgehalts‹ (›VEE‹)
2.3.6 ›Deuten‹
2.3.6.1 Handlungstheoretische Untersuchungen des ›Deutens‹
2.3.6.2 Konversationsanalytische Untersuchungen des ›Deutens‹
3 Theorie und Methode
3.1 Wie lässt sich die Wirkung von Psychotherapie linguistisch erforschen?
3.2 Die Funktionale Pragmatik
3.2.1 Sprache als Handlung
3.2.2 Bedeutung sprachlicher Mittel
3.2.3 Einheiten sprachlichen Handelns
3.2.4 Akte
3.2.5 Sprache – Wissen – Wirklichkeit
4 Die Institution Psychotherapie
4.1 Psychotherapie und benachbarte Diskurse
4.2 Psychotherapie handlungstheoretisch
5 Untersuchungsgegenstand: ›Deuten‹ und ›VEE‹
5.1 Warum ›Deuten‹ und ›VEE‹?
5.2 Bestimmung von ›Deuten‹ und ›VEE‹
6 Daten
6.1 Datengrundlage
6.2 Datenaufbereitung
7 Die Handlungsstruktur des ›VEE‹ (›Verbalisieren des emotionalen Erlebnisgehalts‹)
7.1 „Sie sehen sich selber sehr klein“ – „Interpretieren“ im ›VEE‹
7.1.1 Wissensbearbeitung: Abstraktion und Synthese
7.1.2 „Reaktion“
7.1.3 „Interpretieren“
7.1.4 Zusammenfassung: Interpretierende Wissensbearbeitung im ›VEE‹
7.2 „Na jetzt is ja die Welt auch in Ordnung“ – „Benennen“ im ›VEE‹
7.2.1 „Benennen“
7.2.2 „Interpretieren“
7.2.3 „Wiederaufgreifen“
7.2.4 Zusammenfassung: „Benennen“, „Interpretieren“ und „Wiederaufgreifen“ im ›VEE‹
7.3 „In übertragenem Sinne könnte man doch sagen“ – „Vorschlagen“ im ›VEE‹
7.3.1 Fragen
7.3.2 „Vorschlagen“ und „Interpretieren“
7.3.3 „Benennen“ und „Interpretieren“
7.3.4 „Wiederaufgreifen“ und „Interpretieren“
7.3.5 „Reaktion“
7.3.6 Zusammenfassung: „Vorschlagendes Interpretieren“
7.4 „Und Sie möchten s dadrauf net ankommen lassen“ – Handeln und Wissen im ›VEE‹
7.4.1 „Vorschlagendes Interpretieren“
7.4.2 „Interpretieren“ und „Benennen“
7.4.3 „Wiederaufgreifen“
7.4.4 Wissensbearbeitung
7.4.5 „Reaktion“
7.5 Zusammenfassung: Formale und funktionale Charakteristika des ›VEE‹
8 Die Handlungsstruktur des tiefenpsychologischen ›Deutens‹
8.1 Vorüberlegungen
8.2 „des kann ja auch sehr hinderlich sein“ – Aufwerfen und Beantworten von Fragen
8.2.1 „Vorbereitung“
8.2.1.1 Formale Charakteristika der „Vorbereitung“
8.2.1.2 Funktion der „Vorbereitung“
8.2.2 „Verbalisierung“
8.2.2.1 Das ‚Rätselhafte’ des ›Deutens‹
8.2.2.2 Wissensentfaltung en détail
8.2.2.3 ›Deuten‹ und „Erläutern“
8.2.2.4 Formale Charakteristika der „Verbalisierung“
8.2.3 „Reaktion“ I
8.2.4 „Nachbearbeitung“ I
8.2.5 „Reaktion“ II
8.2.6 „Nachbearbeitung“ II
8.2.7 „Reaktion“ III
8.2.8 Zusammenfassung: Charakteristika des ›Deutens‹
8.3 „da scheint mir doch so der Hund begraben“ – Wissen und Handeln beim ›Deuten‹
8.3.1 „Vorbereitung“
8.3.2 „Verbalisierung“ I
8.3.3 „Reaktion“ I
8.3.4 „Verbalisierung“ II und „Reaktion“ II
8.3.5 „Verbalisierung“ III
8.3.6 „Reaktion“ III
8.3.7 Nachgeschichte
8.4 Zusammenfassung: Formale und funktionale Charakteristika des ›Deutens‹
9 Synopse: Sprachliches Handeln in der Psychotherapie
9.1 Heilendes „Verstehen“ durch ›Deuten‹ und ›VEE‹
9.2 Psychotherapie als hörerzentrierter Diskurs
9.3 Perspektiven für die Therapieforschung
Literaturverzeichnis
Anhang
A1 Transkripte
A2 Transkriptionskonventionen
A3 Verzeichnis der Tabellen und Abbildungen
Index

Citation preview

Claudio Scarvaglieri ›Nichts anderes als ein Austausch von Worten‹

Reihe Germanistische Linguistik

Herausgegeben von Mechthild Habermann und Heiko Hausendorf

298

Claudio Scarvaglieri

›Nichts anderes als ein Austausch von Worten‹ Sprachliches Handeln in der Psychotherapie

Reihe Germanistische Linguistik Begründet und fortgeführt von Helmut Henne, Horst Sitta und Herbert Ernst Wiegand

ISBN 978-3-11-031885-2 e-ISBN 978-3-11-031903-3 ISSN 0344-6778 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2013 Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, Berlin/Boston Druck und Bindung: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen ♾ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com

| Für Erika und Giuseppe

Inhalt 1 1.1 1.2 1.3

Einleitung | 1 Motivation und Zielsetzung | 1 Vorgehen | 4 Zur Auszeichnung von Begriffen | 5

2 2.1 2.2 2.3

Stand der Forschung | 7 Psychotherapie als Gespräch | 8 Psychotherapie als Diskursart | 12 Psychotherapie als Ensemble alltäglicher und therapeutischer Handlungen | 27 2.3.1 Erzählen | 28 2.3.2 „Formulierungen“ | 36 2.3.3 Fragen | 42 2.3.4 ›Fokussierungen‹ | 44 2.3.5 ›Verbalisieren des emotionalen Erlebnisgehalts‹ (›VEE‹) | 52 2.3.6 ›Deuten‹ | 60 2.3.6.1 Handlungstheoretische Untersuchungen des ›Deutens‹ | 62 2.3.6.2 Konversationsanalytische Untersuchungen des ›Deutens‹ | 68 3 3.1 3.2 3.2.1 3.2.2 3.2.3 3.2.4 3.2.5

Theorie und Methode | 81 Wie lässt sich die Wirkung von Psychotherapie linguistisch erforschen? | 81 Die Funktionale Pragmatik | 89 Sprache als Handlung | 89 Bedeutung sprachlicher Mittel | 92 Einheiten sprachlichen Handelns | 95 Akte | 97 Sprache – Wissen – Wirklichkeit | 98

4 4.1 4.2

Die Institution Psychotherapie | 101 Psychotherapie und benachbarte Diskurse | 101 Psychotherapie handlungstheoretisch | 104

5 5.1 5.2

Untersuchungsgegenstand: ›Deuten‹ und ›VEE‹ | 111 Warum ›Deuten‹ und ›VEE‹? | 111 Bestimmung von ›Deuten‹ und ›VEE‹ | 115

VIII | Inhalt 6 6.1 6.2

Daten | 117 Datengrundlage | 117 Datenaufbereitung | 119

7

Die Handlungsstruktur des ›VEE‹ (›Verbalisieren des emotionalen Erlebnisgehalts‹) | 123 „Sie sehen sich selber sehr klein“ – „Interpretieren“ im ›VEE‹ | 125 Wissensbearbeitung: Abstraktion und Synthese | 128 „Reaktion“ | 132 „Interpretieren“ | 133 Zusammenfassung: Interpretierende Wissensbearbeitung im ›VEE‹ | 134 „Na jetzt is ja die Welt auch in Ordnung“ – „Benennen“ im ›VEE‹ | 135 „Benennen“ | 138 „Interpretieren“ | 142 „Wiederaufgreifen“ | 145 Zusammenfassung: „Benennen“, „Interpretieren“ und „Wiederaufgreifen“ im ›VEE‹ | 151 „In übertragenem Sinne könnte man doch sagen“ – „Vorschlagen“ im ›VEE‹ | 152 Fragen | 157 „Vorschlagen“ und „Interpretieren“ | 159 „Benennen“ und „Interpretieren“ | 162 „Wiederaufgreifen“ und „Interpretieren“ | 164 „Reaktion“ | 168 Zusammenfassung: „Vorschlagendes Interpretieren“ | 169 „Und Sie möchten s dadrauf net ankommen lassen“ – Handeln und Wissen im ›VEE‹ | 171 „Vorschlagendes Interpretieren“ | 179 „Interpretieren“ und „Benennen“ | 181 „Wiederaufgreifen“ | 182 Wissensbearbeitung | 183 „Reaktion“ | 184 Zusammenfassung: Formale und funktionale Charakteristika des ›VEE‹ | 184

7.1 7.1.1 7.1.2 7.1.3 7.1.4 7.2 7.2.1 7.2.2 7.2.3 7.2.4 7.3 7.3.1 7.3.2 7.3.3 7.3.4 7.3.5 7.3.6 7.4 7.4.1 7.4.2 7.4.3 7.4.4 7.4.5 7.5

Inhalt | IX

8 8.1 8.2 8.2.2 8.2.2.1 8.2.2.2 8.2.3 8.2.3.1 8.2.3.2 8.2.3.3 8.2.3.4 8.2.4 8.2.5 8.2.6 8.2.7 8.2.8 8.2.9 8.3 8.3.1 8.3.2 8.3.3 8.3.4 8.3.5 8.3.6 8.3.7 8.4

9 9.1 9.2 9.3

Die Handlungsstruktur des tiefenpsychologischen ›Deutens‹ | 191 Vorüberlegungen | 191 „des kann ja auch sehr hinderlich sein“ – Aufwerfen und Beantworten von Fragen | 195 „Vorbereitung“ | 200 Formale Charakteristika der „Vorbereitung“ | 202 Funktion der „Vorbereitung“ | 204 „Verbalisierung“ | 205 Das ‚Rätselhafte’ des ›Deutens‹ | 207 Wissensentfaltung en détail | 212 ›Deuten‹ und „Erläutern“ | 217 Formale Charakteristika der „Verbalisierung“ | 218 „Reaktion“ I | 222 „Nachbearbeitung“ I | 224 „Reaktion“ II | 228 „Nachbearbeitung“ II | 229 „Reaktion“ III | 232 Zusammenfassung: Charakteristika des ›Deutens‹ | 234 „da scheint mir doch so der Hund begraben“ – Wissen und Handeln beim ›Deuten‹ | 239 „Vorbereitung“ | 246 „Verbalisierung“ I | 247 „Reaktion“ I | 251 „Verbalisierung“ II und „Reaktion“ II | 253 „Verbalisierung“ III | 254 „Reaktion“ III | 257 Nachgeschichte | 260 Zusammenfassung: Formale und funktionale Charakteristika des ›Deutens‹ | 262 Synopse: Sprachliches Handeln in der Psychotherapie | 269 Heilendes „Verstehen“ durch ›Deuten‹ und ›VEE‹ | 270 Psychotherapie als hörerzentrierter Diskurs | 284 Perspektiven für die Therapieforschung | 290

Literaturverzeichnis | 297

X | Inhalt Anhang | 321 A1 Transkripte | 321 A2 Transkriptionskonventionen | 347 A3 Verzeichnis der Tabellen und Abbildungen | 348 Index | 349

Danksagung Mit diesem Band lege ich die überarbeitete und gekürzte Fassung meiner im November 2011 an der Universität Hamburg angenommenen Dissertation vor. Das Buch präsentiert die Ergebnisse langjähriger Arbeit, die von vielen Personen maßgeblich unterstützt und beeinflusst wurde. Dies gilt zuvorderst für den Erstbetreuer der Dissertation, Prof. Dr. Jochen Rehbein. Bei ihm konnte ich die Grundlagen linguistischen Arbeitens erlernen und anwenden – sein Analyseprinzip, „alles an den Daten“ zu entwickeln, hat, neben vielen weiteren seiner Anregungen, diese Arbeit entscheidend geprägt. Ich danke Herrn Prof. Dr. Rehbein für seine Betreuung und Unterstützung von Herzen. Einen sehr großen Einfluss hatte auch die Zweitgutachterin Prof. Dr. Angelika Redder. Ich danke ihr herzlich für zahlreiche Ratschläge und Diskussionen, für ihre Unterstützung und Rücksicht als Betreuerin und Vorgesetzte und nicht zuletzt auch für den heilsamen Druck, der der Arbeit zum Abschluss verhalf. Die Arbeit hat außerdem sehr von meiner Mitarbeit in dem Promotionskolleg „Psychotherapieprozessforschung“ an der Universität Hildesheim profitiert. Prof. Dr. Michael Buchholz und Prof. Dr. Stephan Wolff, die Leiter des Promotionskollegs, haben mir in diesem Rahmen ein vielfältiges Wissen über Psychotherapie und die Möglichkeiten ihrer Erforschung zugänglich gemacht, das diese Arbeit sehr befördert hat. Ich danke ihnen und den Teilnehmern des Kollegs herzlich. Ein wichtiger Teil der Arbeit ist während meiner Zeit am Deutschen Seminar der Universität Zürich entstanden. Ich danke Prof. Dr. Heiko Hausendorf, Dr. Wolfgang Kesselheim, Hiloko Kato, Martina Breitholz sowie allen anderen Mitgliedern des Lehrstuhls für ihre vielfältige Unterstützung und für die sehr gute und produktive Arbeitsatmosphäre. Großen Dank schulde ich Dr. Shinichi Kameyama, der mich immer wohlwollend begleitet hat und mir jederzeit mit Rat und Tat zur Seite stand. Für Unterstützung und vielfältige Anregungen danke ich Prof. Dr. Christiane Hohenstein, Prof. Dr. Kristin Bührig, Prof. Dr. Bernhard Brehmer, Prof. Dr. Stephan Schlickau, Dr. Annette Herkenrath, Ruth Pappenhagen, meinen Kolleginnen und Kollegen an der Universität Hildesheim sowie den Teilnehmern der Promotionskolloquien Rehbein und Redder. Prof. Dr. Norbert Dittmar gilt mein Dank für die Möglichkeit, mit den von ihm erhobenen Daten arbeiten zu können. Besonders profitiert hat diese Arbeit von der Zusammenarbeit mit Claudia Zech, die meine Texte unermüdlich gegengelesen und in zahllosen Diskussionen mit großen und kleinen Ideen befördert hat. An vielen Stellen haben mir ihre Vorschläge über den Berg geholfen. Ich danke ihr von Herzen.

XII | Danksagung Meiner Frau Sanita Grebere danke ich für ihre liebevolle und stete Begleitung durch die Höhen und Tiefen des Promotionsprozesses. Ohne sie, ihre Heiterkeit, Tatkraft und ihren Optimismus, hätte ich dieses Buch nicht schreiben können. Daniela und Michael Herich gilt großer Dank für ihre ideelle Unterstützung und für den großzügigen Druckkostenzuschuss. Meinen Eltern danke ich für Rückendeckung jedweder Art. Ihnen ist dieses Buch gewidmet. Den Herausgebern der Reihe Germanistische Linguistik danke ich für die Aufnahme der Arbeit. Zwei anonymen Gutachtern danke ich für ihre genaue Lektüre und für wertvolle Hinweise zur Überarbeitung des Manuskripts.

Hildesheim, Juli 2013

1 Einleitung 1.1 Motivation und Zielsetzung Sprachliches Handeln in der Psychotherapie bezweckt die Heilung des Patienten1. Im Unterschied zu anderen Institutionen der körperlichen oder psychischen Wiederherstellung wird dieser Zweck ausschließlich im Gespräch zwischen Therapeut und Patient realisiert. Psychotherapie heilt durch „nichts anderes als […] ein[en] Austausch von Worten“ (Freud 1948a: 9). Am psychotherapeutischen Gespräch wird so die Bedeutung von Sprache sichtbar: Sprachliches Handeln in der Psychotherapie macht Kranke gesund und gibt Menschen, die im Extremfall ihre Existenz beenden wollten, den Lebenswillen zurück.2 Der Linguistik bietet der Gegenstand Psychotherapie also die Möglichkeit, Sprache am Werk zu sehen – einem Werk, das u. a. auf die Herstellung der Voraussetzungen menschlicher Existenz abzweckt. Sprachliches Handeln demonstriert hier eine äußerst selten zu beobachtende Wirksamkeit und macht so neue Erkenntnisse über den Gesprächsprozess möglich. Der Einfluss, den der Sprecher (idealiter der Therapeut) in der Psychotherapie auf die mentalen Strukturen des Hörers (des Patienten) ausübt, geht weiter und hat drastischere Auswirkungen als dies im Alltag oder in den meisten anderen Formen institutionellen sprachlichen Handelns der Fall ist. Dem psychotherapeutischen Sprechen und Hören kommt damit nicht nur eine besondere Bedeutung zu – das allein würde eine Untersuchung schon lohnenswert machen –, sondern mit dieser besonderen Bedeutung verbindet sich auch die Annahme von der Ausprägung sprachlicher Form-Funktions-Verhältnisse, wie sie in anderen Formen von Kommunikation nicht oder nur sehr selten zu beobachten sind. Es ist davon auszugehen, dass die Beschäftigung mit Psychotherapie neue linguistische Erkenntnisse über das Funktionieren von Sprache im Allgemeinen sowie darüber, wieso und wie genau „Heilen durch Sprache“ (Gutwinski 1981: 224) gelingt, erbringen kann. Aus linguistischer Perspektive verspricht der Blick auf Sprache in der Psychotherapie also Erkenntnisse, die sich an einem anderen Gegenstand nicht

1 Wenn sich Rollen- oder Funktionsbezeichnungen nicht auf eine konkrete Person beziehen, wird in dieser Arbeit zur besseren Lesbarkeit das generische Maskulin benutzt. 2 Bei den im Folgenden untersuchten Daten tritt eben dieser Fall auf: Es handelt sich um Patientinnen und Patienten, die einen Suizidversuch unternommen haben und danach durch das Angebot von Kurzzeitpsychotherapie psychisch stabilisiert werden und die Gelegenheit bekommen sollen, ihr Leben neu zu ordnen.

2 | Einleitung machen lassen. Aus Sicht der Theorie der Psychotherapie kann die linguistische Analyse zu einer Neuperspektivierung des Gegenstands und damit zu therapeutisch relevanten Erkenntnissen beitragen. Da sich Psychotherapie hauptsächlich sprachlich realisiert, erscheint die Sprachwissenschaft – bzw. derjenige Teil von ihr, der sich für gesprochene Sprache interessiert – als diejenige Disziplin, die zur Erforschung und Optimierung therapeutischer Praxis prädestiniert ist (vgl. dazu bereits Sapir 1927). Sprachwissenschaftliche Untersuchungen können eingeschliffene, fachintern als selbstverständlich geltende Sicht- und Handlungsweisen von einer anderen Warte aus überprüfen und Anstoß zu einer kritischen Reflexion der therapeutischen Praxis geben. Indem die vorligende Arbeit das sprachliche Handeln in der Therapie detailliert auf seine Wirkung hin untersucht, also die Frage nach der Verbindung von ‚Outcome‘ und Prozess von Therapie stellt, möchte sie zu einer solchen Reflexion der therapeutischen Praxis beitragen. Die linguistische Untersuchung von Psychotherapie erscheint aber nicht nur für die untersuchende Disziplin und das untersuchte Feld, sondern auch aus gesamtgesellschaftlicher Perspektive relevant. Psychische Erkrankungen verursachen immenses seelisches Leid und hohe materielle und immaterielle ‚Kosten‘ und werden aller Voraussicht nach an Bedeutung noch zunehmen. So kommt die WHO-Studie „Global Burden of Disease“ zu dem Ergebnis, dass die „Volkskrankheit Depression“ (Stoppe u. a. 2006; Titel) im Jahr 2020 die „zweitwichtigste bzw. schwerste Erkrankung weltweit“3 (Stoppe u. a. 2006: IV) sein wird. Bereits heute sind allein Depressionen nach den Herzerkrankungen für „die meisten durch Behinderungen beeinträchtigten Lebensjahre“ (ebd.) verantwortlich, bereits gegenwärtig liegt die Zwölf-Monate-Prävalenz, also die Wahrscheinlichkeit innerhalb eines Jahres an einer psychischen Störung zu erkranken, für in Deutschland lebende Erwachsene bei 31% (Baumeister & Härter 2007: 37). Den psychischen Erkrankungen und der gesellschaftlichen Einrichtung ihrer Behandlung, der Psychotherapie, kommt also eine hohe und in Zukunft eher noch zunehmende Relevanz zu – die Erforschung von Psychotherapie erscheint damit auch aus gesamtgesellschaftlicher Perspektive geboten. Die vorliegende Arbeit soll einen Beitrag zur qualitativen Erforschung des Therapieprozesses und seiner Wirkung leisten. Die Zusammenhänge zwischen der sprachlichen Oberfläche, von der die heilende Wirkung offensichtlich ausgeht, und den mentalen Prozessen, in denen sich diese Wirkung realisiert, sollen rekonstruiert werden, die Wirkung von Psychotherapie soll in ihrer Entwick-

3 Die zitierten Autoren unterscheiden zwischen Häufigkeit bzw. „Wichtigkeit“ und Auswirkungen bzw. „Schwere“ einer Erkrankung.

Motivation und Zielsetzung | 3

lung mikrostrukturell nachvollziehbar gemacht und aus einer handlungstheoretischen Makroperspektive konzeptuell erfasst werden. Letztes Ziel einer solchen Unternehmung muss eine Antwort auf die Frage, wie man mit Sprache eigentlich heilen kann, sein. Um sich dieser Antwort zu nähern, greift die Arbeit auf linguistisches Wissen über Form-Funktionszusammenhänge von Sprache zurück und wendet sie auf ein Korpus von Aufnahmen psychotherapeutischer Gespräche an. Im Einzelnen leiten folgende Fragen die Untersuchung an: – Wie wirkt Psychotherapie konkret, was geht interaktiv und mental vor, wenn Sprache heilt? – Was trägt die einzelne Äußerung, der einzelne Ausdruck, das einzelne sprachliche Mittel zum Gesamt der Heilung bei? Wie ergänzen sich Elemente sprachlichen Handelns unterschiedlicher Größenordnung so, dass eine Heilung möglich wird? Sind typische Ausprägungen der sprachlichen Oberfläche zu beobachten? – Welche Rolle spielen therapeutische Techniken (verstanden als Ensembles sprachlicher Handlungen, die der Therapeut aufgrund seiner Ausbildung funktional einsetzen kann) für die Heilung? Wie lässt sich das sprachliche Handeln von Therapeut und Patient an den entscheidenden Stellen von Therapie konzipieren und strukturieren? – Auf welche Weise unterscheiden sich zwei der bedeutendsten Formen verbal orientierter Psychotherapie (Tiefenpsychologische Psychotherapie und Gesprächspsychotherapie) im Einwirken auf die mentalen Strukturen des Patienten? Welche Übereinstimmungen finden sich zwischen den beiden Therapieformen? Welche Schlüsse lassen sich daraus für die Bedeutung allgemeiner Faktoren, die in jeder Psychotherapie gleich sind, im Unterschied zu therapieformspezifischen Faktoren, ziehen? – In welchen kommunikativen und mentalen Prozessen manifestiert sich die Heilung auf Seiten des Patienten? Auf welche Weise wird sein Wissen so umstrukturiert, dass von Heilung gesprochen werden kann? Welche Erkenntnisse über die Umgestaltung mentaler Strukturen im Allgemeinen lassen sich daraus ableiten? – Lassen sich aus diesen Erkenntnissen theoretische Schlüsse über den Zusammenhang von Sprache und mentalen Prozessen ziehen? – Lassen sich schließlich auch Hinweise auf eine optimierte, weil sprachwissenschaftlich reflektierte, psychotherapeutische Praxis gewinnen? Im Zentrum der vorliegenden Arbeit steht also die Frage nach dem Wirken von Psychotherapie. Dieser Frage wird auch aus der Perspektive der Psychotherapietheorie ein hoher Stellenwert zugemessen, Buchholz u. a. (2008) bezeichnen die Frage „wie durch Interaktion mit einem anderen Menschen, dem Therapeu-

4 | Einleitung ten, Kognitionen verändert werden“ (27, Hervorh. i. O.) als „die Kardinalfrage jeder Psychotherapie“ (ebd.). Linguistisch formuliert geht es darum, nachzuvollziehen, wie durch sprachliches Handeln des Therapeuten der mentale Bereich des Patienten umstrukturiert wird. Dass Therapie tatsächlich wirkt, ist in einer Vielzahl von Studien der traditionellen Qutcome-orientierten Therapieforschung nachgewiesen worden. Smith u. a. (1980) kommen in einer Metastudie zu einem Wirkungsgrad von 80%, Asay & Lambert (2001: 42f.) sprechen von einer Erfolgsquote von 75%. Auch wenn andere Studien einen Erfolgsquotienten von 2/3 (s. Eckert 2000: 184ff sowie die dort angeführte Literatur) angeben, ist das Fazit der Literatur eindeutig: „Therapie ist effektiv. Behandelten KlientInnen geht es viel besser als den nicht behandelten“ (Asay & Lambert 2001: 42). Man weiß also, dass Therapie wirkt, man weiß allerdings nicht, wie. Die Beantwortung der Frage nach diesem „Wie“ setzt einen Gegenstand voraus, in dem das heilende sprachliche Handeln in actu sichtbar wird. Die Analyse fokussiert deshalb diejenigen therapeutischen Handlungen, die der psychotherapeutischen Theorie zufolge als entscheidend für die Wirkung anzusehen sind. Dies ist für die tiefenpsychologische Therapie die ›Deutung‹ und für die Gesprächstherapie das ›Verbalisieren des emotionalen Erlebnisgehaltes‹. Durch die Konzentration auf diese beiden wesentlichen Handlungen nimmt die Arbeit eine methodische Reduktion der Komplexität des Gegenstands vor und vermeidet die unübersichtliche Datenflut, die der Versuch einer Mikroanalyse kompletter Therapieverläufe produzieren würde.4 Eine Kontextualisierung der Analyseergebnisse wird auf der Basis einer eingehenden Sichtung der linguistischen Literatur über Psychotherapie sowie einer handlungstheoretischen Konzipierung von Psychotherapie vorgenommen.

1.2 Vorgehen Die Arbeit geht von einer kritischen Sichtung und Reflexion des Forschungsstands aus (Kap. 2). Dabei werden zum einen besonders solche Studien diskutiert, die Psychotherapie als gesellschaftliche Institution in den Blick nehmen (Kap. 2.2), zum anderen diejenigen, die sich mit der Frage nach dem Prozess, in dem Psychotherapie ihre Wirkung entfaltet, auseinandersetzen (Kap. 2.3). Die

4 Dieses Vorgehen wird ausführlicher in Kap. 5 begründet. Dort werden auch das zugrunde liegende Material und die Bestimmungen von ›Deutung‹ und ›VEE‹, die die Selektion aus diesem Material anleiten, genauer vorgestellt.

Zur Auszeichnung von Begriffen | 5

Diskussion der Literatur bereitet die Auseinandersetzung mit der Frage nach einem theoretischen Zugang vor, der für die Erforschung der Wirkung von Psychotherapie geeignet erscheint (Kap. 3.1). Argumentiert wird, dass die „Funktionale Pragmatik“ geeignete begriffliche und methodische Instrumente für die Bearbeitung dieser Frage bereitstellt. Daraufhin werden diese Instrumente kurz dargestellt (Kap. 3.2). Auf dieser Basis wird in Kapitel vier eine erste handlungstheoretische Annäherung an den Gegenstand vorgenommen. Dabei wird Psychotherapie zunächst formal und funktional von benachbarten institutionell basierten Diskursen abgegrenzt (Kap. 4.1) und in einem zweiten Schritt eine handlungstheoretische Konzeption von Psychotherapie und ihrer Ausgangssituation vorgelegt (Kap. 4.2). In Kapitel fünf werden mit dem gesprächstherapeutischen ›Verbalisieren des emotionalen Erlebnisgehalts‹ und dem tiefenpsychologischen ›Deuten‹ die beiden therapeutischen Techniken charakterisiert, die in der Arbeit detailliert untersucht werden. Diesen Untersuchungen zugrunde liegt ein Korpus von 70 Aufnahmen authentischer Therapiesitzungen, das in Kapitel sechs vorgestellt wird. Den Kern der Arbeit bilden die Mikroanalysen des ›Verbalisierens des emotionalen Erlebnisgehaltes‹ und des ›Deutens‹ in Kapitel sieben und acht. Während das ›Deuten‹ im Wesen als ein Aufwerfen und Beantworten von Fragen analysiert wird, erscheint das ›Verbalisieren des emotionalen Erlebnisgehaltes‹ als ein an der alltäglichen Handlung des „Deutens“ bzw. „Interpretierens“ orientiertes sprachliches Verfahren, das sich von der tiefenpsychologischen Handlungsform gleichwohl grundlegend unterscheidet. In Kapitel neun werden die Ergebnisse der Arbeit zusammenfassend diskutiert und reflektiert. Die Synopse von Literaturüberblick, theoretischer Verortung und Analyse der sprachlichen Wirklichkeit erweist die Bedeutung von „Deuten“ und „Verstehen“ für die Wirkung von Psychotherapie und macht Heilung durch Sprache handlungstheoretisch greifbar (Kap. 9.1). Darüber hinaus wird Psychotherapie als dezidiert „hörerzentrierter“ Diskurs erkennbar (Kap. 9.2). Abschließend werden die Ergebnisse der Arbeit in ihrer theoretischen und praktischen Relevanz sowie hinsichtlich möglicher Entwicklungslinien der Therapieforschung verortet (Kap. 9.3).

1.3 Zur Auszeichnung von Begriffen Die Arbeit verwendet Bezeichnungen für sprachliche Handlungen in unterschiedlichen gedanklichen Zusammenhängen. Um dem Leser eine Einordnung der jeweiligen Verwendung zu ermöglichen, werden psychoanalytische oder psychotherapeutische Begriffe in einfache spitze Klammern gesetzt (z. B. „die

6 | Einleitung ›Deutung‹ nach Freud“). Sprachliche Handlungen erscheinen in Anführungszeichen, wenn sie konzeptuell betrachtet werden (z. B. „das Handlungsmuster „Deuten““). Auch Handlungsmusterpositionen (z. B. „die „Verbalisierung“ der „Deutung““) werden mit Anführungszeichen kenntlich gemacht. Ohne Auszeichnung werden Bezeichnungen für sprachliche Handlungen angeführt, wenn sie im Sinne der Alltagssprache verwendet werden oder auf ein konkretes Datum im Transkript rekurrieren (z. B. „die erste Deutung in Beispiel B6“). Die uneigentliche Verwendung von Ausdrücken wird mit einfachen Anführungszeichen ausgezeichnet (z. B. „von einer ‚Deutung‘ wäre allenfalls zu sprechen“). Einfache Anführungszeichen werden auch verwendet, wenn Anführungszeichen in Zitaten wiedergegeben werden.

2 Stand der Forschung

1

Obwohl der Gegenstand „Psychotherapie“ in der jüngeren deutschsprachigen Linguistik wenig Beachtung findet, ist international auf eine durchaus beeindruckende Forschungsgeschichte zurückzublicken. Die folgende Auseinandersetzung mit diesen Arbeiten hat den Zweck, Grundlagen für die eigene Analyse zu gewinnen. Die Wirkungsweise sprachlich basierter Psychotherapie allerdings ist, wie der Überblick über die Forschungsgeschichte zeigen wird, bisher nicht dezidiert linguistisch untersucht worden – zur Fragestellung der vorliegenden Arbeit liegen also lediglich vereinzelte, unsystematisch gewonnene Erkenntnisse vor. Diese Erkenntnisse, mit besonderem Fokus auf das ›Deuten‹ und das ›Verbalisieren des emotionalen Erlebnisgehalts‹ (›VEE‹), kritisch zu sichten und für die anschließende Analyse aufzubereiten, ist die eine Aufgabe dieses Kapitels. Da außerdem die allgemeinen Charakteristika des therapeutischen Sprechens und Hörens das Geschehen zwischen Therapeut und Patient global prägen und somit Einfluss auf das ›Deuten‹ und das ›VEE‹ ausüben,2 besteht die andere Aufgabe in der kritischen Rezeption der Forschung hinsichtlich solcher allgemeiner Charakteristika der „Diskursart verbal orientierte Psychotherapie“ (vgl. u. Kap. 4.2). Es sind also v. a. zwei Fragen an die linguistische Literatur über Psychotherapie zu stellen: 1. Was weiß die Forschung über die Institution „Psychotherapie“ und den in ihr ablaufenden Diskurs? 2. Was weiß die Forschung über Form und Funktion einzelner heilender therapeutischer Handlungen, insbesondere über das ›Deuten‹ und das ›VEE‹? Die Diskussion der Literatur folgt weitgehend der chronologischen Reihenfolge der Arbeiten, so dass auch Struktur und Verlauf der linguistischen Erforschung von Psychotherapie erkennbar werden. Dabei werden Arbeiten, die keine Antworten auf die obigen Fragen liefern, nur kurz referiert, auf Studien psychotherapeutischer Provenienz wird nur an einzelnen Stellen eingegangen (vgl. dazu aber Boothe 2001, Buchholz u. a. 2008: 70ff, U. Streeck 2008). Betont wurde zunächst der Gesprächscharakter therapeutischen Sprechens, d. h., dass die ersten Arbeiten, eingerahmt von der ‚Entdeckung‘ der mündli-

1 Für eine kondensierte Fassung dieses Kapitels s. Scarvaglieri 2011a. 2 Die Diskussion wird zeigen, dass einige Forscher davon ausgehen, dass die strukturellen Eigenheiten des therapeutischen Diskurses nicht nur Einfluss auf ›Deuten‹ und ›VEE‹ haben, sondern diese Interventionen überhaupt erst ermöglichen (s. u. Kap. 2.2).

8 | Stand der Forschung chen tatsächlich gesprochenen Sprache in der Linguistik, Psychotherapie weniger als Gegenstand sui generis, sondern als ein Beispiel für mündliche Sprachverwendung überhaupt diskutierten. Erst ab Mitte der 1970er Jahre wurde Psychotherapie an und für sich sprachwissenschaftlich thematisiert. Aus der dabei zunächst primären Beschäftigung mit den Merkmalen der Diskursart „Psychotherapie“ entwickelte sich schließlich die Frage nach spezifischen Handlungen und Verhaltensweisen von Therapeut und Patient. Die Darstellung des Forschungsstands folgt dieser von einer sich immer mehr verengenden Makroperspektive ausgehenden Bewegung der Diskussion: Psychotherapie kommt zunächst lediglich grob als Gespräch (Kap. 2.1), dann als eigene Diskursart (Kap. 2.2), schließlich als Konstituens spezifisch therapeutischer Handlungen in den Blick (Kap. 2.3). Das Kapitel liefert also zum einen Erkenntnisse über den Gegenstand „Psychotherapie“, zum anderen über die Methoden und Theorien seiner linguistischen Erforschung. Diese beiden Aspekte werden im Anschluss (Kap. 3.1) für die Diskussion über einen geeigneten Ansatz zur Untersuchung der Wirksamkeit von Psychotherapie genutzt.

2.1 Psychotherapie als Gespräch Die frühen Arbeiten zur Psychotherapie waren nicht nur diejenigen, die sich zuerst aus linguistischer Perspektive dem Gegenstand näherten, sondern leisteten auch im Hinblick auf Methodik und Theorie der Gesprächsforschung insgesamt Pionierarbeit. Da diese Arbeiten häufig zu den ersten gehörten, die sich überhaupt mit mündlicher Sprache beschäftigten, stand der Gesprächscharakter des Gegenstands im Vordergrund und nicht die Frage nach spezifischen Merkmalen des psychotherapeutischen Gesprächs. So arbeiten Pittenger u. a. (1960) in ihrer Untersuchung „The First Five Minutes“ nicht nur Besonderheiten des ersten aufgezeichneten und transkribierten Therapiegesprächs heraus, sondern stellen zusammenfassend eine Reihe von Prinzipien von Gesprächen auf (z. B. „Immanent Reference“ (229ff), „Recurrence“ (234ff), „Adjustment“ (242ff)), die für diese Form der Kommunikation generell kennzeichnend seien. Wenn auch diese Prinzipien aus heutiger Perspektive nicht im Einzelnen überzeugen können (s. die Kritik von Sabine Streeck 1989: 55), ist die Bedeutung dieser Arbeit doch darin zu sehen, dass hier zum ersten Mal Methoden zur wort- und lautgetreuen Transkription (gerade auch die „hems and haws, sighs, gasps, coughs and throat-clearings“ (Pittenger u. a. 1960: 8) sollten Teil des Transkripts sein) sowie zur äußerungsorientierten Beschreibung und Analyse eines Therapiegesprächs zur Anwendung kamen.

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Eine weitere frühe Arbeit von Bedeutung ist die von Albert Scheflen in den 50er Jahren begonnene und 1973 veröffentlichte Untersuchung zur „Communicational Structure“ von Psychotherapie (Scheflen 1973). Scheflen untersucht basierend auf Videoaufnahmen eines therapeutischen Gesprächs vor allem die Bedeutung von körperlicher Position und Bewegung der Aktanten. Er erbrachte damit wichtige Erkenntnisse zur Koordination von Körper und Sprache (s. dazu auch Scheflen 1976) und nahm zum Teil Fragestellungen vorweg, die in der Gesprächsforschung Jahrzehnte später unter dem Stichwort der „Multimodalität“ (vgl. z. B. Mondada & Schmitt 2010) neu entdeckt werden mussten. Zur Spezifik des psychotherapeutischen Diskurses allerdings äußert sich Scheflen nicht und wurde daher in diesem Forschungsgebiet auch kaum rezipiert. Einen ersten wesentlichen Beitrag zur linguistischen Erforschung psychotherapeutischer Gespräche liefert dagegen die viel zitierte Arbeit über den „Therapeutic Discourse“ von Labov & Fanshel (1977). Wie die bereits besprochenen Untersuchungen konzentriert sich allerdings auch diese auf nur einen Ausschnitt aus nur einem therapeutischen Gespräch. Labov & Fanshel nehmen die ersten fünfzehn Minuten der 25. Sitzung einer Therapie in den Blick und orientieren sich an vier Analyseebenen: – der Ebene des ‚Textes‘, die die verbalen Elemente und Pausen des Gesprächs umfasst (40-42); – der Ebene der „paralinguistic cues“, mit der Phänomene wie Lautstärke, Lachen, Atmen, Geschwindigkeit erfasst werden (42-49); – der Ebene der „Expansion“ des Textes, in der die verbale und die parasprachliche Ebene verbunden, paraphrasiert und mit Elementen der Sprechsituation in Beziehung gesetzt werden (49-58) – hierdurch wird dem Gespräch zusätzlicher ‚Inhalt‘ abgewonnen, der zwar an der Oberfläche des sprachlichen Geschehens nicht ausgedrückt ist, nach Auffassung der Autoren jedoch implizit vorhanden ist (51f.); – der Ebene der Interaktion, auf der die Handlungen der Sprecher identifiziert werden (58ff). Die Verbindung der drei ersten sprachlichen Ebenen mit der Ebene der Interaktion wird für Labov & Fanshel durch die Sprechakttheorie gewährleistet. Mit ihrer Hilfe formulieren Labov & Fanshel Bedingungen für die vier von ihnen unterschiedenen Grundtypen des sprachlichen Handeln – Metakommunikation, Repräsentation, Bitte und Herausforderung (60-65) – und deklinieren sie anhand des sprachlichen Materials aus der Psychotherapie hinsichtlich sprechakttheoretischer Voraussetzungen und Konsequenzen durch (77-110). Auch hier liegt der Akzent der Untersuchung also auf der Frage nach allgemeinen Merk-

10 | Stand der Forschung malen von Gesprächen und ihrer angemessenen Analyse, weniger auf den Eigenheiten therapeutischer Kommunikation. Von größerer Bedeutung für die Untersuchung von Psychotherapie ist eine Unterscheidung, die die Autoren bezüglich des epistemischen Status von Äußerungen einführen. Sie unterscheiden Äußerungen über „A-Events“ (62), hinsichtlich derer der Sprecher über eigenes biografisches Wissen verfügt, von Äußerungen über „D-Events“ (ebd.), also andere Ereignisse, z. B. Erlebnisse einer anderen Person, über die der Sprecher nur eingeschränktes Wissen hat. Damit wird an dieser Stelle ein wichtiger Aspekt der Erforschung psychotherapeutischer Gespräche angesprochen: die Unterscheidung von sprachlichen Prozessen auf der einen Seite und mentalen, kognitiven Prozessen auf der anderen Seite. Diese Unterscheidung – ihre Notwendigkeit, Angemessenheit, die Möglichkeit, sie analytisch durchzuhalten – wird in der Folge gerade in der Psychotherapieforschung, für die die Frage nach den psychischen Effekten sprachlichen Handelns ja auf der Hand liegt, immer wieder diskutiert (vgl. S. Streeck 1989; Wolff 1994a; Eisenmann 1995; Peräkylä 2008; Vehviläinen 2008) und spielt auch für die Diskussion (s. u. Kap. 3.1) über methodisch-theoretische Ansätze zur Erforschung der Wirkungsweise von Psychotherapie eine wesentliche Rolle. Von dieser Unterscheidung abgesehen hat das Vorgehen von Labov & Fanshel in der Therapieforschung kaum Nachahmer gefunden. Dies ist u. a. auf die fragwürdige Methode der Expansion des Textes zurückführen – bei diesem Vorgehen entstehen zum Teil komplett neue, eigenständige Propositionen, die sich nicht nur auf die aktuell analysierte Transkriptstelle stützen, sondern immer wieder auch auf im Gespräch weit zurückliegende oder erst noch folgende Äußerungen. Damit greift man bei diesem Arbeitsschritt, der an sich der Präparation und Desambiguierung der Daten dienen soll, der Analyse und Interpretation der Daten voraus. Im Rahmen der Expansion werden Äußerungen so weit ausgedeutet, dass die anschließende Analyse die expandierten Textstellen nur noch auszuformulieren hat, die an sich separaten Schritte der Datenaufbereitung und Datenanalyse im Arbeitsschritt der Expansion zusammenfallen. Die Wirkungsgeschichte dieser Arbeit hat daher vor allem darin bestanden, die Aufmerksamkeit der Linguistik auf den Untersuchungsgegenstand Psychotherapie zu richten. Daneben hat sie späteren Untersuchungen aber auch Möglichkeiten der methodologischen Abgrenzung geboten (vgl. S. Streeck 1989: 58). Insgesamt mag der Beitrag dieser frühen Arbeiten zu unserem Wissen über die Eigenheiten therapeutischen Sprechens und Hörens zunächst bescheiden anmuten. Dennoch sind es diese Arbeiten, die die Psychotherapie als Gegenstand der Gesprächsforschung etabliert haben und damit der Erkenntnis, dass Psychotherapie als Gespräch anzusehen und zu erforschen ist, zur Durchset-

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zung verholfen haben.3 Hinter diese Erkenntnis konnte im Anschluss nicht mehr zurückgegangen werden und auch für meine Arbeit bleibt das Verständnis von Psychotherapie als Gespräch bzw. Diskurs grundlegend. Es werden damit grundlegende Annahmen über den zu untersuchenden Gegenstand gemacht, die in der räumlichen und zeitlichen Kopräsenz von Therapeut und Patient fundiert sind. Voraussetzung von Gesprächen bzw. Diskursen ist die gleichzeitige physische Anwesenheit der Beteiligten, die einen „(weitgehend) gemeinsamen Wahrnehmungsraum“ (Ehlich 1993: 28) konstiutiert. Dieser gemeinsame Wahrnehmungsraum ermöglicht zum einen die für Diskurse kennzeichnende Sequenzierung sprachlicher Handlungen, die häufig einen Wechsel des Rederechts involviert. Im „face-to-face-Diskurs“ können Sprecher und Hörer also unmittelbar auf die Handlungen des Anderen reagieren und am gegenseitigen Verstehen, am Weiterkommen im Handlungsprozess, ohne Zeitverlust und vermittelndes technisches Medium arbeiten. Zum anderen kann im Diskurs auf den gemeinsamen Wahrnehmungsraum mit verbalen und nonverbalen Mitteln verwiesen werden, was kommunikative Ressourcen erschließt, die im Text-vermittelten sprachlichen Handeln nicht gegeben sind. So können „außersprachliche Objekte im Wahrnehmungsraum und in anderen Räumen deiktisch“ (Rehbein & Kameyama 2004: 570) fokussiert werden. Sprecher und Hörer nehmen einander im Redevollzug wahr und können auf dieser Grundlage ihr eigenes Verhalten dem des Gegenüber anpassen (Goffmann 1971, Ehlich 1984b: 16f., Ehlich 1989),4 indem z. B. „verständigungsgefährdete Passagen direkt bearbeitet werden“ (Ehlich 1994a: 22) und so „Verständlichkeit unmittelbar hergestellt werden kann“ (ebd.). Da im Diskurs Sprache außerdem in

3 In der klinischen Praxis dagegen droht diese aus linguistischer Perspektive mittlerweile banal anmutende Erkenntnis vom Gesprächscharakter der Psychotherapie unterdessen in Vergessenheit zu geraten. Durch den Trend zur ‚Manualisierung‘ von Behandlungen wird das Gespräch zwischen Krankem und Heilendem teilweise ersetzt durch die diagnose- und statusspezifische Applizierung standardisierter Textbausteine. Die Institution Psychotherapie wird damit zu einer Art trivialen Maschine, der Therapeut zum Maschinenführer, der das Material des Patienten nach den therapietheoretisch valenten Inputs filtert und ohne zusätzliche, eigenständige Reflexion den entsprechenden Output produziert. Indem die vorliegende Arbeit zu zeigen versucht, wie Therapie als Gespräch funktioniert, versteht sie sich u. a. als ein Beitrag zu dieser Debatte zwischen behavioristischen und i. w. S. hermeneutischen Ansätzen der Psychotherapieforschung (vgl. etwa Buchholz 2007, Gödde & Buchholz 2012). 4 Diese elementare Konstante von Diskursen wird in der Psychoanalyse zwar in der Regel aus methodischen Gründen durch Positionierung der Aktanten so modifiziert, dass der Patient den Analytiker nicht sehen kann. Bei den hier zu untersuchenden tiefenpsychologischen und gesprächstherapeutischen Therapien sitzen sich Therapeut und Patient aber gegenüber, teilen somit also auch den visuellen Wahrnehmungsraum.

12 | Stand der Forschung der Regel spontan produziert wird, kommt es an der Oberfläche sprachlichen Handelns zu Reparaturen, Abbrüchen oder mentalen Fehlleistungen, die ebenfalls zum Gegenstand therapeutischen Handelns werden können („Freudsche Fehlleistung“, vgl. Flader 1995: 51ff). Diese Gegebenheiten sind grundlegend für die therapeutische Wirkung sprachlichen Handelns in der Psychotherapie und mitverantwortlich dafür, dass Psychotherapie heilen kann, während das Lesen einer Abhandlung über psychische Krankheiten und ihre Kur nur in den seltensten Fällen hilft.

2.2 Psychotherapie als Diskursart Die ‚pragmatische Wende‘ der Linguistik führt mit Verzögerung dazu, dass man sich von der alleinigen Beschäftigung mit Sprache als System ab- und dem sprachlichen Handeln als Teil gesellschaftlicher Realität zuwendet. Dabei kommen auch Institutionen wie die Psychotherapie in den Blick, die ihre Funktion der Steuerung und Kanalisierung von Prozessen sozialer Reproduktion wesentlich durch und mit Sprache realisieren. Aufnahmen von Therapiegesprächen werden nun nicht mehr nur als Beispiele für Mündlichkeit, sondern als Gegenstand sui generis interessant.5 Man beschäftigt sich mit den Eigenschaften des therapeutischen Diskurses und versucht, ihn von anderen Diskursen abzugrenzen.

5 Ein Teil der dabei entstehenden Arbeiten (Bernstein 1970b; Klann 1977, 1978, 1979) setzt sich lediglich theoretisch mit Psychoanalyse und Psychotherapie auseinander. Da diese Arbeiten die Praxis der Therapie nicht untersuchen, erscheint eine nähere Beschäftigung mit ihnen für die hier verfolge Fragestellung wenig vielversprechend. Auch von Seiten der Psychoanalyse aus wird quasi zeitgleich der Versuch unternommen, linguistische Theorien für ein besseres Verständnis der eigenen Praxis nutzbar zu machen (Goeppert & Goeppert 1973, 1975, 1979, 1981; Lenga & Gutwinski 1979). Wenn dabei auch einige, allein auf den verbalen Gehalt beschränkte Verschriftlichungen von therapeutischen Gesprächen entstehen, bleibt der linguistische Beitrag dieser Arbeiten doch eher marginal. Die Fragestellungen (z. B. nach den Eigenschaften neurotischen Sprechens) werden von der Psychoanalyse vorgegeben, die ‚Linguistik‘ beschränkt sich v. a. auf das Auszählen formaler Oberflächenelemente (wie die Verwendung von Sprecher- vs. Hörerdeixis, Aktiv vs. Passiv oder die Besetzung der syntaktischen Subjektvs. Objektpositionen (Goeppert & Goeppert 1975); ähnliche Kritik üben Flader & Schröter 1982 sowie Flader 1982). Da sich Fragestellung, Methodik und Erkenntnisse trotz des verwendeten Begriffs der „linguistischen Analyse“ (Goeppert & Goeppert 1981: 7ff) dieser Arbeiten allein im psychoanalytischen Rahmen bewegen – in welchem sie auch Folgerichtigkeit und Relevanz besitzen –, erscheint eine detaillierte Auseinandersetzung mit diesen Publikationen an dieser Stelle wenig weiterführend.

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Erste grundlegende Beobachtungen hat Roy Turner (1976) anhand von Transkripten aus der Gruppentherapie gemacht. Er beschäftigte sich aus ethnomethodologischer Sicht mit der Frage, wann ein psychotherapeutisches Gespräch eigentlich beginnt, genauer, woran sich der Unterschied zwischen dem ‚informellen‘ Vorgespräch zwischen Therapeut und Patient und dem ‚offiziellen‘ Therapieteil festmachen lässt. Turner untersucht die ersten Äußerungen mehrerer Sitzungen einer Gruppentherapie und kommt zu dem Ergebnis, dass das therapeutische Handeln durch das Auslassen der „‚zweiten Handlungen‘, zu denen sie [die Therapeuten; C.S.] durch die von den Patienten angebotenen ‚ersten Handlungen‘ gedrängt werden“ (a. a. O.: 178) gekennzeichnet ist. Der Wechsel zur Therapie findet demnach dann statt, wenn der Therapeut nicht mehr so reagiert, wie im Alltag zu erwarten, sondern die sprachlichen und nichtsprachlichen Handlungen der Patienten als therapeutisch auszuwertende „Daten“ (a. a. O.: 186) behandelt. Therapeuten antworten dann etwa nicht mehr auf Fragen der Patienten, sondern stellen die Gegenfrage nach dem Grund der Frage bzw. den mit ihr verbundenen Gefühlen und machen auf diese Weise jede patientenseitige Handlung (und Unterlassung) zu einem Gegenstand therapeutischen Handelns. Turner konnte mit dieser Beobachtung über das Aussteigen aus den Handlungsabläufen des Alltags und dem Umwerten der patientenseitigen Handlungen zu Daten der Therapie schon früh ein interaktives Phänomen herausarbeiten, das nach wie vor als ein wesentliches Kennzeichen von Psychotherapie angesehen wird. Die Handlungsstruktur ist verändert, gesellschaftliche „Handlungsmuster“ werden nicht so abgearbeitet, wie das im Alltag der Fall ist (vgl. u. S. 15ff). Turner fragt allerdings nicht nach der Verankerung der sog. ersten und zweiten Handlungen im Handlungsprozess, nach ihrer Zweckhaftigkeit und nach dem, was das therapeutische Handeln beim Patienten auslöst. Turner macht auf eine Besonderheit des interaktiven Geschehens aufmerksam, lässt – innerhalb des angewandten methodologischen Paradigmas durchaus folgerichtig – die mentale und therapeutische Funktion dieses Merkmals jedoch außer Acht. Neben dieser frühen konversationsanalytisch-ethnomethodologischen Arbeit von Roy Turner waren es zunächst vor allem die Arbeiten von Ruth Wodak und Dieter Flader, die aus kritisch-diskursanalytischer bzw. funktionalpragmatischer6 Perspektive die Erforschung der Institution Psychotherapie vorantrieben.

6 Die genannten Ansätze der linguistischen Gesprächsforschung befanden sich zu dieser Zeit noch im Entstehen. Es handelt sich daher hier nur um eine grobe Verortung der fraglichen

14 | Stand der Forschung Wodak widmete sich wie Turner der Untersuchung der Gruppentherapie und setzte sich insbesondere mit den Thesen Basil Bernsteins vom restringierten und elaborierten Code (Bernstein 1970a) auseinander. Bernstein kommt in einer ausschließlich theoretisch argumentierenden Studie (1970b) zu dem Schluss, dass »Mitglieder der Arbeiterschicht« (84) nicht von Psychotherapie profitieren könnten, weil sie nicht über »die für eine psychotherapeutische Beziehung notwendige Sensibilität und Kommunikationsform« (ebd.) verfügten. In einer detaillierten und materialreichen Untersuchung (Wodak 1981a; s. auch Wodak-Leodolter 1979, 1980; Wodak 1981b) konnte Wodak diese These widerlegen, indem sie an den Selbstdarstellungen der Patienten mit Hilfe quantitativer (Wodak 1981a: 191ff) und qualitativer (241ff) Methoden Veränderungen u. a. bezüglich „Gefühlsausdruck“ (241) (wenig vs. viel), „Sprecherperspektive“ (ebd.) (persönlich vs. unpersönlich) und Erzählstruktur (ausgebaut vs. fragmentarisch) diagnostizierte. Diese Veränderungen seien Ausdruck einer psychischen Weiterentwicklung, einer veränderten Einstellung sich selbst und den eigenen psychischen Prozessen gegenüber, die auch bei Unterschichtpatienten nach absolvierter Psychotherapie zu erkennen seien (Wodak-Leodolter 1979: 200). Die Effekte werden von Wodak als Erfolg der gruppentherapeutischen Behandlung gewertet, die dem Wesen von in Gruppen gleichaltriger Kinder aufwachsenden Unterschichtpatienten prinzipiell entgegenkomme (a. a. O.: 203). Mittelschichtkinder wüchsen dagegen eher im Kontakt mit einzelnen Autoritäten auf und könnten daher besser von der Einzeltherapie profitieren (a. a. O.: 189). Schwierig an Wodaks Vorgehen scheint, dass die Kategorien der Untersuchungen nicht am Material entwickelt oder überprüft werden. Vielmehr werden vorgegebene Unterscheidungen auf die sprachlichen Daten appliziert und als sie bestimmende Faktoren gesetzt. Wodak folgt dabei Bernsteins Unterscheidung zwischen Unterschicht- und Mittelschichtpatienten, erweitert sie lediglich um die Komponente der Geschlechtszugehörigkeit. Die Zugehörigkeit zur einen oder anderen Kategorie wird nach soziographischen Gesichtspunkten, also quasi ‚von außen‘, auf die Therapieteilnehmer appliziert, unabhängig von ihrem tatsächlichen sprachlichen Verhalten. Das sprachliche Verhalten wird anschließend auf die jeweilige soziale Kategorie zurückgeführt, andere Aspekte, die in der konkreten Handlungskonstellation eine Rolle spielen könnten (Bedürfnisse, Wissen, Handlungsroutinen etc.), kommen als mögliche Erklärungen nicht in den Blick. Untersucht wird also nicht das einzelne therapeutische Ge-

Arbeiten, die inhaltliche und methodische Überschneidungen und Unschärfen zu Gunsten einer generellen Charakterisierung unberücksichtigt lässt.

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spräch oder die Institution Psychotherapie, sondern Verhaltensmuster von Merkmalsträgern vorgegebener soziographischer Kategorien. Dementsprechend ist die Aussagekraft von Wodaks Studien hinsichtlich wesentlicher Merkmale der Institution Psychotherapie m. E. begrenzt. Ebenfalls zu hinterfragen ist das Heranziehen des aus der Psychoanalyse importierten Konzepts der ›Abwehr‹ (Wodak 1981a: 153ff) als, neben den genannten soziographischen Kategorien, einzige weitere erklärende Variable. Bestimmte Äußerungen werden umstandslos als Ausdruck von ›Abwehr‹ charakterisiert und so in ihrer Bedeutung und psychischen Funktion voranalytisch festgelegt. Eine Untersuchung der sprachlichen Formen erübrigt sich damit, die Auseinandersetzung mit dem Material nach linguistischen Kriterien kann unterbleiben, weil Ursache und Bedeutung von Äußerungen bereits durch soziographische oder psychoanalytische Kategorien determiniert sind. Durch den Rückgriff auf psychoanalytische Konzepte zur Erklärung des sprachlichen Geschehens kommt es in der Psychotherapieforschung immer wieder zu einer Vermischung von Gegenstand und Methode (vgl. u. S. 30f., 49f., 76f., 83f.), die für die Beantwortung der Frage, was aus linguistischer Sicht das Spezifische des Gegenstands ausmacht, nicht förderlich erscheint. Trotz dieser Kritikpunkte konnten Wodaks Arbeiten dazu beitragen, dass Bernsteins Befund über die apriorische Exklusion ganzer gesellschaftlicher Gruppen von dem sog. ‚Mittelschichtinstrument Psychotherapie‘ aus heutiger Sicht unhaltbar erscheint. Die Diskussion hat auch dazu geführt, dass durchaus vorhandene Ungleichgewichte hinsichtlich sozialer Zugehörigkeit und der Anwendung von Psychotherapie als Problem erkannt und thematisiert wurden (s. etwa Menne & Schröter 1980). Das Forschungsprojekt „Diskursstrukturen der psychoanalytischen Therapie“ um Dieter Flader führte zwischen 1980 und 1984 zum Entstehen zahlreicher Arbeiten, die einen Grundstock linguistischen Wissens über Kommunikationsprozesse in der Psychoanalyse und der Psychotherapie erarbeiten konnten. Die folgende Diskussion greift dieses Wissen auf, auf eine Darstellung jedes einzelnen Titels wird verzichtet. Das Projekt konnte auf der bereits referierten Arbeit Turners (1976), in der grundsätzliche Unterschiede im Handlungsablauf von alltäglicher und therapeutischer Kommunikation festgestellt worden waren (s. o.), sowie teilweise auf Überlegungen von Robin Tolmach Lakoff (1982) aufbauen. Die Besonderheiten des Therapiediskurses wurden insbesondere an folgenden Bereichen festgemacht: – der psychischen bzw. mentalen Seite des Sprechens (Flader & Grodzicki 1982b); – der Gesprächsbeteiligung durch den Therapeuten (Flader 1982);

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der Reziprozität im Gespräch (Flader 1979, Koerfer & Neumann 1982); der Kooperativität im Gespräch (Koerfer & Neumann 1982); der Frage der ‚Anonymität‘ der Beteiligten (Koerfer & Neumann 1982).

Flader & Grodzicki (1982a) betonen die „Asymmetrie“ (56) der „desozialisierten Kommunikationssituation“ (93) in der Psychoanalyse. Die von Turner festgestellten und von Flader & Grodzicki betonten Abweichungen vom Alltagsdiskurs kreieren für den Patienten eine neue, unbekannte Interaktionssituation, in der der Analytiker nicht nur über einen uneinholbaren Wissensvorsprung (a. a. O.: 56f.), sondern auch über interaktionale Hoheit verfügt. Während der Patient nach wie vor die standardmäßig erwarteten sog. „zweiten Handlungen“ (a. a. O.: 63) durchzuführen hat, ist der Analytiker von dieser Pflicht befreit. Flader & Grodzicki nehmen nun besonders die mentale Seite dieser veränderten Kommunikationssituation in den Blick und vergleichen sie strukturell mit der Kindheit des Patienten, in welcher dieser ähnlich unwissend und den Eltern handlungssystematisch unterlegen gewesen sei. Die strukturelle Übereinstimmung der psychoanalytischen Kommunikationssituation mit der der Kindheit fördere die psychischen Prozesse der ›Regression‹ – des kontrollierten und zeitlich beschränkten Rückgangs auf Phasen früherer psychischer Entwicklung – und ›Übertragung‹ – der Übertragung psychischer und interaktiver Deutungsund Verhaltensmuster von den primären Liebesobjekten (Eltern, Lebenspartner) auf den Analytiker (Sandler u. a. 1991: 33ff). Da diese Prozesse wiederum wesentlich für die Heilung durch die psychoanalytische Therapie sind (Flader & Grodzicki 1982a: 93), ist die Spezifik der psychoanalytischen Kommunikationssituation den Autoren zu Folge ein wesentliches Element der therapeutischen Wirkung von Psychoanalyse. Flader & Grodzicki gelingt es mit dieser Arbeit, eine Verbindung zwischen den konstatierten Besonderheiten psychoanalytischen Sprechens und dem Wirken von Psychoanalyse herzustellen. Sie bearbeiten damit eine Frage, die auch in der vorliegenden Arbeit im Vordergrund steht. Allerdings tun sie dies unter völligem Verzicht auf die Analyse konkreter sprachlicher Daten und beziehen sich bei ihren Ausführungen lediglich auf vermeintlich etabliertes Wissen über den psychoanalytischen Diskurs bzw. auf imaginierte Beispieläußerungen. Aus der hier gewählten Perspektive, die das Wirken von Psychotherapie im Einzelnen anhand konkreter Äußerungen in der Therapie in den Blick bekommen will, muss ein solches Vorgehen zunächst einmal fragwürdig erscheinende Ergebnisse erbringen. Das sprachliche Handeln wird nicht konkret analysiert, so dass m. E. keine verallgemeinerbaren Aussagen über die Effekte sprachlichen Handelns getroffen werden können. Flader & Grodzickis Schlussfolgerungen, wonach die psychoanalytische Kommunikationssituation ›Regres-

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sion‹ und ›Übertragung‹ fördert und entscheidend zur Heilung beiträgt, sind damit nicht als feststehende Erkenntnisse, sondern eher als Hypothesen für anschließende empirische Untersuchungen anzusehen. Da es sich bei den mir vorliegenden Daten allerdings um Aufnahmen von Kurzzeittherapien handelt, in denen ›Regression‹ und ›Übertragung‹ als therapeutisch hinderlich gelten und begrenzt werden sollen (Leuzinger-Bohleber 1985, S. Streeck 1989), sind sie in der vorliegenden Arbeit nicht weiter zu verfolgen. Flader (1979) stellt in einer weiteren Arbeit, in der er einen kurzen Ausschnitt authentischer therapeutischer Kommunikation analysiert, das Phänomen der „Nicht-Reziprozität“ (41) von Handlungsstrukturen und „Deutungsmustern“ (ebd.) von Patient und Therapeut in den Mittelpunkt. Diese NichtReziprozität ermögliche es dem Analytiker, auf einen ihm vom Patienten zugewiesenen Handlungsslot nicht eindeutig, sondern „sequentiell ambique [sic!]“7 (a. a. O.: 32) zu reagieren. Dadurch entstehe eine interaktive Offenheit, die Fortsetzung der Interaktion bleibe wesentlich dem Patienten überlassen. Gleichzeitig seien die Deutungsmuster, nach denen Therapeut und Patient das interaktive Geschehen verstehen und bewerten, notwendig voneinander unterschieden und nicht vollständig aneinander annäherbar. Flader zu Folge prägt der Umgang mit der strukturellen, nicht hintergehbaren mentalen Nicht-Reziprozität, die sich in diesen unterschiedlichen Deutungsmustern realisiert und auf das Phänomen der ›Abwehr‹ zurückzuführen ist, den psychoanalytischen Diskurs ebenso, wie dieser in der Interaktion von der von Turner zum ersten Mal beschriebenen Nicht-Reziprozität des Handelns bestimmt sei. Auf diese Weise reduziert Flader das Geschehen in der Psychoanalyse auf die strukturellen Gegebenheiten und vernachlässigt m. E. das konkrete sprachliche Handeln von Therapeut und Patient. Es scheint, als entwickle sich die Wirksamkeit von Psychoanalyse und Psychotherapie nur aus dem gegebenen institutionellen Rahmen, unabhängig davon, was in diesem Rahmen jeweils konkret gesagt und getan wird. Letzten Endes wird auf diese Weise eine Art struktureller Automatismus postuliert, demzufolge jede psychoanalytische Behandlung grundsätzlich gleich verliefe und gleich ende. Da dem nicht so ist – Psychoanalyse und Psychotherapie in etwa 25% der Fälle z. B. überhaupt nicht wirkt (s. Smith u. a. 1980, Asay & Lambert 2001, Lambert u. a. 200) – sind die einzelnen sprachlichen Handlungen ebenso in die Analyse zu integrieren, wie die institutionell etablierten, von Flader betonten Rahmenstrukturen des Diskurses.

7 Der Begriff der Sequenz wird von Flader hier im Sinne von Sacks (1992), also im Wesentlichen auf die sprachliche Oberfläche bezogen, benutzt.

18 | Stand der Forschung Eine ähnliche Überbetonung der Diskursstruktur findet sich bei Schröter (1979), der die Frage verfolgt, inwieweit allein „die Verletzung von Regeln alltäglicher Kommunikation“ (184) in der Psychotherapie zur Heilung führt. Auch hier wird die einzelne Äußerung, ihr propositionaler Gehalt ebenso wie ihre konkret zu untersuchende illokutive Charakteristik, vernachlässigt zu Gunsten allgemeingültig gesetzter Gesprächsstrukturen. Eine solche Perspektive übersieht den konkreten Inhalt von Strukturen, übersieht die einzelne sprachliche Äußerung und ihre Auswirkungen. Makrostrukturen eines Diskurses prägen zwar auf der einen Seite einzelne sprachliche Handlungen, auf der anderen Seite realisieren sich aber strukturelle Gegebenheiten nur im konkreten Handeln. Dieses komplexe Verhältnis von Mikro- und Makrostruktur ist analytisch zu rekonstruieren, ein Apriori von ‚Diskursstrukturen‘ ist nicht anzunehmen. Während ein Großteil der Diskussion über die strukturellen Eigenheiten des psychoanalytischen Diskurses die Passivität des Analytikers betont, die sich u. a. im Fehlen der zu erwartenden „Zweiten Handlungen“ äußert, zeigt Flader (1982), dass der Analytiker auf der einen Seite zwar besonders zurückhaltend, auf der anderen Seite aber besonders aktiv ist. Diese gesteigerte Aktivität bezieht sich auf alle „Interaktionen, die der Selbsterforschung des Patienten dienen“ (a. a. O.: 36). Während im Alltag vom Gesprächspartner beim Versuch der Selbsterforschung eher Schweigen oder Dethematisieren zu erwarten wäre, zeigt sich der Analytiker Flader zufolge an dieser Stelle besonders kooperativ und greift unterstützend in den Prozess der Selbsterforschung ein. Flader kann damit die gängige Perspektive auf den psychoanalytischen Diskurs zu einem gewissen Grad erweitern: es geht in der linguistischen Psychotherapieprozessforschung damit nicht mehr nur um das, was in der Psychotherapie nicht geschieht, sondern auch um das, was besonders häufig, besonders akzentuiert, geschieht. Problematisch scheint allerdings, dass Flader – wie bei einigen der Arbeiten dieses Forschungsprojekts – diese Punkte ohne sprachliche Daten entwickelt, die gewonnenen Erkenntnisse für den Leser also nicht überprüfbar sind. Der Verdienst dieser Arbeit liegt daher eher im Aufwerfen einer neuen Perspektive auf Diskurseigenschaften der Psychoanalyse – wonach das aktive Handeln des Analytikers interessiert und nicht nur das Unterlassen erwartbarer Handlungen – als in etwaigen durch diese Neu-Perspektivierung gewonnenen Erkenntnissen. Eine zentrale Arbeit des Forschungsprojekts, in der die Eigenschaften des psychoanalytischen Diskurses anhand konkreter Daten diskutiert und teilweise neu bestimmt werden, stammt von Armin Koerfer und Christhoph Neumann (1982). Sie gehen von einer Arbeit von Robin Tolmach Lakoff (1982; vgl. Lakoff 1989) aus und überprüfen die dort aufgestellten Thesen zur Nicht-Reziprozität

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des psychotherapeutischen Diskurses an einem reichhaltigen Korpus authentischer therapeutischer Gespräche. Dabei zeigen sie zunächst, dass es eine Phase der „Sozialisierung des Patienten in den psa [psychoanalytischen; C.S.] Diskurs“ (Koerfer & Neumann 1982: 101) gibt (vgl. dazu auch Pain 2009: 117f.). In den ausgewählten Beispielen monieren Patienten nicht nur das ungewohnte Verhalten des Analytikers, wenn eine Handlung nicht die erwartbaren Folgen hat, sondern beschreiben in späteren Sitzungen auch selbst den Lernprozess, den sie in diesem Diskurs vollzogen haben (Koerfer & Neumann 1982: 104).8 Außer mit diesen Lernprozessen setzen sich die Autoren vor allem mit Lakoffs „These von der minimalen Reziprozität“ (a. a. O.: 104) in der Psychotherapie auseinander. Sie zeigen, dass die Reziprozität der Kommunikation, von der sie Lakoff folgend annehmen, dass sie im Alltag grundsätzlich gegeben sei, im psychoanalytischen Diskurs entlang einer Reihe von Dimensionen eingeschränkt ist. So kann der Analytiker den Patienten zwar sehen, dies gilt, da der Patient liegt, umgekehrt dagegen nicht (Dimension der „Wahrnehmung“ (a. a. O.: 105ff)).9 Ebenso wird die Organisation des Sprecherwechsels verändert, der Patient ist nämlich nicht in der Lage, den Analytiker als nächsten Sprecher auszuwählen (Dimension der „Dialogrollen“ (a. a. O.: 108ff)). Auch im Handlungsprozess sind Therapeut und Patient nicht gleichgestellt, der Patient ist nicht in der Lage, den Analytiker zu einer bestimmten Folgehandlung, etwa einer Antwort auf eine Frage, zu bringen (Dimension der „Interaktionsrollen und Interaktionssteuerung“ (a. a. O.: 112ff). Mit der nächsten Dimension, „Anonymität und Intimität“ (a. a. O.: 121ff), wenden sich Koerfer & Neumann den mentalen Prozessen in der Psychotherapie zu und zeigen anhand von FreudZitaten (a. a. O.: 121) und Gesprächsauszügen, dass der Patient auf der einen Seite dem Analytiker seine intimsten Gedanken offenbart, während der Analytiker auf der anderen Seite als Person nahezu vollkommen anonym bleibt. Es ist also auch eine Nicht-Reziprozität des Wissens zwischen Therapeut und Patient zu konstatieren. Daneben fragen Koerfer & Neumann nach dem Einhalten von diskursiven Kooperationsmaximen (Grice 1975), deren Geltung sie für Alltagsgespräche

8 Diese Daten machen in methodologischer Hinsicht sehr schön deutlich, dass Aktanten über Handlungswissen bzw. „Handlungsmusterwissen“ (Ehlich & Rehbein 1977: 66ff) verfügen und von anderen Aktanten erwarten, dass diese auf bestimmte Handlungen adäquat reagieren, also ihrerseits bestimmte Handlungen durchführen. Gleichzeitig zeigt sich, dass kein Automatismus des Abarbeitens von Handlungsstrukturen anzunehmen ist (hinsichtlich methodologischer Aspekte s. u. Kap. 3.1). 9 Wie erwähnt (Kap. 2, Anmerkung 4) ist diese Einschränkung der gegenseitigen Wahrnehmung bei den in dieser Arbeit untersuchten Therapien nicht gegeben.

20 | Stand der Forschung annehmen. Sie zeigen, dass insbesondere die „Maxime der Relevanz“ eingeschränkt ist (Koerfer & Neumann 1982: 126). Durch die sog. ›Grundregel‹ der Psychoanalyse „sagen Sie also alles, was Ihnen durch den Sinn geht“ (Freud 1948d: 468) wird versucht, diese Maxime außer Kraft zu setzen. Der Patient soll sich gerade nicht auf das thematisch Relevante beschränken, sondern seine Gedanken möglichst ungefiltert, unkontrolliert nach außen setzen. Grund dafür ist, dass Freud davon ausging, dass gerade die Gedanken, die bewusst als irrelevant oder störend eingeschätzt und normalerweise nicht verbalisiert werden, verdrängten und damit therapeutisch relevanten Gehalt enthalten. Mit der Technik der freien Assoziation soll die „Maxime der Relevanz“ außer Kraft gesetzt und therapeutisch bedeutsames Material zu Tage gefördert werden. Wie sich dies interaktiv niederschlägt, zeigen die Autoren an ihrem Material (Koerfer & Neumann 1982: 121f.). Koerfer & Neumann gelingt mit dieser Studie der Nachweis der verminderten Reziprozität im psychoanalytischen Diskurs. Besonders überzeugend sind die vielen Belege aus ihren Daten, in denen die Abweichungen vom Alltagsdiskurs von den Patienten selbst beklagt werden. Auch die Notwendigkeit einer Eingewöhnungsphase in den Diskurs und das Außerkraftsetzen der ‚Relevanzmaxime‘ werden dokumentiert. Hinsichtlich der Fragestellung gehen Koerfer & Neumann über Turner (1976), der sich allein mit der „Interaktionssteuerung“ beschäftigt hatte, hinaus und gewinnen damit neuartige Erkenntnisse. Die von Koerfer & Neumann herausgearbeiteten strukturellen Merkmale des psychoanalytisches Diskurses sind daher bei der Analyse empirischen Materials zu berücksichtigen, wenn auch nicht von einer eins-zu-eins Übertragbarkeit auf die mir vorliegenden Daten aus tiefenpsychologischer und gesprächstherapeutischer Kurzzeittherapie ausgegangen werden kann. Anhand von psychoanalytischen Erstinterviews stellt Arne Wrobel (1985, 1990) fest, dass in therapeutischen Gesprächen häufig „längere Schweigephasen“ (Wrobel 1990: 243) und eine nicht alternierende Verteilung der Äußerungen vorkommen (ebd.). Geschwiegen werde besonders häufig an Stellen, an denen im Alltag eine Übernahme des Turns durch den Therapeuten zu erwarten sei. Der Therapeut verweigert dann Wrobel zufolge eben diese Übernahme und bestreitet dem Patienten damit das Recht, „selbst zu bestimmen, wann sein Beitrag zu Ende ist“ (a. a. O.: 244). Die einsetzenden Schweigephasen haben damit die Funktion, den Patienten zum Weitersprechen zu animieren und ihn „zur thematischen Expansion und zur thematischen Kohärenz“ (ebd.) anzuregen. Verallgemeinert man Wrobels Beobachtungen, lassen sich Kennzeichen für den therapeutischen Diskurs auf drei Abstraktionsstufen gewinnen. Zunächst ist rein deskriptiv der enorme Anteil von Schweigen – Wrobel kommt auf 30%

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Schweigen (a. a. O.: 242) – festzuhalten (ähnliches stellt auch Peräkylä fest (2011: 292, Fußnote 1)). Dies steht im Gegensatz zu den meisten institutionellen wie nicht-institutionellen Diskursarten, bei denen längere Schweigephasen ohne Aufmerksamkeitsausrichtung auf gleichzeitig auszuführende nichtsprachliche Handlungen als Hinweis auf eine Fragilität des gemeinsamen Handlungssystems interpretiert würden (vgl. aber Hartog 1990). Formal, also die Gesprächsorganisation betreffend, ist davon auszugehen, dass dem Patienten immer wieder die Möglichkeit, den Therapeuten als nächsten Sprecher zu wählen, verweigert wird. Bezüglich der Funktion von Schweigephasen kommt Wrobel – ausgehend von psychoanalytischen Theorien – zu dem Ergebnis, dass das Schweigen dazu dient, den Patienten und seine Erlebnisse in den Mittelpunkt der Therapie zu stellen. Indem er schweigt, vermeidet es der Therapeut, zu den vom Patienten eingebrachten Inhalten Stellung zu nehmen oder ein neues Thema anzusprechen, der Fortgang des Gesprächs wird dem Patienten überlassen. Der große Anteil an Schweigen und die partielle Veränderung des Turn-Taking-Apparats sind also auf die Grundkonstellation des psychotherapeutischen Diskurses zurückzuführen, der ausschließlich auf die Anliegen nur eines Beteiligten, des Patienten, ausgerichtet ist. Diese Ausrichtung macht es, wie Kathleen Warden Ferrara (1994) feststellt, auch möglich, dass ein weiteres Charakteristikum von Alltagskommunikation im therapeutischen Diskurs weitgehend außer Kraft gesetzt ist. Während sich Interaktionsteilnehmer im Alltag nämlich zunächst mittels „story preface“ (Sacks 1971) das Recht auf einen längeren Beitrag, in dem sich eine Geschichte erzählen lässt, sichern müssen, haben Patienten in der Psychotherapie jederzeit die Möglichkeit, Geschichten zu erzählen: „Unlike participants in conversation, client narrators in psychotherapy do not have to justify holding the listener’s attention. They are paying for it. Clients are assured of having the listener’s attention and therapists do not reject the many ordinary narratives given” (Ferrara 1994: 55)

Im Unterschied zum Alltagsdiskurs müssen Patienten also keine „reportability” (Labov 1972) von Geschichten herstellen, sie müssen kein „ticket“ (Sacks 1972) lösen, um erzählen zu können, sondern können jederzeit längere narrative Sequenzen initiieren und durchführen. Dieses Spezifikum könnte man mit Koerfer & Neumann (1982; s. o. S. 20) auf eine eingeschränkte Geltung der „Maxime der Relevanz“ zurückführen. In der Psychotherapie ist also nicht allein das relevant, was beiden Aktanten als relevant erscheint, sondern narrative Relevanz besteht bereits dann, wenn ein Ereignis nur aus der Perspektive des Patienten erzählenswert ist.

22 | Stand der Forschung Mit der Frage nach der Bedeutung dessen, was in der Therapie geschieht, beschäftigt sich auch Joanna Pawelczyk in ihrer Monographie „Talk as therapy“ (2011). Die zuerst von Turner gemachte Beobachtung, dass all das, was Patienten in der Therapie sprachlich und nicht-sprachlich tun oder nicht tun, zum Gegenstand von Therapie werden kann, wird für Pawelczyk zum Ausgangspunkt einer Auseinandersetzung mit den „norms of psychotherapy“ (2011: 54). Pawelczyk spricht davon, dass in der Psychotherapie eine „transparency of meaning“ (a. a. O.: 65) erarbeitet wird: „The therapist is attempting to make meaning of the client's verbal and non-verbal behavior with his/her interactional and communicative strategies in the interactional here and now“ (ebd.; Hervorh. i. O.). Die interaktiven und kommunikativen Strategien des Therapeuten – Nachfragen (a. a. O.: 67ff) und Aufforderungen, mehr zu erzählen (a. a. O.: 74ff) – zielen für Pawelczyk darauf ab, dem Verhalten des Patienten einen Sinn zu geben und zu verstehen, warum der Patient so handelt, wie er handelt. So werde das Verhalten des Patienten „transparent“, da, durch den ‚Vordergrund‘ des Handelns hindurch die mentalen Hintergründe dieses Handelns, seine Bedeutung, erkennbar würden. Dieses interaktive Herstellen einer „transparency of meaning“ kennzeichnet Pawelczyk zufolge den therapeutischen Diskurs und unterscheidet ihn von anderen Diskursarten, in denen die mentalen Antriebe des Handelns entweder gar nicht „in the interactional here and now“ (a. a. O.: 65) thematisiert würden („ordinary conversation“ (ebd.)) oder dies nicht im Sinne eines therapeutischen „qualitative change of life“ (a. a. O.: 94) geschehe (wie etwa bei der polizeilichen „interrogation“ (ebd.) eines Verdächtigen). Während die besprochenen Arbeiten die Bedeutung struktureller Eigenheiten des psychoanalytischen Diskurses und damit die Unterschiede zur alltäglichen Kommunikation in den Mittelpunkt stellen, betonen andere Studien im Gegensatz dazu die Gemeinsamkeiten zwischen alltäglichem und psychotherapeutischem Sprechen. Insbesondere Sabine Streeck kritisiert in einer Reihe von Arbeiten (Stitz 1987, Streeck 1989, 1990)10 die Annahme von der Eigengesetzlichkeit des therapeutischen Diskurses und argumentiert, dass „die von Therapeuten und Patienten angewandten Techniken der Konstitution und Sicherung von Verständigung keine anderen“ (S. Streeck 1990: 195) sind, „als jene, die allen Gesellschaftsmitgliedern zur Verfügung stehen“ (ebd.). In ihrer Monographie zur „Fokussierung in Kurzzeittherapien“ (1989)11 gelingt es ihr dann auch zu zeigen, dass die Organisation der „Hörersignale“ (100ff), des „Turntakings“ (108ff) und von „Frage-Antwort-Sequenzen“ (116ff) in der Psychotherapie weit-

10 Trotz namentlichen Unterschieds stammen die genannten Arbeiten von derselben Autorin. 11 Diese Monographie wird in Kapitel 2.3.4 ausführlich besprochen.

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gehend mit der des Alltags übereinstimmt. Trotz ihrer Grundannahme, dass „Gesprächsteilnehmer auch in der therapeutischen Interaktion auf ihre alltagsweltlichen Muster von Verständigung zurückgreifen“ (a. a. O.: 134), muss allerdings auch Streeck Besonderheiten im Frage- und Antwort-Verhalten von Therapeut und Patient konstatieren. So werden „Fragen […] von Patienten selten gestellt, von den Therapeuten wiederum kaum echte Antworten auf Patienten-Fragen geliefert“ (a. a. O.: 135). Während basale Mechanismen zur Organisation von Gesprächen also denen der Interaktion im Alltag gleichen, kommt es beim sprachlichen Handeln zu erheblichen Abweichungen, die in den Daten – analog zum Material von Koerfer & Neumann – auch immer wieder sichtbar werden (z. B. S. Streeck 1989: 121). Die Grunderkenntnis der linguistischen Psychotherapieforschung, dass sich der psychotherapeutische Diskurs strukturell vom Alltagsdiskurs unterscheidet, wird also auch durch Streecks Arbeiten bestätigt. Ähnlich wie Sabine Streeck wenden sich Wolff & Meier (1995) gegen die Annahme struktureller Eigenheiten therapeutischer Gespräche und fordern, es müsse „zunächst einmal offen“ (a. a. O.: 54) bleiben, „ob Therapien grundsätzlich oder durchgängig besondere Formen von Gesprächen sind“ (ebd.). Im Zuge der Analyse stellen sie allerdings, wenn auch nur an einem Gespräch, fest, dass die „Themenbestimmung und […] -beendigung“ (a. a. O.: 62) „typische Probleme in Therapie- und Beratungsgesprächen“ (ebd.) bereitet. Damit weist also auch diese Arbeit, deren Fokus ansonsten weniger auf dem therapeutischen Diskurs als auf einzelnen therapeutischen Handlungen (s. u. Kap. 2.3) liegt, auf mögliche Charakteristika des therapeutischen Diskurses, in diesem Fall eben die schwierige Themenprozessierung, hin. Die Studien von Sabine Streeck sind im Rahmen des Projekts „Verbale Interaktion in Kurzzeittherapien nach Selbstmordversuchen“ um Norbert Dittmar entstanden. Die meisten Arbeiten aus diesem Projekt beschäftigen sich mit spezifischen Phänomenen des sprachlichen Handelns in der Psychotherapie auf Patienten- oder Therapeutenseite, wie sie im nächsten Kapitel diskutiert werden. Lediglich Speck (1990) und Gebel & Speck (1991) liefern Beiträge zur Diskussion über den psychotherapeutischen Diskurs im Allgemeinen und werden deshalb bereits an dieser Stelle besprochen.12

12 Außerdem untersucht Sigrid Gebel (1987) den Sonderfall triadischer Kommunikation in Therapiegesprächen. In diesem Fall, wenn also neben Therapeut und Patient noch eine dritte Person (z. B. ein Familienmitglied des Patienten) teilnimmt, strukturiert der Therapeut das Gespräch sehr stark, steuert, so Gebel, insbesondere den Sprecherwechsel und greift mit „metakommunikativen Kommentaren“ (a. a. O.: 92) ein. Gebel spricht vom Therapeuten als „Ge-

24 | Stand der Forschung Die Arbeit von Agnes Speck (1990) zur „Themenentwicklung im Therapiegespräch“ (Titel der Arbeit) konstatiert ebenfalls erhebliche Unterschiede zum Alltagsdiskurs. Demnach kontrolliert der Therapeut die thematische Entwicklung: Aktivitäten des Therapeuten, die ein neues Thema etablieren, haben „Vorrang vor einer Weiterbehandlung des laufenden Themas“ (a. a. O.: 203). Therapeuten können bestimmte thematische Elemente des Patientenvortrags aspektualisieren (a. a. O.: 203) und „Patientenäußerungen mit betont affektiver Proposition“ (a. a. O.: 206) besonders in den Vordergrund rücken, also auch auf diese Weise das Gespräch steuern (a. a. O.: 203). Ähnlich wie Wolff & Meyer erkennt also auch Agnes Speck Eigenheiten des therapeutischen Diskurses hinsichtlich der Einführung und Behandlung von Gesprächsthemen. In eine ähnliche Richtung weisen Gebel & Speck (1991), die mit ihrer Fragestellung an Turner (1976) anschließen und die Frage nach dem Anfang von Gesprächen aufgreifen. Wie bei Turner geht es um den Unterschied bzw. Umschlagpunkt zwischen alltäglichem und therapeutischem Sprechen. Im Unterschied zu Turner wird dieses Umschlagen allerdings im Rückgriff auf Kallmeyer (1977) in der „Interaktionsmodalität“ verortet, das Geschehen in der Psychotherapie als ein Wechsel zwischen den Interaktionsmodalitäten des Alltags, der Metakommunikation und des therapeutischen Sprechens konzipiert. Mit dieser Begrifflichkeit ziehen die Autorinnen eine Zwischenebene zwischen Diskurs und sprachlichen Handlungen ein.13 In der Folge wird diese Zwischenebene zum Explanandum der Analyse, die Handlungen der Aktanten sollen auf ihren Beitrag zum Wechsel der Interaktionsmodalität hin befragt werden. An diesem Wechsel soll sodann das Geschehen in der Psychotherapie fest gemacht werden. Analytisch bleibt die Reichweite dieser begrifflichen Neuerung m. E. allerdings begrenzt, da Gebel & Speck konkret nicht zwischen den Ebenen der Handlung und der Interaktionsmodalität unterscheiden. Vielmehr wird der Wechsel der Interaktionsmodalität mit einzelnen Handlungen gleichgesetzt, in einer ‚metakommunikativen‘ Äußerung z. B. auch der Wechsel auf die Ebene der ‚Metakommunikation‘ gesehen (Gebel & Speck 1991: 19). Der Effekt dieser begrifflichen Neuerung ist m. E. also eine heuristisch eher fragwürdige Verdopplung der Analyseebenen.

sprächsleiter“ (ebd.). Da triadische Kommunikation in den mir vorliegenden Daten keine Rolle spielt, wird auf Gebels Studie an dieser Stelle nicht näher eingegangen. 13 Eine konkrete Bestimmung von „Interaktionsmodalität“ liefern weder Gebel & Speck noch die von ihnen referierte Kallmeyer-Studie (1977). Der Ausdruck wird von den Autorinnen so benutzt, dass „Interaktionsmodalität“ als etwas erscheint, das einerseits durch eine Reihe von Handlungen konstituiert wird, andererseits auf die Ausformung von Handlungen dann jeweils wieder zurückwirkt.

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Die Autorinnen vergleichen außerdem den Gesprächseinstieg in der tiefenpsychologischen Psychotherapie mit dem in der Gesprächstherapie. Sie konstatieren, dass die Fragen des tiefenpsychologisch orientierten Therapeuten besser geeignet seien, den therapeutischen Prozess anzustoßen, als die „Diskursinstruktion“14 (a. a. O.: 15) des Gesprächstherapeuten, da die konditionelle Relevanz der Diskursinstruktion, „den Patienten zum sprechen zu bringen“ (ebd.), häufig nicht erfasst werde (a. a. O.: 22f.). Abgesehen von diesem Vergleich der untersuchten Therapietypen kommen die Autorinnen zu einem ähnlichen Ergebnis wie Turner. Turner hatte ja darauf hingewiesen, dass der Wechsel zum therapeutischen Sprechen mit der ersten Handlung des Therapeuten, die die Äußerungen des Patienten als therapeutisch auszuwertendes Material benutzt, geschieht (s. o. S. 13). Gebel & Speck konkretisieren dies an ihren Daten, sehen in der ersten ›Fokussierung‹ (tiefenspsychologische Therapie) bzw. ›Widerspiegelung‹ (Gesprächstherapie) durch den Therapeuten die „Schaltstelle“ (a. a. O.: 21) zum Einstieg in das therapeutische Sprechen. Auf diese Weise werde „ein Fokuswechsel von der Metadiskursebene der Situationsdefinition auf die Diskursebene vollzogen“ (ebd.), so dass „die Situation ‚Therapiegespräch‘“ (ebd.) erzeugt sei, das therapeutische Sprechen also beginne. Neben der terminologischen Neuerung und der damit verbundenen Doppelung der Analyseebenen wird im Vergleich zu Turner also wenig neues Wissen über Psychotherapie als Diskursart gewonnen. Auch der Vergleich zwischen der gesprächstherapeutischen Diskursinstruktion und der Einstiegsfrage des tiefenpsychologisch arbeitenden Therapeuten scheint wenig weiterführend, da er eine funktional-sequentielle Gleichsetzung der beiden Handlungen voraussetzt, die weder sequentiell – die Reaktionen der Patienten auf die beiden Handlungen unterscheiden sich signifikant – noch funktional – die durch eine Frage ausgelösten mentalen Prozesse differieren fundamental von denen einer Assertionsverkettung wie der Diskursinstruktion – begründet erscheint. Die hier besprochenen Untersuchungen weisen insgesamt auf Abweichungen zwischen Alltagsdiskurs und therapeutischem Diskurs hin. Diese betreffen primär die Handlungsstruktur. Therapeuten arbeiten Handlungsmuster nicht so

14 Als „Diskursinstruktion“ bezeichnen die Autorinnen einleitende Äußerungen des Gesprächstherapeuten, in denen dieser die Patienten in groben Zügen auf das folgenden Gespräch einstimmt. Zur Illustration sei ein Beispiel in der Transkription der Autorinnen angeführt: „ich überlaß im Wesentlichen Ihnen so die Initiative wovon Sie sprechen möchten und will auch versuchen Ihnen möglichst wenig Fragen zu stellen (.) sondern (.) eigentlich versuchen mit Ihnen gemeinsam zu verdeutlichen was so bei Ihnen vor sich geht und (.) Ihnen des widerspiegeln was ich davon verstanden hab“ (Gebel & Speck 1991: 15).

26 | Stand der Forschung ab, wie von den Patienten erwartet, sie nehmen häufig nicht die Position ein, die ihnen in vom Patienten initiierten Mustern im Alltag zukäme. Dies scheint auch die Veränderungen des Sprecherwechselmechanismus’ zu bedingen. Der Sprecherwechselmechanismus ist insbesondere so modifiziert, dass es dem Patienten nicht möglich ist, den Therapeuten ohne weiteres als nächsten Sprecher auszuwählen. Indem der Therapeut die Sprecherrolle nicht übernimmt, vermeidet er es, die erwartete Anschlusshandlung auszuführen. Ähnlich verhält es sich mit der Einführung und Bearbeitung von Themen. Dadurch dass der Therapeut anders reagiert als im Alltag, z. B. eine Frage nach seiner Person nicht beantwortet bzw. eine Gegenfrage stellt, sorgt er dafür, dass bestimmte Themen (insbesondere solche, in denen es um Empfindungen des Patienten geht) diskursive Relevanz erhalten, andere dagegen fallen gelassen werden. Auch die Interventionen, also genuin therapeutische sprachliche Handlungen bzw. Handlungsmuster (vgl. u. Kap. 2.3.3-2.3.6), sorgen dafür, dass diejenigen Themen bearbeitet werden, die der Therapeut als bedeutsam setzt. Die strukturellen Ausprägungen von Turn-Taking-Apparat und Themabearbeitung im therapeutischen Diskurs basieren also auf der Modifikation der Handlungsstruktur. Strukturelle Ungleichgewichte sind auch hinsichtlich des Wissens beider Aktanten festzustellen. Der Therapeut hat ein ungleich größeres Wissen, was die psychischen Beeinträchtigungen des Patienten und die Möglichkeiten ihrer Heilung betrifft, außerdem erfährt er während der Therapie immer mehr über den Patienten, bleibt selbst dagegen nahezu anonym. Auch hier ergibt sich eine Verbindung zur Handlungsstruktur: diese ist nämlich gerade so ausgeformt, dass der Patient den Therapeuten nicht zu solchen Handlungen veranlassen kann, die die ungleiche Verteilung von Wissen korrigieren würden (etwa Antworten auf Fragen nach seinem Privatleben).15 Handlungen, die die ungleiche Wissensverteilung vermehren, etwa das Erzählen des Patienten über eigene Erlebnisse (s. u. Kap. 2.3.1), werden dagegen durch die Diskursstrukturen der Therapie befördert. Diese Charakteristika wurden als „Nicht-Reziprozität“ (Koerfer & Neumann 1982) des therapeutischen Diskurses deskriptiv erfasst. Was die Literatur allerdings nicht leisten bzw. an Daten belegen konnte, ist die Rückführung struktureller Gegebenheiten auf ihre mentale Funktion. Eine überzeugende Antwort auf die Frage, was diese Strukturen für das sprachliche Handeln zwischen

15 Auch das psychoanalytische Setting, in dem der Patient den Therapeuten nicht sehen kann, dient der Einschränkung patientenseitigen Wissens. Der Patient soll nämlich nicht erkennen können, wie seine Äußerungen auf den Analytiker wirken, er soll weder Mimik noch Gestik des Analytikers erkennen können und damit weder „Stoff zu Deutungen“ (Freud 1948d: 467) seines Gegenübers erhalten noch „in seinen Mitteilungen beeinfluss[t]“ (ebd.) werden.

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Therapeut und Patient bedeuten, genauer: welche Relevanz sie für den Zweck von Therapie, die Heilung des Patienten, haben, konnte nicht gegeben werden. Die vorliegende Arbeit kann die hier zusammengetragenen Beobachtungen also als einen Ausgangspunkt für die Deskription des therapeutischen Handelns nutzen, eine funktionale Erklärung ist anhand des Materials aber noch zu entwickeln (s. u. Kap. 7 und 8).

2.3 Psychotherapie als Ensemble alltäglicher und therapeutischer Handlungen Im Verlauf der linguistischen Erforschung von Psychotherapie wandte man sich nach der „Diskursart“ als Ganzer immer genauer einzelnen Handlungen und Verhaltensweisen in der Therapie zu. Wenn im Folgenden diese Bewegung bei der Darstellung des Forschungsstandes nachvollzogen wird, ist eine weitere Unterscheidung, die die linguistische Diskussion über die Erforschung von institutionell eingebetteten Diskursen geprägt hat, zu beachten. Demnach wird das sprachliche Handeln in Institutionen wesentlich davon geprägt, ob Aktanten für eine Institution tätig sind, also als „Agenten“ die Umsetzung der in Institutionen abgebundenen gesellschaftlichen Zwecke anstreben, oder ob sie als „Klienten“ freiwillig oder unfreiwillig in die Handlungsabläufe einer Institution involviert werden.16 Die Mehrheit der zu diskutierenden Arbeiten hat sich mit den Handlungen des Therapeuten beschäftigt. Dafür ist eine Reihe von Gründen anzuführen. Zum einen werden Heilungseffekte in der Psychotherapie dem Handeln des Therapeuten zugeschrieben, ja, das dargestellte nicht-alltägliche Handeln von Therapeuten konstituiert nicht nur eine eigene „Diskursart“, sondern verleiht der Institution Psychotherapie letztlich auch gesellschaftliche Legitimität. Wären therapeutisches und alltägliches Handeln identisch, wäre die gesellschaftliche Institution Psychotherapie überflüssig – Wirksamkeit und Zweckhaftigkeit

16 Insbesondere konversationsanalytisch vorgehende Arbeiten haben diese Unterscheidung immer wieder kritisiert, weil der Analyse auf diese Weise teilweise vorgegriffen werde (z. B. Wolff & Meier 1995). Das Verhalten der Aktanten sei demnach ausschließlich aus dem Gespräch selbst heraus zu bestimmen, institutionelle Rollen oder der biografische Hintergrund, etwa Alter oder Geschlecht, dürften nicht eigens in die Analyse einfließen. Bei Durchsicht der Literatur ist allerdings festzustellen, dass sich einige Autoren stärker auf das Handeln des Therapeuten, andere mehr auf das des Patienten konzentrieren. Wenn im Folgenden also zwischen Arbeiten zum Verhalten des Patienten und solchen zum Handeln des Therapeuten unterschieden wird, so geschieht dies, um den Forschungsstand besser aufzuschlüsseln.

28 | Stand der Forschung gewinnt sie einzig durch das professionelle Handeln des Therapeuten. Das therapeutische Handlungswissen kennzeichnet also die Institution Psychotherapie und macht sie linguistisch interessant. An diesem Handlungswissen und seiner Umsetzung müssen zum anderen auch Kritik und Bestrebungen zur Optimierung des institutionellen Prozesses ansetzen, so dass auch aus stärker klinisch interessierter Perspektive das Handeln des Therapeuten im Zentrum steht. Da also die Wirksamkeit von Psychotherapie wesentlich vom Handeln des Therapeuten ausgeht, liegt der Schwerpunkt der folgenden Seiten auf Studien zum Handeln des Therapeuten. Arbeiten zum gesprächstherapeutischen ›VEE‹ (Kap. 2.3.5), also der Formulierung der patientenseitigen Empfindungen durch den Therapeuten, und zum ›Deuten‹ in tiefenpsychologischer und psychoanalytischer Therapie (Kap. 2.3.6) werden besonders fokussiert. Um einen Überblick über die linguistische Diskussion über Psychotherapie zu geben, werden zuvor die Untersuchungen, die sich mit dem Verhalten des Patienten auseinandergesetzt haben, in kürzerer Form vorgestellt.

2.3.1 Erzählen Das sprachliche Handeln von Patienten in der Psychotherapie wird in der Regel dem „Erzählen“ zugeordnet – häufig ohne dass eine detaillierte erzählanalytische Bestimmung und Abgrenzung von anderen Großformen des Sprechens (vgl. Rehbein 1984, 1989) vorgenommen würde. Die vorliegenden Arbeiten versuchen in der Regel, anhand von sprachlichen Auffälligkeiten auf pathologische psychische Symptome zu schließen. Unterscheiden lässt sich zwischen Untersuchungen, die auf die im therapeutischen Prozess auftretenden psychischen Phänomene abheben (z. B. auf ›Widerstand‹ oder ›Abwehr‹), und solchen, denen es um die schon vor der Behandlung vorliegende Symptomatik (z. B. ›Trauma‹ oder ›Angststörung‹) und ihre Realisierung im Erzählen geht. Zur ersten Gruppe gehören Arbeiten von Flader & Giesecke (1980) sowie Eisenmann (1995). Flader & Giesecke entwickeln zunächst eine Erzähltheorie, aus der sie ein „Ablaufschema des Erzählens“ (Flader & Giesecke 1980: 219) und eine „Normalform des Erzählens“ (224) ableiten. Anschließend überprüfen sie eine von einer Patientin erzählte Geschichte an dieser Normalform und stellen eine Reihe von Abweichungen fest. Diese Abweichungen, die sich im „Bruch des Erzählschemas“ (a. a. O.: 246), in „‚narrativer Ambiguität‘“ (ebd.) und in „ungenügende[r] Verständnissicherung“ (ebd.) manifestieren, werden auf eine zweite, erlebte, aber nicht erzählte Geschichte zurückgeführt, welche in die erzählte Geschichte interveniere. Damit, so die Autoren, werde das klinische Phänomen des ›Widerstands‹ linguistisch greifbar. Es äußere sich „auf der in-

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teraktiven Ebene […] als Verstoß des Sprechers gegen die ‚Zugzwänge‘, die sich aus den für die Konversation zu leistenden Kooperationsaufgaben ergeben“ und „auf der inhaltlichen Ebene […] in der Form der Aussparung (Eliminierung) bestimmter Erlebnisinhalte, die thematisch zur intendierten Geschichte gehören“ (a. a. O.: 255; Hervorh. i. O.). Indem die linguistische Erzählanalyse solche Verstöße aufzeige, ermögliche sie es, „Informationen über die besonderen seelischen Schwierigkeiten des jeweiligen Patienten zu gewinnen“ (ebd.). Barbara Eisenmann (1995) übernimmt und verfeinert diese Herangehensweise. Aufbauend auf den handlungstheoretischen Erzähltheorien von Flader & Giesecke (1980), Ehlich (1980) und Rehbein (1980, 1982a, 1984) versucht auch sie, die psychischen Prozesse von ›Widerstand‹ und ›Abwehr‹ erzählanalytisch greifbar zu machen. Als ›Widerstand‹ wird etwa die Tatsache gewertet, dass eine Erzählung angekündigt, zunächst jedoch berichtende bzw. illustrierende sprachliche Handlungen eingeschoben werden. „Berichten“ und „Illustrieren“ funkionierten in diesem Zusammenhang als „Ausweichmuster“ (Eisenmann 1995: 205), die eine vom Ergebnis her organisierte Kontrolle des Sachverhalts („Berichten“, a. a. O.: 206) bzw. eine beispielhafte Darstellung einer Standardkonstellation („Illustrieren“, a. a. O.: 205) ermöglichten. Sie eigneten sich damit zur Vermeidung des Erzählens, durch dessen Eigenlogik der Erzähler stärker „in den wiederzugebenden Sachverhalt involviert“ und „die gegenwärtige Sprechsituation durch die Vergangenheit eingeholt“ (a. a. O.: 206) würde. Das Erzählen sei für die erzählenden Patienten mithin weitaus anstrengender und riskanter, mobilisiere deutlich mehr mentale Prozesse und damit verbundene Affekte, als die an seiner statt eingesetzten Ausweichmuster. Daher zeugten „Illustrieren“ und „Berichten“ von ›Widerstand‹ der Therapie gegenüber. Weitere Phänomene von ›Widerstand‹ werden in der „Zersplitterung des szenischen Vorstellungsraums“ (ebd.), die den „hörerseitigen Nachvollzug“ (ebd.) unmöglich mache, in einem kontradiktorischen Verhältnis von „Makround Mikrohandlungsstruktur“ (a. a. O.: 207) der erzählten Geschichten sowie in der Umwandlung einer Leidens- in eine Bewältigungsgeschichte (a. a. O.: 208) gesehen. Andere Phänomene bezeichnet Eisenmann als ›Abwehr‹17, etwa wenn aus einer Leidensgeschichte eine Siegesgeschichte wird (a. a. O.: 209) oder die Rollen von Opfer und Aggressor in einer Geschichte vertauscht werden (a. a. O.: 210f.).

17 Eisenmann versteht unter ›Abwehr‹ psychische Prozesse, die „zu einer qualitativen Veränderung von Wissen führen, insofern als unbewußte in bewußt akzeptierbare Repräsentanzen umgewandelt werden“ (Eisenmann 1995: 208).

30 | Stand der Forschung Schwierig scheint bei den detaillierten erzählanalytischen Untersuchungen von Flader & Giesecke und Eisenmann weniger die individuelle Einzelfallanalyse als das grundsätzliche Vorgehen, das einen erzählanalytischen Standard als Norm setzt, Einzelfälle aus der Psychotherapie mit dieser Norm vergleicht und Abweichungen in psychoanalytischen Kategorien erfasst. Dies setzt z. B. voraus, dass Erzählungen im nicht-therapeutischen Alltag standardmäßig als reine Erzählungen, ohne Einschaltung anderer sprachlicher Handlungen, realisiert werden. Auch misslungene Konstruktionen des Vorstellungsraums oder das mehrfache Erzählen einer Geschichte mit unterschiedlicher Akzentuierung wären demnach im Alltag ausgeschlossen bzw. deuteten auf ›Widerstand‹ oder ›Abwehr‹ und mithin auf psychische Pathologien des Erzählers hin. Demgegenüber hat die Erforschung mündlichen Erzählens gezeigt, dass es zwar einige grundlegende Charakteristika des Erzählens, auch eine typische Struktur von Geschichten, gibt (z. B. Rehbein 1984, Fienemann 2006), dass jedoch keinesfalls von einem starren Erzählstandard, der Abweichungen psychoanalytisch auffällig machte, ausgegangen werden kann (Quasthoff 2001: 1301).18 Im Gegenteil ist Erzählen im Alltag eher von häufigen Sprecherwechseln und thematischer Variabilität, vom Import anderer sprachlicher Handlungen und Diskursarten (Gülich 1980, Rehbein 1982a) und immer wieder auch von misslungenen Erzählversuchen (Rehbein 1989, Hausendorf 2012) gekennzeichnet. Diese Phänomene ausschließlich auf ›Abwehr‹ oder ›Widerstand‹ gegen die Therapie zurückzuführen, scheint der Vielfalt und Bedeutung des Erzählens in der Realität nicht gerecht zu werden. Ein weiterer Kritikpunkt an den genannten Arbeiten ist in der Zuschneidung der Analysen auf psychoanalytische Kategorien zu sehen. Sprachliche Phänomene werden nicht als solche, sondern als Indikatoren für psychoanalytisch relevante Prozesse erfasst. Linguistische Arbeiten übernehmen ihre Analysekategorien so aus der Psychoanalyse – und geben damit ihren eigentlichen lingu-

18 Quasthoff betont ausdrücklich, dass keine Normalform des Erzählens zu konstatieren ist (2001: 1301), zählt wenig später allerdings eine Reihe von „Jobs bzw. Aufgaben“ (a. a. O.: 1302) auf, die beim Erzählen standardmäßig zu bewältigen sind. Die gewählte Metaphorik mag allerdings die Frage aufkommen lassen, ob an die Stelle der deskriptiven Strukturanalyse, der Quasthoff eine zu starke Abstraktion vom Einzelfall vorzuwerfen scheint, nicht ein präskriptives Konzept, das all die Elemente nennt, ohne die Erzählen nicht funktionieren kann, gerückt wird, Deskription von Strukturen also durch Präskription von „Aufgaben“ ersetzt wird. An dieser Stelle soll unabhängig von dieser Frage keiner vollständigen ‚Abstinenz‘ von der Analyse von Strukturen des Erzählens das Wort geredet, sondern festgehalten werden, dass das kritisierte Vorgehen, erzähltechnische Besonderheiten mithilfe psychoanalytischer Konzepte zu erklären, überspitzt und im Einzelfall nicht gerechtfertigt zu sein scheint.

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istischen Analyse- und Erklärungsanspruch auf. Linguisten werden so zu Psychoanalytikern, die ganz genau, aber eben nicht grundsätzlich anders, auf die sprachlichen Daten schauen. Auch Mattheus Wollert (1994) greift die von Flader & Giesecke entwickelte Theorie zum Erzählen in der Therapie auf. Wie sie erkennt auch Wollert patientenseitige Defizite beim Erzählen. Er schließt daraus auf eine „institutionsspezfische“ (a. a. O.: 107) Erzählform. Der Patient ist demnach nicht in der Lage, die Geschichte alleine zu erzählen, daher werden „die obligatorischen Arbeitsaufgaben des Erzählschemas in Kooperation zwischen Therapeutin und Patient abgeleistet“ (a. a. O.: 111). Der Akzent von Wollerts Untersuchung liegt allerdings weniger auf der eigentlichen Erzählanalyse als auf einer detaillierten und überzeugenden Untersuchung der Intonationsstruktur der Erzählung (a. a. O.: 111ff). Wollert kann zeigen, wie suprasegmentale intonatorische Merkmale einzelner Ausdrücke zur Prozessierung der Erzählung beitragen und wie die Therapeutin über die Intonation ihrer Höreräußerungen die Erzählung des Patienten steuert. Daran anschließend postuliert Wollert für das sprachliche Mittel der Intonation eine Institutionsspezifik des Erzählens. Da er diese Institutionsspezifik allerdings an lediglich einem Transkriptbeispiel entwickelt und hinsichtlich der Höreräußerungen (a. a. O.: 116) auch andere Beobachtungen macht als die mit einem größeren Korpus arbeitenden Flader & Koerfer (1983: 71), ist die Verallgemeinerbarkeit seiner Ergebnisse in Frage zu stellen.19 Während es sich bei ›Widerstand‹ und ›Abwehr‹, wie sie von Flader & Giesecke und Eisenmann als analytische Leitbegriffe genutzt werden, um psychische Prozesse handelt, die laut psychoanalytischer Theorie innerhalb der Therapie aktiviert werden und sich spezifisch gegen den therapeutischen Prozess der Bewusstmachung von Unbewusstem richten, versucht eine Reihe weiterer linguistischer Arbeiten, die festgestellte Symptomatik von Patienten, wie sie auch außerhalb der Therapie vorliegt, an ihrem sprachlichen Verhalten in der Therapie festzumachen. Bei den im Folgenden dargestellten Arbeiten geht es also um Prozesse, die zur psychischen Grundstruktur des Patienten gehören und in der Regel als Ursache der Therapie gelten. Hausendorf u. a. (1991, 1993) erkennen daran, wie sich „Artefaktpatienten“20 im therapeutischen Gespräch inszenieren, eine Reproduktion des Krank-

19 Auch die mir vorliegenden Daten bestätigen die Beobachtungen von Flader & Koerfer, wonach die Therapeuten nahezu ausschließlich konvergente Höreräußerungen produzieren (s. u. S. 225). Dies wird in Kapitel 9.2 auf den Zweck von Therapie zurückgeführt und als Teil der „Hörerzentrierung“ des therapeutischen Diskurses bestimmt. 20 „Unter Artefakt-Patienten versteht man Patienten, die körperliche Symptome durch Manipulation an sich selbst erzeugen, um den Status eines Organisch-Kranken zu erhalten. Die

32 | Stand der Forschung heitsbildes. So wie sie sich durch Selbstschädigung einerseits als krank und hilfsbedürftig, andererseits als manipulativ und mächtig – weil sie Ärzte und Schwestern täuschen und nach den eigenen Wünschen handeln lassen können – darstellen, so erscheinen sie auch „sprachlich sowohl in der Rolle eines leidenden Kindes als auch in der eines triumphierenden Provokateurs“ (Hausendorf u. a. 1993: 145). Die „paradoxe[n] Identität eines aktiv Erduldenden bzw. passiv Mächtigen“ (ebd.) wird sowohl in der Kommunikation mit Ärzten und Therapeuten wie im nicht-sprachlichen, pathologischen Verhalten von Artefaktpatienten erkannt. Auch Flader (1994)21 erkennt Strukturen der psychischen Symptomatik in den erzählten Geschichten der Patienten wieder. Er untersucht u. a. eine Traumerzählung und zeigt, wie „die verzerrten Wissensstrukturen des Handelns, deren Systematik den unbewußten ‚Sinn‘ des Symptoms“ ausmacht, im Traum „in einigen Aspekten genau reproduziert“ (a. a. O.: 287) werden. Sowohl im erzählten Traum wie im alltäglichen Handeln ist „die Frau als Partnerin ausgeblendet“ (ebd.), die „Erfahrungslücke hinsichtlich einer Wechselseitigkeit von Wünschen und eines befriedigenden Miteinanders“ (ebd.) prägt alltägliches Handeln und Traumerzählung. Nach dem Grad der Verarbeitung von Suizidversuchen bzw. Traumata fragen die Arbeiten Speck & Stitz (1984)22 sowie Deppermann & Lucius-Hoene (2005). Beide Studien kommen zu dem Ergebnis, dass eine vergleichsweise aktive und sprachlich explizite Auseinandersetzung mit den erzählten Ereignissen auf eine gelungene Verarbeitung hinweist, das Nicht-Thematisieren kritischer Erlebnisse bzw. das Abstrahieren „vom erzählten Ich als erlebender Instanz“ (Deppermann & Lucius-Hoene 2005: 63) dagegen eher für eine mangelnde psychische Verarbeitung spricht. Demnach wären also generell strukturell vollausgebaute, gut nachvollziehbare Erzählungen, in denen das ‚Ich‘ aktiv auftritt und eine explizite Bewertung des Geschehens formuliert wird, als Ausdruck einer gelungenen Bewältigung anzusehen, während strukturell

Selbstschädigung bzw. Manipulation erfolgt heimlich, und das Resultat ist in der Regel die getreue Kopie eines klassischen Krankheitsbildes“ (Hausendorf u. a. 1993: 136). 21 Flader (1995) hat eine wichtige Monographie vorgelegt, in der er „Vorschläge für eine handlungstheoretische Revision und Weiterentwicklung von Theoriemodellen Freuds“ (Untertitel) entwickelt. Da der Schwerpunkt von Fladers Arbeit auf der Auseinandersetzung mit psychoanalytischen Theoriemodellen liegt und Analysen authentischer therapeutischer Gespräche lediglich eine illustrierende Funktion erfüllen, wird sie nicht an dieser Stelle, sondern in Kap. 4.2, in dem es um eine theoretische Annäherung an Psychotherapie geht, besprochen. 22 Die Arbeit entstammt dem bereits erwähnten Berliner Projekt „Verbale Interaktion in Kurzzeittherapien nach Selbstmordversuchen“ um Norbert Dittmar (s. o. S. 23, u. S. 117ff).

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restringierte, kurze Darstellungen als Anzeichen für eine fehlende Auseinandersetzung mit dem Trauma zu werten wären. Das Erzählen des Patienten wird für diese Arbeiten also zu einer Reinszenierung der psychischen Symptomatik. Erkennbar wird – durchaus in Übereinstimmung mit dem Ansatz von Flader & Giesecke sowie Eisenmann –, wie sich sprachliche Formen aus psychischen Strukturen entwickeln. Die Arbeiten liefern allerdings nur erste Ansätze für therapeutisch relevante und operationalisierbare Kriterien psychischer Symptome. Diese wären in weiteren Untersuchungen zu überprüfen und weiterzuentwickeln, in der vorliegenden Form scheint ihnen eine unmittelbare Relevanz für die therapeutische Praxis nicht zuzukommen. Genuin linguistische Fragestellungen, also solche, die zuvorderst einen sprachwissenschaftlichen Erkenntniswert erbrächten, sind an das Erzählen in der Therapie dagegen kaum herangetragen worden, die linguistischen Analysen lassen sich vielmehr weitgehend von therapeutischen Fragen leiten. Eine ähnliche Stoßrichtung haben zwei von Elisabeth Gülich initiierte Projekte über Epilepsie- und Angst- bzw. Anfallserkrankungen.23 In diesen Projekten geht es dezidiert um die Identifikation differentialdiagnostisch relevanter Aspekte im sprachlichen Verhalten von Patienten. Dabei ist es nicht bei ersten Ansätzen geblieben, sondern eine ganze Reihe von Arbeiten entstanden, in denen auf die diagnostische Unterscheidung von Epilepsie, Angst und andere Formen von Anfallserkrankungen hingearbeitet wird. Mithilfe detaillierter gesprächsanalytischer Untersuchungen der Anfallsund Aurendarstellungen24 von Epilepsie-Patienten konnte z. B. herausgearbeitet werden, dass die im Gespräch betonte „Unbeschreibbarkeit“ (Gülich 2005; Titel der Arbeit) des Erlebens ein konstitutives Element der Auren und Anfälle von Epilepsie-Patienten sein kann. Vor die Aufgabe gestellt, ihre Vorgefühle und Empfindungen zu benennen, betonen Epilepsie-Patienten nämlich immer wieder die Schwierigkeit bzw. Unmöglichkeit, dieses Erleben zu versprachlichen (a. a. O.: 226f.). Ihre Empfindungen scheinen aus einer derart außeralltäglichen „Erfahrungswelt“ (a. a. O.: 239) – Gülich operiert in diesem Zusammenhang mit

23 Es handelt sich um die Projekte „Linguistische Differenzialtypologie epileptischer und anderer anfallsartiger Störungen - diagnostische und therapeutische Aspekte“ (Gülich & Schöndienst 1999, Gülich 2005, 2012) und „Kommunikative Darstellung und klinische Repräsentation von Angst. Exemplarische Untersuchungen zur Bedeutung von Affekten bei Patienten mit Anfallskrankheiten und/oder Angsterkrankungen“ (Gülich 2007, Gülich u. a. 2008, Gülich u. a. 2009, Lindemann 2012). 24 Als „Aura“ bezeichnen Epilepsie-Patienten „Vorgefühle, die dem eigentlichen Anfall vorausgehen können“ (Gülich 2005: 224).

34 | Stand der Forschung dem Konzept der „geschlossenen Sinnbereiche“ nach Alfred Schütz (1971) – zu stammen, dass „nicht auf geteiltes Wissen […] zurückgegriffen“ (Gülich 2005: 239) und das fragliche Erleben also kaum versprachlicht werden kann. Die Angabe von „Unbeschreibbarkeit“ in diesem Sinne konnte als „differentialdiagnostisch relevant“ (a. a. O.: 229) herausgearbeitet werden, d. h., dass eine solche Angabe im Arzt-Patienten-Gespräch ein Indikator für das Vorliegen von Epilepsie ist. Fehlt sie, ist eher nicht von Epilepsie auszugehen und also eine andere Behandlung der Patienten anzuschließen. Im Projektverlauf wurde das Kriterium der „Unbeschreibbarkeit“ weiter geschärft und um weitere Kriterien, etwa das selbstinitiierte Ansprechen von Anfällen durch Epilepsiepatienten, ergänzt, so dass letztlich ein ganzer Indikatorenkatalog (Gülich 2012: 156) vorgelegt werden konnte, der die Diagnose von Epilepsie erleichtert und damit auch einen handfesten Nutzen für die klinische Praxis erbringt. Gleichzeitig zeigen diese Aufnahmen von Gesprächen über Extrembereiche des Erlebens, dass Sprechen grundsätzlich gesellschaftlich basiert ist. Sobald die zu versprachlichenden Erfahrungen außerhalb dessen liegen, wofür die Gesellschaft sprachliche Mittel entwickelt hat, wird die Verständigung über diese Erfahrungen schwierig bzw. unmöglich, werden diese Erfahrungen quasi „unbeschreibbar“ (Gülich 2005). Im konkreten Fall ist das Fehlen sprachlicher Mittel auf das äußerst seltene Auftreten der zu versprachlichenden Erfahrungen zurückzuführen, andere Ursachen, etwa Tabus, wären aber grundsätzlich ebenfalls denkbar. Des Weiteren zeigt sich an den Daten des Epilepsie-Projektes, dass Sprecher beim Sprechen „die Perspektive des Gesprächspartners“ (a. a. O.: 239) berücksichtigen, dass sprecherseitig also Annahmen über das Wissen des Hörers in die Planung und Ausführung von Äußerungen eingehen. An diesen Beobachtungen wird mithin auch deutlich, dass linguistische Untersuchungen von nicht-alltäglicher Kommunikation, wie in der psychotherapeutischen Situation oder beim Sprechen über epileptische Anfälle, neue Erkenntnisse erbringen, oder, wie in diesem Fall, bereits Erkanntes zusätzlich empirisch erhärten können. Bei dem zweiten Projekt um Elisabeth Gülich stehen die sprachliche Darstellung von Angst und die Unterscheidung verschiedener Formen von Angst im Vordergrund. Herausgearbeitet werden zum einen typische Formen, zum anderen differenzialdiagnostisch und klinisch bedeutsame Aspekte der Darstellung von Angst. So lassen sich Patienten, die zur „Relevanzhochstufung“ (Gülich 2007: 70) neigen, das Erlebte also als besonders bedeutsam kennzeichnen, von solchen unterscheiden, die eher zur „Rückstufung“ (a. a. O.: 72) und zur Verwendung von Gemeinplätzen und Redewendungen bei der Beschreibung des Erlebten neigen (a. a. O.: 75). Hinsichtlich einer differenzierenden Diagnostik von Anfalls- und Angsterkrankungen arbeitet Gülich außerdem mit dem Kon-

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zept der „Vorgeformtheit“ (Gülich & Krafft 1998) und stellt fest, dass EpilepsiePatienten weit weniger auf vorgeformte sprachliche Strukturen rekurrieren und „intensiver[e] Formulierungsarbeit“ (Gülich 2007: 83) leisten, während Patienten mit Angst- und anderen nicht-epileptischen Anfallserkrankungen bei der Darstellung ihrer Erlebnisse eher „rephrasieren“ (ebd.) als „reformulieren“ (ebd.)25. Hinsichtlich möglicher therapeutischer Relevanz sprachlicher Darstellungsformen von Angst wird festgehalten, dass Patienten, die ihre Erlebnisse eher rückstufen und auf Vorgeformtes rekurrieren, „ein anderes Interaktionsangebot“ (a. a. O.: 85) an den Therapeuten machen, als solche, „die ihre Panikattacken durch vielfältige kommunikative Mittel hochstufen“ (ebd.). Neben einer veränderten Bearbeitung und Interpretation des Erlebten durch den Patienten selbst (Gülich u. a. 2009: 115) könnten diese unterschiedlichen Darstellungsformen den Therapeuten die Möglichkeit geben, „bestimmte Aspekte der Erkrankung deutlicher zu erkennen“ (a. a. O.: 117) und differenziert auf verschiedene Typen von Patienten einzugehen. Da die Gülichschen Projekte in Kooperation mit Ärzten und Therapeuten durchgeführt wurden, konnten sie Wissen und Fragestellungen aus der Praxis aufnehmen und Ergebnisse generieren, denen unmittelbare Relevanz für die klinische Praxis zuzukommen scheint. Dieser Ansatz wird in dieser Arbeit insoweit aufgegriffen, als Stellen möglicher therapeutischer Wirksamkeit mithilfe von Konzepten aus Theorie und Praxis der Psychotherapie identifiziert werden (s. u. Kap. 5). Dies ermöglicht es, die auch aus therapietheoretischer Sicht entscheidenden Dreh- und Angelpunkte einer Therapie zu untersuchen. Analog zu den Gülichschen Projekten wird diese Untersuchung dann mithilfe linguistischer Methoden und Theorien vorgenommen. Beobachtungen dazu, wie Therapeuten das Erzählen von Patienten unterstützen, hat Joanna Pawelczyk anhand von Daten aus der „RelationshipFocused Integrative Psychotherapy“ (2011: 11ff; s. zu dieser Arbeit auch o. S. 22) vorgelegt. Sie arbeitet fünf „strategies“ (a. a. O.: 100) heraus, mit denen Therapeuten die Ausführungen des Patienten unterstützen und weitere Informationen elizitieren: das Paar „you know / I don’t know“ (a. a. O.: 113ff), dessen erstes Element entweder einzeln oder in Kombination mit „I don’t know“ realisiert werden kann, Wiederholungen (a. a. O.: 123ff), „information-eliciting tellings“ (a. a. O.: 131ff) und „reformulations“ (a. a. O.: 131ff). Pawelczyk zeigt dabei de-

25 Eine begriffliche Entwicklung der Differenz zwischen „Rephrasieren“ und „Reformulieren“ wird an dieser Stelle nicht geleistet, vgl. aber Gülich & Kotschi (1987). Für eine handlungstheoretische Rekonstruktion „reformulierender Handlungen“ s. Bührig (1996) (vgl. auch u. Kap. 7.2.3).

36 | Stand der Forschung tailliert, wie Therapeuten das Erzählen von Patienten unterstützen. Sie schließt, dass das Einbringen von Erlebnissen durch den Patienten in der Psychotherapie nicht etwa nur vom Patienten gesteuert wird, sondern in der Interaktion zwischen Patient und Therapeut gemeinsam produziert wird. Besonders aktiv agieren Therapeuten laut Pawelczyk dann, wenn Emotionen oder emotional stark belastende Ereignisse thematisiert werden (151ff; vgl. Lindemann 2012) – den Therapeuten kommt dann eine wichtige stützende Funktion zu, die es dem Patienten ermöglicht, sich auch mit verletzenden oder tabuisierten Themen mental und interaktional auseinanderzusetzen. Therapeuten verhalten sich in der Therapie also so, dass die „Selbstthematisierung“ (Hahn 1987) des Patienten unterstützt wird, dass der Patient dazu gebracht wird, immer mehr Wissen über sich selbst einzubringen. Dieses Wissen verarbeiten die Therapeuten anschließend u.a. mithilfe von „Formulierungen“ bzw. „formulations“, die im folgenden Kapitel besprochen werden.

2.3.2 „Formulierungen“ Die vorliegenden Untersuchungen über das sprachliche Handeln des Patienten, das Erzählen, stellen, wie beschrieben, vorwiegend auf therapeutische Kategorien ab. Dabei wird die linguistische Perspektive mitunter recht schnell aufgegeben, die Daten werden kaum nach linguistischen, eher nach therapeutisch relevanten Fragen ausgewertet. Dies ist bei den in der Folge zu thematisierenden Arbeiten über Handlungen des Therapeuten teilweise anders. So arbeiten viele konversationsanalytisch orientierte Arbeiten mit dem Konzept der „Formulierung“, das sich auch auf alltägliches sprachliches Handeln anwenden lässt. Unter „Formulierungen“ werden in der Regel Äußerungen verstanden, „which characterize states of affairs already described or negotiated […] in the preceding talk“ (Heritage & Watson 1979: 126; vgl. Heritage & Watson 1980). Nach Heritage & Watson geht es also um ein Reformulieren von etwas, was zuvor bereits sprachlich verhandelt wurde. Bei Garfinkel & Sacks (1970) und in einem Teil der konversationsanalytischen Literatur wird der Ausdruck noch in einem weiteren Verständnis, nämlich als „saying-in-so-many-words-what-weare-doing“ (Garfinkel & Sacks 1970: 351) verwendet. Mit diesem weiten Verständnis wird jede Form der ‚Metakommunikation‘ als „Formulierung“ erfasst. „Formulierungen“, verstanden als Reformulierungen im obigen Sinne, bieten einem Sprecher die Möglichkeit, an die vorherige Äußerung inhaltlich anzuschließen. In der Psychotherapieforschung konzentriert man sich dabei auf „Formulierungen“, mit denen der Therapeut an Äußerungen des Patienten anschließt. Untersucht wird, wie er mit „Formulierungen“ von Patientenäuße-

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rungen die eigene Sichtweise auf das Thema des Gesprächs zur Geltung bringt. Die Möglichkeit, Eigenes an Fremdes anzuschließen bzw., wie es in der Konsequenz dann häufig gesehen wird, als Fremdes auszugeben, machen sich Therapeuten zu Nutze, wenn sie Patientenäußerungen „formulieren“. Antaki (2008: 31) zu Folge sind „Formulierungen“ in der Psychotherapie durch drei Eigenschaften gekennzeichnet: 1.) folgen sie sequentiell auf die zu formulierende Äußerung; 2.) scheinen sie „the gist“ (ebd.), also den inhaltlichen Kern, der vorhergehenden Äußerung des Patienten zu reformulieren; 3.) heben sie dabei einen Teil der Ursprungsäußerung hervor und lassen andere Elemente aus, verändern die Ursprungsäußerung also – häufig ohne dass dies bemerkt wird (ebd.). Die meisten Autoren, die sich mit „Formulierungen“ beschäftigen, betonen die Tatsache, dass die „Formulierung“ thematisch zwar an die Äußerung des Patienten anknüpft, ja den Eindruck erweckt, das gleiche mit anderen Worten noch einmal zu sagen, dabei jedoch den Inhalt der Äußerung verändert, zuspitzt oder anders akzentuiert (Davis 1986, Buttny 1990, 1996, Hak & de Boer 1996, Grossen & Apothéloz 1996, Vehviläinen 2003, Antaki 2008, Bercelli u. a. 2008, Pain 2009: 120ff). Mittels „Formulierungen“ können Therapeuten den Eindruck, dass in der Therapie vordringlich der Patient das Thema und die Bewertung des Thematisierten vorgibt, aufrechterhalten und gleichzeitig den Diskurs inhaltlich steuern und strukturieren. Insbesondere Davis (1986) hat aus einer kritisch-feministischen Perspektive heraus den persuasiven Charakter von „Formulierungen“ in der Psychotherapie herausgestellt. Psychotherapie dient aus dieser Perspektive der Perpetuierung gesellschaftlicher Missstände, indem sie die Ursachen psychischer Erkrankungen in das (weibliche) Individuum verlagert. Psychotherapie wird als langwieriger „construction process“ (a. a. O.: 54) gesehen, in dem das Individuum lernt, allein sich selbst und nicht den gesellschaftlichen Verhältnissen die Schuld für die Erkrankung zu geben. Davis zeigt an einigen aufeinander aufbauenden Beispielen, wie durch das therapeutenseitige „Formulieren“ dessen, was die Patientin zuvor gesagt hatte, leichte inhaltliche Veränderungen nahezu unmerklich eine neue Perspektive auf das Erleben der Patientin etablieren, einzelne Erlebnisse zu einem therapeutisch fassbaren Problem umwerten und damit den genannten „construction process“ in Gang setzen. Buttny (1990) knüpft an diese Analysen an und sieht auch in seinen Daten aus einer systemisch angelegten Paartherapie, dass es dem Therapeuten um das „Formulieren“ von „problems in psychotherapeutic terms that can be managed by therapy“ (238) geht. Bearbeitet werde damit die Frage „how the interaction ist to be labeled or identified – by a folk logic or by a therapeutic logic“ (ebd.). Damit vergleichbar verortet Vehviläinen (2003) das „Formulieren“ im Prozess des „case building“. Dieser Prozess dient der Vorbereitung einer ›Deutung‹

38 | Stand der Forschung (s. u. Kap. 2.3.6): der Therapeut greift beim „Formulieren“ die Äußerungen des Patienten auf eine Weise auf, dass sie therapeutisch relevant und deutbar werden. So identifiziert Vehviläinen im folgenden Beispiel in Zeile 20 eine Formulierung, durch die die Rolle des Vaters zum ersten Mal thematisiert wird:

5

10

15

20

25

30

PA: mt .hhhhhh so then (.) you could sort of think< (0.6) that:: that it is because of that that I am in this kind of >work< it is because of that that I have chosen this °area of the care;< care° of difficult adolescents. (3.0) PA: I have worked in a ↓children's home you know and (.) I've been with small °children°. (2.2) AN: which is somehow clearly feminine. PA: =ye↓a:h. (1.0) PA: but at this< (.hhhhhhhhh) this point erm:: (1.0) (but ifadolescents< ↑then< then there is .hhhhhhhh clearly a place for a man there. (0.6) PA: and and he has his duty (°there°). (2.0) AN: so it is.a point from which the father cannot leave. PA: =yeah. (6.0) AN: .nfff it's a bit like you were saying that .hhhh the father can abandon (DA) a ↓sick child and (0.8) a ↓dying child and a (1.0) ↓small child (1.5) AN: but this kind of >antisocial< child it is impossible. (2.0) AN: for him the father is absolutely necessary. (22.0) PA: yeah:. (10.0) PA: krh-hr-hrmrnm. (Vehviläinen 2003: 585, Hervorh. i. O.; zu den Transkriptionskonventionen s. a. a. O.: 597f.)

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Die Formulierung in Zeile 20 führt nach Vehviläinen eine neue metaphorische Ebene ein; die Konstellation am Arbeitsplatz des Patienten wird zur Familie, dem Patienten selbst wird die Rolle des Vaters zugeschrieben. Auf einer solchen Metapher, die vom Patienten sogleich akzeptiert wird, kann eine ›Deutung‹, die das Erleben am Arbeitsplatz mit dem Erleben in der Familie des Patienten in Verbindung bringt, leicht aufbauen. Grossen & Apothéloz (1996) analysieren „Reformulations“ (101) in der Familientherapie weitgehend konversationsanalytisch nach drei Ebenen: der Ebene der Semantik, der Beziehungsebene und der Ebene der Identitätskonstruktion. Auch sie sehen die grundlegende Funktion von „Formulierungen“ in der Psychotherapie in der Herstellung eines für die Therapie „suitable problem“ (a. a. O.: 124). Außerdem stellen sie fest, dass mittels „Formulierungen“ ein „implicit teaching“ (a. a. O.: 125) des Patienten erfolge.26 Hak & de Boer (1996) sehen „Formulierungen“ im Zusammenhang mit Entscheidungsprozessen. Sie verstehen dabei Entscheidung im Sinne von Heritage & Watson (1979) als Zustimmung oder Nicht-Zustimmung des Patienten zur „Formulierung“, heben also auf eine vorzunehmende Bewertung der Korrektheit der „Formulierung“ ab, nicht auf eine Entscheidung über gemeinsame Handlungen. Die Funktion von „Formulierungen“ sehen auch Hak & de Boer (1996) in der Umformung der Sorgen des Patienten „into a professional problem definition“ (98), also in der Herstellung eines therapeutisch relevanten Sachverhalts. Im Unterschied zu den bisher referierten Arbeiten verfolgt Sabine Streeck (1989, 1990) das weite Konzept von „Formulierung“, wie es von Garfinkel & Sacks vertreten wird (s. o. S. 36). Sie erfasst also sämtliche Äußerungen, in denen Sprecher in irgendeiner Form zum sprachlichen Geschehen Stellung nehmen, als „Formulierungen“. Streeck betont die ankündigende Funktion dieser Art von „Formulierungen“, die die Komplexität der therapeutischen Äußerungen erhöhen und den Patienten auf ein noch zu verbalisierendes „Konfliktpotential“ (S. Streeck 1989: 334) hinweisen bzw. vorbereiten. „Formulierungen“ sind dem Patienten einerseits aus der Alltagskommunikation bekannt, bieten andererseits dem Therapeuten die Möglichkeit, den zu verbalisierenden, konflikthaften Punkt der Äußerung zeitlich hinauszuschieben und wirken auf diese Weise, indem sie alltägliche sprachliche Routinen mit brisanten therapeuti-

26 Dieses „implicit teaching“ machen Grossen & Apotheloz allerdings nur auf dem „semantic level“ (a. a. O.: 110) der jeweiligen Äußerung fest. Sie berücksichtigen weder Vor- noch Nachgeschichte, so dass sich nicht nachvollziehen lässt, ob der behauptete Lerneffekt tatsächlich vorliegt.

40 | Stand der Forschung schen Inhalten vermitteln, „‚normalisierend‘“ (a. a. O.: 335). Sie wirken so der „Brisanz“ (ebd.) einer Äußerung entgegen und machen diese, Streeck zufolge, für den Patienten akzeptabel. In dieser Erhöhung der Akzeptabilität von Äußerungen sieht Streeck die therapeutische Relevanz von „Formulierungen“ (ebd.). Charles Antaki hat in zwei Arbeiten auf weitere Funktionen von „Formulierungen“ in der Psychotherapie hingewiesen (Antaki u. a. 2005, Antaki 2008). Während ein Großteil der Studien über „Formulierungen“ betont, dass alltägliche Geschehnisse in eine therapeutisch relevante und bearbeitbare Sprache übersetzt werden, zeigt sich in Antakis Daten auch der gegenteilige Prozess, in dem therapeutisch potentiell relevante Angaben des Patienten durch „Formulierungen“ des Therapeuten defokussiert werden. Antaki (2008: 37f.) führt Beispiele aus einem psychotherapeutischen Erstinterview an, in denen der Therapeut „the trouble away“ (a. a. O.: 38) „formuliert“, weil die Therapie noch nicht den Stand erreicht hat, an dem therapeutisierbare Probleme festgehalten und bearbeitet werden können. Antaki sieht „Formulierungen“ damit auch im Dienst des „managing of the progress of the session“ (a. a. O.: 37). Eine weitere Funkion von „Formulierungen“ ist nach Antaki u. a. (2005) die Möglichkeit, die Erfahrungen des Patienten zu reformulieren und ihm damit die Möglichkeit zu Widerspruch, Korrektur oder Ergänzung zu geben. So werde im Gespräch, z. B. in der therapeutischen Anamnese, die passende sprachliche Darstellung der Empfindungen und Erfahrungen des Patienten gemeinsam erarbeitet und festgehalten. Daran anschließend stellt Antaki (2008: 33f.) fest, dass „Formulierungen“ generell ein Kennzeichen institutioneller Diskurse seien (vgl. Heritage & Watson 1979, 1980). Antaki folgt Drew (2003), wenn er den Grund für die Häufung von „Formulierungen“ in institutionellen Diskursen darin sieht, dass „Formulierungen“ dem Agenten einer Institution die Möglichkeit geben, aus den Äußerungen des Klienten diejenigen Aspekte auszuwählen, die den institutionellen Gegebenheiten am besten entsprechen (Antaki 2008: 34). Die Hauptfunktion von „Formulierungen“ in der Psychotherapie wird von der diskutierten Forschungsliteratur in eben diesem Sinne gesehen: Es geht um das Herstellen von therapeutisch behandelbaren Problemen aus dem vom Patienten eingebrachten biografischen Material. Mittels „Formulierungen“ werden Äußerungen des Patienten aufgegriffen und noch einmal so formuliert, dass, inhaltlich ähnlich, eine neue therapeutische Perspektive auf den behandelten Sachverhalt etabliert wird. Erstaunlich scheint dabei, dass gerade die streng sequentiell oberflächenanalytisch orientierten Autoren einen weiteren, übergeordneten Punkt in der Regel übersehen: das Reformulieren dessen, was zuvor gesagt worden war, ist deswegen besonders effektiv, weil es sehr starke ‚Zugzwänge‘ hinsichtlich einer Zustimmung durch den Hörer entwickelt. Hörer, die

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Reformulierungen ihrer Äußerungen, die sich auf den ersten Blick lediglich in sprachlichen Details zu unterscheiden scheinen, ablehnen, laufen leicht Gefahr, stur oder rechthaberisch zu wirken. Aufgrund dieses „yes-expecting format“ (Antaki 2008: 37) von Reformulierungen stimmen Patienten in der Regel zu, und so gelingt es den Therapeuten, den Diskurs unmerklich und Schritt für Schritt in die von ihnen gewünschte Richtung zu lenken. Gleichzeitig fällt die große Bandbreite an Funktionen auf, die den „Formulierungen“ in der Psychotherapie zugeschrieben werden. „Formulierungen“ können ankündigen, auf Konflikte vorbereiten, Alltägliches in Therapeutisches umwandeln, Therapeutisches in Alltägliches umwandeln, sie laden einerseits ein zu Widerspruch oder Ergänzung, fordern aber gleichzeitig nahezu zwangsläufig eine Zustimmung des Hörers. Diese weit gestreuten, z. T. gegensätzlichen Charakteristika sind auf die Bestimmungen, von denen aus das Phänomen bearbeitet wurde, zurückzuführen. Wenn Heritage & Watson (1979) „Formulierungen“ als Äußerungen „which characterize states of affairs already described or negotiated (in whole or in part) in the preceding talk“ (126) bezeichnen und Garfinkel & Sacks (1970) von „saying-in-so-many-words-what-we-are-doing“ (351) sprechen, wird deutlich, dass es sich in beiden Fällen um oberflächenorientierte, semantische Beschreibungen des Gegenstandes handelt. Die Bestimmung von Heritage & Watson hebt lediglich darauf ab, dass etwas im Gespräch zuvor bereits aufgetaucht war, die Bestimmung von Garfinkel & Sacks bleibt noch vager und bezieht „Formulierung“ nur allgemein auf Aussagen über das gemeinsame Sprechen. Über den ‚Kontext‘, genauer: die Handlungskonstellation dieser Äußerungen wird nichts gesagt, es werden weder Voraussetzungen noch angezielte Folgen von „Formulierungen“ angesprochen. Eine an den Funktionen sprachlicher Elemente interessierte Rekonstruktion des interaktiven Geschehens, d. h. Aussagen über den Zweck, die mentalen und interaktionalen Folgen und Voraussetzungen des Phänomens, ist mit diesen Bestimmungen nicht intendiert und kann auf ihnen auch nicht aufsetzen. Da also keine eindeutige Bestimmung des zu untersuchenden Phänomens vorliegt, werden Elemente unterschiedlichster Funktionalität als „Formulierung“ gefasst, so dass diesem Ausdruck schließlich eine sehr große Form- und Funktionsvielfalt zugeschrieben wird, die zur Erforschung des Gegenstandes Psychotherapie einen nur begrenzten Beitrag leistet. Daher ist, ausgehend von der diskutierten Forschungsliteratur, lediglich die Feststellung, dass „Formulierungen“, oder vielmehr „reformulierende Handlungen“ des Therapeuten, das, was der Patient sagt, so bearbeiten, dass es in der Folge zum Ansatzpunkt therapeutischer Interventionen werden kann, als der kleinste gemeinsame Nenner der genannten Arbeiten festzuhalten. Reformulierende Handlungen können bestimmte Aspekte der patien-

42 | Stand der Forschung tenseitigen Rede als relevant setzen, sie teilweise umwandeln und so zum Gegenstand gemeinsamen Arbeitens in der Therapie machen. Die Arbeit von Bührig (1996) über reformulierende Handlungen in institutionellen Diskursen (allerdings nicht in der Psychotherapie) macht deutlich, dass handlungstheoretisch über dieses Minimalergebnis hinausgegangen werden kann.27 Bührig zeigt, dass mit Handlungen, die in den diskutierten Arbeiten „Formulierungen“ genannt werden, zum einen „das Wissen des Klienten an den Zweck der Institution“ (a. a. O.: 280f.), zum anderen „das Wissen der Agenten an die Bedürfnisse der Klienten adaptiert wird“ (a. a. O.: 281). Sie unterscheidet zwischen „Umformulieren“ (a. a. O.: 94ff), „Zusammenfassen“ (a. a. O.: 193ff) und „Rephrasieren“ (a. a. O.: 246ff) und zeigt, dass diese Handlungen je spezifische Defizite der gegebenen Handlungskonstellation bearbeiten. Durch das „Umformulieren“ wird die reformulierte Bezugsäußerung an die „antizipierten illokutiven Bedingungen des Hörers“ (a. a. O.: 283) adaptiert, beim „Zusammenfassen“ wird das bereits formulierte Wissen mit einem neuen Thema des Wissens versehen und so die sich aus diesem Wissen ergebende „Möglichkeit zu einer entscheidenden Veränderung der ursprünglichen Diskurskonstellation“ (a. a. O.: 284) festgehalten, und beim Rephrasieren werden bestimmte, direkt zuvor formulierte Wissenselemente „interaktional als Handlungspräsupposition fixiert“ (a. a. O.: 285). Indem Bührig also Sprache, durch Sprache ausgelöste mentale Prozesse und kommunikative Tiefenstrukturen theoretisch und begrifflich miteinander in Beziehung setzt, wird eine detaillierte Rekonstruktion des interaktiven und mentalen Geschehens möglich – und so letztlich der Zusammenhang zwischen Sprache und Mentalem, wie er auch in dieser Arbeit im Vordergrund steht, fassbar.

2.3.3 Fragen Zur Rolle von Fragen in der Psychotherapie wurden bisher nur wenige linguistische Beobachtungen gemacht. Im Rahmen der Diskussion über Therapie als Diskursart eigenen Typs (Kap. 2.2) wurde zunächst festgestellt, dass Fragen des Patienten vom Therapeuten nicht immer beantwortet werden, dass stattdessen häufig mit einer Gegenfrage reagiert wird. Diese eingeschränkte Reziprozität hinsichtlich der im Alltag erwartbaren Folgehandlung wurde als ein typisches Merkmal der Diskursart herausgearbeitet und auch von Untersuchungen bestä-

27 Zum „Reformulieren“ vgl. aus konversationsanalytischer Perspektive Gülich & Kotschi 1987.

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tigt, die von konträren Annahmen ausgegangen waren (vgl. S. Streeck 1989: 134ff). Eine Arbeit, die sich auch inhaltlich mit Fragen in der Psychotherapie beschäftigt, hat Werner Holly (1983) vorgelegt. Holly stellt fest, dass Fragen im sog. „Zweitinterview“ die Vermittlung zweier einander mitunter entgegen stehender Ziele leisten müssen: des Ziels der „ökonomische[n] Form der Informationsgewinnung“ und des Ziels „möglichst viel Spielraum für die Problemgewichtung des Patienten“ (a. a. O.: 110) zu lassen. Die Form der von Holly weitgehend alltagssprachlich unterschiedenen Fragetypen28 werde von diesen beiden Zielen bestimmt. Daneben erkennt Holly konstante Elemente (sog. „Muster“ (a. a. O.: 118ff)) und variable Elemente („Stile“ (a. a. O.: 132ff)) im Zweitinterview. Während die ersteren es erlaubten, Aussagen über die Struktur der Diskursart zu machen, ermöglichten letztere Aussagen über die individuelle „Beziehungsgestaltung“ (a. a. O.: 133) zwischen Therapeut und Patient. Holly kann anhand der ihm vorliegenden Daten aus Zweitinterviews, die zwischen Erstgespräch und eigentlichem Therapiebeginn liegen, allerdings keine generalisierenden Aussagen über Fragen in der Psychotherapie bzw. über Psychotherapie allgemein ableiten, so dass an dieser Stelle eine weitere Auseinandersetzung unterbleibt. Ähnlich eingeschränkt sind Thema und Gegenstand der Untersuchung von Clare MacMartin (2008) über „optimistic questions in narrative and solutionfocused therapies“ (Titel der Arbeit). MacMartin geht davon aus, dass Fragen auf Voraussetzungen (bezeichnet als „presuppositions“ (a. a. O.: 81)29) basieren, die vom Sprecher der Frage unausgesprochen gesetzt werden. So würden mit der Frage „What skills helped you to be able to do X?“ (a. a. O.: 82) die Annahmen, dass der Hörer über Fähigkeiten verfüge, mit denen er eine bestimmte Situation erfolgreich gemeistert habe, als gültig gesetzt. Nach MacMartin machen sich Therapeuten in der genannten Therapieform diese Eigenschaften von Fragen zu Nutze, um die Erfahrungen des Patienten in ein anderes Licht zu rücken. Sie stellen „redescription question[s]“ (a. a. O.: 85), die den Patienten auffordern „to restory himself and his situation“ (ebd.). MacMartin weist mit ihrer Studie auf den methodischen Einsatz einer bestimmten Frageform in „narrative and solution-focused therapies“ hin, der für andere Therapieformen al-

28 Holly unterscheidet zwischen „‚Informations‘- oder ‚Wissensfragen‘“ (a. a. O.: 119f.), „offenen“ (a. a. O.: 120) vs. „geschlossenen“ (ebd.) Fragen, „Folgerungsfragen“ (a. a. O.: 124), „Suggestivfragen“ (a. a. O.: 125), „Orientierungsfragen“ (ebd.) und „Verständnisfragen“ (ebd.). 29 Es handelt sich um ein anderes Konzept von „Präsupposition“ als etwa das von Ehlich & Rehbein (1972) vertretene. Nach Ehlich & Rehbein wären die „presuppositions“ MacMartins als das bestimmte Nicht-Gewusste, das dem Fragen vorausliegt (Ehlich & Rehbein 1986; Ehlich 1990), zu bezeichnen.

44 | Stand der Forschung lerdings nicht beschrieben worden ist. Auch zeigt sie (a. a. O.: 85ff), dass diese Fragen in der Mehrzahl der Fälle das beschriebene Ziel nicht erreichen, da die Patienten die implizierten Voraussetzungen erkennen, thematisieren und ablehnen. Dennoch bestätigt MacMartins Studie eine Grundannahme über den therapeutischen Prozess: Das Umwerten der Erfahrungen, die die Patienten machen bzw. gemacht haben, ist ein wesentliches Element dessen, was in der Therapie geschieht (vgl. etwa die metaphernanalytische Untersuchung von Buchholz 1998). Ähnlich wie Holly arbeitet auch die Jungianisch orientierte Therapeutin Jean Pain mit der Unterscheidung von ‚geschlossenen‘ und ‚offenen‘ Fragen (2009: 75ff). Sie diskutiert die verbreitete Annahme, dass Therapeuten grundsätzlich offene Fragen stellen sollten, um Patienten zum Reden über sich selbst zu bringen, da diese „fewer constraints on answers“ (a. a. O.: 75) mit sich brächten. Anhand einer Reihe von Auszügen aus ihren eigenen Behandlungen zeigt Pain dann, dass „a few closed questions“ (a. a. O.: 86) Patienten allerdings ebenfalls helfen können „to find a topic they can discuss“ (ebd.). ‚Geschlossene‘ Fragen so Pains Fazit, können damit ebenso wie ‚offene‘ zur mentalen wie interaktiven Selbstexploration des Patienten beitragen. Damit zeigt Pain auch, dass Untersuchungen authentischer therapeutischer Diskurse zu Ergebnissen kommen können, die den – häufig an Alltagstheorien über Sprache angelehnten – Vorgaben der etablierten therapeutischen Behandlungstechnik widersprechen. Pains Arbeit trägt so zur Relativierung bzw. Revidierung abstrakter Behandlungsmaximen bei und zeigt, dass die gesprächsanalytische Untersuchung der therapeutischen Praxis Erkenntnisse erbringen kann, die für diese Praxis selbst wiederum unmittelbar handlungsrelevant sind.

2.3.4 ›Fokussierungen‹ Neben Fragen und „Formulierungen“, also Kategorien aus Alltagssprache bzw. Linguistik, hat die linguistische Therapieforschung auch therapietheoretische Konzepte untersucht. Dabei handelt es sich insbesondere um ›Fokussierungen‹, ›Verbalisierungen des emotionalen Erlebnisgehalts‹ und ›Deutungen‹. Interessant sind diese Untersuchungen für die zu verfolgende Frage nach der Wirksamkeit von Therapie, weil allen drei therapeutischen Techniken eine hohe Bedeutung für das Gelingen von Psychotherapie zugeschrieben wird. Unter ›Fokussierung‹ versteht man in der Therapietheorie das Zuschneiden der Therapie auf einen bestimmten Konflikt- oder Problembereich, der als zentral für die Erkrankung des Patienten angesehen und in der Therapie vorrangig bearbeitet wird. So wird zum Beispiel in einer der hier zugrunde gelegten Kurz-

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zeittherapien (s. u. Kap. 7.1, 7.2) in der ersten Sitzung abgesprochen, dass die Bewältigung der Schlafschwierigkeiten einer Patientin im Vordergrund der Therapie stehen soll. Andere ›Foki‹ können in neurotischen Symptomen, der Bewältigung von Beziehungsproblemen oder der Überwindung einer Suchtkrankheit bestehen. Thomä & Kächele (2006a) bezeichnen den ›Fokus‹ als „zentralen Begriff“ (362) des psychoanalytischen Prozesses und die psychoanalytische Therapie „als eine fortgesetzte, zeitlich nicht befristete Fokaltherapie mit wechselndem Fokus“ (363). Bei dem Begriff ›Fokussierung‹ geht es also um eine dezidiert psychotherapeutische Technik, die in der Ausrichtung der Therapie auf einen ›Fokus‹, verstanden als „interaktionell hergestellten thematischen Schwerpunkt in der therapeutischen Arbeit, der sich aus dem Angebot des Patienten und der Verstehensleistung des Analytikers ergibt“ (a. a. O.: 366), besteht. In einer Arbeit zu „Interaktion, Themaorganisation und Gesprächsorganisation“ betont Norbert Dittmar (1988) die Bedeutung von ›Fokussierungen‹ für die Themaprozessierung in psychotherapeutischen Gesprächen. Er erarbeitet eine Reihe von Charakteristika von ›Fokussierungen‹, die den semantischen Gehalt fokussierender Äußerungen in Beziehung zu ihren Vorgängeräußerungen setzen. ›Fokussierungen‹ werden als „bedeutungsverschiedene Paraphrasen“ (Dittmar 1988: 83) bezeichnet, die aus einer „Bestätigung der Patientenäußerung (i)“ (ebd.), einer „Benennung des Patientenproblems und Einordnung in den Stand des Gesprächs (ii)“ (ebd.) und einer am Ende der ›Fokussierung‹ platzierten „auf den Patienten zugeschnittene[n] hypothetische[n] Assertion im Sinne einer therapeutischen Intervention (iii)“ (ebd.) bestehen. Dabei würden ›Fokussierungen‹ häufig um „den Aussagecharakter der Äußerung abschwächende Ausdrücke“ (ebd.) ergänzt. Unklar bleibt insbesondere, was die Assertion in (iii) eigentlich zu einer therapeutischen Intervention macht, welche Merkmale also eine solche therapeutische Intervention auszeichnen. Der Zusammenhang zwischen der einzelnen Äußerung, dem Zweck des therapeutischen Diskurses und der Lebenssituation des Patienten wird nicht rekonstruiert, die Äußerung wird lediglich in Verbindung mit der Vorgängeräußerung gebracht, der Gesamtrahmen der diskursiven Konstellation wird außer Acht gelassen. Dies ist auch darauf zurückzuführen, dass sich Dittmar weniger für Eigenschaften therapeutischer ›Fokussierungen‹ als für die Themenentwicklung im Gespräch an sich interessiert. Wenn er also die genannten Charakteristika psychotherapeutischer ›Fokussierungen‹ erarbeitet, fragt er dabei nicht nach der Bedeutung von ›Fokussierungen‹ für den therapeutischen Prozess, sondern nach semantischen Relationen zwischen einzelnen Äußerungen. Die mentalen Prozesse, die ›Fokussierungen‹ auf der Seite des Patienten auslösen, geraten

46 | Stand der Forschung ebenso wie die interaktiv-sprachlichen Reaktionen der Patienten nicht in den Blick der Analyse. Für die hier verfolgte Frage nach der Wirkung von Psychotherapie ist daher v. a. festzuhalten, dass Dittmar therapeutischen Interventionen bestimmte allgemeine Charakteristika zuschreibt: zum einen sind sie durch „abschwächende Ausdrücke“ (a. a. O.: 83) wie Konjunktiv oder Partikeln, zum anderen durch „Modalisierungen“ (a. a. O.: 73), verstanden als abweichende wiederholte Realisierung einer Proposition, gekennzeichnet. Dittmar betont also die Bedeutung von reformulierenden Handlungen und deren modalisierender Bearbeitung einer Ursprungsäußerung. Eine grundlegende Untersuchung über ›Fokussierungen‹ in der Psychotherapie hat Sabine Streeck vorgelegt (1989)30 (s. auch o. Kap. 2.2). Sie kritisiert zunächst die Herangehensweise eines Großteils der linguistischen Literatur an Psychotherapie: Indem viele Arbeiten spezifisch therapeutische Handlungen, wie die ›Deutung‹ (s. u. Kap. 2.3.6), untersuchten, würden „die bereits in der klinisch-psychologischen Forschung zu verzeichnenden Zirkelschlüsse“ (S. Streeck 1989: 18) reproduziert. Durch Rückgriff auf therapeutische Kategorien seien linguistische Analysen immer schon „präjudiziert“ (ebd.), ein offener, genuin linguistischer Zugriff auf die Daten sei nicht mehr möglich. Nun beschäftigt sich Streeck selbst allerdings hauptsächlich mit der „Fokussierung in Kurzzeittherapien“ (Titel der Arbeit), basiert ihre eigenen Analysen also auf einem „Begriff aus der Theorie der therapeutischen Praxis“ (a. a. O.: 136), der, wie dargestellt (o. S. 44f.), eine dezidiert therapeutische Technik erfasst (Thomä & Kächele 2006a: 362f.). Damit läuft sie offensichtlich Gefahr, das von ihr kritisierte Verfahren des Rückgriffs auf therapeutische Konzepte selbst anzuwenden. Streeck versucht dieser Gefahr zu begegnen, indem sie sich eine terminologische Überschneidung zu Nutze macht. Das Konzept der „Fokussierung“ existiert nämlich nicht nur in der Therapietheorie, sondern auch in der ethnomethodologischen Konversationsanalye (Kallmeyer & Schütze 1976, Kallmeyer 1978; s. auch Hausendorf 2007a). Streeck kann daher mit zwei verschiedenen Fokussierungsbegriffen arbeiten: Zum einen mit dem therapeutischen, bei dem es um das Zuschneiden der Therapie auf ein bestimmtes Problem (also z.B. die Schlafschwierigkeiten der Patientin; s. u. Kap. 7.1, 7.2) geht, zum anderen mit dem ethnomethodologischen, der die „gemeinsame Orientierung von Gesprächsteilnehmern auf eine bestimmte Aktivität oder einen kom-

30 Diese Monographie wird im Folgenden eingehend besprochen, die beiden anderen Publikationen von Sabine Streeck zu dem Thema sind als Vorstudie (Stitz 1987) bzw. Zusammenfassung der Monographie (S. Streeck 1990) anzusehen.

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plexen Interaktionsvorgang“ (S. Streeck 1989: 138) bezeichnet. Während eine therapeutische ›Fokussierung‹ also die ganze Therapie an sich betrifft, ist der ethnomethodologische Fokussierungsbegriff wesentlich kleinteiliger angelegt und kann immer dann zum Zuge kommen, wenn die Aufmerksamkeit der Aktanten koordiniert wird, etwa auch, wenn der Termin für die nächste Sitzung vereinbart wird. Streeck verwendet also zwei sehr unterschiedliche Begriffe von „Fokussierung“ und kann auf diese Weise einerseits spezifisch therapeutische Handlungen untersuchen, andererseits den eindeutigen Bezug auf therapeutische Konzepte zur Identifikation der zu untersuchenden Handlungen vermeiden. Dennoch wird anhand der konkreten Analysen immer wieder deutlich, dass neben der „Fokussierungsaktivität“ (a. a. O.: 140) – Streecks Bezeichnung für die konversationsanalytische Sicht auf das Fokussieren –, die therapeutische Handlung der ›Fokussierung‹ im Vordergrund steht. So arbeitet Streeck u. a. die Struktur „einer therapeutischen Fokussierung“ (a. a. O.: 146) heraus. Sie unterscheidet dabei zwischen der eigentlichen „Fokussierung“ (ebd.) – ob es der Autorin dabei um den konversationsanalytischen oder den therapeutischen Begriff geht, bleibt nicht nur an dieser Stelle unklar –, einer ersten „Akzeptierung der Patientin“ (ebd.), dem Ausbau der ›Fokussierung‹ durch den Therapeuten, einer zweiten „Bestätigung der Patientin“ (ebd.), einer weiteren zusätzlichen „Vertiefung und Etablierung“ (ebd.) der ›Fokussierung‹ durch den Therapeuten und einer dritten und letzten Bestätigung durch die Patientin (ebd.). Streeck nimmt an dieser Stelle also explizit die therapeutische Handlung ›Fokussierung‹ in den Blick. Diese doppelte Ausrichtung auf die therapeutische wie die konversationelle Seite des Fokussierens zieht sich durch die gesamte Arbeit. Besonders deutlich wird das, wenn das von Thomä & Kächele (1985) entwickelte psychoanalytische „Konzept der Fokusfindung“31 (S. Streeck 1989: 315) als „leitend für die Untersuchung“ des „Erfolg[s] von Fokussierungsaktivitäten“ (ebd.) bezeichnet wird und „Folgehandlungen der Patienten“ (a. a. O.:

31 Streeck zitiert Thomä & Kächele folgendermaßen: „Spricht ein Patient etwa über seine Ängste, so wird dieses Thema dann zum psychoanalytischen Fokus, wenn 1) der Analytiker ihm sinnvoll erscheinende Hypothesen über unbewußte Motive generieren kann, 2) es ihm gelingt, den Patienten mittels geeigneter Interventionen zu diesem Thema hinzuführen, 3) der Patient emotionales und kognitives Engagement für dieses Thema entwickeln kann“ (Thomä & Kächele 1985: 359ff; zitiert nach S. Streeck 1989: 315f.). Streeck hält außerdem das Fazit von Thomä & Kächele über die Bedeutung des ›Fokus‹ fest:: „Wir betrachten den interaktionell gestalteten Fokus als zentrale Drehscheibe des Prozesses und konzeptualisieren von daher die psychoanalytische Therapie als eine fortgesetzte, zeitlich nicht befristete Fokaltherapie mit wechselndem Fokus“ (Thoma & Kächele 1985: 359; zitiert nach S. Streeck 1989: 316).

48 | Stand der Forschung 313) als „Indikator für die Angemessenheit einer therapeutischen Fokussierung“ (ebd.) gesehen werden.32 Die Analyse von Sabine Streeck basiert also zu wesentlichen Teilen auf dem therapeutischen Konzept von ›Fokussierung‹. Durch die Kritik an einem solchen Vorgehen und den Bezug auf den konversationsanalytischen Fokussierungsbegriff wird dies nur spärlich überdeckt. Interessant an diesem widersprüchlichen Verfahren ist nun insbesondere, dass Streeck auf diese Weise – durchaus in Analogie zu den von ihr kritisierten Arbeiten der Flader-Gruppe (s. o. S. 15ff sowie u. S. 62ff) – zu aufschlussreichen und weiterführenden Ergebnissen über Kommunikation in der Psychotherapie kommt. Neben den bereits dargestellten Übereinstimmungen hinsichtlich der Organisation von Gesprächen und den Besonderheiten im Frage-AntwortVerhalten von Therapeut und Patient (s. o. S. 23), gelingt es ihr, eine Reihe wichtiger Merkmale therapeutischer ›Fokussierungen‹ zu bestimmen. Diese werden im Folgenden zusammenfassend präsentiert und auf ihre Aussagekraft bzgl. der Wirksamkeit therapeutischen Handelns hin befragt. – Streeck unterscheidet vier Typen von ›Fokussierungen‹ (a. a. O.: 150ff): kurzfristige, langfristige (beziehen auf längere Strecken des Therapieverlaufs), zusammenfassende (finden sich meist am Ende einer Sitzung, fassen diese zusammen und schaffen eine Arbeitsgrundlage für die folgende Sitzung) und elliptische (enthalten nur den ›Fokus‹, verzichten auf weitere „Instruktionen“ (a. a. O.: 334) an den Patienten). – Bei der sprachlichen Realisierung von ›Fokussierungen‹ spielen „Formulierungen“ (s. o. Kap. 2.3.2) eine wichtige Rolle (a. a. O.: 169ff). Sie dienen der Vorbereitung oder Ankündigung des – für die Patienten oft nicht unproblematischen – ›Fokus‹. „Formulierungen“ „‚verpacken‘“ (a. a. O.: 335) den ›Fokus‹ und wirken, weil sie auch im Alltag vorkommen, für den Patienten „‚normalisierend‘“ (ebd.). – Die Reaktionen der Patienten auf ›Fokussierungen‹ sind auf den ersten Blick nicht immer eindeutig (a. a. O.: 181ff). Streeck kann unter Rückgriff auf konversationsanalytische Arbeiten zu präferierten bzw. dispräferierten ‚zweiten Handlungen‘ (Levinson 1983, Atkinson u. a. 1984, Heritage 1984, Pomerantz 1984) zeigen, dass eine Zustimmung zu einer ›Fokussierung‹ dann eher einer Ablehnung gleich kommt, wenn sie zeitlich spät bzw. innerhalb eines Sprecherbeitrags nach ‚rechts‘ verlagert realisiert wird. Stre-

32 Weitere Beispiele dafür sind u. a. die exemplarische Untersuchung einer einzelnen Therapie auf „den gesprächstherapeutischen Verlauf […] der Fokusfindung“ (S. Streeck 1989: 217ff) oder die wiederholt explizit angestrebte Untersuchung therapeutischer ›Fokussierungen‹ (a. a. O.: 149, 272).

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eck nutzt die Erkenntnisse der Konversationsanalyse an dieser Stelle, um über das, was verbal an der sprachlichen Oberfläche ausgedrückt wird, hinaus Aussagen über Kommunikation in der Psychotherapie machen zu können (vgl. auch U. Streeck 2004: 245ff). Wenn es um die Reaktion der Patienten auf ›Deutungen‹ oder ›VEE‹ geht, wird dies auch im Folgenden zu berücksichtigen sein. ›Fokussierungen‹ werden oft durch „Einschätzungen“33 vorbereitet (S. Streeck 1989: 199ff; Hervorh. von mir, C.S.), diese dienen als eine Art „‚Test‘“ (a. a. O.: 333), ob die ›Fokussierung‹ vom Patienten angenommen werden kann. Neben ›Fokussierung‹ und Reaktion gibt es auch eine „third turn option“ (a. a. O.: 217; Hervorh. von mir, C.S.), d. h. Therapeut und Patient können die ›Fokussierung‹ nachbearbeiten bzw. zu einer solchen Nachbearbeitung einladen (a. a. O.: 215ff). Anhand einer quantitativen Analyse von 20 Therapien (a. a. O.: 315ff) kommt Streeck zu dem Schluss, dass „explizite Zustimmung zu ersten Fokussierungen“ (a. a. O.: 336) ein positiver Indikator für das Gelingen einer Therapie ist. Streeck äußert die Vermutung, dass eine „deutlich formuliert[e]“ (ebd.) ›Fokussierung‹ die Annahme des ›Fokus‹ erleichtere, und kommt zu dem Schluss, dass eine „gemeinsame Ausarbeitung und Einigung auf den Fokus“ (ebd.) eine wichtige Voraussetzung für eine erfolgreiche Therapie sei. Diese Vermutung zur Wirkung sprachlichen Handelns in der Therapie weist in eine Richtung, die auch in der vorliegenden Arbeit verfolgt wird, und könnte daher für die durchzuführenden Analysen relevant sein.

Die umfangreiche und äußert detaillierte Arbeit von Sabine Streeck lässt daneben auch methodologische Schlüsse für linguistische Untersuchungen über Psychotherapie zu. Zum einen zeigt sich trotz Streecks kategorischer Kritik an einem solchen Vorgehen, dass Konzepte aus Psychotherapie bzw. Psychoanalyse im Rahmen linguistischer Analysen durchaus fruchtbar eingesetzt werden können. Entscheidend dabei ist allerdings, zu welchem Zweck sie verwendet

33 Streeck zitiert zunächst die sprechakttheoretische Bestimmung Wunderlichs, wonach es bei Einschätzungen um die „propositionale Einstellung“ (Wunderlich 1976: 73) des Sprechers geht. Sodann stützt sie sich auf die Bestimmung von Pomerantz (1984), dass Einschätzungen sprecherseitig den „gefühlsmäßigen Zugang zum Erlebten“ (S. Streeck 1989: 200) ausdrücken. Einschätzungen geben demnach den „Eindruck des Handelnden“ wieder und enthalten „in der Regel einen bewertenden Ausdruck“ (ebd.). Für eine handlungstheoretische Auseinandersetzung mit dem Einschätzen s. Redder (2002).

50 | Stand der Forschung werden. Wenn Begriffe wie ›Widerstand‹, ›Abwehr‹ oder ›Übertragung‹ Teil des analytischen Instrumentariums werden, also eingesetzt werden, um das, was interaktiv vor sich geht, zu erklären, so wird die linguistische Analyse nicht nur verfälscht, sondern erübrigt sich im Grunde. Werden konkrete Äußerungen etwa als Ausdruck von ›Übertragung‹ bewertet, so wird damit eine umfassende, letztgültige Aussage über Zustandekommen und Ursache der Äußerungen gemacht. Begriffe dieser Provenienz erfassen und konzipieren das interaktive und mentale Geschehen immer schon restlos, so dass die feinkörnige linguistische Beobachtung dem in der Regel nur wenig hinzufügen kann. Beispiele für diese Form von ‚Selbstentmündigung‘ finden sich in der Geschichte der linguistischen Erforschung von Psychotherapie zu Hauf (z. B. bei Baus & Sandig 1985, Eisenmann 1995, Flader & Giesecke 1980, Wodak-Leodolter 1979, Wodak 1981a, Wrobel 1985), sie werden von Streeck zu Recht kritisiert. Streecks Arbeit zeigt allerdings auch, dass die linguistische Befassung mit Psychotherapie dann von den Theorien aus dem Feld profitieren kann, wenn sie sie zum Identifizieren des relevanten Datenmaterials nutzt. Streeck selbst verweist auf die Bedeutung, die dem Fokussieren als therapeutischer Aktivität innerhalb der Therapietheorie zukommt (S. Streeck 1989: 11). Ihr Material identifiziert sie – trotz wiederholter Kritik an einem solchen Vorgehen – wie gezeigt (s. o. S. 46f.) mit Hilfe des therapeutischen Konzepts von ›Fokussierung‹ und kommt, indem sie eine therapeutisch bedeutsame Handlung untersucht, auch zu relevanten Aussagen über Kommunikation in der Psychotherapie. Psychotherapietheoretisch informierte linguistische Analysen werden in die Lage versetzt, die neuralgischen, therapeutisch entscheidenden Punkte zu identifizieren und – das entsprechende linguistische Instrumentarium vorausgesetzt – detailliert hinsichtlich interaktiver und mentaler Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge zu untersuchen. Eine genuin linguistische Analyse, die den Zusammenhang zwischen sprachlichen und mentalen Prozesse detailliert rekonstruieren kann, ist dann m. E. auch der von psychoanalytischen Begrifflichkeiten bestimmten ‚Etikettierung‘ des sprachlichen Geschehens, wie sie von Streeck kritisiert wird, überlegen. Die Untersuchung von Psychotherapie oder Psychoanalyse kann von Begriffen oder Kategorien aus dem Feld also dann profitieren, wenn sie sie zur Identifikation des relevanten Materials verwendet. Wenn sie psychoanalytische Begriffe dagegen zur Analyse des Materials verwendet, verliert sie ihren linguistischen Charakter und damit ihre spezifische Leistungsfähigkeit. Weitere methodologische Beobachtungen sind anzuschließen. Zum einen zeigt sich an Streecks Analysen, dass eine Herangehensweise, der eine systematisch-kategoriale Aufschlüsselung der sprachlichen Formen hinsichtlich ihrer mentalen Funktionen fehlt, zu nur sehr begrenzten und tentativen Aussagen

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über die Wirkungsweise von Psychotherapie kommen kann (s. o. S. 49). Zum anderen wird bei Streecks Versuch, die Struktur einer Fokussierung zu rekonstruieren (S. Streeck 1989: 140) deutlich, dass allein sequentiell verfahrende Analysen, die die Oberfläche sprachlichen Handelns nachzeichnen, die kommunikativen Prozesse in der Psychotherapie nicht immer vollständig erfassen können. So war Streeck im konkreten Fall gezwungen, die drei Bestätigungen der Fokussierung durch die Patientin jeweils als funktional und sequentiell eigenständige Positionen zu bestimmen. Ebenso wurde die Nachbearbeitung der Fokussierung, die in dem Beispiel zwei Mal mit übereinstimmenden Charakteristika prozessiert wird, von Streeck in zwei unterschiedliche Handlungen aufgespalten. Für eine solche Analyse lässt sich m. E. nur unter Absehung von den das interaktive Geschehen prägenden Einflussfaktoren und kommunikativen Wirkungen plädieren, da die sprachliche Oberfläche analytisch lediglich reproduziert, ihr Zustandekommen jedoch nicht erklärt wird. Wird dagegen, wie in der vorliegenden Arbeit, neben dem ‚Was‘ und dem ‚Wie‘ auch nach dem ‚Warum‘ des Geschehens in der Psychotherapie gefragt, erscheint die Annahme einer kommunikativen Tiefenstruktur, die, neben anderen konstellativen Elementen (s. u. Kap. 3.2) die sprachliche Oberfläche prägt, theoretisch und analytisch fruchtbar. Sie ermöglicht es, das Handeln der Beteiligten zu strukturieren und auf funktionale, gesellschaftlich etablierte Formen der Problembearbeitung zurückzuführen. Mit der therapeutischen ›Fokussierung‹ setzen sich auch Wolff & Meier (1995) auseinander. Sie untersuchen ein therapeutisches Gespräch en détail und fassen, teilweise aufbauend auf Streeck, Fokussierung „als Versuch, eine bestimmte Aufmerksamkeitsausrichtung in einer Interaktion zu etablieren“ (a. a. O.: 80). Analog zu Streeck verfolgen sie damit an sich ein weites, konversationsanalytisches Konzept von Fokussierung, konzentrieren sich in der tatsächlichen Analyse jedoch auf solche Handlungen, die auch aus therapietheoretischer Perspektive als ›Fokussierung‹, also als Versuch, die Therapie auf bestimmte Konflikt- oder Problembereiche zuzuschneiden, zu bezeichnen wären. Solche Fokussierungen sind Wolff & Meier zufolge „retrospektiv“ (ebd.) ausgerichtet, weil sie dem „bisherigen Gespräch […] rückwirkend eine Ordnung verleihen“ (ebd.), gleichzeitig wirken sie aber auch ‚nach vorne‘, „weil sie einen Aspekt aus dem vom Klienten angebotenen Gesprächsmaterial herausarbeiten und ihn in den Mittelpunkt der nächsten Gesprächsphase rücken“ (a. a. O.: 81). Ähnlich wie Dittmar (1988) unterscheiden Wolff & Meyer also verschiedene Aspekte innerhalb von ›Fokussierungen‹, konzentrieren sich dabei allerdings weniger auf semantische Relationen als auf die gesprächsorganisierende Funktion von ›Fokussierungen‹. In ihrem Material beobachten sie, dass ›Fokussierungen‹ häufig an Stellen auftauchen, an denen „die Darstellung von K [dem

52 | Stand der Forschung Patienten; C.S.] zu stagnieren droht“ (Wolff & Meier 1995: 82), dass sie also u. a. die Funktion übernehmen, die „Gesprächsmaschine“ (a. a. O.: 60) am Laufen zu halten. Häufig schließen ›Fokussierungen‹ mit dem therapeutenseitigen Verweis auf das eigene Erleben ein Thema ab bzw. stufen es „in seiner Relevanz herab“ (a. a. O.: 83). Dabei wirkt der Verweis auf die eigenen Empfindungen des Therapeuten persuasiv, die „Relevanz einer thematischen Verschiebung“ (ebd.) durch die Fokussierung kann „vom Gegenüber kaum noch in Frage gestellt werden“ (ebd.). Die thematische Verschiebung geht dabei meist mit einer „Feststellung, einem Kommentar oder einer Frage einher“ (ebd.), welche die Fokussierung auf ein bestimmtes Problem ausrichten und den Patienten zu einer Stellungnahme zu diesem Problem bringen sollen. Ähnlich wie Dittmar und Streeck beobachten schließlich auch Wolff & Meier, dass therapeutische Interventionen häufig „vorsichtig“ (a. a. O.: 84) formuliert sind, dass also verschiedene sprachliche Mittel eingesetzt werden, um Äußerungen einzuschränken. Problematisch an den herausgearbeiteten Charakteristika von ›Fokussierungen‹ ist möglicherweise die geringe Menge an Material, die der Untersuchung zugrundeliegen zu scheint. Die Beobachtungen von Wolff & Meier werden, im Unterschied zu Streeck (1989), lediglich an einem Gespräch entwickelt, so dass sie sich m. E. nur eingeschränkt für therapeutische ›Fokussierungen‹ oder therapeutische Interventionen an sich generalisieren lassen. Auch die vorgeschlagene Parallelisierung mit Beratungsdiskursen kann den gemachten Beobachtungen kaum höhere Repräsentativität verleihen, weil sich Beratungsund Therapiediskurs sowohl funktional als auch formal unterscheiden (s. u. Kap. 4.1). Gleichwohl können die Beobachtungen von Wolff & Meier den Blick auf möglicherweise interessante Phänomene lenken, die auch bei einer Analyse zu berücksichtigen sind, die den Zusammenhang von interaktiven und mentalen Prozessen in der Psychotherapie in den Vordergrund stellt.

2.3.5 ›Verbalisieren des emotionalen Erlebnisgehalts‹ (›VEE‹) Die Mehrheit der linguistischen Untersuchungen über Psychotherapie hat sich auf psychoanalytische oder tiefenpsychologische Therapieformen konzentriert, über gesprächstherapeutische Verfahren wie das ›Verbalisieren des emotionalen Erlebnisgehalts‹ (›VEE‹) liegt dagegen nur eine Handvoll Arbeiten vor.34 Eine

34 Dieses Missverhältnis ist sicher auf eine in Teilen der Öffentlichkeit nach wie vor vorherrschende Gleichsetzung von Psychotherapie mit Psychoanalyse zurückzuführen. Psychoanalyse wurde und wird häufig immer noch als ursprüngliche und praktisch bedeutsamste Form der

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zumindest teilweise linguistisch vorgehende Monographie zur Gesprächstherapie haben Magdalena Baus und Barbara Sandig (1985; s. auch Sandig 1990) vorgelegt. Ihre Arbeit unterteilen sie in einen „sozialpsychologischen“ und einen „linguistischen“ Teil. Im linguistischen Teil untersuchen sie eine Gesprächstherapie auf Veränderungen des Selbstkonzepts einer Patientin und listen eine Reihe von Therapieeffekten auf. So sei die Patientin gegen Therapieende in der Lage, ihre Gefühle differenzierter auszudrücken (Baus & Sandig 1985: 190f.), sie benutze mehr bildliche Ausdrücke (ebd.), verhalte sich ‚spontansprachlicher‘ (192), bewerte das eigene Handeln positiver (197) und habe insgesamt die rigiden individuellen Deutungsmuster, die Baus & Sandig als eine Ursache der psychischen Erkrankung sehen (55), durch neue, flexiblere Deutungsmuster ersetzt (200f.). Der Theorie der Gesprächstherapie entsprechend (vgl. Eckert u. a. 2006) habe sich ein flexiblerer „Bezugsrahmen“35 (Baus & Sandig 1985: 201) entwickelt, der es der Patientin erlaube, Ereignisse angemessener zu bewerten und die pathogene Inkongruenz zwischen Selbstkonzept und Selbststruktur zu beheben. Im Zentrum der Arbeit von Baus & Sandig steht also eine Vorher-NachherAnalyse einer Patientin, durch die sie die Angemessenheit der gesprächstherapeutischen Theorie und Praxis zu belegen versuchen. Demgegenüber bleiben die Beobachtungen zu dem Prozess, der die postulierten Veränderungen bewirkt, vereinzelt und in ihrer Aussagekraft beschränkt. Zu diesen Beobachtungen gehört, dass die therapeutische Technik des ›VEE‹ als eine der Vermeidung von Missverständnissen dienende „Auffüllung“ (a. a. O.: 146) der Äußerungen des Patienten konzipiert wird. Dieses „Auffüllen“ führe zu einer Aushandlung darüber, was der Patient tatsächlich empfindet, und damit zu einer intensivier-

Psychotherapie angesehen. Außerdem hat die Psychoanalyse, deren Erklärungsanspruch sich auf weit mehr als auf psychische Erkrankungen und Möglichkeiten ihrer Heilung erstreckt, eine hohe theoretische Anziehungskraft auf die Geisteswissenschaften ausgeübt. Während andere Therapieformen wie die Verhaltens- oder die Gesprächstherapie nur als Methoden der Heilung psychisch kranker Menschen wahrgenommen werden, hat die Attraktivität des theoretischen Apparats der Psychoanalyse auch zu einer verstärkten Beschäftigung mit der psychoanalytischen Therapie, also dem Prozess, in dem dieser Apparat zur Anwendung kommt, geführt. 35 Der Begriff „Innerer Bezugsrahmen“ entstammt der Gesprächstherapietheorie und meint „die Standorte […], die ein Menschen gegenüber seinem Erleben einnimmt, sowie die damit verbundenen gefühlsmäßigen Bewertungen des Erlebens“ (Eckert 2006: 221). Dass Baus & Sandig mit diesem Begriff operieren um das Wirken der Therapie zu erfassen, weist bereits darauf hin, dass ihre Arbeit im Wesentlichen im gesprächstherapeutischen Denken über Therapie verbleibt. Eine dezidiert linguistische Terminologie kommt demgegenüber nur selten zur Anwendung.

54 | Stand der Forschung ten Beschäftigung mit dem eigenen Erleben (a. a. O.: 151). Auf diese Weise würden die patientenseitigen Deutungsschemata sicht- und bearbeitbar (ebd.), der Patient lerne, wie er sich emotionalen Erlebnissen nähern und diese in Worte fassen könne. Mittels ›VEE‹ werde nicht nur das „Verständnis des vom Klienten geäußerten“ (a. a. O.: 158) formuliert und die „Perspektive des Klienten“ (ebd.) eingenommen, sondern insbesondere auch eine gemeinsame „gefühlsmäßige Bewertung von Ereignissen“ (a. a. O.: 162) prozessiert. Dabei gehe der Therapeut „wie beim alltagssprachlichen Bewerten […] stufenweise vor: erst bewertet er vorsichtig (und fragend), dann, wenn seine Bewertung bestätigt wird, ‚eskaliert‘ er seine Bewertung“ (ebd.). Während diese Beobachtungen zur Handlungscharakteristik des ›VEE‹ teilweise im Rahmen dessen, was in der Gesprächstherapie selbst über den gesprächstherapeutischen Prozess ausgesagt wird, verbleiben, werden auch einige konkrete Beobachtungen am sprachlichen Material gemacht. Hervorzuheben ist hier zum einen, dass „explizite Perspektivübernahme[n]“ (a. a. O.: 159) beobachtet werden, dass die Therapeutin also häufig aus der Perspektive der Patientin spricht. Zum anderen sind die VEE der Therapeutin nach Beobachtung von Baus & Sandig häufig fragend intoniert (a. a. O.: 160f.), was ihnen „nicht den Charakter des Behauptens oder Feststellens über den Klienten“ (a. a. O.: 160) verleiht, sondern „das Wort an den Klienten“ übergibt, „damit dieser bestätigt, verneint oder modifiziert“ (a. a. O.: 161). Die Frageintonation überlässt die Bewertung des Gesagten dem Patienten, gesteht ihm „das Recht auf Eigendeutung zu“ (ebd.).36 Indem Baus & Sandig dann die Therapeutin als „Modell, an dem gelernt wird“ (a. a. O.: 175) bezeichnen, bieten sie außerdem noch eine Vorstellung über die Funktionsweise des gesprächstherapeutischen Diskurses an, die allerdings in einem deutlichen Spannungsverhältnis zu der ansonsten von ihnen vertretenen gesprächstherapeutischen Erklärung der Heilung aufgrund einer Flexibilisierung des „Bezugsrahmens“ (a. a. O.: 201; vgl. o. Fußnote 36) steht. Dieser Bezugsrahmen ist als eine mentale Struktur zu verstehen, die die Interpretation

36 Die Beobachtung fragender Intonation bei Äußerungen von Agenten, die institutionell im Rahmen des von Carl Rogers entwickelten „Klientenzentrierten“ Ansatzes, zu dessen Kern sich die Gesprächstherapie entwickelt hat, arbeiten, wurde auch in Beratungsdiskursen gemacht (Wahmhoff & Wenzel 1979: 266, Wahmhoff 1981: 101). Aufgrund einer fundamental unterschiedlichen Form-Funktions-Strukturierung von Psychotherapie- und Beratungsdiskurs (s. u. Kap. 4.1) sind die Erkenntnisse, die aus diesen Arbeiten gewonnen wurden, zwar nicht auf Psychotherapie zu übertragen, gleichwohl deuten sie auf eine innerhalb der klientenzentrierten Schule verbreitete, ausbildungsbedingte Formulierungstechnik hin und können einen Beitrag zur ‚Verifizierung‘ der Beobachtung von Baus & Sandig liefern.

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wahrgenommener Ereignisse leitet. Indem diese mentale Struktur in der Therapie bearbeitet wird, verändern sich die Bewertungen des eigenen Erlebens durch den Patienten und darauf basierend auch seine Reaktion darauf, also sein Handeln. Die mimetische Vorstellung vom Therapeuten als Modell und Patienten als Nachahmer nun überspringt diesen Prozess der Interpretation von Wahrnehmung und darauf basierender Handlungsentscheidung und setzt einen Quasi-Automatismus der Verhaltensmusterübernahme an seine Stelle. Die Vorstellung von Therapie als Mimesis scheint die für das Verständnis des therapeutischen Prozesses zentrale Kategorie des Mentalen auszuklammern, eine Analyse der konkret vollzogenen mentalen Prozesse auf Seiten der Patientin wird durch das Mimesis-Modell überflüssig gemacht. Nicht nur die vorgeschlagene Konzeptualisierung von Psychotherapie, auch die Beobachtungen des therapeutischen Prozesses, die Baus & Sandig anstellen, verbleiben mitunter eher an der Oberfläche des sprachlichen Geschehens, rekonstruieren mentale Prozesse nicht im Detail am sprachlichen Handeln. Charakteristika der Form bzw. Funktion des sprachlichen Handelns werden vereinzelt herausgearbeitet, eine linguistisch belegte Erklärung der Wirksamkeit von Psychotherapie wird m. E. nicht erreicht. Rein deskriptiv festzuhalten sind allerdings Baus & Sandigs Beobachtungen des Sprechens aus der Perspektive des Patienten (a. a. O.: 158f.) sowie der fragenden Intonation von ›VEE‹ (a. a. O.: 160f.), die beide auf eine spezifische mentale Aktivierung des Hörers (Patienten) hindeuten (vgl. u. Kap. 9.2). Die Funktion von ›VEE‹ betreffend scheint darüber hinaus die Beobachtung der stückweisen, kooperativen Prozessierung von „gefühlsmäßigen Bewertungen“ (a. a. O.: 162) von Bedeutung zu sein. Dabei geht es um einen interaktiven Prozess, in dem Therapeutin und Patientin einem bestimmten Erlebnis bestimmte Gefühle zuschreiben. Stimmt die Patientin der ersten Gefühlszuschreibung durch die Therapeutin zu, wird diese im nächsten Schritt gesteigert, so dass es zu einer immer stärker akzentuierten Verbindung von Gefühlen und Ereignissen kommt. An diesem Prozess wird das Produzieren neuen Wissens bzw. das Umstrukturieren bestehender Wissensbestände im Zusammenspiel von Therapeut und Patient beispielhaft sichtbar. Baus & Sandig geben damit einen Fingerzeig auf interaktive und mentale Prozesse, die für die Wirkung von Psychotherapie mitverantwortlich sein können. Neben Barbara Sandig hat sich insbesondere Rüdiger Weingarten (MeyerHermann & Weingarten 1982, Weingarten 1990) aus linguistischer Perspektive mit dem ›VEE‹ befasst. Gemeinsam mit Reinhard Meyer-Hermann ging es ihm zunächst darum, ein Konzept von „Abschwächung“ an authentischem gesprächstherapeutischem Material zu überprüfen. Meyer-Hermann & Weingarten verstehen „Abschwächungen“ als Äußerungen, die „relativ zu einer hypotheti-

56 | Stand der Forschung schen, weniger abgeschwächten Variante der Äußerung […] schwächere Obligationen“ (Meyer-Hermann & Weingarten 1982: 243) beim Hörer aufbauen. Bei abgeschwächten Äußerungen bleibe dem Hörer eine größere Auswahl passender Reaktionsmöglichkeiten als bei nicht-abgeschwächten (ebd.). Dieses Konzept sprachlicher Handlungen und der Konsequenzen, die sie nach sich ziehen, ist einem sprechakttheoretischen Denken, wonach der Sprecher im Akt der Perlokution über die durch den Hörer zu vollziehenden Anschlusshandlungen einer Äußerung entscheidet, verpflichtet, so dass m. E. kein theoretische konsistentes Konzept von „Abschwächung“ entwickelt werden kann (s. a. a. O.: 245f.). Die Stärke der zitierten Studie liegt in den empirischen Beobachtungen, zu denen sie kommt. Die Autoren machen nämlich auf die wichtige Rolle aufmerksam, die „abschwächende“ sprachliche Mittel37 für die ›VEE‹ spielen. Indem Sie darauf verweisen, dass „Abschwächungsmittel […] das Maß der ‚Gesichtsbedrohung‘“ (a. a. O.: 249) reduzierten, bieten sie, Brown & Levinson (1978) folgend, auch eine Erklärung für die häufige Verwendung dieser Mittel an. Eine weitere, für den tatsächlichen Handlungsprozess bedeutsamere Aussage, schließen sie an, indem sie an einer konkreten Äußerung zeigen, dass diese ohne ‚Abschwächung‘ „derartig eng begrenzte Obligationen für den Klienten aufgebaut [hätte], daß diesem […] nur die Möglichkeit einer Ja-Nein-Reaktion bliebe“ (MeyerHermann & Weingarten 1982: 249). Die Funktion der „Abschwächung“ sehen Meyer-Hermann & Weingarten dementsprechend darin, dass sie sowohl das Thema als auch die Art der Reaktion offen lassen und ein „Angebot an den Klienten, einen ihm […] gemäßen Fokus zu wählen“ (ebd.) prozessieren. Für die hier interessierende Fragestellung bleibt festzuhalten, dass Meyer-Hermann & Weingarten im ›VEE‹ bestimmte sprachliche Mittel am Werk sehen, die den Handlungsprozess ‚offen‘ gestalten, also das Ziel haben, dem Patienten die Wahl der passenden Anschlusshandlung zu überlassen. Dieser Vorschlag über die Auswirkungen eines verschiedentlich beobachteten Phänomens (vgl. Kindt 1984: 741, Dittmar 1988: 83, Ehlich 1990, Wolff & Meier 1995: 84) auf den Handlungsprozess zwischen Therapeut und Patient wird anhand des mir vorliegenden Materials zu überprüfen sein. Dabei wird auch danach gefragt, ob und inwieweit diese Prozesse zur Wirksamkeit sprachlichen Handelns in der Psychotherapie, also zur Umstrukturierung des mentalen Bereichs des Patienten, beitragen.

37 Eine tatsächliche Bestimmung der Form-Funktions-Charakteristik von sprachlichen Mitteln dieser Art kann an dieser Stelle noch nicht erfolgen (s. aber u. Kap. 7 und Kap. 8). Es wird lediglich versucht, sich dem Phänomen über die in der Literatur vorfindbaren Beschreibungen anzunähern.

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Auf den genannten Beobachtungen baut Weingarten in einer weiteren Arbeit (1990) teilweise auf, legt insgesamt den Akzent aber auf die semantischen Relationen zwischen ›VEE‹-Äußerungen und den jeweils vorangehenden Ursprungsäußerungen des Patienten. Er unterscheidet vier Typen semantisch bestimmter Reformulierungen von Patientenäußerungen durch den Therapeuten: Spezifizierung (inhaltliche Eingrenzung, Konkretisierung), Dynamisierung (Reformulierung des fraglichen Wissenselements als Prozess), Aktivierung (der Patient wird vom Patiens zum Agens), Einstellung (Thematisierung der Einstellung des Patienten zum fraglichen Geschehen) (a. a. O.: 231ff). Dabei abstrahiert Weingarten allerdings sowohl von der Reaktion des Patienten auf die ›VEE‹ als auch vom diskursiven Zusammenhang, aus dem heraus die Ursprungsäußerung des Patienten getätigt wird. Die semantische Analyse wird also nicht eingebettet in das diskursive Geschehen. Indem außerdem von der Handlungscharakteristik der Äußerungen abgesehen wird, z. B. ein Ratschlag zusammen mit rein reformulierenden Handlungen als „Aktivierung“ gefasst wird, bleiben entscheidende Aspekte des sprachlichen Geschehens analytisch außen vor. Aussagen darüber, was das sprachliche Handeln des Therapeuten beim Patienten auslöst, können nicht getroffen werden, wenn sowohl die Reaktion des Patienten als auch die Illokution der reformulierenden Äußerung unberücksichtigt bleiben. Die vorliegende Arbeit kann daher an Weingartens semantische Analysen nicht anknüpfen. Ebenfalls vorwiegend für semantische Aspekte interessiert sich eine Arbeit von Walter Kindt (1984). Kindt strebt zwar eine Analyse der „interaktiven Behandlung von Deutungen“ (Titel) an, legt seinen Ausführungen aber Passagen aus der Gesprächstherapie zugrunde, in der die Einsicht des Patienten in die Entstehungsbedingungen psychischer Probleme und Konflikte gerade nicht als heilsam angesehen und ›Deutungen‹ grundsätzlich vermieden werden sollen (Tausch & Tausch 1979: 109f.; s. aber u. Kap. 7). Ein genauerer Blick auf das von Kindt analysierte Material bestätigt, dass es sich um ›VEE‹ handelt: mit Äußerungen wie „Du bist im Grunde genommen ziemlich wütend auf deine Mutter, dass sie mit die, zumindest mit diejenige war, die dafür gesorgt hat, daß dein Selbstbewußtsein nicht so ist, wie du es gerne hättest“ (Kindt 1984: 743) wird nicht etwa eine „Tiefendeutung“ (745), also eine ‚Erklärung‘ des Erlebens des Patienten, umgesetzt, sondern es wird versucht, den emotionalen Erlebnisgehalt dessen, was der Patient in der vorherigen Äußerung ausgedrückt hatte, zu erfassen. Auch die anderen Äußerungen, die Kindt als ›Deutungen‹ bezeichnet, versuchen, das Erleben des Patienten im Sinne einer ›VEE‹ wiederzugeben und leisten keine Rückführung des Erlebens auf zugrunde liegende Prozesse, wie es für ›Deutungen‹ charakteristisch ist (s. u. Kap. 2.3.6).

58 | Stand der Forschung Kindt sieht die ›VEE‹, die er Deutungen nennt, von „Einigungsprozessen“ (a. a. O.: 735) gekennzeichnet, welche er mit dem Konzept des „Aushandelns“ (a. a. O.: 736) beschreibt. Die erste Äußerung in einer ›VEE‹ hat demnach „Angebotscharakter“ (ebd.), ist propositional also „offen“ (ebd.) formuliert. Diese „Offenheit“ (ebd.) der ›VEE‹ ermöglicht es dem Patienten, seine Sicht der Erlebnisse einzubringen und den Aushandlungsprozess über die ›VEE‹ in Gang zu setzen. An dessen Ende kann „die Entwicklung einer gemeinsamen Position der beiden Gesprächspartner“ (ebd.) stehen. Mit diesen Beobachtungen weist Kindt darauf hin, dass es sich beim ›VEE‹ nicht notwendigerweise um einen linearen Handlungsprozess nach dem Muster ›VEE‹-Reaktion handeln muss, sondern dass eine ›VEE‹ im gemeinsamen Ausarbeitungsprozess von Patient und Therapeut weiter bearbeitet und u. U. umgewandelt wird. Außerdem beobachtet auch Kindt „bestimmte ‚Vagheitsmarkierer‘“ (a. a. O.: 741), die „die Formulierungsschärfe“ (ebd.) einschränken (ebd.). Als Beispiele nennt er „ein bißchen, irgendwie, so, oder so, oder irgendwie“ (ebd.). Stärker grammatisch orientiert geht Peter Schlobinski vor, wenn er „nichteingebettete daß-Sätze im gesprächstherapeutischen Diskurs“ (1988; Titel der Arbeit) analysiert. Obwohl Schlobinski sich damit auf eine bestimmte syntaktische Konstruktion konzentriert, macht auch er Beobachtungen das „Vagheitsrepertoire“ (a. a. O.: 48) der gesprächstherapeutischen ›VEE‹ betreffend. Er interpretiert die gesprächstherapeutische Maxime „Fühle dich ein, suche und akzeptiere“ (ebd.) als Konversationsmaxime „Sei vage“ (ebd.) und entdeckt, neben den „nicht-eingebetteten daß-Sätzen“, weitere sprachliche Mittel, die die Äußerung vage halten sollen. Dabei handelt es sich um bestimmte syntaktische Konstruktionen („Entweder-oder-Strategie“ (ebd.), „Ist-es-so-daß-p-Strategie“ (ebd.), den Konjunktiv, Verzögerungssignale, Metaphern und Partikeln. Dennoch komme den „nicht-eingebetteten daß-Sätzen“ (gemeint sind Äußerungen wie „Daß Du das irgendwie nicht fassen kannst“, die mit „dass“ beginnen, syntaktisch jedoch nicht von einer übergeordneten Konstruktion abhängen) „im gesprächstherapeutischen Diskurs eine besondere Prominenz zu“ (a. a. O.: 49), weil sie mit einem besonders hohen Empathiewert des Therapeuten (codiert nach einer gesprächstherapeutischen Skala von Tausch (1974)) korrelieren. Schlobinski führt dies darauf zurück, dass diese Konstruktionen „Leerstellen“ (1988: 50) für den Patienten eröffneten, „die dieser dann zu füllen hat“ (ebd.). Als Struktur dieser Konstruktionen arbeitet Schlobinski die Abfolge Complementizer (dass) – Adressat (z. B. Sie) – Gefühl – (das Gefühl haben) – Spezifizierung (eine Anerkennung nicht akzeptieren zu können) heraus. Diese Struktur (z. B. „daß Sie das Gefühl haben, eine Anerkennung nicht akzeptieren zu können“) ist Schlobinski zufolge im Vergleich zu einer Äußerung wie „Sie haben das Gefühl…“ „hinsichtlich Faktizität unspezifiziert und ermöglicht es somit der

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Klientin, die Bewertung gegenüber der Proposition selbst vorzunehmen. Der Klient ist gefordert, Stellung zum fokussierten Teil zu beziehen“ (a. a. O.: 48). Schlobinski arbeitet an dieser Konstruktion zwei Merkmale heraus, die sich auf das Verhältnis von sprachlich-interaktiven und mentalen Prozessen in der Gesprächstherapie beziehen. Die Äußerungen des Therapeuten sind demnach so formuliert, dass eine „Proposition“ (ebd.) zwar prozessiert und nachvollziehbar gemacht wird, dass die Bewertung, ob dieser propositionale Gehalt die Wirklichkeit (die auch die Empfindungen und Gedanken des Patienten umfasst) richtig wiedergibt, allerdings vom Patienten selbst gemacht werden muss. Dem Hörer wird also ein bestimmtes Wissen zugänglich gemacht, die Aneignung bzw. Übernahme dieses Wissens muss jedoch durch ihn selbst erfolgen. Schlobinski weist damit, ähnlich wie Baus & Sandig (1985), auf eine mentale Aktivierung des Patienten durch das ›VEE‹ hin. Offen bleibt, welche illokutive Charakteristik einer solchen syntaktischen Konstruktion (Complementizer & Nebensatz, ohne übergeordneten Matrixsatz) eigentlich zuzuschreiben ist (s. dazu u. Kap. 8). Indem Schlobinski außerdem auf die Anforderung an den Patienten verweist, zu diesem propositionalen Gehalt Stellung zu nehmen, macht er deutlich, dass eine rein mentale Bewertung nicht ausreicht, sondern dass es in der Therapie auch um die interaktive Umsetzung dieses Bewertungsvorganges geht. Schlobinskis Beobachtungen sind an dem hier vorliegenden Material zu überprüfen. Zu fragen ist, ob „nicht-eingebettete-daß-Sätze“ tatsächlich in der von Schlobinski beobachteten Art und Weise verwendet werden und ob sie die von ihm beschriebene Auswirkung hinsichtlich der Bewertung von Propositionen haben. Außerdem stellt sich die Frage, ob sich diese Funktion, wie von Schlobinski behauptet, tatsächlich nur auf „nicht-eingebettete daß-Sätze“ beschränkt. Zur Beantwortung dieser Fragen ist auch die Reaktion des Patienten, die Schlobinski weitgehend außer Acht lässt, zu berücksichtigen, es wird also auch danach gefragt, ob und wie die angeforderte Nach-Außen-Setzung der Bewertung durch den Patienten tatsächlich geschieht und was das über die mentale Verarbeitung der ›VEE‹ durch den Patienten aussagt. Auch die Verbindung zu vorangehenden sprachlichen Handlungen von Therapeut und Patient sowie schließlich auch zum therapeutischen Effekt des sprachlichen Handelns ist zu diskutieren. Die Gesamtschau der Untersuchungen zum gesprächstherapeutischen ›VEE‹ ergibt ein recht lückenhaftes Bild, allerdings auch einige wichtige Beobachtungen, die in meiner Arbeit überprüft und wenn möglich als Ausgangspunkt weiterer Analysen dienen sollen. Daher werden diese wesentlichen Punkte aus der Literatur im Folgenden noch einmal kurz zusammengefasst:

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Baus & Sandig (1985) beobachten an der sprachlichen Oberfläche zwei Phänomene, die auf eine besonders starke Aktivierung des Patienten durch den Therapeuten hinweisen. Zum einen sind die Interventionen des Therapeuten häufig fragend intoniert, so dass eine Reaktion des Patienten erwartbar wird. Zum anderen werden die ›VEE‹ häufig aus Sicht des Patienten formuliert, was diesem den Nachvollzug des fraglichen Wissens erleichtern könnte. Meyer-Hermann & Weingarten (1982) betonen das Phänomen der ‚Abschwächung‘ von ›VEE‹. Die interaktive Folge davon sehen sie darin, dass die Wahl geeigneter Anschlusshandlungen möglichst offen gelassen wird. Der Patient erhält so einen höheren Handlungsspielraum, kann eher selbst entscheiden, wie er auf eine ›VEE‹ reagiert. Kindt (1984) sieht die ›VEE‹ von Aushandlungsprozessen gekennzeichnet. Die ›VEE‹ ist propositional „offen“ (a. a. O.: 740) formuliert, hat dadurch „Angebotscharakter“ (ebd.) und lädt den Patienten ein, sein Wissen einzubringen. Kindt weist damit auf den Prozesscharakter von ›VEE‹ hin: ›VEE‹ können interaktiv bearbeitet werden, das Wissen des Patienten wird in einem Prozess umstrukturiert, an dem Therapeut und Patient beteiligt sind. Schlobinski (1988) schließlich macht auf die Bedeutung der Bewertung propositionaler Gehalte durch den Patienten aufmerksam. Die „nichteingebetteten daß-Sätze“ erlauben es dem Therapeuten, eine Proposition zwar zu formulieren, die Bewertung hinsichtlich „Faktizität“ (a. a. O.: 48) aber offen zu lassen. Damit sei der Patient gefordert, selbst zu entscheiden, ob die formulierte Proposition der Wirklichkeit entspricht, und diese Entscheidung anschließend sprachlich umzusetzen.

2.3.6 ›Deuten‹ Zum tiefenpsychologischen bzw. psychoanalytischen ›Deuten‹ liegt eine Handvoll linguistischer Untersuchungen vor, die im Folgenden grob in handlungstheoretisch und konversationsanalytisch orientierte unterteilt werden. Jenseits dieser Unterteilung liegt eine Studie von Jutta Gutwinski-Jeggle (1987), die zwar auch auf Elemente der Sprechakttheorie zurückgreift, vorwiegend aber eine psychoanalytische Perspektive einnimmt. Da dabei auf einige Punkte hingewiesen wird, die für die Praxis des ›Deutens‹ relevant sein können, wird die Studie kurz referiert. Gutwinski-Jeggle bezeichnet die Deutung als „das zentrale Behandlungsinstrument, das die ärztliche Hand durch einen verbalen Eingriff ersetzt“ (a. a. O.: 38). Die ›Deutung‹ leiste eine „Bewusstseinserweitertung“ (ebd.),

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durch die die „abgespaltenen Anteile des Ich reintegriert“ (ebd. 38f.) werden. Daneben fasst Gutwinski-Jeggle das ›Deuten‹ als „Hindeuten auf bisher noch nicht Gesehenes“ (a. a. O.: 47) und weist damit auf die Doppeldeutigkeit von „Deuten“ hin, die in der Literatur, die ›Deuten‹ in der Regel nur als Auslegen, also als Deuten von etwas konzipiert, nicht gesehen wird. Demgegenüber handelt es sich auch um ein Deuten auf etwas, und zwar auf „ein zweites unbewußtes Thema“ (a. a. O.: 43), das vom Patienten in seinen Äußerungen zwar mitprozessiert, aber als solches nicht erkannt wird (ebd.). Als praktizierende Psychoanalytikerin trifft Gutwinski-Jeggle auch Aussagen über die sprachliche Form der ›Deutung‹, allerdings ohne diese an Daten zu belegen. Als Deutender versuche man, der ›Deutung‹ eine Form zu geben, „die der Patient annehmen, ja aushalten kann, ohne gegen sie sofort neue Abwehrmaßnahmen mobilisieren zu müssen“ (a. a. O.: 45). Daher habe die ›Deutung‹ „hypothetische Qualität“ (a. a. O.: 49) und diene „dem Patienten als Vorschlag, mit dem er sich auseinandersetzen kann, und ihre assertive illokutive Kraft ist abgeschwächt“ (ebd.). Mit einem Freud-Zitat weist Gutwinski-Jeggle außerdem auf die Bedeutung hin, die der Positionierung der ›Deutung‹ im Diskurs zukommt: „Sie begehen einen schweren Fehler, wenn Sie etwa im Bestreben, die Analyse zu verkürzen, den Patienten Ihre Deutungen an den Kopf werfen, sobald Sie sie gefunden haben. Sie erzielen damit bei ihm Äußerungen von Widerstand, Ablehnung, Entrüstung, erreichen es aber nicht, dass sein Ich sich des Verdrängten bemächtigt. Die Vorschrift ist, zu warten, bis er sich diesem soweit genähert hat, dass er unter Anleitung Ihres Deutungsvorschlages nur noch wenige Schritte zu machen braucht“ (Freud 1948b: 250f)

Dieses Zitat bestätigt den hindeutenden Charakter der ›Deutung‹: es handelt sich nicht etwa um ein Auslegen dessen, was der Patient gerade gesagt hatte, sondern um ein Deuten auf etwas, von dem der Therapeut im Gegensatz zum Patienten bereits seit längerer Zeit weiß. Betont wird die Bedeutung des richtigen Zeitpunkts für die ›Deutung‹. Dabei wird auch erkennbar, wie ‚Zeitpunk‘t in der Therapie nach Freud zu verstehen ist: Nicht etwa nominal im Sinne von Stunden, Minuten oder der Anzahl therapeutischer Sitzungen, sondern als das Fortschreiten der Behandlung entlang einer Handlungslinie. Wenn auf dieser Handlungslinie ein bestimmter Punkt erreicht ist, kann die ›Deutung‹ vom Patienten angenommen und verarbeitet werden, damit ist der richtige ‚Zeitpunkt‘ für die Verbalisierung des deutenden Wissens gekommen. Das Wissen, das in der ›Deutung‹ verbalisiert wird, ist also nicht in der aktuellen Sprechsituation entstanden, sondern liegt beim Therapeuten schon länger vor. Die aktuelle Sprechsituation ist insofern von Bedeutung, als sie vom Therapeuten so einge-

62 | Stand der Forschung schätzt wird, dass das deutende Wissen vom Patienten in dieser Situation akzeptiert werden kann. Gutwinski-Jeggle weist so auf einige Punkte hin, die für die Untersuchung des ›Deutens‹ anhand authentischer Daten aus der Psychotherapie von Bedeutung sein können: – Sie versteht ›Deuten‹ als Hindeuten. Es geht also nicht nur um ein Deuten von etwas, sondern auch um ein Deuten auf etwas, was dadurch erst für den Patienten sichtbar wird. – Im Anschluss an Freud betont Gutwinski-Jeggle, dass das deutende Wissen beim Therapeuten zeitlich schon deutlich vor der sprachlichen Realisierung der ›Deutung‹ vorliegt, dass also die Entstehung des deutenden Wissens und seine sprachliche Realisierung zeitlich und handlungssystematisch in der Regel auseinander fallen. – Außerdem spricht sie von der „hypothetische[n] Qualität“ (a. a. O.: 49) der ›Deutung‹, die als „Vorschlag“ (ebd.) realisiert werde. Damit macht sie eine Aussage über die Illokution des ›Deutens‹.

2.3.6.1 Handlungstheoretische Untersuchungen des ›Deutens‹ Dieter Flader und Wolf-Dietrich Grodzicki haben sich dem ›Deuten‹ aus einer handlungstheoretisch-psychoanalytischen Perspektive genähert. Dabei greifen sie auf die Untersuchungen, die im Projekt „Diskursstrukturen der psychoanalytischen Therapie“ zum psychoanalytischen Diskurs gemacht wurden, zurück (s. o. S. 15ff) und gehen für die Psychotherapie von eingeschränkter Kooperativität aus. Diese Einschränkung wirkt sich zum einen so aus, dass der Therapeut bestimmte im Alltag erwartbare Reaktionen unterlässt (Flader & Grodzicki 1982a: 168), zum anderen ermöglicht sie das Verstoßen gegen das Prinzip, „daß der Kommunikationspartner als selbstmächtig für die Darstellung/ Interpretation seiner Handlungen und den sprachlichen Ausdruck seiner emotionalen Befindlichkeit angesehen wird“ (169). In der Möglichkeit, gegen dieses Prinzip zu verstoßen, sehen Flader & Grodzicki die diskursstrukturelle Grundlage der ›Deutung‹ gegeben, mit der, so auch Schröter (1979), der Patient wie jemand behandelt werde, der „nicht in vollem Umfang weiß, was er sagt“ (Schröter 1979: 182; vgl. Habermas 1971: 118f.). Der Patient billigt dem Therapeuten einen Wissensvorsprung und seinen Äußerungen eine therapeutische Zweckhaftigkeit zu und ist daher bereit, Äußerungen wie die ›Deutung‹, die ihn über sein eigenes Erleben und dessen Hintergründe aufklären, zu akzeptieren (Flader & Grodzicki 1982a: 169f.). Ehlich (1990) spricht in diesem Zusammenhang davon, dass die im Alltag gültige „Kooperativität erster Stufe“ suspendiert wird zugunsten einer „Kooperativität zweiter Stufe“ (210), auf der die psychoanalytische

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›Deutung‹ basiert. Die psychoanalytische Technik der ›Deutung‹ wird aus dieser Perspektive also durch die strukturellen Eigenheiten des psychotherapeutischen Diskurses ermöglicht. Strittiger als diese Basierung der ›Deutung‹ in den diskursstrukturellen Merkmalen der Psychoanalyse erscheinen die Aussagen, die Flader & Grodzicki über die Illokution des ›Deutens‹ treffen: „Der Analytiker leitet mit seiner Deutungsäußerung im Gesprächsablauf einen Wechsel des Handlungsmusters ein. Er initiiert das Dialogmuster von Frage und Antwort in einer Form, die man eine ‚Musterinitiierung durch Positionierung der zweiten Handlung‘ nennen kann: Er gibt eine Äußerung, die in dem Kontext, in dem sie steht, dann als angemessener Handlungsschritt von seiner Seite verstanden werden kann, wenn man sie als eine Antwort auf eine selbst-problematisierende Frage der Patientin ‚hört‘, die diese faktisch zwar nicht gestellt hat, die aber in dem Kontext ihrerseits angemessen wäre“ (Flader & Grodzicki 1982a: 172)

Das ›Deuten‹ wird verstanden als eine Antwort, die vom Therapeuten gegeben wird, obwohl vom Patienten zuvor keine Frage gestellt worden war. Aufgabe des Patienten ist es demnach im Anschluss an die Deutung, die Position des Fragenden einzunehmen, also die zur Antwort des Therapeuten passende Frage zu finden (ebd.). Aus dieser Frageposition heraus wird die Deutung verstehbar und kann dem Patienten zu neuen Einsichten in das eigene Leben und Erleben und dessen Hintergründe verhelfen. Diese Charakterisierung der ›Deutung‹ als Antwort auf eine nicht-gestellte Frage hat Konrad Ehlich (1990) aufgegriffen und mit Blick auf die ablaufenden mentalen Prozesse en détail ausgearbeitet. Dabei behandelt er zunächst die alltägliche Realisierung des Frage-Antwort-Musters, bei der die Frage vor der Antwort formuliert wird. Ehlich betont, dass zum Nicht-Wissen, das Voraussetzung für eine Frage ist, ein spezifisches Wissen der Gestalt gehört, dass der Fragende wissen muss, dass ihm zu einem bestimmten Thema Wissen fehlt (a. a. O.: 212). Die Frage geht von einem „bestimmten Nicht-Wissen“ (ebd.) aus. In der Antwort wird, wenn das Muster seinen Zweck erfüllt, dieses fehlende Wissen vom Interaktionspartner verbalisiert, so dass der Fragende in der Lage ist, aus dem bei ihm bereits vorhandenen und dem für ihn neuen Wissen eine übergeordnete Wissenseinheit zu bilden (a. a. O.: 212ff). Von diesem Alltagsmuster ausgehend arbeitet Ehlich die Spezifik des ›Deutens‹ als Antwort auf eine nicht-gestellte Frage heraus. Ausgangspunkt ist demnach eine Äußerung des Patienten, der der Therapeut eine Wissenseinheit entnimmt, die „weder ausgedrückt noch [...] dem Sprecher S als solche klar ist“ (a. a. O.: 218). Der Therapeut erkennt, dass sich diese Wissenseinheit mittels einer weiteren Wissenseinheit, die er in seinem professionellen Wissen findet,

64 | Stand der Forschung zu einer übergeordneten Wissenseinheit zusammensetzen lässt. Er formuliert diese zusammengesetzte Wissenseinheit als ›Deutung‹ (a. a. O.: 219f.). Die Reaktion darauf ist zunächst Überraschung und Verwirrung, allerdings geht der Patient grundsätzlich von der Kooperativität („Kooperativität zweiter Stufe“) des Therapeuten aus und versucht daher, den Sinn der ›Deutung‹ zu verstehen. Er sucht in seinem Wissen nach den in der ›Deutung‹ ausgedrückten Wissenseinheiten (a. a. O.: 220f.) und vollzieht damit diejenigen mentalen Prozesse, „die dem Frage-Stellen im alltäglichen Muster vorausgehen“ (a. a. O.: 222). Dieser Vorgang ist laut Ehlich wesentlich für den Erfolg der Psychoanalyse, durch ihn werden verdrängte Probleme ins Bewusstsein geholt und bearbeitbar gemacht (ebd.). Gelingt dies, ist also die ›Deutung‹ korrekt und der Patient in der Lage, den Verdrängungsmechanismus zu überwinden, sollte er nun aus dem neuen, bewusst gemachten Wissenselement und dem ihm schon bekannten Wissen eine übergeordnete Wissenseinheit bilden können (a. a. O.: 222f.). Unterschiede zum Frage-Anwort-Muster des Alltags sind laut Ehlich darin zu sehen, dass der Handlungsprozess mit der Antwort beginnt und dass eine Frage überhaupt nicht verbalisiert wird. Stattdessen vollzieht der Patient bei gelingender Deutung einen mentalen „Sprung“ (a. a. O.: 220) von der Antwort des Therapeuten zum Beginn der Alltagsmusters, also der Identifikation des bestimmten Nicht-Wissens, das durch die ›Deutung‹ in Wissen umgewandelt werden soll (ebd.). Ehlich leitet aus der Analyse der mentalen Prozesse auch Überlegungen zur formalen Charakteristik des ›Deutens‹ ab. Das deutende Wissen wird laut Ehlich durch Schlussprozeduren, die auf professionalisierten mentalen Strukturen des Therapeuten basieren, generiert. Es wird nicht unmittelbar durch eigene Anschauung oder Erfahrung gewonnen, sondern als zusammengesetztes Wissen mithilfe anderer Wissenselemente produziert. Eine Überprüfung an der Wirklichkeit ist für den Therapeuten alleine kaum möglich, sie kann nur mithilfe des Patienten erfolgen. Ehlich spricht daher von der „notwendig hypothetischen Qualität der Verbalisierung“ (a. a. O.: 219) von ›Deutungen‹ und geht von einer tentativen Realisierung aus (ebd.). Die „assertive illokutive Kraft“ (ebd.) der ›Deutung‹ sei gegenüber der Antwort im Alltag „tendenziell abgeschwächt“ (ebd.).38

38 Ehlichs Überlegungen zur sprachlichen Realisierung der ›Deutung‹ treffen sich mit einigen Aussagen von Jutta Gutwinski-Jeggle (1987; s. o. S. 60ff). Gutwinksi-Jeggle war Ehlichs später veröffentlichte Arbeit als Manuskript zugänglich, daher ist eine gegenseitige Beeinflussung der beiden Arbeiten anzunehmen.

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Auf Ehlichs Ausarbeitung des ›Deutens‹ als Antwort auf eine nicht-gestellte Frage haben Flader & Grodzicki (1987)39 ihrerseits noch einmal reagiert. Sie betonen, dass es sich bei der ›Deutung‹ um eine Antwort auf eine nicht-gestellte selbstproblematisierende Frage handele, wohingegen Ehlichs Musteranalyse von „der ‚echten‘ Informationsfrage“ (a. a. O.: 41) ausgehe. Selbstproblematisierende Fragen seien Fragen, die man sich in einem inneren Dialog mit sich selbst stelle, die also per se nicht an einen Hörer adressiert seien, sondern auf das Sprecher-Wissen zielten. Als Beispiel für eine selbst-problematisierende Frage geben Flader & Grodzicki: „Habe ich mich in ihm getäuscht?“ (a. a. O.: 43) an. Den entscheidenden Unterschied zwischen dem Alltagsmuster der selbstproblematisierenden Frage und der ›Deutung‹ sehen Flader & Grodzicki darin, dass nicht der fragende Patient, sondern der antwortende Therapeut darüber entscheidet, welcher Teil des Selbst des Patienten thematisiert und problematisiert wird (a. a. O.: 47). So wird durch die ›Deutung‹ „typischerweise am Patienten ein Teil seines Selbst angesprochen, den dieser von sich aus nicht problematisieren würde“ (ebd.) und auf diese Weise auf verdrängte Wissensbestände eingewirkt (a. a. O.: 50ff). In dieser Möglichkeit des Therapeuten, in der ›Deutung‹ Themenbereiche anzusprechen, die für den Patienten nicht bewusst zugänglich sind, ist Flader & Grodzicki zufolge also ein wesentlicher Aspekt von ›Deutungen‹ zu sehen. Auch hinsichtlich der auf der Seite des Patienten ablaufenden mentalen Prozesse sehen Flader & Grodzicki das ›Deuten‹ teilweise anders als von Ehlich beschrieben. Sie gehen davon aus, dass das Stellen einer selbstproblematisierenden Frage von der Art „Was ist eigentlich mit mir los?“ (a. a. O.: 45) eine Voraussetzung für den Beginn einer Psychotherapie ist, dass daher für den Patienten „eine Bereitschaft anzunehmen [ist], sich eine ähnliche Frage zu stellen, wie die, die die Deutung voraussetzt“ (ebd.). Daher komme es auf der Seite des Patienten nicht zu einem mentalen „Sprung“ (Ehlich 1990: 220) an den Anfang des Musters, vielmehr befinde sich der Patient bereits zu Beginn der ›Deutung‹ an dieser Position (Flader & Grodzicki 1987: 45). Der Patient verfüge außerdem bereits an dieser Position, also noch vor der Verbalisierung der ›Deutung‹, über das deutende Wissen, dieses liege jedoch lediglich als „latente[s] Handlungswissen“ (a. a. O.: 46) vor. Daher, so Flader & Grodzicki, kommt es mit der ›Deutung‹ zu einem „Evidenzerlebnis“ (ebd.) auf Seiten des Patienten, in dessen Zuge das latent vorliegende Wissen bewusst wird. Der Patient müsse

39 Ehlichs Musteranalyse wurde 1990 publiziert, lag Flader und Grodzicki jedoch bereits als Manuskript vor. Daher konnten sie – gewissermaßen in Analogie zum behandelten Thema – bereits 1987 eine Reaktion auf eine noch nicht gegebene Antwort formulieren.

66 | Stand der Forschung also nicht, wie von Ehlich dargestellt, ein spezifisches Nicht-Wissen ausfindig machen, sondern lediglich das bisher latente Wissen aktivieren. Flader & Grodzicki greifen damit auf die psychoanalytische Unterscheidung zwischen latentem und manifestem Wissen40 zurück und erweitern so die handlungstheoretische Dichotomie von Nicht-Wissen und Wissen. Inwiefern allerdings von einem „latenten Handlungswissen“ (ebd.) gesprochen werden kann, wenn dieses im Handlungsprozess nicht genutzt und nur von Agenten einer medizinischen Institution überhaupt bewusst gemacht werden kann, bleibt m. E. handlungstheoretisch fraglich.41 Zu kritisieren ist allerdings nicht nur die handlungstheoretisch fragwürdige Unterscheidung von latentem und manifestem Handlungswissen, die Flader & Grodzicki vornehmen, sondern insbesondere der unsichere empirische Status der Daten, auf denen sie, und im Anschluss daran notwendigerweise auch Ehlich, ihre Ausführungen basieren. Die Charakterisierung der ›Deutung‹ als Antwort auf eine nicht-gestellte Frage machen Flader & Grodzicki an dem folgenden Beispiel fest: „Länger laufende Analyse. Die Patientin schweigt viel und lange. Bisher gelang nur ein unbefriedigendes Verständnis dieses Verhaltens. Eines Tages erzählt sie von der Mutter, daß sie oft so lange geschwiegen habe, das sei immer Unheil verkündend und Angst machend gewesen. Als die Patientin dann eine ganze Weile schweigt, fällt die Deutung: A.: ‚Sie kündigen mir Unheil an und wollen mir Angst machen, wie es die Mutter mit Ihnen machte, wenn sie schwieg.‘ (Die Patientin stimmt der Deutung zu, schweigt dann aber längere Zeit wieder. Später sagt sie, daß die Deutung sie sehr getroffen hat, weil sie feststellen muß, daß sie der Mutter,

40 Diese Unterscheidung geht auf Freuds Feststellung, dass hinter dem manifesten Trauminhalt noch ein latenter Trauminhalt liegt, zurück. Der Unterschied zwischen beiden kommt Freud zufolge durch die Wirkung von ›Abwehr‹ und ›Widerstand‹ zustande, die als psychische Zensur auftreten und dem eigentlichen, latenten, Trauminhalt eine für das Bewusstsein akzeptablere, manifeste Form geben (Freud 1948c). 41 Auch für alltägliches Handeln ist davon auszugehen, dass das zugrunde liegende Handlungswissen häufig unbewusst bleibt (vgl. z. B. die Wissensstrukturtypen des „Musterwissens“ oder „Routinewissens“ nach Ehlich & Rehbein (1977), für die es geradezu charakteristisch ist, dass auf sie ohne bewusste Reflexion zurückgegriffen wird). Allerdings kann dieses Handlungswissen in der Regel vergleichsweise einfach – etwa durch Fragen – bewusst gemacht und verändert werden,wohingegen es sich bei dem „latenten Handlungswissen“ nach Flader & Grodzicki augenscheinlich um Wissen handelt, das eben nur durch die ›Deutung‹ eines dafür ausgebildeten Spezialisten bewusst gemacht und vom Handelnden also nicht für seine Handlungen genutzt werden kann.

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die von ihr zutiefst gehaßt wird, in einem bestimmten Bereich ähnelt, was sie zuvor nicht gesehen hatte.)“ (Flader & Grodzicki 1982a: 165f.)

Die Diskussion basiert also auf lediglich einem konkret überlieferten Satz, der ohne erkennbares Transkriptionssystem, das wichtige Charakteristika gesprochener Sprache, wie Simultaneität, Intonation usw. festhielte, wiedergegeben wird. Äußerungen der Patientin sind wörtlich überhaupt nicht überliefert, obwohl sie, wie die Umschreibungen von Flader & Grodzicki zeigen, wesentliche Elemente von Vor- und Nachgeschichte der fraglichen ›Deutung‹ ausmachen. Wie eine ›Deutung‹ in einem bestimmten diskursiven Zusammenhang realisiert wird und welche Wirkung sie auf den Patienten hat, wird jedoch nur nachvollziehbar, wenn dieser diskursive Zusammenhang im Transkript erscheint und die sprachlichen Handlungen beider Aktanten wiedergegeben werden. Mit dem von Flader & Grodzicki zugrundegelegten Material ist der Leser für den Nachvollzug der vorgelegten Analysen dagegen auf die Umschreibungen des Gesprächsverlaufs durch den behandelnden Analytiker angewiesen. Aufgrund dieser eher dürftigen empirischen Grundlage sind die in der Diskussion gewonnen Ergebnisse mitunter schwer nachvollziehbar und können nur unter Vorbehalt als geltendes Wissen übernommen werden.42 Gleichwohl wurde auf mögliche Merkmale des ›Deutens‹ hingewiesen, die in meiner Untersuchung auf einer breiteren empirischen Grundlage überprüft werden können: – als Grundlage für das ›Deuten‹ werden spezifische diskursstrukturelle Merkmale gesehen. Der therapeutische Diskurs zeichnet sich zwar durch eine teilweise suspendierte „Kooperativität erster Stufe“ aus, ersetzt diese aber durch eine „Kooperativität zweiter Stufe“ (Ehlich 1990: 210). Diese „Kooperativität zweiter Stufe“ kommt durch eine veränderte Haltung des Patienten zu den Beiträgen des Gesprächspartners zustande: während es im Alltag nicht üblich ist, dem Gesprächspartner zu sagen, was er warum empfindet, ist dies in der Therapie aufgrund des vom Patienten vorausgesetzten Wissensvorsprungs des Therapeuten möglich. Der Patient akzeptiert daher Äußerungen, die er im alltäglichen Gespräch nicht akzeptieren würde. Bei der „Kooperativität zweiter Stufe“, so ist aus diesen Ausführungen zu

42 Die schwache empirische Basierung ist ein generelles Manko vieler Untersuchungen von Psychotherapie. Eine Reihe von Arbeiten muss gar gänzlich ohne Material auskommen. Ein Grund dafür ist sicher in einem unter Therapeuten lange Zeit verbreiteten Misstrauen gegenüber der Erforschung von Therapie zu sehen („Das Gespräch, in dem die psychoanalytische Behandlung besteht, verträgt keinen Zuhörer“ (Freud 1948c: 10)), ein weiterer in der gesellschaftlichen Tabuisierung psychischer Krankheiten, mit der sich auf Seiten vieler Patienten eine große Angst vor dem Bekanntwerden ihrer Behandlung verbindet.

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schließen, handelt es sich um eine im Vergleich zum Alltag veränderte mentale Struktur, die auf der institutionell gegebenen Konstellation des therapeutischen Gesprächs, die durch den Leidensdruck des Patienten und den angenommenen Wissensvorsprung des Therapeuten gekennzeichnet ist, basiert. das ›Deuten‹ wird in allen drei Beiträgen als Antwort auf eine nicht-gestellte Frage konzipiert. Damit wird ein Vorschlag über die Illokution des ›Deutens‹ vorgelegt. Ehlich (1990) unterzieht die mentalen Prozesse beim ›Deuten‹ einer genauen Analyse. Der Therapeut entnimmt den Äußerungen des Patienten Wissen, das von diesem nicht bewusst ausgedrückt wird. Aufgrund seines professionellen Wissens kann er aus diesem Wissen weitere übergeordnete Wissenseinheiten aufbauen, die das Leben und Erleben des Patienten auf eine für ihn neue Art und Weise erklären. In der ›Deutung‹ werden diese Wissenseinheiten nach außen gesetzt. Indem Ehlich das ›Deuten‹ auf diese Weise ausbuchstabiert und konkretisiert, leistet er nicht nur einen wichtigen Beitrag zur Entmystifizierung eines geheimnisumwitterten therapeutischen Instruments, sondern liefert auch Vorarbeiten für die handlungstheoretische Analyse mentaler Prozesse in der Psychotherapie, die im Folgenden genutzt werden können. Aufbauend auf der Analyse der mentalen Prozesse beim ›Deuten‹ kommt Ehlich zu Aussagen über die formale Charakteristik des ›Deutens‹. Er spricht von der „notwendig hypothetischen Qualität der Verbalisierung“ (1990: 219), die „mit hoher Wahrscheinlichkeit tentativ“ (ebd.) realisiert wird. Die „assertive illokutive Kraft“ (ebd.) der ›Deutung‹ ist daher „tendenziell abgeschwächt“ (ebd.).

2.3.6.2 Konversationsanalytische Untersuchungen des ›Deutens‹ Neben handlungstheoretischen Arbeiten zum ›Deuten‹ liegen insbesondere Studien aus konversationsanalytischer Perspektive vor. Einen besonders pointierten Standpunkt nimmt eine Arbeit von Stephan Wolff ein. In einem Band, der sich vorwiegend an die Praktiker der Psychotherapie richtet (Buchholz & U. Streeck 1994), legt Wolff, aufbauend auf der ethnomethodologischen Konversationsanalyse, „Innovative Strategien qualitativer Sozialforschung“ (1994a; Titel der Arbeit) vor. Dabei beobachtet er, „daß Deutungen typischerweise dann ‚glücken‘, wenn sie eine mittlere Distanz zur eingespielten Interpretation des Patienten haben“ (a. a. O.: 59). Aus psychoanalytischer Sicht seien ›Deutungen‹

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dieser Art „Trivial-Deutungen oder gar […] manifeste[n] GegenÜbertragungen43“ (ebd.), aus konversationsanalytischer Perspektive sei dagegen entscheidend, dass sie es dem Patienten ermöglichten, „Anschlüsse zu finden, das [Gesprächs-]System am arbeiten zu halten” (ebd.). Wolff fragt also nicht, was mit ›Deutungen‹ ausgedrückt wird oder was sie beim Patienten auslösen, sondern danach, ob und wie das Gespräch nach einer ›Deutung‹ fortgesetzt wird. Er nimmt damit eine Perspektive ein, die strikt an den sequentiellen Abläufen an der Oberfläche des sprachlichen Geschehens orientiert ist und die er anschließend noch zuspitzt. Wolff konstatiert eine asymmetrische Beziehung zwischen den Beteiligten: der Therapeut kann den Patienten deuten und beratschlagen, umgekehrt gilt dies nicht (a. a. O.: 60). Allerdings sei eine ›Deutung‹ auch immer eine riskante Handlung, denn „eine Ablehnung der Deutung oder des Ratschlags läßt die für diese Handlungsform notwendige Asymmetrie der Beteiligten zusammenbrechen“ (ebd.). Wolff geht also davon aus, dass sich nicht nur die Beziehung zwischen den Beteiligten, sondern auch die strukturellen Eigenschaften des Diskurses mit einer Handlung grundlegend verändern können, belegt aber diese Annahmen im Einzelnen nicht an konkreten Daten, so dass sich ihr Zustandekommen nicht genau nachvollziehen lässt. Darüber hinaus geht Wolff geht davon aus, dass sich die Beziehung zwischen Therapeut und Patient auch nachhaltig festigen kann, so dass ›Deutungen‹ dann eine andere Rolle zukommt: „Dann nämlich ähneln Deutungen für den Konversationsanalytiker Gehorsamsproben der Art, wie ein Tierbändiger seinen Kopf in den Rachen des Löwen legt. Indem der Löwe eben nicht zubeißt (bzw. allzu massive Widerstände zeigt oder doch an diesen zu arbeiten bereit ist) bestätigt er das bestehende Arrangement und demonstriert seine Bereitschaft, die gemeinsame Aufführung weiter mitzutragen. Gerade weil sie dem Klienten die Möglichkeit einräumen, ‚nein‘ zu sagen, sind Deutungen ein Weg, die Dominanz der Experten als soziale Realität zu etablieren“ (Wolff: 1994a: 60)

An diesem Zitat lässt sich die Perspektive, von der aus sich einige Untersuchungen der Psychotherapie nähern, sehr gut illustrieren. In Frage steht hier nicht, was die Therapie beim Patienten auslöst, sondern ausschließlich, wie er auf

43 Unter ›Gegenübertragung‹ versteht man „die kognitiven und emotionalen Reaktionen (Gedanken, Affekte, Phantasien, Handlungen) des Therapeuten“ (Reimer 2000: 44) gegenüber dem Patienten. Das Phänomen der ›Gegenübertragung‹ wurde traditionell als Fehlverhalten des Therapeuten verstanden, weil von dem angestrebten neutralen, emotionslosen ‚Spiegel‘Ich des klassischen Analytikers Freudscher Prägung abgewichen wird (für eine begriffshistorische Darstellung s. Sandler u. a. 1991: 59ff). In diesem Sinne scheint der Ausdruck hier von Wolff benutzt zu werden.

70 | Stand der Forschung einzelne sprachliche Handlungen des Therapeuten reagiert. Therapie erscheint weniger als auf die Heilung des Patienten ausgerichtete gesellschaftliche Institution, denn als selbstgenügsames Spiel um Einfluss auf den Anderen und das sprachliche Geschehen. Die Analyse orientiert sich an den auf der Oberfläche erkennbaren Turneinheiten, mentale Prozesse oder Handlungseinheiten, die über den einzelnen Turn hinausgehen, werden nicht berücksichtig. Das Gespräch wird konzipiert als selbstsuffizientes, selbsterhaltendes System, vordringliche Aufgabe jeder Äußerung ist es, das perpetuum mobile in Bewegung zu halten. Aus dieser Perspektive erklären sich einige Eigenheiten von Wolffs Analyse, die im Folgenden problematisiert werden sollen. Zunächst erscheint die Parallelisierung von Therapie und Beratung, die Wolff vornimmt (z. B. a. a. O.: 59f.), aus einer Perspektive, die ausschließlich die Oberfläche des sprachlichen Geschehens in den Blick nimmt, verständlich. Trotz der grundsätzlichen formalen und vor allem funktionalen Unterschiede zwischen den beiden institutionell basierten Diskursarten (s. u. Kap. 4.1) gibt es einige Überschneidungen hinsichtlich des Settings der Diskurse: in beiden Fällen sitzt eine Experte einem hilfesuchenden Laien gegenüber, beide Male wird der institutionelle Zweck vorwiegend sprachlich realisiert. Aufgrund der konversationsanalytisch geforderten Nichtberücksichtigung der Zweckcharakteristik institutioneller Diskurse können diese formalen Überschneidungen zu einer Gleichsetzung beider Diskursformen führen. Ähnliches gilt für die angenommene Äquivalenz von ›Deutung‹ und „Ratschlag“, die zwar jeweils unterschiedliche mentale Prozesse beim Hörer auslösen und dementsprechend auch unterschiedliche Zwecke prozessieren, an der Oberfläche aber zunächst ähnliche Reaktionen – Zustimmung, Ablehnung u. ä. – nach sich ziehen können. Während diese Punkte also aus dem verfolgten theoretischen Paradigma heraus verstanden werden können, wäre die Tatsache, dass Wolff nicht angibt, woran er ›Deutungen‹ eigentlich erkennt, wie er also zum Gegenstand seiner Ausführungen gekommen ist, auch aus konversationsanalytischer Perspektive zu kritisieren. Während bei den Arbeiten von Flader & Grodzicki und Ehlich eindeutig ist, dass ein psychoanalytisches Verständnis von ›Deutung‹ Ausgangspunkt der Analysen ist und die Identifizierung des zu analysierenden Materials anleitet, wird dies von Wolff nicht offenbar gemacht. Der Leser kann daher nicht sicher sein, ob verschiedene Autoren unter „Deutung“ nicht etwas

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Unterschiedliches verstehen und sich die Varianz der Ergebnisse damit nicht auch aus der Varianz des Gegenstandes ergibt.44 Dennoch scheint Wolffs Beobachtung, dass Deutungen mit „mittlerer Distanz“ (1994a: 59) am erfolgreichsten sind, interessant. Denkbar wäre, dass Wolff damit eine konversationsanalytische Übersetzung von Freuds Empfehlung, die ›Deutung‹ erst dann zu verbalisieren, wenn der Patient sich dem deutenden Wissen „soweit genähert hat, dass er unter Anleitung Ihres Deutungsvorschlages nur noch wenige Schritte zu machen braucht“ (Freud 1948b: 251) vorlegt. Beide Formulierungen betonen die Notwendigkeit einer Passung von ›Deutung‹ und mentaler Struktur des Patienten. Sichtbar wird, auch aus konversationsanalytischer Perspektive, dass das ›Deuten‹ auf die mentalen Prozesse des Patienten abzielt und bereits in seiner Vorgeschichte auf diese mentalen Prozesse Rücksicht nimmt. Die Vorstellung, dass die psychotherapeutische ›Deutung‹ an das Alltagswissen des Patienten andocken muss, damit sie verstanden wird, erscheint plausibel, wäre aber an weiterem Material zu überprüfen. Insgesamt sollte in der Diskussion deutlich geworden sein, dass Stephan Wolff in seiner Arbeit andere Ziele verfolgt als die hier angesteuerten. Wolff erkennt zwar eine Verbindung von ›Deutung‹ und mentaler Strukturierung des Patienten, sieht von der Analyse des Zusammenspiels sprachlicher und mentaler Prozesse aber bewusst ab und will keine Antworten auf die hier gestellten Fragen entwickeln. Ebenfalls konversationsanalytisch gehen Anssi Peräkylä und Sanna Vehviläinen vor. In dem Projekt „Psychoanalysis als social interaction: a conversational analytic study“ haben sie das ›Deuten‹ in finnischen Therapiegesprächen systematisch untersucht. Peräkylä und Vehviläinen postulieren ein „interpretative trajectory“ (Vehviläinen 2003: 578), in dem sich das ›Deuten‹ realisiert, und unterscheiden einzelne Phasen dieses „trajectory“: Vorbereitung (Peräkylä 2004, Vehviläinen 2003), Deutung (Peräkylä 2004, Vehviläinen 2003), Reaktion (Peräkylä 2005) und Aufnahme der Reaktion (Peräkylä 2010, 2011). Die Vorbereitung einer ›Deutung‹ wird Vehviläinen (2003) zufolge in einer Reihe von Handlungen realisiert. Zunächst nutzen Therapeuten „extensions“ (a. a. O.: 581), mit denen sie ihre eigenen Einschätzungen des Erlebens des Patienten syntaktisch an dessen Äußerungen anschließen. Damit bekommt die Einschätzung des Therapeuten den gleichen Status wie die Äußerungen, die der

44 Oben (S. 57f.) wurde auf einen solchen Fall bereits hingewiesen: Kindt (1984) spricht von „Deutungen“, der Blick auf das Material ergibt aber, dass er gesprächstherapeutische ›VEE‹ untersucht. Verwechslungsgefahr besteht darüber hinaus mit dem sehr weiten ethnomethodologischen Deutungsbegriff, wie ihn z. B. Patzelt (1987) zugrunde legt, der sich ebenfalls keineswegs mit dem psychoanalytischen Verständnis deckt.

72 | Stand der Forschung Patient über sich selbst tätigt, das Wissen des Therapeuten bekommt die gleiche Geltung, wie das des Patienten (a. a. O.: 583). Eine weitere vorbereitende Handlung ist das „Formulieren“ (s. o. Kap. 2.3.2), das es dem Therapeuten ermöglicht, die Äußerung des Patienten so zu reformulieren, dass ihr Inhalt nahezu unmerklich verändert wird. Darauf aufbauend formuliert der Therapeut „confrontations“ (a. a. O.: 587), die den Patienten auf Unstimmigkeiten in seinem Handeln und Erleben aufmerksam machen. Diese sollen den Patienten „accountable“ (a. a. O.: 588) machen, ihn also dazu bringen, zu seinem Handeln Stellung zu nehmen. Die Problematisierung des patientenseitigen Handelns wird dann fortgeführt, indem über mehrere Äußerungen hinweg ein „puzzle“ (a. a. O.: 589), Verhalten oder Gefühle des Patienten betreffend, entwickelt wird. Dieses vom Therapeuten entworfene ‚Rätsel‘ stellt bestimmte Handlungen oder Gefühle des Patienten als unerklärlich, widersprüchlich oder außergewöhnlich dar und fungiert als wichtige Vorstufe zur ›Deutung‹ (ebd.). Die ›Deutung‹ klärt dann, häufig in mehreren aufeinander aufbauenden Äußerungen (a. a. O.: 592), die rätselhaften Zusammenhänge und löst damit das Rätsel (ebd.).45 Die ›Deutung‹ besteht aus dieser Perspektive aus dem Herstellen von Verbindungen zwischen verschiedenen Erlebniswelten des Patienten, was in der Lösung des Rätsels kulminiert (a. a. O.: 573). Diese Verbindungen werden dem Patienten als Vorschläge präsentiert, ein festes Kausalverhältnis wird nicht aufgebaut (a. a. O.: 592). Peräkylä untersucht eben diese Verbindungen zwischen verschiedenen Lebensbereichen des Patienten näher. Er analysiert dasselbe Beispiel wie Vehviläinen und zeigt, dass in diesem Fall eine Verbindung zwischen den beruflichen Schwierigkeiten des Patienten und der Scheidung seiner Eltern hergestellt wird (Peräkylä 2004: 293). Auf diese Weise werden unterschiedliche Erlebniswelten aus Vergangenheit und Gegenwart miteinander in ein Verhältnis gesetzt, das vom Patienten zuvor nicht gesehen worden war. Dies geschieht bereits durch die Wortwahl des Therapeuten, der jeweils die gleichen Ausdrücke verwendet, um das Erleben des Patienten in den verschiedenen Bereichen zu beschreiben (a. a. O.: 294ff). Indem das Erleben des Patienten auf der sprachlichen Oberfläche identisch reformuliert wird, werde eine erste Annäherung der beiden separaten Lebensbereiche realisiert. Auch dies dient der Vorbereitung der ›Deutung‹ (a. a. O.: 295f.). Außerdem werde die ›Deutung‹ auch sequentiell vorbereitet, d. h. durch Handlungen des Therapeuten, die dieser etwa nach Erzählungen des Patienten

45 Zum Zusammenhang zwischen Rätsel und ›Deutung‹ aus der Perspektive der Psychoanalyse vgl. U. Streeck 2011: 63.

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ausführt. Peräkylä zeigt dies an einer Geschichte des Patienten über seine Erlebnisse im Krankenhaus, die vom Therapeuten aufgegriffen und auf die Gefühle des Patienten in dieser Situation befragt wird (a. a. O.: 297f.). Der Therapeut verändert in seiner Reaktion das Thema des Gesprächs, es geht nun nicht mehr um die außersprachliche Wirklichkeit, sondern um die Gefühle und Empfindungen des Patienten, wie sie auch in der anschließenden Deutung im Vordergrund stehen (ebd.). Bei einer anderen Deutung stellt der Therapeut an ‚erster Position‘ (nach Schegloff 1995) die Einschätzung des eigenen Erlebens durch den Patienten in Form einer „confrontation“ (Peräkylä 2004: 299) in Frage. Nach der Reaktion des Patienten (‚zweite Position‘) nutzt der Therapeut dann die ‚dritte Position‘, um die Erfahrungen des Patienten so zu reformulieren, dass eine Verbindung zwischen der Kindheit des Patienten und der gegenwärtigen Situation plausibel erscheint (ebd.). Der Therapeut betont die negativen Empfindungen des Patienten in der Kindheit (a. a. O.: 300), nimmt diese Formulierung dann in der Deutung auf und vergleicht sie mit den aktuellen Gefühlen des Patienten (a. a. O.: 301). Diese ‚dritte Position‘, die Peräkylä „commentary“ (ebd.) nennt, ermöglicht es dem Therapeuten, bestimmte Aspekte aus den Äußerungen des Patienten aufzugreifen, zuzuspitzen und zu betonen. Die damit erreichte Akzentuierung des Gesprächs wird Peräkylä zufolge in der anschließenden ›Deutung‹ wieder aufgenommen und ermöglicht das Herstellen der das ›Deuten‹ kennzeichnenden Verbindung verschiedener Lebensbereiche des Patienten (ebd.). Neben der ›Deutung‹ selbst und ihrer Vorbereitung durch den Therapeuten hat sich Peräkylä auch mit der Reaktion des Patienten auf das Deuten auseinandergesetzt. Er unterscheidet drei verschiedene Reaktionsarten: Höreräußerungen („acknowledgement tokens“ (Peräkylä 2005: 164)), Äußerungen über die Korrektheit der Deutung und „elaborations“ (165). Auf diesen letzten Typ legt Peräkylä den Schwerpunkt seiner Untersuchung. Unter „elaborations“ versteht er Äußerungen des Patienten, die bestimmte Aspekte der ›Deutung‹ aufgreifen und ausführen und so, wie von einem Teil der psychoanalytischen Therapietheorie gefordert, mit der ›Deutung‹ ‚spielen‘ (a. a. O.: 166). Peräkylä bezeichnet, Casement (2002) und Spence (1984) folgend, die „elaboration“ der ›Deutung‹ als die Reaktion, die von den Therapeuten angestrebt wird (Peräkylä 2005: 174), und versucht, dies gesprächsanalytisch an seinen Daten zu zeigen. Er führt Beispiele an, in denen der Patient zunächst gar nicht reagiert und die ›Deutung‹ daraufhin durch den Therapeuten so lange ausgebaut wird, bis eine „elaboration“ erfolgt (a. a. O.: 167ff). In anderen Fällen werde eine Reaktion explizit angefordert (a. a. O.: 166) oder das Fehlen einer solchen durch den Therapeuten kommentiert (ebd.). Peräkylä schließt aus diesen Beobachtungen, dass sich die Vollständigkeit der ›Deutung‹ auch aus dem Interaktionsprozess

74 | Stand der Forschung zwischen Therapeut und Patient ergibt und dass die ›Deutung‹ inhaltlich nicht allein durch den Therapeuten bestimmt wird (a. a. O.: 168). Außerdem weist er darauf hin, dass die „elaboration“ dem Patienten auch die Möglichkeit gibt, die Stoßrichtung der ›Deutung‹ zu verändern. So komme es in einem Fall zu einem „topical shift from ‚self‘ to ‚other‘“ (a. a. O.: 171). Damit werde das Thema dieser Deutung so verändert, dass der Patient der Deutung zustimmen könne, ohne sich inhaltlich mit dem deutenden Wissen auseinander setzen zu müssen (a. a. O.: 173ff). Diese auf thematischer Diskontinuität basierende Zustimmung erlaube es dem Patienten, Konflikte mit dem Therapeuten zu vermeiden und gleichzeitig einer Auseinandersetzung mit dem eigenen Unbewussten aus dem Weg zu gehen (a. a. O.: 174). Der Therapeut wiederum lässt sich Peräkylä zufolge darauf ein, weil er erkennt, dass die Deutung vom Patienten noch nicht angenommen werden kann und ebenfalls an der Aufrechterhaltung einer guten Beziehung interessiert ist (a. a. O.: 175). Bercelli u. a. (2008) bestätigen diese Beobachtungen anhand von Daten aus der systemischen Psychotherapie (vgl. Bercelli u. a. 2003, 2004). Auch sie sehen eine Elaborierung der therapeutischen Intervention – in ihrem Fall geht es um sog. „reinterpretations“ (Bercelli u. a. 2008: 43) – durch den Patienten als das angestrebte Ziel des Therapeuten (53) und beschreiben genauer, wie eine solche Reaktion aussehen kann: „He [the patient; C.S.] refers to a life event, his wife's pregnancy, which was not mentioned in the previous therapist's reinterpretation, and forwards it as supporting evidence […]. It is, moreover, a kind of evidence that was not considered by the therapist, who referred only to current family routines and commitments, rather than to the future prospected by this major change in family life” (Bercelli u. a. 2008: 58)

Bercelli u. a. weisen damit darauf hin, dass die Elaborierung die Funktion eines Beweisens bzw. Belegens einer therapeutischen Intervention übernehmen kann. Dieses Belegen kann, so eine weitere Präzisierung gegenüber Peräkylä (2005), auch auf Wissen basieren, über das der Therapeut nicht verfügt. In zwei weiteren Arbeiten (2010, 2011) hat Peräkylä darauf hingewiesen, dass die Deutung mit der Reaktion des Patienten in der Regel nicht beendet ist, sondern mithilfe von „third-position utterances“ (2011; Titel der Arbeit) des Therapeuten noch fortgesetzt wird. Mit diesen Äußerungen reagiert der Therapeut seinerseits auf die Reaktion des Patienten. Er nimmt dabei laut Peräkylä einen Perspektivwechsel vor und rückt so wieder Aspekte in den Vordergrund, die in der Deutung bereits enthalten waren, in der Reaktion des Patienten aber eher defokussiert wurden. Wenn die Patientin in ihrer Reaktion etwa das Verhalten Anderer thematisiert, wird sie durch die Äußerungen des Therapeuten wieder auf die Beschäftigung mit sich selbst gelenkt (Peräkylä 2010: 1371). Die

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auf diese Weise vorgenommenen Perspektivwechsel zeigen den Patienten laut Peräkylä, „that the experience is more emotionally intensive than what the patient had indicated in the elaboration“ (a. a. O.: 1373) und dass die Deutung „more layers“ (ebd.) enthält, also noch mehr Aussagen macht, als vom Patienten in der Reaktion erkannt. Insgesamt sieht Peräkylä diese Position durch ein „upgrade“ (2011: 303) der Reaktion des Patienten gekennzeichnet: „The third position utterances present to the patient materials that are more demanding and/or complex to take on“ (ebd.). Peräkylä und Vehviläinen setzen sich neben diesen Arbeiten auch in einem von ihnen mitherausgegebenen Sammelband (Peräkylä u. a. 2008) mit Psychotherapie im Allgemeinen, und dabei auch mit dem ›Deuten‹, auseinander (Peräkylä 2008, Vehviläinen 2008). Sie hatten in früheren Arbeiten bereits darauf hingewiesen, dass mittels konversationsanalytischer Arbeiten keine Aussagen über die psychischen Prozesse in der Psychotherapie möglich sind (Peräkylä 2004: 291), und dass die Konversationsanalyse daher auf die „stocks of interactional knowledge“ (Peräkylä & Vehviläinen 2003: 727) aus dem untersuchten Feld, also auf das Interaktionswissen der Agenten, zurückgreifen müsse. Dieses Überschreiten der Grenzen, die durch die Konversationsanalyse gesetzt werden, nehmen Peräkylä und Vehviläinen in dem genannten Sammelband mithilfe der Theorie (Vehviläinen 2008) bzw. Praxis (Peräkylä 2008) der Psychoanalyse in Angriff. Vehviläinen untersucht ›Deutungen‹ und ihren Zusammenhang zum ›Widerstand‹ des Patienten (Vehviläinen 2008). Damit führt sie eine psychoanalytische Kategorie in ihre Untersuchung ein, die sich – im Gegensatz etwa zur ›Deutung‹ – nicht auf das interaktive Geschehen, sondern auf psychische Prozesse des Patienten bezieht. Mit dem Begriff des ›Widerstands‹ kann der Umgang des Patienten mit ›Deutungen‹ und anderen Interventionen des Therapeuten tiefenpsychologisch erklärt werden. Zeigt der Patient keine ›Einsicht‹, lehnt ›Deutungen‹ ab oder verhält sich anderweitig unkooperativ, so ist dies darauf zurückzuführen, dass er der Therapie unbewusst ›Widerstand‹ entgegenbringt, um schmerzhafte, verdrängte Konflikte und Erlebnisse nicht bewusst werden zu lassen (vgl. Sandler u. a. 1991: 66ff). Wie bereits oben anhand der Erzählanalysen von u. a. Barbara Eisenmann (1995) ausgeführt, wird das interaktive und psychische Geschehen mit dem Begriff ›Widerstand‹ also in seinem Zustandekommen erschöpfend erklärt – die linguistische Analyse kann, wenn eine Äußerung erst einmal als ›Widerstand‹ kategorisiert worden ist, allenfalls noch beschreiben, wie sich dieser im Detail äußert bzw. wie damit umgegangen wird. Genau dieses Verfahren wendet Vehviläinen (2008) an, nachdem sie z. B. das Schweigen oder Zu-Spät-Kommen von Patienten als ›Widerstand‹ kategorisiert hat (a. a. O.: 126f.). Sie verbindet dies mit ihrer Analyse des ›Deutens‹ und kann

76 | Stand der Forschung zeigen, dass die Thematisierung dessen, was sie ›Widerstand‹ nennt, häufig zu einer ›Deutung‹ führt (a. a. O.: 130). Das „puzzle“, das Vehviläinen und Peräkylä zufolge die ›Deutung‹ kennzeichnet (s. o. S. 72), kommt in diesen Fällen dadurch zustande, dass das Verhalten des Patienten in der Therapiesitzung als rätselhaft behandelt wird (a. a. O.: 128f.). Dieses Verhalten werde dementsprechend zum Thema der ›Deutung‹, was aus Sicht des Therapeuten den Vorteil habe, dass es für beide Aktanten gut zugänglich ist, so dass die ›Deutung‹ eine vergleichsweise sichere Grundlage erhält (a. a. O.: 137). Damit, so wäre aus Vehviläinens Ausführungen zu schließen, müssten ›Deutungen‹, die sich mit dem Verhalten des Patienten während der Therapie beschäftigen, besonders plausibel wirken und überdurchschnittlich oft angenommen werden. Peräkylä (2008) nähert sich der Psychotherapie im gleichen Band auch aus der Perspektive des praktizierenden Psychoanalytikers.46 Er versucht, die Erfahrungen aus der Praxis der Therapie für die linguistische Analyse fruchtbar zu machen. Peräkylä folgt dem Analytiker Daniel Stern (2004), wenn er in sog. „moments of meeting“ (Peräkylä 2008: 114) zwischen Therapeut und Patient ein wesentliches Element der Heilung von Patienten sieht, und versucht, diese „moments of meeting“ am sprachlichen Material zu belegen. Dazu befragt er Gesprächspassagen daraufhin, ob sich Therapeut und Patient mental mit dem gleichen Gegenstand beschäftigen, setzt sich also über ein fundamentales Gebot der Konversationsanalyse, die Analyse nur am sprachlich sichtbaren festzumachen, hinweg. Peräkylä sieht darin, dass eine Deutung von der Patientin auf eine Weise expandiert wird, die „understanding and acceptance“ (a. a. O.: 116) ausdrücke, eine „communion of minds“ (ebd.). Dieser Schluss erfolgt – soweit erkennbar – insbesondere durch eine Gleichsetzung der sprachlichen Oberfläche mit den mentalen Prozessen von Therapeut und Patient. Da beide auf die gleiche Weise vom gleichen Gegenstand redeten, müssten sie sich auch mental in Übereinstimmung befinden (ebd.). Damit ersetzt Peräkylä die konversationsanalytische ‚Abstinenz‘ mentale Prozesse betreffend umstandslos durch eine Gleichsetzung von sprachlicher Oberfläche mit mentalen Prozessen. Diese Gleichsetzung erscheint ad hoc entstanden und wenig methodisch fundiert zu sein und kann m. E. auch bei den ausgewählten Beispielen nicht überzeugen. Es bleibt äußerst fraglich, ob an den betreffenden Passagen tatsächlich das von Stern beschriebene Phänomen der „moments of meeting“ auftritt, ja, wie sich ein solches Phänomen kurzzeitiger, vollkommener intersubjektiver Übereinstimmung überhaupt linguistisch

46 Einführenden Kommentaren zu diesem Artikel ist zu entnehmen, dass Peräkylä die Tätigkeit als praktizierender Therapeut kurz vor Abfassung des 2008er Artikels aufgenommen hat.

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erfassen lassen soll. Eine intersubjektive Überprüfbarkeit von Peräkyläs Beobachtungen ist damit nicht gegeben. Auch Vehviläinens (2008) Versuch, die methodisch-theoretischen Restriktionen des gewählten Ansatzes mithilfe von Begriffen aus der Psychoanalyse zu überwinden, erscheint wenig weiterführend. Wie oben (S. 30f., 49f.) bereits anderweitig kritisiert, führt dieser Versuch zu einer Selbstaufgabe der Linguistik, die, anstatt sich auf die eigene, sprachwissenschaftliche Expertise zu verlassen, ihre Daten mit Kategorien aus dem untersuchten Feld erklärt (s. zu dieser methodologischen Diskussion auch u. Kap. 3.1). Grundsätzliche methodologische Kritik ist auch an den früheren Arbeiten von Vehviläinen und Peräkylä zu üben. Das Fehlen einer systematischen linguistischen Aufschlüsselung des Verhältnisses von sprachlichen und mentalen Prozessen erweist sich bei der Analyse von Psychotherapie, in der durch Sprechen geheilt, also fundamental in mentale Prozesse eingegriffen wird, als hinderlich. Das postulierte „interpretative trajectory“ (Vehviläinen 2003: 579; s. o. S. 71f.) wird lediglich beschrieben, die Handlungen des Therapeuten werden nicht erklärt, d. h. weder mit den konstellativen Voraussetzungen, von denen sie ausgehen, noch mit den mentalen Effekten, auf die sie abzwecken, in Verbindung gebracht. So wird der Zusammenhang zwischen den einzelnen Elementen des von Vehviläinen beschriebenen „case building“ (a. a. O.: 597) zur eigentlichen Deutung nicht überzeugend dargelegt. Es ist nicht klar, auf welche Weise gerade die beschriebenen Handlungen (s. o. S. 72) in die mentalen Prozesse des Patienten so eingreifen, dass die nachfolgende Deutung damit plausibler, akzeptabler wird. Auch kann die postulierte zentrale Rolle des „puzzle“ (a. a. O.: 580) für das ›Deuten‹ nicht begründet werden. Die mentalen Prozesse, die durch das „puzzle“ ausgelöst werden, werden, dem gewählten methodischtheoretischen Ansatz entsprechend, ausgeblendet; ebenso wenig wird die Funktion des „puzzle“ innerhalb des „trajectory“ herausgearbeitet. Auf ähnliche Weise bleibt die Untersuchung der Reaktion des Patienten einer Nachzeichnung der Oberfläche des sprachlichen Handelns verhaftet. Peräkylä (2005) kann, ebenso wie Bercelli u. a. (2008), nicht begründen, warum Therapeuten eine ausführliche, elaborierende Reaktion auf die ›Deutung‹ anstreben, worin also der Mehrwert einer solchen Reaktion besteht. Auch die Funktion der laut Peräkylä (2010, 2011) ‚dritten‘ Position der ›Deutung‹ kann nicht zufriedenstellend erfasst werden, da nicht nach dem Zusammenhang von sprachlichen Handlungen und den damit bezweckten mentalen Veränderungen gefragt wird. Das dagegen in konversationsanalytischen Arbeiten mitunter angeführte Argument, dass das perpetuum mobile des Gesprächs schließlich am Laufen gehalten werden müsse, basiert m. E. auf einer theoretisch unbefriedigenden und empirisch nicht gedeckten (s. die in Kapitel sieben und acht vorge-

78 | Stand der Forschung legten Analysen empirischer Kommunikation in der Therapie) Konzeption vom Mit-Einander-Sprechen als reinem Selbstzweck. Indem auf die Analyse mentaler Prozesse verzichtet wird, wird gerade das, worauf sprachliches Handeln in der Psychotherapie in besonderem Maße abstellt, außer Acht gelassen. Dementsprechend bleibt das ›Deuten‹ als Ganzes auch zu einem wesentlichen Teil ‚unanalysiert‘, indem nämlich Aussagen über seine Funktion im institutionellen Prozess, seine therapeutische Wirkung, nicht gemacht werden können. Wenn es auch gute Gründe für den weit verbreiteten Antimentalismus in der Linguistik gibt (s. etwa Bergmann 1988a, 1988b, Wolff 1994a), so ist doch bereits an dieser Stelle festzuhalten, dass auf dieser Basis eine Reihe der hier interessierenden Fragen nicht bearbeitet werden kann und dass sich eine strikt antimentalistisch ausgerichteter Linguistik wesentlicher Möglichkeiten, Sprache zu analysieren und zu verstehen, beraubt. Dennoch konnten Peräkylä und Vehviläinen an ihrem breiten Korpus von Therapiegesprächen umfrangreiche Beobachtungen zum ›Deuten‹ machen. Diese können wichtige Hinweise für die durchzuführenden Analysen geben und werden im Folgenden kurz zusammengefasst: – Indem sie vom „interpretative trajectory“ sprechen, weisen Peräkylä und Vehviläinen darauf hin, dass das ›Deuten‹ nicht nur aus einer Äußerung besteht (vgl. Kindt 1984 zum ›VEE‹). ›Deutungen‹ können vor- und nachbereitet werden. – Eine wichtige Rolle beim ›Deuten‹ spielt die Entwicklung eines „puzzle“ (Vehviläinen 2003: 589). Bestimmte Aspekte im Leben und Erleben des Patienten werden als rätselhaft oder widersprüchlich behandelt. Das Rätsel wird durch die ›Deutung‹ aufgelöst. – Wie Ehlich (1990) und Gutwinski-Jeggle (1987) sprechen Peräkylä und Vehviläinen davon, dass die ›Deutung‹ als Vorschlag realisiert wird. – Peräkylä unterscheidet drei Reaktionsarten: Höreräußerungen, Aussagen über die Korrektheit der Deutung und eine „elaboration“ (2005: 165) der ›Deutung‹. Die Therapeuten arbeiten auf eine solche „elaboration“ durch den Patienten hin (a. a. O.: 166ff). – Peräkylä weist darauf hin, dass die Deutung nach der Reaktion des Patienten noch fortgesetzt wird, indem durch einen Perspektivwechsel ein „upgrade“ (2011: 303) der elaborierenden Reaktion des Patienten vorgenommen wird. Dieses „upgrade“ besteht in einer „intensification of emotion“ (ebd.) und im Anführen von „new layers of experience“ (ebd.). Die Arbeiten von Peräkylä und Vehviläinen sind, was das ›Deuten‹ angeht, teilweise als Stand der Forschung anzusehen – über ihre Analysen wurde bisher nicht hinausgegangen. Der Überblick über die mir bekannte Literatur zur lingu-

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istischen Erforschung über Psychotherapie ist damit gegeben. Er wird im nächsten Kapitel für eine Diskussion über einen geeigneten theoretisch-methodischen Ansatzes zur Beantwortung der vorliegenden Fragen genutzt. Zudem werden die Erkenntnisse aus der Literatur herangezogen, um die eigenen Analysen zu kontextualisieren (Kap. 7, 8). Eine begriffliche Systematisierung des Forschungsstandes, die die in der Literatur gemachten Beobachtungen mit dem Zweck von Psychotherapie in Verbindung bringt, erfolgt in Kapitel 9.2 auf der Basis der anzustellenden Analysen.

3 Theorie und Methode An dieser Stelle wird zunächst das in Kapitel zwei zusammengetragene linguistische Wissen über Psychotherapie für eine Reflexion über den geeigneten Ansatz für die Untersuchung von Psychotherapie genutzt.1 Es wird argumentiert, dass funktional-pragmatische Kategorien eine adäquate Bearbeitung der verfolgten Fragestellung ermöglichen. Im zweiten Teil des Kapitels werden diese Kategorien kurz dargestellt.

3.1 Wie lässt sich die Wirkung von Psychotherapie linguistisch erforschen? Der vorliegenden Arbeit geht es um eine linguistische Antwort auf die Frage nach der Wirkungsweise verbal orientierter Psychotherapie. Da diese Frage bisher nicht systematisch linguistisch angegangen worden ist, kann auf echte Vorläuferarbeiten nicht zurückgegriffen werden, muss eine eigene Herangehensweise zur Beantwortung der Frage entwickelt werden. In diesem Kapitel werden mögliche methodische und theoretische Ansätze dazu diskutiert. Psychotherapie heilt durch methodische sprachliche Beeinflussung psychischer Prozesse, die Frage nach der Wirkung von Psychotherapie fragt damit im Wesen nach dem Zusammenhang von sprachlichen und mentalen Prozessen. Zur Beantwortung dieser Frage wird also eine Theorie benötigt, die das Verhältnis von mentalen und sprachlichen Prozessen systematisch aufzuschlüsseln erlaubt. Der in Kapitel zwei gegebene Überblick über den Forschungsstand zeigt, dass sich hinsichtlich der Berücksichtigung mentaler Prozesse in der linguistischen Therapieforschung zwei Extrempositionen durchgesetzt haben: Eine antimentalistische Position, die von der Analyse mentaler Prozesse vollständig

1 Es wird also nicht davon ausgegangen, dass sich die Analyse sprachlichen Handelns allein ‚aus den Daten‘, ohne theoretischen Hintergrund, entwickeln lässt. Vielmehr scheint eine solche Vorgehensweise, die vorgibt, ihre Erkenntnisse ausschließlich an den Daten zu erarbeiten, die theoretischen Vorannahmen, die sie macht, schlicht nicht zu explizieren. Auch die Vorstellung, dass eine bestimmte Theorie zur Bearbeitung jeglicher sprachwissenschaftlicher Fragestellung optimal geeignet sei, wird zurückgewiesen. Das Kapitel verdankt sich vielmehr der Überzeugung, dass der theoretische Ansatz einer Untersuchung auf die zu untersuchende Fragestellung passen muss (auch wenn der Ansatz natürlich seinerseits wieder auf die Fragestellung bzw. ihre konkrete Bearbeitung im analytischen Prozess rückwirkt, das Verhältnis Fragestellung - Untersuchungsansatz also nicht unidirektional zu konzipieren ist).

82 | Theorie und Methode absieht, und eine quasi-psychoanalytische Position, die das Material mithilfe psychoanalytischer Kategorien erklärt. Die erste Position geht davon aus, dass linguistische Untersuchungen nicht „in die Köpfe der Beteiligten“ (Wolff 1994a: 48) schauen, also keinerlei Aussagen über mentale Prozesse machen können. Die Untersuchung von Sprache muss sich allein mit dem beschäftigen, was hörund sichtbar ist, sie kann und darf nicht nach Motiven, Zielen oder mentalen Wirkungen von sprachlichen Handlungen fragen – obwohl die Teilnehmer eines Gesprächs „ihrerseits komplexe Motivunterstellungen“ (Buchholz u. a. 2008: 74) über sprachliche und nicht-sprachliche Handlungen machen.2 Dieser „Antimentalismus“ (Deppermann 2007: 18), dem viele linguistische Arbeiten über Sprache in der Psychotherapie verhaftet sind, verhindert, ja ‚verbietet‘, die Untersuchung des Zusammenhangs von sprachlichen und mentalen Prozessen und macht eine Antwort auf die hier verfolgte Frage nach dem ‚Wie‘ und ‚Warum‘ des Heilens durch Sprache unmöglich. Aus diesem Grund und trotz des erheblichen Beitrags, den antimentalistisch verfahrende Arbeiten zum vorhandenen linguistischen Wissen über Formen und Strukturen von Psychotherapie geleistet haben (s. dazu auch Scarvaglieri 2011a), kann in der vorliegenden Arbeit nicht auf diese Weise verfahren werden. Benötigt wird stattdessen ein Ansatz, der das Verhältnis von mentalen und interaktionalen Prozessen im Gespräch theoretisch modelliert und so eine Rekonstruktion der handlungsrelevanten Momente auf Sprecher- und Hörerseite erlaubt. Diese Modellierung muss sodann, so zeigt die Auseinandersetzung mit der zweiten,

2 Buchholz u. a. (2008) zeigen dies – in Kritik an der Konversationsanalyse – an den Untersuchungen von Meltzoff u. a. (1999), die Versuche mit 18 Monate alten Kindern durchgeführt haben. Diese Kinder sehen, wie ein Erwachsener versucht, eine Aufgabe zu lösen (z. B. einen Ring über ein Stäbchen zu schieben). Er scheitert, legt die Materialien weg und die Kinder bringen die Aufgabe eigenständig zu Ende, ohne ihre Lösung zuvor gesehen zu haben. Die Kinder imitieren also nicht, sondern sie erkennen menschliche „Muskelbewegungen“ (Buchholz u. a. 2008: 75) als absichtsvolle, geplante Handlungen mit einem bestimmten Ziel. Wenn dagegen eine Maschine an der gleichen Aufgabe scheitert, wenden sich die Kinder desinteressiert ab (ebd.). Sie unterscheiden also zwischen zielgerichtetem menschlichem Handeln und maschinell gesteuerten Abläufen. Buchholz u. a. resümieren, die Konversationsanalyse betreffend: „Wenn nun schon kleine Kinder dieses Alters solche kognitiven Leistungen vollbringen können, […] dann kann eine Untersuchungsmethode nicht hinter diese Fähigkeiten zurückgehen und sich ausschließlichlich aufs Sicht- und Hörbare beschränken wollen“ (ebd.). Später zeigen sie außerdem, dass auch konversationsanalytische Arbeiten immer schon „implizite psychologische Motivannahmen“ (a. a. O.: 141) vornehmen, die strikte Abstinenz von mentalen Prozessen bei der Analyse von Sprache also ohnehin nicht durchzuhalten ist. Ähnlich argumentiert teilweise auch Deppermann (2007: 224ff).

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quasi-psychoanalytischen Position, empirisch fundiert sein und kann nicht adhocistisch anhand des gerade vorliegenden Einzelfalles entworfen werden. Die Gegenposition zum Antimentalismus in der linguistischen Therapieforschung geht auf theoretisch und methodisch wenig reflektierte Adaptationen psychoanalytischer Analysekategorien zurück. Diese Position generiert psychoanalytisch aufgeladene Aussagen über mentale Prozesse, die gesprächsanalytisch am Material häufig nicht mehr nachvollzogen werden können. In Teilen hat sich diese Position aus der Kritik am Antimentalismus entwickelt: wenn die verfolgte Fragestellung von der gewählten antimentalistischen Ausgangsposition aus nicht zu bearbeiten war, wurde nicht etwa auf etablierte linguistische Ansätze zurückgegriffen,3 sondern auf Kategorien „aus dem Feld“ ausgewichen (so auch die Forderung von Peräkylä & Vehviläinen (2003)). So adaptierte z. B. Peräkylä (2008) das psychoanalytische Konzept der „moments of meeting“ (Stern 2004) und entwickelte darauf aufbauend sehr weitreichende Aussagen über die bei Therapeut und Patient ablaufenden psychischen Prozesse (s. o. S. 76f.). Diese Aussagen lassen sich aus linguistischer Perspektive allerdings kaum nachvollziehen, das Material wird von Peräkylä mit diesen Kategorien nicht adäquat linguistisch bearbeitet. Ein Gewinn von Peräkyläs Adaptation für das Verständnis von Psychotherapie lässt sich nicht erkennen, eher scheint es zu Fehlschlüssen über das sprachliche Material zu kommen. Da sich der Nutzen theoretischer Innovationen allein daran misst, welchen Erkenntnisgewinn sie über den Gegenstand, das sprachliche Material, ermöglichen, zeigt dieses Beispiel, wie auch andere oben (Kap. 2.2, 2.3) bereits diskutierte, dass der adhocistische Rückgriff auf psychoanalytische oder psychologische Kategorien zum Zweck der linguistischen Analyse von Psychotherapie wenig fruchtbar ist. Zurückzuführen ist die mangelnde Eignung psychoanalytischer Kategorien für die linguistische Analyse insbesondere darauf, dass psychoanalytische Kategorien im Grunde ‚zu mächtig‘ sind und, wenn sie gegen antimentalistische Ansätze in Stellung gebracht werden, das (linguistische) Kind mit dem (psychoanalytischen) Bade ausschütten: kommunikative Prozesse werden mit diesen Kategorien als psychoanalytische Prozesse erfasst und so hinsichtlich bewusster oder unbewusster Antriebsmomente sprachlichen Handelns umfassend erklärt. Die Frage, was das Geschehen an der sprachlichen Oberfläche antreibt, die linguistisch erst nach einer detaillierten Mikroanalyse des sprachlichen

3 Auch die „Membership Categorization“-Analyse nach Sacks (1992), die ansonsten immer wieder als ‚Einfallstor‘ zur Beschäftigung mit kognitiven Prozessen gedient hat (s. den Überblick bei Kesselheim (2009: 55ff)), wurde in der Therapieforschung nicht genutzt. Ebenfalls noch nicht rezipiert wurden jüngere Vorschläge, die Gesprächsanalyse für kognitive Prozesse zu öffnen, wie sie z. B. Deppermann (2007) und Ehmer (2011) vorgelegt haben.

84 | Theorie und Methode Materials zu beantworten wäre, ist auf diese Weise von Anfang an beantwortet, so dass die linguistische Analyse der psychoanalytischen Kategorisierung nur wenig hinzuzufügen hat. Neben dieser grundsätzlichen Kritik erscheint zudem problematisch, dass jeweils Linguisten, also psychoanalytische Laien, den Schluss auf psychoanalytisch relevante Prozesse vornehmen und ihr Material dann aus diesem Schluss heraus erklären. Die Linguisten ersetzen so die eigene Expertise durch eine allenfalls partiell vorhandene in einem anderen Feld, werden mithin zu analytischen Laien, die mit ihnen nur teilweise bekannten Begriffen operieren, welche zudem dem Gegenstand Sprache nur in Ansätzen gerecht werden. Indem sich die Linguistik auf diese Weise aufgibt, kann sie eine Rekonstruktion der Vermittlung von sprachlichen und mentalen Prozessen anhand dessen, was sprachlich gegeben ist, nicht erbringen. Eine linguistische Antwort auf die hier verfolgte Frage nach der Wirkung von Psychotherapie hat also auf der Basis linguistischer Begriffe und Kategorien zu erfolgen, sie kann nicht auf psychoanalytische oder psychologische Begriffe ausweichen. Analytisch leitend ist das sprachlich Gegebene, nicht seine psychologische Kategorisierung. Benötigt wird ein Ansatz, der ein elaboriertes und etabliertes Begriffssystem zur Rekonstruktion der Vermittlung von sprachlichen und mentalen Prozessen bereithält und dessen analytisches Instrumentarium an der sprachlichen Realität bereits überprüft und geschärft worden ist. Dabei ist m. E. entscheidend, dass die Frage nach dem Zusammenhang von sprachlichen und mentalen Prozessen nicht individualistisch verkürzt wird, sondern Sprache als genuin sozial begriffen wird. Denn Sprache dient der Kooperation zwischen Individuen und diese kann nur gelingen, wenn gesellschaftlich etablierte Form-Funktionsverhältnisse der Kooperation existieren. Einzelne Handlungsnotwendigkeiten treten onto- und phylogenetisch wiederholt auf, Gesellschaften arbeiten Mittel und Wege aus, um diese Handlungsnotwendigkeiten effektiv zu bewältigen. Die damit erwirkte Reduktion von Komplexität entlastet das Individuum und entbindet es von der Notwendigkeit, für jeden auftauchenden ‚Handlungsstimulus‘ spontan eigene Lösungen herstellen oder mit dem Gegenüber aushandeln zu müssen. Der wissenschaftlichen Untersuchung kann die Rekonstruktion des Systems der zugrundeliegenden Handlungsnotwendigkeiten ein Verständnis von Sprache und Handeln ermöglichen, das die handlungsleitenden Momente erfasst und die Oberfläche von den Einflussfaktoren, aus denen sie resultiert, unterscheidbar macht. Die analytische Attraktivität einer solchen Unterscheidung zwischen Oberfläche und Tiefenstruktur hat sich z. B. bei der Diskussion der Analysen von Sabine Streeck (1989: 140ff; s. o. S. 51) gezeigt. Ihr streng oberflächenanalytisches Vorgehen zwingt sie, die drei patientenseitigen Bestätigungen einer Fokussierung als

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jeweils eigenständige Positionen zu erfassen. Auch die Nachbearbeitung der Fokussierung durch den Therapeuten, die jeweils formal ähnlich realisiert wird, wird von Streeck in zwei unterschiedliche Handlungen aufgespalten. Streeck erkennt nicht, dass hier jeweils die gleichen Bedürfnisse handlungsleitend sind, dass die Handlungen den gleichen Zweck realisieren und dieser Zweck jeweils unterschiedlich sprachlich vermittelt wird. Im Gegensatz zu Streeck weist etwa Richard Buttny in seiner Untersuchung über „Formulierungen“ (s. o. Kap. 2.3.2) in der Paartherapie darauf hin, dass eine Äußerung eines Therapeuten zwar „literally“ kein „third turn“ (Buttny 1996: 144) sei, sie funktional aber als ein solcher zu erfassen sei (ebd.). Damit macht Buttny, ohne über die begriffliche Unterscheidung zwischen Oberfläche und Tiefenstruktur zu verfügen, deutlich, dass Äußerungen, die sequentiell unterschiedlich platziert und kombiniert sind, dennoch funktional äquivalent sein können. Eine Rekonstruktion der handlungsleitenden Momente in der Psychotherapie profitiert also von einem Ansatz, der zwischen der einzelfallartig realisierten sprachlichen Oberfläche und der gesellschaftlich geformten kommunikativen Tiefenstruktur unterscheidet. Indem die Funktionale Pragmatik (s. u. Kap. 3.2) das Verhältnis von Oberfläche und Tiefenstruktur und von mentalen Funktionen und lautlichen oder graphematischen Formen von Sprache begrifflich entwickelt, bietet sie m. E. geeignete begriffliche und theoretische Ansatzpunkte für eine systematische Beantwortung der Frage nach der Wirkungsweise von Psychotherapie. Mit dem Begriff des „Handlungsmusters“ unterscheidet die Funktionale Pragmatik zwischen den das Handeln prägenden Tiefenstrukturen und ihrer einzelfallartigen Realisierung an der Oberfläche. Das Handlungsmuster macht gesellschaftliche Realität greifbar, indem es Strukturen des Handelns aufzeigt. Da diese Handlungsstrukturen ihrerseits auf (häufig unbewusst genutztem) Handlungswissen, also sozial geprägten mentalen Strukturen basieren, kann die Handlungsmusteranalyse auch Hinweise auf die mentale Verfasstheit von Gesellschaften geben. Das sprachliche Geschehen in der Therapie lässt sich mithilfe des Handlungsmusters auf einer mittleren Abstraktionsstufe strukturieren und hinsichtlich handlungsleitender Momente durchdringen. Einzelne Äußerungen werden als Teil eines Handlungsmusters erkennbar, das seinerseits durch seinen Zweck, der einem spezifischen gesellschaftlichen Bedürfnis korrespondiert, strukturiert ist (s. u. Kap. 3.2.3). Das Verhältnis von sprachlichen Formen und mentalen Funktionen im Einzelnen systematisiert die Funktionale Pragmatik mit dem Begriff der „Prozedur“ (s. u. Kap. 3.2.2). Die Prozedur macht die kategoriale Unterscheidung der mentalen Wirkung elementarer sprachlicher Formen auf den Hörer und somit einen mikroanalytischen Zugriff auf das Wirken von Sprache in der Psychotherapie

86 | Theorie und Methode möglich. Dem Begriff der Prozedur ist die Annahme inhärent, dass mit einer sprachlichen Form eine mentale Wirkung fest verbunden ist. Die FormFunktions-Charakteristik sprachlicher Mittel ist in synchroner Perspektive konstant, sie ist unabhängig vom kommunikativen Einzelfall, von der konkreten ‚Sprecherintention‘ und auch davon, ob es sich um ‚intendierte‘ oder ‚nichtintendierte‘ Kommunikationsereignisse handelt. Auch wenn ein Hörer also z. B. gar nicht zuhören will, kann er der Wirkung sprachlicher Formen nicht entgehen und ist quasi gezwungen, die Bedeutung ihm bekannter gesprochener Sprache nachzuvollziehen. Sprachliche Formen wirken also auf eine bestimmte Art, und auch wenn diese Wirkung sich nur im konkreten Einzelfall realisiert, ist sie doch über den Einzelfall hinaus konstant. Die Tatsache, dass der Prozedurbegriff ein solch konstantes Form-Funktions-verhältnis sprachlicher Mittel postuliert, erlaubt die Rekonstruktion der beim Hörer ausgelösten mentalen Prozesse auf der Basis des sprachlich Gegebenen. Das mentale und interaktionale Geschehen zwischen Patient und Therapeut kann, so die Annahme, mittels „Prozedur“ und „Handlungsmuster“ sowie weiterer funktional-pragmatischer Begriffe (u. Kap. 3.2) detailliert rekonstruiert und auf seine Bedeutung für die Wirkung von Therapie hin befragt werden. Gegen diese Argumentation können freilich auch einige Kritikpunkte in Stellung gebracht werden, die kurz aufgegriffen und für eine Konturierung der vertretenen Position genutzt werden sollen. Zum einen ist antimentalistischen Ansätzen durchaus zuzustimmen, wenn sie argumentieren, dass die mentale Wirkung von Sprache nicht unmittelbar zugänglich ist. Die fraglichen Effekte sprachlichen Handelns kommen im Kopf eines anderen, nicht dem des Linguisten, zum Tragen, sie können also nicht ohne weiteres Gegenstand der Analyse werden. Zudem verhindert der Aktions- und Reaktionsdruck, unter dem Sprechen wie Hören gemeinhin steht, eine konkrete, theoretisch fruchtbare Auseinandersetzung mit den Effekten von Sprache, auch wenn der Analysierende selbst Hörer einer Äußerung ist. Auch wenn eine solche rein introspektive Analyse mitunter in Ansätzen doch möglich sein mag, so bleibt auch in diesen Fällen die Frage nach der intersubjektiven Übertragbarkeit von introspektiv gewonnenen Erkenntnissen. Gleichwohl zeigt die Wissenschaftsgeschichte, dass ein fehlender unmittelbarer Zugang zum Objekt der Analyse überwunden werden kann, dass Mittel und Wege gewonnen werden können, Wissen über Gegenstände zu erlangen, die nicht unmittelbar anschaulich sind.4 So kann allein die sprachliche Oberflä-

4 Die Astronomie etwa bietet viele Beispiele für solche Verfahren. So kennt man z. B. Schwarze Löcher nicht aus konkreter Beobachtung, sondern dadurch, dass man ihre Wirkung auf ihre

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che zugrundeliegende mentale Prozesse erkennbar werden lassen – dies etwa, wenn Hörer die angefangene Äußerung des Sprechers eigenständig zu Ende bringen und damit zeigen, dass sie einen Hörerplan, eine syntaktische Vorauskonstruktion der Äußerung entwickeln, noch während die Äußerung selbst formuliert wird.5 Auch Parenthesen oder Reparaturen sind Phänomene der sprachlichen Oberfläche, die auf mentale Prozesse des Sprechers – in diesem Fall Prozesse des Planens und Monitorens eigenen Handelns – verweisen. Ein weiteres, für den hier verfolgten Ansatz grundlegendes, Verfahren, ‚hinter‘ die Oberfläche des einzelnen Datums zu schauen, besteht in der genauen, die verschiedenen konstellativen Faktoren berücksichtigenden Analyse der Verwendungen eines sprachlichen Mittels. So konnte Konrad Ehlich (1979b) durch die (qualitative) Analyse aller Verwendungen des Ausdrucks „zä“ in der hebräischen Fassung des Alten Testaments nachweisen, dass „zä“ ein deiktischer Ausdruck ist und als solcher die Funktion erfüllt, die Aufmerksamkeit des Hörers auf spezifische Elemente der Sprechsituation auszurichten. Die möglichst umfangreiche Analyse authentischer Sprachverwendung lässt, so zeigen diese und weitere Untersuchungen, funktionale Charakteristika von Ausdrücken erkennbar werden, die sich dem Blick auf einzelne, womöglich gar ‚quasiempirische‘, Beispiele verbergen.6 Auf der Basis solcher Analysen gelang es allmählich, in Anlehnung an Bühler, qualitativ differente Wirkungsweisen verschiedener sprachlicher Mittel zu unterscheiden und diese mit dem Begriff der sprachlichen Felder bzw. der sprachlichen Prozedur zu erfassen (s. u. Kap. 3.2.2). Die Analyse authentischen sprachlichen Handelns hat demnach ein Instrumentarium bereitgestellt, das es ermöglicht, über das intuitive Wissen des einzelnen Sprachnutzers hinaus die funktionale Charakteristik sprachlicher Mittel zu analysieren. Eine weitere, argumentativ elaboriertere Kritik an der Rekonstruktion mentaler Prozesse anhand des sprachlich Gegebenen macht sich an dem Begriff der

Umgebung beobachtet und anhand dieser Beobachtungen auf Existenz und Struktur der Schwarzen Löcher schließt. 5 Ein Beispiel für ein solches hörerseitiges Vervollständigen findet sich auch in den hier untersuchten Daten (s. u. Kap. 7.2). 6 Demgegenüber hat die Psycholinguistik einen anderen Weg gewählt, Wissen über die Zusammenhänge zwischen Sprache und Mentalem zu erarbeiten. Indem sie weitgehend experimentell verfährt, gehorcht sie bestimmten Prinzipien wissenschaftlicher Erkenntnis, etwa Standardisierung, Wiederholbarkeit, intersubjektiver Überprüfbarkeit. Der große Nachteil dieser Verfahrensweise besteht allerdings darin, dass sie keine authentischen, sondern experimentell produzierte Daten untersucht und damit, streng genommen, auch keine Aussagen über authentische Sprachverwendung treffen kann.

88 | Theorie und Methode „Intention“ fest. Sprachliches Handeln kann immer auch nicht-intendierte Folgen haben, ja „ohne unbeabsichtigte Folgen gibt es durchaus keine Gesprächsdynamik“ (Knobloch 1988: 122). Eine Gleichsetzung von „Sprecherabsichten und Sprachfunktionen“ (a. a. O.: 123) ist also wenig sinnvoll, aber, Knobloch zufolge, „gleichwohl gebräuchlich[e]“ (ebd.; vgl. Knobloch 1994 Kap. 1). Diese Kritik trifft allerdings ein individualistisches Sprachverständnis, welches das Individuum und sein spontan entworfenes Wollen und Können als Anfangs- und Endpunkt der Analyse nimmt. Werden sprachliche Elemente dagegen als Mittel sozialen Handelns verstanden, deren formale wie funktionale Charakteristik in oft jahrhundertelanger gesellschaftlicher Verwendung geprägt wird, wird die von Knobloch kritisierte Gleichsetzung m. E. vermieden. Formen und Funktionen sprachlicher Mittel sind demnach nicht vom Zufall individuellen Wollens abhängig, sondern sie sind Elemente sozialer Kooperation, die einen je spezifischen sozialen Zweck erfüllen. Die reflektierte, die Sprechsituation berücksichtigende Rekonstruktion dieses Zwecks anhand authentischer Daten macht es möglich, die Sprecherintention als fehleranfällige Kategorie zu eliminieren. Stattdessen können Kategorien genutzt werden, die die überindividuelle, soziale Prägung von Sprache erfassen und es so erlauben, Formen und Funktionen sprachlicher Mittel analytisch miteinander in Verbindung zu setzen. Nicht verschwiegen werden soll indes, dass auch dieses Kategorieninstrumentarium der zirkulären Struktur menschlicher Erkenntnis nicht vollständig entbehrt. Schließlich baut die anzustellende Analyse auf Kategorien auf, die andere, im Wesen ähnlich gelagerte, Analysen zuvor entwickelt haben. Es sei jedoch darauf verwiesen, dass, im Sinne der Hermeneutik, absolute Erkenntnis oder voraussetzungsloses Denken weder möglich noch wünschenswert ist, es mithin nicht darum gehen kann, „aus dem Zirkel heraus-, sondern in ihn nach der rechten Weise hineinzukommen“ (Heidegger 2006: 153). Entscheidend ist, sich theoretische wie empirische Ausgangs und Zielpunkte nicht „durch Einfälle und Volksbegriffe vorgeben zu lassen“ (ebd.), sondern sie „aus den Sachen selbst“ (ebd.), also den sprachlichen Daten, zu entwickeln und an ihnen zu überprüfen. In diesem Sinne ist weiterhin zu fragen, ob sich die Eignung funktionalpragmatischer Verfahrensweisen für die Erforschung von Psychotherapie, die bisher anhand theoretischer Unterscheidungen dargelegt wurde, auch in der Forschungspraxis zeigt. Basierend auf den Ausführungen in Kapitel zwei kann hierzu exemplarisch auf einige wichtige Arbeiten hingewiesen werden. Beispielsweise hat das Projekt um Dieter Flader (s. o. Kap. 2.2) weitgehend funktional-pragmatisch vorgehend einen Grundstock an Wissen über Strukturen der Diskursart Psychotherapie generiert und damit die Diskussion in dem Feld

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nachhaltig geprägt (s. dazu auch Scarvaglieri 2011a). Auch Flader selbst hat u. a. Vorschläge für eine handlungstheoretische Weiterentwicklung der Psychoanalyse vorgelegt (1995; s. u. Kap. 4.2), die Sprache in der Therapie als das Handeln von Patient und Therapeut konzipieren und damit auf Aspekte psychischer Krankheiten und ihrer Behandlung hinweisen, die zuvor nicht greifbar waren. Außerdem konnte z. B. Jennifer Hartog (1994) anhand funktional-pragmatischer Transkriptanalysen zeigen, dass die Methode des „ZBKT“7 systematische Verkürzungen und Verfälschungen des Geschehens in der Psychotherapie produziert und für das Verständnis dessen, was in einer Therapie tatsächlich geschieht, eher hinderlich ist. Insgesamt erscheint die Funktionale Pragmatik so als ein Ansatz, der theoretische Kategorien bereitstellt, die für die Beantwortung der „Kardinalfrage“ (Buchholz u. a. 2008: 27) von Therapie, „wie durch Interaktion […] Kognitionen verändert werden“ (ebd.), hilfreich sein können. Um allen Lesern die Lektüre der Analyse zu ermöglichen, stellt das nächste Kapitel die hier nur angerissenen funktional-pragmatischen Unterscheidungen, die für die Analyse benötigt werden, näher vor.

3.2 Die Funktionale Pragmatik 3.2.1 Sprache als Handlung Die Funktionale Pragmatik8 versteht Sprache als Handlung. Im Unterschied zu anderen Formen des Handelns vollzieht sich das sprachliche Handeln eines Sprechers nicht an einem materiellen Gegenstand, sondern richtet sich auf einen anderen Handelnden, den Hörer. Gesprochene Sprache, wie sie hier zu

7 Die Methode des „Zentralen-Beziehungs-Konflikt-Themas“, abgekürzt „ZBKT“, soll „zentrale[r] Beziehungsmuster“ (Albani 1994: 289), die das Erleben eines Patienten prägen, erfassen. Sie wurde in der Therapieforschung entwickelt, um Patienten überindividuell beschreiben und vergleichen zu können. Die Methode besteht v. a. darin, dass Kodierungen von VerbatimProtokollen therapeutischer Sitzungen hinsichtlich „Wunsch-Komponente“ (a. a. O.: 290), „Reaktion des Objekts“ (ebd.) und „Reaktion des Subjekts“ (ebd.) vorgenommen werden. Hartog (1994) zeigt, dass diese Methode in wesentlichen Punkten nicht funktioniert und insgesamt ungeeignet ist, das sprachliche Geschehen in der Therapie zu erfassen. 8 An dieser Stelle erfolgt nur eine Kurzdarstellung, ausführlichere Darstellungen finden sich u. a. in: Ehlich 1986a, 1998, Rehbein & Kameyama 2004, Redder 2008. Gewissermaßen ‚von außen‘ wird die Funktionale Pragmatik in Knobloch 2010, Gruber 2012 und Reisigl 2012 vorgestellt.

90 | Theorie und Methode untersuchen ist, ist zwar hör-, aber nicht sichtbar.9 Ebenfalls nicht sichtbar, ebenfalls im Unterschied zu nicht-sprachlichen Formen des Handelns, ist das Ergebnis einer sprachlichen Handlung, die Sachverhaltsänderung (Rehbein 1977).10 Während nicht-sprachliches Handeln einen buchstäblich ‚handgreiflichen‘ Eingriff in die Wirklichkeit vornimmt, die Veränderung der Wirklichkeit also nicht nur gesehen, sondern auch gefühlt, gegriffen werden kann, verändert Sprache etwas im Kopf, im mentalen Bereich des Hörers (vgl. Knobloch 1988). Die Veränderung selbst ist nicht fassbar, sie wird nur vermittelt über etwaige – sprachliche oder nicht-sprachliche – Anschlusshandlungen des Hörers, mit denen er auf die Ursprungshandlung reagiert, zugänglich. Aufgrund dieser Unsichtbarkeit der Sachverhaltsänderung ist der Handlungscharakter von Sprache lange nicht thematisiert worden und wird auch noch heute bestritten.11 Während andere Formen des Handelns eindeutig identifizierbare Sachverhaltsänderungen produzieren, lässt sich die durch sprachliches Handeln herbeigeführte Sachverhaltsänderung nicht greifen, nicht messen oder quantifizieren. Dennoch wird hier nicht argumentiert, dass das Konzept von Sprache als Handlung das einzige ist, mit dem Sprache sinnvoll erfasst und beschrieben werden kann. Sprache lässt sich auch als ein System geordneter Elemente verstehen und untersuchen und auch in der Gesprächsanalyse hat sich der systemtheoretische Zugang als fruchtbar erwiesen (Hausendorf 1992). Allerdings handelt es sich bei dem Konzept von Sprache als System um einen sekundär von der Wissenschaft entwickelten Zugang, der den Sprachbenutzern selbst fremd

9 Sichtbar gemacht wird Sprache, phylogenetisch spät, durch Schrift (Ehlich 1994a). 10 Rehbein bezeichnet „Sachverhalte“ als „Elemente der Wirklichkeit“ (Rehbein 1977: 90). Als solche haben sie „eine Struktur, bevor eine Handlung an ihnen ansetzt“ (ebd.). Handlungen verändern Sachverhalte (a. a. O.: 181ff). 11 Auch die Tatsache, dass sich die Reflexion über Sprache traditionell an schriftlichen Texten, in denen v. a. Verkettungen von „Assertionen“ realisiert werden, orientiert hat, hat zum Übersehen des Handlungscharakters von Sprache beigetragen (vgl. Ehlich 1979b: 347ff). Schriftliche Texte dienen der Überbrückung einer „zerdehnten Sprechsituation“ (Ehlich 1984b), der Handlungsprozess zwischen Sprecher und Hörer wird jeweils nur an einem – meist dem rezeptiven – Ende der Sprechsituation sichtbar. Der Handlungsprozess ist also ebenfalls zerdehnt, er ist nicht ohne weiteres als solcher erkennbar. Ein weiterer Aspekt besteht m. E. darin, dass die traditionell untersuchten, schriftlichen Assertionsverkettungen das Wissen des Hörers ausoder umbauen. Im Gegensatz zu anderen sprachlichen Handlungen, etwa Aufforderungen oder Bitten, ziehen „Assertionen“ in der Regel keine sprachlichen oder nicht-sprachlichen Handlungen des Adressaten unmittelbar nach sich, ihre Nachgeschichte besteht lediglich in der angezweckten mentalen Veränderung. Indem per se also keine nicht-mentale Reaktion auf „Assertionen“ erfolgt, erscheint auch hier der Handlungscharakter von Sprache, der sich eben am einfachsten in nicht-sprachlichen Reaktionen auf sprachliche Handlungen erkennen lässt, verdeckt.

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und für ihren täglichen, nativen Sprachgebrauch irrelevant ist (vgl. die Argumentation in Jørgensen 2008). Demgegenüber erfasst, so die hier im Sinne der Funktionalen Pragmatik vertretene Ansicht, das Konzept der Handlung Sprache in ihrem Wesen. Sprecher sprechen, um Wirklichkeit zu verändern, um also im Kopf des Hörers bestimmte Prozesse auszulösen und ihn zu einer Anschlusshandlung (die auch in weiterem Zuhören bestehen kann) zu bewegen. An der Tatsache, dass sprachliches Handeln immer auf einen Hörer gerichtet ist, wird ein weiteres Wesenselement von Sprache erkennbar. Sprache hat im Handeln zwischen mehreren, mindestens zwei, Aktanten ihren Platz. Sprache ist also notwendig gesellschaftlich. Die Mitglieder einer Gesellschaft nutzen Sprache zur Abstimmung ihres Tuns, zur Kooperation, und entwickeln sprachliche Mittel, die es ihnen erlauben, ihren Bedürfnissen entsprechend in die mentalen Prozesse anderer Aktanten einzugreifen. Dazu muss Sprache interindividuell nutzbar und verstehbar sein und den Bedürfniskonstellationen, zu deren kooperativer Bewältigung sie genutzt wird, korrespondieren. Auch diese Bedürfnisse (zu Begriff des Bedürfnisses s. T. Meyer 2003: 75f.) entstehen nicht ad hoc, „sondern sie sind gemeinschaftlich entwickelt in dem System organisierter Produktion, in dem der einzelne anteilmäßig mit anderen arbeitet und sein Leben reproduziert“ (Rehbein 1977: 24).12 Bedürfnisse entstehen und vergehen also im gesellschaftlichen Handeln. Sie konstituieren gesellschaftliche Zwecke. Bedürfnisse und Zwecke korrespondieren einander und bilden damit einerseits ein stabiles gesellschaftliches System, andererseits verändern sie sich im Laufe der gesellschaftlichen Entwicklung. Mit ihnen verändern sich die sprachlichen Mittel zur Bedürfniserfüllung (vgl. dazu exemplarisch Scarvaglieri & Zech 2013), Sprache wandelt sich in Abhängigkeit von der Geschichte einer Gesellschaft (Ehlich 1994b). Auch synchron bilden unterschiedliche Gesellschaften unterschiedliche Bedürfnisse und/oder unterschiedliche kommunikative Mittel ihrer Bewältigung aus, Sprache ist also abhängig von Kultur (Redder & Rehbein 1987, Rehbein 2006). Sprache als sich geschichtlich und kulturell wandelndes, nie vollständig erfassbares System dient aus dieser Perspektive also dem kooperativen sprachlichen Handeln in repetitiven gesellschaftlichen Bedürfniskonstellationen.

12 Einfach nachvollziehbar ist die Gesellschaftlichkeit von Bedürfnissen etwa an durch technischen Fortschritt hervorgerufenen Bedürfnissen. Mit der Erfindung und gesellschaftlichen Verbreitung des Automobils entsteht das Bedürfnis nach Treibstoff, nach einer Kraftfahrzeugversicherung, Winterreifen etc. Kulturvergleichend ist z. B. besonders augenfällig, wie unterschiedlich das menschliche Grundbedürfnis nach Nahrung gesellschaftlich entwickelt ist (u. a. hinsichtlich Art, Häufigkeit, Menge der Nahrungsaufnahme).

92 | Theorie und Methode 3.2.2 Bedeutung sprachlicher Mittel Die sprachlichen Mittel, die gesellschaftlich zur Bedürfniserfüllung entwickelt sind, lassen sich entlang unterschiedlicher Dimensionen unterscheiden, es lassen sich so Strukturen im Sprachsystem erkennen. Eine klassische Dimension der Unterscheidung ist die der „Bedeutung” von sprachlichen Mitteln. Funktional-pragmatisch lässt sich Bedeutung als das fassen, was Sprache mental bewirkt.13 Dieser grundlegend funktionale Bedeutungsbegriff ermöglicht es, die Aufmerksamkeit auf Phänomene sprachlichen Handelns zu richten, die den klassischen zeichentheoretischen bzw. referentiellen Bedeutungskonzeptionen verborgen bleiben müssen. So konnte Ehlich (1979a, 1986b) zeigen, dass das Deutsche im Bereich der Höreräußerungen („Hm”) mit Tönen operiert. Das heißt, dass sich die Bedeutung, eben die Wirkung auf den mentalen Bereich des Hörers, mit der Intonation eines „Hm“ verändert, obwohl der lexikalische Anteil, also das, was klassischerweise als sprachliches Mittel verschriftlicht würde, gleich bleibt (das „Hm“ ohne Auszeichnung der Intonation). Ob ein „Hm“ fallend-steigend, fallend, steigend oder gleich bleibend intoniert wird, verändert den Eingriff in das mentale Handeln des Gegenüber, verändert also die Bedeutung des „Hm“. Erst der Blick auf das, was Sprache mental bewirkt, macht die Erkenntnis der ‚Bedeutung‘ von Höreräußerungen möglich. Ähnlich, wenn auch anders zu kategorisieren, arbeiten prosodische Elemente, die auf lexikalischen Ausdrücken operieren. Ein Beispiel, das Teil des allgemeinen Handlungswissens ist, ist die Intonation von „Guten Morgen“. Wenn diese im Alltag z. B. als „freundlich“, „miesepetrig“ oder „schlechtgelaunt“ eingeschätzt wird, wenn Ratschläge gegeben werden, immer laut und freundlich „Guten Morgen“ zu sagen, wird deutlich, dass die Sprecher und Hörer des Deutschen über ein Wissen über die Bedeutung, also die mentale Wirkung, der Intonation von „Guten Morgen“ (und anderen Ausdrücken) verfügen. Sie wissen, dass die Intonation eines Ausdrucks Einfluss haben kann auf das

13 Ein Teil der linguistischen Diskussion hat den Aspekt der „Wirkung“ von Sprache lange mit dem sprechakttheoretischen Konzept der „Perlokution“ verbunden. Mit diesem Konzept wird die Reaktion des Hörers analytisch zu einem Teil der vorangegangenen sprachlichen Handlung, d. h. die Perlokution macht eine sprachliche Handlung allein vom Sprecher abhängig und eliminiert so den Hörer und seine mentale Verarbeitung der Äußerungen als analytische Kategorie. Dieses Verständnis von „Wirkung“ wird in dieser Arbeit nicht verfolgt. Wenn hier von der „Wirkung“ sprachlicher Mittel die Rede ist, wird auf die systematisch zu rekonstruierenden mentalen Prozesse des Hörers abgestellt. Sprachliche Mittel werden wie dargestellt als gesellschaftlich geprägte Formen zur Erfüllung von Zwecken verstanden – die Rede von der „Wirkung“ sprachlicher Mittel soll hier die Hörerperspektive ins Zentrum rücken.

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gemeinsame Handlungssystem, erfassen also die handlungspraktische Relevanz der Intonation intuitiv. Intonation kann die Atmosphäre zwischen den Aktanten verändern, damit verändert sie die Einschätzung des gemeinsamen Handlungssystems und generiert etwa Erwartungen über den weiteren Handlungsprozess. Sprachliche Mittel verändern etwas im mentalen Bereich des Hörers – diese Veränderung bzw. Wirkung lässt sich handlungstheoretisch als Bedeutung fassen. Die Beispiele zeigen, dass die funktionalen Einheiten, die das sprachliche Handeln prägen, ‚kleiner‘ sein können als Wörter (vgl. Redder 2005, 2007b). Die „Hms“ galten klassischerweise nicht als Einheiten sprachlichen Handelns und werden nach wie vor nicht in Wörterbücher aufgenommen, ebensowenig erfasst das Wortkonzept die kommunikative Relevanz von Intonation. Da diese sprachlichen Mittel faktisch aber Einfluss auf das Handeln zwischen Sprecher und Hörer haben, die soziale Realität also modifizieren, hat die Funktionale Pragmatik mit der „Prozedur“ einen Begriff entwickelt, der es ermöglicht, die kleinsten funktionalen Einheiten sprachlichen Handelns zu erfassen und hinsichtlich der beim Hörer ausgelösten mentalen Prozesse kategorial zu unterscheiden. Die Prozedur setzt an Bühlers (1982) Unterscheidung von Zeigfeld und Symbolfeld an und wurde von Ehlich in einer Reihe von Arbeiten (1979b, 1986b, 1987, 1994b) entwickelt. Unterschieden werden fünf sprachliche Felder bzw. Prozeduren: – Ausdrücke wie die „Hms“, die in den Handlungsprozess des Hörers unmittelbar eingreifen, werden als expeditive Prozeduren des Lenkfeldes erfasst. Sie beeinflussen den Hörer ohne dass er lexikalisches Wissen über den Ausdruck aufrufen müsste, nehmen also keinen „Umweg über propositionale Strukturen“ (Rehbein & Kameyama 2004: 565). Zu ihnen gehören im Deutschen die sog. ‚Interjektionen‘ und der Imperativ. – Mittel, die die Atmosphäre zwischen Sprecher und Hörer bearbeiten, werden als expressive Prozeduren des Malfeldes bezeichnet. Im Deutschen arbeiten sie, wie im „Guten Morgen“-Beispiel, meist intonatorisch und in Kombination mit lexikalischen Elementen. – Wissenschaftsgeschichtlich älter ist der Hinweis auf die deiktische Funktion bestimmter Ausdrücke – auf den Ausgangspunkt bei Bühler wurde bereits hingewiesen, Bühler selbst stützt sich insbesondere auf Brugman (1904). Die deiktischen Ausdrücke des Zeigfeldes verweisen den Hörer auf ein bestimmtes Element, richten also seine Aufmerksamkeit auf dieses Element aus. Auf welches Element verwiesen wird, ist abhängig von der Handlungskonstellation, in der das sprachliche Mittel genutzt wird. Ein Beispiel ist der

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Ausdruck „ich“, der grundsätzlich auf den Sprecher, aber je nach Sprecher auf eine unterschiedliche Person, verweist.14 Unterschieden wird zwischen verschiedenen „Verweisräumen“, in denen sich das Objekt, auf das die Aufmerksamkeit ausgerichtet wird, befinden kann: Wahrnehmungsraum, Vorstellungsraum, Wissensraum, Rede- bzw. Textraum. Weitere Deiktika sind z. B. „da“, „hier“, „dort“, „jetzt“, „dann“ „du“. Gegenstand der traditionellen sprachwissenschaftlichen Reflexion sind v. a. die nennenden Prozeduren des Symbolfelds. Sie rufen beim Hörer Wissen über ein Element der Wirklichkeit auf. In den Symbolfeldausdrücken ist also gesellschaftliches Wissen über die Wirklichkeit abgebunden, sie bilden damit „ein sprachliches Potential für Verbalisieren und Rezipieren von Wissenspartikeln“ (Rehbein & Kameyama 2004: 566). Zu den Symbolfeldausdrücken gehören z. B. Adjektive, Substantive oder Verben (bzw. jeweils der ‚lexikalische‘ Anteil dieser Ausdrücke). Symbolfeldausdrücke machen das Gros der sprachlichen Mittel (im Sinne von „Types“) des Deutschen aus, im sprachlichen Handeln (also als „Token“) werden sie aber immer mit Mitteln der anderen Felder kombiniert verwendet. Eine wichtige Rolle bei der Kombination sprachlicher Ausdrücke spielen die operativen Prozeduren des Operationsfeldes. Sie dienen der Verarbeitung von Sprache als Sprache, bilden die realisierten propositionalen Elemente also so aufeinander ab, dass die Äußerung eine für das Hörerhandeln anschlussfähige „Funktionseinheit“ (Hoffmann 2003: 21) bildet. Zu den operativen Ausdrücken gehören z. B. Konjunktionen, Determinativa oder auch die Satzform bzw. die Position von Ausdrücken innerhalb einer Äußerung.

Wie der Hinweis auf die Prozeduren als die kleinsten funktionalen, also bedeutungstragenden, Einheiten sprachlichen Handelns zeigt, lassen sich Sprachmittel auch hinsichtlich ihrer „Größe“ unterscheiden. „Größe“ ist dabei funktional-pragmatisch weniger oberflächenorientiert als Ausdehnung in der Zeit oder im Raum zu verstehen denn als kommunikative Reichweite im sprachlichen

14 Der Freudsche Ausspruch „Wo Es war, soll Ich werden“ zeigt, dass die Feldcharakteristik eines Ausdrucks maßgeblich von seiner Verwendung im sprachlichen Handeln abhängt. Freuds Prägung und die gesellschaftliche Akzeptanz, die sie erfahren hat, haben dafür gesorgt, dass aus dem deiktischen „ich“ und dem operativen „es“ die Symbolfeldausdrücke (das) „Ich“ und (das) „Es“ entstanden sind. Sie rufen ein gesellschaftlich abgebundenes Wissen auf, funktionieren also grundsätzlich anders als ihre jeweilige Ursprungsform. Gleichwohl ist der Punkt der Freudschen Begriffsbildung, dass ein Teil der Funktionen von „ich“ und „es“ (bzw. des kollektiven, unreflektierten Wissens über diese Funktionen) in dem mit den Symbolfeldausdrücken aufgerufenen Wissen aufgehoben ist.

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Handeln zwischen Sprecher und Hörer. Auch diese, nun zu erläuternde Unterscheidung wird mithin grundsätzlich funktional vorgenommen.

3.2.3 Einheiten sprachlichen Handelns Prozeduren, die kleinsten sprachlichen Einheiten, werden im sprachlichen Handeln zu „Äußerungen“, also sprachlichen „Handlungen“, kombiniert. Äußerungen realisieren gemeinsam mit anderen sprachlichen und nichtsprachlichen (mentalen, physischen) Handlungen „Handlungsmuster“. Bei der Herausarbeitung, Beschreibung und grafischen Darstellung von Handlungsmustern wird daher auch systematisch zwischen dem interaktionalen und dem mentalen Bereich von Sprecher und Hörer unterschieden. Handlungsmuster wiederum können gemeinsam so kombiniert werden, dass sie „Diskursarten“ realisieren. Mit diesen drei Begriffen (sowie in Teilen noch dem „Diskurstyp“, s. u. Anmerkung 68) stellt die Funktionale Pragmatik Kategorien bereit, um größere Einheiten zusammenhängenden sprachlichen Handelns zu erfassen. Dabei wird, den bereits entwickelten Grundüberlegungen entsprechend, davon ausgegangen, dass auch diese Einheiten sprachlichen Handelns grundlegend gesellschaftlich geprägt sind und der Bearbeitung eines – je unterschiedlich weit reichenden – Bedürfnisses bzw. der Realisierung eines Zwecks dienen. Während die sprachliche Handlung der „Frage“ z. B. dazu dient, ein bestimmtes Nicht-Gewusstes des Sprechers zu verbalisieren und vom Hörer das Schließen der Wissenslücke anzufordern, realisiert das Handlungsmuster „Frage-Antwort“ als Sequenz von sprachlichen (Fragen, Antworten) und nichtsprachlichen (Erkennen eines bestimmten Nicht-Gewussten, Entscheidung dieses Nicht-Wissen zu erfragen, mentale Überprüfung, ob das erfragte Gewusste vorliegt sowie weitere Handlungen) Handlungen im erfolgreichen Fall die Behebung des in der Ursprungskonstellation vorhandenen Wissensdefizits. Die sprachliche Handlung bearbeitet also die aktuell gegebene Handlungskonstellation so, dass sie zum Ansatzpunkt weiterer Handlungen werden kann,15 das Handlungsmuster dagegen realisiert seinen Zweck vermittelt durch eine Reihe sprachlicher und nicht-sprachlicher (mentaler, non-verbaler) Handlungen. Eine

15 Rehbein bestimmt eine Handlung genauer als eine „Sachverhaltsänderung“ (1977: 184), die von „einem oder mehreren Aktanten in einem Handlungskontext“ durchgeführt wird und die die folgenden „Stadien eines Handlungsprozesses“ durchläuft: „Einschätzung der Situation, Motivation, Zielsetzung, Plan/ Planbildung, Ausführung, Resultat“ (ebd.). Weiteres Kriterium einer Handlung ist, dass „der Durchlauf durch die Stadien des Handlungsprozesses die Anwendung eines Handlungsmusters ist“ (ebd.).

96 | Theorie und Methode Diskursart wie z. B. der „wissenschaftliche Vortrag“, in den das „Frage-Antwort“-Muster eingebettet sein kann, erfüllt wiederum den Zweck, aktuelle Forschungsergebnisse publik zu machen und zur Diskussion zu stellen (Hohenstein 2006), dient also einer sehr weitreichenden Umorganisation des Hörerwissens. Der zu realisierende Zweck einer Diskursart ist von der jeweiligen Ausgangskonstellation vergleichsweise ‚weit entfernt‘, es sind vergleichsweise viele Handlungen bzw. Durchläufe durch Handlungsmuster notwendig, um ihn zu erreichen. Abbildung 1 stellt die angesprochenen Größeneinheiten in Anlehnung an Graefen & Liedke (2008: 267) dar.

Abb. 1: Einheiten sprachlichen Handelns

Prozeduren, Handlungen, Handlungsmuster und Diskursarten werden wie gesagt durch den Zweck, den sie erfüllen, geformt. Sie werden also je so selegiert und kombiniert, dass sie den zugrundeliegenden Zweck realisieren. Beispielsweise besteht ein Handlungsmuster aus unterschiedlichen „Musterpositionen“, an denen bestimmte sprachliche Handlungen die kommunikative Tiefenstruktur an die Oberfläche vermitteln. Eine Musterposition bewirkt eine für das Handlungsmuster unabdingbare, spezifische Veränderung der Handlungskonstellation zwischen Sprecher und Hörer, die das Muster seiner erfolgreichen Bewältigung ‚einen Schritt näher bringt‘. Das Muster realisiert sich also durch einzelne sprachliche Handlungen, gleichzeitig formt und strukturiert es diese Handlungen und ihre Kombination aber auch, so dass sich ein komplexes, nicht-lineares Teil-Ganzes-Verhältnis ergibt, das in der Analyse zu rekonstruieren ist. Ähnliches gilt für eine Diskursart wie die hier zu untersuchende verbal

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orientierte Psychotherapie16, die funktionale sprachliche Strukturen ausformt (s. Kap. 2.2 und Kap. 9.2) und damit die Realisierung von Vorgeschichte, Nachgeschichte und Geschichte17 einer Handlung oder eines Handlungsmusters in der Therapie beeinflusst. Wenn sie die gesellschaftliche Zweckstruktur sprachlichen Handelns analytisch priorisiert, übersieht die Funktionale Pragmatik nicht, dass Sprecher mit ihren Handlungen auch bestimmte Ziele verfolgen. Diese lassen sich als Konkretisierung des Zwecks in der aktuell gegebenen Handlungskonstellation verstehen. So zielt z. B. die Frage nach dem Preis eines Produktes auf die Beseitigung eines bestimmten konstellativ gegebenen Nicht-Gewussten ab (eben die Unkenntnis darüber, wieviel das Produkt kostet), das für den weiteren Handlungsprozess (die Kaufentscheidung) von Relevanz ist. Das Ziel dieser Frage ist also eine konstellationsabhängige Konkretisierung des Zwecks des Fragens, ein bestimmtes Nicht-Gewusstes zu beseitigen.

3.2.4 Akte Eine sprachliche Handlung lässt sich analytisch nicht nur hinsichtlich der Prozeduren, die sie umsetzen, sondern auch funktional nach „Äußerungsakt“, „propositionalem Akt“ und „illokutivem Akt“ unterscheiden. Während sich die zuvor besprochenen Einheiten also jeweils einzeln im sprachlichen Handeln realisieren und kombinieren, bilden die Akte selbst eine Einheit (eben eine Äußerung), kein Akt kann ohne die beiden anderen realisiert werden. Mit den Akten unterscheidet man jeweils ein funktionales Moment einer sprachlichen Handlung. Der „Äußerungsakt“ erfasst die lautliche oder graphematische Realisierung einer sprachlichen Handlung, er fragt danach, wie eine Äußerung materiell umgesetzt wird. Der propositionale Akt bezieht sich auf den inhaltlichen Aspekt einer Äußerung und fragt damit nach dem Thema der Äußerung und nach dem, was über dieses Thema ausgesagt wird. Der illokutive

16 Rehbein & Kameyama (2004) sprechen vom therapeutischen Diskurs als „komplexe[m] Diskurstyp“ (571), gehen also von verschiedenen Diskursarten aus, in denen sich Therapie realisiert. In dieser Arbeit wird die These zugrundegelegt und anhand empirischer Daten belegt (s. Kap. 7, 8 und 9.2), dass tiefenpsychologische und gesprächstherapeutische Psychotherapie eine funktional und formal bestimmte Diskursart bilden. Eine andere therapeutische Diskursart wird z. B. durch die Verhaltenstherapie konstituiert, die eine andere Form mentaler Umstrukturierung anstrebt und entsprechend auch anders vorgeht. 17 Zur Gliederung des Handlungsprozesses in Vorgeschichte, Geschichte und Nachgeschichte s. Rehbein (1977: 82f.).

98 | Theorie und Methode Akt erfasst die oben bereits angesprochene Zweckcharakteristik sprachlichen Handelns und fragt damit nach der Konstellationsveränderung, die eine Äußerung bewirkt.

3.2.5 Sprache – Wissen – Wirklichkeit Die vorgenommenen Unterscheidungen basieren auf dem Verständnis von Sprache als Handeln. Handeln ist kein isolierter Prozess und auch nicht allein in der Dyade von Sprecher und Hörer basiert, sondern findet in der gesellschaftlichen Wirklichkeit statt und bezweckt deren (konstellativ eingeschränkte) Bearbeitung. Die Wirklichkeit, bzw. das, was die Aktanten davon wissen, ist also wesentlich, um sprachliches Handeln zu verstehen. Wirklichkeit wird nicht als solche erfasst, sondern über eine mentale Widerspiegelung, die ihrerseits v. a. gesellschaftlich bestimmt ist. Das Handeln in der Wirklichkeit ist also wissensbasiert. Es greift auf Wissen zurück und bezweckt als sprachliches Handeln zunächst eine Veränderung im Kopf des Hörers, also einen Eingriff in mentale Prozesse. Das Wissen bzw. der mentale Bereich ist daher ebenfalls begrifflich zu erfassen, um sprachliches Handeln zu verstehen. Ein dritter Aspekt wird bei der Analyse von Sprache in der Regel ohnehin vorausgesetzt, es ist das sprachliche Handeln selbst, also das Resultat eines Äußerungsaktes. Da Sprache niemals, auch nicht im Labor des Linguisten, isoliert verwendet wird, sondern immer Teil eines Handlungsprozesses ist, ist ein viertes zu unterscheidendes Element der Handlungsprozess selbst. Grafisch stellt Abbildung 2 das Verhältnis von Handeln, Sprache, Wissen und Wirklichkeit nach Rehbein (1999: 93; vgl. Ehlich & Rehbein 1986: 96) dar.

Abb. 2: Das handlungstheoretische Wissensmodell

Der Großbuchstabe P steht für die außersprachliche Wirklichkeit. Da diese nicht als solche zugänglich ist, kann sie nur vermittelt, in ihrer mentalen Widerspiegelung genutzt und bearbeitet werden (problematisiert wird die Theorie der Widerspiegelung von Wirklichkeit bei Reisigl 2012). Wenn in der folgenden

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Analyse also vom P-Bezug sprachlichen Handelns die Rede ist, wird nicht davon ausgegangen, dass die Wirklichkeit als solche, sondern ihre mentale Widerspiegelung bei den Aktanten bearbeitet wird. Der griechische Buchstabe П repräsentiert die mentale Wirklichkeit von Sprecher (ПS) und Hörer (ПH). П umfasst u. a. die „Kombination von Wissenselementen zu neuen Erkenntnissen, die dann selber als Wissen abgelagert werden, wie aber auch die komplexen Bewertungsprozesse anhand von deontischen und anderen Hierarchien und Systemen“ (Ehlich & Rehbein 1986: 97). Andere mentale Prozesse, wie Glauben, Verstehen, Wahrnehmen, aber auch emotionale oder affektive Vorgänge, werden ebenfalls mittels П erfasst. Der Kleinbuchstabe p steht für die sprachliche Wirklichkeit, also das, was geäußert wird. FS und FH stehen für das sprachliche Handeln und heben hervor, dass sowohl die mentale Verarbeitung von P in П in einem Handlungsprozess vor sich geht, als auch die Verbalisierung von p aus ПS und die Verarbeitung von p in ПH auf der Grundlage der mentalen Widerspiegelung der Wirklichkeit in ПH Teil eines Handlungsprozesses sind. Mit der Unterscheidung von Sprache, Wissen und Wirklichkeit stellt die Funktionale Pragmatik weitere grundlegende Kategorien bereit, um sprachliches Handeln in der Psychotherapie zu erfassen. Sprachliches Handeln in der Psychotherapie (p) bearbeitet mentale Prozesse (П), verändert so die mentale Widerspiegelung der außersprachlichen Wirklichkeit (P) und damit auch das Handeln (F) in der Wirklichkeit. Diese Veränderung ist insgesamt als Heilung zu konzipieren. Eine erste handlungstheoretische Annäherung an Psychotherapie, ihre Ausgangssituation, Wirkung und ihre Abgrenzung zu anderen helfenden Diskursformen unternimmt das folgende Kapitel 4.

4 Die Institution Psychotherapie 4.1 Psychotherapie und benachbarte Diskurse Psychotherapie ist, wie Medizin, Psychiatrie und Beratung, darauf ausgerichtet, zu helfen. Im Folgenden wird der psychotherapeutische Diskurs von den benachbarten Diskursen formal und funktional abgegrenzt und damit in seiner Eigenheit anfänglich greifbar. Den vier hier zu thematisierenden Diskursformen ist gemeinsam, dass sie ihren „Sitz im Leben“ (Gunkel 1913, Ehlich 2000) in gesellschaftlichen Einrichtungen haben, die Akteuren bei der Überwindung eines ‚Problems‘ helfen. Dieses ‚Problem‘ kann einerseits unterschiedlich ausgeprägt sein, andererseits kann es unterschiedlich bearbeitet werden (s. u.) – sprachlich und nichtsprachlich gehandelt wird aber in allen Fällen, um zu helfen. Die handelnden „Agenten“, also die Akteure, die für die jeweilige Institution tätig sind und ihren Zweck umsetzen sollen, sind für das helfende Handeln professionalisiert. Sie verfügen über professionelles Handlungswissen sowie (zumindest teilweise) über „Institutionswissen zweiter Stufe“ (Ehlich & Rehbein 1977: 41f.), das es ihnen ermöglicht, innerhalb der Institution effektiv tätig zu werden. Die „Klienten“, also die Akteure, die die Institution als Hilfesuchende in Anspruch nehmen, verfügen im Vergleich dazu in der Regel über weitaus weniger Wissen,1 sowohl was die Art und Weise der institutionellen Zweck-Mittel-Relationierung als auch was institutionelle Abläufe betrifft. Differenzierbar sind die Diskurse wie angedeutet nach dem Bedürfnis, das sie bearbeiten, sowie nach den Mitteln, die sie dafür nutzen. Psychiatrie (Bergmann 1980; 1992) und Medizin (s. z. B. Rehbein & Löning 1993, Nowak 2010, Sator & Spranz-Fogasy 2011) teilen mit der Psychotherapie die Ausrichtung auf die Heilung eines als ‚krank‘ geltenden Klienten. Das Konzept der ‚Krankheit‘ eines Individuums lässt sich für die hier interessierenden Zusammenhänge als vollständige oder teilweise Einschränkung der Fähigkeit zur Teilhabe an Prozessen der gesellschaftlichen Reproduktion verstehen. Aus handlungstheoretischer Perspektive bestimmt sich ‚Krankheit‘ also als eine Einschränkung der körperlichen und/oder geistigen Handlungsfähigkeit, die gesellschaftliche Teilhabe verhindert.

1 Gerade in den hier angesprochenen, im weitesten Sinne medizinischen Institutionen kann es aber zu ‚Patientenkarrieren‘ und damit zu einer ansatzweisen Professionalisierung von Klienten kommen.

102 | Die Institution Psychotherapie Für das Beraten dagegen (s. z. B. Nothdurft u. a. 1994; Hartog 1996, BeckerMrotzek 2001, Reitemeier 2010, Limberg & Locher 2012), das in verschiedenen Institutionen seinen Platz hat, ist von einem weitaus weniger drastischen ‚Problem‘ auszugehen. Ausgangspunkt ist ein spezifisches Nicht-Wissen, das eine konkrete Handlungsentscheidung verhindert und mit der institutionalisierten Form des „Ratgebens“ überwunden werden soll (Rehbein 1985: 350). Die Handlungsfähigkeit des Beratenen ist also nicht generell eingeschränkt. Das ‚Problem‘, das die Beratung bearbeitet, ist damit kategorial anders einzustufen als die Erkrankungen, die mittels Psychotherapie, Psychiatrie und Medizin geheilt werden. Für diese Institutionen geht es um die Wiederherstellung von Handlungsfähigkeit an sich, für die Beratung geht es lediglich um die Überwindung eines konkreten Handlungswiderstands. Psychiatrie und Psychotherapie auf der einen und Medizin auf der anderen Seite bezwecken demnach die Heilung eines als ‚krank‘ eingestuften Klienten, unterscheiden sich aber hinsichtlich der Verortung der Ursache der Erkrankung. Medizinisches Handeln erkennt die Ursache für das Leiden des Patienten in körperlichen Prozessen, Psychiatrie und Psychotherapie in der Psyche. Es ist also nicht so, dass medizinische Kommunikation allein durch den „Körperbezug“ (Rehbein 1993: 318) konstituiert und in der Therapie dagegen nur „auf geistig seelische-Bereiche abgehoben“ (ebd.) wird, vielmehr werden körperliche Krankheiten auch durch Therapie geheilt, wenn ihre Ursache in der Psyche lokalisiert wird (linguistische Untersuchungen zur Behandlung psychosomatischer Erkrankungen hat Stresing (2004, 2011) vorgelegt). Der Unterschied zwischen Psychiatrie bzw. Psychotherapie und Medizin liegt nicht in ihrem Gegenstandbereich, sondern in der diagnostischen Verortung der Krankheitsursache. Der Blick auf den Zweck der Institutionen lässt also eine Übereinstimmung zwischen Psychiatrie und Psychotherapie erkennen. Sie stellen beide auf die Heilung eines als psychisch krank diagnostizierten Aktanten ab. Hinsichtlich der Einstufung des ‚Problems‘ als „Erkrankung“, die die Handlungsfähigkeit eines Individuums generell betrifft, treffen sie sich mit dem medizinischen Diskurs. Am weitesten entfernt erscheint die Beratung, deren Zweck „Expertenwissen […] weiterzugeben“ (Rehbein 1985: 350) der Entscheidungsfindung bezüglich eines konkreten Handlungswiderstands dient. Das zu bearbeitende Bedürfnis ist bei der Beratung kategorial anders ausgeprägt als bei den Diskursen, die körperliche oder seelische Erkrankungen zum Gegenstand haben. Eine weitere Unterscheidung ermöglichen die Mittel, die verwendet werden, um den Zweck zu realisieren. In der Psychiatrie und der Medizin dient das sprachliche Handeln zwischen Agent und Klient primär der Vor- und Nachbereitung des eigentlichen, heilenden Eingriffs. Die Heilung selbst erfolgt durch einen physischen Eingriff in körperliche Prozesse. Das sprachliche Handeln in

Psychotherapie und benachbarte Diskurse | 103

Psychiatrie und Medizin realisiert also nicht den Zweck der Institution. Hierin unterscheiden sich insbesondere Psychiatrie und Psychotherapie. Während die Psychiatrie die Heilung psychisch verursachten Leidens durch Eingriff in körperliche Prozesse anstrebt, heilt Psychotherapie psychische Erkrankungen durch einen sprachlich vermittelten Eingriff in mentale bzw. psychische Prozesse. Das sprachliche Handeln realisiert den Zweck der Institution Psychotherapie (vgl. o. Kap. 1). Was die Mittel zur Realisierung des Zwecks angeht, lässt sich Psychotherapie von Psychiatrie und Medizin also eindeutig abgrenzen. Überschneidungen ergeben sich dagegen zum Beraten, das seinen Zweck ebenfalls sprachlich realisiert. Beim Beraten wird Wissen vom Agenten auf den Klienten übertragen, gelingt dies, wird der Klient ermächtigt, eine angemessene Handlungsentscheidung zu treffen (vgl. die oben angegebenen Arbeiten zum Beraten) und sein ‚Problem‘ zu lösen. Formal, hinsichtlich der Mittel, ähneln sich Psychotherapie und Beratung also (s. auch o. S. 70). Der kategoriale Unterschied zwischen den jeweils bearbeiteten Bedürfnissen wirkt sich allerdings auf die sprachlichen und nicht-sprachlichen Formen, die die Bedürfnisse realisieren, aus. Dies zeigt sich auf den ersten Blick an der Anzahl der Gespräche, die jeweils nötig sind, um den Zweck der Institution zu realisieren. Während das Beraten seinen Zweck durchaus mit einem Gespräch realisiert haben kann und nur selten mehr als zwei oder drei Gesprächstermine pro ‚Fall‘ umfasst, erstrecken sich viele psychoanalytische Therapien über mehrere Jahre und Hunderte von Sitzungen. Auch wenn nicht alle Formen verbal orientierter Psychotherapie so viel Zeit beanspruchen (so auch die hier zugrundegelegten Daten aus der Kurzzeittherapie, s. u. Kap. 6), wird deutlich, dass sich der sprachliche Aufwand in der Psychotherapie grundlegend von dem in der Beratung unterscheidet. Zurückzuführen ist dies auf den Zweck der Diskursformen: die heilende Wiederherstellung von Handlungsfähigkeit setzt eine qualitativ und quantitativ andere Bearbeitung des Klientenwissens voraus und löst andere psychische Prozesse (z. B. auch gegenläufige wie ›Widerstand‹ oder ›Abwehr‹) aus, als die beratende Überwindung eines konkreten Handlungswiderstands. Die formalen Ähnlichkeiten zwischen Therapie und Beratung sind somit nur oberflächlicher Natur, der unterschiedliche Zweck bedingt kategorial unterschiedliche Ausformungen des sprachlichen Handelns in Psychotherapie und Beratung. Tabelle 1 fasst Unterschiede und Gemeinsamkeiten der vier Institutionen und der in ihnen genutzten Diskursformen auf einer vergleichsweise hohen Abstraktionsstufe zusammen. Funktional ergibt sich eine Übereinstimmung zwischen Psychotherapie und Psychiatrie, formal eine gewisse Nähe zwischen Psychotherapie und Beratung.

104 | Die Institution Psychotherapie

Tabelle 1: Zwecke und Mittel helfender Diskursformen

Zweck

Mittel

Medizin Heilung körperlich verursachter Erkrankungen Physischer Eingriff in körperliche Prozesse

Beratung Vermittlung von entscheidungsrelevantem Expertenwissen Sprachlich vermittelte Wissensumstrukturierung

Psychiatrie Heilung psychisch verursachter Erkrankungen

Psychotherapie Heilung psychisch verursachter Erkrankungen

Physischer Eingriff in körperliche Prozesse

Sprachlich vermittelte Wissensumstrukturierung

4.2 Psychotherapie handlungstheoretisch Wenn im Folgenden versucht wird, Psychotherapie handlungstheoretisch näher zu beschreiben, dient dies der Annäherung an das Material und somit als Vorbereitung der Analyse. Es wird nicht davon ausgegangen, dass eine umfassende theoretische Konzipierung von Psychotherapie ohne Berücksichtigung der therapeutischen Praxis möglich ist, insbesondere können keine Aussagen über die Ursachen psychischer Erkrankungen generiert werden. Diese Aufgabe fällt der linguistischen Untersuchung der kommunikativen Realität in der Psychotherapie in Kapitel sieben und acht zu. In Kapitel neun werden die Ergebnisse dieser Untersuchungen mit der hier vorzunehmenden theoretische Betrachtung sowie der Diskussion des Forschungsstands (Kap. 2) vermittelt. Detaillierte Vorschläge für eine handlungstheoretische Weiterentwicklung der Psychoanalyse hat Dieter Flader vorgelegt (1994, 1995). Flader nimmt, auf der Grundlage von Falldarstellungen Freuds, eine Rekonzeptualisierung psychoanalytischer Begriffe und Kategorien aus handlungstheoretischer Perspektive vor. Er stellt zuvorderst auf klassische Beispiele neurotischer Zwangshandlungen ab und zeigt, dass sich ein solches Verhalten als „systematisch gebrochene Form des Handelns“ (1995: 139) verstehen lässt. Im neurotischen Handeln reproduziert sich ein ungelöster psychischer Konflikt, das Handeln erhält einen zweiten, unbewussten „psychische[n] Zweck“ (a. a. O.: 143). Diesen zweiten Zweck ‚kennt‘ nur der Erkrankte, allerdings lediglich als unbewusst handlungsleitendes Moment. Das neurotische Handeln erhält seinen rätselhaften, a-sozialen Charakter dadurch, dass es einem psychischen Zweck dient, der sich von dem eigentlichen, gesellschaftlichen Zweck der Handlungsform unterscheidet und der dem Handelnden selbst nicht bewusst ist. Das neurotische Symptom ist ein Handeln, „das einer kollektiven Form zu folgen scheint“ (a. a. O.: 145), tatsächlich aber einen „ungelösten Konflikt“ (ebd.) bearbeitet. Die kollektive Form des Handelns ist „systematisch gebrochen“ (ebd.), betroffen

Psychotherapie handlungstheoretisch | 105

sind „alle wesentlichen Strukturelemente des Handelns: das Bedürfnis, die interaktive Dimension, das Wirklichkeitskonzept, die Zweck-Mittel-Relation“ (ebd.). Flader geht auch der Frage nach, warum sich die Patienten den psychischen Zweck ihres Handelns nicht selbst bewusst machen können. Er kommt zu dem Ergebnis, dass sich der Patient im neurotischen Handeln „als Handlungssubjekt negiert und die Differenz zwischen dem eigenen Erleben und dem eines anderen“ (a. a. O.: 147) beseitigt. Die „Trennung vom Subjekt des Wissens und dem Thema (Objekt) […], ohne die Wissen nicht reflektiert werden kann“ (a. a. O.: 147f.), ist aufgehoben. Der Patient negiert sich als Handelnden, er setzt an die Stelle eigener Wünsche „das Objekt mit seinen Bedürfnissen“ (a. a. O.: 148) und verhält sich dementsprechend. Das „Handlungssubjekt“ (ebd.) ist also die Bezugsperson, mit der der Konflikt besteht, das „Subjekt des Wissens“ (ebd.) über diese Handlung dagegen ist der Patient selbst, der aber aufgrund dieser Doppelung von handelndem und wissendem Subjekt den psychischen Zweck der Zwangshandlung nicht erkennen kann. Flader kann diese handlungstheoretische Rekonzeptualisierung psychoanalytischer Begriffe auch an einem Transkriptauszug aus einer psychoanalytischen Behandlung belegen (a. a. O.: 327ff). Er weist darauf hin, dass die Symptome sowohl im Vortrag des Patienten als auch in den Interventionen des Therapeuten als „gebrochene Form des Handelns“ (a. a. O.: 328) behandelt werden. Die therapeutischen Interventionen zeigen an dem Symptom „eine Zweck-Mittel-Relation“ (a. a. O.: 334) auf. Der psychische Zweck des Symptoms wird erkennbar und mit dem Verhalten des Patienten, dem Mittel seiner Realisierung, in Zusammenhang gebracht. Die so geleistete therapeutische „Handlungsanalyse“ (a. a. O.: 342) arbeitet das „Handlungswissen“ (a. a. O.: 336) des Patienten in Ansätzen heraus, zeigt ihm also, was er warum tut. Flader kann auf diese Weise deutlich machen, dass sich die Vorgänge in der Psychoanalyse handlungstheoretisch fassen lassen. Insbesondere die Genese neurotischer Symptome wird als Form veränderten Handelns erkennbar, das einem verdeckten psychischen, quasi ‚privaten‘ Zweck dient (vgl. dazu auch Eisenmann 1995). Auch ihre therapeutische Bearbeitung wird als Bearbeitung von Handlungsformen nachvollziehbar. Für die hier verfolgte Frage lässt sich festhalten, dass Flader das Wirken von Therapie als Handlungsanalyse konzipiert, welche den Patienten auf Zweck-Mittel-Verhältnisse seines Verhaltens aufmerksam macht. Der Patient wird in die Lage versetzt, zu erkennen, welchen Zweck er mit welchen Mitteln verfolgt. Indem Flader hauptsächlich Falldarstellungen Freuds untersucht, leistet er zuvorderst eine Rekonzeptualisierung von Psychoanalyse als Theorie. Die Wirkung von Psychoanalyse als Therapie kann und will er anhand der ihm vorlie-

106 | Die Institution Psychotherapie genden Daten nicht en détail analysieren. Er macht zwar deutlich, dass das Konzept der Handlungsanalyse greift und Aspekte von Therapie offenbar macht, die mit klassischen psychoanalytischen Kategorien nicht erfasst werden können, strebt aber keine detaillierte handlungstheoretische Rekonstruktion dessen an, was in der therapeutischen Praxis passiert. Psychotherapie lässt sich mit Flader als Arbeit am „Handlungswissen“ bestimmten, wie diese Arbeit aussieht, was für Wissen genau bearbeitet wird und wie es sich verändert, sind Fragen, die Flader zu großen Teilen offen lässt. Dies gilt umso mehr, als sich der Gegenstand von Psychotherapie nicht auf die von Flader im Anschluss an Freud hauptsächlich untersuchten Zwangshandlungen beschränkt. Psychotherapie behandelt eine Reihe psychischer Beeinträchtigungen, die klassische neurotische Zwangshandlung ist lediglich eine von vielen möglichen Diagnosen (vgl. Eckert 2000: 130ff). Viele dieser Erkrankungen und gerade auch Suizidversuche, wie sie am Ausgang der hier vorliegenden Therapien stehen, lassen sich nicht per se als „systematisch gebrochene Form des Handelns“ beschreiben. Während Zwangshandlungen sich durch Wiederholung sowie durch den (stetig misslingenden) Versuch, den Konflikt zu bearbeiten, auszeichnen, kennzeichnet einen Suizidversuch seine Singularität, die zu einem Ende von Erleben und Handeln, also gerade nicht zu einer Wiederholung, führen soll. Der Versuch einer Konfliktbearbeitung ist im Suizidversuch gerade nicht aufgehoben, sondern aufgegeben. Dies weist auf eine singuläre lebensgeschichtliche Situation hin, die in der anschließenden Therapie zu bearbeiten ist und sich kategorial von den von Flader untersuchten Zwangshandlungen unterscheidet. Eine handlungstheoretische Systematisierung der Situation, die am Anfang einer Therapie steht, muss daher von konkreten psychischen Erkrankungen abstrahieren und nach den Bedingungen für Handeln überhaupt fragen. Es stellt sich mithin die Frage nach dem „Handlungsraum“ (Rehbein 1977: 12ff) eines Menschen, der eine Therapie aufnimmt, also nach den Ausprägungen unterschiedlicher Dimensionen, die Handeln prägen können. Die folgende Beschreibung von Ausprägungen objektiver Kategorien des Handlungsraums (nach Rehbein 1977: 17ff) soll ein handlungstheoretisches Verständnis für das, was in den vorliegenden Therapien geleistet wird, grundieren.2 Wenn eine vollständige Erfassung der Situation psychisch Erkrankter auch nicht möglich ist,

2 Da eine möglichst allgemeingültige Konzipierung des Handlungsraums psychisch Erkrankter angestrebt wird, müssen Aspekte, die sich im Einzelfall unterschiedlich darstellen können, an dieser Stelle außer Acht gelassen werden. Dabei handelt es sich insbesondere um die subjektive Seite des Handlungsraums (Rehbein 1977: 26ff), die – wie ihre Bezeichnung schon andeutet – jeweils unterschiedlich ausgeprägt ist.

Psychotherapie handlungstheoretisch | 107

wird doch ein unspezifischer, genereller Handlungswiderstand erkennbar, der sich einer Lösung durch die Betroffenen widersetzt. – Das „Handlungsfeld“ umfasst laut Rehbein „die Menge aller Handlungen, die ein Aktant zu einem bestimmten Zeitpunkt zur Verfügung hat, und diejenige Handlung […], die er faktisch daraus auswählt“ (1977: 17). Im Falle psychischer Erkrankungen ist von einem eingeschränkten Handlungsfeld auszugehen. Dem Aktanten stehen bestimmte Handlungsmöglichkeiten nicht offen, er kann bestimmte Sachverhaltsänderungen nicht erwirken (s. u. „Kontrollfeld“) bzw. die Sachverhaltsänderungen, die er durchführt, haben nicht den gewünschten Erfolg, zeitigen also nicht die angezielte Nachgeschichte. Im Verlauf der Entstehung einer psychischen Erkrankung ist außerdem von einer schrittweisen Reduktion der Handlungsmöglichkeiten auszugehen. Der psychisch erkrankte bzw. erkrankende Aktant ‚lernt‘, dass eine Reihe von Handlungen nicht funktioniert, so dass die Menge potentieller Handlungen mit der Zeit immer kleiner wird. Die Einschränkung von Handlungsmöglichkeiten erscheint aus handlungstheoretischer Perspektive als ein Hauptfaktor psychischer Erkrankung (s. u. S. 109). – Der „Interaktionsraum“ (a. a. O.: 21f.) bildet eine Zone, in der Handelnde miteinander interagieren. Die Kategorie dient der Analyse konkreter Handlungsprozesse, wie sie in diesem Kapitel gerade nicht untersucht werden. Aussagen über bestimmte Interaktionsräume von psychisch Erkrankten können also nicht gemacht werden, es kann allerdings festgestellt werden, dass sich psychische Erkrankung insbesondere in der Interaktion mit engen Bezugspersonen manifestiert. Die Interaktionen mit wichtigen Bezugspersonen werden negativ erlebt, häufig können psychisch Erkrankte gerade in diesem Bereich nicht so handeln, wie gewünscht (dies zeigt sich auch in den hier analysierten Daten in Kap. 7 und 8). – Das „Kontrollfeld […] besteht aus denjenigen Sachverhalten, die sich in mittelbarer oder unmittelbarer Reichweite eines Aktanten befinden“ (a. a. O.: 22), auf die ein Aktant also Einfluss hat. Der für das Handlungsfeld beschriebene negative Lernprozess ist als Interdepedenzprozess zwischen Kontrollfeld und Handlungsfeld zu verstehen. Indem Patienten feststellen, dass sich bestimmte Sachverhalte nicht wie gewünscht verändern lassen, verringert sich nicht nur ihr aktuell gegebenes Kontrollfeld, sondern mit Hinblick auf künftiges Handeln auch ihr Handlungsfeld. Psychisch erkrankte Aktanten verfügen über ein eingeschränktes Kontrollfeld, das an sich zu verändernde Sachverhalte außerhalb ihrer „Reichweite“ platziert. Das „System der Bedürfnisse“ (a. a. O.: 23ff) erfasst die handlungsleitenden, gesellschaftlich geformten Bedürfnisse von Aktanten (s. o. Kap. 3.2). Es ist da-

108 | Die Institution Psychotherapie von auszugehen, dass psychisch Erkrankte bzw. Menschen, die einen Suizidversuch unternehmen, bestimmte essentielle Bedürfnisse dauerhaft nicht befriedigen können. Aufgrund der Einschränkungen von Handlungs- und Kontrollfeld stehen Mittel zur Bedürfnisbefriedigung nicht wie gewünscht zur Verfügung. Die konstante Nicht-Erfüllung elementarer Bedürfnisse, v. a. in der Interaktion mit wichtigen Bezugspersonen, äußert sich als seelisches Leiden, das zur Aufnahme einer psychotherapeutischen Behandlung bzw. zu einem Suizidversuch führt. Es zeigt sich das Bild eines generellen ‚Nicht-Handeln-Könnens‘. Dies betrifft insbesondere die Interaktion zu wichtigen Bezugspersonen und sorgt damit dafür, dass elementare menschliche Bedürfnisse nicht befriedigt werden können. Das Kontrollfeld erscheint signifikant eingeschränkt, was sich mit der Zeit als Reduktion der Handlungsmöglichkeiten auswirkt. Das Ergebnis ist ein, gegenüber psychisch Gesunden, stark reduziertes Handlungsfeld: in der Situation, in der sich ein psychisch Erkrankter befindet, bieten sich nur wenige Handlungsmöglichkeiten und selbst diese verändern die Wirklichkeit nicht so, wie gewünscht. Den Versuch der Visualisierung eines solches Handlungsfelds unternimmt Abbildung 3.3 Für den Patienten sind nur wenige Handlungswege überhaupt erkennbar und auch diese führen nicht zum Ziel, also zu einer bedürfnisbefriedigenden Veränderung der Wirklichkeit. Die Situation lässt sich als Handlungsdilemma erfassen, in der keine Handlungspläne für eine angemessene Veränderung der Wirklichkeit entwickelt werden können (vgl. Rehbein 1977: 185ff).

3 Die Darstellung orientiert sich an Rehbein 1977: 317.

Psychotherapie handlungstheoretisch | 109

Abb. 3: Eingeschränktes Handlungsfeld von psychisch erkrankten Personen

Deutlich wird außerdem, dass ein weiterer, bisher nicht angesprochener Faktor den Handlungsraum des Patienten strukturiert. Ihm fehlt nämlich auch das Wissen, um die eigene Situation zu überblicken und so zu verändern, dass neue, zielführende Handlungswege sichtbar werden. Der „Wissensraum“ (a. a. O.: 35f.) des Patienten ist nicht situationsadäquat strukturiert. Der Patient merkt zwar, dass eine Reihe von Handlungen nicht funktioniert bzw. zu mangelhaften Ergebnissen führt, kann aber nicht erkennen, worauf dies zurückzuführen und wie es zu verändern ist. Der Patient kann also eigenständig keine Ansatzpunkte zur Veränderung seiner Situation ausmachen, er ist ihr ausgeliefert. Das Handlungswissen des Patienten genügt nicht, um die eigene Situation bearbeiten zu können. An dieser Stelle bringt Psychotherapie einen zweiten, helfenden Aktanten ins Spiel, der einen anderen gesellschaftlichen Standpunkt einnimmt und über anderes Wissen verfügt. Der entworfenen theoretischen Konzeption nach ist davon auszugehen, dass sich in der Psychotherapie das Wissen über die eigene Situation verändert und dass dabei u. a. neue Handlungsmöglichkeiten erkennbar werden. Heilung wäre tentativ v. a. als über den Wissensraum vermittelte Veränderung von Handlungs- und Kontrollfeld zu erfassen. Ob und wie dies geschieht, hat die Analyse in Kapitel sieben und acht zu erweisen. Die hier entworfene handlungstheoretische Konzipierung von Therapie und ihrer Ausgangssituation wird in Kapitel neun aufgegriffen und auf ihre Aussagekraft für die Wirkung von The-

110 | Die Institution Psychotherapie rapie befragt. Zunächst soll jedoch die sprachliche Empirie für die „konkrete Negation“ (Rehbein 1994: 56) der hier entwickelten Theorie genutzt werden. Die beiden folgenden Kapitel stellen den Untersuchungsgegenstand und das Material vor, welche die Grundlage für die empirische Arbeit bilden.

5 Untersuchungsgegenstand: ›Deuten‹ und ›VEE‹ In diesem Kapitel wird der Untersuchungsgegenstand der Arbeit bestimmt. Es werden zunächst die untersuchten Therapieformen beschrieben, anschließend wird die Konzentration auf zwei für die Wirkung von Therapie wesentliche therapeutische Verfahren begründet. Daraufhin werden diese Verfahren, das gesprächstherapeutische ›Verbalisieren des emotionalen Erlebnisgehalts‹ (›VEE‹) und das tiefenpsychologische ›Deuten‹, therapietheoretisch bestimmt.

5.1 Warum ›Deuten‹ und ›VEE‹? Die untersuchten Daten stammen aus der tiefenpsychologischen Therapie und der Gesprächstherapie. Zusammen mit der Psychoanalyse und der Verhaltenstherapie gehören diese beiden Therapieformen zu den im deutschsprachigen Raum am weitesten verbreiteten Formen verbal orientierter Therapie.1 Von diesen Therapieformen ist die Verhaltenstherapie als diejenige einzuschätzen, die am wenigsten durch Sprache heilt, da in der Regel auch auf Formen des Einübens bestimmter Verhaltensweisen zurückgegriffen wird (s. z. B. Hautzinger 2000). Die Verhaltenstherapie erscheint daher für die Zwecke der vorliegenden Untersuchung, die nach dem Heilen durch Sprache fragt, vergleichsweise ungeeignet. Die große theoretische und methodische Verwandtschaft zwischen Psychoanalyse und tiefenpsychologischer Psychotherapie lässt außerdem die vergleichende Untersuchung dieser Therapieformen wenig sinnvoll erscheinen – in beiden ist die ›Deutung‹ die zentrale Handlung, die Ergebnisse der Untersuchungen würden einander vermutlich in wesentlichen Teilen entsprechen. Dass in dieser Arbeit die tiefenpsychologische Psychotherapie untersucht wird, ist zum einen in der Verfügbarkeit von Daten begründet, zum anderen ist davon auszugehen, dass sich bei einer reduzierten Anzahl von Sitzungen, wie bei der tiefenpsychologischen Kurzzeittherapie der Fall, die Wirksamkeit von Psychotherapie in ‚höherer Konzentration‘ erkennen lässt.

1 Meines Wissens gibt es keine exakten Zahlen über die Verbreitung therapeutischer Verfahren. Da in Deutschland gegenwärtig lediglich die Kosten für Psychoanalyse, tiefenpsychologische Psychotherapie und Verhaltenstherapie von den Krankenkassen übernommen werden, ist davon auszugehen, dass diese drei Therapieformen in Deutschland nominell am weitesten verbreitet sind.

112 | Untersuchungsgegenstand: ›Deuten‹ und ›VEE‹ Um verallgemeinerbare Aussagen über Psychotherapie treffen zu können, wird mit der auch international weit verbreiteten „Gesprächstherapie“ nach Rogers (auch als „Klientenzentrierte Therapie“ oder „Nicht-direktive Therapie“ bezeichnet) eine weitere Therapieform untersucht, die sich durch eine erhebliche methodische und theoretische Distanz von der tiefenpsychologischen Therapie unterscheidet. Eine Grundannahme von Psychoanalyse und der aus ihr entstandenen tiefenpsychologischen Psychotherapie ist, dass die Heilung des Patienten wesentlich durch das Bewusstmachen des pathogenen unbewussten Konflikts zustande kommt (Thomä & Kächele 2006a: 13f.). Dieses Bewusstmachen vollzieht man mit der ›Deutung‹. Genau diese Grundannahme wird von der Gesprächstherapie negiert, sie sieht den Hinweis auf die unbewusste, die Krankheit auslösende Konfliktstruktur gerade nicht als heilsam an (Tausch & Tausch 1979: 109f.). ›Deutungen‹ werden daher in der Gesprächstherapie grundsätzlich abgelehnt, stattdessen kommt die Heilung der Gesprächstherapietheorie zufolge vordringlich durch methodische Unterstützung der Selbstheilungskräfte des Patienten zustande (vgl. Biermann-Ratjen 2006a und u. S. 114). Gesprächstherapie und tiefenpsychologische Psychotherapie heilen mit Sprache – zumindest der jeweiligen Therapietheorie zufolge – also jeweils unterschiedlich. Die vergleichende Untersuchung des heilenden Prozesses verspricht verallgemeinerbare Erkenntnisse über das Heilen durch Sprache in der Psychotherapie, wie sie bei geringerer methodischer Distanz oder bei Konzentration auf nur eine Therapieform nicht zu erwarten wären. Gleichzeitig sind die beiden Therapieformen so weit verbreitet, dass sie als repräsentativ für verbal orientierte Psychotherapie angesehen werden können. Die enorme Menge an sprachlichen Daten, die in der Psychotherapie entsteht, macht die Reduktion von Komplexität notwendig. Aufgrund der Detailliertheit der linguistischen Mikroanalyse kann sie nicht an kompletten Therapieverläufen durchgeführt werden. Diese Möglichkeit, die therapeutisch wirksamen Momente einer Therapie herauszuarbeiten, steht also nicht zur Verfügung. Auch lassen sich vor der eigentlichen Analyse mithilfe linguistischer Theorien keine Aussagen darüber treffen, ob bestimmte Passagen therapeutisch besonders relevant sind, so dass eine linguistisch informierte Vorauswahl aus dem Material ebenfalls nicht möglich ist. Aussagen dieser Art machen dagegen die entsprechenden Therapietheorien, wenn sie bestimmte therapeutische Handlungen in das Zentrum der Therapie stellen. Um therapeutische Wirksamkeit zu operationalisieren und die Menge des sprachlichen Materials bearbeitbar zu halten, wird daher auf die Therapietheorien der tiefenpsychologischen Therapie und der Gesprächstherapie zurückgegriffen. Die Auseinandersetzung mit der linguistischen Erforschung von Psychotherapie (Kap. 2) hat gezeigt, dass dieses Vorgehen, therapietheoretische Begriffe

Warum ›Deuten‹ und ›VEE‹? | 113

zur Identifizierung des zu bearbeitenden Materials zu nutzen, zu fruchtbaren Ergebnissen führen kann. So konnte z. B. Sabine Streeck wichtige Charakteristika der therapeutischen ›Fokussierung‹ herausarbeiten und damit auch Aussagen über den Prozess und die Wirkung von Therapie generieren (o. S. 46ff). Ähnlich gehen, wie gesehen, u. a. Arbeiten von Dittmar, Flader, Ehlich, Peräkylä und Vehviläinen vor, wenn sie ›Fokussierungen‹ (o. Kap. 2.3.4) bzw. ›Deutungen‹ (Kap. 2.3.6) untersuchen. Eben diese Arbeiten haben erheblich zu dem linguistischen Wissen beigetragen, das über Psychotherapie insgesamt vorliegt. Wenn es um die Auswahl des zu untersuchenden Materials geht, kann die linguistische Untersuchung also von der Therapietheorie profitieren. Wesentlich für die Produktivität linguistischer Arbeiten ist sodann, – so wurde oben bereits argumentiert – dass die Analyse des so gewonnenen Materials nicht mit psychotherapeutischen, sondern mit linguistischen Begriffen und Kategorien operiert. Die vorliegende Arbeit nutzt das therapietheoretische Wissen, um das für die Wirkung von Therapie relevante Material zu identifizieren, und untersucht dieses Material dann mit dem begrifflichen Instrumentarium, das die linguistische Gesprächsforschung, insbesondere die Funktionale Pragmatik (Kap. 3), bereitstellt. So wird einerseits gewährleistet, dass relevante Passagen untersucht werden, andererseits wird eine detaillierte linguistische Rekonstruktion der Veränderung mentaler Prozesse durch sprachliches Handeln in diesen Passagen möglich. In der tiefenpsychologischen Therapie, deren Methodik sowie Annahmen über die menschliche Psyche im Wesentlichen denen der Psychoanalyse entsprechen (Reimer 2000: 12ff, Wöller & Kruse 2009)2, ist die ›Deutung‹ die zentrale Handlung des Therapeuten. Thomä & Kächele (2006a) bezeichnen sie in ihrem grundlegenden Lehrbuch als „das Wesensmerkmal der psychoanalytischen Technik“ (a. a. O.: 14). Die ›Deutung‹ spielt eine entscheidende Rolle für die Selbsterkenntnis des Patienten, die sich als „Einsicht“ (ebd.) in einem veränderten Handeln und damit in „therapeutischer Wirksamkeit“ (ebd.) manifestiert. Besonders pointiert hat Greenson die zentrale Rolle der ›Deutung‹ in der psychoanalytischen und tiefenpsychologischen Therapie formuliert: „Das wichtigste analytische Verfahren ist die Deutung; alle anderen sind ihm sowohl theoretisch als praktisch untergeordnet. Alle Verfahren sind entweder Schritte, die zu einer Deutung führen oder eine Deutung wirksam machen” (Greenson 1973: 51)

2 Unterschiede bestehen zum einen in der Begrenzung der Anzahl an Sitzungen in der tiefenpsychologischen Psychotherapie (Reimer 2000: 13). Außerdem ist das räumliche Setting verändert, der Patient liegt nicht auf der Couch, sondern Therapeut und Patient können sich während der Behandlung gegenseitig sehen (ebd.).

114 | Untersuchungsgegenstand: ›Deuten‹ und ›VEE‹ Mit der ›Deutung‹ wird also diejenige Handlung untersucht, die für tiefenpsychologische und psychoanalytische Therapie wesentlich ist und die Wirksamkeit dieser Therapieformen begründet (zur inhaltlichen Bestimmung dieser Handlung s. u. Kap. 5.3). Die Theorie der Gesprächstherapie dagegen misst der Einsicht in die Ursachen einer Erkrankung keinerlei heilende Wirkung zu (Tausch & Tausch 1979: 109f.). Daher werden Deutungen in der Gesprächstherapie vermieden, die Heilung kommt durch die therapeutische Beziehung und vier sog. „Handlungsprinzipien“ (Eckert 2006: 229) des Therapeuten zu Stande: „Nicht-Direktivität, empathisches Zuhören, spezifische Zentrierung der Aufmerksamkeit und Verbalisierung der Erfahrungen des Patienten“ (ebd.). Während es sich bei den ersten drei „Handlungsprinzipien“ um Haltungen handelt, mit denen der Therapeut dem Patienten entgegen treten und seine Äußerungen aufnehmen soll, ist das „Verbalisieren der Erfahrungen des Patienten“ (oder in klassischer Terminologie das ›Verbalisieren des emotionalen Erlebnisgehaltes‹ (›VEE‹)) die wesentliche interaktive Handlung des Gesprächstherapeuten. Die Gesprächstherapie sieht die Ursache psychischer Krankheiten in einer ›Inkongruenz‹ zwischen den Erfahrungen, die eine Person macht, und seinem Konzept von sich selbst (Biermann-Ratjen 2006b: 94ff).3 Bestimmte Erfahrungen (z. B. gesellschaftlich negativ bewertete Emotionen) passen nicht zum Selbstkonzept des Patienten, werden als bedrohlich empfunden und abgewehrt und können bei Wiederauftauchen psychische Erkrankungen auslösen. Die Heilung von dieser ›Inkongruenz‹ besteht in einer Umstrukturierung des Selbstkonzepts, so dass alle Erfahrungen in das Selbst integriert und angenommen werden können (Höger 2006). Die Aufgabe des Gesprächstherapeuten ist es nun, aus dem ‚Material‘, das der Patient in die Therapie einbringt, insbesondere diejenigen Erfahrungen, die vom Patienten nicht angenommen werden können, herauszuhören und in Form des ›VEE‹ zu formulieren. Das ›VEE‹ soll dem Patienten seine tatsächlichen Erfahrungen vor ‚Ohren‘ führen und es ihm, so die Theorie der Gesprächstherapie, ermöglichen, sein Selbstkonzept seinem tatsächlichen Erleben anzupassen. Eckert nennt als „Ziel der Verbalisierung der Erfahrungen […], dass der Patient seine Erfahrungen seinerseits wahr- und annehmen kann“ (2000: 156) und sieht den Effekt „darin, dass der Patient sich mit diesem Gefühl weiter und vertiefend befasst“ (a. a. O.: 157). Tausch & Tausch (1979) sprechen davon, dass sich der Patient „mit seinem Selbst, mit seiner durch den Helfer angespro-

3 Höger (2006) definiert ›Inkongruenz‹ folgendermaßen: „Inkongruenz zwischen Selbst und Erfahrung ist in dem Ausmaß gegeben, in dem bei einer Person ihre Symbolisierungen im Selbst von ihrer Erfahrung abweichen“ (a. a. O.: 119).

Bestimmung von ›Deuten‹ und ›VEE‹ | 115

chenen inneren Welt auseinandersetzt“ (34) und „sich selbst näher“ kommt, „seine innere Welt und seine Erfahrungen mehr verstehen und […] klären“ (ebd.) kann. Die Anpassung des Selbstkonzepts und mit ihr die Verringerung von ›Inkongruenz‹ geschieht der Theorie nach also wesentlich durch das ›VEE‹. ›Deuten‹ und ›VEE‹ sind demnach als die für die Heilung zentralen sprachlichen Handlungen der jeweiligen Therapieform anzusehen. Um sie herum gruppiert sich das sonstige Geschehen, therapeutische Wirksamkeit geht – neben theoretisch oft vernachlässigten, allgemeinen Faktoren (vgl. Grawe u. a. 1994) – der Theorie nach v. a. von ihnen aus. Daher wird das sprachliche Handeln in der Psychotherapie in dieser Arbeit durch die ‚Fenster‘ des Deutens in der tiefenpsychologischen Psychotherapie und des VEE in der Gesprächstherapie betrachtet und analysiert.

5.2 Bestimmung von ›Deuten‹ und ›VEE‹ Die Auseinandersetzung mit dem Stand der Forschung hat gezeigt, dass viele Autoren nicht angeben, was sie unter einer bestimmten therapeutischen Handlung verstehen (s. o. Kap. 2.3). Damit wird die Vergleichbarkeit der Arbeiten reduziert, dem Leser ist es nicht möglich, nachzuvollziehen, wie die Autoren zu ihrem Gegenstand gekommen sind und welche Erscheinungsformen sprachlichen Handelns eigentlich untersucht werden. Insbesondere beim ›Deuten‹, das innerhalb der Psychotherapiegeschichte immer wieder unterschiedlich verstanden worden ist (vgl. Sandler u. a. 1991: 96ff) und in abweichender Form auch im Alltag vorkommen kann (vgl. Argelander 1981), kann keine allgemeingültige Bestimmung vorausgesetzt werden. Daher wird im Folgenden angegeben, welche Bestimmungen von ›Deuten‹ und ›VEE‹ die Auswahl des Materials anleiten. Da beide Handlungen aufgrund ihres zentralen Stellenwerts in der jeweiligen Therapietheorie ausgewählt wurden, basiert auch ihre Identifikation innerhalb des vorliegenden Korpus auf Bestimmungen aus der Therapietheorie. Das ›Deuten‹ ist in Psychotherapie und Psychoanalyse intensiv diskutiert und immer wieder unterschiedlich verstanden worden (s. auch o. Kap. 2.3.6). ›Deutung‹ bezog sich zunächst auf die „Kunst, den unbewussten Sinn im Material des Patienten zu verstehen“ (Sandler u. a. 1991: 99), also auf einen mentalen Prozess. Dieses Verständnis veränderte sich im Laufe der Zeit, heute steht weniger die mentale Erkenntnis als die Verbalisierung dieser Erkenntnis im Vordergrund. Unter ›Deutung‹ versteht man inzwischen die „Kunst, wirksame verbale Interventionen einer besonderen Art zu vollziehen“ (ebd.). Sandler u. a. bestimmen diese „wirksame[n] verbale[n] Interventionen einer besonderen Art“ näher als „sämtliche Kommentare und sonstige[n] Interventionen [...], die da-

116 | Untersuchungsgegenstand: ›Deuten‹ und ›VEE‹ rauf abzielen, den Patienten unmittelbar auf einen Aspekt seines seelischen Geschehens hinzuweisen, dessen er sich bisher noch nicht bewusst war“ (a. a. O.: 102; Hervorh. von mir, C.S.). Im Zentrum steht also nicht das Übertragen von Wissen vom Therapeuten auf den Patienten, sondern das Bewusstmachen von unbewusstem Wissen. Rycroft (1958) spricht davon, dass der Analytiker die Absicht („purpose“ (410)) verfolgt, „to enlarge the patient’s self awareness by drawing his attention to certain ideas and feelings, which the patient has not explicitly communicated, but which are nonetheless part of and relevant to his present psychological state” (ebd.). Diese zu deutenden „ideas and feelings“ sind, so Rycroft weiter, entweder „unconscious, or, if they have been conscious, it has been without any awareness of their present and immediate relevance“ (ebd.). Unter ›Deutung‹ sind demnach Äußerungen des Therapeuten zu verstehen, die den Zweck haben, beim Patienten bisher unbewusstes Wissen über biografische Zusammenhänge bewusst zu machen. Diese Bestimmung leitet die Identifikation des zu analysierenden Materials innerhalb des vorliegenden Korpus von tiefenpsychologischen Kurzzeittherapien an. Da es sich beim ›VEE‹ um eine Handlung handelt, die spezifisch für die Gesprächstherapie und ggf. einige andere Anwendungen des Klientenzentrierten Ansatzes (insbesondere in verschiedenen Formen der Beratung, vgl. Berndt & Kleppin 2010) ist, fällt die Bestimmung dieser Handlung deutlich leichter. Eckert charakterisiert das ›VEE‹ folgendermaßen: „Der Gesprächspsychotherapeut bringt die Erfahrungen des Patienten, die er auf dem Wege der Einfühlung verstanden hat, in einer Form verbal zum Ausdruck, dass der Patient wahrnehmen kann, dass ihn der Therapeut in seinem Erleben empathisch verstanden hat […]“ (Eckert 2000: 155f.). Mit dem ›VEE‹ verbalisiert der Therapeut also auf eine bestimmte, methodisch kontrollierte Art und Weise die Erfahrungen des Patienten, die dieser zuvor selbst ausgedrückt hatte. Anhand dieser Bestimmung werden ›VEE‹ innerhalb der mir vorliegenden Daten identifiziert. Das folgende Kapitel stellt diese Daten näher vor und berichtet, wie sie zustande gekommen sind, wie sie aufbereitet und nach welchen Kriterien sie für die Präsentation in dieser Arbeit ausgewählt wurden.

6 Daten Die in dieser Arbeit präsentierten qualitativen Analysen von Psychotherapie basieren auf einem Korpus von sechs Kurzzeittherapien zu je zwölf Sitzungen. Dieses Material wird im Folgenden vorgestellt. Die Darstellung orientiert sich zu großen Teilen an bereits publizierten Angaben (insbesondere an S. Streeck 1989: 73ff).

6.1 Datengrundlage Das untersuchte Material entstammt einem Nachbetreuungsprojekt einer bairischen Klinik für Patienten, die einen Suizidversuch durch Medikamentenabusus unternommen hatten. Im Rahmen der Nachbetreuung, deren Beginn im Jahr 1981 lag, wurde den Patienten eine freiwillige kostenlose Kurzzeittherapie von maximal zwölf Sitzungen angeboten. Die Therapie konnte bei vier unterschiedlichen Therapeuten stattfinden, von denen zwei den tiefenpsychologischen Ansatz, einer den gesprächstherapeutischen und einer den verhaltenstherapeutischen Ansatz verfolgten. Die Therapien des Nachbetreuungsprojekts wurden in dem von Norbert Dittmar geleiteten linguistischen DFGProjekt „Verbale Interaktion in Kurzzeittherapien nach Selbstmordversuchen“ aufgezeichnet, insgesamt nahm das Projekt 47 Therapieverläufe auf MCKassette auf. Sechs dieser Therapien liegen mir vor, zur Sicherung der Daten wurden sie von mir digitalisiert. Den Therapien gingen je ein kurzes informelles Erstgespräch sowie ein weiteres Gespräch, in dem die Anamnese erstellt wurde, voran. Diese beiden Gespräche wurden nicht aufgezeichnet. Das Korpus als Ganzes ist nicht publiziert, lediglich einzelne Transkriptauszüge sind über die Publikationen des Dittmar-Projekts zugänglich (Dittmar 1988, Gebel 1987, Gebel & Speck 1991, Speck 1987, 1990, Speck & Stitz 1984, Stitz 1987, S. Streeck 1989, 1990 sowie später Eisenmann 1995). Das Projekt wurde in Kooperation mit den behandelnden Therapeuten durchgeführt und berücksichtigte daher teilweise auch therapeutisch relevante Fragestellungen. So wurde etwa nach linguistischen Kriterien gesucht, „die für eine Qualifikation der therapeutischen Beziehung herangezogen werden könnten“ (Eisenmann 1995: 17 Anmerkung 50). Daneben wurde insbesondere auf die Mikroorganisation der Gespräche abgehoben (s. o. Kap. 2, S. 22ff), etwa auf die Einführung und Bearbeitung von Themen (Dittmar 1988, Speck 1990, Speck & Stitz 1984), die Eröffnung des Therapiegesprächs (Gebel & Speck 1991) oder das Turntaking in triadischen Sitzungen (Gebel 1987). Auf dem Material basieren auch zwei Mono-

118 | Daten graphien, die (wie in Kap. 2 beschrieben) jeweils eine eingehende Analyse von Therapeuten- (S. Streeck 1989) bzw. Patientenhandlungen (Eisenmann 1995) vornehmen. Während Sabine Streeck die therapeutische Handlung der ›Fokussierung‹ bearbeitet und ihre Bedeutung für den therapeutischen Prozess herausstellt (s. o. Kap. 2.3.4), untersucht Barbara Eisenmann, die wie ich nicht selbst am DFG-Projekt beteiligt war, den Einfluss psychischer Erkrankungen auf das Erzählen von Patienten (o. Kap. 2.3.1). Das Korpus des DFG-Projekts wurde also verschiedentlich bereits bearbeitet, allerdings wurden weder die hier zugrundeliegenden Therapien untersucht, noch wurde grundsätzlich der Frage nach der „Heilung durch Sprache“ in der Therapie nachgegangen. Wie beschrieben soll eben diese an den mir vorliegenden sechs Kurzzeittherapien bearbeitet werden. Von diesen sechs Therapien sind drei von einem tiefenpsychologisch ausgebildeten Therapeuten, drei von einem gesprächstherapeutisch ausgebildeten Therapeuten durchgeführt worden. An den mir vorliegenden Therapien waren insgesamt zwei Therapeuten, zwei Patienten und vier Patientinnen beteiligt. Um der hier verfolgten Fragestellung gerecht werden zu können, war für die Auswahl dieser Therapien aus dem Gesamtkorpus insbesondere relevant, dass erfolgreiche Therapien, also solche, die einen für die Patienten hilfreichen, heilenden Effekt auslösen (vgl. Eckert 2000: 179ff), untersucht werden sollten. Auf diese Weise sollte sichergestellt werden, dass die Analyse nach der heilenden Wirkung von Sprache nicht von vornherein ins Leere geht, dass vielmehr nur dort nach Effekten gesucht wird, wo Effekte auch vorhanden sind. Aus diesem Grund wurden Therapien, die von den Patienten vorzeitig abgebrochen worden waren, nicht untersucht, da in einem solchen Fall nicht von einer positiven Wirkung der Therapie ausgegangen werden kann. Da nicht auszuschließen ist, dass auch vollständig absolvierte Therapien erfolglos bleiben, und mir offizielle Beurteilungen der behandelnden Therapeuten nicht zugänglich waren, mussten die vorliegenden Therapien außerdem anhand der Aufnahmen auf Effekte überprüft werden. Da in der Psychotherapie die psychische Situation des Patienten und ihre etwaige Veränderung ständig explizit thematisiert werden, sind diese Effekte insbesondere in den abschließenden Sitzungen einer Therapie vergleichsweise gut zu rekonstruieren. Basierend auf Stellungnahmen von Therapeut und Patient hinsichtlich der Therapieeffekte wurden von den vorliegenden sechs Therapien drei Therapieverläufe ausgewählt, bei denen sich der Erfolg der Therapie besonders deutlich zeigt. Festgemacht wurde dies etwa an der veränderten ‚Stimmung‘ der Patienten, die mehr Selbstbewusstsein, mehr Lebensfreude und mehr Übereinstimmung mit sich und ihrem Umfeld erkennen ließen. Außerdem wurde auf explizite Aussagen von Therapeut und Patient über therapeutische Erfolge zurückgegriffen. Besonders berücksichtigt

Datenaufbereitung | 119

wurden ‚harte Fakten‘, also etwa die Frage, ob nach Therapieende institutionelle Anschlusshandlungen nötig werden und welcher Art diese ggf. sind. Auf dieser Basis fällt die zuerst analysierte Therapie (Beispiele B1 und B2) besonders auf, da die Patientin quasi als ‚geheilt‘ entlassen und keine Anschlussbehandlung vereinbart wird. Die anderen beiden Fälle enden im Unterschied dazu mit Besprechungen über eine mögliche anderweitige Weiterbetreuung, allerdings wird auch hier eine eindeutige psychische Verbesserung konstatiert. Besonders die tiefenpsychologisch behandelte Patientin (B5, B6) betont solche Effekte und wird darin auch vom Therapeuten bestätigt. Bei dem in B3 und B4 vertretenen alkoholkranken Patienten sind die therapeutischen Effekte u. a. daran erkennbar, dass der Alkoholismus nicht mehr verdrängt, sondern als Problem erkannt wird, und dass in der letzten, hier in Auszügen dokumentierten Sitzung (u. Kap. 7.1.4) ein Entzug organisiert wird. Die Analyse konzentriert sich auf diese drei Therapieverläufe, bezieht aber Erkenntnisse aus den anderen drei vorliegenden Therapien, die ich ebenfalls untersucht habe, mit ein.

6.2 Datenaufbereitung Die Untersuchung basiert, wie beschrieben, auf erfolgreichen Therapien. Die Materialfülle macht, da die linguistische Mikroanalyse von über siebzig Therapiesitzungen nicht zu leisten und ihre Ergebnisfülle nicht zu überschauen wäre, eine präparatorische Aufbereitung und Durchdringung des Materials notwendig. Zu diesem Zweck habe ich mir zunächst alle Therapien vollständig angehört, um einen Überblick über die psychische Konfliktstruktur, den Verlauf der Therapie und ihre Resultate zu gewinnen. Dieser erste analytische Schritt bildete nicht nur die Basis für die Auswahl der drei Therapieverläufe, bei denen sich heilende Effekte besonders deutlich zeigen (s. o. Kap. 6.1), sondern auch eine Ressource für die linguistische Analyse einzelner Passagen. Therapeutische Interventionen konnten so vor dem Hintergrund der gesamten Therapie analysiert und verstanden werden, die psychische Symptomatik des Patienten und der Zweck, den der Therapeut mit seinen Äußerungen jeweils verfolgt, wurden erkennbar. Konkret konnten so auch Passagen, die Wissen aufgreifen, das den beiden Aktanten bereits aus früheren Sitzungen bekannt ist, nachvollzogen werden. Auch bestimmte sich wiederholende Verhaltensmuster konnten auf dieser Basis identifiziert werden, nicht zuletzt konnten idiosynkratrische Verhaltensweisen der Therapeuten erkannt und von den hier interessierenden gesellschaftlich ausgebildeten Handlungsstrukturen analytisch geschieden werden.

120 | Daten Im Zuge des Durchhörens der Therapien wurden außerdem analytisch relevante Passagen identifiziert. Ein wesentlicher Schritt der Datenaufbereitung besteht, wie in Kapitel fünf bereits dargestellt, in der Zuschneidung der Analyse auf diejenigen therapeutischen Handlungen, die den jeweiligen Therapietheorien nach entscheidend für die Wirkung von Psychotherapie sind. Für die tiefenpsychologische Psychotherapie ist diese entscheidende Handlung das ›Deuten‹, für die Gesprächstherapie das ›Verbalisieren des emotionalen Erlebnisgehaltes‹ (›VEE‹). Diese methodisch kontrollierte Reduktion des zu analysierenden Materials macht es notwendig, in der Fülle der Daten die fraglichen therapeutischen Handlungen zu identifizieren. Dies geschah nach wiederholtem Anhören möglicher Stellen anhand der vorliegenden therapietheoretischen Bestimmungen der beiden Handlungen (s. o. Kap. 5.2). Die als ›Deuten‹ bzw. ›VEE‹ identifizierten Passagen wurden nach dem HIAT-Verfahren (Ehlich & Rehbein 1976, 1979a, Rehbein u. a. 2004; Konventionen in Anhang A2) von mir transkribiert. Dabei wurden umfänglich auch vorhergehende und nachfolgende Passagen verschriftlicht, so dass der Ko-text der im Fokus stehenden sprachlichen Handlungen zugänglich ist. Diesem Schritt schloss sich die mikroanalytische Untersuchung der transkribierten Passagen an, die nicht allein transkriptbasiert, sondern auch unter Einbezug der akustischen Primärdaten vorgenommen wurde. Insgesamt habe ich 28 Passagen mit VEE und, da sie weit mehr Raum einnehmen, zehn Passagen mit Deutungen mikroanalytisch analysiert. Von diesen Analysen wurden für die Präsentation in dieser Arbeit (Kapitel sieben und acht) jene Fälle ausgewählt, die Teil der drei zweifelsfrei erfolgreichen Therapien waren und an denen sich die Charakteristika der untersuchten Handlungen möglichst eindeutig herausarbeiten lassen. Präsentiert werden also als exemplarisch zu verstehende Daten, in denen auf vergleichsweise wenig Raum viel geschieht. Da das ›VEE‹ relativ kleine Handlungseinheiten bildet (s. u. S. 121f.), können vier Passagen mit VEE präsentiert werden. Dabei wird pro Beispiel der Schwerpunkt der Analyse auf je ein Charakteristikum des ›VEE‹ gelegt, die nachfolgenden Analysen bauen darauf auf und erweitern die Erkenntnisse schrittweise. Das ›Deuten‹ dagegen umfasst deutlich längere Passagen, daher wird die Charakteristik des ›Deutens‹ an einem Beispiel en détail herausgearbeitet und an einem zweiten überprüft und konturiert (eine dritte Deutung ist in Anhang A1 wiedergegeben, sie ist analog zu analysieren). Um Aussagen über Vergleichbarkeit und Repräsentativität treffen zu können, werden Daten und Analyseergebnisse außerdem mit den in der Literatur vorliegenden verglichen (s. dazu besonders Kap. 9.2). Die Auswahl der Fälle folgt daneben dem aus der Konversationsanalyse bekannten Prinzip der „deviant case analysis“ (z. B. Wolff 1994b: 24f.). Indem sowohl beim ›VEE‹ (B4) als auch beim ›Deuten‹ (B6, s117-s126) jeweils ein Bei-

Datenaufbereitung | 121

spiel präsentiert wird, das sich an der sprachlichen Oberfläche von den anderen Beispielen unterscheidet, soll eine Überprüfung der vorgelegten Analyse ex negativo möglich werden. Wenn es gelingt, die Abweichungen an der sprachlichen Oberfläche auf die gleichen Prozesse und Strukturen zurückzuführen, die auch die regelhaft ausgeprägten Fälle bestimmen, kann davon ausgegangen werden, dass die Analyse solche Vorgänge als ursächlich erfasst, die das Geschehen auch tatsächlich bestimmen. Die Analyse abweichender Fälle dient der Überprüfung und Weiterentwicklung der Ergebnisse an unterschiedlich geartetem Material. Bereits ein vergleichsweise oberflächlicher Blick auf diese Daten lässt Unterschiede zwischen ›VEE‹ und ›Deuten‹ erkennen. Das ›VEE‹ kommt wesentlich häufiger vor als das ›Deuten‹, dafür nimmt es einen deutlich kleineren Raum ein. Pro Therapiesitzung konnten im Mittel etwa 14 VEE gezählt werden, Deutungen werden dagegen pro Sitzung nur zwei realisiert.1 In dem gesamten mir vorliegenden Material werden somit ungefähr 500 VEE und 70 Deutungen realisiert.2 Die unterschiedliche Häufigkeit der beiden Handlungen korrespondiert ihrer jeweiligen ‚Größe‘ – oberflächenorientiert verstanden als die Anzahl an Partiturflächen, die sie jeweils einnehmen. Das ›VEE‹ erstreckt sich in der Regel über zehn Partiturflächen, die ›Deutung‹ nimmt im Mittelwert etwa 60 Partiturflächen ein.3 Es zeigt sich in beiden Fällen ein ähnliches Verhältnis von 7:1 (Häufigkeit) bzw. 1:6 (Größe), so dass möglicherweise ein Zusammenhang zwischen Größe und Häufigkeit angenommen werden kann.

1 Dabei handelt es sich um eine überraschend hohe Anzahl Deutungen, was m. E. auf die Therapieform zurückzuführen ist. In tiefenpsychologischen oder psychoanalytischen Standardtherapien, die sich über einhundert und mehr Sitzungen erstrecken können, bleibt relativ viel Zeit zur Entwicklung und Verarbeitung von Wissen. In der Kurzzeittherapie muss dagegen vergleichsweise unvermittelt an den Konflikten, die das Erleben der Patienten prägen, gearbeitet werden. Daher wird häufiger auf unbewusstes Wissen hingewiesen (vgl. LeuzingerBohleber 1985). 2 Bei diesen Zahlen handelt es sich um Näherungswerte. Eine exakte quantitative Auswertung des Materials ist kaum möglich, weil sich häufig erst bei genauerer Analyse entscheiden lässt, ob tatsächlich eine VEE oder Deutung vorliegt. Es wurden daher Stichproben auf die Therapieform hochgerechnet. Rein quantitative Aussagen über das Vorkommen der beiden Handlungen scheinen analytisch ohnehin wenig fruchtbar, lediglich der Unterschied zwischen den beiden untersuchten Handlungen sollte deutlich werden. 3 Auch an dieser Stelle sei darauf hingewiesen, dass es weder möglich noch analytisch sinnvoll erscheint, exakte Messungen der Interventionslänge vornehmen zu wollen. Die Zahlen sollen das Verhältnis der Interventionen wiedergeben und damit einen ersten Blick auf ihre jeweilige Ausprägung ermöglichen. Die quantitativen Aussagen bereiten die qualitative Analyse vor.

122 | Daten Diese Aussagen stellen selbst noch keine Analyse dar, sie sollen die Analysen in den nächsten Kapiteln lediglich vorbereiten. In Kapitel sieben wird das ›Verbalisieren des emotionalen Erlebnisgehalts‹ untersucht, in Kapitel acht das ›Deuten‹.

7 Die Handlungsstruktur des ›VEE‹ (›Verbalisieren des emotionalen Erlebnisgehalts‹) In diesem Kapitel wird die therapeutische Handlung ›Verbalisieren des emotionalen Erlebnisgehalts‹ (›VEE‹; s. auch o. Kap. 2.3.5, 5.2) analysiert. An vier Auszügen werden die charakteristischen Strukturen des ›VEE‹ herausgearbeitet. Dabei wird in 7.4 ein Beispiel diskutiert, das sich an der Oberfläche des sprachlichen Handelns teilweise markant von den anderen unterscheidet. Dieses Beispiel wird genutzt, um zu zeigen, dass die herausgearbeiteten Grundkonstituenten des ›VEE‹, sein Zweck und die ihn realisierenden mentalen Prozesse und kommunikativen Tiefenstrukturen auch bei abweichender sprachlicher Oberfläche die gleichen sind. Wenn im Folgenden also einzelne VEE analysiert werden, ist der institutionelle Rahmen, in dem diese sprachlichen Handlungen ihren Zweck haben, zu berücksichtigen. Wie beschrieben (o. Kap. 4), lässt sich die Wirkung verbal orientierter Psychotherapie auf höchster Abstraktionsstufe als Umstrukturieren des mentalen Bereichs des Patienten verstehen. Dieses Umstrukturieren äußert sich darin, dass bestimmte, als krank bzw. ‚unnormal‘ beurteilte Handlungen unterbleiben (z. B. bei dem Krankheitsbild der ›Bulimia nervosa‹1 die Essattacken und das nachfolgende Erbrechen), oder andere, als ‚normal‘ geltende Handlungen (wieder) ausgeführt werden können (z. B. bei ›Klaustrophobie‹ das angstfreie Betreten enger Räume). Die Möglichkeit zur Teilhabe am gesellschaftlichen Leben, an sozialer Produktion und Reproduktion, ist damit wiederhergestellt, der Patient aus gesellschaftlicher Perspektive als ‚geheilt‘ zu betrachten. Mit dieser Rückkehr auf als ‚normal‘ akzeptierte Handlungswege verschwindet idealiter auch der Leidensdruck des Patienten, er fühlt sich nicht mehr ‚krank‘.2 Der Theorie der Gesprächstherapie zufolge hilft das ›VEE‹ dem Patienten bei der

1 Laut ICD 10 (International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems) ist ›Bulimia Nervosa‹ vor allem durch die andauernde Beschäftigung mit Essen, Essattacken und durch unangemessenes Kompensationsverhalten, z. B. Erbrechen, gekennzeichnet (Deutsches Institut für Medizinische Dokumentation und Information DIMDI 2010). 2 Die Ausführungen werden wie beschrieben (Kap. 4) aus einer handlungstheoretischen Perspektive getätigt, die die Institution Psychotherapie als gesellschaftlichen „Apparat“ (Ehlich & Rehbein 1994) in den Blick nimmt. Daher wird von der Tatsache, dass Psychotherapie nicht in jedem Fall wirkt, abstrahiert. Aus der eingenommenen Makroperspektive erscheinen auch die Empfindungen des konkreten Individuums als nachrangig, die Institution bezieht aus dieser Perspektive ihre gesellschaftliche Legitimation nicht aus dem Wohlbefinden der sie durchlaufenden Klienten, sondern aus der Wiederherstellung ihrer Fähigkeit zur Teilnahme am gesellschaftlichen Reproduktionszyklus.

124 | Die Handlungsstruktur des ›VEE‹ (›Verbalisieren des emotionalen Erlebnisgehalts‹) Erkenntnis seines Selbst (s. o. Kap. 5.2). Das Formulieren des emotionalen Erlebens des Patienten in der ›VEE‹ ermögliche es dem Patienten, seine tatsächlichen Empfindungen zu erkennen und zu akzeptieren. Auf diese Weise verändere sich das ›Selbstkonzept‹ des Patienten, es passe sich der Realität an und ermögliche so letztlich die Überwindung der Erkrankung. Die Analysen der nachfolgenden Therapieausschnitte zeigen, wie das ›VEE‹ im sprachlichen Handeln zwischen Therapeut und Patient funktioniert. Der mentale Bereich des Patienten wird methodisch so umstrukturiert, dass sich seine Perspektive auf sein Erleben verändert. Dabei findet eine Bewegung vom vereinzelten Erleben des Patienten zu einer übergeordneten, kollektiv gültigen Betrachtungsweise statt. Die private Erlebniswelt des Patienten wird aus einer überindividuellen, gesellschaftlichen Perspektive rekonzeptualisiert. Dadurch werden dem Patienten neue Wissensbereiche zugänglich gemacht. Sein Erleben wird in seinem Zustandekommen und seinen Auswirkungen erfassbar, die Zusammenhänge seines Erlebens klären sich. Das „Nicht-Verstehen“ der eigenen Situation wird Schritt für Schritt in ein „Verstehen“ umgewandelt. Die Analysen von vier Auszügen aus gesprächstherapeutischen Behandlungen, in denen ›VEE‹ realisiert werden, zeigen, wie dies im Einzelnen von statten geht. Dabei werden jeweils zunächst die nach dem HIAT-Verfahren (Ehlich & Rehbein 1976, 1979a, Rehbein u. a. 2004)3 transkribierten sprachlichen Daten präsentiert und mittels einer alltagssprachlichen paraphrasierenden Ablaufbeschreibung analytisch zugänglich gemacht. Ein nächster Schritt unterteilt die Daten in Sektionen, also größere zusammenhängende Einheiten sprachlichen Handelns. Im dritten Schritt erfolgt jeweils die handlungstheoretische Mikroanalyse. Um die Handlungen der beiden Aktanten in ihrer gegenseitigen Bezogenheit durchsichtig zu machen, folgt die Analyse weitgehend dem Verlauf der untersuchten Diskurse. Indem auf das Herausgreifen einzelner, analytisch ‚passender‘ Sequenzen verzichtet und jeweils der vollständige Ausschnitt analysiert wird, wird dem Leser der Nachvollzug des diskursiven Geschehens und seiner Analyse ermöglicht. Die bei diesem Vorgehen gelegentlich nicht zu vermeidende wiederholte Analyse eines Phänomens dient zudem der Präzisierung und Anreicherung des gewonnenen Wissens. Die Auszüge werden teilweise gekürzt präsentiert, im Anhang sind alle Beispiele in vollständiger Fassung wiedergegeben.

3 Eine Liste der verwendeten Transkriptionskonventionen findet sich im Anhang. Die Transkriptionen wurden mit dem Programm EXMARaLDA (www.exmaralda.org, Schmidt & Wörner 2009) erstellt. Orts-, Personen- und Firmennamen sind pseudonymisiert.

„Sie sehen sich selber sehr klein“ – „Interpretieren“ im ›VEE‹ | 125

7.1 „Sie sehen sich selber sehr klein“ – „Interpretieren“ im ›VEE‹ Das erste Beispiel entstammt der ersten Sitzung einer zwölfstündigen gesprächstherapeutischen Kurzzeittherapie. Die Patientin hatte zu Beginn der Sitzung gesagt, dass sie sich im Krankenhaus nach dem Suizidversuch deutlich wohler gefühlt habe als danach zu Hause. Der Therapeut fragt mehrfach nach dem Ursprung dieses Gefühls, die Patientin betont immer wieder, wie angenehm es im Krankenhaus gewesen sei.

B1 Erste Sitzung einer gesprächstherapeutischen Kurzzeittherapie. Vorausgegangen sind ein Anamnesegespräch sowie ein Erstgespräch zwischen Therapeut und Patientin. TH: Gesprächspsychotherapeut, leichter bairischer Akzent. PA: Patientin, Mitte 50, Hausfrau, zum dritten Mal verheiratet, deutlicher bairischer Akzent. Spricht leise und zurückhaltend. Therapie findet als Nachsorge nach Suizidversuch durch Medikamentenabusus statt. /71/

Hm̀hḿ˙

TH [v]

/72/

PA [v]

gesagt hat, ich kann noch • äh länger bleiben.

((1,5s)) Ich wär so

PA [v]

ge/ • so/ sogar (noch gerne) noch länger geblieben, • wenn s gegangen -

/73/

/75/

Haben Sie das gesagt?

TH [v]

((1,7s)) Hat ma/ äh hat man Sie /74/

PA [v]

wäre.

((1,5s)) [Ja]. [leise

TH [v]

dann • hinaus geworfen? /76/

PA [v]

Nein das nicht, aber sie haben gesagt : • "Sie -

126 | Die Handlungsstruktur des ›VEE‹ (›Verbalisieren des emotionalen Erlebnisgehalts‹)

/77/

PA [v]

können heute gehen". ‿Dann hab ich gesagt : "Kann ich nicht • nicht noch /78/ /79/

PA [v]

ein bißchen bleiben"? Ja. "Morgeǹ oder übermorgen" hab ich (ihnen) /80/

/81/

• [Hm̀hḿ]˙ ((1,5s)) Hm̄˙

TH [v]

/82/

PA [v]

gesagt.

((2,7s)) Ich mein ich versteh dess • • • kostet [leise /83/ /84/

/85/

Hm̌˙ ((2,6s)) Tjà˙ • • • Sie machen sich/ Sie sehen sich selber und

TH [v] PA [v]

viel Geld.

TH [v]

Sie machen sich auch, glaub ich, • Sie sehen sich selber sehr klein. • • "Ich

TH [v]

kann nix, ich bin ne Null, ein Floh, den man zerdrückt ((ahmt Geräusch des

TH [v]

Zerdrückens mit der Zunge nach)), nix wert. • Wenn s mich nicht gibt,

TH [v]

dann weint kein Mensch drum". • • • Hm? • "Die Welt verliert nix an mir,

/86/

/87/

/88/

/90/

TH [v] PA [v]

so ungefähŕ".

Hm̀hḿ˙ /89/

/91/

/92/

• Ja (bestimmt) nicht.

• • I… Zum Beispiel heut hab

„Sie sehen sich selber sehr klein“ – „Interpretieren“ im ›VEE‹ | 127

/93/

Hm̀hḿ˙

TH [v]

/94/

PA [v]

ich mir gedacht — ((2,1s)) ich hab Zeitung gelesen

— [u:nd das is [schnell

PA [v]

so] , ich schau immer hinten drauf, • •Todesanzeigen und so und dann war

PA [v]

so eine ganz grosse Todesanzeige (in der) Danksagung drin, hab ich mir

PA [v]

gedacht : "Ja, ((2,5s)) wie langé"… • • • Oder besser gesagt, die Frau • • —

/95/

TH [v]

/96/

/97/

Hm̄˙

Hm̌˙ /98/

PA [v]

Melanie Krauß — das war so eine Persönlichkeit

und wer spricht denn

/99/

Hm̀hḿ˙

TH [v]

/100/

PA [v]

heut noch von ihr?

Und von mir erst — • da hab ich von mir/ zu mir /101/

• • Hm̀hḿ˙ ((1,5s)) Ich glaube,

TH [v] PA [v]

/102/

(gesagt) : • "Ich wär schon lang vergessen". -

128 | Die Handlungsstruktur des ›VEE‹ (›Verbalisieren des emotionalen Erlebnisgehalts‹)

Ablaufbeschreibung An PAs Äußerung, dass sie außerdem gerne noch länger im Krankenhaus geblieben wäre (s072)4, schließt TH die Frage an, ob sie das gesagt habe und ob man sie „dann hinaus geworfen“ (s075) habe. An ihrer Antwort (s076-s079) wird deutlich, dass sie sich zwar nicht hinausgeworfen gefühlt hat (s076), eigentlich aber doch gerne länger geblieben wäre (s077, s079). Als PA dann Verständnis für die Ärzte äußert, weil ein Krankenhausaufenthalt „viel Geld“ (s082) koste, reagiert TH zunächst mit einer konvergenten Höreräußerung (s083), dann mit „Tja“ (s084) und formuliert schließlich eine VEE (s085-s088). PA schließt eine kurze Erzählung an, mit der sie die VEE bestätigt (s092-s100).

Sektionierung Bereits die Ablaufbeschreibung macht drei größere Einheiten zusammenhängenden Handelns sichtbar. Im ersten Teil werden die Umstände, unter denen PA die Klinik verlassen hat, besprochen (s073-s083). Auf dieser Passage baut die VEE auf, die TH in der zweiten Sektion formuliert (s084-s088). Der dritte Teil besteht aus der Reaktion der Patientin auf die VEE (s089-s100).

7.1.1 Wissensbearbeitung: Abstraktion und Synthese Ins Auge fällt zunächst der Themawechsel, der mit der VEE ab s084 realisiert wird. PA hatte zunächst geschildert, unter welchen Umständen sie das Krankenhaus verlassen hatte. Ihre letzte Äußerung vor der VEE bringt Verständnis dafür, dass sie früher als eigentlich gewünscht das Krankenhaus hatte verlassen müssen, zum Ausdruck: „Ich mein ich versteh dess • • • kostet viel Geld“ (s082). TH reagiert mit einer konvergenten Höreräußerung und, bevor er das Thema auf über mentale Strukturen PAs bringt, mit „Tjà˙“ (s084).

Exkurs zu „tja“ Die Funktion von „tja“ lässt sich m. E. als Hinweisen auf ein Handlungsdilemma fassen. Im „Deutschen Wörterbuch“ von Hermann Paul heißt es, „tja“ sei aus „und ja“ oder „nun ja“ entstanden (Paul u. a. 2002: s.v.). Beide Möglichkeiten passen zu der hier vorgeschlagenen Interpretation von „tja“. Während „und ja“ den Anschluss an das zuvor versprachlichte Wissen, aus dem sich das Handlungsdilemma ergibt, in den Vordergrund stellen

4 Auf Transkriptausschnitte wird mithilfe der Segmentnummern (sxxx) Bezug genommen. Die Transkripte wurden nach dem HIAT-Verfahren in Äußerungen segmentiert (Rehbein 1995a).

„Sie sehen sich selber sehr klein“ – „Interpretieren“ im ›VEE‹ | 129

würde, würde die „Planungsdeixis ‚nun‘“ (Ehlich 1987) die Fokussierung auf den problematischen Handlungsprozess bewerkstelligen. Bei Paul heißt es weiter, die „Gliederungspartikel“ (Paul u. a. 2002: s.v.) „tja“ werde „oft mit eher resignativem Unterton“ (ebd.) realisiert, was sich aus handlungstheoretischer Perspektive ebenfalls als Hinweisen auf ein Handlungsdilemma deuten lässt. Von Paul werden vier Verwendungsweisen unterschieden, von denen nur die erste („tja“ als Einleitung einer Erzählung (ebd.)) nicht der vorgeschlagenen Funktion entspricht. Dies ist möglicherweise auf eine tonale Variation von „tja“ zurückzuführen (vgl. Ehlich 1986b für „HM“ und Liedke 1994 für weitere Interjektionen), die dem Ausdruck ein breiteres Funktionsspektrum verleihen würde. Die von Paul angeführten Beispiele der Erzählungseinleitung mit „tja“ lassen jedoch auch die Interpretation zu, dass vom Sprecher mittels „tja“ ein hörerseitiges Handlungsdilemma konstatiert und mit der angeschlossenen Geschichte bearbeitet wird (Paul u. a. 2002: s.v.). Etymologie, Prosodie und synchrone wie diachrone Verwendung von „tja“ weisen darauf hin, dass mittels „tja“ eine Ausrichtung des Hörers auf ein Handlungsdilemma erreicht wird.

Das Handlungsdilemma, auf das der Hörer mit dem expeditiven „tja“ hingewiesen wird, wird in der VEE, die sich mit dem Bild PAs von sich selbst befasst, ausgeführt. Während es zuvor um PAs Verlassen des Krankenhauses, und damit um die Wirklichkeit P geht, macht die VEE einen Teil von ПPA, das Selbstbild der Patientin, zum Gegenstand des Diskurses. Dieser Wechsel erfolgt vergleichsweise abrupt, ohne Vorankündigung oder Vorbereitung. Mit der VEE ändert sich allerdings nicht nur das Thema, sondern insbesondere auch die Struktur des verbalisierten Wissens. PA hatte zuvor über konkrete Erlebnisse gesprochen, die an einem konkreten Ort zu einem bestimmten Zeitpunkt stattgefunden hatten (z. B. s077: „‿Dann hab ich gesagt : ‚Kann ich nicht • nicht noch ein bisschen bleiben‘?“). Das von PA verbalisierte Wissen hat, Ehlich & Rehbein (1977) folgend, die Struktur „partikularen Erlebniswissens“ (a. a. O.: 47f.): PA weiß, dass das Gewusste dem Thema des Wissens einmal zukommt. In der anschließenden VEE dagegen macht TH Aussagen über ПPA, die Allgemeingültigkeit beanspruchen. In s085 äußert er sich mittels „Sie sehen sich“ über PAs Selbstbild als Teil der Wirklichkeit P. Redder zufolge liegt der Indikativ, der hier verwendet wird, „vor einer Differenzierung der Wirklichkeitsdimensionen P-Π-p“ (Redder 1992: 135). An dieser Stelle wird er von TH genutzt, um mentale Prozesse von PA in ihrer Wirklichkeitsqualität zu versprachlichen. Die mentale Realität PAs wird als Teil der außersprachlichen Wirklichkeit verarbeitet. Der in s085 prozessierte propositionale Gehalt wird außerdem nicht eingeschränkt, weder hinsichtlich Ort, Zeit noch hinsichtlich anderer möglicher Bedingungen, so dass dem ausgedrückten Wissen nominell uneingeschränkte Geltung zukommt. Das in s085 formulierte Gewusste kommt dem Thema des Wissens also nicht nur ein Mal, sondern grundsätzlich zu. Die Insertion „glaub ich“ operiert demgegenüber nur auf dem unmittelbar zuvor

130 | Die Handlungsstruktur des ›VEE‹ (›Verbalisieren des emotionalen Erlebnisgehalts‹) versprachlichten „und Sie machen sich auch“ (s085), nicht auf der gesamten Äußerung. Die Aussage, dass PA sich selbst klein macht, wird mittels „glaub ich“ zwar als unsichere ausgewiesen (vgl. Hohenstein 2004, 2005, Imo 2007: 218ff) auf der Proposition „Sie sehen sich selber sehr klein“ (s085) arbeitet hingegen keine Einschränkung dieser Art, sie wird als einfache Assertion realisiert. Diese allgemein gehaltene Aussage in s085 wird in den nächsten Äußerungen konkretisiert, das ‚Sich-selber-sehr-klein-sehen‘ PAs wird illustriert. Dies geschieht mit dem Mittel der vorgestellten Rede (s. dazu auch Scarvaglieri 2013). TH spricht aus der Position PAs heraus, die Sprecherdeixis „ich“ verweist also auf PA.5 Durch dieses sprachliche Mittel der vorgestellten Rede aus der Position des Patienten, das sich insbesondere zu Anfang von Therapien immer wieder beobachten lässt (Baus & Sandig 1985: 158f., Sandig 1990: 176), wird der Äußerungsakt so realisiert, dass er auch vom Hörer der Äußerung selbst stammen könnte. Der Hörer muss damit keine Zuschreibung des propositionalen Gehalts auf sich selbst vornehmen. p wird im Äußerungsakt vielmehr so realisiert, dass es unmittelbar auf den Hörer passen könnte, p wird dem Hörer sozusagen ‚auf den Leib geschneidert‘. Eine Bewertung der VEE auf ihre Korrektheit kann dann durch einen Abgleich von pTH mit einem – ggf. bereits einmal formulierten oder auch nur gedachten6 – pPA erfolgen, eine Umsetzung von pTH in ПPA und ein Abgleich mit bereits vorhandenem П auf Seiten des Patienten kann dadurch überflüssig werden. Insbesondere zu Beginn einer Therapie, wenn der Therapeut noch vergleichsweise wenig über den Patienten weiß und das Risiko, mit Interventionen falsch zu liegen, daher höher ist, kann mit dieser Form der vorgestellten Rede leichter Zustimmung organisiert werden. Auf diese Weise kann in den ersten Sitzungen eine gemeinsame Arbeitsbasis aufgebaut, ein ‚Draht‘ vom Therapeuten zum Patienten gefunden werden. Dies ist besonders wichtig, weil, wie Sabine Streeck (1989) gezeigt hat, die ersten Sitzungen, in denen eine gemeinsame Arbeitsbasis und eine geteilte Problemanalyse hergestellt werden müssen, für den Erfolg einer Therapie häufig entscheidend sein können.

5 Der Verweisraum der drei Zeigwörter„ich“, „hier“ und „jetzt“, die nach Bühler die Origo konstituieren (1982: 102), verändert sich an dieser Stelle. Verwiesen wird nicht mehr auf den aktuellen Sprech-Zeit-Raum, sondern auf den „Vorstellungsraum“ (Ehlich 1979b), in dem die Patientin die verbalisierten Äußerungen realisiert. Der Hörer muss also den Wechsel des Verweisraums bei der Rekonstruktion der Äußerung nachvollziehen. Dies funktioniert, weil die Äußerung THs in der gegebenen Konstellation andernfalls keinen Zweck hätte, ja geradezu unverständlich wäre (u. a. weil PAs Selbstbild mit der vorangegangenen Äußerung bereits zum Thema des Diskurses gemacht worden war und weil in der Therapie keine Äußerungen des Therapeuten über eigene emotionale Prozesse zu erwarten sind). 6 Dies gilt insofern, als Denken auch als Probehandeln verstanden werden kann (vgl. Elias 1991).

„Sie sehen sich selber sehr klein“ – „Interpretieren“ im ›VEE‹ | 131

Das Selbstbild der Patientin wird von TH in einer sechsteiligen Liste entworfen: „ich kann nix“, „bin ne Null“, „ein Floh, den man zerdrückt“, „nix wert“ (alle s086), „wenn s mich nicht gibt, dann weint kein Mensch drum“ (s087), „die Welt verliert nix an mir“ (s088). Das auf diese Weise verbalisierte Wissen hat ähnlich wie in der ersten Äußerung der VEE allgemeingültigen Status, es wird auf keine Weise eingeschränkt. Nach Ehlich & Rehbein (1977) lässt sich die Struktur des in den einzelnen Äußerungen formulierten Wissens als „Einschätzung“ fassen. Einschätzungen werden von Ehlich & Rehbein als „individuelle Interpretationen bestimmter Wirklichkeitsteile“ (a. a. O.: 49) bestimmt, die, jede für sich, eine schwache Antizipation kommender Ereignisse ermöglichen (a. a. O.: 50). Bei Einschätzungen weiß ein Wissender, dass das Gewusste einem Thema des Wissens mehrfach zukommt. Die von TH formulierten Einschätzungen ergänzen sich nun an dieser Stelle so, dass sie ein „Bild“ von PAs Selbstbild ergeben. Nach Ehlich & Rehbein ist eben dies die Relation, die zwischen den beiden Wissensstrukturtypen Einschätzung und Bild besteht: „Mehrere Einschätzungen zu einem Wirklichkeitsausschnitt werden zusammengesetzt zu einem Bild“ (a. a. O.: 51). Beim Bild handelt es sich um festes Wissen eines einzelnen Wissenden; der Wissende weiß, dass das Gewusste dem Thema des Wissens immer zukommt (a. a. O.: 54). Der Prozess des Zusammensetzens von Einschätzungen zu einem Bild wird an dieser Stelle sprachlich umgesetzt. In der ersten Äußerung („[…]Sie sehen sich selber sehr klein“ (s085)) allgemein skizziert, wird PAs Selbstbild mit den folgenden Äußerungen (z. B. (s086) „Ich kann nix, ich bin ne Null, ein Floh, den man zerdrückt ((ahmt Geräusch des Zerdrückens mit der Zunge nach)), nix wert“) ausgemalt und weiter entwickelt. Auf diese Weise wird die Patientin auf feste Strukturen ihres mentalen Bereichs hingewiesen. Im Gegensatz zum partikularen Erlebniswissen basieren Einschätzungen und Bilder darauf, dass das Gewusste dem Thema des Wissens wiederholt bzw. immer zukommt, das formulierte Wissen also eine hohe zeitliche Gültigkeit hat. Das als konstant entworfene Selbstbild PAs prägt darüber hinaus PAs Wahrnehmung, ihr Handeln und die mentale Verarbeitung ihrer Erlebnisse, so dass das formulierte Wissen auch eine sehr große Reichweite und Erklärungskraft für das Leben der Patientin insgesamt entwickelt. Damit wird auch eine Extrapolation auf etwaige zukünftige Ereignisse möglich. Mit „wenn s mich nicht gibt, dann weint kein Mensch drum“ (s086) macht TH eine regelhafte Aussage über eine hypothetische7 Situation, die durch PAs Nicht-

7 Durch das einleitende „wenn“ wird die Äußerung im Wissensraum verankert (Redder 1990: 265). Das im „wenn“-Satz verbalisierte Wissen ist nach Redder durch eine Opposition zur

132 | Die Handlungsstruktur des ›VEE‹ (›Verbalisieren des emotionalen Erlebnisgehalts‹) Anwesenheit – ihren Tod – gekennzeichnet ist. Dass selbst in dieser Situation „kein Mensch“ (s087) um sie weinen würde, bringt die mangelnde Bedeutung, die PA sich selbst zuschreibt, besonders drastisch zum Ausdruck. In ihrer Reaktion auf die VEE stimmt PA dieser Aussage emphatisch zu (s089) und belegt sie mit Gedanken, die ihr beim Anschauen von Todesanzeigen gekommen waren: „Und von mir erst — • da hab ich von mir/ zu mir (gesagt): • ‚Ich wär schon lang vergessen‘“. Es zeigt sich, dass das in der VEE gewonnene abstrakte Wissen es TH erlaubt, PAs Gedanken über eine hypothetische Situation – eben die ihres Todes – quasi ‚vorherzusagen‘. Das Thema verschiebt sich also in der VEE von P zu ПPA, die Struktur des verhandelten Wissens ist abstrakter, konstanter und allgemeingültiger als vor und nach der VEE.

7.1.2 „Reaktion“ Indem PA nicht nur zustimmt, sondern die VEE ausführt und an ihrem eigenen Erleben belegt, macht sie deutlich, dass das formulierte Wissen ihrer Sicht auf die Wirklichkeit entspricht. Diese Reaktion wird in der Literatur zu ›Deutungen‹ (Peräkylä 2005) bzw. ›re-interpretations‹ (Bercelli u. a. 2008) als die von den Therapeuten angestrebte Reaktion beschrieben (s. o. Kap. 2.3.6.2) – allerdings ohne dass Gründe dafür angegeben werden können. Bei Berücksichtigung des Verhältnisses von sprachlichen und mentalen Prozessen dagegen wird der Vorzug einer solchen Reaktion erkennbar. PA setzt nämlich das neue, abstraktere VEE-Wissen zu eigenen, bereits vorhandenen Wissenselementen in Beziehung. Sie identifiziert das von TH formulierte Wissen über ihr Verhalten in einer hypothetischen Situation als Wiedergabe der Empfindungen, die sie tatsächlich in einer ähnlichen Situation erlebt hatte. Das vergleichsweise abstrakte VEEWissen wird also mit partikularem Erlebniswissen der Patienten in Beziehung gesetzt, das konkrete vom Patienten angeführte Erlebnis wird als Instanziierung des in der VEE ausgedrückten allgemeinen Wirkungsprinzips erkannt. Deutlich wird, warum diese Reaktion diejenige ist, die von den Therapeuten angestrebt wird: indem die Patienten die therapeutische Intervention am eigenen Erleben konkretisieren und belegen, integrieren sie das neue im alten Wissen. Sie suchen im vorhandenen biografischen Wissen Ansatzpunkte für das neue Wissen und gestalten ihr Wissen mit Hilfe der neuen Wissenselemente um. Dieser Prozess

Wirklichkeit P gekennzeichnet, daher wird hier von einer hypothetischen Situation, die im „wenn“-Satz entworfen wird, gesprochen.

„Sie sehen sich selber sehr klein“ – „Interpretieren“ im ›VEE‹ | 133

wird in der Reaktion nach außen gesetzt, in ihm realisiert sich das „Verstehen“ der ›VEE‹ (s. auch Scarvaglieri 2013).

7.1.3 „Interpretieren“ Vergleichsweise unklar bleibt in dieser VEE allerdings, wie TH zu dem formulierten Wissen gekommen ist. Im Gegensatz zu anderen VEE, die noch Gegenstand der Analyse sein werden, wird diese durch den Therapeuten nicht belegt, er führt keine Beobachtungen an, die das formulierte Wissen begründen oder seine Provenienz anzeigen würden. Ihr Zustandekommen wird in der VEE selbst also nicht expliziert. Dennoch basiert sie, wie jede diskursive Handlung, u. a. auf dem, was im Diskurs vorangegangen ist. Die gegebene Konstellation wird von TH eingeschätzt und in der VEE so bearbeitet, dass (institutionell) angemessene Anschlusshandlungen möglich werden – der Theorie der Gesprächstherapie zufolge wären das v. a. eine vermehrte ›Selbstexploration‹ des Patienten und eine Umstrukturierung seines mentalen Bereichs. Die diskursive Einbettung der VEE sollte also Aufschlüsse über ihr Zustandekommen geben. Unmittelbar voraus geht der VEE THs Hinweis auf ein Handlungsdilemma (s084 „Tjà“). Dieser Hinweis ist wiederum die Reaktion auf PAs Schilderung, dass sie nach dem Suizidversuch gegen ihren Willen verfrüht das Krankenhaus verlassen hatte. Für TH wird an dieser Schilderung der Patientin zusätzliches Wissen erkennbar, über das sie selbst aktiv nicht verfügt: Wissen über ein Handlungsdilemma, in dem PA steckt. Es wird zunächst mit „Tjà“ konstatiert und dann in der VEE teilweise versprachlicht: Indem die Patientin sich selbst und ihre Wünsche „sehr klein“ (s085) sieht und ihre eigenen Bedürfnisse negiert, bringt sie sich in ein Handlungsdilemma und nimmt sich nahezu jede Handlungsoption. TH konzentriert sich dann in der anschließenden VEE auf die mentalen Prozesse PAs und verzichtet auf eine Beschreibung der Konsequenzen für ihr Handlungsfeld (vgl. o. Kap. 4.2). Die VEE nimmt demnach vorangegangene Äußerungen von PA auf. TH erkennt an diesen Äußerungen, dass PA sich „selber sehr klein“ sieht. Er setzt diese Beobachtung – die er zuvor vermutlich auch in anderen Zusammenhängen hatte machen können8 – als VEE um und nutzt PAs Handeln in der therapeutischen Situation, um zusätzliches Wissen über mentale Prozesse von PA zu generieren.

8 So entsteht allein schon beim Anhören der Aufnahmen aufgrund der sehr leisen, zurückhaltenden, verängstigt wirkenden Sprechweise PAs ein solcher Eindruck.

134 | Die Handlungsstruktur des ›VEE‹ (›Verbalisieren des emotionalen Erlebnisgehalts‹) Obwohl nicht eigens explizit gemacht, wird deutlich, dass die VEE wesentlich auf PAs Handlungen basiert. Diese Handlungen werden in der VEE ausgelegt, sie werden genutzt, um neue Wissenselemente in einer abstrakten, allgemeingültigeren Wissensstruktur über PAs mentalen Bereich zu generieren. Es handelt sich um im Wesen interpretative Prozesse, die an einem vorhandenen, manifesten Wissen ansetzen und aus diesem zusätzliche Wissenselemente von höherer Relevanz gewinnen (s. auch u. Kap. 9.1). Dieses „Interpretieren“ basiert auf der mentalen Handlung des „Schließens“, die „latente Verbindungen zwischen Wissenspartikeln manifest“ (Ehlich & Rehbein 1979b: 61) macht und es ermöglicht, „über Objekte, über die bis dahin kein Wissen vorhanden war, Wissen zu erwerben, ohne daß eine direkte Befragung der Wirklichkeit selbst erfolgt“ (ebd.). Der Therapeut korreliert abstrakte professionelle Wissenselemente über den Zusammenhang zwischen Verhalten und psychischer Verfasstheit von Individuen mit dem konkreten Verhalten der Patientin und gewinnt daraus neues Wissen über ihr Selbstbild. Das „Interpretieren“ setzt diese neuen Wissenselemente nach außen, macht sie der Patientin zugänglich und ermöglich ihr damit ein neuartiges Verständnis von sich selbst.

7.1.4 Zusammenfassung: Interpretierende Wissensbearbeitung im ›VEE‹ Ausgangspunkt der hier untersuchten VEE ist das Handeln der Patientin, das vom Therapeuten auf seine Bedeutung für PAs mentale Prozesse, konkret ihr Selbstbild, befragt wird. Indem ihr Handeln auf diese Weise zum Ansatzpunkt neuen Wissens wird, wird die Patientin in der VEE auf Aspekte ihres Selbst, ihres mentalen Bereichs, hingewiesen, die ihr zuvor nicht bewusst waren. Ihr Wissen über sich selbst kann so erweitert und verstetigt werden, es wird ihr möglich, sich selbst besser zu verstehen. Die Ausrichtung auf mentale Prozesse PAs, die mit der VEE geschieht, wird von PA in ihrer Reaktion aufgenommen, die VEE wird bestätigt und an einem biografischen Erlebnis belegt. Damit entspricht die Reaktion auf die VEE dem, was in der Literatur insbesondere für ›Deutungen‹ beschrieben worden ist. Auffällig an diesem ersten Beispiel ist die Veränderung der Wissensstruktur, die durch das ›VEE‹ erreicht wird. Wissen von größerer Abstraktion und Erklärungskraft wird erarbeitet. An B2 wird insbesondere gezeigt, welche Bedeutung das „Wiederaufgreifen“ patientenseitigen Wissens sowie das „Benennen“ von Erlebnissen hat.

„Na jetzt is ja die Welt auch in Ordnung“ – „Benennen“ im ›VEE‹ | 135

7.2 „Na jetzt is ja die Welt auch in Ordnung“ – „Benennen“ im ›VEE‹ Beispiel B2 entstammt der siebten Sitzung der gleichen Therapie. Die Patientin hatte von den Aufregungen, die für sie mit einer Reise ihres Mannes verbunden waren, erzählt. Ihr Mann hatte sich die erste Zeit gar nicht gemeldet, was für sie Anlass zu großer Sorge war – offenbar zweifelte sie sogar, ob er überhaupt zurückkommen würde. Im Zusammenhang mit der Reise ihres Mannes veränderte sich auch ihr Schlafverhalten: während seiner Abwesenheit konnte sie kaum schlafen, nach seiner Rückkehr dagegen konnte sie eine ganze Nacht durchschlafen. Da die Schlafprobleme der Patientin ein Schwerpunkt (bzw. ›Fokus‹, s. o. S. 47) der Therapie sind, geht TH auf dieses Phänomen ausführlich ein.

B2 Siebte Stunde einer Kurzzeitgesprächspsychotherapie. Die Patientin erzählt von der Reise ihres Mannes zu seiner Verwandtschaft. TH: Gesprächspsychotherapeut; leichter bairischer Akzent, erkältet. PA: Patientin, Mitte 50, Hausfrau, zum dritten Mal verheiratet, deutlicher bairischer Akzent. Therapie findet als Nachsorge nach Suizidversuch durch Medikamentenabusus statt. /13/

PA [v]

/14/

/15/

/16/

dann nos… Ich weiß… Ich weiß… Ich war soo nervös. ((1s)) Sag mal "Nee, -

PA [v]

des gibt s net. • • Des gibt s net, dass ich überhaupt net schlafen kann". -

/17/

TH [v]

((1,3s)) Jaá˙ /18/

/19/

PA [v]

Und heut Nacht hab ich aber gut geschlafen. ((1,3s)) Ich bin

PA [v]

gestern um zehn in s Bett gegangén, ((1s)) (um halb) eingeschlafen und

136 | Die Handlungsstruktur des ›VEE‹ (›Verbalisieren des emotionalen Erlebnisgehalts‹)

/20/

((1,2s)) [Háh]!

TH [v] PA [v]

heut früh bin ich s erste Mal wach geworden um halb sechs.

TH [v] /21/

((3s)) Also, des hab ich schon laang laang nimmer, dass ich

PA [v]

-

[staunend

/22/

TH [v]

Na jetz is ja auch, durchschlafen kann.

PA [v]

TH [v]

seit gestern, seit der Rückkehr Ihres

Mannes, is ja die Welt auch — zumindest für Sie —

ein

/23/

Wieder in Ordnung.

PA [v] /24/

TH [v]

bisschen in Ordnung. ‿Und dann können Sie auch schlafen, ne?

PA [v] /27/

TH [v]

/28/

/25/

/26/

Jā˙

• Jā.

/29/

((1,1s)) Hm̌˙ ((1,5s)) Ja˙ Des heißt, dasss sonst eben net so in Ordnung ist. -

/30/

TH [v]

/31/

‿Zumindest, [ähm • dass Sie die Angst ham]. Sie sagten, dass Sie drauf [etwas langsamer

„Na jetzt is ja die Welt auch in Ordnung“ – „Benennen“ im ›VEE‹ | 137

/32/

TH [v]

gewartet hätten, dass Ihr Mann Ihnen Nachricht gäbe. ((2,4s)) Nun, ((2,2s)) /33/

TH [v]

mir fällt da ein dazu, dass Sie… ((1,1s)) Sie sorgen sich sehr um Ihren Mann, /34/

TH [v]

nicht? Sie ham ihm die Sachen eingepackt und ham ihm das mitgegeben, /35/

Ja˙

PA [v]

/36/

TH [v]

ham geschaut, dass er gut daa unterwegs ist und so weiter. ((Zieht Luft ein, /37/

TH [v]

hustet, 2,3s ))˙ Offensichtlich sorgt er sich nicht umgekehrt • genauso um

TH [v]

Sie.

/39/

Und diese Rollenverteilung — da war ma s letzte Mal /38/

PA [v]

[(Nein des net)]. [sehr leise

TH [v]

auch gewésen — ((1,7s)) diese Rollenverteilung zwischen Ihnen beiden ist /40/

TH [v]

ziemlich eindeutig, nich? ‿Sie suchen ihm s Gewand raus, Sie legen ihm

Ablaufbeschreibung Der Ausschnitt beginnt mit Äußerungen PAs über ihre Nervosität während der Abwesenheit ihres Mannes (s015, s016). Sie kann dafür keine Gründe angeben, bringt lediglich Erstaunen und Unverständnis zum Ausdruck (s016). Erst „heut Nacht“ (s018), also nach der Rückkehr des Mannes, habe sie gut geschlafen. TH reagiert darauf zunächst mit einem erstaunten Ausruf („Háh!“ (s020)) und for-

138 | Die Handlungsstruktur des ›VEE‹ (›Verbalisieren des emotionalen Erlebnisgehalts‹) muliert anschließend einen Schluss auf mentale Prozesse PAs, der sich aus dem veränderten Schlafverhalten ergibt (s022-s030). Nach einer kurzen, zustimmenden Reaktion PAs (s026) setzt TH seine Interventionen fort, indem er die Patientin und ihren Mann miteinander vergleicht (s031-s040).

Sektionierung B2 kann in drei Einheiten zusammenhängenden Handelns unterteilt werden. Eine erste Einheit (s015-s022) wird durch PAs Äußerungen über ihre Nervosität (s015), ihre Schlafprobleme (s016) und die Tatsache, dass sie auf einmal gut schlafen konnte (s018-s021), konstituiert. Die folgenden Sektionen werden dann vor allem vom Therapeuten gestaltet. In der zweiten Sektion (s022-s030) formuliert TH Gründe für die Veränderungen im Schlafverhalten PAs. Auf dieser Sektion liegt der Schwerpunkt der folgenden Analyse. In der dritten Sektion (s031s040) zieht TH aus dem Verhalten PAs und ihres Mannes weitere vergleichende Schlüsse über die „Rollenverteilung“ (s039) zwischen ihnen.

7.2.1 „Benennen“ Im Gegensatz zu B1 ist die Entstehung des formulierten Wissens bei dieser VEE gut rekonstruierbar. TH nutzt PAs Aussagen über ihr Schlafverhalten in verschiedenen Situationen – bei An- bzw. Abwesenheit ihres Mannes – um Schlüsse auf ihren mentalen Zustand zu ziehen. Erkennbar wird, dass das im ›VEE‹ formulierte Wissen – im Unterschied zum ›Deuten‹ (s. u. Kap. 8) – zumindest teilweise in der Sprechsituation generiert wird, in der es dann auch versprachlicht wird. TH hatte vor diesem Ausschnitt nach den Gründen für PAs Nervosität gefragt, sie also dazu angehalten, sich mit ihrem inneren Erleben auseinanderzusetzen. Sie kann, wie an den ersten Äußerungen dieses Abschnitts deutlich wird (s015, s016), keine Gründe nennen, bringt lediglich Erstaunen und Unverständnis zum Ausdruck: „Sag mal ‚Nee, des gibt s net. • • Des gibt s net, dass ich überhaupt net schlafen kann‘“ (s016). Im Anschluss weist PA aber auf eine Veränderung ihres Schlafverhaltens hin: „Und heut Nacht hab ich aber gut geschlafen“ (s018). Dabei lenkt das „aber“ (Ehlich 1984a, Redder 1990: 109) im Mittelfeld der Äußerung die Erwartungen des Hörers dahingehend um, dass der folgend verbalisierte propositionale Gehalt nicht dem entsprechen wird, was nach den vorhergehenden Äußerungen zu erwarten gewesen wäre. Auf „aber“ folgen dementsprechend die Wörter „gut geschlafen“, die den im Vergleich zu

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den vorangegangenen Äußerungen neuen, den Hörererwartungen widersprechenden propositionalen Gehalt der Äußerung transportieren. Diese Veränderung wird in der nächsten Äußerung (s019) ausbuchstabiert, worauf TH erstaunt mit „Háh!“ reagiert, was auf einen schlagartigen Erkenntnisprozess des Hörers hinweist. Die nächste Äußerung PAs wird von TH unterbrochen, er formuliert ab s022 eine VEE, die den Grund für die eingetretene Veränderung zu erfassen versucht: „Na jetz is ja auch, seit gestern, seit der Rückkehr Ihres Mannes, is ja die Welt auch — zumindest für Sie — ein bisschen in Ordnung“ (s022). Die VEE beginnt mit der expeditiven Prozedur „Na“, die laut Ehlich „der Bearbeitung von Übergangsproblemen beim sprachlichen Handeln“ (1986b: 137) und dabei u. a. dem Übergang „von einer Phase zur nächsten innerhalb von kommunikativen Abläufen“ (138) dient.9 Der „transitorische Charakter“ (a. a. O.: 137) von „Na“ wird hier genutzt, um in der VEE einen Wandel von Thema und Struktur des verhandelten Wissens einzuleiten. Auf „Na“ folgt die (umgangssprachlich verschliffene) Deixis „jetz“ (s022), die die Origo der Äußerung im Sprechzeitpunkt verankert. Indem TH dieses „jetz“ durch „seit gestern, seit der Rückkehr Ihres Mannes“ (s022) ergänzt, verändert er das Folgeverhältnis, das diese erste Äußerung der VEE entwickelt. Dass „die Welt […] ein bisschen in Ordnung“ (s022) ist, wird auf diese Weise nicht, wie mit „jetz“, auf eine rein zeitliche Veränderung, sondern auf bestimmte Geschehnisse, auf die Rückkehr von PAs Mann, zurückgeführt. Dabei wird mit „seit“ (laut Kluge entstanden aus gotisch „seipiz“ ~ „später“ (Kluge 2002: s.v.)) zwar ein zeitliches, kein kausales, Folgeverhältnis verbalisiert, entscheidend ist jedoch, dass mit der Phrase „Rückkehr Ihres Mannes“ diejenigen Wissenselemente, auf die die fragliche Veränderung zurückgeht, aktualisiert werden. Indem so ein Folgeverhältnis zwischen der Rückkehr des Mannes und der Veränderung von PAs Zustand postuliert wird, wird PA ein entsprechender Schluss auf zugrundeliegende Ursache-Wirkungs-Verhältnisse nahe gelegt. Anschließend wird die Veränderung, die mit PA nach der Rückkehr ihres Mannes vorgegangen ist, mit dem Phraseologismus „die Welt ist in Ordnung“ versprachlicht. Mit diesem Phraseologismus wird eine kollektiv verankerte, umgangssprachliche Analyse über das Umschlagen einer Situation in eine andere realisiert. Demnach verwandelt sich eine problematische Situation, die von Sorgen und Handlungsschwierigkeiten gekennzeichnet ist, wenn „die Welt wieder in Ordnung ist“, in eine sorgen- und problemfreie Situation. Durch

9 Auch die „Grammatik der deutschen Sprache“ sieht die Funktion von „na“ im Überbrücken von „Realisationsschwierigkeiten“ (Zifonun u. a. 1997: 398) sowie im Ausdrücken von „Erwartungsdiskrepanz“ (397).

140 | Die Handlungsstruktur des ›VEE‹ (›Verbalisieren des emotionalen Erlebnisgehalts‹) „wieder“, das in s022 fehlt, anschließend aber von PA verbalisiert wird (s023), wird dabei zum Ausdruck gebracht, dass dieser zweite, wiederhergestellte Zustand dem ursprünglichen Zustand, der der problematischen Situation vorausgegangen war, entspricht. TH ordnet PAs Erleben mit diesem Phraseologismus in eine Kategorie ein, die gesellschaftliches Wissen über Erleben bereitstellt. PAs mentale Prozesse werden umfassend benannt und auf einen Begriff gebracht. Während PA zuvor über ihr konkretes Erleben individueller, singuläre Ereignisse (Reise ihres Mannes, Entwicklung des Schlafverhaltens) gesprochen hatte, wird ihr Erleben nun einer kollektiven Kategorie zugeordnet, der auch andere individuelle Erlebnisse ähnlichen Charakters zugeordnet werden können. PAs Erlebnisse werden so mit denen anderer Menschen vergleichbar, sie werden in einem bestimmten Punkt – dem der Wiederherstellung eines sorgenfreien Zustands – mit anderen Erlebnissen gleichgesetzt. PAs Erleben wird, indem es benannt wird, in der VEE von einer kollektiven Perspektive aus rekonzeptualisiert, kollektive Wissensbestände zum Zustandekommen und zur weiteren Bearbeitung von PAs Situation werden so anschlussfähig. Was sich hier an einem einzelnen Phraseologismus zeigen lässt, hat Wygotski abstrakt für die Funktion von Wörtern gefasst: „Die Sprache ist ein Mittel von großer Macht, um Erscheinungen zu analysieren und zu klassifizieren, um die Wirklichkeit zu ordnen und zu Verallgemeinerungen zu gelangen. Das Wort, zum Träger eines Begriffs geworden, ist eine richtige Theorie vom Gegenstand, auf den es sich bezieht. Das Allgemeine dient in diesem Falle als Orientierung für das Einzelne. Indem der Mensch mit Hilfe von Worten - als Zeichen für Begriffe - die konkrete Wirklichkeit erkennt, entdeckt er die Zusammenhänge und Gesetzmäßigkeiten der für ihn sichtbaren Welt.“ (Wygotski 1987: 397)

Indem TH PAs Erleben mit den Worten „das Leben ist wieder in Ordnung“ benennt, stellt er, wie von Wygotski beschrieben, eine Analyse und Klassifikation ihres Erlebens an, er ordnet PAs Erleben und zeigt Zusammenhänge und Gemeinsamkeiten auf, und zwar unter Rückgriff auf einen Phraseologismus, der gesellschaftlich geronnenes Wissen auf den Punkt bringt. Das „Benennen“ stellt eine Verbindung zwischen dem einzelnen, individuellen Erleben und dem allgemeinen Wissen her, „das Allgemeine dient [auch] in diesem Falle als Orientierung für das Einzelne“.10

10 Ähnliche Prozesse werden teilweise auch im Zusammenhang von „Frame“-Theorien analysiert (vgl. Konerding (1993), Ziem (2008), Busse (2012)). Wenn im Folgenden von „Benennen“ gesprochen wird, wird im Unterschied zum „Framing“ die Tatsache betont, dass eine Entität in ihrer existenzialen Struktur erkannt, sprachlich gefasst und damit für das Handeln erschlossen, nicht etwa nur gedanklich ‚gerahmt‘, wird. Durch das „Benennen“ wird etwas in seiner

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Eine ähnliche Betrachtung stellt Sabine Forschner (2006) an, wenn sie, aufbauend auf Bühler und Wygotski, das Wissen von Geburtsblinden über Farben untersucht. Forschner zeigt, dass Blinde im Prozess der Sprachaneignung kollektives Wissen über Farben erwerben, das von der individuellen Wahrnehumgsfähigkeit unabhängig ist. Laut Forschner geht „durch die ontogenetische Integration von Wörtern in mentale Prozesse eine Ablösung des Denkens von der unmittelbaren Wahrnehmung und damit einhergehend eine Vergesellschaftung des Denkens von statten“ (125; Hervorh. von mir, C.S.). Diese „Vergesellschaftung des Denkens“ findet, wie die Daten aus der Gesprächstherapie zeigen, nicht nur im Zuge der von Forschner thematisierten Sprachaneignung statt, sondern wird von Mitteln des Symbolfeldes auch und gerade bei vollständig entwickelter Sprachkompetenz geleistet. Einzelne Symbolfeldausdrücke oder Phraseologismen können das Denken aus der unmittelbaren, partikulären Erlebnissituation ablösen und einer gesellschaftlichen, kollektiv anschlussfähigen Perspektive zuführen. TH formuliert diese erste Äußerung der VEE im Modus des Selbstverständlichen. Die Äußerung wird als Assertion realisiert, das Zukommen des Gewussten zum Thema des Wissens wird nicht eingeschränkt. Darüber hinaus arbeitet der Ausdruck „ja“ auf dem in s022 prozessierten propositionalen Gehalt. TH nimmt mit „ja“ in Mittelfeldstellung das formulierte Wissen als von S und H geteiltes Wissen in Anspruch (Hoffmann 2008, vgl. Imo 2013: 159ff). PA ergänzt die Äußerung mit „Wieder in Ordnung“ (s023) und macht mit dieser Ergänzung sowie wenig später mit „Jā“ (s025) deutlich, dass sie zustimmt. Wahmhoff (1981) spricht in einem solchen Fall, in dem die grammatische Konstruktion vom Hörer aufgenommen und syntaktisch korrekt weiter geführt wird, von „syntaktischer Solidarität“ (a. a. O.: 104). Schlobinski (1988 a. a. O.: 39f.) kritisiert zwar Wahmhoffs grammatische Analyse, folgt aber ihrer Interpretation, wonach dieses Phänomen die Übereinstimmung von Sprecher und Hörer besonders deutlich zum Ausdruck bringt (vgl. dazu auch Auer & Uhmann 1982, Pomerantz 1984). Der Eindruck, dass PA der Äußerung s021 vorbehaltlos zustimmt, wird durch die Analysen der genannten Autoren also gestützt. In der nächsten Äußerung der VEE expliziert TH das Folgeverhältnis, das in s022 bereits angedeutet war: „‿Und dann können Sie auch schlafen, ne?“ (s024). Das Schlafen-Können PAs wird als Folge der Zustandsveränderung, dass

‚Was-Struktur‘ fassbar und kann so Gegenstand von Handlungsprozessen werden. Hinsichtlich anderer Aspekte, etwa der Tatsache, dass Benennungen zusätzliche Wissenselemente anschlussfähig machen, ist die hier vorgelegte Analyse zu den Frame-Theorien durchaus komplementär – zumal bei Bühler nicht nur die Nenn- bzw. Symbolfeldtheorie, sondern im Rahmen der „Stoffhilfen“ (1982: 170ff) bereits auch eine Frametheorie angelegt ist.

142 | Die Handlungsstruktur des ›VEE‹ (›Verbalisieren des emotionalen Erlebnisgehalts‹) die Welt mit der Rückkehr des Mannes wieder in Ordnung ist, rekonzeptualisiert. Damit werden ‚innere‘ mentale und ‚äußere‘ körperliche Vorgänge in ein Verhältnis gesetzt, PA wird darauf hingewiesen, dass Körperliches von Psychischem abhängig sein kann. Mit dem „Sprechhandlungsaugment“ (Rehbein 1979) „ne?“ (s024) evoziert TH schließlich eine Reaktion auf die VEE. Er fordert eine zustimmende Bewertung der VEE, die PA in s025 auch realisiert („Jā˙“). Exkurs: Sprechhandlungsaugmente in der Psychotherapie Viele Sprechhandlungsaugmente im Korpus haben negierenden Charakter. Bei „nicht?“ wird die Negation explizit gemacht, bei „oder?“ wird nach alternativem Wissen gefragt, auch bei „ne?“, liegt ein negierendes Moment vor. Dies scheint auf den ersten Blick paradox, weil der Sprecher ja eine zustimmende Reaktion zur vorangegangenen Äußerung evozieren will. Aufgrund des Diskurswissens ist indes klar, dass eine positive Bewertung erwartet wird, diese soll aber vom Hörer selbst vollzogen und nach außen gesetzt werden. Die fragende Intonation des Sprechhandlungsaugments macht deutlich, dass die Verneinung als Frage an H prozessiert wird, der damit mental zu einem Bewertungsprozess hinsichtlich der Verneinung von p, also der Nicht-Übereinstimmung von p und P, angeregt wird. Da S aber p gerade erst behauptet hat, ist klar, dass S p für richtig hält, also eine zustimmende Bewertung erwartet. Indem das Sprechhandlungsaugment die Übereinstimmung von p und P zunächst verneint, bringt es den Hörer dazu, eine eigenständige Bewertung von p vorzunehmen, die Übereinstimmung zu prüfen und aufgrund eigener mentaler Prozesse zu reinstantiieren. Auf diese Weise stellen Sprechhandlungsaugmente in der Psychotherapie eine aktive Mitarbeit des Patienten sicher.

7.2.2 „Interpretieren“ PA stimmt zu, übernimmt in der anschließenden Pause allerdings nicht das Rederecht. Ab s029 realisiert TH einen zweiten Durchlauf durch das VEEMuster, reagiert auf die mangelnde Reaktion der Patientin also mit einer Erweiterung der Interventionspassage (vgl. Peräkylä 2005: 167f.). TH nutzt das in der ersten VEE gerade entwickelte Wissen, um in einem Umkehrschluss Aussagen über PAs Schlafschwierigkeiten zu treffen: „Des heißt, dass s sonst eben net so in Ordnung ist“ (s029). Durch die m. E. deiktische Prozedur „sonst“ wird – kontrastiv zur Aspektdeixis „so“ (Ehlich 1987) – die gegebene Situation zu einer Art Gegenbild, an dem das zu Fokussierende entworfen wird. Die mit „sonst“ fokussierte Situation zeichnet sich dadurch aus, dass die in der aktuellen Situation gegebenen Ausprägungen bestimmter Aspekte in der fokussierten Situation gerade nicht gegeben sind, die Aufmerksamkeit des Hörers wird auf diese unterschiedliche Ausprägung entscheidender Merkmale ausgerichtet (vgl. Paul

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u. a. (2002: s.v.), wo „sonst“ auf die „gegensätzliche Verbindung mit ‚so‘“, wie in „da dieser so und sonst sagte (Luther)“ (ebd.) zurückgeführt wird). Ist das aktuelle Gewusste in s029, dass PA auf einmal gut schlafen konnte, so wird mit „sonst“ also die gegenteilige Situation, die Situation, in der sie nicht gut schlafen kann, fokussiert. Diese Situation, so TH, ist dadurch gekennzeichnet, dass „s“, also PAs Welt, „net so in Ordnung ist“ (s029). Das bisher in der VEE verbalisierte Wissen wird also in einer zweiten interpretativen Schleife11 so ausgelegt, dass durch Wissen über die gegenteilige, deutlich häufiger auftretende Situation, in der PA nicht gut schlafen kann, generiert wird. Da PA dann gut schlafen kann, wenn ihre Welt wieder in Ordnung ist, bedeutet ihr regelmäßiges Nicht-Schlafen-Können, dass ihre Welt normalerweise eben nicht in Ordnung ist. Obwohl die Äußerung s029 wie eine Aussage über die Wirklichkeit P wirkt, macht TH anschließend deutlich, dass es ihm um ПPA geht: „‿Zumindest, ähm • dass Sie die Angst ham“ (s030). Demnach ist das zuvor formulierte Wissen nicht Wissen über die Wirklichkeit, sondern über PAs mentale Prozesse, über ihre „Angst“. Der Theorie der Gesprächstherapie (Tausch & Tausch 1979; s. o. Kap. 5.2) entsprechend werden auf diese Weise die mentalen Prozesse des Patienten in den Vordergrund gestellt, ‚äußere‘, nicht-mentale Vorgänge werden dethematisiert. TH stellt also sicher, dass über das Wissen ΠPA, nicht über die Wirklichkeit P, gesprochen wird. Der zweite Durchlauf durch das VEE-Muster wird von TH insgesamt genutzt, um aus dem in der ersten VEE formulierten Wissen zusätzliches Wissen über PAs mentalen Bereich zu generieren und zu versprachlichen. Mit „Des heißt“ (s030) (s. Bührig 1996: 191f.) wird an die vorherigen Äußerungen angeschlossen und ein auf p basierender Schluss formuliert. „Des heißt“ verarbeitet das anadeiktisch refokussierte Wissen als ein Wissen, das im sprachlichen Ausdruck, also in p, bereits enthalten ist und im Folgenden lediglich expliziert wird. Damit funktionieren auch diese beiden Äußerungen so, wie es bisher als charakteristisch für das ›VEE‹ herausgearbeitet werden konnte: sie machen den zuvor im Diskurs abgelaufenen Handlungsprozess zum Gegenstand einer mentalen („Schließen“) und sprachlich-interaktionalen („Interpretieren“) Bearbeitung durch den Therapeuten. Das Ergebnis dieser Bearbeitung ist neues, vergleichsweise abstraktes Wissen über mentale Prozesse der Patientin, das in der VEE

11 Von einer „zweiten interpretativen Schleife“ wird hier gesprochen, weil die aktuell prozessierte VEE auf der zuvor prozessierten VEE aufbaut. Es handelt sich um ein Auslegen von Wissen, das seinerseits erst durch auslegende, interpretative Prozesse gewonnen worden war (vgl. u. Kap. 7.4).

144 | Die Handlungsstruktur des ›VEE‹ (›Verbalisieren des emotionalen Erlebnisgehalts‹) verbalisiert wird und es PA ermöglicht, das eigene Erleben aus einer veränderten, kollektiv anschlussfähigen Perspektive zu sehen. Wesentlich für die Analyse der Handlungsstrukturen ist die Konstellation, von der das ›VEE‹ ausgeht. Aus diesem Grund wird die diskursive Einbettung des VEE hier noch einmal kurz rekapituliert. In B2 wird zunächst das von PA formulierte partikulare Erlebniswissen über ihr Schlafverhalten und andere ‚äußere‘ Vorgänge aufgenommen und verarbeitet. Für TH wird an PAs Schilderungen ein Zusammenhang zwischen mentalen und interaktionalen, Vorgängen ersichtlich, den er in der ersten VEE mit „seit der Rückkehr Ihres Mannes is ja die Welt auch – zumindest für Sie – ein bisschen in Ordnung“ (s022) formuliert. Aus den Äußerungen PAs wird in der VEE Wissen generiert, das eine höhere Aussagefähigkeit für das Zustandekommen und die Entwicklung von PAs mentalen Prozessen hat als das von PA selbst formulierte Wissen. Diese Wissensbearbeitung ist als charakteristisch für deutende, interpretative Handlungen anzusehen: die „Interpretation“ arbeitet an einem gegebenen, manifesten Wissen über ein Objekt, das häufig im Diskurs hergestellt bzw. aktualisiert wird, ein ‚dahinter‘ liegendes, zusätzliches Wissen über das Objekt der Deutung heraus (s. u. Kap. 9.1). Dieses zusätzliche Wissen wird als das eigentliche Wissen, das das Objekt in seinem Wesen erfasst, verbalisiert. Indem es das aktuelle Geschehen im Diskurs nutzt, um zusätzliches Wissen von größerer Konstanz und Bedeutung zu entwickeln, operiert das ›VEE‹ strukturell interpretativ bzw. deutend.12 Das ›VEE‹ ist daher im Kern als ein „Deuten“ zu erfassen, das sich allerdings in wesentlichen Punkten vom tiefenpsychologischen bzw. psychoanalytischen ›Deuten‹ unterscheidet (s. u. Kap. 8, 9.1). Es fällt auf, dass das hier erkannte Verhältnis zwischen einer ›VEE‹ und den Äußerungen, auf denen sie basiert, an sich auch in der Gesprächstherapie thematisiert wird: „Sie [die ›VEE‹; C.S.] drückt die vom anderen gefühlten Inhalte und Bedeutungen in tiefgreifenderer Weise aus, als dieser es selbst konnte“ (Tausch & Tausch 1979: 35). Auch Tausch & _Tausch scheint es also darum zugehen, aus dem vom Gegenüber eingebrachten Wissen das eigentliche, wesentliche Wissen herauszuschälen. Wenn dieselben Autoren einige Seiten später allerdings interpretative Äußerungen des Therapeuten aus theoretischer Perspektive als grundsätzlich unzweckmäßig bezeichnen (a. a. O.: 109f.), wird sowohl ein ungenügendes Verständnis des „Deutens“, das diese sprachliche Handlung auf ihre psychoanalytische Ausformung reduziert, als auch eine

12 In der Analyse werden die Ausdrücke „Deuten“, „Interpretieren“ und „Auslegen“ synonym verwendet (vgl. Anton 1971a, 1971b sowie Bachem 1992).

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mangelnde Reflexion der eigenen professionellen Praxis erkennbar (vgl. u. Kap. 9.3). Wie beschrieben wird der Prozess des „Interpretierens“ anschließend fortgesetzt, indem TH das von ihm zuvor verbalisierte Wissen mittels „Des heißt“ zum Ausgangspunkt einer zweiten VEE macht. Dies zeigt, dass das ›VEE‹ im Allgemeinen sowohl auf – in der Regel erzählenden – Äußerungen des Patienten als auch auf dem therapeutenseitigen Formulieren von bekanntem, manifestem Wissen, das in der Therapie bereits einmal formuliert worden war, also auf einem „Wiederaufgreifen“ von Wissen, aufbauen kann. Welche Funktion dieses erneute Formulieren von bekanntem Wissen im ›VEE‹ übernimmt, soll im Folgenden genauer untersucht werden.

7.2.3 „Wiederaufgreifen“ An B2 wird erkennbar, dass das Aufgreifen von bereits verbalisiertem Wissen in der ›VEE‹ eine wichtige Rolle spielt. Die Mehrzahl der linguistischen Studien über Psychotherapie erfasst Handlungen dieser Art, in denen ein bereits formuliertes Wissen noch einmal versprachlicht wird, mit dem Konzept der „Formulierung“. Wie oben (Kap. 2.3.2) gezeigt werden konnte, wird „Formulierungen“ allerdings eine sehr große Bandbreite formaler und funktionaler Erscheinungen zugeschrieben. Da dies auf die vagen, an der semantischen Relationierung von Oberflächenelementen orientierten Bestimmungen von „Formulierung“ (Garfinkel & Sacks 1970, Heritage & Watson 1979) zurückzuführen ist (s. o. S. 36ff), wird hier nicht mit dem Konzept der „Formulierung“ gearbeitet. Stattdessen wird an die in der Psychotherapieforschung entwickelte, funktional und formal präzisere Begrifflichkeit der „richiami“ (Bercelli u. a. 2004) bzw. „recallings“ (Bercelli u. a. 2003) angeknüpft. Bercelli u. a. bestimmen „richiamo“ als „un' attività […] quando T o P menzionano qualcosa come già detto in una seduta precedente o in una parte precedente della seduta in corso, e l'interlocutore mostra di ricordare o meno il discorso menzionato“13 (2004: 118). Für Bercelli u. a. bestehen „richiami“ also aus zwei adjazenten Elementen: Die Formulierung (wörtlich: Erwähnung) von etwas, das bereits gesagt worden war, sowie die Anzeige des Hörers, ob es sich auch für ihn um bereits bekanntes Wissen handelt. In den mir vorliegenden Daten zeigt sich allerdings, dass der Hörer

13 „eine Handlung […], bei der zunächst TH oder PA etwas erwähnt, was entweder in einer vorherigen Sitzung oder in der laufenden Sitzung bereits gesagt worden war, und bei der sein Gesprächspartner anschließend deutlich macht, ob er sich an den erwähnten Diskursabschnitt erinnert oder nicht“ [eigene Übersetzung, C.S.].

146 | Die Handlungsstruktur des ›VEE‹ (›Verbalisieren des emotionalen Erlebnisgehalts‹) nicht immer unmittelbar nach Formulierung des aufgegriffenen Wissens sprachlich anzeigt, ob er dieses Wissen ebenfalls aufrufen kann. Daher erscheint es mir für die hier vorzunehmende Analyse sinnvoller, die Handlung des Sprechers, in der ein bereits bekanntes Wissen wiederaufgegriffen wird, als eigenständige Handlung zu erfassen und etwaige Reaktionen des Hörers davon kategorial zu unterscheiden. Bercelli u. a. fassen „richiami“ darüber hinaus als eine Art „Prä“ auf, das, durchaus in Übereinstimmung mit den hier analysierten Daten (vgl. o. 6.1.2.2), eine „rielaborazione“ (2004: 119), also therapeutenseitige Ausführungen zu dem wiederaufgegriffenen Wissen, ankündigt: „Il richiamo preannuncia una possibile rielaborazione del discorso richiamato, che in effeto subito seque […] la sequenza di richiamo si configura come una pre-sequenza, che introduce un’altra attività“ (ebd.).14 Deutlich wird, dass auch für Bercelli u. a. das Aufgreifen bereits verbalisierten Wissens einer näheren Auseinandersetzung mit diesem Wissen dient. Im Vergleich zu anderen Untersuchungen wird damit eine funktional treffende Analyse von Äußerungen dieser Art vorgelegt. Wie die folgenden Ausführungen zeigen, lässt sich unter explizitem Einbezug von Sprecher- und Hörerwissen darüber noch hinausgehen und ein präziserer Zugriff auf Form und Funktion dieser Handlungen gewinnen. Nichtsdestrotrotz bieten die Arbeiten von Bercelli u. a. (vgl. neben den genannten auch Bercelli u. a. 1999) einen guten Ausgangspunkt für weitere Analysen, nicht zuletzt soll daher auch auf den Begriff des „richiamo“ bzw. „recalling“ zurückgegriffen werden. Dieser wird allerdings nicht wörtlich, als Wiederaufrufen oder In-Erinnerung-Rufen, sondern als „Wiederaufgreifen“ übersetzt. Betont wird auf diese Weise der aktive Griff des Sprechers nach bereits verbalisiertem Wissen. In B2 wird ab s031 bereits bekanntes partikulares Erlebniswissen wiederaufgegriffen. Mit „Sie sagten“ (s031) wird eine „Matrixkonstruktion“ (Rehbein 2003) eingeleitet, die – ebenso wie der Konjunktiv I, der hier mit Formen des Konjunktiv II realisiert wird – den in der syntaktisch untergeordneten „pKonstruktion“ (Rehbein 2003) prozessierten propositionalen Gehalt als eine Wiedergabe von Äußerungen PAs kennzeichnet („Sie sagten, dass Sie drauf gewartet hätten, dass Ihr Mann Ihnen Nachricht gäbe.“).15 TH formuliert hier

14 „Das richiamo kündigt mögliche Ausführungen – die in der Tat unmittelbar folgen – über den aufgegriffenen Diskursabschnitt an […] die Sequenz des richiamo lässt sich als eine PräSeqeunz verstehen, die eine andere Handlung einführt“ [eigene Übersetzung, C.S.]. 15 Rehbein (2003) erfasst Äußerungen der Struktur „Ich wollte fragen, ob du morgen Zeit hast“ als „Matrix-Konstruktionen“. Demnach fungiert die einleitende Konstruktion „ich wollte fragen“ wie eine Matrix, die die Illokution der Äußerung realisiert und bestimmt, wie der anschließend verbalisierte propositionale Gehalt „ob du morgen Zeit hast“ – von Rehbein als „p-

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also Wissen, das PA bereits zum Ausdruck gebracht hatte, und kennzeichnet es auch explizit als solches. Daran schließt er mit „Nun, ((2,2s)) mir fällt ein dazu“ (s032) eine Überlegung über dieses Wissen an. Diese Überlegung wird zunächst abgebrochen und mit der nächsten Äußerung („Sie sorgen sich sehr um Ihren Mann, nicht?“ (s033)) fortgesetzt. Dann wird diese interpretative Überlegung über PAs mentale Verfasstheit belegt, indem Wissenselemente, die PA zuvor in den Diskurs eingebracht hatte, aufgegriffen und erneut formuliert werden: „Sie ham ihm die Sachen eingepackt und ham ihm das mitgegeben, ham geschaut, dass er gut daa unterwegs ist und so weiter“ (s034). Die Interpretation in s033 wird also sowohl vorher als auch hinterher durch festes, bereits bekanntes Wissen abgesichert. Dieses Wissen wird als manifestes, nicht weiter zu hinterfragendes Wissen behandelt und kann damit einerseits zum Ausgangspunkt zusätzlicher Wissensbearbeitung gemacht werden. Es kann aber andererseits auch verwendet werden, um gerade formulierte, neue VEE-Wissenselemente zu belegen. Für PA wird durch das „Wiederaufgreifen“ des manifesten Wissens über all das, was sie für ihren Mann tut (s031, s034), nachvollziehbar, wie TH zu dem neuen Wissen, dass sie sich sehr um ihn sorgt (s033), gekommen ist. Das interpretierende, vergleichsweise abstrakte VEE-Wissen kann aufgrund der erneuten Formulierung von PAs partikularem Erlebniswissen, also durch das „Wiederaufgreifen“, nachvollzogen werden. Das „Wiederaufgreifen“ dient der Aktualisierung von bekanntem Wissen, das „Interpretieren“ dem Gewinnen neuen Wissens aus dem bereits bekannten Wissen. Über diese noch stark an den „richiami“ orientierte Bestimmung des „Wiederaufgreifens“ lässt sich im Folgenden hinausgehen, indem das „Wiederaufgreifen“ mit verschiedenen Handlungsformen verglichen wird, die ebenfalls bereits verbalisiertes Wissen bearbeiten. Zunächst soll ein Vergleich mit dem „Illustrieren“ vorgenommen werden, anschließend wird das „Wiederaufgreifen“ mit den „reformulierenden Handlungen“ und mit dem „Begründen“ kontrastiert. Die VEE in B2 zeigen zwei unterschiedliche Formen des „Wiederaufgreifens“, die das aufgegriffene Wissen je unterschiedlich sequentiell und diskursiv platzieren. Im ersten Fall wird das fragliche Wissen vor seiner „Interpretation“ angeführt. In diesem Fall spreche ich von „Einführendem Wiederaufgreifen“. Das „Einführende Wiederaufgreifen“ reaktualisiert das manifeste, unhinterfragte, partikulare Erlebniswissen PAs und macht es zum Ausgangspunkt interpre-

Konstruktion“ bezeichnet – verarbeitet wird. Die Funktion von Matrix-Konstruktionen insgesamt sieht Rehbein darin, „die Kohärenz der Interaktion im Sinne eines Abgleichs der Wissensbestände […] bei Sprecher und Hörer im Rahmen der übergeordneten Text- und Diskursart herzustellen“ (a. a. O.: 17).

148 | Die Handlungsstruktur des ›VEE‹ (›Verbalisieren des emotionalen Erlebnisgehalts‹) tativer Handlungen, die zusätzliches abstrakteres Wissen von höherer Relevanz generieren. Im zweiten, von Bercelli u. a. nicht beschriebenen, Fall wird das Wissen, auf dem die „Interpretation“ basiert, erst nach der Verbalisierung der „Interpretation“ aufgegriffen. Das reaktualisierte partikulare Erlebniswissen scheint damit quasi illustrierenden Charakter zu bekommen: Es ermöglicht dem Hörer den nachträglichen Schluss auf die der Interpretation zugrunde liegenden mentalen Prozesse. Im Unterschied zur Handlung der „Illustration“, wie sie Becker-Mrotzek (1988: 69ff) bestimmt hat, wird die „Interpretation“ in der Regel allerdings mithilfe von konkretem partikularem Erlebniswissen, also mit Wissen über ein bestimmtes Ereignis, belegt. Becker-Mrotzek betont dagegen, dass das beim Illustrieren angeführte Wissen stets auf die „Typik“ (a. a. O.: 85) eines Sachverhalts abzielt und daher nicht konkrete Erlebnisse, sondern abstraktere Wissensstrukturen wie „Bilder“ (nach Ehlich & Rehbein 1977), bei denen das Gewusste dem Thema des Wissens wiederholt zukommt, angeführt werden (Becker-Mrotzek 1988: 93; kritisch dazu Schwitalla 1991). Diese Form des Illustrierens im Sinne Becker-Mrotzeks ist im ›VEE‹-Wiederaufgreifen nur sehr selten zu beobachten (vgl. aber immerhin B1 s086, s088); da beide Formen – das seltene Anführen allgemeinen Wissens und das weitaus häufigere Anführen partikularen Wissens – ein Belegen der „Interpretation“ bezwecken, werden sie im folgenden nicht weiter unterschieden, sondern funktional als „Belegendes Wiederaufgreifen“ von bereits vorhandenem Wissen bestimmt. Neben dem „Illustrieren“ gibt es weitere Handlungen, die ein bereits versprachlichtes Wissen noch einmal formulieren. Im Unterschied zu den reformulierenden Handlungen, die Bührig (1996) untersucht hat, fällt beim „Wiederaufgreifen“ im ›VEE‹ zunächst die zeitliche Distanz auf, die zwischen der ursprünglichen Verbalisierung des fraglichen Wissens und seinem Aufgriff in der ›VEE‹ liegen kann. So wird u. a. Wissen aufgegriffen, dessen ursprüngliche Verbalisierung mehrere Sitzungen – und damit mehrere Wochen – zurückliegt. In s050 wird dies explizit gemacht: „‿Da drüber ham S mir des letzte Mal erzählt“. Erkennbar wird, dass das „Wiederaufgreifen“ rein П-basiert ist: im Vergleich zu den reformulierenden Handlungen nach Bührig geht es beim „Wiederaufgreifen“ weniger darum, wie das Wissen im Detail noch einmal formuliert wird, als darum, dass diese erneute Formulierung überhaupt erfolgt und damit Ansatzpunkte für das „Interpretieren“ geschaffen werden. Entsprechend zeigen sich beim „Wiederaufgreifen“ zwischen ursprünglicher und aufgreifender Formulierung insgesamt größere Abweichungen an der sprachlichen Oberfläche als bei den reformulierenden Handlungen, die Bührig untersucht hat. Damit in Zusammenhang steht das zweite Charakteristikum, dass das „Wiederaufgreifen“ von rein reformulierenden Handlungen unterscheidet. Das fragliche Wissen wird in der ›VEE‹ vom ursprünglichen diskursiven und thema-

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tischen Zusammenhang z. T. vollkommen abgelöst, es wird in einen Rahmen – eben zum Vorbereiten oder Belegen der „Interpretationen“ des Therapeuten – gestellt, in dem es bei der ersten Formulierung durch den Patienten nicht gestanden hatte. Z. B. hatte PA sich über die Unselbständigkeit ihres Mannes ursprünglich im Sinne einer Klage geäußert und den Wunsch zum Ausdruck gebracht, er möge sich anders verhalten. Reaktualisiert wird dieses Wissen dann aber in B2 im Zuge einer „Interpretation“, in der es um die Einstellung PAs und um ihr Verhalten ihrem Mann gegenüber geht (s044). Das „Wiederaufgreifen“ erfolgt jeweils an einer Position im Handlungsablauf, an der der ursprüngliche Verwendungszusammenhang des fraglichen Wissens weder gegeben, noch ohne weiteres erkennbar ist. Während „Umformulieren“ (Bührig 1996: 95ff), „Rephrasieren“ (247ff) und „Zusammenfassen“ (193ff) ihren Zweck im gegebenen diskursiven Zusammenhang der jeweiligen Bezugsäußerung erfüllen, versetzt das „Wiederaufgreifen“ das fragliche Wissen in einen veränderten Handlungszusammenhang. Das „Wiederaufgreifen“ ist daher auch als vollständige Handlung, in der alle Stadien einer Handlung (nach Rehbein 1977: 137ff) durchlaufen werden, zu bestimmen. Die Konstellation wird vom Therapeuten bewertet, dabei wird erkannt, dass der Patient ein bestimmtes, an sich vorliegendes Wissen nicht aktualisiert hat. Dieses Wissen hat zum einen die Eigenschaft, dass es ursprünglich vom Patienten selbst formuliert worden ist, der Therapeut also annehmen kann, dass der Patient dieses Wissen für wahr hält. Zum anderen basiert auf diesem Wissen das vom Therapeuten interpretierend gewonnene neue VEE-Wissen. Daher hat dieses Wissen die Kraft, dem Patienten den Nachvollzug des „Interpretierens“, das den Kern des ›VEE‹-Musters bildet, zu ermöglichen. Im Zuge der Planbildung werden die entsprechenden Wissenselemente vom Therapeuten identifiziert, im Zuge der Ausführung des „Wiederaufgreifens“ werden sie dann formuliert. Damit unterscheidet sich das „Wiederaufgreifen“ grundsätzlich vom „Umformulieren“ und vom „Rephrasieren“, bei denen das Stadium der Planbildung nicht erneut komplett durchlaufen wird (Bührig 1996: 287). Lediglich das „Zusammenfassen“ ist nach Bührig eine vollständig eigenständige Handlung, die sich weiter nach sprecher- und hörerseitiger Ausführung unterscheiden lässt. Da das „Wiederaufgreifen“ im ›VEE‹ vom Therapeuten, dem Hörer der Bezugsäußerung, realisiert wird, wird es im Folgenden noch mit dem „hörerseitigen Zusammenfassen“ (a. a. O.: 210ff) verglichen. Bührig zufolge kommt es beim „hörerseitigen Zusammenfassen“ zu einer Verbegrifflichung relevant bewerteter Wissenselemente unter einem neuen Thema des Wissens (a. a. O.: 235). Andere zuvor formulierte und als nicht relevant bewertete Wissenselemente werden hingegen ausgelassen (a. a. O.: 219ff). Das relevante Wissen wird in einer Äußerung gebündelt, die Konstellation wird

150 | Die Handlungsstruktur des ›VEE‹ (›Verbalisieren des emotionalen Erlebnisgehalts‹) damit so bearbeitet, dass eine institutionell notwendige Anschlusshandlung möglich wird.16 Das „hörerseitige Zusammenfassen“ dient, wie auch die anderen von Bührig untersuchten reformulierenden Handlungen, der Vorbereitung dieser Handlung, die dann ihrerseits den Zweck eines Diskurses realisieren kann. Es zeigen sich Ähnlichkeiten und Unterschiede zum „Wiederaufgreifen“. In beiden Fällen setzt die aufgreifende bzw. reformulierende Handlung nicht selbst den Zweck einer Einheit diskursiven Handelns um, sondern dient der Vorbereitung einer anderen Handlung. Dabei kommt es auch beim „Wiederaufgreifen“ – und zwar in beiden Ausprägungen – zu einer Auswahl aus den zuvor vom Klienten formulierten Wissenselementen. Im Vergleich zum „hörerseitigen Zusammenfassen“ ist die Menge des potentiell aufzugreifenden Wissens allerdings ungleich größer, es kann aus mehreren gesprächstherapeutischen Sitzungen ausgewählt werden.17 Ein wesentlicher Unterschied zeigt sich daneben in der Verarbeitung des erneut formulierten Wissens. Die Veränderung des Themas des Wissens, die für das „hörerseitige Zusammenfassen“ charakteristisch ist, ist beim „Wiederaufgreifen“ nicht festzustellen. Das Wissen wird vielmehr so formuliert, dass es für den Patienten möglichst unmittelbar als eigenes Wissen erkennbar wird; es wird also nicht unter einem anderen Thema des Wissens verbegrifflicht. Die Verarbeitung dieses Wissens, die dann auch zu einer Veränderung des Themas des Wissens führen kann, geschieht stattdessen anschließend in einer eigenen sprachlichen Handlung, dem „Interpretieren“. Im Gegensatz zum „hörerseitigen Zusammenfassen“ kommt es also beim „Wiederaufgreifen“ nicht zu einer eigenständigen Bearbeitung des Wissens, diese wird vielmehr in einer anderen Handlung, deren Nachvollzug durch das „Wiederaufgreifen“ unterstützt wird, vollzogen. Das „Belegende Wiederaufgreifen“ dient, wie dargestellt, dem Nachbereiten einer zuvor ausgeführten sprachlichen Handlung. Daher soll auch sein Bezug zum „Begründen“ (Ehlich & Rehbein 1986), bei dem es darum geht, eine zuvor ausgeführte nicht verstandene Handlung verstehbar zu machen, kurz diskutiert werden. Im Unterschied zum „Begründen“ geht dem „Belegenden Wiederauf-

16 Konkret zeigt sich dies etwa im ärztlichen Reformulieren von Beschwerden. Der Arzt hält diejenigen Wissenselemente aus dem Beschwerdevortrag des Patienten fest, die als „cues“ für eine Diagnosestellung dienen können (Bührig 1996: 222f.). Das „hörerseitige Zusammenfassen“ des Arztes dient so der Vorbereitung einer Diagnose (vgl. dazu jüngst auch Schöffler & SpranzFogasy 2012). 17 Aufgrund dieser großen Reichweite des „Wiederaufgreifens“, und weil Vor- und Anamnesegespräch nicht auf Band vorliegen, war es mir auch nicht immer möglich, die jeweiligen Bezugsäußerungen zu identifizieren.

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greifen“ lokal kein Nicht-Verstehen des Hörers voraus. Das „Belegende Wiederaufgreifen“ wird vielmehr bereits prozessiert, bevor eine solche Bewertung der Konstellation durch den Hörer erfolgt und versprachlicht worden ist, bevor also ein Nicht-Verstehen der ›VEE‹ diskursiv relevant werden kann. Dementsprechend kommt es an keiner Stelle in den untersuchten ›VEE‹ zur Anforderung einer „Begründung“ durch die Patienten und dementsprechend finden sich auch keine sprachlichen Ausdrucksmittel – etwa „denn“– die ein „Begründen“ einer ›VEE‹ einleiten würden. Das Wissen, das im „Belegenden“ wie im „Einführenden Wiederaufgreifen“ verbalisiert wird, ist partikulares Erlebniswissen. Als solches ist es geeignet, das VEE-Wissen, das auf einer höheren Abstraktionsstufe arbeitet, an konkreten Erlebnissen zu veranschaulichen. Indem ihm gezeigt wird, auf welches Wissen das VEE-Wissen zurückgeht, wird dem Hörer der Nachvollzug der interpretierenden Handlungen des ›VEE‹ erleichtert. Im Gegensatz zum „Begründen“ wird dabei kein „D-Element“ (Ehlich & Rehbein 1986: 121) realisiert, das per se ein „Nicht-Verstehen“ in ein „Verstehen“ umwandeln könnte. Diese Aufgabe bleibt dem Hörer des ›VEE‹ selbst überlassen: anhand des illustrierenden Wissens kann er den Erkenntnisweg des Therapeuten nachvollziehen. Dem Patienten werden also beide Wissenselemente – das ursprüngliche, alte, sowie das darauf basierende, interpretierende, neue – zugänglich gemacht. Die Verbindung zwischen beiden, den Nachvollzug, wie aus dem einen Element das andere entsteht, stellt der Patient dann selbst her und sorgt so selbst für ein Verstehen der „Interpretation“ im Kern der ›VEE‹. So ist der Patient gefordert, sich aktiv am Prozess der Wissensumstrukturierung zu beteiligen.

7.2.4 Zusammenfassung: „Benennen“, „Interpretieren“ und „Wiederaufgreifen“ im ›VEE‹ Die Handlungsstruktur der VEE in B2 ist von einer funktionalen Integration von „Wiederaufgreifen“ und „Interpretieren“ gekennzeichnet. Mit dem „Wiederaufgreifen“ wird sicheres Wissen diskursiv reaktualisiert. Dieses sichere Wissen wird zum Ansatzpunkt interpretativer Prozesse, die aus dem vorhandenen Wissen neue Wissenselemente von höherer Relevanz ableiten. Dabei kann die Reihenfolge der Verbalisierung von neuem und altem Wissen variieren. Wird zuerst das neue Wissen verbalisiert, bekommt das später angeführte, wiederaufgegriffene, sichere Wissen eine belegende Funktion. Im anderen Fall, in dem Wissen zuerst wiederaufgegriffen und dann interpretiert wird, wird es dem Hörer ermöglicht, die mentalen Prozesse, die zur „Interpretation“ geführt haben, quasi in actu nachzuvollziehen. Das manifeste, gegebene Wissen, das die Ausgangs-

152 | Die Handlungsstruktur des ›VEE‹ (›Verbalisieren des emotionalen Erlebnisgehalts‹) basis von THs Überlegungen ist, wird dann als erstes versprachlicht. Die Interpretation, die das ›VEE‹ daran vollzieht, wird im nächsten Schritt versprachlicht. In beiden Fällen dient das „Wiederaufgreifen“ dem Nachvollzug der Interpretation, die den Kern des ›VEE‹ bildet. Diese Interpretation vollzieht sich wesentlich als „Benennen“: das Erleben des Patienten wird von dem Therapeuten sprachlich auf den Punkt gebracht, es wird aus gesellschaftlicher Perspektive rekonzeptualisiert. Die Erlebnisse, die in den initialen Erzählungen der Patienten als unverstandene singuläre Ereignisse erscheinen, werden in den Äußerungen der Therapeuten so benannt, dass sie kollektiven Kategorien des Erlebens zugeordnet werden. Das Erleben der Patienten verliert so seine erratische Einzigartigkeit, es wird vergleichbar mit den Erlebnissen anderer Personen, die der gleichen Kategorie zugeordnet werden können. Damit wird kollektives Wissen über das Entstehen, die Entwicklung und den angemessenen Umgang mit den benannten Erlebnissen anschlussfähig. Psychotherapie kann so nicht nur makroperspektivisch (o. Kap. 4), sondern auch mikroanalytisch als das Reintegrieren des Patienten in gesellschaftlich gewusste und akzeptierte Formen des Handelns gefasst werden (s. u. Kap. 9.1).

7.3 „In übertragenem Sinne könnte man doch sagen“ – „Vorschlagen“ im ›VEE‹ An Beispiel B3 aus einer anderen Therapie lässt sich die Handlungsstruktur des ›VEE‹ noch genauer entwickeln. Insbesondere wird eine Unterscheidung von Kernbestandteilen des ›VEE‹ und Elementen, die nur in bestimmten Konstellationen zum Tragen kommen, möglich. Dabei zeigt sich, dass das „Interpretieren“ teilweise auch als Vorschlag realisiert wird. Das Beispiel stammt aus der zweiten Sitzung einer Therapie mit einem alkoholkranken Patienten. Thematisiert wird v. a. das Selbstbild PAs, der Schwerpunkt der Analyse liegt auf der VEE ab s039.

B3 Zweite Stunde einer Kurzzeitgesprächspsychotherapie. Bereits vor diesem Ausschnitt geht es um die äußerst negative Selbsteinschätzung des Patienten. Nach dem Ausschnitt werden die Alkoholprobleme des Patienten thematisiert. TH: Gesprächspsychotherapeut PA: Patient; spricht leise und wenig, mit bairischem Akzent; Alkoholiker, Mitte 30, geschieden. Die Therapie findet als Nachsorge nach Suizidversuch statt.

„In übertragenem Sinne könnte man doch sagen“ – „Vorschlagen“ im ›VEE‹ | 153

/23/

TH [v]

/25/

Hm̀hḿ˙

/26/

Hm̀hḿ˙ ((7,3s)) Aber /24/

((1s)) Is ei nes, eines der Probleme, ja.

PA [v]

-

TH [v]

((räuspert sich)) • • sind Sie denn nun wirklich • • dieses • • • hilflose • •

TH [v]

Würm chen, als das Sie sich vorkommen, das eigentlich nix kann und • • • -

/27/

TH [v]

nix wert is und • • • hilflos da herumstrampelt in einem Sog? ((1,6s)) Sind

TH [v]

Sie só ((1,6s)) klein? /28/

/29/

/30/

((2,3s)) [Ja. ((11,3s)) Ja ich glaub schon]. ((26,1s)) Ja

PA [v]

[leise

PA [v]

drum is das só, ((1,5s)) wenn ich in der Arbeit was geleistet habe ((2s)) in /31/

Hm̄˙

TH [v] PA [v]

dem Moment ((5,9s)) is das • äh Selbstwertgefühl /32/

/33/

Hm̀hḿ˙ ((2,7s)) Hm̀hḿ˙

TH [v]

/34/

PA [v]

• nich mehr so

negativ.

/35/

((3s)) Da/ da steigt s dann. • • Da is dann/

154 | Die Handlungsstruktur des ›VEE‹ (›Verbalisieren des emotionalen Erlebnisgehalts‹)

/37/

/38/

• • Jaā˙ • • • In

TH [v] /36/

PA [v]

da is dann irgendwas da. ‿Dann hast was gemacht.

TH [v]

übertragenem Sinne könnte man doch sagen: ((1,9s)) Sie brauchen ((3s))

TH [v]

die Anderen dazu, um • • • sich • ei nigermaßen erträglich zu finden̄. -

/39/

/40/

/41/

TH [v]

• • • Und Sie… Jetzt noch e… Übertra/ mit dem übertragen mein ichs/ •

TH [v]

mein ich jetzt noch: ((1,6s)) Ähh ((1,4s)) Sie brauchen ((1,2s)) Nahrung • • /43/ /44/

TH [v]

von außen.

Ne? • Wenn Ihnen niemand • das gibt, diese /42/

PA [v]

((2,5s)) Ja˙

TH [v]

Nahrung für Ihr Selbstwertgefühl, wenn Ihnen das niemand gibt, ((1,1s))

TH [v]

wenn Ihnen im Gegenteil äh • • • vermittelt wird, ((1,7s)) [Enttäuschung, [langsam

TH [v]

Ablehnung, • • Verachtung, • • und so weiter] , • • • dann sind Sie wirk -

/45/

TH [v]

/46/

lich so klein mit Hut. ((1s)) Eigentlich nichts mehr, null, ne? ‿Sie sagen ja, -

„In übertragenem Sinne könnte man doch sagen“ – „Vorschlagen“ im ›VEE‹ | 155

Ihre eigentlich mensch liche Existenz is/ is/ is damit ja den Bach runter

TH [v]

-

/47/

PA [v]

Hm̌˙

TH [v]

• • und/ und Sie sind wirklich n Klumpen Fleisch. Und was is an nem

/48/

/49/

TH [v]

Klumpen Fleisch dran, ((1,2s)) das/ das s zu erhalten gälte? ‿Der geht /50/

/51/

TH [v]

selber • dahin. Da haben Sie völlig Recht. ((Einatmen, Räuspern)) Nur das

TH [v]

is offensichtlich • • • nicht immer so und is abhängig davon, ob Sie eben /53/

TH [v]

diese Zufuhr bekommen oder nicht.

/54/

Hm̀hḿ˙ ((2,3s)) /52/

((3,7s)) Ja sicher.

PA [v] /55/

TH [v]

Hm̀hḿ˙ ((5,2s)) Und wenn s nicht kommt, • • von den anderen, ((1,4s)) /56/

TH [v]

/58/

dann hilft der Alkohol aus. Der betäubt s.

/59/

((3,2s)) Hm̀hḿ˙ ((1,1s)) /57/

Genau.

PA [v]

TH [v]

Hm̄˙ /60/

PA [v]

((12,7s)) ((Einatmen)) Ich hab eine komische • • • Wandlung • • in mir

156 | Die Handlungsstruktur des ›VEE‹ (›Verbalisieren des emotionalen Erlebnisgehalts‹)

/61/

Hm̌˙

TH [v]

/62/

PA [v]

• • verspürt.

((3,3s)) Es is jetzt nich mehr so:́, ((4,6s)) dass ich von der /63/

Hm̀hḿ˙

TH [v] PA [v]

Arbeit nach Hause und dann gleich ins Wirtshaus renn̄.

Ablaufbeschreibung Der Ausschnitt beginnt in s026 mit zwei Fragen des Therapeuten, ob PAs zuvor gegebene Selbstbeschreibung tatsächlich stimmt. Er nimmt damit eine frühere VEE über PAs „ganz tiefe und ganz entsetzliche Selbstwertkrise“ (s001) auf, die in diesem Ausschnitt aus Platzgründen nicht wiedergegeben ist. PA bestätigt die formulierte Selbsteinschätzung zunächst und nimmt nach einer längeren Pause ausführlicher Stellung. Bei guter Leistung am Arbeitsplatz steige sein Selbstwertgefühl (s030-s037). TH begleitet das mit zustimmenden Höreräußerungen, übernimmt in s039 erneut die Sprecherrolle und formuliert eine VEE über PAs Selbstwertgefühl. Die VEE wird über mehrere Äußerungen (bis s052) ausgebaut, es geht darum, von welchen Faktoren PAs Selbstwertgefühl abhängig ist. PA stimmt zu („Ja sicher.“ (s053)), übernimmt aber nicht die Sprecherrolle. Daraufhin realisiert TH eine weitere VEE, in der es um die Rolle des Alkohols im Leben des Patienten geht (s056, s057). Erneut folgt eine kurze Zustimmung des Patienten („Genau.“ (s058)), dann werden zwei Höreräußerungen des Therapeuten und nach einer längeren Pause schließlich einige Ausführungen des Patienten realisiert. Er beschreibt ab s060 eine Veränderung seines Trinkverhaltens, die hier nicht weiter thematisiert wird.

Sektionierung Es lassen sich drei Einheiten zusammenhängenden Handelns unterscheiden. Die erste Sektion (s025-s037) wird durch THs Fragen und PAs Ausführungen über sein Selbstwertgefühl konstituiert. Darauf baut die VEE-Passage auf, die die zweite Sektion bildet (s038-s057) und sich in zwei Teile gliedert. In der längeren ersten VEE (s038-s053) geht es allgemein um PAs Selbstwertgefühl, in der kürzeren zweiten (s054-s057) um den Zusammenhang zwischen Selbstwertge-

„In übertragenem Sinne könnte man doch sagen“ – „Vorschlagen“ im ›VEE‹ | 157

fühl und Alkohol. PAs Reaktion darauf und seine Ausführungen über eine Veränderung im Trinkverhalten bilden die dritte Sektion (s058-s064).

7.3.1 Fragen Der Auszug beginnt mit „Aber“ (s026):„Aber ((räuspert sich)) • • sind Sie denn nun wirklich • • dieses • • • hilflose • • Würmchen, als das Sie sich vorkommen, das eigentlich nix kann und • • • nix wert is und • • • hilflos da herumstrampelt in einem Sog?“ (s026). Schlobinski (1992) schreibt „aber“ in der Gesprächstherapie die Funktion der „Themakontinuierung“ (291) zu. „Aber“ werde „nach längeren Pausen“ für „eine Zentrierung auf das Thema“ genutzt, „indem einzelne Aspekte hervorgehoben werden, nachgefragt wird etc.“ (ebd.). Oberflächenanalytisch entspricht dies exakt der hier zu beobachtenden Verwendung: Das Gesprächsthema wird mit „aber“ wieder auf das Selbstbild des Patienten gebracht. Die Funktion von „aber“ im sprachlichen Handeln zwischen Sprecher und Hörer besteht, jenseits einer Weiterprozessierung des behandelten Themas, allerdings grundsätzlich in der Umlenkung der Hörererwartungen (Redder 1990: 109; vgl. o. S. 138). Im Vorfeld einer Äußerung mit Verbspitzenstellung und steigender Intonation – also einer Frage – lenkt der Sprecher mittels „aber“ die Erwartungen des Hörers darauf hin um, dass der anschließend prozessierte propositionale Gehalt die Hörererwartungen, wie sie vom Sprecher aufgrund des vorangegangenen diskursiven Geschehens antizipiert werden, in Frage stellen wird. Die Bearbeitung der Hörererwartung wird in s026 dann so umgesetzt, dass Wissenselemente, mit denen der Patient sich selbst beschreibt, mit anderen Worten (so hatte der Patient sich z. B. nicht als „hilfloses Würmchen“ (s026) bezeichnet) noch einmal formuliert, also wiederaufgegriffen, und in Frage gestellt werden. „denn“ in Mittelfeldposition weist außerdem auf ein Verstehensdefizit des Therapeuten hin und fordert eine Bearbeitung dieses Verstehensdefizits (Redder 1990: 60f.). Nach Redder rückt „denn“ „anadeiktisch den voranstehenden propositionalen Teilgehalt, das bestimmte Nicht-Gewußte, als defizitäres ПH-Element neu in den Aufmerksamkeitsbereich des Sprechers18“ (a. a. O.: 60) und fordert eine Bearbeitung dieses

18 Redders Analyse von „denn“ erfolgt vor dem Hintergrund des Handlungsmusters „Begründen“ (Ehlich & Rehbein 1986). In diesem Handlungsmuster kommt demjenigen, der die zu begründende Handlung tätigt, systematisch die Rolle des Sprechers zu, demjenigen, der diese Handlung in Frage stellt, die Rolle des Hörers. Wenn Redder also von „ПH“ (Redder 1990: 60) bzw. Hörerwissen spricht, geht es um das Wissen desjenigen, der die Frage stellt und so eine Begründung anfordert. Der „Sprecher“ ist dementsprechend der Adressat der Frage.

158 | Die Handlungsstruktur des ›VEE‹ (›Verbalisieren des emotionalen Erlebnisgehalts‹) defizitären П-Elementes an. Der „denn“ voranstehende propositionale Gehalt besteht in s026 lediglich aus „sind Sie“. Laut Redder (1992) sind „sein“Prädikationen19 dieser Form geeignet, „die Prädikate mit Blick auf Begriffe, Dinge oder Qualitäten als solche zu typisieren“ (a. a. O.: 147). In Frage gestellt wird in s026 also die im nachfolgenden propositionalen Gehalt versprachlichte Typisierung PAs als „hilflose[s] • • Würmchen“. Nach der anschließend prozessierten „Planungsdeixis ‚nun‘“ (Ehlich 1987), mit der die Aufmerksamkeit des Hörers auf den abzuarbeitenden Handlungsplan gerichtet wird, realisiert TH den Symbolfeldausdruck „wirklich“ (s026). Mit der fragenden Verwendung von „wirklich“ wird die Zuschreibung des formulierten p, auf dem „wirklich“ operiert, zu P in Frage gestellt. Mit den Prozeduren „aber“, „denn“ und „wirklich“ versucht TH an dieser Stelle also, PAs Einschätzung von sich selbst zu bearbeiten. Er stellt PAs Selbstbild, das er in s026 mit drastischen Worten, die zu Widerspruch einladen („hilflose • • Würmchen […] das eigentlich nix kann und • • • nix wert is und • • • hilflos da herumstrampelt in einem Sog“ (s026)), formuliert, in Frage und fordert auch mit der nächsten Äußerung („((1,6s)) Sind Sie só ((1,6s)) klein?“ (s027)) eine Korrektur an. Dies gelingt zunächst nicht, PA bestätigt die bestehende Selbsteinschätzung zweimal („Ja. ((11,3s)) Ja ich glaub schon.“ (s028, s029)). Erst nach einer Pause von gut 26 Sekunden kommt es zu der von TH angezielten Relativierung. PA spricht von einer Steigerung des „Selbstwertgefühls“ (s030), wenn er „in der Arbeit was geleistet“ (s030) hat. In drei weiteren Äußerungen wird die Relativierung der Selbsteinschätzung ausgebaut, allerdings ohne dass nennenswertes neues Wissen über den ablaufenden mentalen Prozess verbalisiert würde („Da/ da steigt s dann. • • Da is dann/ da is dann irgendwas da. ‿Dann hast was gemacht“ (s035-s037)). TH begleitet diese Relativierung unterstützend mit konvergenten Höreräußerungen und verarbeitet sie ab s038 in einer VEE. Die VEE ab s038 setzt also nicht auf Wissen auf, das vom Therapeuten aufgegriffen und noch einmal formuliert wird, sondern schließt direkt an Äußerungen PAs über sein inneres Erleben an. Vorbereitet wird die VEE lediglich in dem Sinne, dass PAs Selbstbild in Frage gestellt wird und damit Ausführungen zu PAs innerem Erleben elizitiert werden. Mit den Fragen wird in PAs Handlungsprozess eingegriffen, seine Aufmerksamkeit wird auf seine mentalen Prozesse ausgerichtet. Diese Ausrichtung wird in der anschließenden VEE aufge-

19 Redder zählt „sein“-Prädikate und Prädikate mit „werden“, „haben“ und „bleiben“ zu den „ontologischen Basisprädikaten“ (1992: 139). Thielmann spricht von einem „wissensmäßigen Zusammenhang“ (2003: 197), der durch die Kopula realisiert werde.

„In übertragenem Sinne könnte man doch sagen“ – „Vorschlagen“ im ›VEE‹ | 159

griffen und verstärkt. Der Versuch, die Aufmerksamkeit des Patienten auf sein inneres Erleben zu lenken, ist indes nicht VEE-spezifisch, sondern zeichnet die Gesprächstherapie an sich aus (Eckert 2000, 2006; Tausch & Tausch 1979). Sämtliche Äußerungen des Therapeuten sollen der Gesprächstherapietheorie zufolge die ›Selbstexploration‹ des Patienten fördern, ihn also dazu bringen, sich vermehrt mit den eigenen mentalen Prozessen zu befassen (Tausch & Tausch 1979: 32ff). Eben dies leisten die beiden Fragen THs zu Beginn dieses Ausschnitts. Sie sind damit nicht als spezifische Vorbereitung der VEE anzusehen, es gibt keine Anzeichen dafür, dass der Diskurs vom Therapeuten so weit vorgeplant wird. Es zeigt sich, dass eine ›VEE‹ nicht notwendig bereits vorhandenes Wissen explizit aufgreifen muss, dass sie vielmehr auch direkt auf dem Wissen, das der Patient gerade eingebracht hatte, aufsetzen kann. Eine spezifische Position der „Vorbereitung“ der ›VEE‹ ist deshalb – im Gegensatz zum ›Deuten‹ (Kap. 8) – nicht anzusetzen.

7.3.2 „Vorschlagen“ und „Interpretieren“ In dieser VEE kommt etwas zum Tragen, das für das ›VEE‹ an sich kennzeichnend ist, an den bisherigen Beispielen aber kaum beobachtet werden konnte: eine Einschränkung des ‚Geltungsanspruchs‘ der Äußerung. Dieses Phänomen wird von vielen Autoren als Charakteristikum therapeutischer Interventionen im Allgemeinen wie auch von ›VEE‹ im Besonderen (Meyer-Hermann & Weingarten 1982, Kindt 1984, Baus & Sandig 1985, Schlobinski 1988, Weingarten 1990) beschrieben, allerdings ohne dass die Bedeutung für das interaktive Geschehen präzise erfasst würde (s. o. Kap. 2.3.5). In s038 („In übertragenem Sinne könnte man doch sagen: ((1,9s)) Sie brauchen ((3s)) die Anderen dazu, um • • • sich • einigermaßen erträglich zu finden“) realisiert sich dieses Phänomen, durch das die „assertive illokutive Kraft“ (Ehlich 1990: 219) der Intervention „abgeschwächt“ (ebd.) wird, auf zweierlei Weise. Zum einen wird der propositionale Gehalt durch das Modalverb „können“ als möglicherweise zutreffend gekennzeichnet. Redder zufolge depotenziert „können“ im Indikativ „den propositionalen Gehalt von einer Assertion zu einer mehr oder minder vorsichtigen Einschätzung, deren unmodalisierte Übernahme dem Hörer anheimgestellt bleibt“ (2000: 88). Da „können“ hier im Konjunktiv II realisiert und die Äußerung damit im Wissensraum verankert wird (Redder 1992), wird die erste Äußerung der VEE als eine vorsichtige Einschätzung, die auf THs Wissen basiert, realisiert. Hinsichtlich der Wirkung der Äußerung auf den Hörer ist Redders Hinweis entscheidend, dass das Wissen eben

160 | Die Handlungsstruktur des ›VEE‹ (›Verbalisieren des emotionalen Erlebnisgehalts‹) nicht unmodalisiert vom Sprecher auf den Hörer übertragen wird, sondern die Aneignung und Umsetzung des formulierten Wissens dem Hörer überlassen bleibt. Daneben wird in der „Matrixkonstruktion“ (Rehbein 2003) („In übertragenem Sinne könnte man doch sagen:“) auch angezeigt, dass der nachfolgende abhängig prozessierte propositionale Gehalt „in übertragenem Sinne“ (s038) gesagt wird. Der Hörer wird damit auf Interpretationsspielraum bei der Verarbeitung der Äußerung hingewiesen, der propositionale Gehalt der untergeordneten „p-Konstruktion“ („Sie brauchen ((3s)) die Anderen dazu, um • • • sich • einigermaßen erträglich zu finden“ (s038)) ist nicht wörtlich ins Hörerwissen zu integrieren, sondern bedarf einer eigenen, zusätzlichen Bearbeitung durch den Hörer. Das formulierte Wissen muss durch mentale Prozesse des Hörers modifiziert werden, das eigentlich zu integrierende Wissen ist durch den Hörer zu identifizieren. Es handelt sich um sprachliche Mittel, die, im Vergleich zu einer „Assertion“, dem Hörer größere Verantwortung bei der Verarbeitung des verbalisierten Wissens zuschreiben (vgl. das stärker sprecherorientierte Konzept der „trymarkers“ nach Sacks & Schegloff 1979). Das in der VEE durch Auslegung von PAs Handeln gewonnene neue Wissen wird als mögliches Wissen formuliert, so dass deutlich wird, dass H darüber entscheiden muss, ob dieses Wissen tatsächlich der Realität zukommt. Die angestellte „Interpretation“ bekommt damit vorschlagenden Charakter, s038 kann als „vorschlagendes Interpretieren“ bezeichnet werden. Rehbein (1977: 315ff) zufolge hat das „Vorschlagen“ seinen Ursprung in einem Handlungsdilemma eines Aktanten (H). In der gegebenen Situation sind für H keine angemessenen Handlungswege erkennbar. Er expliziert dieses Dilemma und fordert Hilfe von einem anderen Aktanten (S) an. S hat aufgrund seines unterschiedlichen gesellschaftlichen Standpunkts eine andere Perspektive auf Hs Handlungsfeld, für ihn sind bestimmte Handlungswege erkennbar, die H selbst nicht erkennen kann. Die Verbalisierung dieser alternativen Handlungspläne durch S bezeichnet Rehbein als „Vorschlagen“. Rehbein zufolge ist „die illokutive Funktion des Vorschlagens [ist] eine faktische Erweiterung des Handlungsfelds durch das sprachliche Handeln“ (a. a. O.: 321). Diese Erweiterung kann aus einem Verweis „auf einen von der Kollektivität für solche Fälle ausgearbeiteten Handlungsplan“ (ebd.), quasi einer ‚Vergesellschaftung‘ von Hs Handlungsmöglichkeiten, bestehen. Die Nachgeschichte des „Vorschlagens“ besteht dann in einer Bewertung der vorgeschlagenen Handlungspläne durch den Hörer. Während Rehbein sich bei seinen Ausführungen auf das interaktionale Handeln konzentriert, beobachtet Bührig (2003) anhand universitärer Seminardiskurse auch eine kognitiv ausgerichtete Variante des „Vorschlagens“. Bei

„In übertragenem Sinne könnte man doch sagen“ – „Vorschlagen“ im ›VEE‹ | 161

dieser werden nicht mögliche Eingriffe in die außersprachliche Wirklichkeit, sondern alternative Wissenselemente vorgeschlagen (a. a. O.: 258). Wie bei den Daten aus der Gesprächstherapie geht es auch in Bührigs Material um das „Vorschlagen“ einer „Interpretation“ (ebd.), das sich, ebenfalls in einer Parallele zur der hier vorgelegten Analyse, an dem Ausdruck „möglicherweise“ (a. a. O.: 257) festmachen lässt (s. auch die Analyse eines „Vorschlags“ bei Brünner & Gülich 2002: 69). Bührig spricht an der Stelle von „Interpretieren“, an der die Referentin in einem linguistischen Seminardiskurs von der nachvollziehenden Beschreibung des Handelns von Versuchspersonen zu einer Aussage über die mentalen Prozesse, die dem gerade beschriebenen Handeln zugrunde liegen, übergeht (Bührig 2003: 257f.). Auch hier wird der Begriff der „Interpretation“ also verwendet, um sprachliche Handlungen zu erfassen, die grundlegendes Wissen verbalisieren, das hinter der Oberfläche des Handelns liegt und in einem mentalen Prozess erschlossen wird (vgl. o. S. 133f., 144). Die Interpretation wird den Hörern vorgeschlagen und anschließend von ihnen auf der Basis einer „eigenständige[n] Wissensabfrage“ (ebd.) auf ihre Richtigkeit hin bewertet. Da Therapeuten keine konkreten Handlungen empfehlen, sondern sich wie beschrieben über mentale Prozesse des Patienten äußern, wäre im Rahmen der ›VEE‹ von einem kognitiv bzw. mental ausgerichteten „Vorschlagen“, wie es von Bührig bestimmt wird, zu sprechen. Indem es dem Patienten interpretativ gewonnene Alternativen, die eigene Situation zu sehen, zugänglich macht, erweitert das mental ausgerichtete „Vorschlagen“ das Wissen des Patienten über sich selbst, verändert seine Perspektive auf sein Erleben und hilft ihm damit letztendlich, neue Handlungswege zu identifizieren. Grundlage sind interpretative Handlungen des Therapeuten, die aus dem vom Patienten eingebrachten Wissen neue Wissenselemente von größerer Relevanz generieren. Dieses Wissen wird, je nach Konstellation (s. u. S. 170, 179ff), assertiv oder vorschlagend prozessiert. Im Unterschied zum „Vorschlagen“ nach Rehbein (1977) besteht der Punkt des „Vorschlagenden Interpretierens“ in der ›VEE‹ nicht in einer unmittelbaren Erweiterung des Handlungsfelds des Patienten, sondern in einer spezifischen patientenseitigen Verarbeitung des in der ›VEE‹ generierten, neuen, interpretativen Wissens. Im Vergleich zu einer rein assertiven Realisierung der „Interpretation“ stellt das „vorschlagende Interpretieren“ das neue Wissen der Bewertung des Patienten anheim und sorgt für eine aktive Auseinandersetzung mit dem VEEWissen. Dass es bei der ›VEE‹ auf Seiten des Patienten zu einer Wissensumstrukturierung, damit zu einer veränderten Perspektive und schließlich auch zu einem erweiterten Handlungsfeld (s. u. Kap. 9.1) kommt, ist nach der vorgelegten Analyse also nicht ursächlich auf die vorschlagende Realisierung von Wissen zu-

162 | Die Handlungsstruktur des ›VEE‹ (›Verbalisieren des emotionalen Erlebnisgehalts‹) rückzuführen, sondern kommt durch das wissensgenerierende „Interpretieren“ zustande. Die Illokution der entscheidenden therapeutenseitigen Handlung, die das VEE-Wissen sprachlich realisiert, ist als „Interpretieren“ zu erfassen. Sie kann assertiv („assertives Interpretieren“) oder vorschlagend („vorschlagendes Interpretieren“) realisiert werden.

7.3.3 „Benennen“ und „Interpretieren“ In s041 deutet TH ein Ausbuchstabieren dessen an, was in s038 mit „im übertragenen Sinne“ gemeint war, bleibt dann aber im Bereich bildlicher Bedeutung: „Sie brauchen ((1,2s)) Nahrung • • von außen“ (s041). Mit dieser Metapher wird das fragliche Wissen nicht exakt versprachlicht, PA bleibt Interpretationsspielraum bei der Verarbeitung der Äußerung. Indem die Entscheidung darüber, welches Wissen der Patient auf sich selbst appliziert, bei einer Metapher also teilweise dem Patienten überlassen bleibt, ihm so eine Auswahl aus möglichen Wissenselementen bleibt, können Metaphern zu einem besseren Verständnis zwischen Therapeut und Patient und zu einer leichteren Bearbeitung des Wissens durch Patienten beitragen. Metaphern wird in einem Teil der Therapieforschung ein großer Anteil am Gelingen von Therapie überhaupt zugeschrieben (Buchholz & Kleist 1995, 1997; Buchholz 1996, 1998, 2002, Schmitt 2000, 2003), in meinem Material zeigen sich ‚echte‘ Metaphern, die von den beteiligten Aktanten als solche erkannt und behandelt werden (für einen handlungstheoretische Diskussion des Metaphernbegriffs s. Eggs (2006: 42ff)), allerdings eher selten.20 Metaphern werden daher hier nicht isoliert, sondern als Teil des sprachlichen Handelns von Therapeut und Patient untersucht (s. aber Scavaglieri 2013, wo die Bedeutung von Metaphern und anderen Verfahren des sprachlichen ‚Veranschaulichens‘ exemplarisch beschrieben wird). Der Interpretation, dass er „Nahrung • • von außen“ braucht, stimmt PA kurz zu („Ja˙“ (s042)). TH setzt die VEE daraufhin mit einer „wenn-dann“Aussage (s044) fort. Das dreimal genutzte „wenn“ verankert dabei den ange-

20 Demgegenüber werden in der kognitiven Metapherntheorie (Lakoff & Johnson 1980, Lakoff 1987 etc.) auch Ausdrücke wie „Fuß des Berges“ oder „in Rage sein“ als (sog. „tote“) Metaphern bezeichnet. Meines Erachtens zeugt dies von einem statischen Sprachverständnis, das die ‚eigentliche Bedeutung‘ eines Ausdrucks auf seine Verwendung in einem, dem einzig ‚wörtlichen‘, Zusammenhang reduziert und jede andere Verwendung als metaphorische fasst. Damit wird das Konzept der Metapher sehr stark ausgedehnt, was Konsequenzen für seine analytische Trennschärfe hat (s. die Kritik bei Eggs (2006: 64)).

„In übertragenem Sinne könnte man doch sagen“ – „Vorschlagen“ im ›VEE‹ | 163

führten propositionalen Gehalt im Wissensraum, mit „dann“ wird „auf eine zeitliche Folge verwiesen“ (Redder 1987: 321), die als „lineares Nacheinander“ (ebd.) in dem Fall auftritt, in dem das nach „wenn“ formulierte Wissen Realität wird. Das verbalisierte Folgeverhältnis gibt an, unter welchen Umständen PA „so klein mit Hut“ (s044) ist. Dabei fällt, wie bei den zuvor untersuchten VEE, auf, dass TH das Erleben PAs auf einen bzw. mehrere Begriffe („Enttäuschung, Ablehnung, • • Verachtung“) bringt, das partikulare Erlebniswissen PAs also benennt, dabei sozialen Kategorien zuordnet und damit kollektiv anschlussfähig macht. Auch der Phraseologismus „so klein mit Hut“ ruft kollektives Wissen über mentale Zustände auf (vgl. o. S. 139ff). Dieser mentale Zustand PAs wird in der VEE auf wiederkehrende Ereignisse, konkret auf das Verhalten Anderer PA gegenüber, zurückgeführt. PA wird damit auf eine strukturelle UrsacheWirkungs-Beziehung, die seinen mentalen Bereich dauerhaft prägt, hingewiesen. Dabei kommt es, wie bei den anderen VEE, zu einer Erhöhung der Abstraktionsstufe. Während PA von Leistungen bei der Arbeit gesprochen hatte, die sein Selbstwertgefühl verändern, geht es TH allgemein um das Verhältnis von „außen“ (s041) und innen, also um den Zusammenhang zwischen interaktionalen und mentalen Prozessen. PAs Erleben wird durch das „Benennen“ auf eine abstraktere Stufe gehoben, damit aus einer allgemeingültigen, gesellschaftlich anschlussfähigen Perspektive rekonzeptualisiert. Dabei verändert sich nicht nur die Perspektive auf das eigene Erleben und das anschlussfähige Wissen, sondern es werden auch kausale21 Zusammenhänge des Erlebens greifbar. Indem das Erleben neu ausgedeutet und durch neues Wissen zusätzlich beleuchtet wird, wird für PA verstehbar, warum er in bestimmten Situationen auf eine bestimmte Art handelt und empfindet. PAs Gefühle werden damit von etwas Unverstehbarem, Regellosem, das ihm zustößt, dem er ausgeliefert ist, zu etwas Durchschaubarem, das im Handeln ensteht, somit bestimmten Regeln und Regelmäßigkeiten unterworfen ist und das dementsprechend, nachdem es in seinem Wirkungszusammenhang, seiner inneren Systematik verstanden ist, auch verändert und gestaltet werden kann. Mit der ›VEE‹ wird damit ein Schritt vom Nicht-Verstehen zum Verstehen des eigenen Erlebens getan. Wie dies genau geschieht, ist an den folgenden Passagen noch näher zu beobachten.

21 Thielmann (2009) rekonstruiert die Kategorie der „Kausalität“ als „Handlungskausalität“: Kausalität ist demnach eine gesellschaftlich entwickelte, „epistemische Kategorie, in der das – für Gesellschaftlichkeit überhaupt konstitutive – Wissen um das Handeln-Können aufgehoben ist“ (a. a. O.: 209f.) und die Vorgeschichte, Geschichte und Nachgeschichte von Handlungen erfasst.

164 | Die Handlungsstruktur des ›VEE‹ (›Verbalisieren des emotionalen Erlebnisgehalts‹) TH spitzt in den nächsten Äußerungen die Konsequenzen, die das Verhalten Anderer für PA haben kann, noch zu: PA sei, ohne die Anerkennung Anderer „Eigentlich nichts mehr, null, ne?“ (s045). Dabei fordert er mit dem Sprechhandlungsaugment „ne?“ eine Rückmeldung PAs an (vgl. o. S. 142). „ne?“ stellt die Übereinstimmung von p und P in Frage bzw. macht sie von einer Bewertung des Hörers abhängig – dabei ist klar, dass der Sprecher, also TH, eine positive Bewertung erwartet, schließlich hat er den fraglichen propositionalen Gehalt gerade formuliert. PA soll den formulierten propositionalen Gehalt bewerten und sich zu ihm verhalten, er soll die Korrektheit von p mental überprüfen und interaktional bestätigen. Auch hier zeigen sich die Sprechhandlungsaugmente (bzw. „question tags“) als eine charakteristische Form sprachlichen Handelns in der Psychotherapie, die, ähnlich wie z. B. die vorschlagende Realisierung von ›VEE‹, den Patienten spezifisch aktiviert und in die Bearbeitung des sprachlichen Geschehens involviert. Die Umstrukturierung des mentalen Bereichs des Patienten wird nicht vom Therapeuten allein bewerkstelligt, sondern er versucht, den Patienten zu einer Auseinandersetzung mit den interpretativen neuen Wissenselementen zu bringen. Dieses interpretativ gewonnene Wissen benennt, wie gesagt, PAs Erleben aus einer gesellschaftlichen Perspektive. Dabei wird von konkreten Erlebnissen abstrahiert, PAs Erleben wird so benannt, dass kausale Zusammenhänge erkennbar werden. Das VEE-Wissen hat so die Kraft, eine Anzahl von hypothetisch erlebbaren und tatsächlich erlebten Situationen verstehbar zu machen, es erstreckt sich nicht nur auf das partikulare Erleben einer konkreten Situation. Durch die benennende Einordnung in gesellschaftliche Kategorien des Erlebens wird außerdem kollektives Handlungswissen zur Bearbeitung der erlebten, aus gesellschaftlicher Perspektive rekonzeptualisierten Situation, verfügbar. Dabei greift das „Interpretieren“ auch in diesem Beispiel auf das „Wiederaufgreifen“ zurück. An dem Ausbau der ersten „Interpretation“ ab s046 lassen sich die an B2 gemachten Beobachtungen über das Zusammenspiel von „Wiederaufgreifen“ und „Interpretieren“ in der ›VEE‹ bestätigen.

7.3.4 „Wiederaufgreifen“ und „Interpretieren“ In s046 greift TH Wissenselemente auf, mit denen PA sich selbst beschrieben hatte („‿Sie sagen ja, Ihre eigentlich menschliche Existenz is/ is/ is damit ja den Bach runter • • und/ und Sie sind wirklich n Klumpen Fleisch.“). Er macht mit „Sie sagen ja“ deutlich, dass es sich um gemeinsam gewusstes, von PA zuvor formuliertes Wissen handelt. Das vom Patienten zuvor formulierte Wissen wird in einem veränderten diskursiven Zusammenhang erneut formuliert, mit

„In übertragenem Sinne könnte man doch sagen“ – „Vorschlagen“ im ›VEE‹ | 165

dem Ziel, PA den Nachvollzug der VEE zu ermöglichen. Dabei wird der kausale Zusammenhang zwischen VEE-Wissen und aufgegriffenem Wissen nicht expliziert, sondern muss vom Patienten selbst hergestellt werden. In s046 wird PA der drastische Wertverlust, den er sich selbst gegenüber vornimmt, vor Augen geführt („Sie sagen ja“…). Die formulierten Folgen des Verhaltens Anderer auf PAs inneres Erleben („so klein mit Hut“ (s044) „nichts mehr, null“ (s045)) werden belegt und für PA nachvollziehbar gemacht. Anschließend versprachlicht TH das postulierte Abhängigkeitsverhältnis ein weiteres Mal und leitet die Äußerung mit dem Konjunktor „nur“ ein: „Nur das is offensichtlich • • • nicht immer so und is abhängig davon, ob Sie eben diese Zufuhr bekommen oder nicht“ (s051). Exkurs zu „nur“ Redder (2007a: 506) zählt „nur“ zu den erwartungsbearbeitenden Ausdrücken. „Nur“ geht etymologisch auf ahd. „ni wāri“, „wäre es nicht“, zurück (Kluge 2002: s.v.). Spätmhd. wurde der Ausdruck noch gemeinsam mit dem zu negierenden Element genutzt, z. B. in „wan ich und mein muniche niht anders nur kaltes Wasser getrunken haben“ (Paul u. a. 2002: s.v.). Es wurde also nicht nur gesagt, dass „nur kaltes Wasser getrunken“ wurde, sondern mittels „nicht anders“ auch das versprachlicht, was nicht getan wurde. Diese Negation wird heute nicht mehr expliziert, dennoch macht „nur“ immer noch deutlich, dass ein an sich zu erwartendes Wissen nicht verbalisiert wird (als Paraphrasen werden z. B. „nichts weiter, niemand weiter als, nichts mehr als“ (Pfeifer 2005: s.v.) angegeben). Der paraoperative Ausdruck „nur“ arbeitet also auf den Erwartungen, die durch die ihm vorangehenden sprachlichen Elemente aufgebaut werden. Diese Erwartungen werden so bearbeitet, dass der nach „nur“ verbalisierte propositionale Gehalt von H als einschränkend verarbeitet wird. Der kommunikative Punkt von „nur“ ist demnach, dass etwas zu Erwartendes nicht realisiert wird, das, was dann tatsächlich realisiert wird, wird im Vergleich zur Erwartung als Einschränkung verarbeitet. „Nur“ eignet sich somit auch zur thematischen Engführung von Gesprächen.

Mit „Nur“ im Vorfeld von s051 wird die Hörererwartung dahingehend bearbeitet, dass im Folgenden eine Einschränkung des gerade verbalisierten propositionalen Gehaltes (anadeiktisch refokussiert mit „das“) vorgenommen wird. Diese Einschränkung wird mit „nicht immer so“ temporal gewendet und nach „ob“ wird angegeben, unter welchen Bedingungen das wiederaufgegriffene, eingeschränkte Wissen doch Gültigkeit hat („ob Sie eben diese Zufuhr bekommen oder nicht“). Demnach hat TH also nicht immer, sondern genau dann ein negatives Selbstbild, wenn er keine Anerkennung von Anderen („diese Zufuhr“ (s051)) erfährt. Nach diesem Resümee der VEE folgt eine Pause von 3,7 Sekunden, daraufhin eine Bestätigung durch den Patienten („Ja sicher“ (s052)). Mehr sagt der Patient an dieser Stelle nicht, auch nach Pausen von 2,3 und 5,2 Sekun-

166 | Die Handlungsstruktur des ›VEE‹ (›Verbalisieren des emotionalen Erlebnisgehalts‹) den erfolgt keine Elaborierung der VEE. Für den Therapeuten wird so nicht erkennbar, wie PA das formulierte Wissen verarbeitet. Obwohl es sich bei der Zustimmung zu einer Aussage grundsätzlich um die präferierte Reaktion handelt (vgl. Auer & Uhmann 1982: 5, Pomerantz 1984), wird diese hier erst sehr spät realisiert. Wie Sabine Streeck (1989: 181ff) gezeigt hat, kann eine Zustimmung zu einer therapeutischen Intervention auf diese Weise den Charakter einer Ablehnung erhalten (vgl. U. Streeck 2004: 245ff). Auch die sprachliche Form („Ja sicher“) weist darauf hin, dass es sich um eine eher uneindeutige Reaktion handelt. Mit „Ja sicher“ wird das vorgängig formulierte Wissen als korrektes, ohne Zweifel zutreffendes Wissen gekennzeichnet. Es bekommt so den Charakter des Selbstverständlichen, das ohnehin bekannt ist und also keiner weiteren mentalen und interaktionalen Auseinandersetzung bedarf. „Ja sicher“ kann daher zur Dethematisierung des zuvor formulierten Wissens verwendet werden. Gemeinsam mit der langen Pause davor und der fehlenden Elaborierung der VEE danach vermittelt PAs „Ja sicher“ in s052 den Eindruck einer unentschiedenen, gleichgültigen Reaktion, der keine eingehende Auseinandersetzung mit dem zuvor formulierten Wissen zugrunde liegt. Ab s055 wird mithilfe von „Und“ eine zweite VEE, die auf der ersten VEE aufbaut, angeschlossen. Rehbein (1989) zufolge „stellt ‚und‘ den Zusammenhang zu einer diskontinuierlich vorgetragenen propositionalen Struktur her, die dadurch in den Vordergrund gehoben wird, daß sie sich durch Vermittlung des ‚und‘ kategorial auf Vorhergehendes, das innerhalb derselben DiskursKategorie verbleibt, bezieht“ (193). Redder (2007a) bestimmt „und“ als „operative Prozedur des Ausbaus von Wissen unter einer gemeinsamen Kategorie“ (500), das auf Seiten des Hörers Strukturerwartungen aufruft, „in die vollständig oder partiell die propositionalen Elemente gefüllt werden“ (ebd.). In Vorfeldposition hat „und“ Redder (1989: 400) zufolge rekursive Qualität und kann, wie in s055, einen neuen Musterdurchlauf in Gang setzen (s. zu „und“ auch Rehbein 2012). In s055 wird mit „Und“ also auf gleicher kategorialer Stufe an das zuvor formulierte Wissen angeschlossen und ein erneuter Musterdurchlauf initiiert. In diesem wird mittels „wenn…dann“ eine weitere Folgebeziehung entworfen: Die Folge der mangelnden Zuwendung Anderer („Und wenn s nicht kommt, • • von den Anderen“) ist der Alkoholmissbrauch („dann hilft der Alkohol aus“). Anschließend wird die psychische Wirkung des Alkohols („Der betäubt s“ (s056)) formuliert, so dass die Ausrichtung der VEE auf die mentalen Prozesse des Patienten sichergestellt ist. Das zusätzliche Wissen, das in dieser zweiten VEE gewonnen wird, gibt also die Ursache des Alkoholmissbrauchs an: Das übermäßige Trinken ist eine Reaktion auf das übermäßig negative Selbstbild PAs und dient dazu, dieses Selbstbild kurzfristig vergessen zu machen. Indem die Selbsteinschätzung auch in

„In übertragenem Sinne könnte man doch sagen“ – „Vorschlagen“ im ›VEE‹ | 167

dieser zweiten VEE auf das Verhalten anderer zurückgeführt wird, wird eine dreistellige Folgerelation erkennbar: Nichtbeachtung durch Andere → schlechtes Selbstwertgefühl PAs → Trinken. Geklärt wird also nicht nur die Ursache für PAs Empfindungen, sondern auch die daraus entstehenden Handlungen. PA wird es damit ermöglicht, das eigene Empfinden und Tun im Zusammenhang zu sehen, Gründe und auslösende Momente seines Handelns zu erkennen. Auch die VEE in diesem Beispiel operieren also interpretativ: Aus dem vom Patienten eingebrachten Wissen wird neues Wissen generiert. Um die „Interpretationen“ zu belegen, werden einige Aussagen PAs über sich selbst aufgegriffen und reformuliert, so dass die Absolutheit von PAs Selbstentwertung nachvollziehbar wird. Die zweite VEE entwickelt das in der ersten gewonnene Wissen weiter und zeigt Verbindungen zu PAs Trinkverhalten auf. Sie operiert also zum einen auf Wissenselementen, die in der vorangegangenen VEE gerade erst entwickelt worden waren, zum anderen, wie grundsätzlich alle therapeutischen Interventionen, auf dem professionellen Wissen des Therapeuten über psychische Zustände und Prozesse. Diese abstrakten professionellen Wissenselemente werden mit dem Wissen THs über die konkreten Lebensumstände des Patienten in Beziehung gesetzt. Das konkrete Wissen über PAs Alkoholprobleme, das dabei aktiviert wird, wird hier nicht eigens formuliert, weil es sich um ein grundlegendes, in der Therapie quasi allgegenwärtiges Problem des Patienten handelt.22 TH generiert aus dem alten Wissen über PAs Alkoholprobleme, seinem abstrakten Therapeutenwissen und dem neuen VEE-Wissen über den Zusammenhang zwischen dem Verhalten Anderer und PAs Selbstwertgefühl eine weitere Wissenseinheit, die alle diese Elemente in die beschriebene kausale Folgebeziehung bringt (Nichtbeachtung → schlechtes Selbstwertgefühl → Trinken). PAs Handlungen und Empfindungen werden geordnet, der Prozess, in dem sich das eine aus dem anderen ergibt, wird nachvollziehbar. Mit Hilfe interpretativer Prozesse wird aus vereinzelten Erlebnissen des Patienten in den VEE eine regelmäßige, dauerhafte, kausal gegliederte Struktur des Erlebens herausgearbeitet. Damit lässt sich die Leistung des „Interpretierens“ im ›VEE‹ nun deutlicher fassen. Zum einen ordnet es das Erleben des Patienten, lässt also erkennbar werden, wie das Erleben des Patienten zustande kommt, welche mentalen und interaktionalen Handlungen des Patienten seinem Erleben zugrundeliegen.

22 So hatte der Patient auch schon vor dieser Stunde getrunken, die Alkoholprobleme sind quasi olfaktorisch aktualisiert. Dies wird im Anschluss an den ausgewählten Ausschnitt auch problematisiert.

168 | Die Handlungsstruktur des ›VEE‹ (›Verbalisieren des emotionalen Erlebnisgehalts‹) Zum anderen realisiert es Wissen auf einer höheren Abstraktionsstufe, das durch größere Konstanz und Erklärungskraft gekennzeichnet ist. Das Wissen lässt sich damit auf eine Reihe unterschiedlicher Situationen anwenden. Zum dritten benennt das „Interpretieren“ das Erleben des Patienten mit Begriffen, die Erleben aus einer kollektiven Perspektive erfassen. Das Erleben des Patienten wird vergleichbar und offen für gesellschaftlich gewusste Handlungswege. Diese drei Aspekte – kausale Ordnung, Abstrahierung, Benennung –, die die Leistung des „Interpretierens“ in der ›VEE‹ ausmachen, werden hier analytisch unterschieden, fallen in der sprachlichen Handlung „Interpretieren“ aber häufig in eins, werden z. B. mit einem Symbolfeldausdruck oder Phraseologismus realisiert.

7.3.5 „Reaktion“ Auch der zweiten VEE stimmt PA nur kurz zu („Genau.“ (s057)), führt sie aber nicht aus. TH reagiert nach einer Pause von 3,2 Sekunden mit zwei Höreräußerungen, danach kommt es zu einer weiteren Pause von 12,7 Sekunden. TH übernimmt an dieser Stelle nicht den Turn, baut die VEE nicht aus, sondern wartet, bis PA sich in s062 äußert. Peräkyläs Ausführungen, dass ›Deutungen‹ solange ausgebaut würden, bis eine ausführliche Elaborierung durch den Patienten erfolgt (2005: 168ff), sind für diese VEE also nicht zu bestätigen. Peräkylä sieht zwar auch andere Möglichkeiten, das ›Deuten‹ zu beenden (a. a. O.: 166), misst diesen für das „interpretative trajectory“ des ›Deutens‹ jedoch keinen Stellenwert bei, sondern beschränkt das Ende des ›Deutens‹ auf elaborierende Reaktionen. Indem er davon ausgehend schließlich davon spricht, dass Patienten, wenn sie eine Elaborierung der Deutung vermeiden, Einfluss auf Inhalt und Umfang der Deutung nehmen (a. a. O.: 168), postuliert er einen Automatismus des Deutungsausbaus, der theoretisch fragwürdig und empirisch, sowohl durch Peräkyläs eigene (s. z. B. a. a. O.: 166) als auch die hier vorliegenden Daten (s. u. Kap. 8), nicht gedeckt ist. Die Konzeption therapeutischer Interventionen als eine Art ‚perpetuum mobile‘, das sich ohne Eingriff von außen immer weiter dreht, ist daher zurückzuweisen. Die Analyse hat stattdessen davon auszugehen, dass der Zweck therapeutischer Interventionen in der angemessenen Bearbeitung der gegebenen diskursiven Konstellation besteht. Das bedeutet, dass der Therapeut nach einer Intervention auch zu dem Schluss kommen kann, dass das momentan relevante Wissen vollständig verbalisiert und die Konstellation durch das Warten auf eine Reaktion des Patienten zu bearbeiten ist.

„In übertragenem Sinne könnte man doch sagen“ – „Vorschlagen“ im ›VEE‹ | 169

TH tut eben dies an dieser Stelle: er schweigt und wartet auf Äußerungen PAs. PA nimmt schließlich das Thema Alkohol auf, geht aber auf die in der VEE ausgedrückten Zusammenhänge zwischen dem Verhalten Anderer, seinem Selbstwertgefühl und dem Alkoholmissbrauch nicht ein. Er beschreibt lediglich eine Verhaltensänderung, wonach er statt im Wirtshaus nur noch zu Hause trinke (s062). Nicht nur werden die in der VEE angesprochenen kausalen Zusammenhänge des Erlebens dethematisiert, auch die Ausrichtung auf mentale Prozesse PAs geht verloren, so dass nicht von einer Elaborierung der VEE durch den Patienten gesprochen werden kann. Die VEE-Handlungssequenz endet an dieser Stelle also mit dem Schweigen des Therapeuten und einer Dethematisierung des VEE-Wissens durch den Patienten. Da eine Auseinandersetzung mit dem VEE-Wissen nicht erfolgt, es weder in Frage gestellt noch belegt oder auf andere Art aufgegriffen oder bearbeitet wird, ist an dieser Stelle davon auszugehen, dass die angezielte Umstrukturierung des Patientenwissens zumindest unmittelbar nicht erreicht worden ist. Der Ausgang aus dem Handlungsmuster ›VEE‹ erfolgt auf eine Art und Weise, die die tatsächliche Verarbeitung des formulierten Wissens durch den Patienten offen lässt (im ›VEE‹-Muster auf S. 188 an der Position (12)). Mithin ist von einer VEE zu sprechen, die ihren Zweck nicht erfüllt hat. Diese Analyse legt den Schluss nahe, dass eine ›VEE‹ als erfolglos anzusehen ist, wenn keine ausführliche Reaktion des Patienten erfolgt. Demnach wäre eine Elaborierung, wie sie Peräkylä (2005) als Ziel des Therapeuten angibt, ein wesentliches Element des ›VEE‹. Diese Frage ist anhand des nächsten Beispiels weiter zu bearbeiten, gezeigt hat sich allerdings bereits, dass ein quasiautomatischer Ausbau der Intervention auch bei Ausbleiben einer solchen Elaborierung nicht erfolgt.

7.3.6 Zusammenfassung: „Vorschlagendes Interpretieren“ An B3 lassen sich einige bereits gemachte Beobachtungen bestätigen, andere Erkenntnisse modifizieren das Bild des ›VEE‹. Beide VEE in dieser Passage arbeiten interpretativ, sie legen das Wissen, das im Diskurs gerade bearbeitet wurde, aus und gewinnen auf diese Weise neues Wissen von größerer Relevanz. Die erste VEE operiert dabei auf den unmittelbar vorangehenden Äußerungen des Patienten, die zweite VEE nutzt das in der ersten VEE generierte Wissen, um weitergehendes Wissen zu gewinnen. Grundlage für die interpretativen Prozesse ist in jedem Fall nicht nur das diskursiv aktuelle Wissen, sondern auch das professionelle Wissen des Therapeuten sowie ggf. weiteres Wissen über die

170 | Die Handlungsstruktur des ›VEE‹ (›Verbalisieren des emotionalen Erlebnisgehalts‹) Biografie des Patienten. Das Interpretieren operiert als Abstrahieren, Ordnen und „Benennen“. In der ersten VEE wird die Interpretation, die am Anfang der VEE steht, mithilfe des „Belegenden Wiederaufgreifen“ illustriert. Wissenselemente, die der Patient zuvor formuliert hatte, werden reaktualisiert und machen den Nachvollzug der Interpretation möglich. In der zweiten VEE wird auf das sprachliche „Wiederaufgreifen“ vorhandenden Wissens verzichtet, weil das zugrundeliegende Wissen über den Alkoholmissbrauch PAs ein Dauerthema der Therapie und damit ohnehin ständig aktualisiert ist. „Interpretieren“ und „Wiederaufgreifen“ funktionieren in diesem Abschnitt also wie in den Beispielen B1 und B2. Neu an B3 ist hingegen, dass die illokutive Kraft der interpretativen Äußerungen teilweise so eingeschränkt wird, dass von einer „Vorschlagenden Interpretation“ zu sprechen ist. Der vorschlagende Charakter zeigt sich nach Durchsicht aller mir vorliegenden VEE als ein wichtiges Element dieser Sequenz sprachlichen Handelns, allerdings können, wie B1 und B2 zeigen, VEE auch durchgehend nicht-vorschlagend, also rein assertiv, realisiert werden. Die vorschlagende Realisierung ist, ähnlich wie das „Wiederaufgreifen“, ein fakultatives Element des ›VEE‹. Ihre Leistung besteht grosso modo in einer mentalen und interaktionalen Aktivierung des Patienten: Das „Vorschlagende Interpretieren“ kennzeichnet das formulierte Wissen als unsicher, als eine Möglichkeit, PAs Erleben zu erfassen. Die Entscheidung darüber, ob das formulierte Wissen richtig ist, das Gewusste dem Thema des Wissens zukommt, bleibt dem Patienten überlassen. Mit dem „Vorschlagenden Interpretieren“ wird neues, deutend gewonnenes Wissen in den interaktiven Raum gestellt. Es wird nicht vom Therapeuten auf den Patienten übertragen, sondern entfaltet seine wissensumstrukturierende Kraft im Prozess der weitgehend eigenständigen Aneignung durch den Patienten. Indem dem Patienten neues Wissen über ihn selbst und seine Situation vorschlagend zugänglich gemacht wird, wird ihm die Möglichkeit gegeben, das eigene Erleben aufgrund eigener mentaler Prozesse zu rekonzeptualisieren und eine veränderte Perspektive einzunehmen. Die Frage, wann das „Interpretieren“ vorschlagend realisiert wird und unter welchen Umständen darauf verzichtet wird, wird am nächsten Beispiel vertiefend diskutiert. Daneben konnten in B3 auch neue Erkenntnisse über die Vor- und Nachgeschichte des „Interpretierens“ gewonnen werden. Es zeigte sich, dass ›VEE‹ nicht spezifisch vorbereitet werden müssen. Die VEE in B3 operieren nicht auf den zu Beginn der Passage gestellten Fragen des Therapeuten, sondern auf den unmittelbar zuvor vom Patienten verbalisierten Wissenselementen. Beim ›VEE‹ handelt es sich demnach um ein Handlungsmuster mit vergleichsweise kurzer Vorgeschichte: im Diskurs wird ein Wissen versprachlicht, aus dem sich für den

„Und Sie möchten s dadrauf net ankommen lassen“ – Handeln und Wissen im ›VEE‹ | 171

Therapeuten zusätzliches Wissen ergibt. Dieses neue Wissen wird in der ›VEE‹ verbalisiert. Im Unterschied zum tiefenpsychologischen ›Deuten‹ (u. Kap. 8) gibt es keine therapeutenseitige Position der Vorbereitung der Intervention. Hinsichtlich der Nachgeschichte des „Interpretierens“ konnten die Ausführungen Peräkyläs (2005), die, obwohl sie sich auf ›Deutungen‹ beziehen, als Stand der Forschung anzusehen sind, präzisiert werden. Eine Elaborierung der Intervention durch den Patienten mag von den Therapeuten zwar angestrebt werden, ihr Ausbleiben führt aber nicht zwangsläufig zum fortwährenden Ausbau der Intervention. Vielmehr kann der Therapeut auch durch Schweigen eine Reaktion des Patienten herbeiführen. Nachdem eine VEE verbalisiert worden ist, kommt es demnach zu einer Entscheidung des Therapeuten über die angemessene Anschlusshandlung. Wesentlich dafür ist die Konstellationseinschätzung des Therapeuten, ob das relevante Wissen, das die Kraft hat, den mentalen Bereich des Patienten umzustrukturieren, bereits vollständig verbalisiert worden ist. Ist dies der Fall, gilt es, in Erfahrung zu bringen, wie der Patient dieses Wissen verarbeitet. Erst wenn diese Verarbeitung in der Reaktion des Patienten zumindest ansatzweise erkennbar geworden ist, werden ggf. in einem neuen Musterdurchlauf weitere interpretativ gewonnene Wissenselemente verbalisiert.

7.4 „Und Sie möchten s dadrauf net ankommen lassen“ – Handeln und Wissen im ›VEE‹ Am letzten VEE-Beispiel sollen die vorgelegten Analysen noch einmal zusammengefasst und überprüft werden. In B4 stehen, im Unterschied zu den bisherigen Beispielen, organisatorische und verwaltungstechnische Aspekte im Vordergrund. Dabei erfolgt allerdings an einer Stelle ein Umschlagen in das therapeutische Sprechen und es zeigt sich, dass die VEE, trotz teilweise deutlicher Abweichungen an der sprachlichen Oberfläche, die gleiche Handlungsstruktur aufweisen wie in den vorangegangenen Beispielen.

B4 Der präsentierte Auszug stammt aus der zwölften und letzten Sitzung der bereits in B3 analysierten Therapie. Der Patient hat sich zu einer Alkoholentzugskur entschlossen und bespricht mit TH die notwendigen Schritte. Dabei klagt er sehr über bürokratische Hindernisse. Die Stunde bekommt auf diese Weise den Charakter einer verwaltungstechnischen Beratung durch den Therapeuten, therapeutisch gearbeitet wird vor dem hier präsentierten Ausschnitt kaum.

172 | Die Handlungsstruktur des ›VEE‹ (›Verbalisieren des emotionalen Erlebnisgehalts‹) TH: Gesprächspsychotherapeut. PA: Patient, spricht mit bairischem Akzent; Alkoholiker, Mitte 30, geschieden. Die Therapie findet als Nachsorge nach Suizidversuch statt.

/5/

TH [v]

‿Und äh • • nachdem Sie dann die Voraussetzungen erfüllt haben, -

TH [v]

werd ich schauen, dass ich Ihnen da eine/ • • • dass ich da da zu helfe, -

TH [v]

dass Sie möglichst schnell dran kommen, • in dieser Woche noch. -

/6/

PA [v]

Des is /7/

TH [v]

/9/

Gell?

Hm̌˙ /8/

/10/

/11/

PA [v]

prima ja.

PA [v]

ich hab auch nicht gewußt ((1,2s)) wie des jetzt weiter läuft, weil ich • •

Weil ich war gestern ziemlich fertig. Äh

des… ((1,7s)) Und

/13/

TH [v]

/14/

((1,6s)) Ham… "Hab ich /12/

PA [v]

äh… ((1s)) Zwischendurch hab ich mal gekündiḡt.

TH [v]

einmal gekündigt"?

/16/

PA [v]

Jā˙ /15/

/17/

• • Zwischendurch hab ich gekündigt.

• Bei der

/18/

PA [v]

Firma Siemens. ((1,2s)) Weil äh • • • des net äh revelant wäre ((1,9s)) oder •

„Und Sie möchten s dadrauf net ankommen lassen“ – Handeln und Wissen im ›VEE‹ | 173

PA [v]

ich ((1,2s)) Angst vor den Vorwürfen gehabt hätte, die mir da drüber

PA [v]

gemacht werden, wenn ich da jetzt irgendwie eine Behandlung, • die /19/

TH [v]

((1,7s)) Wo vor ham Sie da Bedenken gehabt? -

PA [v]

längere Zeit dauert, mache. /20/

PA [v]

((2,6s)) Ja dass des äh irgendwie ((3,1s)) Fehl reaktionen • beim ((1,2s)) -

/21/

TH [v]

/22/

• • Ja was denn zum Beispiel? • • • ((Zieht Nase

PA [v]

gewisse • äh Vorgesetzte…

TH [v]

hoch))˙ /23/

PA [v]

((3,2s)) Ja äh ((7,5s)) die äh • • • äh äh • ich mein, die Kur dauert /24/

TH [v]

• Sechs Monate. /25/ /26/

PA [v]

dóch einige Zeit.

Ja. ((1,6s)) Und dass des für die /27/

TH [v] PA [v]

((2,6s)) Des könnt irgendwie äh ((4s)) Anlass zu einem Ärgernis is.

174 | Die Handlungsstruktur des ›VEE‹ (›Verbalisieren des emotionalen Erlebnisgehalts‹)

/29/

TH [v]

natürlich schon sein. Und

äh Sie möchten s, wenn ich Sie recht versteh,

-

/28/

PA [v]

Hm̀hḿ˙ /31/

TH [v]

dadrauf net ankommen, lassen, dass Sie…

Ja dass Sie da blöd

/30/

PA [v]

[Genaù]. [entschieden

/32/

TH [v]

angeredet werden. ‿Ja nun, was was was befürchten Sie denn, dass man

TH [v]

sagt: "Der Säufer da!" oder oder irgend so was da? /33/

PA [v]

Ja in der Richtung -

/34/

PA [v]

/35/

sowieso • und äh in der anderen Richtung ja… ((lacht kurz))˙ ((8,5s)) Also /36/

TH [v]

Hm̄˙ /37/

PA [v]

die Niederlage vor den • • äh Arbeitskollegen und vor de m ganzen̄. • • • Es /38/

TH [v] PA [v]

Die Schmach, is ja doch ein größerer Kreis, • mit dem man da verkehrt.

„Und Sie möchten s dadrauf net ankommen lassen“ – Handeln und Wissen im ›VEE‹ | 175

TH [v]

die die die damit auf Sie kommen würde, die

PA [v]

möchten Sie/ • der

/39/

/40/

Ja genau.

[Hm̀hḿ]˙ [leise

/42/

TH [v]

möchten Sie aus dem Weg gehen.

/43/

Hm̀hḿ˙ ((1,1s)) [Jetzt ham S /41/

PA [v]

Richtig. [schwebende Intonation

/45/

TH [v]

gekündigt].

((1,8s)) Vielleicht hätt Ihnen Siemens hin terher gekündigt. -

/44/

PA [v]

Ja.

/46/

TH [v]

• • • Mein, solang Sie im Krankenhaus sind, kann man Ihnen ja nicht /47/

TH [v]

kündigen, aber vielleicht hätten die Ihnen hinterher gekündigt. Ist es

TH [v]

besser gekündigt zu werden oder ge/ oder selber zu kündigen? /48/

PA [v]

((Zieht Luft /49/

PA [v]

/50/

ein)) Ja die Frage is jetz… ((Lacht kurz))˙ • Des is eine reine Geld frage. -

176 | Die Handlungsstruktur des ›VEE‹ (›Verbalisieren des emotionalen Erlebnisgehalts‹)

TH [v]

/51/

/53/

Hm̀hḿ˙

((5,7s)) Ja. • Nur also durch die Kündigung, • • •

/54/

/52/

PA [v]

Sonst nix. /55/

TH [v]

/57/

wollten Sie oder wol len S… ‿Sie ham ja gekündigt, ne? -

• • [Äh •

-

/56/

PA [v]

Hm̌. [langsam,

TH [v]

damit wollen Sie diese Schmach umgehen, • die Sie erwarten]? /58/

PA [v]

Genau. schwebende Intonation

/59/

TH [v]

Und Se/ Sie sind da ziemlich sich er — • äh s sonst hätten Sie ja den -

TH [v]

schwerwiegenden Schritt ja gar net unternommen — • • zu kündigen, • Sie /61/

TH [v]

sind sich er, dass Sie/ dass sowas auf Sie zukommt, nich?

• • Sie

-

/60/

PA [v]

Hm̌. /62/

TH [v]

können sich nicht vorstellen, dass die anders reagieren. • • Oder Sie lassen -

/63/

TH [v]

es dadrauf net ankommen. Reagieren die mit Ver ständ nis • oder mit -

„Und Sie möchten s dadrauf net ankommen lassen“ – Handeln und Wissen im ›VEE‹ | 177

/65/

TH [v]

Ablehnung.

PA [v]

• Hm̄˙ /64/

/66/

((3s)) Genau.

((7s)) Also ich kann mir des net/ • • • /67/

PA [v]

irgendwie net vorstellen. ‿Ich hab mir gedacht äh, ((3,1s)) wenn ich des • /68/

TH [v] PA [v]

[Hm̌]˙ Ganze durch • • hab,

• • • ganz neu • • und • • auf ganz andere [kurz

/69/

TH [v]

Hm̀hḿ˙ /70/

PA [v]

Weise anzufangen.

((1s)) Vielleicht is des schon äh ((1,5s)) in mir

Ablaufbeschreibung In diesem Ausschnitt wird die von PA in s012 en passant erwähnte Neuigkeit, dass er seine Arbeitsstelle gekündigt hat, besprochen. TH ist hörbar überrascht und wiederholt diese Mitteilung nach einer Verarbeitungspause ungläubig (s014). Im Rest des Ausschnitts geht es TH dann vor allem darum, den mentalen Hintergrund der Kündigung zu klären. PA spricht zunächst die „Angst vor den Vorwürfen“ (s018) als Grund für die Kündigung an, woraufhin TH nach weiteren „Bedenken“ (s019) fragt und konkrete Beispiele für die von PA angeführten „Fehlreaktionen“ (s020) der Vorgesetzten verlangt (s021). Dass PA die Länge der Entziehungskur als „Anlass zu einem Ärgernis“ (s026) ansieht, wird von TH zunächst akzeptiert. Er versucht in den nächsten Äußerungen, die mentalen und emotionalen Hintergründe für PAs Handeln noch weiter zu ergründen und fragt zunächst erneut nach konkreten Befürchtungen. PA spricht von einer „Niederlage“ (s035), die er sich habe ersparen wollen. TH fasst PAs Situation daraufhin als „Schmach“ (s038) und formuliert PAs Befürchtungen noch einmal (s038). Dann stellt er Überlegungen darüber an, wie sich PAs Arbeitgeber verhalten hätte, wenn die Kündigung nicht bereits vollzogen wäre (s045, s046) und

178 | Die Handlungsstruktur des ›VEE‹ (›Verbalisieren des emotionalen Erlebnisgehalts‹) schließt die Frage an, ob es besser sei „gekündigt zu werden oder ge/ oder selber zu kündigen“ (s047). PA verweist in seiner Reaktion auf das Geld als einzigen Faktor zur Beantwortung dieser Frage (s048-s052). Als Reaktion darauf fragt TH erneut, ob PA tatsächlich gekündigt habe (s055). Nachdem diese Nachfrage mit „Hm̌“ (s056) beantwortet worden ist, prozessiert TH eine VEE, die den mentalen Hintergrund für die Kündigung erarbeiten soll (s057-s063). In seiner Reaktion auf die VEE stellt PA fest, dass er sich nicht vorstellen könne, dass Kollegen und Vorgesetzte anders als ablehnend reagiert hätten (s066), und dass er „ganz neu“ (s067) anfangen wolle.

Sektionierung Der Ausschnitt lässt sich in fünf Sektionen unterteilen. Die erste Einheit zusammenhängenden Handelns bilden die anfänglichen Äußerungen von TH und PA, in denen über die Vorbereitungen für den Alkoholentzug gesprochen wird (s005-s011). Diese Äußerungen spiegeln den Verlauf des Gesamtgesprächs bis zu diesem Zeitpunkt wider. Erst mit der Erwähnung der Kündigung durch PA schlägt das Gespräch um, in der zweiten Sektion (s012-s028) geht es TH zunächst darum, Gründe für die Kündigung zu erfahren. Diese Sektion wird von Fragen THs und Ausführungen PAs zu den Motiven der Kündigung geprägt. In (s029) beginnt TH eigene Überlegungen über mentale Prozesse PAs zu formulieren. Damit schlägt das Gespräch in der dritten Sektion (s029-s041) ein zweites Mal um, diesmal in ein echtes Therapiegespräch: Die Äußerungen PAs werden zu ‚Daten‘, aus denen TH Wissenselemente über mentale Prozesse PAs gewinnt. Diese Beschäftigung mit PAs mentalen Prozessen wird in der vierten Sektion (s042-s057) von Überlegungen über das mögliche Verhalten von PAs Arbeitgeber und über die Frage, ob es besser sei zu kündigen oder gekündigt zu werden, abgelöst. Hier stehen mentale Prozesse des Patienten also nicht im Vordergrund. Die fünfte Sektion (s057-s068) besteht dann im Unterschied dazu wieder aus einer VEE, die PAs Empfindungen fragend zu formulieren versucht, sowie aus PAs Reaktion auf die VEE.

„Und Sie möchten s dadrauf net ankommen lassen“ – Handeln und Wissen im ›VEE‹ | 179

7.4.1 „Vorschlagendes Interpretieren“ Die erste VEE23 dieses Abschnitts beginnt in s029 als Reaktion auf PAs Ausführung, dass die Entzugskur „für die irgendwie äh ((4s)) Anlass zu einem Ärgernis is“ (s026). TH stimmt zu („Des könnt natürlich schon sein“ (s027)) und formuliert in der anschließenden VEE sein Verständnis der Motive für die Kündigung („Und äh Sie möchten s, wenn ich Sie recht versteh, dadrauf net ankommen lassen, dass Sie… Ja dass Sie da blöd angeredet werden.“ (s029, s031)). TH unterbricht die Äußerung, als PA mit „Genaù“ (s030) zustimmt. Diese Zustimmung erfolgt bereits, als TH erst die Matrixkonstruktion seiner Äußerung realisiert hat (Und äh Sie möchten s, wenn ich s recht versteh, dadrauf net ankommen, lassen, dass Sie…“ (s029)), deren Funktion ja ‚lediglich‘ in der Anhebung des eigentlichen propositionalen Gehalts der Äußerung besteht (Rehbein 2003). Mit dieser frühen und entschiedenen Zustimmung macht PA klar, dass er sein Verhalten grundsätzlich nicht von der Reaktion Anderer abhängig machen will. Nach der Zustimmung PAs setzt TH die VEE fort und formuliert die pKonstruktion „dass Sie da blöd angeredet werden“ (s031). Es fällt auf, dass TH mit der Parenthese „wenn ich Sie recht versteh“ (s029) den propositionalen Gehalt der ersten VEE-Äußerung explizit von eigenen mentalen Prozessen abhängig macht. Das formulierte Wissen wird auf THs Verstehen zurückgeführt und nicht als Aussage über die Wirklichkeit P, sondern über mentale Prozesse THs prozessiert. TH setzt damit die Korrektheit des formulierten Wissens nicht einfach voraus, sondern gibt die Provenienz des Wissens an, macht es von eigenen Verstehensprozessen abhängig und macht damit deutlich, dass dieses Wissen auch falsch sein kann. Auf diese Weise wird PA die Ablehnung der VEE erleichtert. Gleichzeitig zeigt sich, dass auch diese VEE auf der mentalen Bearbeitung des von PA formulierten Wissens durch den Therapeuten beruht, die neues Wissen von größerer Relevanz generiert. Das „Interpretieren“ bildet damit den Kern auch dieser VEE. Indem die Parenthese das neue Wissen von Verstehensprozessen des Therapeuten abhängig macht, wird die assertive illokutive Kraft der Interpretation eingeschränkt. Damit nähert sich die sprachliche Realisierung dem „Vorschlagenden Interpretieren“, wie es anhand von Beispiel B3 beschrieben wurde. In s032 konkretisiert TH seine Interpretation, indem er ein Beispiel für PAs mögliche Befürchtungen formuliert („‿Ja nun, was was was befürchten Sie

23 Die Analyse setzt im Unterschied zu den vorigen Beispielen bei den im Fokus stehenden therapeutischen Interventionen ein. Um den Umschlag ins therapeutische Sprechen erkennbar werden zu lassen, sind die vorhergehenden Äußerungen ebenfalls wiedergegeben.

180 | Die Handlungsstruktur des ›VEE‹ (›Verbalisieren des emotionalen Erlebnisgehalts‹) denn, dass man sagt: "Der Säufer da!" oder oder irgend so was da?“ (s032)). Die Äußerung wird als „propositionale Frage“ (Rehbein 1999: 316) prozessiert, das formulierte Wissen wird PA zum Abgleich mit dem eigenen Wissen vorgelegt. Das formulierte Beispiel wird mittels „oder oder irgend so was da“ um eine Leerformel ergänzt, die anzeigt, dass anderes Wissen möglich wäre, das Aufrufen solchen Wissens jedoch dem Hörer überlässt. Mittels „oder“ wird alternatives Wissen konnektiert (Redder 2007a), mittels „irgend-“ wird dieses Wissen als „vorgestellte Größe“ (Zifonun u. a. 1997: 43) bzw. „beliebig gedacht“ (Paul u. a. 2002: s.v.) gekennzeichnet. TH macht also deutlich, dass alternatives Wissen denkbar ist, überlässt das Füllen der aufgerufenen Leerstelle aber dem Patienten. PA ist so gefordert, das formulierte konkrete Wissen auf seine Richtigkeit zu prüfen, gleichzeitig wird deutlich gemacht, dass ähnliches Wissen denkbar und von PA aufzurufen wäre. Mit „denn“ weist TH außerdem das Nicht-Gewusste darüber, was PA konkret befürchtet, als Nicht-Verstandenes aus (Redder 1990) und fordert so – zum wiederholten Mal in diesem Ausschnitt – eine Begründung von PAs Verhalten an. Die Äußerung greift in PAs Handlungsprozess ein, indem sie ihm ein Wissen zur Bewertung vorlegt und auf weitere denkbare Wissenselemente hinweist. Da das formulierte Wissen von der Bewertung und Zustimmung PAs abhängig gemacht wird, ist auch bei dieser Äußerung von einer vorschlagenden Realisierung der Interpretation zu sprechen. An diesen Äußerungen lässt sich zeigen, unter welchen Umständen die „Interpretationen“, die in der ›VEE‹ ausgeführt werden, vorschlagend realisiert werden. Aufgrund des plötzlichen Umschlagens des Gesprächs in ein therapeutisches Gespräch liegt beim Therapeuten nur geringes Wissen über die mentalen Prozesse des Patienten vor. Zuvor hatte ja gerade nicht das innere Erleben des Patienten, sondern die Organisation der Entzugskur im Vordergrund gestanden. Auch in den vorangegangenen Gesprächen hatte der Patient nicht darauf hingewiesen, dass er kündigen wolle. Daher weiß TH nur sehr wenig über die mentalen Hintergründe von PAs Handeln vor und beginnt, nachdem er von der Kündigung erfahren hat, auch nicht gleich mit einer VEE, sondern fragt zunächst nach den Motiven PAs. Erst mit diesen Fragen erfolgt ein Wechsel zum therapeutischen Sprechen (s. o. Kap. 2.2; vgl. Turner 1976): mentale Prozesse des Patienten werden erfragt, die Antworten des Patienten werden vom Therapeuten dann in VEE ausgelegt. Das interpretative Wissen, das in den VEE in diesem Beispiel vorschlagend realisiert wird, ist also ein unsicheres Wissen, der Therapeut hat dieses Wissen aus wenigen Äußerungen des Patienten gewonnen und kann sich des Zukommens des ausgedrückten Gewussten zum Thema des Wissens nicht vollkommen sicher sein. Diese Unsicherheit wird interaktiv umgesetzt, so dass die formulierten „Interpretationen“ einen vorschlagenden Cha-

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rakter erhalten. Verbalisiert wird eine andere Art, das eigene Erleben zu konzipieren. Indem diese „Interpretationen“ vorgeschlagen, nicht assertiert werden, wird das fragliche Wissen von der Bewertung des Patienten abhängig gemacht. Das Wissen wird nicht einfach vom Therapeuten auf den Patienten übertragen, sondern sprachlich ‚in den interaktiven Raum gestellt‘ und muss, um seine Wirkung zu entfalten, vom Patienten eigenständig angeeignet werden. Gründe für die vorschlagende Realisierung sind also einerseits in einer unsicheren Wissensbasis auf Seiten des Therapeuten und andererseits in der angezielten Aktivierung des Patienten zu sehen. Das „Vorschlagende Interpretieren“ nutzt die epistemischen Ressourcen des Patienten über das eigene Erleben zur Überprüfung und Aneignung des formulierten Wissens sowie zur Umstrukturierung des bestehenden Patientenwissens.

7.4.2 „Interpretieren“ und „Benennen“ Auf die erste VEE dieses Abschnitts reagiert PA vergleichsweise ausführlich (s033-s037) und bringt dabei zusätzliches Wissen über die Kündigungsgründe in den Diskurs ein. Er bestätigt THs Beispiel („dass man sagt: ‚Der Säufer da!‘ (s032)“) mit „Ja in der Richtung sowieso“ (s033) und spricht von einer „Niederlage“ (s035) Kollegen und Vorgesetzten gegenüber. Dieses Wissen greift TH in s038 auf und benennt PAs Empfindungen in einer zweiten VEE als „Schmach“ (s038). Er betont diesen Ausdruck, so dass deutlich wird, dass der Punkt der Äußerung auf dieser Neubenennung und Verbegrifflichung von PAs Erleben liegt. PA stimmt unmittelbar zu („Ja genau.“ (s039)). Der Ausdruck „Schmach“ ruft Wissen über eine Situation auf, in die man aufgrund von Verhalten geraten ist, das gesellschaftlich negativ bewertet wird. Nach Kluge geht „Schmach“ auf ahd. „smāhi“ „Kleinheit, Niedrigkeit“ zurück (2002: s. v.), Paul bringt „Schmach“ darüber hinaus in den Zusammenhang des Kampfes („des Besiegten Schmach“ (Paul u. a. 2002: s. v.)). Die negative gesellschaftliche Bewertung macht sich derjenige, der „Schmach“ empfindet, zu eigen, die Situation wird von ihm als entehrend empfunden, seine Position als verachtet, demütigend und ‚klein‘ eingeschätzt. PAs Erleben wird mit „Schmach“ auf einen Begriff gebracht, der eine umgangssprachliche Analyse seiner Situation und eine Verallgemeinerung seines Erlebens leistet (vgl. o. S. 139ff, 163). Im Vergleich zur „Niederlage“ (PA in s035) treten die Aspekte der Entehrung und des Verachtetseins sowie der Selbstzuschreibung von „Schmach“ hinzu. TH bearbeitet also das unmittelbar zuvor vom Patienten verbalisierte Wissen, gewinnt daraus neue Wissenselemente und verbalisiert diese in einem zweiten Durchlauf durch das VEE-Muster. Das „In-

182 | Die Handlungsstruktur des ›VEE‹ (›Verbalisieren des emotionalen Erlebnisgehalts‹) terpretieren“ setzt auf dem aktuell verhandelten, vom Patienten verbalisierten Wissen auf. Auf das „Wiederaufgreifen“ des zugrunde liegenden Wissens wird verzichtet, weil dieses Wissen ohnehin im Diskurs aktuell ist. In s038 wird das Erleben des Patienten also mit einer Interpretation des vom Patienten zuvor verbalisierten Wissens auf einen Begriff gebracht. PA stimmt dem dreimal zu („Ja genau.“, „Hm̀hḿ˙“, „Richtig.“ (s039-s041)), danach wechselt TH das Thema, ohne längere Pausen für eine Reaktion PAs zu lassen und ohne mentale Prozesse PAs zu thematisieren. Dies geschieht erst wieder ab s053.

7.4.3 „Wiederaufgreifen“ In s053 bahnt sich erneut eine Thematisierung der Motive für die Kündigung an (TH: „Nur also durch die Kündigung, • • • wollten Sie oder wollen S…“). Mit „Nur“ (s. o. Exkurs zu „nur“) im Vorfeld der Äußerung werden thematische Alternativen defokussiert, der Diskurs wird auf das Thema „Motive PAs für die Kündigung“ gelenkt, anderweitige Erwartungen werden negiert. Die Äußerung wird allerdings abgebrochen, TH versichert sich ein weiteres Mal, dass PA tatsächlich gekündigt hat (s055). Dieser antwortet kurz („Hm̌.“ (s056)), daraufhin setzt TH die abgebrochene Thematisierung der Kündigungsmotive in einer VEE fort. Er greift dabei zunächst das in der letzten VEE bereits gewonnene Wissen auf: „Äh • damit wollen Sie diese Schmach umgehen, • die Sie erwarten?“ (s057). Indem diese VEE als propositionale Frage formuliert wird, wird PA erneut die Möglichkeit der Bewertung des propositionalen Gehalts gegeben, danach wird mit „und“ Wissen auf der gleichen kategorialen Stufe angeschlossen und in den diskursiven Vordergrund gerückt (s. o. S. 166). Dieses Wissen besteht in einem interpretativen Schluss von PAs Verhalten auf die Gewissheit seiner Einschätzung („Und Se/ Sie sind da ziemlich sicher“ (s059)) bezüglich der Reaktion von Vorgesetzten und Kollegen. In dieser dritten VEE des Beispiels wird also ein „Bild“ (Ehlich & Rehbein 1977) PAs über sein Arbeitsumfeld entworfen: PA weiß, dass sich seine Kollegen und Vorgesetzten in jedem Fall auf eine bestimmte Art und Weise verhalten werden. Der Akzent der VEE liegt auf der „Bild“-qualität des Wissens bzw. auf der Unabänderlichkeit, mit der PA das Handeln anderer Aktanten vorauskonstruiert. In einer Parenthese („äh s sonst hätten Sie ja den schwerwiegenden Schritt ja gar net unternommen“ (s059)) wird die Grundlage des Schlusses formuliert, dem Hörer wird es so möglich, die Entstehung des neuen Wissens nachzuvollziehen. Da es sich bei diesem Wissen um im Diskurs bekanntes und bereits versprachlichtes Wissen – über PAs Kündigung und ihre weit reichenden Folgen – handelt, ist THs sprachliche Hand-

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lung an dieser Stelle als „Belegendes Wiederaufgreifen“, das die VEE nachvollziehbar machen soll, zu bezeichnen. In dieser Passage kommen also sowohl das „Einführende Wiederaufgreifen“ (s057), das das Wissen, auf dem die anschließenden Interpretationen basieren, reaktualisiert, als auch das „Belegende Wiederaufgreifen“ (Parenthese in s059), das die Interpretation nach ihrem sprachlichen Vollzug nachvollziehbar macht, zum Einsatz. Mit dem Sprechhandlungsaugment „nich?“ (vgl. o. S. 142) wird in s059 außerdem eine mentale und interaktionale Bewertung des formulierten Wissens angefordert, diese erfolgt unmittelbar mittels „Hm̌.“ (s060). Auch s059 aktiviert den Patienten also und bringt ihn dazu, Stellung zum propositionalen Gehalt zu beziehen.

7.4.4 Wissensbearbeitung Die folgenden drei Äußerungen (s061-s063) greifen das in s059 neu entwickelte Wissen über die Gewissheit PAs auf und spitzen es noch zu. In s061 heißt es, PA könne sich „nicht vorstellen, dass die anders reagieren“. Indem die Möglichkeit, sich eine alternative Reaktion auch nur mental zu vergegenwärtigen, negiert wird, wird die Entschiedenheit von PAs Situationseinschätzung betont. In s062 wird dann mit „Oder“ alternativ auf PAs Verhalten abgestellt, das eine andere Reaktion von vornherein verhindere („Oder Sie lassen es dadrauf net ankommen.“). Diese alternative Reaktion („Reagieren die mit Verständnis“) wird in s063 versprachlicht, so dass die von PA vorgenommene Reduktion des Handlungsfeldes von Vorgesetzten und Kollegen deutlich wird. PA wird in der dritten VEE gezeigt, mit welcher Entschiedenheit er das Verhalten der Anderen mental vorauskonstruiert. Es handelt sich um ein fixes, scheinbar unwandelbares Wissen über die Verhaltensweisen und Einstellungen von Kollegen und Vorgesetzten, das PA bestimmte Handlungsoptionen nimmt. In der ›VEE‹ werden also nicht etwa nur mentale Strukturen – in diesem Fall vom Wissensstrukturtyp „Bild“ – PAs aufgedeckt, es wird auch ihr Einfluss auf das Handlungsfeld PAs aufgezeigt. Indem PA die Reaktion der Anderen auf einen einzigen Handlungsweg festlegt, nimmt er gleichzeitig sich selbst jegliche Handlungsalternativen. Wenn TH eine alternative Situationseinschätzung verbalisiert, zeigt er dieses Wissen in seiner Starrheit nicht nur auf, sondern arbeitet auch an seiner Modifikation.

184 | Die Handlungsstruktur des ›VEE‹ (›Verbalisieren des emotionalen Erlebnisgehalts‹) 7.4.5 „Reaktion“ An der Reaktion PAs wird allerdings keine Veränderung seiner Situationseinschätzung erkennbar. Er stimmt nach einer Pause zu („((3s)) Genau.“ (s064)) und bestätigt nach weiteren sieben Sekunden, dass eine andere Reaktion für ihn nicht vorstellbar ist (s066). In den folgenden Äußerungen (s067-s080) expliziert er dann nicht nur seine Einschätzung der aktuellen Situation, sondern deutet auch Vorstellungen über die Zeit nach der Entzugskur an („‿Ich hab mir gedacht äh, ((3,1s)) wenn ich des • Ganze durch • • hab […]“ (s067)). Damit bringt er in mehreren Äußerungen zusätzliches Wissen über eigene mentale Prozesse ein. Die Reaktion auf die VEE besteht also aus Zustimmung und einer ausführlichen Auseinandersetzung mit dem inneren Erleben durch den Patienten. Auch wenn eine unmittelbare Veränderung mentaler Prozesse nicht erkennbar wird, erreicht die VEE, da sie elaboriert wird und damit zur Thematisierung zusätzlicher mentaler Gehalte führt, ihren Zweck. Die Analyse, wonach eine solche Elaborierung ein wesentlicher Teil einer gelingenden VEE ist, wird bestätigt (vgl. o. S. 139, 168f.).

7.5 Zusammenfassung: Formale und funktionale Charakteristika des ›VEE‹ Der Schwerpunkt der Analyse von B4 lag auf dem „Vorschlagenden Interpretieren“. Es konnte gezeigt werden, dass der Einsatz des Vorschlagens von der Konstellation, in der das VEE-Wissen gewonnen und formuliert wird, abhängig ist. In einigen zuvor untersuchten VEE konnte sich TH des formulierten Wissens sehr sicher sein, es ließ sich zum Teil nachgerade evidentiell aus dem zuvor vom Patienten verbalisierten Wissen ableiten (z. B. in B1). Bei den VEE, die vorschlagend realisiert werden, wird dagegen eher unsicheres Wissen verbalisiert – die Funktion der vorschlagenden Realisierung ist es, diese Unsicherheit kommunikativ zu transportieren und damit sicherzustellen, dass der Patient das Wissen nicht einfach unmodalisiert übernimmt, sondern es auf der Basis seines biografischen Wissen überprüft und bewertet. Der vorschlagende Charakter der interpretativen Äußerungen wird mit einer Reihe von Mitteln realisiert. In B4 geschieht dies entweder, indem das formulierte Wissen im Deklarativ-Modus in Nebensätzen oder Parenthesen explizit auf mentale Prozesse des Therapeuten zurückgeführt wird, oder indem die VEEÄußerungen im Interrogativ-Modus realisiert werden. Andere sprachliche Mittel, die die VEE von Bewertungsprozessen des Patienten abhängig machen, sind

Zusammenfassung: Formale und funktionale Charakteristika des ›VEE‹ | 185

in B3 der Konjunktiv II sowie Modalverben (insbesondere „können“) und ‚Abtönungspartikeln‘ wie „vielleicht“. Die Wirkung all dieser sprachlichen Mittel im gesprächstherapeutischen Diskurs ist, dass sie den Patienten aktivieren und eine Zuschreibung des formulierten p auf die Wirklichkeit P vom Patienten abhängig machen. Dies geschieht z. B., indem p explizit auf ПS, also das Wissen des Therapeuten, zurückgeführt wird. Damit wird dem Patienten deutlich gemacht, dass eine etwaige Zuschreibung auf die Wirklichkeit P eben nicht vom Therapeuten, sondern von ihm, dem Patienten selbst, zu vollziehen ist. Andere Mittel, wie die Abtönungspartikeln, arbeiten so, dass sie das Zukommen des Gewussten zum Thema des Wissens in p als unsicher anzeigen und damit vom Hörer abhängig machen. Ähnlich funktioniert der Interrogativ-Modus, der das Zukommen des Gewussten zum Thema des Wissens dem Hörer als Frage vorlegt. Da der Effekt all dieser Mittel darin besteht, dass das neue, deutende Wissen zwar formuliert, seine Zuschreibung zur Wirklichkeit P aber vom Hörer abhängig gemacht wird, wird in all diesen Fällen von „Vorschlagendem Interpretieren“ gesprochen. Dem Hörer wird eine neue Möglichkeit angeboten, die eigene Situation und mögliche (mentale) Handlungswege zu sehen, die Entscheidung darüber, ob diese Möglichkeit ergriffen, also (mentale) Wirklichkeit wird, muss vom Hörer getroffen werden (vgl. die Realisierung des ›Deutens‹ (Kap. 8)). Während eine vorschlagende Realisierung der ›VEE‹ also häufig vorkommt, jedoch von bestimmten konstellativen Gegebenheiten abhängig ist, stellt das „Interpretieren“ die Kernstruktur des ›VEE‹. Das ›VEE‹ ist im Wesen ein „Interpretieren“ patientenseitigen Wissens und Handelns, das über die mentale Handlung des „Schließens“ zu einem neuen Wissen führt, welches das Erleben des Patienten in seinem Zusammenhang (besser) verstehbar macht. An dem Wissen und Handeln des Patienten setzen mentale Prozesse des Therapeuten an, die, basierend auf abstraktem professionellem Therapeuten-Wissen, aus dem konkreten Patienten-Wissen ein Wissen auf einer höheren Abstraktionsstufe von größerer kollektiver Geltung erschließen. Das Erleben und Handeln des Patienten wird dabei geordnet, es wird in seinem Zustandekommen und seinen Auswirkungen, also hinsichtlich Vorgeschichte, Geschichte und Nachgeschichte, verstehbar. Beim „Interpretieren“ wird das Erleben des Patienten mit Hilfe kollektiver Begriffe „benannt“ und gesellschaftlichen Kategorien des Erlebens zugeordnet. Das Erleben des Patienten wird aus seiner Singularität gelöst, es wird aus einer gesellschaftlichen Perspektive rekonzeptualisiert und damit ansatzfähig für gesellschaftliches Handlungswissen. Indem durch das „Interpretieren“ bzw. „Deuten“ eine inhärente Systematik des Patienten-Erlebens erkannt wird, wird sein Erleben verstanden, es werden Ansatzpunkte für Handlungen geschaffen (s. u. Kap. 9.1).

186 | Die Handlungsstruktur des ›VEE‹ (›Verbalisieren des emotionalen Erlebnisgehalts‹) Die interpretativen Prozesse lassen sich an den Beispielen am leichtesten aufzeigen, in denen zur Stützung der „Interpretation“ das Wissen, auf dem sie basiert, wiederaufgegriffen und erneut formuliert wird. Dies ist in B4 kaum der Fall, das „Einführende“ und das „Belegende Wiederaufgreifen“ kommen jeweils nur einmal vor. Zurückzuführen ist dies darauf, dass das zu bearbeitende Wissen im Diskurs ohnehin aktuell ist, dem Patienten also klar ist, auf welchen Wissenselementen die angestellten Interpretationen basieren. Da die Funktion des „Wiederaufgreifens“ in der ›VEE‹ darin besteht, dem Patienten den Nachvollzug der „Interpretation“ durch diskursive Reaktualisierung des interpretierten Wissens zu ermöglichen, kann auf das „Wiederaufgreifen“ in einem solchen Fall verzichtet werden. Das „Wiederaufgreifen“ ist damit als eine fakultative Komponente des ›VEE‹, die von den Gegebenheiten der aktuellen Handlungskonstellation abhängig ist, zu konzipieren. Demnach lassen sich vier verschiedene Typen der ›VEE‹ unterscheiden: – Typ1: Die „reine VEE“, die durch die „Interpretation“ des Patientenwissens realisiert wird. Das interpretierte Wissen ist in der Ausgangskonstellation der VEE aktualisiert, so dass sich seine erneute Formulierung erübrigt. Auch ist eine eigenständige Bewertung des interpretierenden VEE-Wissens durch den Patienten nicht nötig, weil das Wissen von hoher Evidentialität geprägt ist und unmodalisiert vom Patienten übernommen werden kann. – Typ2: Die „VEE mit Wiederaufgreifen“, in der das zugrundeliegende Wissen sprachlich reaktualisiert wird. Diese Reaktualisierung kann mit Hilfe des „Einführenden Wiederaufgreifens“ vor der verbalen Umsetzung der „Interpretation“ geschehen, so dass die interpretativen Prozesse vom Patienten quasi in actu nachvollzogen werden können. Beim „Belegenden Wiederaufgreifen“ wird die Reaktualisierung des zugrundeliegenden Wissens nach der Verbalisierung der „Interpretation“ vollzogen, die „Interpretation“ wird belegt. In beiden Fällen muss der Zusammenhang zwischen altem und neuem Wissen vom Patienten hergestellt werden, eine „Begründung“ wird nicht realisiert. Der Typ der „VEE mit Wiederaufgreifen“ wird assertiv realisiert. – Typ3: Die „Vorschlagende VEE“, bei der das Wissen als unsicher gekennzeichnet und von einer Bewertung des Patienten abhängig gemacht wird. Das interpretierende Wissen wird zwar formuliert, seine Zuschreibung zu P allerdings als unsicher gekennzeichnet und dem Patienten überlassen. Auf das „Wiederaufgreifen“ des zugrundeliegenden Wissens wird aus den gleichen Gründen wie bei der „reinen VEE“ verzichtet (das Wissen ist ohnehin aktualisiert). – Typ4: Die „Vorschlagende VEE mit Wiederaufgreifen“ verbindet die Charakteristika von Typ2 und Typ3. Das der „Interpretation“ zugrundeliegende

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Wissen wird aufgegriffen und erneut formuliert, die „Interpretation“ dadurch nachvollziehbar gemacht. Das interpretierende Wissen wird als unsicher ausgewiesen und der Aneignung des Patienten anheimgestellt. Abbildung 4 auf Seite 188 stellt die Handlungsstruktur des ›VEE‹ grafisch dar. Neben „Interpretieren“, „Wiederaufgreifen“ und „Elaborieren“ und den entsprechenden mentalen Prozessen werden die Vor- und die Nachgeschichte des ›VEE‹ berücksichtigt. Die Handlungsstruktur des ›VEE‹ lässt sich in zwei Positionen zusammenfassen: Der „Verbalisierung“ („Interpretieren“ und ggf. „Wiederaufgreifen“) und der „Reaktion“ (die ebenfalls aus mehreren interaktiven Handlungen bestehen kann).24 Der Ausgangspunkt des ›VEE‹ liegt im Handeln des Patienten (1). An diesem – entweder seinem Verhalten in der Therapie oder seinen Erzählungen über Erlebnisse außerhalb der Therapie – wird für den Therapeuten ein Wissen über ПPA erkennbar (2). Dieses Wissen wird vom Patienten nicht bewusst ausgedrückt, sondern vom Therapeuten aufgrund seines professionellen Wissens erschlossen. Der Therapeut entscheidet dann über den Eintritt in das ›VEE‹Muster (3) sowie darüber, ob das Wissen, das der ›VEE‹ zugrunde liegt, einführend expliziert und also wiederaufgegriffen werden soll (4, 5). Das dabei formulierte Wissen ist – wie gesehen – keine Doppelung des vom Patienten an (1) zum Ausdruck gebrachten Wissens, sondern beruht auf weiteren, von beiden Aktanten geteilten Wissenselementen über den Patienten. Entscheidet sich der Therapeut für ein „Wiederaufgreifen“, kommt es beim Patienten zur Aktualisierung von bereits vorhandenem Wissen (6/10), auf dem die anschließend verbalisierte „Interpretation“ (7), der Kern des ›VEE‹, beruht. Dies ist auch dann der Fall, wenn sich der Therapeut nach Verbalisierung der „Interpretation“ für das „Belegende Wiederaufgreifen“ (9) entscheidet (8).

24 Mit dieser Verwendung des Positionsbegriffs im Rahmen einer Handlungsmusteranalyse wird eine Abstraktion von der einzelnen mentalen oder interaktionalen Handlung vorgenommen. Da die Analysen der vorliegenden Daten zeigen, dass einzelne Handlungen innerhalb des Handlungsmusters ineinander verschränkte funktionale Einheiten bilden, scheint es angebracht, diese Funktionseinheiten auch gesondert zu erfassen. Neben Handlung und Handlungsmuster wird hier mit dem Begriff der Position eine dritte Analysestufe genutzt, wie sie anderweitig (z. B. Kameyama 2004) als „Phase“ benannt wurde. Da der Ausdruck „Phase“ allerdings nicht funktional bestimmt ist, stattdessen an chronologisch geregelte Abläufe erinnert, wird der Positionsbegriff bevorzugt. Heuristisch relevant ist diese Zwischenstufe zwischen Handlung und Handlungsmuster insbesondere für das strukturell komplexere ›Deuten‹ (s. u. Kap. 8); um Konsistenz und Vergleichbarkeit zu gewährleisten, wird sie aber auch bei der ›VEE‹-Analyse bereits verwendet.

188 | Die Handlungsstruktur des ›VEE‹ (›Verbalisieren des emotionalen Erlebnisgehalts‹)

Abb. 4: Das ›VEE‹-Handlungsmuster als Flussdiagramm

Zusammenfassung: Formale und funktionale Charakteristika des ›VEE‹ | 189

Der Patient bewertet das neue Wissen (12) und setzt diese Bewertung optional in einer ersten Reaktion nach außen (13). Diese Reaktion kann zustimmend, ablehnend, nachdenklich oder auch anders ausfallen. Der Therapeut kann so erfahren, wie das neue VEE-Wissen vom Patienten verarbeitet wird (14). Er kann daraufhin über einen Rückgang an (3) einen neuen Durchlauf durch die Positionen (5), (7) oder (9) realisieren oder das Muster verlassen. Auf der Bewertung an (12) aufbauend stellt der Patient entweder ein „Verstehen“ seiner Situation her (16) oder er verlässt seinerseits das Muster. Das „Verstehen“ wird als „Elaborieren“ (13d) nach außen gesetzt, wobei deutlich wird, dass das neue Wissen Ansatzpunkte im bereits vorhandenen Wissen gefunden hat. Der Therapeut erhält dadurch nicht nur weiteres Wissen über den Patienten, sondern er erfährt insbesondere, dass die ›VEE‹ erfolgreich war (17). Der Durchlauf durch das ›VEE‹-Muster ist damit beendet, es kommt entweder zu anderen Handlungen des Patienten (18) oder vom Therapeuten wird ab (2) auf der Basis des neuen Wissens über den Patienten ein neuer Musterdurchlauf initiiert.

8 Die Handlungsstruktur des tiefenpsychologischen ›Deutens‹ 8.1 Vorüberlegungen Nach der Analyse des ›Verbalisierens des emotionalen Erlebnisgehaltes‹ (›VEE‹) in der Gesprächstherapie geht es im Folgenden darum, die Spezifik des ›Deutens‹ in der tiefenpsychologischen Psychotherapie herauszuarbeiten. Diese Aufgabe erhält vor dem Hintergrund, dass das ›VEE‹ im Kern als „Interpretieren“ bzw. „Deuten“ analysiert wurde, besonderes Gewicht. Dazu ist festzuhalten, dass die ›VEE‹-Analyse auf der alltäglichen Handlungsform des „Deutens“ basiert (zu dieser alltäglichen Form des „Deutens“ s. Anton 1971a, Scarvaglieri i. Vorb.). Die Vertreter der Gesprächstherapietheorie lehnen „Deuten“ in der Therapie ja grundsätzlich ab (Rogers 1973, Tausch & Tausch 1979: 109f.), gehen daher auch nicht davon aus, dass „Deuten“ beim ›VEE‹ überhaupt zum Einsatz kommen kann bzw. darf. Da das „Deuten“ bzw. „Interpretieren“ der Gesprächstherapietheorie zufolge also kein Teil des therapeutischen Prozesses ist, sich in der Analyse der gesprächstherapeutischen Praxis aber als Kern des ›VEE‹ herausgestellt hat, ist davon auszugehen, dass der Einsatz des „Deutens“ unbewusst erfolgt, die Therapeuten ihr Handeln also nicht als „Deuten“ bezeichnen würden. Das „Deuten“ beim ›VEE‹ ist mithin eine alltägliche Form des „Deutens“, die nicht bewusst eingesetzt oder therapietheoretisch entwickelt wird. Beim psychoanalytischen und beim tiefenpsychologischen ›Deuten‹ dagegen handelt es sich um die therapeutische Technik par excellence – ihr Einsatz wird nicht nur in Lehrbüchern seit Jahrzehnten ausführlich thematisiert, sie wird auch in der Ausbildung eingeübt und prinzipiell auf der Basis methodischer und theoretischer Reflexion eingesetzt. Wenn das ›VEE‹ also mit den Ausdrücken „Deuten“ bzw. „Interpretieren“ begrifflich erfasst wird, wird keinesfalls eine Gleichsetzung mit dem psychoanalytischen bzw. tiefenpsychologischen ›Deuten‹ vorgenommen. Die nachfolgende Analyse wird zunächst die Handlungsstruktur des tiefenpsychologischen ›Deutens‹ herausarbeiten. Diese unterscheidet sich wesentlich von der Handlungsstruktur des ›VEE‹. In Kapitel neun werden in einer Synopse der angestellten Analysen die Eigenheiten sprachlichen Handelns in der Psychotherapie erfasst. Da das Handlungsmuster ›Deuten‹ einen vergleichsweise großen Raum einnimmt (im Vergleich zum ›VEE‹, das in Einzelfällen weniger als fünf Partiturflächen umfasst, besteht die kürzeste mir vorliegende voll ausgebaute Deutung

192 | Die Handlungsstruktur des tiefenpsychologischen ›Deutens‹ aus 30 Partiturflächen; zu Häufigkeit und Länge von ›VEE‹ und ›Deuten‹ s. o. Kap. 6.2), kann an dieser Stelle nur eine Mikroanalyse einer kompletten Deutung (B5) präsentiert werden. Um Nachvollziehbarkeit und Repräsentativität der Analyse zu gewährleisten, wird im Anschluss an die Mikroanalyse eine weitere Deutung wiedergegeben und auf der Grundlage der bereits durchgeführten Analyse besprochen. Es handelt sich dabei um einen an der Oberfläche des sprachlichen Handelns teilweise abweichenden Fall, an dem sich die herausgearbeitete Tiefenstruktur und die Vermittlung mentaler und interaktionaler Prozesse beim ›Deuten‹ überprüfen lassen. Analog zum Vorgehen im ›VEE‹-Kapitel werden zunächst die zu analysierenden Daten in HIAT-Transkription (Ehlich & Rehbein 1976, 1979a, Rehbein u. a. 2004) präsentiert, paraphrasierend beschrieben und in größere Sektionen sprachlichen Handelns eingeteilt. Um dem Leser einen besseren Nachvollzug der anschließenden Mikroanalyse der im Vergleich zum ›VEE‹ wesentlich umfangreicheren ›Deutungen‹ zu ermöglichen, werden die jeweils analysierten Transkript-Passagen den einzelnen Unterkapiteln in der Form von Äußerungslisten noch einmal vorangestellt. Die Daten werden also einmal im Zusammenhang präsentiert sowie ein weiteres Mal an der Stelle, an der sie konkret analysiert werden. Außerdem finden sich die Deutungspassagen samt Vor- und Nachgeschichte im Anhang. Die Mikroanalyse folgt grundsätzlich dem Ablauf des sprachlichen Handelns, so dass erkennbar wird, wie eine Handlung auf die jeweils vorangegangene reagiert. Dies bedingt in Einzelfällen einen zweiten Zugriff auf bestimmte Passagen, um die Einordnung innerhalb der Tiefenstruktur des Handelns sicherzustellen. Im Unterschied zum „Deuten“ im ›VEE‹ handelt es sich beim tiefenpsychologischen ›Deuten‹ wie gesagt um eine bewusst eingesetzte therapeutische Technik. Diese Technik wurde, ausgehend vom alltäglichen „Deuten“, zu einer eigenen sprachlichen Handlungsform entwickelt, die den Zweck verfolgt, eine heilende „Einsicht“ (Thomä & Kächele 2006a: 14) in psychische Zusammenhänge zu vermitteln (s. o. Kap. 5.2). Argelander hält zum Zusammenhang zwischen alltäglichem und psychoanalytischem bzw. tiefenpsychologischem Deuten fest, „daß auch nicht voll ausgebildete Analytiker deuten können, indem sie, ohne es zu wissen, die formalen Kriterien einer Deutung erfüllen“ (1981: 1003). Laut Argelander handelt es sich beim ›Deuten‹ „offensichtlich um eine originäre Fähigkeit des Menschen, die nicht erst durch eine Ausbildung erlernt wird, sondern in ihr kultiviert, verfeinert und auf bestimmte Ziele ausgerichtet werden kann“ (a. a. O.: 1004). Schon diese Ausführungen weisen sowohl auf Übereinstimmungen als auch Unterschiede zwischen alltäglichem und tiefenpsycho-

Vorüberlegungen | 193

logischem „Deuten“ hin. Diese Beobachtung wird durch die nachfolgende Analyse geschärft. Die Unterschiede zwischen alltäglichem und tiefenspychologischem „Deuten“ werden durch den Zweck, den diese Handlungsform in der tiefenpsychologischen Therapie erfüllt, hervorgebracht. Der Zweck von Psychotherapie insgesamt besteht – so wurde bereits herausgearbeitet (o. Kap. 4.1) – in der Wiederherstellung der Handlungsfähigkeit erkrankter Individuen. Diese Wiederherstellung geschieht bei den verbal orientierten Psychotherapien, wie sie hier untersucht werden, im Gespräch zwischen dem Kranken und einem eigens dafür ausgebildeten Psychotherapeuten durch methodisches Umstrukturieren des mentalen Bereichs des Erkrankten. Die Methoden, die dabei zur Anwendung kommen, unterscheiden sich im Einzelnen, bringen aber, so ist anzunehmen, grundsätzlich vergleichbare Wirkungen hervor.1 Der tiefenpsychologischen Therapietheorie zufolge ist nun die „Einsicht“ (Wöller u. a. 2009: 140) ein zentraler „spezifischer Wirkfaktor“ (ebd.) dieser Therapieform. Wöller u. a. nennen neben der „Einsicht“ lediglich die „positive[n] Beziehungserfahrung“ (2009: 140) als spezifischen Wirkfaktor. Da aber gerade der Aufbau einer stützenden, Anerkennung vermittelnden Beziehung ein Wirkfaktor ist, der in nahezu allen Formen von Therapie zum Tragen kommt (s. z. B. Grawe u. a. 1994, Hubble u. a. 2001, Margraf 2009), ist der Aspekt der Beziehungserfahrung m. E. gerade nicht als spezifisch tiefenpsychologischer Wirkfaktor zu bezeichnen. Daher ist das Vermitteln von ›Einsicht‹ als einziger spezifischer Wirkfaktor der tiefenpsychologischen Psychotherapie anzusehen. Patienten werden in der tiefenpsychologischen Therapie demnach vor allem dadurch gesund, dass sie etwas einsehen, also bestimmte mentale Prozesse bewusst vollziehen. Das entscheidende Mittel zur Vermittlung von ›Einsicht‹ ist in der tiefenpsychologischen wie in der psychoanalytischen Therapie die ›Deutung‹ (Thomä & Kächele 2006b, Wöller u. a. 2009: 146ff; s. o. Kap. 5.2). Allerdings hält man sich sowohl in der psychoanalytischen als auch in der tiefenpsychologischen Literatur mit einer konkreten Formulierung dessen, was unter

1 Diese Annahme beruht u. a. auf der, auf den ersten Blick überraschenden, aber immer wieder belegten Erkenntnis, dass alle Therapieformen in etwa den gleichen Wirkungsgrad aufweisen (s. z. B. Eckerts (2000: 184) auf Grawe u. a. (1994) basierende Ausführungen). Auch kommen statistisch vergleichende – methodisch im Einzelnen allerdings durchaus anzuzweifelnde (Buchholz 2007) – Untersuchungen zu dem Ergebnis, dass die Faktoren, die die Heilung herbeiführen, in den verschiedenen Therapieformen weitgehend vergleichbar sind (Hubble u. a. 2001). Die Wirkung scheint in allen Fällen in der Schaffung neuer bzw. der Veränderung bestehender mentaler Strukturen zu bestehen. Diese neuen bzw. veränderten Strukturen werden dann therapieformabhängig mit jeweils unterschiedlichen Elementen gefüllt.

194 | Die Handlungsstruktur des tiefenpsychologischen ›Deutens‹ ›Einsicht‹ verstanden wird, zurück. Reimer zufolge zielt die tiefenpsychologische Therapie insgesamt auf „eine (begrenzte) Einsicht in zugrunde liegende innere Konflikte“ (2000: 15) ab. ›Einsichten‹ sollen dem Patienten Wissen „über den lebensgeschichtlichen Kontext von Symptomatik“ (a. a. O.: 60) vermitteln, ihm also zeigen, in welcher ‚Umgebung‘ sich die Anzeichen der Krankheit realisieren. Auch für Wöller u. a. geht es beim ›Deuten‹ darum, „Einsicht in unbewusste Zusammenhänge zu vermitteln“ (2009: 141). Sie unterscheiden vier Typen von ›Deutungen‹2 (a. a. O.: 146ff) an denen deutlich wird, dass sich die angezielte ›Einsicht‹ auf die Gründe bzw. Hintergründe von Handlungen und Empfindungen des Patienten richtet. Auch die verschiedenen von Thomä & Kächele (2006a: 290ff) angeführten Definitionen von ›Einsicht‹ überschneiden sich in dem Punkt, dass ein bewusstes Wissen über zuvor unbewusste biografische Zusammenhänge ein verändertes Handeln ermöglicht. Festzuhalten ist also, dass die Psychotherapietheorie die therapeutische Wirkung des ›Deutens‹ in der Vermittlung von ›Einsicht‹ in grundlegende Zusammenhänge des Erlebens sieht. Dieses veränderte Wissen über sich selbst soll ein verändertes Handeln des Patienten ermöglichen. Wie die nachfolgenden Analysen zeigen, sind die mit dem ›Deuten‹ angestrebten mentalen Veränderungen handlungstheoretisch als das Umwandeln von Nicht-Verstehen in „Verstehen“ zu fassen. Dies geschieht, indem der Patient auf Aspekte hingewiesen wird, die sein Verhalten und Empfinden beeinflussen. Der Blick auf das eigene Erleben verändert sich, die eigene Situation kann umfassend, inklusive Vorgeschichte und möglicher bzw. zu erwartender Nachgeschichte, erkannt werden. Das angestrebte „Verstehen“ besteht in einem Wissen über den (Handlungs-)Prozess, in dem sich ‚eins aus dem anderen‘ so entwickelt hat, dass die problematisierte, krank machende Situation als Endprodukt dieses Prozesses erkennbar und gemäß der ihr zugrunde liegenden Systematik veränderbar wird. Im Unterschied zum ›VEE‹ bezieht sich das durch das ›Deuten‹ ausgelöste „Verstehen“ nicht auf die in der Sprechsituation relevanten Empfindungen, sondern rekonzeptualisiert das Zustandekommen ganzer Biografien oder biografischer Episoden.

2 Die Typisierung der Deutungstätigkeit hat innerhalb der Psychoanalyse eine große Tradition (s. z. B. Sandler u. a. 1991: 103ff). Unterschieden wird dabei jeweils nach dem Objekt des ›Deutens‹, die sprachliche Form der ›Deutung‹ ist dagegen m. W. kein Anlass zur Typisierung gewesen. Wölller u. a. (2009) unterscheiden durchaus klassisch in „Abwehrdeutungen“ (147) „Genetische Deutungen“ (ebd.), „Widerstandsdeutungen“ (147f.) und „Übertragungsdeutungen“ (148). Da Typologien dieser Art ausschließlich auf therapietheoretischen Unterscheidungen und Begriffen basieren, greift die folgende linguistische Analyse diese Typologien nicht auf.

„des kann ja auch sehr hinderlich sein“ – Aufwerfen und Beantworten von Fragen | 195

8.2 „des kann ja auch sehr hinderlich sein“ – Aufwerfen und Beantworten von Fragen Bei der in B5 präsentierten Deutung handelt es sich um eine sog. ›Übertragungsdeutung‹. ›Übertragungsdeutungen‹ sind „Deutungen, die sich auf ‚Aktionen und Interaktionen in der Behandlung und auf das Verhältnis von Patient und Therapeut beziehen“ (U. Streeck 2011: 62). In diesem Beispiel wird dementsprechend die Beziehung zwischen Patientin und Therapeut gedeutet, die Patientin wird auf problematische Aspekte dieser Beziehung hingewiesen. Dieses Beispiel wurde ausgewählt, weil sich auf relativ geringem Raum alle linguistisch interessanten Charakteristika einer ›Deutung‹ zeigen lassen und weil es sich m. E. auch aus therapietheoretischer Sicht um eine geradezu klassische Form des ›Deutens‹ handelt.

B5 Sechste Stunde einer tiefenpsychologischen Kurzzeittherapie. In der Sitzung geht es um „Abhängigkeiten“ der Patientin – zum einen um wirtschaftliche und emotionale Abhängigkeit von den Eltern, zum anderen um psychische und physische Abhängigkeit von Tabletten. Die Patientin stellt fest, dass sich ihre Situation hinsichtlich beider Aspekte deutlich gebessert habe, sie eigentlich nicht mehr „abhängig“ sei. Es folgt eine lange Pause, an deren Ende der Therapeut eine weitere Form der Abhängigkeit thematisiert. TH: Tiefenpsychologisch arbeitender Psychotherapeut. PA: Patientin, Ende 20, geschieden. Die Therapie findet als Nachsorge nach Medikamentenabusus statt. /1/

TH [v]

((16, 3s)) Ich wollt noch mal eines aufgreifen, vomm letzten Mal auch

TH [v]

[• • • des war so mehr oder weniger im • • •] im Rausgehen. ((1,7s)) Äh

[nn]

[Knarren eines Drehstuhls

TH [v]

((1,6s)) da hatten wir so drüber gesprochen auch, hm̄ • • ((räuspert sich)) •

/2/

196 | Die Handlungsstruktur des tiefenpsychologischen ›Deutens‹

TH [v]

• dasss ((1,7s)) Sie eigentlich so des eigene Wohlbefinden so sehr abhängig

TH [v]

vvon • mir machen oder von dem, dass Sie hérkommen, und ähm sich doch -

TH [v]

auch n bisschen schwer tun, • des für sich sel ber eigentlich so zu -

-

TH [v]

akzeptieren und zu sagen : "Okay des ((Zieht Luft ein)) is jetzt so mein

TH [v]

Gefühl". ‿Ich weiß nich, ob Sie da nochmal so drüber nachgedacht

/3/

/6/

TH [v]

haben?

• Hm̌˙ ((3,6s)) Weil ((1,5s)) ich hatt es /4/

PA [v]

/7/

/5/

Eigentlich nich. ‿Nein nein. /8/

TH [v]

Ihnen… ‿Ich weiß nich, ob ich s Ihnen letzte Mal auch so dazu gesagt

TH [v]

hab,((2s)) ähm ((4,5s)) des kann ja auch sehr hin derlich sein, sone -

/9/

TH [v]

/11/

Einstellung, nich? • Für Sie .

Dass äh wenn Sie sagen: "Also des liegt

-

/10/

PA [v]

TH [v]

Já˙

jetzt nǔr • • an • dem Therapeuten da, dass dass es mir gut geht und äh •

„des kann ja auch sehr hinderlich sein“ – Aufwerfen und Beantworten von Fragen | 197

TH [v]

wenn ich da nich mehr hingeh, dann gehts mir wieder schlecht", oder so, /12/

TH [v]

kann ja auch gleich damit zusammenhängen̄. ((4,2s)) Ähm ((2,1s)) dass das

TH [v]

einfach noch mal so n Stück ((1,2s)) Wieder hol ung auch is, dieser • Ab /13/

TH [v]

hängigkeit, ne? • • Oder ne neue Abhängigkeit, ne? -

/14/

((2,1s)) Naja, abhängig

PA [v]

/15/

• • Hm̌˙

TH [v] PA [v]

als solches bin ich ja jetzt wieder auch mal von meiner Freundin. -

/16/

PA [v]

• Denn die gibt mir jetzt sehr viel — • • • ich will nich sagen /17/

PA [v]

Selbstbewusstsein — aber • • doch sehr viel ähm… ((1,3s)) Sie baut mich

TH [v]

/19/

/20/

Hm̌˙

Nur könnten Sie s

/18/

PA [v]

sehr auf, indem sie überhaupt da is. • • Also

• hm̀…

-

TH [v]

ja auch um drehen, die ganze Geschićhte, und sagen : ((1s)) "Äh • vielleicht -

TH [v]

• • geht das deswegen jetzt so gut mit der, • • weil • • ich selber vielleicht

198 | Die Handlungsstruktur des tiefenpsychologischen ›Deutens‹

TH [v]

noch n bisschen anders bin". /21/

((1,1s)) [Da hab ich eigentlich noch nich dran

PA [v]

[nachdenklich

/23/

((2,7s)) Weil weil Sie sich

TH [v] /22/

PA [v]

gedacht. ((1,2s)) Vielleicht ham Sie da Recht].

TH [v]

vielleicht dann leichter tun, einfach mit ((atmet ein)) äh mit der Freundin

TH [v]

auch umzugehen und • vielleicht auch sich leichter tunn

PA [v]

Spaß zu

/24/

/25/

Ja˙

Ja des stimmt.

TH [v]

haben und und nich gleich wieder n schlechtes Gewissen haben zu müssen

TH [v]

Spaß zu haben̄. /26/

/27/

• • Ja des stimmt. • • • Also schlechtes Gewissen hatt ich

PA [v]

/28/

Hm̌˙

TH [v]

/29/

PA [v]

in letzter Zeit ((1,1s)) so gesehen eigentlich gar nicht. -

PA [v]

nicht.

Ü berhaupt -

„des kann ja auch sehr hinderlich sein“ – Aufwerfen und Beantworten von Fragen | 199

Ablaufbeschreibung Die Passage beginnt mit einer Pause von über 16 Sekunden. Diese Pause markiert eine Zäsur im Diskurs, die sich in der ersten Äußerung auch thematisch niederschlägt. In s001 knüpft TH nämlich nicht an das unmittelbar vorangegangene Thema des Gesprächs an, sondern stellt eine Verbindung zur letzten Sitzung her. Er greift einen Teil der Sitzung „vomm letzten Mal“ (s001) auf, in dem es darum ging, dass PA ihr „Wohlbefinden“ (s002) von der Therapie abhängig macht. TH beendet diesen einleitenden Beitrag mit der Frage, ob PA „noch mal so drüber nachgedacht“ (s003) habe, was von PA verneint wird (s004, s005). TH schließt an diese Verneinung einen längeren Beitrag an, in dem er das neue, deutende Wissen formuliert. Er spricht davon, dass „so ne Einstellung“ (s008) „sehr hinderlich“ (s008) für PA sein könne und weist auf die Gefahr der „Abhängigkeit“ (s012) von der Therapie hin. Die Patientin reagiert ausweichend („Naja“ (s014)) und wendet das Thema der „Abhängigkeit“ auf die Beziehung zu einer Freundin.3 Dabei betont PA die positiven Auswirkungen der Beziehung zur Freundin für ihr Selbstwertgefühl (s016, s017). In seiner Reaktion darauf dreht TH das von PA formulierte Ursache-WirkungsVerhältnis um: nicht die gute Beziehung zur Freundin löst PAs besseres Selbstwertgefühl aus, sondern PAs besseres Selbstwertgefühl ermöglicht eine bessere Beziehung zur Freundin (s020). Auf diese Wendung reagiert PA zunächst nachdenklich (s021), dann konzediert sie, dass TH Recht haben könne („Vielleicht ham Sie da Recht“ (s022)). TH führt daran anschließend mögliche Gründe für die Veränderung an (s023). PA stimmt mehrfach zu (s024, s025, s026) und bestätigt die Deutung zum Abschluss dieser Passage mit einer „in letzter Zeit“ (s027) gemachten Selbstbeobachtung.

Sektionierung Da in diesem Beispiel sehr viel auf sehr kleinem Raum geschieht, ist eine vergleichsweise kleinteilige Sektionierung vorzunehmen. Die erste Sektion (s001s005) besteht hauptsächlich aus THs Äußerungen, die das Thema der späteren Deutung einführen (s001-s003). In Sektion zwei (s006-s013) verbalisiert TH das deutende Wissen. Diese Sektion ist zentral für die vorzunehmende Analyse des ›Deutens‹. Auf die Verbalisierung der Deutung in Sektion zwei folgt in Sektion drei PAs Reaktion (s014-s018), die von TH in Sektion vier verarbeitet wird

3 Für das richtige Verständnis dieser Passage mag der Hinweis hilfreich sein, dass es sich bei der Beziehung zur „Freundin“ (s014) nicht um eine Liebesbeziehung, sondern um eine enge Freundschaft handelt. Die Patientin lebt seit mehreren Jahren mit einem Mann zusammen.

200 | Die Handlungsstruktur des tiefenpsychologischen ›Deutens‹ (s020). Darauf reagiert PA ihrerseits (Sektion fünf, s021-s022) mit Nachdenken und ansatzweiser Zustimmung, was TH Gelegenheit zu einer weiteren Konkretisierung des deutenden Wissens in Sektion sechs (s023) gibt. Eine letzte Reaktion PAs schließt in Sektion sieben (s026-s029) diese Deutungssequenz ab.

8.2.1 „Vorbereitung“4 TH:

/1/

((16, 3s)) Ich wollt noch mal eines aufgreifen, vomm letzten Mal auch [• • • des war so mehr oder weniger im • • •] im Rausgehen.

/2/

((1,7s)) Äh ((1,6s)) da hatten wir so drüber gesprochen auch, hm̄ • • ((räuspert

[Knarren eines Drehstuhls

sich)) • • dasss ((1,7s)) Sie eigentlich so des eigene Wohlbefinden so sehr abhängig vvon • mir machen oder von dem, dass Sie hérkommen, und ähm sich doch auch n bisschen schwer tun, • des für sich selber eigentlich so zu akzeptieren und zu sagen : "Okay des ((Zieht Luft ein)) is jetzt so mein Gefühl". TH: PA:

/3/

‿Ich weiß nich, ob Sie da nochmal so drüber nachgedacht haben?

/4/

Eigentlich nich.

/5/

‿Nein nein.

Der Ausschnitt beginnt mit einer Pause von 16,3 Sekunden. Längere Pausen dieser Art sind charakteristisch für den Beginn von Deutungspassagen und funktional für das ›Deuten‹. Zum einen macht das lange Schweigen des Patienten deutlich, dass dieser in der bestehenden Situation kein ‚Material‘ einbringen möchte, dass ihm keine weiteren Assoziationen zum eigenen Erleben einfallen. Die Möglichkeit, den Turn zu übernehmen, wird vom Patienten also nicht genutzt, es entsteht diskursiver Raum für Äußerungen des Therapeuten. Zum anderen geben lange Pausen dem Therapeuten die Möglichkeit, eigene längere Ausführungen detailliert zu planen. Er hat also Zeit, sich das komplexe Deutungswissen mental zu vergegenwärtigen und zu überprüfen, ob die Verbalisierung dieses Wissens in der bestehenden Konstellation angemessen ist. Wie beschrieben (o. S. 61) wird der richtige diskursive Zeitpunkt für die Realisierung einer ›Deutung‹ als ein wesentlicher Aspekt ihrer Wirksamkeit angesehen (vgl. Sandler u. a. 1991: 97ff, Wöller u. a. 2009: 150ff). In dem vorliegenden Beispiel

4 Aufgrund der vergleichsweise langen Deutungspassagen werden der Analyse die jeweils zugrundegelegten Passagen noch einmal vorangestellt, um dem Leser einen besseren Nachvollzug der Analyse zu ermöglichen. Aus Gründen der Lesbarkeit werden sie in der Regel als Äußerungslisten wiedergegeben, nur bei längeren Passagen synchronen Sprechens wird auch an dieser Stelle auf die Partiturschreibweise zurückgegriffen.

„des kann ja auch sehr hinderlich sein“ – Aufwerfen und Beantworten von Fragen | 201

entscheidet TH, dass an dieser Stelle die Verbalisierung einer ›Deutung‹ angemessen ist, und bereitet sie mit den ersten drei Äußerungen nach der gut sechzehnsekündigen Pause vor. Mit der ersten Äußerung („Ich wollt noch mal eines aufgreifen, vomm letzten Mal auch • • • des war so mehr oder weniger im • • • im Rausgehen“ (s001)) kündigt TH einen Themawechsel an. Er wolle ein Gesprächsthema („eines“) „vom letzten Mal“ aufnehmen, das er in s002 mithilfe einer „Matrixkonstruktion“ (Rehbein 2003; s. o. S. 146 Anmerkung 15) „wiederaufgreift“ (s. o. S. 145ff, 164f., 182f.), von der mehrere „p-Konstruktionen“ (ebd.) abhängen („dasss ((1,7s)) Sie eigentlich so des eigene Wohlbefinden so sehr abhängig vvon • mir machen oder von dem, dass Sie hérkommen, und ähm sich doch auch n bisschen schwer tun, • des für sich selber eigentlich so zu akzeptieren und zu sagen : ‚Okay des ((Zieht Luft ein)) is jetzt so mein Gefühl‘“). Die übergeordnete Matrix schließt über die refokussierende Anadeixis „da“ an die letzte Sitzung bzw. das gemeinsame Wissen darüber an, die abhängigen p-Konstruktionen formulieren dieses Wissen. Demnach ging es darum, dass die Patientin ihre Empfindungen vom Therapeuten bzw. von der Therapie abhängig macht und sich schwer damit tut, die wahrgenommenen Verbesserungen ihres Erlebens auf sich selbst zurückzuführen. Dabei wird der Symbolfeldausdruck „abhängig“ benutzt, der in der laufenden Sitzung immer wieder zur Charakterisierung von PAs Beziehungen zu wichtigen Personen herangezogen worden war. An dieser Stelle wird „abhängig“ nun auf PAs Beziehung zum Therapeuten gewendet. PAs Abhängigkeit bleibt also Gegenstand der Sitzung und wird, nach Eltern, Ehepartner und Tabletten, nun auf ein weiteres Objekt bezogen. Nachdem TH in s002 auf diese Weise das Wissen „vom letzten Mal“ (s001) wiederaufgegriffen hat, fragt er PA, ob sie „da nochmal so drüber nachgedacht“ (s003) habe. PA verneint die Frage, schränkt diese Verneinung aber in s004 durch „eigentlich“ ein. Exkurs zu „eigentlich“ „eigentlich“ besteht aus den Elementen „eigen“, „in jemandes Besitz befindlich“ (Paul u. a. 2002: s.v.), und „-lich“, dessen Bedeutung mit „die Gestalt haben, die der erste Bestandteil näher bezeichnet“ (Paul u. a. 2002: s.v.) angegeben wird. Ursprünglich bezeichnete „eigentlich“ damit die vollumfängliche Zugehörigkeit des Bezugselementes zu einem anderen Element. Diese „Eigentlichkeit“ kommt in der adjektivischen Verwendung („meine eigentliche Beschäftigung ist…“) des Ausdrucks noch heute zum Tragen, die Modalpartikel dagegen kennzeichnet den Bezugssachverhalt zwar „als für sich betrachtet gewichtig“ (Zifonun u. a. 1997: 2411), weist aber gleichzeitig auf „widersprüchliches Wissen“ (Schilling 2007: 152) hin, das nach einer weiteren diskursiven Bearbeitung zur Negation des „eigentlich“ gültigen Wissenselementes führen kann. Diese häufig zu beobachtende Negation des Bezugssachverhalts wird allerdings nicht durch „eigentlich“ selbst prozessiert, sondern durch ggf. angeschlossene, z. B. mit „aber“ konnektierte Konstruktionen (vgl. Zifonun u. a. 1997: 2410f.).

202 | Die Handlungsstruktur des tiefenpsychologischen ›Deutens‹ An dieser Stelle in B5 schränkt „eigentlich“ die Verneinung von THs Frage so ein, dass die tatsächliche Verneinung diskursiv nach ‚hinten‘ geschoben und als dispräferierte Handlung kenntlich gemacht wird (Pomerantz 1984). Die doppelte Verneinung „Nein nein“ in s005 macht dann deutlich, dass die Patientin über das formulierte Wissen nicht weiter nachgedacht hat. Diese Antwort beendet die „Vorbereitung“ der Deutung und wird für TH zum Ausgangspunkt der „Verbalisierung“ ab s006. Die ersten vorbereitenden Äußerungen THs zeigen allerdings einige für das ›Deuten‹ insgesamt markante formale Charakteristika, die daher vor einer Analyse der „Verbalisierung“ noch näher beschrieben werden sollen.

8.2.1.1 Formale Charakteristika der „Vorbereitung“ An der sprachlichen Oberfläche der ersten Äußerungen des Therapeuten fällt zunächst die siebenfache Nutzung der „Aspektdeixis ‚so‘“ (Ehlich 1987) auf. „so“ fokussiert den Hörer auf einen bestimmten Aspekt des verbalisierten Wissens, ohne diesen Aspekt eigens zu benennen. Das fragliche Wissen muss also vom Hörer aufgerufen werden. Dabei steht „so“ in diesem Ausschnitt in der Regel zwischen dem zuerst formulierten Thema und dem anschließend formulierten Rhema der Äußerung, also in „prärhematischer“ (Rehbein 1982b: 243) Position (z. B. in s002, wenn TH davon spricht, dass „Sie eigentlich so des eigene Wohlbefinden so sehr abhängig vvon mir machen“). Rehbein zufolge wird auf diese Weise ein „Vorstellungsinhalt“ (ebd.) evoziert, ohne dass sich der Sprecher auf eine Bezeichnung dieses Inhalts festlegt. Was genau also Gegenstand der Aufmerksamkeit des Hörers wird, auf welche Weise z. B. PA das „eigene Wohlbefinden“ von TH abhängig macht, wird der Vorstellung des Hörers anheimgestellt (vgl. auch Graefen 2007: 667). Die Äußerungen nutzen nicht nur Symbolfeldausdrücke, um kollektiv verankertes Wissen über Elemente der Wirklichkeit aufzurufen, sondern greifen durch die prärhematische Aspektdeixis auch auf individuelle Vorstellungen der Hörerin zu. Damit wird PA dazu gebracht, das von TH formulierte Wissen immer wieder durch eigene Vorstellungen zu ergänzen. Wissen und Vorstellungen der Patientin werden also bereits bei der „Vorbereitung“ der ›Deutung‹ einbezogen. Einen ähnlichen Effekt hat die Modalpartikel „eigentlich“, die von TH in s002 zweimal genutzt wird. TH kennzeichnet mit diesem Ausdruck das verbalisierte Wissen als „widersprüchlich“ (Schilling 2007: 152) und macht deutlich, dass eine weitere diskursive Bearbeitung dieses Wissens notwendig sein kann (s. den Exkurs auf S. 202). Demnach sind Wissenselemente, die die Zukommensrelation des Gewussten zum Thema des Wissens außer Kraft setzen, denkbar. Mit „eigentlich“ wird also insofern auf mentale Ressourcen der Hörerin zuge-

„des kann ja auch sehr hinderlich sein“ – Aufwerfen und Beantworten von Fragen | 203

griffen, als das Wissen als nicht uneingeschränkt gültig prozessiert und somit eine Auseinandersetzung mit dem formulierten Wissen angeregt wird. Zwei weitere Beobachtungen beziehen para- bzw. nonverbale Phänomene ein. Zum einen finden sich in s002 einige Pausen sowie ein Räuspern THs, was insgesamt dafür sorgt, dass das in der Matrixkonstruktion prozessierte neue Wissen diskursiv nach ‚hinten‘ geschoben wird. Auf diese Weise wird PAs Aufmerksamkeit gesteigert, sie wird gezwungen, bis zum Ende von THs Beitrag zuzuhören, um das neue Wissen identifizieren zu können. Die Ausrichtung auf das neue Wissen, und damit auch die Bedeutung dieses Wissens für die Interaktion zwischen TH und PA, wird verstärkt. Auch die Tatsache, dass das Wissen in s001 eigens angekündigt wird (zum Ankündigen s. Rehbein 1977: 275f.), weist PA auf seine besondere Bedeutung hin. Zum anderen zeigen sich in s002 Betonungen deiktischer und nennender Ausdrücke, mit denen TH die Verarbeitung seines Beitrags durch die Hörerin steuert. Betont sind die Ausdrücke „mir“, „schwer“, „selber“ und „mein“. Während „mir“, „selber“ und „mein“5 auf die beiden Aktanten Bezug nehmen, bezieht sich „schwer“ auf die thematisierte Schwierigkeit PAs, die in der Therapie gemachten Fortschritte nicht dem anderen Aktanten, sondern sich selbst zuzuschreiben. Die betonten Zeig- und Nennfeldausdrücke transportieren das entscheidenden Wissen bzw. ‚erzählen die ganze Geschichte‘: PA macht ihr Wohlbefinden von TH („mir“) abhängig und tut sich „schwer“ damit, sich „selber“ für die Besserung ihres („mein“) Zustands verantwortlich zu machen. Die expeditiven intonatorischen Prozeduren heben die entscheidenden propositionalen Elemente aus dem Redefluss heraus, greifen in die Hörermitkonstruktion ein und sorgen so für ein erleichtertes Verständnis dieser vorbereitenden Passagen der Deutung.

8.2.1.2 Funktion der „Vorbereitung“ Die Funktion dieser einleitenden Passagen im Gesamt der Deutung lässt sich anhand der herausgearbeiteten formalen Charakteristika bereits erkennen: Es geht um das Aufrufen des deutungsrelevanten Wissens bei PA. Zur Vorbereitung der Deutung bringt der Therapeut das Thema der Deutung auf und formuliert bereits einen Teil des Wissens, das die Deutung ausmacht. Der Aspekt der Abhängigkeit von Therapie und Therapeut ist bereits formuliert, in der eigentlichen „Verbalisierung“ der Deutung (ab s007) werden dann die Gefahr, die von

5 „mein“ fokussiert als Teil der vorgestellten Rede, die PA in s002 in den Mund gelegt wird, nicht auf den Sprecher TH, sondern auf die Patientin.

204 | Die Handlungsstruktur des tiefenpsychologischen ›Deutens‹ dieser Abhängigkeit ausgeht, sowie der Aspekt der Wiederholung von Abhängigkeit betont. Die Patientin wird an dieser Stelle auf die Deutung ‚eingestimmt‘, sie wird dazu gebracht, Wissenselemente aus dem thematischen Umfeld der späteren Deutung zu vergegenwärtigen. Ähnlich zeigt auch Schramm (im Kontext des Leseverstehens), dass durch erstmalige Nennung des Themas „umgebende Wissenselemente“ (2001: 225) aufgerufen werden. Die Verbalisierung des Themas eines längeren Abschnitts „soll […] einen relevanten Wissensbereich aktualisieren“ (ebd.), was für die Verarbeitung des anschließend verbalisierten neuen Wissens funktional ist (a. a. O.: 225ff). Auf dem Ansprechen des thematischen Wissens setzt auch in diesem Beispiel die eigentliche Deutung auf (s. u. Kap. 8.2.3). Eine weitere Funktion der „Vorbereitung“ besteht darin, dass sie dem Therapeuten Einblick in die mentale Bearbeitung des Deutungsthemas auf Seiten des Patienten gibt. Der Therapeut evoziert eine Reaktion auf dieses Thema und macht von dieser die weiteren Schritte abhängig – u. a. kann sich herausstellen, dass gar keine Notwendigkeit zum ›Deuten‹ vorliegt.6 Indem TH in diesem Beispiel in s003 nach PAs Gedanken zu diesem Thema fragt, versucht er, zusätzliches Wissen über das Thema zu generieren und zu erfahren, wie PA selbst mit diesem Problem umgeht. PAs Reaktion deutet darauf hin, dass sie einer mentalen Auseinandersetzung mit diesem Problem aus dem Weg geht. Dies lässt sich für TH als Hinweis auf die Notwendigkeit einer Deutung verstehen, weil dieses Wissen bei der Patientin sonst möglicherweise nicht bewusst werden könnte (tiefenpsychologisch wäre von ›Verdrängung‹ zu sprechen, die durch die Deutung überwunden werden soll).

8.2.2 „Verbalisierung“ TH:

/6/

• Hm̌˙

/7/

((3,6s)) Weil ((1,5s)) ich hatt es Ihnen…

/8/

‿Ich weiß nich, ob ich s Ihnen letzte Mal auch so dazu gesagt hab,((2s)) ähm ((4,5s)) des kann ja auch sehr hinderlich sein, sone Einstellung, nich?

/9/

• Für Sie.

6 Da dieses Kapitel die Handlungsstruktur der ›Deutung‹ zum Gegenstand hat, werden Fälle, in denen eine Intervention nicht durchgeführt wird, nicht untersucht. Sie treten z. B. dann ein, wenn der Patient sich mit dem Thema selbst bereits intensiver auseinandergesetzt hat, so dass die Deutung überflüssig wird. Die Reaktion auf die vorbereitenden Äußerungen kann aber auch in einer expliziten Ablehnung des Themas bestehen, was ebenfalls dazu führen kann, dass eine Deutung vorerst unterbleibt.

„des kann ja auch sehr hinderlich sein“ – Aufwerfen und Beantworten von Fragen | 205

PA:

/10/ Já˙

Auf PAs Verneinung seiner Frage reagiert TH mit einer konvergenten Höreräußerung, lässt einige Sekunden verstreichen und setzt dann mit „weil“ mit Hauptsatztopologie zu einer Begründung an („Weil ((1,5s)) ich hatt es Ihnen…“ (s007)). Exkurs zu „weil“ Laut Redder nimmt „weil“ auf die außersprachliche Wirklichkeit P Bezug und führt den nachfolgenden propositionalen Gehalt als P-basiertes „Grundlagenwissen“ ein (2004: 55; s. auch Redder 1990: 125ff). Die Variante „weil“ mit Hauptsatztopologie ermöglicht daneben auch den Bezug auf sprecherseitige π-Elemente und die illokutiv eigenständige Entfaltung einer Äußerung als Begründung oder Erläuterung (Redder 2004: 55f.). Im Vergleich zu „weil“ mit Nebensatztopologie wird außerdem ein „qualitativer Umschlag in der Wissensentfaltung“ (a. a. O.: 56) möglich, nämlich die Anführung von strukturell komplexerem Wissen, (zum Unterschied von „weil“ mit Haupt- und Nebensatztopologie s. auch Günthner 2008a). Im Anschluss an Redder zeigt Hohenstein (2006), dass „weil“ „zwei versprachlichte Ausschnitte der Wirklichkeit in ein Verhältnis der gleichzeitigen Erstreckung oder Überlappung“ (266) setzt. Dieses Verhältnis wird „standardmäßig ‚kausal‘ interpretiert“ (ebd.), also so, „als ob der eine aus dem anderen Wirklichkeitsausschnitt ontologisch hervorginge bzw. aus ihm zu folgern ist“ (ebd.). Thielmann zeichnet den Verlauf der Bedeutungsverschiebung von paraoperativem, „Synchronie“ (2009: 222) kennzeichnendem „weil“ zur heutigen Verwendung detailliert nach und zeigt, wie die ‚kausale‘ Interpretation entstanden ist (218ff). Thielmann betont für die gegenwärtige Verwendung von „weil“ den Aspekt der Entscheidungsrelevanz: „Durch ‚weil‘ kategorisiert der Sprecher den propositionalen Gehalt des Nebensatzes als ein Wissen, das für ihn im Hinblick auf die im Hauptsatz entweder thematisierte Handlung oder durch ihn vollzogene Sprechhandlung entscheidungsrelevant geworden ist“ (a. a. O.: 186). Dadurch wird die Sprechhandlung „in Einheit mit dem für sie relevant gewordenen Wissen“ (ebd.), das durch „weil“ „als Element ihrer mentalen Vorgeschichte“ (ebd.) kategorisiert wird, nachvollziehbar. Redder sieht den Punkt der von Thielmann betonten Entscheidungsrelevanz in der „gedanklichen, mentalen Durchstrukturierung der Wirklichkeit“ (2010b: 59).

Die hier mit „weil“ initiierte Begründung wird in s007 abgebrochen, noch bevor erkennbar wird, was begründet werden soll. An die Stelle einer Begründung tritt in s008 die erneute Formulierung eines Nichtwissens durch TH („‿Ich weiß nich, ob ich s Ihnen letzte Mal auch so dazu gesagt hab, ((2s)) ähm ((4,5s)) des kann ja auch sehr hinderlich sein, sone Einstellung, nich?“). TH konstatiert in s008 ein Nichtwissen darüber, ob er der Patientin „s“ gesagt hat. Vor der Ausformulierung dieses kataphorischen „s“ macht TH zwei Pausen von insgesamt 6,5 Sekunden, lässt die Patientin auf das entscheidende Wissen also warten. Er nimmt dann mit „des“ ein zuvor formuliertes Wissen wieder auf und spricht davon, dass „des“ auch „sehr hinderlich“ sein könne. Dann schiebt er die Nominalphrase „so ne Einstellung“ nach, die die Deixis „des“ erläutert. Anzuneh-

206 | Die Handlungsstruktur des tiefenpsychologischen ›Deutens‹ men ist, dass „so ne Einstellung“ das in der „Vorbereitung“ (s002) formulierte Wissen über die emotionale Abhängigkeit der Patientin von der Therapie und über ihre Schwierigkeiten, ihre Gefühle zu akzeptieren, aufgreift. Dabei sind die konkreten Bezugselemente der beiden Anadeixeis „des“ und „so“ an dieser Stelle nicht eindeutig zu identifizieren, außerdem sind, wie anhand der gestoppten Gesprächspausen zu erkennen, zwischen s002 und s008 mindestens zwölf Sekunden vergangen, so dass die Äußerung bereits aufgrund der unklaren deiktischen Verweise einen ‚rätselhaften‘, erläuterungsbedürftigen Charakter erhält. TH beendet die Äußerung mit dem Sprechhandlungsaugment „nich?“, mit dem er eine Reaktion der Patientin anfordert. Diese erfolgt nach einer weiteren Äußerung des Therapeuten in s010 mit „Já“. Nachdem TH zunächst mit der Ergänzung „so ne Einstellung“ auf eine Vereindeutung der ersten vollständigen Deutungsäußerung hingewirkt hatte, schiebt er in s009 ein weiteres erläuterndes Element nach. „Für Sie“ (s009) macht PA klar, für wen die fragliche, deiktisch refokussierte „Einstellung“ „sehr hinderlich“ sein kann. Die Betonung der Hörerdeixis hebt den Ausdruck aus dem Redestrom heraus und macht die Hörerin auf die Relevanz dieser Fokussierung, wonach es bei dem warnenden Hinweis in s008 eben um die Belange der Hörerin geht, aufmerksam.

8.2.2.1 Das ‚Rätselhafte‘ des ›Deutens‹ Die erste vollständige Äußerung der Deutung hat den Charakter einer Warnung: PA wird darauf aufmerksam gemacht, dass „des […] sehr hinderlich“ (s008) sein kann. Nach Rehbein (1977: 325ff) kann eine „Warnung“ als Hinweis von S an H auf negativ bewertete Folgehandlungen bzw. Folgeereignisse verstanden werden, die sich für S aus dem Handlungsprozess von H ergeben. Die „Warnung“ sorgt bei H für einen „Fokusschwenk“ (a. a. O.: 330), so dass H die negativen Folgeereignisse erkennt. Das funktioniert allerdings nur, wenn H bereits über Vorwissen zum Zusammenhang zwischen der eigenen Handlung und möglichen negativen Folgen verfügt (a. a. O.: 329).7 Beim Vergleich mit Rehbeins Analyse fällt auf, dass es sich bei der vorliegenden Warnung um eine an die Konstellation der Psychotherapie adaptierte Form des „Warnens“ handelt. So kommt es an dieser Stelle nicht zu einer Sistie-

7 Um dieses Verhältnis zu illustrieren, weist Rehbein darauf hin, dass „ein Kind die Warnung vor dem Feuer nicht versteht, bevor es nicht selbst ‚die Erfahrung gemacht hat‘, d. h. nicht die Verkoppelung zwischen einer bestimmten Handlung einer negativ bewerteten Folgehandlung (-ereignis) erfahren und in sein Wissen übernommen hat“ (1977: 329).

„des kann ja auch sehr hinderlich sein“ – Aufwerfen und Beantworten von Fragen | 207

rung des sprecherseitigen Handlungsprozesses (s. a. a. O.: 328), weil das Handeln des Therapeuten ohnehin auf die Bedürfnisse des Patienten ausgerichtet ist (vgl. u. Kap. 9.2). Bei der von TH in s008 verbalisierten Warnung fehlen außerdem einige Aspekte, die „Warnungen“ an sich auszeichnen. Die Hörerin wird lediglich global auf die Existenz einer Gefahr hingewiesen, die Gefahr jedoch nicht benannt. Auch die Konsequenzen, die sich für die Patientin ergeben könnten, werden nicht benannt. Noch nicht einmal der Adressat der Warnung wird in s008 deutlich gemacht und muss in s009 eigens nachgeschoben werden. Das auslösende Verhalten PAs, durch das die Gefahr entsteht, wird mit „so“ und „des“ lediglich undeutlich fokussiert, so dass nicht klar ist, ob PA das relevante Wissen an dieser Stelle aktualisieren kann. Da also Adressat, mögliche Konsequenzen und auslösendes Verhalten nicht verbalisiert werden, die drohende Gefahr auch nicht benannt wird, ist s008 als eine stark reduzierte Variante einer „Warnung“ zu bezeichnen. Die mentalen hörerseitigen Folgen dieses stark verknappten Hinweises auf eine Gefahr bestehen zum einen darin, dass die Aufmerksamkeit der Patientin geweckt wird. Eine „Warnung“ zieht, wie beschrieben, einen „Fokusschwenk“ des Hörers auf das zu erwartende negative Folgeereignis nach sich. Da dieses in s008 allerdings nicht benannt wird, geht PAs Schwenk an dieser Stelle ins Leere. PA weiß nicht, worin die Gefahr besteht, kann aber, u. a. aufgrund der konstant bleibenden Äußerungsendintonation von s008, davon ausgehen, dass sich TH in der Folge weiter dazu äußern wird. Die erste Äußerung der Deutung weist PA also auf eine Gefahr hin und ruft damit ein bestimmtes Nicht-Wissen auf, das die Natur der Gefahr, den Adressaten der Warnung, das auslösende Verhalten und die drohenden Folgen betrifft. Dieses bestimmte Nicht-Wissen führt zum Entstehen einer Reihe von Fragen auf der Seite der Patientin über die nicht-verbalisierten Aspekte der Warnung. Das Aufwerfen von Fragen wiederum führt zu einer Suche nach Wissenselementen, die Antworten liefern können (vgl. Ehlich 1990). Diese Suche kann mental ausgeführt oder mit dem Handlungsmuster des Fragens an einen anderen Aktanten delegiert werden. PA stellt während der Deutung keine Fragen, die Suche nach Antworten wird nicht interaktiv, sondern mental prozessiert. Die verknappte „Warnung“ in der ersten Äußerung der Deutung führt also zu einer mentalen Suche der Patientin nach einer ihr drohenden Gefahr, nach den Entstehungsbedingungen und Ursachen der Gefahr sowie nach Möglichkeiten, der Gefahr zu begegnen. Dieses Aufwerfen von Fragen in einer initialen Äußerung der ›Deutung‹ wäre nach Peräkylä und Vehviläinen als „puzzle“ (Vehviläinen 2003: 589) oder „enigma“ (ebd.) zu bezeichnen (s. o. Kap. 2.3.6.2). Wie beschrieben betont Veh-

208 | Die Handlungsstruktur des tiefenpsychologischen ›Deutens‹ viläinen die Bedeutung des „case building“ (a. a. O.: 597), mit dem die ›Deutung‹ vorbereitet wird.8 Das „case building“ gipfelt nach Vehviläinen in der Konstruktion eines Rätsels, das die Handlungen oder Erlebnisse des Patienten als widersprüchlich oder außergewöhnlich darstellt und die ›Deutung‹ motiviert. Mit der eigentlichen ›Deutung‹ werde das Rätsel dann gelöst. Anhand von s008 ist die Frage nach dem Wert der Rätsel-Metapher für die Analyse des ›Deutens‹ zu stellen. Indem TH an dieser Stelle ein bestimmtes Wissenselement – eben dass „so ne Einstellung“ „sehr hinderlich“ sein kann – verbalisiert, wirft er eine Reihe von Fragen nach weiteren, (noch) nicht verbalisierten Wissenselementen auf, die das verbalisierte Element verstehbar machen. Die erste Deutungsäußerung ist isoliert nicht zu verstehen, sie baut Spannung und Erwartung weiterer, erläuternder9 Äußerungen auf. Der Therapeut stellt so Aufmerksamkeit und mentale Mitarbeit der Hörerin sicher (vgl. Hoffmanns (2006) Analyse der Wirkung von „rätselhaften“ (106), weil verknappten, Schlagzeilen). Dieses Herstellen von Mitarbeit und Aufmerksamkeit gelingt, anders als von Peräkylä und Vehviläinen postuliert, allerdings nicht, indem Empfindungen oder Verhalten der Patientin als rätselhaft behandelt werden, sondern durch die spezifische Wissensentfaltung der Deutung. Diese Wissensentfaltung geschieht in B5 so, dass zunächst ein Wissenselement verbalisiert wird und die anderen Elemente, die dieses erste Wissenselement verstehbar machen, erst in den folgenden Äußerungen prozessiert werden. Die anschließend formulierten Wissenselemente beantworten die mit der ersten Äußerung aufgeworfenen Fragen nämlich eine nach der anderen (s. auch u. S. 212ff): Zunächst wird deutlich gemacht, für wen die Warnung gilt (s009), dann, welche Folgen drohen (s011), und schließlich, wie die Gefahr benannt bzw. kategorisiert werden kann (s012, s013). Ein Ensemble von Wissenselementen, das an sich auch in einer Äußerung prozessiert werden könnte10, wird über fünf Äußerungen schrittweise entwickelt. Dabei steht mit dem allgemeinen Hinweis

8 Im Unterschied zum „puzzle“ zeigen sich die „extensions“ (Vehviläinen 2003: 581), „formulations“ (a. a. O.: 584) und „confrontations“ (a. a. O.: 587), die laut Vehviläinen die vorbereitenden Elemente dieses „case building“ bilden, in dem vorliegenden Beispiel allerdings nicht. Diese Abweichungen sind Effekte der oberflächenorientierten Vorgehensweise von Vehviläinen und Peräkylä, die anfällig für leiche Veränderungen der konstellativen Ausgangsbedingungen sprachlicher Handlungen ist. 9 Der Ausdruck „erläutern“ wird hier unterminologisch benutzt. Eine kontrastive Diskussion des Verhälnisses von tiefenpsychologischem ›Deuten‹ und „Erläutern“ erfolgt auf S. 217f.. 10 Eine solche Äußerung könnte z. B. lauten: „Es besteht die Gefahr, dass Sie in der therapeutischen Beziehung zu mir eine neue Abhängigkeit schaffen und es Ihnen daher nach Beendigung der Therapie wieder schlecht geht.“

„des kann ja auch sehr hinderlich sein“ – Aufwerfen und Beantworten von Fragen | 209

auf eine Gefahr genau das Wissenselement am Anfang, das die Aufmerksamkeit der Hörerin am stärksten fesselt; am Ende der Deutung, in der letzten Nominalphrase, wird mit der Benennung der Gefahr als „neue Abhängigkeit“ dann das entscheidende Wissenselement, quasi des ‚Rätsels Lösung‘, prozessiert. Damit wird, ebenfalls im Unterschied zu Peräkylä und Vehviläinen, auch die Funktion einer solchen rätselhaften Äußerung erkennbar. Zum einen sorgt sie für Aufmerksamkeit für die folgenden Äußerungen des Therapeuten. Zum anderen wird die Patientin zur eigenständigen Suche nach dem bestimmten Nicht-Gewussten, das durch die entstehenden Fragen als solches erkennbar wird, angeregt. Diese Suche nach einem Wissen, das bei der Patientin aus tiefenpsychologischer Sicht unbewusst ja vorliegt (s. o. Kap. 2.3.6, 5.2), kann zur Identifikation und Bewusstmachung von Wissen führen und damit wesentlich zur angestrebten Umstrukturierung ihres mentalen Bereichs beitragen. Die Metapher des ‚Rätsels‘ macht also auf bestimmte, beim ›Deuten‹ durchaus zu beobachtende Prozesse aufmerksam. Allerdings erfasst sie nicht das Wesen des ›Deutens‹, weil sie allein aus Sprecherperspektive entwickelt ist und nicht erfasst, welche mentalen Prozesse beim Hörer ausgelöst werden. Auch hinsichtlich weiterer Aspekte, wie etwa der Reaktion auf das Rätsel, lässt sich das ›Deuten‹ nicht mit dem Muster des „Rätselratens“ (Ehlich & Rehbein 1986: 30ff) in Verbindung bringen. Es werden keine Lösungsversuche verbalisiert, der Rätselgeber wird nicht zur Auflösung des Rätels aufgefordert (a .a. O.: 33), auch der Zweck besteht nicht lediglich im Übertritt von der Gruppe der Nichtwissenden zur Gruppe der Wissenden (a. a. O.: 34f.). Zentral sind darüber hinaus die Unterschiede, die sich im Vergleich zu den Ausführungen von Peräkylä und Vehviläinen hinsichtlich der Konstruktion des ‚Rätselhaften‘ zeigen. Rätselhaft ist weniger das deutende Wissen an sich als die kommunikative Entfaltung dieses Wissens im Zuge der Verbalisierung der ›Deutung‹. Die Analyse stellt daher auch im Folgenden weniger auf das Konzept des „Rätsels“ als auf die formale und funktionale Prägung der deutenden Äußerungen und auf ihre Wirkung beim Patienten ab. Neben dem ‚Rätsel‘ wurde das tiefenpsychologische ›Deuten‹ in der linguistischen Literatur bisher auch als eine „Antwort auf eine nicht-gestellte Frage“ beschrieben (Flader & Grodzicki 1982a, 1987, Ehlich 1990; s. o. Kap. 2.3.6.1). Auch zu diesem Konzept finden sich Anklänge in den vorliegenden Daten. s008 ließe sich durchaus auch als eine Antwort auf eine nicht-gestellte Frage beschreiben – es handelt sich schließlich um einen für die Patientin überraschenden, unangekündigten Hinweis auf eine Gefahr, die sie zuvor nicht gesehen hatte. Eine Frage der Patientin geht dieser Äußerung nicht voraus, das bestimmte Nicht-Gewusste liegt ihr demnach vor der Verbalisierung der Deutung nicht vor.

210 | Die Handlungsstruktur des tiefenpsychologischen ›Deutens‹ Wenn im Unterschied zu Flader & Grodzicki allerdings nicht von einer Antwort auf eine nicht-gestellte Fragey, sondern vom initialen Aufwerfen und schrittweisen Beantworten von Fragen gesprochen wird, so geht dies m. E. auch auf die unterschiedliche Datengrundlage zurück. Die hier vorliegende Deutung realisiert sich nicht wie bei Flader & Grodzicki (1982a: 165f.; s. o. S. 66) in einem einzigen Satz des Therapeuten, sondern in einer komplexen Kombination von Äußerungen, die funktional aufeinander aufbauen und auf die mentalen Prozesse der Patientin je spezifisch zugreifen. Auch ansonsten findet sich in dem mir vorliegenden Korpus sowie in den öffentlich zugänglichen Daten von Peräkylä und Vehviläinen kein einziger Fall einer Ein-Satz-Deutung. Da ansonsten keine linguistisch transkribierten Deutungen vorliegen, lässt sich ein solches Phänomen sprachwissenschaftlich also nicht nachweisen. Gleichwohl ist es in der psychoanalytischen Diskussion seit Freud gängig, Deutungen auf diese Weise wiederzugeben. Die von Flader & Grodzicki (1982a: 165f.) zugrundegelegte Deutung sei noch einmal dargestellt (ausführlicher o. S. 66f.): „Sie kündigen mir Unheil an und wollen mir Angst machen, wie es die Mutter mit Ihnen machte, wenn sie schwieg.“

Ein weiteres typisches Beispiel für die Darstellung von Deutungen in der psychoanalytischen Diskussion stammt von Wolfgang Mertens (1990: 103): „Wenn Sie mir Ihre Wünsche mitteilen, von mir als anziehende Frau gesehen werden zu wollen, haben Sie die Befürchtung, dass ich Sie genauso beschämend zurückweisen könnte, wie Sie dies oft von Ihrem Vater erlebt haben“.

Auch wenn diese Ein-Satz-Deutungen noch umschreibend kontextualisiert werden, lässt sich auf einer solchen Materialbasis zwar die in der Psychoanalyse interessierende psychische Wirkungsbeziehung erkennen. Es lässt sich jedoch kaum nachvollziehen, in welcher Konstellation die Deutung realisiert, wie sie vorbereitet und verarbeitet wird, wie das fragliche Wissen also konkret an den Mann oder die Frau gebracht wird. Zudem ist der Patient in diesen Beispielen als Akteur ausgeblendet, er kommt so gut wie nie selbst zu Wort. Letztlich ist in Zweifel zu ziehen, ob diese Deutungen exakt in der angegebenen Weise geäußert wurden, oder ob es sich nicht vielmehr um Rekonstruktionen anhand von Gedächntisprotokollen oder Notizen der Therapeuten handelt, bei denen aus linguistischer Perspektive entscheidende Details der sprachlichen Realisierung verloren gehen. Von einer solchen Datenbasis aus kann eine ›Deutung‹ durchaus wie eine Antwort auf eine nicht-gestellte Frage erscheinen, da alles, was der ›Deutung‹ vorausliegt, analytisch schlichtweg nicht zugänglich ist.

„des kann ja auch sehr hinderlich sein“ – Aufwerfen und Beantworten von Fragen | 211

Anders ist dies nicht nur in den hier zugrundegelegten Daten und in dem Material von Peräkylä und Vehviläinen, sondern auch in der Darstellung einer Deutung bei dem Psychoanalytiker Guido Medri (1983: 160). Diese basiert zwar ebenfalls nicht auf authentisch repräsentiertem Material, lässt aber doch die Einbettung der Deutung in den gesamten Therapieverlauf erkennbar werden: „Nach etwa zehn Sitzungen hatten sich die Seitenverhältnisse in der Beziehung umgekehrt: sie [die Patientin, C.S.] war es, die mit Überheblichkeit alle meine Mängel analysierte. Nach einigen Sitzungen war es klar, daß die Patientin davon phantasierte, die Analyse sei zu Ende, und sie wollte trotz meiner Deutungsversuche gehen. Da begann ich, sie mit ‚Frau Professor‘ zu begrüßen. Drei Sitzungen später forderte sie, perplex und daher wütend, eine Erklärung. Ich fragte sie, warum sie überhaupt frage: sei sie nicht Frau Professor und ich ihr unfähiger Schüler.“ (Medri 1983: 160)

Im Unterschied zu Mertens, Flader & Grodzicki und dem Gros psychoanalytischer Deutungsliteratur wird erkennbar, wie sich die Deutung und das ihr zugrundeliegende Wissen über mehrere Sitzungen hinweg entwickeln. Damit wird auch das Aufwerfen von Fragen, von dem die Deutung ausgeht, analytisch rekonstruierbar: die Patientin ist durch die Anrede als Professorin verwirrt und wird so schließlich dazu gebracht, ihre Fragen nicht nur mental, sondern auch interaktiv zu bearbeiten. Diese Prozesse können hier erkannt werden, weil Medri die Deutung umfänglich einbettet und auf mehrere Sitzungen rückbezieht. Da die anderen Beispiele diese Einbettung nicht liefern, ist bei ihnen auch nicht erkennbar, wo die Deutung ihren Ursprung hat. Es ist daher davon auszugehen, dass das Material von Flader & Grodzicki, Mertens und anderen gewissermaßen ‚zu spät‘ einsetzt, dass also bestimmte Handlungen, die die Deutung in Gang setzen, nicht repräsentiert sind. Zu kritisieren ist also weniger die Analyse von Flader & Grodzicki als das unvollständige Material, von dem ihre Analyse ausgeht. Das ›Deuten‹, so konnte gezeigt werden, nimmt seinen Ursprung in dem initialen Aufwerfen von Fragen durch den Therapeuten. Diese Fragen werden anschließend schrittweise abgearbeitet. Im Unterschied zur Metapher des Rätsels nach Peräkylä und Vehviläinen wird mit dem Aufwerfen von Fragen die Hörerperspektive akzentuiert, es wird, im Sinne der verfolgten Fragestellung nach der Heilung durch Sprache, auf die mentalen Prozesse des Patienten abgehoben. Im Unterschied zu Flader & Grodzicki werden außerdem vollständige Deutungspassagen inklusive Vor- und Nachgeschichte zugrundegelegt, so dass erkannt werden konnte, dass beim ›Deuten‹ nicht das Beantworten, sondern das Aufwerfen von Fragen eine entscheidende Rolle spielt. Dabei wird erkennbar, wie der Patient, als Hörer der ›Deutung‹, dazu angeregt wird, das eigene Wissen zu aktivieren, die ›Deutung‹ aktiv mitzuprozessieren und aus seinem

212 | Die Handlungsstruktur des tiefenpsychologischen ›Deutens‹ Wissen zu ergänzen. Wie dies auch durch die Wissensentfaltung im Zuge der „Verbalisierung“ der ›Deutung‹ sichergestellt wird, wird im Folgenden noch genauer analysiert.

8.2.2.2 Wissensentfaltung en détail TH:

/11/

Dass äh wenn Sie sagen: "Also des liegt jetzt nǔr • • an • dem Therapeuten da, dass dass es mir gut geht und äh • wenn ich da nich mehr hingeh, dann geht s mir wieder schlecht", oder so, kann ja auch gleich damit zusammenhängen̄.

/12/ ((4,2s)) Ähm ((2,1s)) dass das einfach noch mal so n Stück ((1,2s)) Wiederholung auch is, dieser • Abhängigkeit, ne? /13/ • • Oder ne neue Abhängigkeit, ne?

Nachdem in s009 der Adressat der warnenden initialen Deutungsäußerung sichergestellt worden ist („Für Sie“), reagiert PA in s010 mit einem bestätigenden „Já“, das Aufmerksamkeit und die Bereitschaft weiter zuzuhören zum Ausdruck bringt und den Sprecher zum Fortfahren animiert. Die nächsten beiden Äußerungen von TH beginnen mit dem Complementizer „dass“, der den propositionalen Gehalt der Äußerungen syntaktisch an die initiale Deutungsäußerung s008 ankoppelt („‿Ich weiß nich, ob ich s Ihnen letzte Mal auch so dazu gesagt hab,((2s)) ähm ((4,5s)) des kann ja auch sehr hinderlich sein, sone Einstellung, nich?“ (s008)). Damit zeigt sich eine bemerkenswerte Struktur der „Verbalisierung“ dieser Deutung: als syntaktisch eigenständige Äußerung wird lediglich s008 prozessiert. s009 („Für Sie“) und s013 („Oder ne neue Abhängigkeit, ne?“) sind jeweils Nachschübe zur vorangegangenen Äußerung und bestehen nur aus jeweils einer Nominal- bzw. Präpositionalphrase (bei s013 Konjunktion „Oder“ & NP), die anderen beiden s011 („Dass äh wenn Sie sagen: "Also des liegt jetzt nǔr • • an • dem Therapeuten da, dass […]“) und s012 („dass das einfach noch mal so n Stück ((1,2s)) Wiederholung auch is, dieser • Abhängigkeit, ne?“) werden als subjungierte p-Konstruktionen der Matrix s008 untergeordnet.11 Diese Unterordnung zeigt sich auch in der

11 Im Transkript wie in der Analyse wird s009-s013 trotz mangelnder syntaktischer Eigenständigkeit der Status von „Äußerungen“ zugeschrieben (zum zugrundegelegten Äußerungskonzept s. Rehbein 1995a). Dies geschieht zum einen aufgrund der deutlichen intonatorischen Zäsurierung, die auf eine mentale Separierung auf Sprecherseite hindeutet. Zum anderen wird in der Analyse deutlich, dass jede Äußerung einen eigenständigen diskursiven Beitrag liefert. s008 kommt mit dem fragenden Sprechhandlungsaugment zu einem Abschluss, s009, s011,

„des kann ja auch sehr hinderlich sein“ – Aufwerfen und Beantworten von Fragen | 213

Wissensvermittlung. Die Äußerungen s009-s013 des Therapeuten füllen die mit s008 aufgemachten Wissenslücken und machen die Warnung damit verstehbar. Wie dies genau geschieht, zeigen die folgenden Ausführungen. s011 schließt mit „Dass äh wenn Sie sagen“ an s008 an. Es fällt die Doppelung der Subjunktoren „dass“ und „wenn“ auf, die intonatorisch nicht als Reparatur zu erkennen ist – es ist also davon auszugehen, dass die beiden Subjunktoren aufeinander operieren. Das zu formulierende Wissen wird zunächst mit „der elementaren subordinierenden Konjunktion ‚daß/dass‘“ (Redder 2010a: 35) im Diskurs verankert, die auf die deiktische Prozedur „das“ zurück geht (Ehlich 1992). „daß/dass“ leistet eine syntaktische (und diskursive) Subjunktion des nachfolgenden p unter das vorangegangene p und löst, wie alle Subjunktoren, eine topologische Inversion (V-letzt) aus, so dass der mit „dass“ eingeleiteten pKonstruktion keine eigenständige illokutive Qualität zukommt (Redder 1990). An dieser Stelle ist allerdings kein eindeutiger syntaktischer Bezug von „dass“ auszumachen, „dass“ arbeitet auf dem Diskurswissen, wonach eine nähere Bestimmung der rätselhaften Gefahr zu erwarten ist. Indem es zusätzlichen propositionalen Gehalt einführt und ihn von vorangegangenen Äußerungen abhängig macht, kann „dass“ eine solche nähere Bestimmung eines einmal eingeführten Wissens einleiten. Dies eben geschieht in s011 und s012, allerdings lässt sich aufgrund der mangelnden syntaktischen Verknüpfung der beiden mit „dass“ eingeleiteten Äußerungen s011 und s012 die illokutive Kraft dieser Äußerungen nur schwer bestimmen. Die p-Konstruktionen werden zwar mit „dass“ eingeleitet, aber syntaktisch nicht an eine übergeordnete Matrix, die laut Rehbein (2003) bei einer Matrixkonstruktion die Illokution realisiert, rückgebunden. Das in den p-Konstruktionen realisierte Wissen wird quasi ‚rein‘, nahezu ohne Handlungsqualität, formuliert, es kommt zu einer Dissoziation von Proposition (isolierte p-Konstruktion) und Illokution (Matrix). Im Unterschied zu Assertionen z. B. (vgl. Ehlich & Rehbein 1979b) wird der Hörer nicht angewiesen, das formulierte Wissen in sein eigenes Wissen zu integrieren. Inwiefern diese ‚reine Wissensformulierung‘ für das ›Deuten‹ funktional ist, ist zu klären.12 Mit „wenn“ wird die mit „dass“ global prozessierte Konnexion in s011 diskursiv enggeführt. „wenn“ führt den nachfolgenden propositionalen Gehalt als ein „bestimmtes Nicht-Gewusstes“ (Redder 1990: 265) ein, verankert ihn also im

s012 und s013 prozessieren dann je ein Wissenselement, das je eine der mit s008 aufgeworfenen Fragen beantwortet (s. die obige Analyse). 12 Formal ist damit eine Konstruktion realisiert, bei der die Bedeutung im Grunde nur noch durch den Komplementsatz realisiert wird, der Matrixsatz nahezu vollständig hinter dem syntaktisch abhängigen Komplemensatz verschwindet (zu dieser Diskussion s. z. B. Auer 1998, Günthner 2008b).

214 | Die Handlungsstruktur des tiefenpsychologischen ›Deutens‹ Wissensraum. TH nutzt „wenn“, um anzugeben, unter welchen Umständen die zuvor verbalisierte Warnung gültig wird („wenn Sie sagen: Also des liegt jetzt nǔr • • an • dem Therapeuten da, dass dass es mir gut geht“) und was die negativen Folgen sind, die PA drohen („und äh • wenn ich da nich mehr hingeh, dann geht s mir wieder schlecht“). Während „dass“ also die Verbindung zum zuvor prozessierten propositionalen Gehalt herstellt, gibt „wenn“ die Bedingung13 an, unter der der mit „dass“ angeschlossene propositionale Gehalt relevant wird. Mit „wenn“ wird die mit „dass“ wiederaufgenommene „Warnung“ auf konkret formulierte, mögliche Verhaltensweisen von PA bezogen, das Verhalten, das das negativ bewertete Folgeereignis nach sich zöge, wird eingeführt. „Dass“ konnektiert an dieser Stelle also retrozeptiv das zuvor verbalisierte Wissen über die „Warnung“ und der „wenn“-Satz gibt antizipativ an, unter welchen Umständen PAs „Einstellung“ tatsächlich „sehr hinderlich“ wäre. s011 bringt also Wissen über das gefährliche Verhalten PAs und über die Folgen, die ihr drohen, zum Ausdruck. Das bereits in der „Vorbereitung“ der Deutung formulierte Wissenselement, dass PA ihr Erleben vom Therapeuten abhängig macht, wird detailliert und mit dem Mittel der vorgestellten Rede, die TH nutzt, um aus der Perspektive der Patientin zu sprechen (vgl. o. S. 130), anschaulich ausgekleidet (s. auch Scarvaglieri 2013). Dabei wird mit „und äh • wenn ich da nich mehr hingeh, dann geht s mir wieder schlecht‘“ (s011) ein neues Wissenselement eingeführt, die zu erwartenden negativen Folgen des gefährlichen Verhaltens werden beschrieben. Diese bestehen darin, dass es der Patientin nach Beendigung der Therapie „wieder schlecht“ geht, dass die erreichten Verbesserungen ihres Erlebens also nicht erhalten bleiben und die Therapie insgesamt erfolglos bleibt. Die Deutung soll die Patientin auf diese Gefahr aufmerksam machen und es ihr ermöglichen, ihr Denken und Handeln auf diese Gefahr einzustellen und die Abhängigkeit von der Therapie zu verringern. Die Äußerung s011 schließt damit eine der Wissenslücken, die in s008 aufgemacht worden waren. Die Patientin kennt nun die drohenden Folgeereignisse. Auch ist durch die Reaktualisierung des zuvor nur in s002 formulierten Wissens über die Abhängigkeit von der Therapie klar, worin das gefährliche Verhalten PAs genau besteht. Die Reaktion der Patientin darauf besteht aus Schweigen. 4,2 Sekunden lang äußern sich weder Therapeut noch Patientin, dann sichert sich TH mit „Ähm“ (s012) die Sprecherrolle und setzt die Deutung

13 „Bedingung“ wird hier verstanden als der Moment, in dem das nach „wenn“ prozessierte Nicht-Gewusste Realität wird (und damit dafür sorgt, dass auch das vor „wenn“ formulierte Wissen Teil der Wirklichkeit wird).

„des kann ja auch sehr hinderlich sein“ – Aufwerfen und Beantworten von Fragen | 215

nach weiteren zwei Sekunden Pause fort. s011 wird von PA also nicht als Ende der Deutung angesehen, sie reagiert nicht, sondern wartet Äußerungen des Therapeuten ab. Dies wird zum einen wohl durch die gleich bleibende Intonation am Ende von s011 bewirkt, zum anderen dadurch, dass ein Teil der in s008 aufgeworfenen Fragen noch offen ist. Die PA drohende Gsefahr wird in s011 zwar hinsichtlich des auslösenden Verhaltens und der möglichen Folgen detailliert beschrieben, sie ist in ihrem Wesen aber immer noch nicht benannt. Diese Benennung wird in s012 und s013 geleistet. Auch s012 beginnt mit dem Complementizer „dass“ („dass das einfach noch mal so n Stück ((1,2s)) Wiederholung auch is, dieser • Abhängigkeit, ne?“). Wie in s011 stellt „dass“ die Verbindung zur Warnung vor der „sehr hinderlichen“ „Einstellung“ aus s008 her und macht eine nähere Bestimmung der Warnung möglich. Die Warnung wird mit dem letzten Symbolfeldausdruck dieser Äußerung, auf den nur noch das Sprechhandlungsaugment „ne“14 folgt, als Warnung vor „Abhängigkeit“ kategorial erfasst. Der entscheidende Symbolfeldausdruck wird also am Schluss der Äußerung realisiert. Dieser Effekt, der gemeinsam mit der erneuten Pause von 1,2 Sekunden dafür sorgt, dass die Aufmerksamkeit der Hörerin bis zum letzten Wort erhalten bleibt, wird bei dieser Äußerung mit Nebensatztopologie nur dadurch ermöglicht, dass die Nominalphrase „dieser Abhängigkeit“ aus dem Satzfeld heraus und nach rechts gestellt, also als nachgeschobene Ergänzung realisiert wird. Die Benennung der Gefahr erfolgt an einer aus der Nebensatztopologie herausgestellten Position, was der benennenden NP besonderes Gewicht und besondere Aufmerksamkeit verschafft. Ähnlich wirkt die Betonung des Symbolfeldausdrucks „Abhängigkeit“. Der benennende Symbolfeldausdruck wird also syntaktisch und intonatorisch hervorgehoben und die Aufmerksamkeit der Hörerin besonders auf den Akt der „Benennung“ ausgerichtet (vgl. die Analyse des „Benennens“ beim ›VEE‹, o. Kap. 7). Die „Abhängigkeit“ wird in s011 nicht nur als solche benannt, sondern auch als eine „Wiederholung“ von „Abhängigkeit“ bezeichnet. Diese „Benennung“ bringt gegenüber der ersten Verbalisierung des Wissens um Abhängigkeit zum Therapeuten in s002 einen neuen Aspekt ins Spiel. Demnach rekurriert PA in der Beziehung zu TH auf die gleichen Verhaltens- und Beziehungsmuster, die

14 Wie beim ›VEE‹ finden sich auch beim ›Deuten‹ viele nachgeschaltete Sprechhandlungsaugmente. Ihre Funktion ist analog zum ›VEE‹ zu analysieren: Sie fordern den Patienten zu einer eigenständigen Bewertung und mentalen und interaktionalen Auseinandersetzung mit dem zuvor formulierten Wissen auf und greifen damit aktivierend in den Handlungsprozess des Patienten ein (s. o. „Exkurs zu Sprechhandlungsaugmenten“). Indem sie eine Reaktion evozieren, ermöglichen sie darüber hinaus die Anpassung der ›Deutung‹ nach Maßgabe dieser Reaktion (s. u. Kap. 8.2.3).

216 | Die Handlungsstruktur des tiefenpsychologischen ›Deutens‹ auch ihre Beziehungen zu anderen wichtigen Personen kennzeichnen. Es handelt sich strukturell um das gleiche Verhalten, lediglich das Objekt, auf das dieses Verhalten ausgerichtet ist, ist ein anderes. Mit „Oder“ wird in s013 eine Alternative angeschlossen. Demnach handelt es sich bei der entstehenden Abhängigkeit nicht zwingend um die Wiederholung alter Abhängigkeiten, sondern möglicherweise um „ne neue Abhängigkeit“. Die Beziehung zum Therapeuten wird damit anders akzentuiert, die Gleichsetzung mit den zuvor thematisierten Formen von Abhängigkeit wird fallen gelassen. Die PA drohende Gefahr wird stattdessen als etwas Neues, das in der Form noch nicht vorhanden war, erfasst. TH verknüpft mittels „oder“ also zwei alternative Attribuierungen der Abhängigkeit und überlässt die Entscheidung darüber, welches der beiden alternativen Wissenselemente der Wirklichkeit entspricht, der Patientin (vgl. Redder (2007a: 511), wo „oder“ innerhalb von Äußerungen, die dem Einschätzen oder Entscheiden dienen, verortet wird). Während in p also keine Bewertung der Alternativen, ob neue oder wiederholende Abhängigkeit, vorgenommen wird, bleibt die grundsätzliche Warnung vor einer Abhängigkeit von der Therapie in Kraft. Mit dem Hinweis auf eine „neue Abhängigkeit“ endet die „Verbalisierung“ der Deutung. TH hat das deutende Wissen vollständig verbalisiert, er hat die Wissenslücken, die in s008 aufgedeckt worden waren, geschlossen. Die Gefahr einer Abhängigkeit von der Therapie ist als solche erfasst worden, die PA drohenden negativen Folgeereignisse sind beschrieben. Das Geschehen ist abstrahierend benannt worden, eine innere Systematik, nach der sich das Erleben der Patientin entwickelt, wird erkennbar. Damit sollte es PA nun möglich sein, ihre eigene Situation neu zu sehen. Sie wird in die Lage versetzt, ihr Verhalten als das Herstellen einer Abhängigkeit von der Therapie zu erkennen. Diese Erkenntnis soll es ihr ermöglichen, in den bisher weitgehend unbewusst ablaufenden Handlungsprozess korrigierend einzugreifen, so dass die Gefahr und die drohenden Folgeereignisse vermieden werden.

8.2.2.3 ›Deuten‹ und „Erläutern“ Die Entfaltung des Wissens beim ›Deuten‹ wurde oben (S. 208) mit dem „Erläutern“ in Verbindung gebracht. An dieser Stelle soll ein Vergleich beider Handlungsmuster für eine genauere Bestimmung der tiefenstrukturellen Charakteristik des ›Deutens‹ genutzt werden.15

15 Für eine Diskussion von „Deuten“ und „Erläutern“ in der Kunstkommunikation s. Hausendorf 2005.

„des kann ja auch sehr hinderlich sein“ – Aufwerfen und Beantworten von Fragen | 217

Das „Erläutern“ wurde handlungstheoretisch insbesondere von Kristin Bührig (1996: 175ff) untersucht. Bührig zufolge ist der Zweck des „Erläuterns“ das „nachträgliche[s] Einbringen von Wissen in den Diskurs, das für den hörerseitigen Vollzug der Bezugshandlung notwendig ist“ (a. a. O.: 176). Das dabei eingebrachte Wissen „zerlegt ein komplexeres, in der Bezugsäußerung verbalisiertes Wissen in einzelne Elemente, die für die Veränderung der aktuellen Handlungskonstellation relevant sind“ (a. a. O.: 186). So wird die ärztliche Anweisung, Milchprodukte zu vermeiden, mit „keine Milch, kein Quark, kein Joghurt“ (a. a. O.: 178) erläutert, das mit „Milchprodukte“ aufgerufene Wissen also in einzelne Wissenselemente zerlegt. Dieses Zerlegen von Wissen ermöglicht dem Hörer die Übernahme der „Nachgeschichte einer vorausgegangenen sprachlichen Handlung“ (a. a. O.: 186) und stellt somit „eine Brücke zwischen dem in der Bezugsäußerung verbalisierten Wissen und dem П-Bereich des Hörers dar“ (ebd.). Indem die Nachgeschichte einer sprachlichen Handlung vom Hörer übernommen werden kann, ermöglicht das „Erläutern“ die Vorbereitung einer Entscheidung des Hörers (a. a. O.: 177), im konkreten Fall etwa die Entscheidung, keine Milchprodukte zu sich zu nehmen. Mit Blick auf das ›Deuten‹ fällt zunächst die Rückbezüglichkeit des „Erläuterns“ auf. So wie die initiale Äußerung der „Verbalisierung“ durch das Einbringen zusätzlicher Wissenselemente verstehbar gemacht wird, bezieht sich auch das „Erläutern“ auf eine vorausgegangene sprachliche Handlung, deren Nachgeschichte vom Hörer noch nicht übernommen worden ist. Vergleichbar mit den von Bührig untersuchten Fällen des „Erläuterns“ ist außerdem der Bezug auf zuvor formulierte Symbolfeldausdrücke (a. a. O.: 187). Dieser findet sich auch im vorliegenden Transkript, in dem die Äußerungen s010-s013 zusätzliches Wissen über die „sehr hinderliche“ „Einstellung“ einbringen. Ein wesentlicher Unterschied zwischen der „Verbalisierung“ der ›Deutung‹ und dem „Erläutern“ liegt allerdings in der Wissensentfaltung. Beim ›Deuten‹ wird zunächst nur ein kleiner, wenn auch sehr wichtiger Teil des fraglichen Wissens verbalisiert. Dieses Wissenselement wird dann durch das eingebrachte zusätzliche Wissen nicht etwa, wie beim „Erläutern“, zerlegt, sondern ergänzt. Beim „Erläutern“ ist das benötigte Wissen an sich schon verbalisiert worden, es ist im Diskurs bereits vorhanden, kann vom Hörer jedoch nicht so, wie für die Anschlusshandlung nötig, verarbeitet werden. Beim ›Deuten‹ dagegen werden wesentliche Elemente des Wissens in der Ursprungsäußerung nicht verbalisiert, ein vollständiger Nachvollzug des deutenden Wissens ist aufgrund der ersten Äußerung für den Hörer nicht möglich (und vom Sprecher auch nicht angezielt). Aufgrund dieser grundsätzlich unterschiedlichen Bearbeitung des Hörerwissens ist die „Verbalisierung“ der ›Deutung‹ nicht als „Erläuterung“ zu be-

218 | Die Handlungsstruktur des tiefenpsychologischen ›Deutens‹ zeichnen. Es ist vielmehr von einer funktionalen und formalen Spezifik des psychoanalytischen und tiefenpsychologischen ›Deutens‹ auszugehen. Diese Spezifik wird im Folgenden anhand ihrer formalen Charakteristika weiter präpariert und mit den Eigenschaften der Diskursart „Psychotherapie“ in Verbindung gebracht.

8.2.2.4 Formale Charakteristika der „Verbalisierung“ Die Deutungsäußerungen zeichnen sich durch einige formale Charakteristika aus, die im Folgenden zusammenfassend dargestellt und auf ihre Funktion für das ›Deuten‹ hin überprüft werden. Im Anschluss an die Analyse des ›VEE‹ (o. Kap. 7) wird dabei Psychotherapie als akzentuiert hörerzentrierte Diskursart erkennbar (s. u. Kap. 9.2). Wie bei der „Vorbereitung“ (s. o. S. 202f.) wird auch bei der „Verbalisierung“ der Deutung immer wieder die Aspektdeixis „so“ benutzt. In der „Vorbereitung“ kommt sie sieben Mal, in der „Verbalisierung“ vier Mal vor. Die Wirkung ist an beiden Positionen jeweils ähnlich, „so“ fokussiert auf einen bestimmten Aspekt des verbalisierten Wissens, ohne diesen Aspekt zu benennen. Damit muss die aspektuelle Qualität des fraglichen Wissens durch den Hörer ergänzt werden. Wenn es in s012 zum Beispiel um „so n Stück ((1,2s)) Wiederholung“ von Abhängigkeit geht, dann bleibt die konkrete Ausgestaltung dieses „Stücks“ (im Unterschied z. B. zu einer Attribuierung mit „kleines“) der Vorstellung der Patientin überlassen. Durch die wiederholte Verwendung von „so“ wird das Wissen des Hörers aktiviert, das durch die Deutungsäußerungen beim Hörer aufgebaute Wissen speist sich nicht nur aus p, sondern in besonderem Maße auch aus ПH. Der Prozess des Abrufens und Aufbauens von Wissen aus dem Hörerwissen wird auch durch die geringe Sprechgeschwindigkeit des Therapeuten sowie durch die vielen Pausen unterstützt. Sie verzögern die Verbalisierung des Wissens, bauen so zum einen eine gewisse Spannung auf, lassen zum anderen Zeit zur Bewertung, Verarbeitung und ggf. Integration des bereits verbalisierten Wissens sowie zur Befragung des Hörerwissens auf Elemente, die das verbalisierte Wissen ergänzen oder korrigieren können. Damit sorgt auch diese am Äußerungsakt festgemachte Eigenschaft des ›Deutens‹, die in meinem Material bei allen Instanzen dieser sprachlichen Handlung zu beobachten ist und sich z. B. auch bei den finnischen Deutungen von Vehviläinen und Peräkylä (vgl.

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Vehviläinen 2003: 577) zeigt,16 für die aktive Beteiligung des Patienten beim ›Deuten‹. Auf die ‚freischwebenden‘, also syntaktisch nicht eingebundenen, pKonstruktionen (s011, s012) wurde bereits hingewiesen (o. S. 213f.). Die Tatsache, dass die „dass“-Sätze in s011 und s012 zwar, wie gezeigt, diskursiv von s008 abhängig sind, syntaktisch jedoch als p-Konstruktionen ohne übergeordnete Matrixkonstruktion prozessiert werden, sorgt für eine nahezu ‚reine‘ Verbalisierung von Wissen. Die Äußerungen realisieren, als Nebensätze bzw. Nachschübe (s009, s013), keinen eigenen illokutiven Akt (vgl. Redder 1990: 197ff), aufgrund der mangelnden Hauptsatzprädikation wird das formulierte Wissen nicht im Sprechzeitraum verankert. Diese Einordnung in die konstellativen Gegebenheiten muss also, da sie vom Sprecher nicht gemacht wird, vom Hörer vollzogen werden (vgl. u. S. 231 den Exkurs zum hörerseitigen Vollzug der Illokution). Eine ähnliche Beobachtung hat Schlobinski (1988) an Daten aus der Gesprächstherapie gemacht (s. o. S. 58f.). Er spricht von „nicht-eingebetteten-daßSätzen“ (a. a. O.: 40), die eine Proposition zwar formulieren, aber nicht bewerten. Diese Äußerungen sind Schlobinski zufolge „hinsichtlich Faktizität unspezifiziert“ (a. a. O.: 48) und ermöglichen es dem Patienten, die „Bewertung gegenüber der Proposition selbst vorzunehmen“ (ebd.). Der Patient ist somit gefordert, „Stellung zum fokussierten Teil zu beziehen“ (ebd.). Auch Schlobinski geht also davon aus, dass die genannten Konstruktionen eine besondere Form der Aktivierung des Hörers realisieren. Das Wissen wird vom Sprecher unbewertet formuliert, die Bewertung und Aneignung muss auf der Basis von eigenem, ggf. gerade erst bewusst werdendem Wissen durch den Hörer geschehen. Ähnlich funktionieren Formen des „partikularen sprachlichen Handelns“ (Redder 2003, 2006). Mit diesem Begriff erfasst Redder insbesondere Verkettungen von nicht-sententialen Partizipialkonstruktionen (z. B. „Wie gesagt, schlafen gegangen, das wahrgenommen und anschließend ins Bett gegangen, schlafen“ (Redder 2006: 124)), durch die „Konstellationsmomente […] außerhalb eines handlungsmäßigen Begreifens“ (a. a. O.: 134) aneinandergereiht werden. Neben solchen Partizipialkonstruktionen zählt Redder isolierte Präpositionalund Nominalkonstruktionen, Infinitivkonstruktionen sowie „einfache Kettenelemente“ (a. a. O.: 137), die nur aus jeweils einem Wort bestehen, zum partiku-

16 Diese Deutungen zeigen eine Reihe von formalen Charakteristika, die sich auch in meinem Material finden lassen. Eine Diskussion dieser und anderer Übereinstimmungen mit Beobachtungen aus der Forschung erfolgt in Kapitel 9.2.

220 | Die Handlungsstruktur des tiefenpsychologischen ›Deutens‹ laren sprachlichen Handeln (Günthner (2005, 2007) beschreibt ähnliche Phänomene als „Dichte Konstruktionen“).17 Formales Kennzeichnen ist die „epBnahe Formulierung“ (Redder 2006: 138),18 die sich als „minimale kommunikative Zurichtung“ (ebd.) der epB durch jeweils nur „eine operative Prozedur“ (ebd.) realisiert. Ganz offensichtlich fallen allerdings die beim ›Deuten‹ beobachteten pKonstruktionen ohne Matrix nicht unter das „partikalure sprachliche Handeln“, wie es Redder bestimmt hat. Sie sind mehrfach deiktisch und operativ zugerichtet, von einer „epB-nahen Formulierung“ kann nicht gesprochen werden. Gleichwohl zeigen diese Äußerungen mindestens ein wichtiges Merkmal, das sie mit dem „partikularen sprachlichen Handeln“ vergleichbar macht. Mit einem finiten Verb in Hauptsatzposition fehlt nämlich eine temporaldeiktische und personaldeiktische Verankerung der Äußerung in der Sprechsituation. Damit entfällt auch „eine Differenzierung von Handlungsräumen, ja vom Sprecher als Sprecher mit seinem Wissen relativ zum Hörer mit dessen Wissen“ (a. a. O.: 138), es kommt zu einer „Überblendung von Sprecher und Hörer“ (ebd.). Ein illokutiver Akt wird nicht realisiert (Redder 2003: 162, Redder 2006: 136). Die Konsequenz dieser Unbestimmtheit hinsichtlich wesentlicher Elemente der Handlungskonstellation ist, dass die Konnektierung der formulierten Einheiten an die übrigen sprachlichen Handlungen durch den Hörer weitgehend wissensbasiert geleistet werden muss. Die Verortung und Relationierung des verbalisierten Wissens ist Aufgabe des Hörers, sie wird in p nicht geleistet. Auch der Vergleich mit dem „partikularen sprachlichen Handeln“ zeigt mithin, dass die Formulierung der „Verbalisierung“ der ›Deutung‹ in besonderer Weise auf das Hörerwissen zugreift. So wird der „Effekt der hörerseitigen Partizipation“ (Redder 2003: 166) gesteigert, eine Bewertung wird, wie auch Schlobinski feststellt, nicht durch den Sprecher, sondern durch den Hörer ge-

17 Hoffmann hat eine „Reanalyse“ des „partikularen sprachlichen Handelns“ vorgelegt (2006: 94ff). Er erfasst die fraglichen Phänomene mithilfe des Konzepts der „Ellipse“ und damit aus einer eher satzzentrierten Perspektive, so dass seine Analyse von der konkreten Leistung dieser Konstruktionen im Verständigungshandeln zwischen Sprecher und Hörer teilweise abstrahiert. Wenn Hoffmann allerdings davon spricht, dass der „Bezugssachverhalt“ (a. a. O.: 97) der ‚elliptischen‘ Konstruktionen „aus dem Gesagten zu erschließen ist“ (ebd.), weist auch er auf die Basierung dieser Formulierungen auf dem Wissen des Hörers hin. 18 Mit der „elementaren propositionalen Basis“ (epB) erfasst Ehlich (1997) Ausdrucksmittel des Symbolfelds als reine, sozusagen ‚nackte‘, Symbolfeldausdrücke. An diesen ‚Wortstämmen von Inhaltswörtern‘ setzen operative und deiktische Prozeduren an und richten sie so für die Prozessierung im sprachlichen Handeln zu.

„des kann ja auch sehr hinderlich sein“ – Aufwerfen und Beantworten von Fragen | 221

leistet. Die sprachliche Form der „Verbalisierung“ der ›Deutung‹ gewährleistet die eigenständige Mitprozessierung, Verarbeitung und Aneignung – und ggf. auch die Ablehnung – des Wissens durch den Patienten. Wie beschrieben operieren die Äußerungen s009-s013 des Therapeuten diskursiv auf der initialen Deutungsäußerung s008. In dieser – wie auch in den anderen Deutungsäußerungen – kommen einige sprachliche Mittel zur Anwendung, die, wie beim ›VEE‹ (s. o. S. 159ff), für eine Abschwächung der assertiven illokutiven Kraft der Äußerung sorgen. So wird die Warnung in s008 mit dem Finitum „kann“ in der p-Konstruktion realisiert. Die initiale Äußerung, die die Deutung an sich in Gang setzt und die anderen Äußerungen erst möglich und nötig macht, wird damit im Wissensraum verankert, als Verbalisierung einer Möglichkeit. Bei s008 handelt es sich damit um die Verbalisierung eines NichtWissens (s. o. S. 206), ob TH PA auf die Möglichkeit eines Hindernisses hingewiesen hat. Der eigentliche propositionale Gehalt ist nicht nur doppelt eingebettet bzw. „angehoben“ (Rehbein 2003: 267), sondern bezeichnet auch lediglich eine Möglichkeit. Da sämtliche Folgeäußerungen der Deutung diskursiv von der mit „kann“ prozessierten p-Konstruktion abhängen, sind auch sie, und damit eben die gesamte Deutungspassage, als Aussagen über Mögliches, nicht über Wirkliches, zu verstehen. Jede einzelne Äußerung muss damit von der Patientin selbst hinsichtlich ihrer Übereinstimmung mit der Wirklichkeit bewertet werden. Das Phänomen, dass therapeutische Interventionen eher als „Vorschlag“ denn als Assertion realisiert werden, entspricht den Beobachtungen beim ›VEE‹ und wurde auch für das ›Deuten‹ schon vielfach beschrieben (etwa bei Gutwinski-Jeggle 1987, Ehlich 1990). Neuere Lehrbücher weisen Ausbildungskandidaten denn auch explizit darauf hin, dass eine ›Deutung‹ „als ein Angebot“ (Wöller u. a. 2009: 149; Hervorh. i. O.) verbalisiert werden soll, „das er [der Patient, C.S.] nutzen kann, wenn er mag“ (ebd.). Auch die explizite Empfehlung „Deutungen sollen als Vermutung oder in Frageform formuliert werden“ (a. a. O.: 150), weist auf das Wissen der Therapietheorie über die angemessene sprachliche Form von ›Deutungen‹ hin. Dieses Wissen wird auch in die empirisch überprüfbare Realität umgesetzt, das ›Deuten‹ wird im vorliegenden Material durchgängig vorschlagend realisiert.19 Die Funktion dieser formalen Prägung ist in der Zurichtung des Wissens auf den Zweck der Institution, der institutionsspezifischen Umstrukturierung des mentalen Bereichs des Patienten, zu sehen. Diese Umstrukturierung kann in der notwendigen Konsequenz

19 Beim ›VEE‹ dagegen ist nur in etwa der Hälfte der mir vorliegenden Fälle eine vorschlagende Realisierung festzustellen.

222 | Die Handlungsstruktur des tiefenpsychologischen ›Deutens‹ nur durch den Patienten selbst geschehen, daher wird das benötigte neue Wissen vom Therapeuten möglichst unbewertet in den Diskurs eingebracht. Dem Patienten fällt die Aufgabe zu, dieses Wissen zunächst probeweise aufzunehmen, mit seinem eigenen abzugleichen und es sich nach einem gelungenen Abgleich selbst anzueignen. Die therapeutische Kraft verbal orientierter Psychotherapie geht damit wesentlich vom Patienten selbst aus. Der Therapeut liefert ihm, metaphorisch gesprochen, Material und Werkzeug zur Umstrukturierung seines Wissens, der eigentliche Wissensumbau muss dann vom Patienten bewerkstelligt werden (vgl. u. Kap. 9.2). In Übereinstimmung mit den wesentlichen Ergebnissen der Analyse des ›VEE‹ zeigt sich auch beim ›Deuten‹ die strukturelle Ausrichtung des Diskurses auf den Hörer. Die sprachlichen Mittel dienen zuvorderst der interaktionalen und mentalen Involvierung und Aktivierung des Patienten. Das Wissen des Patienten wird als Ressource therapeutischer Veränderung erschlossen und mittels spezifischer sprachlicher Mittel zur Anwendung gebracht. Der tiefgreifende Eingriff in mentale Prozesse des Patienten mittels Sprache, auf den verbal orientierte Psychotherapie grundsätzlich abzweckt, führt zu den beschriebenen institutionsspezifischen Ausformungen sprachlicher Strukturen. Diese Ausformungen und ihre mentalen Auswirkungen lassen sich als „Hörerzentrierung“ des therapeutischen Diskurses erfassen (u. Kap. 9.2).

8.2.3 „Reaktion“ I PA:

/14/ ((2,1s)) Naja, abhängig als solches bin ich ja jetzt wieder auch mal von meiner

TH:

/15/ • • Hm̌˙

PA:

/16/ • Denn die gibt mir jetzt sehr viel — • • • ich will nich sagen Selbstbewusstsein

PA:

/17/ ((1,3s)) Sie baut mich sehr auf, indem sie überhaupt da is.

PA:

/18/ • • Also

TH:

/19/ Hm̌˙

PA:

/18/ • hm̀…

Freundin.

— aber • • doch sehr viel ähm…

Die „Hörerzentrierung“ des ›Deutens‹ zielt auf eine bestimmte mentale und interaktionale Reaktion des Patienten ab. Auf die hier untersuchte Deutung reagiert PA zunächst mit 2,1 Sekunden Nachdenken, dann formuliert sie in s014 eine Antwort „Naja, abhängig als solches bin ich ja jetzt wieder auch mal von meiner Freundin“. Die Ambivalenz dieser Reaktion manifestiert sich bereits in dem augmentierten biprozeduralen Ausdruck „Naja“. „naja“ findet sich (wie

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„na“) in den mir vorliegenden Belegen jeweils zu Beginn eines Sprecherbeitrags, dient also der Bearbeitung vorangegangener Handlungen des Hörers der aktuell prozessierten Äußerung. „naja“ besteht aus dem expeditiven „na“, von Ehlich als die „Interjektion der Aufhebung“ (1986b: 138) bezeichnet, und dem zustimmenden operativen Responsiv „ja“ (Hoffmann 2008). Der „transitorische Charakter“ (Ehlich 1986b: 137) von „na“ wurde bereits beschrieben (o. S. 139), die durch „na“ prozessierte „Aufhebung“ entsteht durch „Neutralisierung“ und „Konvertierung“ (a. a. O.: 137) des zuvor verbalisierten Wissens. Die vorangehende Sprechhandlung wird neutralisiert und die „Beschäftigung der Interaktanten mit dem Vorgängerelement zu ihrer Beschäftigung mit dem Folgeelement“ (ebd.) konvertiert. Bei „naja“ wird der transitorische Charakter von „na“ durch die Kombination mit „ja“, das Zustimmung mit der vorangegangenen Handlung des Gegenübers ausdrückt, gebremst. Im Vergleich zu „na“ macht „naja“ neben Neutralisierung und Konvertierung des vorangegangenen Elements also auch Zustimmung deutlich, die von Ehlich diagnostizierte Funktion des „Aufhebens“ geht bei „naja“ im Vergleich zu „na“ eher in Richtung Erhalten denn in Richtung Außer-Kraft-Setzen. Die Ambivalenz von „naja“ spiegelt die gesamte Reaktion PAs. Einerseits nimmt sie den zentralen Symbolfeldausdruck der Deutung auf und konzediert das Bestehen einer „Abhängigkeit“ zur Freundin. Das Thema Abhängigkeit bleibt also erhalten. Es wird allerdings auf ein anderes Objekt gewendet, die Gefahr der Abhängigkeit von TH, die das zentrale neue Wissenselement der Deutung war, wird nicht angesprochen. Dies ist auch in den anschließenden Äußerungen so, wenn PA in s016 den Versuch einer Begründung der Abhängigkeit von der Freundin initiiert („Denn die gibt mir jetzt sehr viel — • • • ich will nich sagen Selbstbewusstsein — aber • • doch sehr viel ähm…“) und ihn in s017 ausbaut („Sie baut mich sehr auf, indem sie überhaupt da is“). Auf den eigentlichen Punkt der Deutung, die Gefahr der sich anbahnenden Abhängigkeit von der Therapie, geht PA in ihrer Reaktion also an keiner Stelle ein. PA geht der Deutung quasi aus dem Weg, sie nimmt zu dem formulierten Wissen weder zustimmend noch ablehnend Stellung. Die Reaktion PAs ist an dieser Stelle als „Ausweichen“ zu charakterisieren. PA sorgt durch Aufnahme des Ausdrucks „Abhängigkeit“ lexikalisch für Kohärenz, gleichzeitig vermeidet sie eine kohärente Auseinandersetzung mit dem formulierten Deutungswissen. Von dieser Reaktion ausgehend ist die Deutung an dieser Stelle also nicht als erfolgreich zu bewerten, es ist keine Veränderung des mentalen Bereichs der Patientin zu erkennen. Eine solche ausweichende Reaktion wurde bereits von Peräkylä (2005: 171ff) beschrieben. Patienten können, so Peräkylä, einen bestimmten Teil der Deutung auswählen und damit scheinbar beim Thema bleiben, gleichzeitig aber

224 | Die Handlungsstruktur des tiefenpsychologischen ›Deutens‹ einen „topical shift“ (a. a. O.: 171) von „self to other“ vollziehen. In der Reaktion geht es dann z. B. nicht mehr um die eigenen Gefühle, sondern um die Gefühle Anderer. Peräkylä geht von zwei grundsätzlich unterschiedlichen Formen aus, wie Therapeuten eine solche ausweichende Reaktion aufnehmen können: sie können entweder die ›Deutung‹ so erweitern, dass es für den Patienten immer leichter wird zuzustimmen (diese Möglichkeit wird in Peräkylä 2005 (173f.) beschrieben), oder sie können einen Perspektivwechsel anregen und den Patienten darauf hinweisen, dass die ›Deutung‹ noch zusätzliche Wissenselemente enthält und dabei insbesondere die Intensität der emotionalen Aspekte hochstufen (so beschrieben in Peräkylä 2010, 2011). Die erste Möglichkeit läuft auf eine Aufgabe der ›Deutung‹ hinaus, die zweite Möglichkeit auf ein Aufrechterhalten bzw. Zuspitzen der ›Deutung‹. Wie die Analyse der folgenden Äußerungen des Therapeuten zeigt, lässt sich der Zusammenhang zwischen „Verbalisierung“, „Reaktion“ und „Nachbearbeitung“ – wie die Reaktion des Therapeuten auf die „Reaktion“ im Folgenden bezeichnet wird – allerdings noch genauer fassen, wenn die Relation der jeweils bearbeiteten Wissenselemente berücksichtigt wird. Demnach nutzen die Therapeuten die „Reaktion“ des Patienten, um zu verstehen, wie dieser mit der ›Deutung‹ umgehen kann und passen die ›Deutung‹ in der Position der „Nachbearbeitung“ entsprechend an.

8.2.4 „Nachbearbeitung“ I TH:

/20/ Nur könnten Sie s ja auch umdrehen, die ganze Geschićhte, und sagen : ((1s)) „Äh • vielleicht • • geht das deswegen jetzt so gut mit der, • • weil • • ich selber vielleicht noch n bisschen anders bin“.

TH begleitet PAs Reaktion mit durchweg konvergenten Höreräußerungen in s015 und s019. Die schon von Flader & Koerfer (1983) sowie Wrobel (1985: 167f.) gemachte Beobachtung, dass Therapeuten nahezu ausschließlich konvergente Höreräußerungen produzieren, wird an meinem Material bestätigt. Eine einfache korpusanalytische Zählung ergibt, dass in dem mir vorliegenden nach HIAT transkribierten Korpus 94% der insgesamt 793 Höreräußerungen konvergent (nach Ehlich 1986b) realisiert werden, während dies in einem Vergleichskorpus aus alltäglicher und institutioneller nicht-therapeutischer Kommunikation (Breitspecher u.a. 2011, das Therapietranskript (Scarvaglieri 2011b) wurde nicht mit eingerechnet) nur für 44% der 248 „HMs“ gilt. Auch dies lässt sich als ein Merkmal einer akzentuiert „hörerzentrierten“ Diskursart verstehen: die Höreräußerungen des Therapeuten dienen weniger der Bewertung des formulier-

„des kann ja auch sehr hinderlich sein“ – Aufwerfen und Beantworten von Fragen | 225

ten Wissens als der emotionalen Unterstützung des Patienten sowie v. a. der Elizitierung weiteren Wissens (s. u. Kap. 9.2). Die Höreräußerungen sind damit auch Ausdruck des, neben den therapeutischen Interventionen, zweiten wesentlichen Wirkfaktors von Therapie, nämlich der ›Objektbeziehung‹ zum Therapeuten (Thomä & Kächele 2006a: 62ff). TH reagiert dann schließlich im Vorfeld von s020 mit einer Bearbeitung der Hörererwartungen durch „Nur“ (s. o. Exkurs zu „nur“). Der nachfolgende propositionale Gehalt wird durch „Nur“ als eine Auswahl aus dem, was nach dem zuvor prozessierten propositionalen Gehalt zu erwarten wäre, verarbeitet. s020 ist demnach als die Formulierung einer möglichen Lesart von PAs Erleben zu verstehen, andere Lesarten werden dethematisiert. Durch die Topikalisierung (Vorfeldstellung) von „nur“ wird die Selektion eines Wissenselementes diskursiv relifiert, das mit „nur“ angeführte Wissenselement wird der besonderen Aufmerksamkeit der Hörerin anheimgestellt.20 Mit „Nur“ wird das anschließend formulierte Wissen außerdem als ein Wissen prozessiert, das in dem zuvor formulierten Wissen bereits angelegt war. Im Unterschied etwa zu einem Anschluss mit „aber“ („Aber sie könnten s ja auch umdrehen, die ganze Geschichte, und sagen“) findet keine drastische Umlenkung der Erwartungen statt, das nachfolgende p wird lediglich als eine Einschränkung der Erwartungen verarbeitet. Dazu konvergent operieren die Ausdrücke „ja“ und „auch“ im Mittelfeld von s020, die p einerseits als etwas gemeinsam Gewusstes prozessieren („ja“), andererseits als Alternative („auch“), die ebenso wie das zuvor von PA Gesagte die Wirklichkeit beschreiben könnte. Die drei Ausdrücke binden also die erste Äußerung der „Nachbearbeitung“ an die „Reaktion“ der Patientin an und gewährleisten so diskursive Kontinuität, ein Bruch mit der „Reaktion“ der Patientin wird vermieden. Das mit „Nur“ in s020 besonders gewichtete Wissenselement nimmt die thematische Wendung, die die Patientin in ihrer Reaktion vollführt hatte, auf: Auch in s020 geht es um das Verhältnis der Patientin zu ihrer Freundin. Insofern werden Peräkyläs Beobachtungen, wonach die Therapeuten eine Themaveränderung durch den Patienten akzeptieren und nicht auf dem Thema der Deutung beharren (2005: 173f.; s. o. S. 224), bestätigt. Was der Therapeut, im

20 Es ist davon auszugehen, dass sich die erwartungsbearbeitenden „nur“ und „aber“ für einen solchen Einsatz besonders eignen. Indem sie auf einen Erwartungskontrast hinweisen, ziehen sie besondere Aufmerksamkeit auf den im Anschluss verbalisierten propositionalen Gehalt (man vgl. etwa die biblischen Verwendungen von „aber“, bei denen „aber“ auch in nicht-topikalisierter Position häufig die beschriebene Wirkung zeigt, z. B. 1.Mose 8, 20: „Noah aber baute dem Herrn einen Altar und nahm von allem reinen Vieh und von allen reinen Vögeln und opferte Brandopfer auf dem Altar“).

226 | Die Handlungsstruktur des tiefenpsychologischen ›Deutens‹ Unterschied zu Peräkyläs Interpretation, dabei jedoch nicht macht, ist, dass er das deutende Wissen als Ganzes aufgibt. Vielmehr wendet er das abstrakte Deutungswissen auf den konkret von PA thematisierten Fall an. Er spricht von der Möglichkeit, „die ganze Geschichte“ von PAs Abhängigkeit zu ihrer Freundin „umdrehen“ zu können, und nutzt dann das Mittel der vorgestellten Rede, um dieses Umdrehen aus der Perspektive der Patientin zu konkretisieren. Dabei greift er zunächst das von PA formulierte Wissen auf, wonach die Beziehung zur Freundin momentan sehr erfüllend ist („vielleicht • • geht das deswegen jetzt so gut mit der“) und fokussiert mit „deswegen“ katadeiktisch auf die anschließend verbalisierte Begründung. Rehbein (1995b) zufolge wird das mittels „des“ deiktisch refokussierte Bezugsobjekt durch „wegen“ als „retrograd aufzufindende Wissensdomäne kategorisiert, in deren Fortschreibung das in der laufenden Äußerung verbalisierte neue Wissen abzuleiten ist“ (a. a. O.: 183). An dieser Stelle fokussiert „des“ katadeiktisch auf ein erst im anschließenden „weil“-Satz formuliertes Wissen, antizipiert also die Begründung und richtet die Aufmerksamkeit des Hörers in besonderem Maß auf die mit dem „weil“-Satz prozessierte Angabe des die Veränderungen auslösenden Wissens (Vorgeschichte) aus. Die Begründung führt mit „weil“ eine Veränderung von PA selbst als entscheidungsrelevantes Wissen (Thielmann 2009) ein: „• • weil • • ich selber vielleicht noch n bisschen anders bin“. Demnach ist die Veränderung der Beziehung von PA und ihrer Freundin auf eine vorangegangene Veränderung von PA zurückzuführen. Das „Umdrehen“ besteht darin, dass die Ursache dieser Veränderung nicht, wie in der „Reaktion“ PAs, in der Freundin, sondern in der Patientin selbst gesehen wird. Ein Blick auf das in „Verbalisierung“ und „Nachbearbeitung“ verbalisierte Wissen zeigt, dass das Deutungswissen weder, wie von Peräkylä behauptet, aufgegeben, noch zugespitzt, sondern an die Reaktion der Patientin adaptiert wird. Wie in der „Verbalisierung“ (s008-s013) geht es in s020 um das Verhältnis der Patientin zu einer wichtigen Bezugsperson. TH problematisiert aber nicht weiter PAs Verhältnis zu ihm selbst, sondern nimmt die von PA in ihrer Reaktion initiierte thematische Wendung auf und verbalisiert eine alternative Interpretation der Veränderungen, die sich im Verhältnis der Patientin zu ihrer Freundin ergeben haben. Die neuen, positiven Empfindungen PAs sind demnach nicht auf die Bezugsperson zurückzuführen, sondern gehen von ihr selbst aus. Das in der „Verbalisierung“ versprachlichte Wissen wird an dem von PA selbst eingebrachten Beispiel zur Anwendung gebracht: aus der möglichen Abhängigkeit von der Freundin werden Veränderungen von PAs mentalem und interaktionalem Erleben, die sie selbst verursacht. Damit wird aus der vergleichsweise abstrakt gehaltenen „Warnung“ vor Abhängigkeit von der Therapie eine Rekonzeptualisierung einer konkreten Beziehung abgeleitet, die eine

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wahrgenommene Abhängigkeit – vorerst noch als Hypothese („könnten“ (s020, Matrixkonstruktion), „vielleicht“ (s020, p-Konstruktion)) – auflöst und die Verbesserungen des Erlebens auf die Patientin selbst zurückführt. Es zeigt sich ein komplexes Verhältnis von „Verbalisierung“, „Reaktion“ und „Nachbearbeitung“. Die „Reaktion“ gibt dem Therapeuten Einblick in den mentalen Umgang des Patienten mit der in der Position der „Verbalisierung“ erstmalig versprachlichten ›Deutung‹. Im vorliegenden Fall wird durch die Wendung auf das Verhältnis zur Freundin erkennbar, in welchem Zusammenhang PA sich mit dem Thema Abhängigkeit beschäftigen kann – und in welchem eben nicht. Der Therapeut erschließt also aus der „Reaktion“, welche mentalen Prozesse die „Verbalisierung“ der ›Deutung‹ beim Patienten ausgelöst hat. In der „Nachbearbeitung“ der ›Deutung‹, der nach „Vorbereitung“, „Verbalisierung“ und „Reaktion“ vierten Position im Muster des ›Deutens‹, passt der Therapeut nun das deutende Wissen nach Maßgabe der „Reaktion“ an die mentalen Prozesse des Patienten an. Diese Anpassung zeigt sich im konkreten Fall als das Aufnehmen des von PA vorgegebenen Themas und das Applizieren des deutenden Wissens auf diesen Themenkreis. Das deutende Wissen wird in der „Nachbearbeitung“ nach Maßgabe der „Reaktion“ hinsichtlich der Lebensumstände des Patienten konkretisiert, es schließt so besser an das bereits vorhandene Wissen des Patienten an und kann vom Patienten besser in das eigene Wissen integriert werden. Erkennbar wird, dass der „Nachbearbeitung“ eine wichtige Rolle im Muster des ›Deutens‹ zukommt. Sie ist daher, nach „Vorbereitung“, „Verbalisierung“ und „Reaktion“, als eigenständige Position in dieses Muster zu integrieren. Die Bezeichnung „Nachbearbeitung“ verweist auf ihre Funktion, das Deutungswissen, nachdem es bereits formuliert ist, weiter zu bearbeiten und insbesondere an die Aufnahmekapazitäten des Patienten anzupassen. Im Unterschied zu Peräkylä (2010, 2011), der von der „third-position“ spricht, wird damit eine funktionale, keine rein sequentielle Bezeichnung gewählt, außerdem wird, aufgrund der Berücksichtigung der vorbereitenden Passagen an erster Position, nicht von drei, sondern von vier Positionen ausgegangen, in denen sich das ›Deuten‹ realisiert.

8.2.5 „Reaktion“ II PA:

/21/ ((1,1s)) [Da hab ich eigentlich noch nich dran gedacht. [nachdenklich

/22/ ((1,2s)) Vielleicht ham Sie da Recht].

228 | Die Handlungsstruktur des tiefenpsychologischen ›Deutens‹ Die Patientin reagiert auf die „Nachbearbeitung“ zunächst mit einer Pause von gut einer Sekunde und bringt dann in nachdenklichem Ton zum Ausdruck, dass es sich bei dem gerade verbalisierten Wissen um neues Wissen handelt: „Da hab ich eigentlich noch nich dran gedacht“ (s021). Nach einer weiteren Pause konzediert sie außerdem, dass dieses Wissen die Wirklichkeit richtig beschreiben könnte: „Vielleicht ham Sie da Recht“ (s022). Diese „Reaktion“ weist nicht nur propositional auf einen therapeutischen Effekt, also eine Umstrukturierung des mentalen Bereichs der Patientin, hin, sondern auch aufgrund ihrer nachdenklichen, leisen, nach innen gerichteten Intonation. Diese ist als Indikator für eine mentale Auseinandersetzung mit dem von TH formulierten Wissen zu sehen und unterscheidet sich deutlich von der Intonation der ersten „Reaktion“ (s014-s018), die auch propositional keine mentalen Effekte der Deutung erkennen ließ und daher als „Ausweichen“ charakterisiert wurde (o. S. 223f.). Die zweite „Reaktion“ der Patientin weist auf eben solche Effekte hin. Das von TH verbalisierte Wissen wird von PA zunächst als ein noch-nicht-gedachtes Wissen bezeichnet. Die erste Bedingung für eine Wissensumstrukturierung ist damit erfüllt: es handelt sich nicht um Wissen, das bei der Patientin ohnehin schon bewusst vorliegt.21 Die zweite Bedingung, dass das Wissen die Realität korrekt wiedergibt, wird in s022 mittels „vielleicht“ modalisiert. ‚Abtönungspartikeln‘ (Zifonun u. a. 1997: 1206ff) wie „vielleicht“ arbeiten m. E. auf der „Zukommensrelation“ (Ehlich & Rehbein 1977) von Gewusstem und Thema des Wissens und sind damit i. w. S. „Wissensmodalisierungen“ (Redder 2009: 91). Die Zukommensrelation wird durch verschiedene Abtönungspartikeln je unterschiedlich modalisiert, das formulierte Wissen wird als Ganzes je unterschiedlich stark von einer weiteren – diskursiven und/oder mentalen – Bearbeitung abhängig gemacht. Bei „vielleicht“ handelt es sich um die im Mittelhochdeutschen erfolgte Kombination von „vīl“ („sehr“) und „līchte“ („leicht“) (Paul u. a. 2002: s.v.). Im Unterschied zu der bereits früher üblichen Kennzeichnung als mögliches Wissen durch „līchte“ (ebd.) prozessierte die Kombination mit „vīl“ die Proposition als vergleichsweise sicheres Wissen, es handelte sich ursprünglich also eher um „die sichere erwartung, vermuthung oder befürchtung, als die blosze möglichkeit“ (Grimm & Grimm 1854-1960: s.v.). Dieser Effekt scheint in der Gegenwartssprache abgeschwächt zu sein, im Vergleich etwa zu dem „modal abschwächenden Satzadverbial“ (Zifonun u. a. 1997: 1131) „wahrscheinlich“ kennzeichnet „vielleicht“ das Zukommen des Gewussten zum Thema des Wissens als relativ ungewiss (a. a. O.: 863). Mit „vielleicht“ in s022 kennzeichnet PA

21 Für das seltene Beispiel einer „Reaktion“, die das deutende Wissen als schon bekanntes behandelt, s. u. B6.

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das zuvor formulierte Wissen also als möglicherweise zutreffend, lässt eine endgültige Bewertung aber noch offen und macht sie damit von einer weiteren Auseinandersetzung abhängig. Diese Auseinandersetzung wird von TH in der anschließenden Äußerung initiiert.

8.2.6 „Nachbearbeitung“ II TH: PA: TH: PA: TH:

/23/ ((2,7s)) Weil weil Sie sich vielleicht dann leichter tun, einfach mit ((atmet ein)) äh mit der Freundin auch umzugehen und • vielleicht [auch] /24/ [Ja]˙ /23/ sich leichter [tunn] /25/ [Ja des] stimmt. /23/ Spaß zu haben und und nich gleich wieder n schlechtes Gewissen haben zu müssen Spaß zu haben̄.

TH führt den in s023 nach einer Pause von 2,7 Sekunden verbalisierten propositionalen Gehalt mit „Weil weil“ als entscheidungsrelevantes Wissen ein. Dabei fällt zunächst auf, dass „weil“ mit Nebensatztopologie verwendet wird, ein Hauptsatz, dem der „weil“-Satz subjungiert wäre, allerdings nicht verbalisiert wird. Wie die Deutungsäußerungen s011 und s012, die mit „dass“ beginnen, operiert s023 also nicht auf einer konkreten sprachlichen Konstruktion, sondern auf dem zuvor aufgebauten und vermittelten Wissen. Der in s023 angeführte propositionale Gehalt wird durch „weil“ als Wissen prozessiert, das die Entscheidung über das zuvor verbalisierte Wissen ermöglicht (vgl. Thielmann 2009). Demnach wäre die gute Entwicklung der Beziehung zur Freundin darauf zurückzuführen, dass PA sich generell leichter tut, „mit der Freundin auch umzugehen“ (s023) und „Spaß zu haben und und nich gleich wieder n schlechtes Gewissen haben zu müssen Spaß zu haben̄“ (s023). Mit „weil“ werden die anschließend in Infinitivkonstruktionen verbalisierten Veränderungen in PAs mentalem Bereich als Voraussetzungen für das bereits etablierte Wissen über die verbesserte Beziehung zur Freundin eingeführt. Bei der Verbalisierung der möglichen Vorgeschichte wird das Zukommen von Gewusstem und Thema des Wissens durch die zweimalige Verwendung von „vielleicht“ bearbeitet, das Wissen wird so von der mentalen Bewertung durch die Hörerin sowie ggf. von weiteren diskursiven Bearbeitungen abhängig gemacht. Hinsichtlich der Illokution von s023 ist von einer vorschlagenden Angabe von Gründen für die Korrektheit des Wissens, das in der „Verbalisierung“ erstmals angeführt und in der „Nachbearbeitung“ auf die konkrete Lebenssituation der Patientin appliziert wurde, zu sprechen.

230 | Die Handlungsstruktur des tiefenpsychologischen ›Deutens‹ An dieser Position zeigt sich damit auch, wie die tiefenpsychologische ›Deutung‹ insgesamt den mentalen Bereich des Patienten bearbeitet. Die ›Deutung‹ etabliert eine neue Perspektive auf das eigene Erleben, die bestimmte Aspekte dieses Erlebens in neue kausale Zusammenhänge setzt. Im konkreten Fall werden PAs Vorstellungen über die Beziehungen zu wichtigen Personen in Frage gestellt, die Ursache-Wirkungszusammenhänge, die diese Beziehungen aus PAs ursprünglicher Perspektive bestimmen, werden umgekehrt. Die Abhängigkeit von der Therapie und der Freundin wird aufgelöst, die positiven Entwicklungen, die PA zur Zeit des Gesprächs erlebt, werden stattdessen auf mentale Prozesse der Patientin selbst zurückgeführt. Diese mentalen Veränderungen werden zur Vorgeschichte der Veränderungen in der Interaktion mit wichtigen Bezugspersonen, machen das Erleben also in seinem zeitlichen und ‚kausalen‘ Zusammenhang, seinem Vorher und Nachher, verstehbar. Die ›Deutung‹ verändert, allgemein gesprochen, die Perspektive des Patienten so, dass sich nicht nur sein Blick auf das eigene Erleben verändert und er sein Erleben anders benennen und kategorisieren kann, sondern dass dieses Erleben für ihn auch in seiner Nach- und v. a. seiner Vorgeschichte, also den Geschehnissen, aus denen es hervorgegangen ist, erkennbar wird. Indem dabei auch die „Nachbearbeitung“ dieser Deutung als Vorschlag prozessiert wird, den PA sich zu eigen machen, aber auch ablehnen kann, wird das Wissen nicht einfach vom Therapeuten auf die Patientin übertragen, sondern einer mentalen Auseinandersetzung und Bewertung durch die Patientin anheimgestellt. Wie bei einigen ›VEE‹ und bei der Formulierung der „Verbalisierung“ in diesem Beispiel wird das Wissen nahezu ‚rein‘ formuliert. In p wird lediglich deutlich gemacht, dass eine Übernahme des formulierten Wissens nur auf der Basis einer hörerseitigen Auseinandersetzung mit dem formulierten Wissen erfolgen kann. Diese Auseinandersetzung basiert ihrerseits naturgemäß auf dem schon vorhandenen biografischen Wissen der Patientin. Das konkrete, individuelle Patientenwissen wird also aktiviert und in der therapeutischen Intervention als Ressource zur Umstrukturierung des mentalen Bereichs der Patientin genutzt. Dies geschieht auch bei der „Nachbearbeitung“ der Deutung, indem Wissenselemente, die die Vorgeschichte der Veränderung von PAs Erleben angeben, mittels Subjunktor eingeführt und in Nebensatztopologie prozessiert werden, ohne dass der Konstruktion ein Hauptsatz, der die Illokution der Äußerung umsetzt, übergeordnet würde (zur Frage Nebensatz und Illokution s. Redder 1990: 197ff). Die Illokution muss vom Hörer vollzogen werden, obwohl sich in dem vom Sprecher realisierten propositionalen Gehalt kaum Anhaltspunkte für die illokutive Charakteristik der Äußerung finden. Der Hörer muss das formulierte Wissen eigenständig so verarbeiten, dass der veränderte Hand-

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lungszusammenhang in seiner Abfolgecharakteristik erkennbar wird und die Äußerung als vorschlagende Angabe von Gründen verarbeitet werden kann. Exkurs zum hörerseitigen Vollzug der Illokution Der kommunikative Punkt von s023 ist das Zusammenspiel des in p verbalisierten Wissens mit dem zuvor verbalisierten Wissen. Dieser kommunikative Punkt wird in s023 sprachlich (also in p) gerade nicht realisiert, die Äußerung wird weder zeitlich, noch hinsichtlich der beteiligten Aktanten, noch hinsichtlich des zuvor verbalisierten Wissens verortet. Diese Verortung muss vom Hörer vorgenommen, der Punkt der Äußerung muss von ihm realisiert werden. Versteht man die Illokution nun als den „Zweck“ einer Äußerung, der im Zusammenspiel von p mit dem konstellativ gebundenen Hörerwissen realisiert wird, wäre davon auszugehen, dass eine Äußerung ‚ohne Illokution‘ keinen Zweck hat. Dies widerspricht der vorgelegten Analyse, die ja gerade davon ausgeht, dass die spezifische Realisierung des ›Deutens‹ auch an dieser Stelle ihren Zweck – das Bewusstmachen unbewusster mentaler Prozesse – erfüllt. Der daraus folgenden Paradoxie des ‚zweckmäßigen NichtRealisierens von Zwecken‘ kann, so scheint mir, nur entgangen werden, wenn man den Illokutionsbegriff entweder komplett aufgibt oder, was analytisch und theoretisch sinnvoller erscheint, wenn man Kommunikation als einen interaktiven Prozess zwischen Sprecher und Hörer auffasst, in dem beide Aktanten dafür sorgen, dass die notwendigen Elemente einer sprachlichen Handlung vollzogen werden. Der Hörer ergänzt und verarbeitet das in p realisierte Wissen auf der Basis eigenen Wissens und fordert, wenn dies nicht gelingt, die Äußerung also nicht verstanden wird, eine Bearbeitung der Äußerung an, die diese verstehbar macht. Da dies hier nicht geschieht, die Hörerin die Äußerung im Gegenteil sowohl sprachlich versteht, als auch, wie ihre Reaktion zeigt, für das Verstehen der gesamten Deutung nutzt, ist für s023 von einer funktionierenden Äußerung, deren Vollzug von beiden Aktanten realisiert wird, auszugehen (s. zu dieser Diskussion auch o. S. 213f., 219ff).

Die Aktivierung des Hörers beim ›Deuten‹ geht, so sollte die Diskussion gezeigt haben, so weit, dass nicht nur propositionale Elemente auf besondere Art verarbeitet und teilweise ergänzt werden müssen, sondern auch der illokutive Akt einer Sprechhandlung ganz oder teilweise vom Hörer durchgeführt werden muss. Auch an dieser Stelle wird Psychotherapie damit als akzentuiert „hörerzentrierte“ Diskursart greifbar.

8.2.7 „Reaktion“ III PA:

TH: PA:

/26/ • • Ja des stimmt. /27/ • • • Also schlechtes Gewissen hatt ich in letzter Zeit ((1,1s)) so gesehen eigentlich gar nicht. /28/ Hm̌˙ /29/ Überhaupt nicht.

232 | Die Handlungsstruktur des tiefenpsychologischen ›Deutens‹ PA stimmt der von TH vorgeschlagenen Vorgeschichte explizit zu („Ja des stimmt.“ (s026)) und belegt sie in s027 mit einer Selbstbeobachtung. Sie geht auf das von TH angesprochene „schlechte[s] Gewissen“ (s027) ein und konstatiert, dass sie das „in letzter Zeit ((1,1s)) so gesehen eigentlich gar nicht“ (s027) gehabt habe. PA nimmt den letzten Punkt von THs vorangegangener „Nachbearbeitung“ auf und bewertet das darin formulierte Wissen – mit den Einschränkungen „so gesehen“ und „eigentlich“ – als richtig. PA bestätigt also die „Nachbearbeitung“ der Deutung anhand biografischer Erlebnisse. Diese Reaktion entspricht der „elaboration“ (Peräkylä 2005: 168), die von Peräkylä und Bercelli u. a. (2008) als die von den Therapeuten angestrebte Reaktion beschrieben wird. Eine solche Reaktion ‚spielt‘ Peräkylä zufolge mit der Deutung, indem sie sie ausbaut und illustriert. Bercelli u. a. (2008) betonen, dass dieser Ausbau, wie auch in meinen Daten zu beobachten, auf spezifischen Erlebnissen der Patienten beruht, von denen nur die Patienten selbst wissen: „He [the patient; C.S.] refers to a life event, his wife's pregnancy, which was not mentioned in the previous therapist's reinterpretation, and forwards it as supporting evidence […]. It is […] a kind of evidence that was not considered by the therapist […]”. (Bercelli u. a. 2008: 58)

Es handelt sich um partikulares biografisches Erlebniswissen, das es dem Patienten ermöglicht, das abstraktere, vom Therapeuten formulierte Wissen am eigenen Erleben festzumachen. Damit wird, analog zur Analyse der „Reaktion“ auf die ›VEE‹ (s. o. Kap. 7.1.2, 7.3.5) und in Überwindung der rein formalen Analyse von Peräkylä und Bercelli u. a., auch die Funktion dieser Art von „Reaktion“ erkennbar. Wenn die Patienten die ›Deutung‹ auf diese Art ausbauen, illustrieren und erklären, verbinden sie das vom Therapeuten formulierte Wissen mit bereits vorliegendem eigenem Wissen. Das in der ›Deutung‹ verbalisierte Wirkungsprinzip bestätigt sich für sie am konkreten Einzelfall. Die Patienten finden in ihrem Wissen Ansatzpunkte, die die Integration des neuen, deutenden Wissens in ihr eigenes Wissen ermöglichen (in Scarvaglieri 2013 wird dies als auf den Sprecher gerichtetes sprachliches Veranschaulichen analysiert). In diesem Fall ermöglicht die Beobachtung, dass PA in letzter Zeit kein schlechtes Gewissen hatte, die Verifizierung der Annahme von mentalen Veränderungen PAs. Diese Annahme legitimiert ihrerseits den Schluss darauf, dass die von PA festgestellten Veränderungen von ihr selbst ausgehen, nicht von anderen. Damit wird der Kern der Deutung, der aus der Warnung vor Abhängigkeit und dem Hinführen zu mehr Eigenständigkeit besteht, bestätigt.

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Das deutende Wissen wird also durch biografisches Wissen des Patienten ergänzt und bestätigt. Für die Therapeuten wird erkennbar, dass die ›Deutung‹ vom Patienten angenommen und in das eigene Wissen integriert werden kann. Der patientenseitige Ausbau, die „elaboration“, der ›Deutung‹ ist damit ein starker Hinweis auf eine erfolgreiche ›Deutung‹, die einerseits an das bestehende Wissen des Patienten anknüpft, ihm andererseits neue Aspekte hinzufügt. Dass diese Wirkung auf die mentalen Prozesse des Patienten offenbar wird, ist der Grund dafür, dass diese Reaktion von den Therapeuten angestrebt wird. Im vorliegenden Beispiel wird die Position der „Reaktion“ mehrfach durchlaufen. Die erste ausweichende „Reaktion“ der Patientin führt zur Aufnahme der thematischen Wendung durch den Therapeuten und zur Konkretisierung des deutenden Wissens. Die zweite, nachdenkliche „Reaktion“ lässt mögliche mentale Effekte dieser Anpassung erkennen und damit den Versuch einer Begründung des deutenden Wissens zweckgemäß erscheinen. Die dritte „Reaktion“ der Patientin besteht in dem angestrebten Ausbau der Deutung und weist damit auf eine erfolgreiche Wissensumstrukturierung, eine Veränderung der Perspektive auf das eigene Erleben, hin. Da demnach die Deutung ihren Zweck erfüllt hat, kommt es zum Ausgang aus dem Muster und zum anschließenden Themawechsel (im Transkript nicht wiedergegeben). Die Musterposition der „Reaktion“ besteht somit zum einen aus Reaktionen auf die „Verbalisierung“, zum anderen aus Reaktionen auf die „Nachbearbeitung“ der ›Deutung‹. Ihre Bedeutung innerhalb des Handlungsmusters besteht in beiden Fällen darin, dass sie den patientenseitigen Umgang mit dem deutenden Wissen kenntlich macht und als Maßgabe für eine angemessene Reaktion – entweder „Nachbearbeitung“ oder Ausgang aus dem Muster – dient. Wie der Therapeut im Einzelnen reagiert, hängt dabei nicht von der sequentiellen Stellung der „Reaktion“ – ob nach der „Verbalisierung“ oder nach der „Nachbearbeitung“ – ab, sondern von illokutiven und propositionalen Aspekten der konkret realisierten „Reaktion“. Zwischen einer „Reaktion“ auf eine „Verbalisierung“ und einer „Reaktion“ auf eine „Nachbearbeitung“ besteht also nur ein sequentieller, kein kommunikativ-funktionaler, Unterschied. Daher sind die sequentiell getrennten Handlungen funktional als Realisierungen der gleichen Musterposition anzusehen (s. u. S. 265ff).

8.2.8 Zusammenfassung: Charakteristika des ›Deutens‹ Die Ergebnisse der Analyse werden im Folgenden noch einmal zusammengefasst. Dargestellt werden zunächst die vier Musterpositionen, deren Zusammenspiel das ›Deuten‹ konstituiert. Sodann werden die formalen Charakteristika,

234 | Die Handlungsstruktur des tiefenpsychologischen ›Deutens‹ die die Äußerungen des Therapeuten in diesem Handlungsmuster kennzeichnen, aufgelistet. Das Handlungsmuster der tiefenpsychologischen ›Deutung‹ besteht aus vier Positionen: der „Vorbereitung“ (TH), der „Verbalisierung“ (TH), der „Reaktion“ (PA) sowie der „Nachbearbeitung“ (TH). Diese Positionen folgen grundsätzlich aufeinander, können aber auch in veränderter Reihenfolge bzw. ineinander verschachtelt realisiert werden. Funktional bestimmt wurden die Musterpositionen hinsichtlich ihrer Bearbeitung der Konstellation, d. h. in der Psychotherapie besonders in ihrer Wirkung auf die mentalen Prozesse von Patient und Therapeut. Die Position der „Vorbereitung“ dient einer ersten Aktualisierung des deutenden Wissens durch den Patienten. In dieser Position wird das Thema der ›Deutung‹ zum ersten Mal zur Sprache gebracht. Die Position besteht im Normalfall aus zwei interaktionalen Elementen: dem Ansprechen des Deutungsthemas durch den Therapeuten und der Reaktion des Patienten. Beide Elemente sind für den Fortgang des Handlungsmusters von Bedeutung. Das Ansprechen an sich sorgt innerhalb des Musters für die erste Realisierung eines Teils der Wissenselemente, die die ›Deutung‹ ausmachen. Der Patient realisiert dieses Wissen zum ersten Mal und bekommt die Gelegenheit zu einer ersten mentalen und ggf. interaktionalen Auseinandersetzung mit dem Thema der ›Deutung‹. Auch kann er noch weitere Wissenselemente zu dem Thema aufrufen und in den Diskurs einbringen. Für den Therapeuten wird an dieser Position damit zum ersten Mal erkennbar, wie der Patient mit dem Thema der ›Deutung‹ umgeht. Je nach Reaktion auf das vorbereitende Ansprechen des Deutungsthemas kann er die weiteren Schritte planen. So wird u. U. die „Verbalisierung“ der ›Deutung‹ unnötig oder unmöglich gemacht, weil der Patient z. B. selbst weiteres Wissen einbringt, das die Konstellation derart verändert, dass zunächst eine Bearbeitung dieses Wissens nötig wird. Auch Zeitpunkt und Form der „Verbalisierung“ können von der „Vorbereitung“ und dem Verhalten des Patienten in diesen initialen Phasen einer ›Deutung‹ beeinflusst werden. In diesem Beispiel macht die Patientin lediglich deutlich, dass sie über das von TH angesprochene Thema nicht weiter nachgedacht hat, obwohl es zum Schluss der letzten Stunde bereits einmal angesprochen worden war. TH erkennt daran, dass die problematische Situation – PA ist unbewusst dabei, sich in eine Abhängigkeit von ihm zu begeben – nach wie vor gegeben ist und von PA mental nicht bearbeitet worden ist. Die Notwendigkeit einer Deutung, die sie auf diese Gefahr hinweist, besteht demnach weiterhin, da die Patientin nicht in der Lage ist, von sich aus das deutende Wissen aufzurufen. Nach einer Pause beginnt TH daraufhin mit der „Verbalisierung“ der Deutung. In dieser Position wird dem Patienten das eigentliche, deutende Wissen

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vermittelt. Dies geschieht, indem er auf Zusammenhänge seines Erlebens hingewiesen wird, die ihm zuvor nicht bewusst waren. Dabei verändert sich die Perspektive auf das Erleben des Patienten grundlegend, z. B. werden Aspekte der Erlebens, die zuvor unverbunden gedacht wurden, in einen kausalen Zusammenhang gebracht oder Ursache-Wirkungs-Verhältnisse umgekehrt. Die „Verbalisierung“, und mit ihr die ›Deutung‹ als ganzes, verändert die Kategorisierung bestimmter Erfahrungen und ihre Einordnung in bestimmte Handlungsprozesse, also ihre Vor- und Nachgeschichte. Diese Perspektivveränderung hat im Unterschied zum ›VEE‹, bei dem es ja vor allem um in der Sprechsituation relevante Empfindungen geht, eine große Reichweite, oft werden ganze biografische Episoden in ein völlig anderes Licht gesetzt (s. u. Kap. 9.1). In dieser Deutung wird PA v. a. auf eine möglicherweise gefährliche Nachgeschichte ihres Verhaltens hingewiesen. Die erste vollständige Äußerung der „Verbalisierung“ warnt vor einer Gefahr, ohne die Gefahr selbst, mögliche Folgen oder auch nur den Gefährdeten zu benennen. Als Folge dieser initialen Deutungsäußerung wurde das Aufwerfen einer Reihe von Fragen erkennbar, die sich aus der Warnung und ihren Lücken ergeben. Diese Fragen werden vom Therapeuten in den nachfolgenden vier Äußerungen, die syntaktisch alle unselbständig sind und inhaltlich wie grammatisch von dieser ersten Äußerung abhängen, eine nach der anderen beantwortet. Das ‚Rätselhafte‘ des ›Deutens‹, wie es in der Literatur beschrieben wurde (Vehviläinen, Peräkylä), wurde damit im Material lokalisiert und hinsichtlich seiner Funktion für das ›Deuten‹ erfasst. Das Aufwerfen von Fragen sichert dem Therapeuten zum einen die Aufmerksamkeit der Patientin, die auf eine Beantwortung der Fragen durch den Therapeuten wartet und daher verschiedene Gelegenheiten, das Sprecherrecht zu übernehmen, ungenutzt lässt. Zum anderen sorgen die entstehenden Fragen auf der Seite der Patientin für eine eigenständige Suche nach dem deutenden Wissen, sie aktivieren also ihre epistemischen Ressourcen. Dies erscheint besonders vor der therapietheoretischen Annahme, dass es beim ›Deuten‹ nicht um das Vermitteln neuen, sondern um das Bewusstmachen unbewussten Wissens geht, funktional. Neben der des „Rätsels“ wurde auch die andere Metapher, unter die das ›Deuten‹ in der linguistischen Literatur gestellt wird, die „Antwort auf eine nicht-gestellte Frage“ (Flader & Grodzicki, Ehlich) rekontextualisiert. Im Unterschied zu dem Material von Flader & Grodzicki können in dieser Arbeit vollständige Deutungspassagen inklusive Vor- und Nachgeschichte untersucht werden, so dass erkannt werden konnte, dass Flader & Grodzicki nur den zweiten Teil einer Deutung, das schrittweise Beantworten von Fragen, zugrundelegen konnten. Da die Prozesse, die dem Beantworten von Fragen vorausgehen,

236 | Die Handlungsstruktur des tiefenpsychologischen ›Deutens‹ in ihrem Material nicht abgebildet sind, musste die Deutung wie eine Antwort auf eine nicht-gestellt Frage erscheinen, konnte nicht erkannt werden, dass die Fragen, die schließlich beantwortet werden, zuvor vom Therapeuten auf je spezifische Weise evoziert werden. Wenn das ›Deuten‹ also als das Aufwerfen und sukzessive Beantworten von Fragen analysiert wird, werden jeweils Aspekte der Analysen von Peräkylä, Vehviläinen, Flader & Grodzicki sowie Ehlich aufgenommen. Gleichzeitig konnte ein umfassenderes und präziseres Verständnis der ›Deutung‹ entwickelt werden. Entscheidend für diese Analyse, der ja die Frage nach der heilenden Wirkung von Sprache zugrundeliegt, ist der Hinweis auf die ausgelösten mentalen Prozesse von Therapeut und insbesondere Patient, die für das ›Deuten‹ charakteristisch sind. Sie manifestieren sich in einer spezifischen Aktivierung des biografischen Patientenwissens, die für den Zweck der ›Deutung‹, die Bewusstmachung unbewussten Wissens, in der beschriebenen Weise funktional ist. Die Position der „Verbalisierung“ der ›Deutung‹ besteht aus zwei interaktiven Handlungen: dem Aufwerfen von Fragen und dem sukzessiven Beantworten der aufgeworfenen Fragen durch den Therapeuten. Die „Verbalisierung“ führt zur „Reaktion“ des Patienten. Die Ausformungen dieser Position wurden in der Literatur z. T. bereits ausführlich beschrieben (Peräkylä, Bercelli u. a.), ihre Funktion im Zusammenspiel mentaler und interaktionaler Prozesse beim ›Deuten‹ dabei allerdings außer Acht gelassen. Die Bedeutung dieser Position liegt vor allem darin, dass sie dem Therapeuten Hinweise auf den mentalen Umgang des Patienten mit der ›Deutung‹ gibt. Von diesen Hinweisen aus kann der Therapeut weitere Handlungen, insbesondere die „Nachbearbeitung“, entwickeln. Im Gesamt des Handlungsmusters ›Deuten‹ ist also weniger die Tatsache von Belang, dass die Therapeuten eine bestimmte Art der Reaktion anzielen (die „elaboration“ (Peräkylä 2005: 165), die in diesem Beispiel erst beim dritten Durchlauf durch die Position der „Reaktion“ realisiert wird), sondern dass die „Reaktion“ als Maßgabe weiterer Bearbeitungen des deutenden Wissens dient. Die „Reaktion“ macht den Umgang des Patienten mit dem deutenden Wissen kenntlich und erlaubt dem Therapeuten eine Adaptierung dieses Wissens an die mentalen Prozesse des Patienten. Wie deutlich wurde, kann auch die Position der „Reaktion“ aus unterschiedlichen Handlungen bestehen, u. a. in einer Ablehnung, Zustimmung sowie ggf. einer anschließenden Elaborierung der ›Deutung‹. Die je nach „Reaktion“ notwendig werdende Adaptation des Deutungswissens an das Patientenwissen erfolgt in der Position der „Nachbearbeitung“. Im vorliegenden Beispiel besteht die „Nachbearbeitung“ zunächst in einer Aufnahme der thematischen Wendung und einer Applizierung des deutenden Wissens auf das von der Patientin angesprochene Thema. Bei einem weiteren Durchlauf durch die Position wird zudem ein Vorschlag zur Vorgeschichte der

„des kann ja auch sehr hinderlich sein“ – Aufwerfen und Beantworten von Fragen | 237

in der ›Deutung‹, also den in „Verbalisierung“ und erster „Nachbearbeitung“ angesprochenen Veränderungen, entwickelt. Das vergleichsweise abstrakte Deutungswissen wird in der „Nachbearbeitung“ auf die konkreten Lebensumstände des Patienten appliziert, das deutende Wissen wird zur Anwendung gebracht. Die „Nachbearbeitung“ erlaubt dem Therapeuten eine Anpassung der ›Deutung‹ an die momentan gegebenen Verarbeitungsmöglichkeiten des Patienten; dem Patienten ermöglicht sie einen besseren Nachvollzug des deutenden Wissens und eine Integration seiner Perspektive auf das Thema der ›Deutung‹. Die Veränderung dieser Perspektive und damit einhergehend das Verstehen der eigenen Situation wird in der Regel erst mit der „Nachbearbeitung“ erreicht, die „Verbalisierung“ einer ›Deutung‹ allein hat normalerweise nicht die Kraft, eine so weitgehende Umstrukturierung seines mentalen Bereichs in Gang zu setzen.22 Die Wirkung der ›Deutung‹ basiert also auf dem Zusammenspiel von vier Positionen, die nicht nur an der Oberfläche ineinander verschachtelt sein können, sondern insbesondere funktional aufeinander aufbauen. In den Äußerungen des Therapeuten entfaltet sich diese Wirkung auf der Basis einer charakteristischen Ausformung der eingesetzten sprachlichen Mittel. Diese realisieren die „Hörerzentrierung“ der therapeutischen Interventionen und des therapeutischen Diskurses. Die einzelnen sprachlichen Elemente, in denen sich die „Hörerzentrierung“ in B5 vermittelt, werden im Folgenden kurz zusammenfassend dargestellt: – Die deutenden Äußerungen des Therapeuten sind, im Vergleich zu seinen sonstigen Äußerungen, von langsamer Sprechgeschwindigkeit und vielen Pausen gekennzeichnet. Dies erleichtert der Patientin den Nachvollzug der Äußerungen und das Aufrufen eigenen, komplementären Wissens. – Die Aspektdeixis „so“ wird in „Vorbereitung“ und „Verbalisierung“ insgesamt elfmal verwendet. Da bei diesen Verwendungen in der Regel nicht klar ist, was mit „so“ genau fokussiert wird, muss der Verweis von der Hörerin vorgenommen werden. Fokussiert wird also auf Elemente des Vorstellungsraums der Hörerin. Die Hörerin muss zusätzlich zu dem in p formulierten Wissen eigene Vorstellungen aufrufen, sie wird so am Aufbau des deutenden Wissens beteiligt. – Es finden sich sprachliche Elemente, die die Zukommensrelation von Gewusstem und Thema des Wissens modalisieren: die Partikeln „vielleicht“ und „eigentlich“. Das Modalverb „können“ kennzeichnet darüber hinaus das formulierte Wissen als Möglichkeit, der Konjunktiv II verankert die Äu-

22 Wenn dies anders ist, also bereits die „Verbalisierung“ für die zweckmäßige Umstrukturierung des Patientenwissens sorgt, entfällt die Notwendigkeit zur „Nachbearbeitung“ (s. u. B6).

238 | Die Handlungsstruktur des tiefenpsychologischen ›Deutens‹



ßerung im Wissensraum. Auch wenn diese sprachlichen Mittel also jedes für sich eine eigene Funktionscharakteristik tragen (s. die obigen Analysen), ist ihnen gemein, dass sie den Hörer zu einer Bewertung des in p formulierten Wissens anregen. Der formulierte propositionale Gehalt soll nicht unmodalisiert übernommen werden, sondern mit den genannten sprachlichen Mitteln einer mentalen und ggf. interaktionalen Auseinandersetzung zugeführt werden. p wird von ПH abhängig gemacht, eine aktive Aneignung des formulierten Wissens wird zur Voraussetzung der angestrebten Wissensumstrukturierung. Wie beim ›VEE‹ (s. o. S. 159ff, 184f.) prozessieren diese Mittel eine vorschlagende Realisierung der ›Deutung‹. Eine Reihe von Äußerungen der Deutung wird mithilfe von Matrixkonstruktionen realisiert. Dabei kommt es teilweise zu einer Dissoziation von Proposition und Illokution: die Illokution wird in der übergeordneten Matrix, die Proposition in der abhängigen p-Konstruktion prozessiert. Diese Dissoziation geht in einigen Fällen so weit, dass die p-Konstruktionen ohne syntaktisch übergeordnete Matrix realisiert werden. Sie prozessieren damit eine Verbalisierung von Wissen in ‚Reinform‘, eine illokutive Qualität wird den Äußerungen durch S in p nicht zugewiesen. Diese muss stattdessen allein von der Hörerin vollzogen werden: Sie muss erkennen, welchen Zweck das gerade formulierte Wissen in der gegebenen Konstellation, also vor dem Hintergrund des zuvor formulierten Wissens, erfüllt, und daraufhin die Wissenselemente entsprechend strukturieren und verarbeiten.

Den beobachteten Ausformungen der sprachlichen Oberfläche ist gemein, dass sie den Hörer auf eine besondere Weise an der diskursiven Gewinnung und Verarbeitung von Wissen beteiligen. Sie lassen Zeit zur Verarbeitung des Wissens, greifen auf Vorstellungen des Hörers zu, fordern Bewertung und Auseinandersetzung mit dem formulierten Wissen und sorgen gar dafür, dass die Illokution vom Hörer ganz oder teilweise eigenständig vollzogen werden muss. Der Hörer wird also in den Vollzug aller drei Akte der Sprechhandlungen, dem Äußerungsakt, dem propositionalen wie dem illokutiven Akt, spezifisch integriert. Wie beschrieben gilt diese spezifische Beteiligung des Hörers nicht nur für die Ausformung der sprachlichen Oberfläche, vielmehr stellen auch die einzelnen Positionen innerhalb des Handlungsmusters zuvorderst auf die Bearbeitung und Aktivierung des Patientenwissens ab. Dieser außergewöhnliche Zugriff auf epistemische Ressourcen des Hörers mit buchstäblich ‚allen Mitteln‘ ist durch den Zweck des ›Deutens‹ bedingt. Der Zweck des ›Deutens› ist das Bewusstmachen von Wissen, das zu einer heilenden ›Einsicht‹ führt. Dieses Wissen liegt beim Patienten an sich bereits vor, kann von ihm aber nicht bewusst

„da scheint mir doch so der Hund begraben“ – Wissen und Handeln beim ›Deuten‹ | 239

aufgerufen und genutzt werden. Indem die formalen und funktionalen Strukturen des ›Deutens‹ dezidiert auf die Aktivierung mentaler Ressourcen des Patienten abstellen, vermitteln sie den Zweck des Musters an die Oberfläche des sprachlichen Handelns. Es zeigt sich, wie der Zweck eines Handlungsmusters seine Strukturen global prägt.

8.3 „da scheint mir doch so der Hund begraben“ – Wissen und Handeln beim ›Deuten‹ Die herausgearbeiteten Charakteristika des ›Deutens‹ werden an Beispiel B6 illustriert und teilweise reliefiert. B6 entstammt der achten Stunde der gleichen Therapie, die präsentierte Deutung schließt direkt an die „Nachbearbeitung“ einer vorherigen Deutung über die Beziehung der Patientin zu ihrem Freund an (diese vorangegangene Deutung ist im Anhang vollständig wiedergegeben). TH hatte in dieser Deutung u. a. zum Ausdruck gebracht, dass die Beziehung zum Freund seiner Einschätzung nach bereits beendet ist und die Patientin dies unbewusst auch weiß. Die ersten hier wiedergegebenen Segmente knüpfen an diese Feststellung an. Ab s081 entwickelt der Therapeut das Thema „Loslösung vom Freund“ weiter zu der bereits bekannten Frage nach der Selbständigkeit der Patientin.

B6 Achte Stunde einer tiefenpsychologischen Kurzzeittherapie. In dem Gespräch geht es vor allem um einen neuen Bekannten der Patientin, zu dem sich eine Beziehung anzubahnen scheint. Direkt voran geht diesem Ausschnitt eine Deutung über die Beziehung der Patientin zu ihrem eigentlichen Freund. TH deutet, dass diese Beziehung im Grunde beendet ist. Er bringt dieses Ende in Verbindung mit dem Verhältnis der Patientin zu ihrem Vater und kommt in dem hier wiedergegebenen Ausschnitt auf Parallelen in den Beziehungen zu Freund und Vater zu sprechen. TH: Tiefenpsychologisch orientierter Psychotherapeut. PA: Patientin, Ende 20, geschieden. Die Therapie findet als Nachsorge nach Medikamentenabusus statt.

240 | Die Handlungsstruktur des tiefenpsychologischen ›Deutens‹

/81/

TH [v]

TH [v]

/82/

((Ein- und ausatmen; 3,1s)) Das is/ das is so… • • • Ich mein,

wenn man s unter diesem/ [hm̀ hm̀ hm̀]

diese bei den Gesichtspunkte -

[leise, deliberierend

TH [v]

mal zusammen zieht, also Ihr Freund als ei genständige Person und Ihr -

TH [v]

Freund als so n ge wis ser • Ersatz für Ihren Vater und • Ihrem Vater/ Ihr -

TH [v]

Verhältnis zu Ihrem Vater, also wenn man diese drei • • Personen mal -

TH [v]

zusammen zieht, ((1,4s)) dann hab ich schon den Eindruck, dass ess soo -

TH [v]

die ganze Zeit drum geht: ähm • "kann ich mich nun lösen • • • oder -

/83/

/84/

TH [v]

nicht". • "Kann ich mich nun selbständig machen oder nicht". ‿Ich mein

TH [v]

die Sache mit dem Berufs kram und so hängt ja auch irgendwie da /85/

PA [v]

TH [v]

Hm̄˙

zusammen, né, mit dieser Selbstständig/ ((zieht Luft ein)) sich /86/

PA [v]

Sicher.

„da scheint mir doch so der Hund begraben“ – Wissen und Handeln beim ›Deuten‹ | 241

/87/

TH [v]

selbstständigmachen̄ und/ ((1,5s)) vom Vater vor allen Dingen, ne? ‿Und

TH [v]

äh ((1,9s)) daa scheint mir so • • doch auch so der der Hund begraben̄. /88/

TH [v]

‿Nämlich in so fern : ((3s)) Sie sind irgendwo sehr ge bun den an Ihren -

-

/89/

TH [v]

Vater. ((1,8s)) Und äh so ne Frage, die ich mir dann gestellt hab, nach em

TH [v]

letzten Mal auch : • • • was was bin det Sie überhaupt so an Ihren Vatér. -

/90/

TH [v]

((1,3s)) Und ((4,1s)) so eine Frage, die ich da habe, in dem Zusammenhang /91/

TH [v]

ist die, ob äh/ ((4,3s)) wie eigentlich so Ihr Bild is von Ihrem Vater̄. ((1,1s)) -

TH [v]

Ob das nich n Bild is, • vonn jemandem, den Sie ((1,1s)) sehr ger ne mögen, -

TH [v]

• • auf der einen Seite, ((2,7s)) und wo • aber Ihre Mutter eigentlich Zeit

TH [v]

Ihres Lebens nichts anderes getan hat, • als Ihnen diese Liebe

TH [v]

auszutreiben. /92/

PA [v] PA [k]

• Sie sprechen wie die • Frau Müller-Rot , Frau Doktor MüllerName einer Therapeutin

242 | Die Handlungsstruktur des tiefenpsychologischen ›Deutens‹

/93/

PA [v]

Rot, • • bei der ich mal war. Die hat s ganz gleiche gesagt, wie Sie s jetzt -

PA [k] Stuhlknarren

/94/

PA [v]

/95/

formuliert ham, haar genau. Sie hat s nur anders formulier̄t. ‿Sie meinte, -

PA [v]

meine Mutter hätte es immer gut verstanden, • mich von meinem Vater

TH [v]

/96/

/98/

/99/

Hm̌˙

• Hḿ˙ • • • Und dass Sie ir /97/

PA [v]

fern zu halten.

• Sehen Sie des auch so?

TH [v]

gendwoó • • • ähm den Wunsch haben, da was wieder gut zu machen bei

TH [v]

Ihrem Vater.

/101/

Und dass das die die /100/

PA [v]

TH [v]

((3,3s)) Muss ich mir mal durch n Kopf gehen lassen.

diese ganz — • äh in meinen Augen — so sehr enge, • • sehr zwiespältige, /102/

TH [v]

aber doch irgendwo sehr enge Bindung ausmacht. ((3,s)) Und dass Sie im /103/

PA [v]

(= =)˙

„da scheint mir doch so der Hund begraben“ – Wissen und Handeln beim ›Deuten‹ | 243

TH [v]

[Mo ment] dabei sind — nicht nur • heute, sondern in den letzten -

/104/

PA [v]

(==)˙ [laut

TH [v]

((Einatmen; 0,4s)) Wochen, soweit ich s mitgekriegt habe — ((Einatmen;

TH [v]

1s)) ((1s)) sich da n bisschen zu distanzierèn • • • n bisschen ((1,7s)) mehhr /105/

TH [v]

• • Selbständigkeit zu entwickeln̄. ((2,7s)) Und ich kann mir vorstellen, /106/

TH [v]

dass das Ihnen Angst macht. ((3,2s)) Dass Sie des durcheinander bringt. ‿ -

/107/

TH [v]

[(Hm)]? /108/

((4,1s)) [Tja, des wär vielleicht ne Möglichkeit, • • dass es so ist].

PA [v] [leise

[sehr leise, nachdenklich

/109/

PA [v]

• • [Eine Möglichkeit, an die ich eigentlich selber noch nicht gedacht] [nachdenklich

/110/

PA [v]

[(hab.

/111/

Gar nich/ gar nich =)]. ((4,5s)) [Da hab ich • nicht dran gedacht]. -

[sehr leise

[leise, nachdenklich

/112/

PA [v]

((1,2s)) Aber für mich war s eigentlich im mer schon wichtig, wenn ich mich -

244 | Die Handlungsstruktur des tiefenpsychologischen ›Deutens‹

PA [v]

von irgendeiner Sa che, • • sei es, ne Sache oder ein Mensch gewesen is, -

/113/

PA [v]

gelöst habe, • • dann brauchte ich… ‿Zum Beispiel wenn ich ein Kleid

PA [v]

weggeschmissen hab ((1,6s)), dann hab ich s nur weggeschmissen, wenn

PA [v]

ich wusste, • da hängt ein neues hier drinnen. ((1,2s)) Und wenn ich einen

/114/

/115/

((Lautes

TH [v] PA [v]

Mensch ((1s)) nicht mehr • • • ertragen konnte oder aus anderen (=== ==), -

TH [v]

Husten))˙ • • dannn — genau wie mein Mann — • • dann hab ich nur

PA [v]

PA [v]

• • mich lösen können, wenn ich nicht mehr dran gehangen hab, • • • weil /117/

• • Nich weil

TH [v] /116/

PA [v]

jemand • Neuer da war. Und vielleicht is es jetzt wieder so.

TH [v]

sondern bis jemand Neuer da war. -

/118/

PA [v]

/119/

Oder… • Ja ich hab mir das immer mit

„da scheint mir doch so der Hund begraben“ – Wissen und Handeln beim ›Deuten‹ | 245

TH [v]

/120/

/122/

Hm̌˙

Nur lösen

/121/

PA [v]

weil erklärt. Ich sag immer : • • • Du konntest dich nur lösen, weil -

/123/

TH [v]

weil. ‿Jetzt, ja.

/124/

/125/

/126/

So.

Jaja˙

Jaá˙

weil da jemand

PA [v]

noch äh da gewesen ist (mit).

/127/

PA [v]

Da ist mir noch etwas eingefallen, zu diesem • neuen Bekannten, den ich -

Sektionierung Aufgrund des großen Umfangs der ›Deutung‹ wird die Mikroanalyse von B6 hier nicht präsentiert. Stattdessen wird das Beispiel zur Illustration und Verfeinerung der bereits vorgelegten Analyse genutzt. Die Ausführungen bewegen sich auf mittlerer Analysetiefe, zwischen paraphrasierender Ablaufbeschreibung und prozeduraler Mikroanalyse. Eine eigene Ablaufbeschreibung wird damit überflüssig, um dem Leser jedoch einen ersten Zugriff auf die durchaus komplexe Realisierung einer ›Deutung‹ in B6 zu ermöglichen, wird das Material in Sektionen größeren zusammenhängenden Handelns eingeteilt. Die erste Sektion (s081-s086) des präsentierten Ausschnitts beginnt mit einer gut dreisekündigen Pause in s081. In s082-s084 wird von TH ein Teil des in der Folge relevanten Wissens formuliert, die Deutung wird vorbereitet. s085 und s086 sind Reaktionen der Patientin auf die „Vorbereitung“ und daher noch zu dieser Position zu zählen. In s087 beginnt Sektion zwei, die „Verbalisierung“ der Deutung, die in sich wieder komplex strukturiert und erst in s107 vollständig abgeschlossen ist. In diese Sektion integriert sind „Reaktionen“ der Patientin (s092-s097 und s100) sowie das zweifache neue Ansetzen und Weiterentwickeln der Deutung durch den Therapeuten (s099 und s101-s107). Die dritte und letzte Sektion dieses Ausschnitts (s108-s116) beginnt nach einer Pause von gut vier Sekunden und besteht aus zwei unterschiedlichen „Reaktionen“ der Patientin. Zunächst bringt sie vor allem Überraschung und Nachdenklichkeit zum Ausdruck und betont, dass es sich um neues Wissen handelt (s108-s111). Von s112 bis s116 führt sie Belege aus ihrem biografischen Wissen für die Korrektheit

246 | Die Handlungsstruktur des tiefenpsychologischen ›Deutens‹ der Deutung an und zeigt damit, dass sich das deutende Wissen zumindest teilweise in ihrem Erleben wiederfinden lässt.

8.3.1 „Vorbereitung“ TH:

/81/ ((Ein- und ausatmen; 3,1s)) Das is/ das is so… /82/ • • • Ich mein, wenn man s unter diesem/ [hm̀ hm̀ hm̀] diese beiden Gesichts[leise, deliberierend

punkte mal zusammen zieht, also Ihr Freund als eigenständige Person und Ihr Freund als so n gewisser • Ersatz für Ihren Vater und • Ihrem Vater/ Ihr Verhält nis zu Ihrem Vater, also wenn man diese drei • • Personen mal zusammen zieht, ((1,4s)) dann hab ich schon den Eindruck, dass ess soo die ganze Zeit drum geht: ähm • „kann ich mich nun lösen • • • oder nicht“. /83/ • "Kann ich mich nun selbständig machen oder nicht". /84/ ‿Ich mein die Sache mit dem [Berufs]kram und so hängt ja auch irgendwie da PA:

/85/

TH: PA: TH:

[Hm̄]˙ zusammen, né, [1 mit dieser 1] Selbstständig/ ((zieht Luft ein)) sich selbststän-

/86/

[1 Sicher 1]. digmachen̄ und/ ((1,5s)) vom Vater vor allen Dingen, ne?

Ab s081 („Das is/ das is so…“) wird die „Vorbereitung“ der Deutung initiiert. Die dreisekündige Planungspause sorgt für eine diskursive Zäsurierung, die durch die refokussierende Deixis „das“ nur rudimentär überbrückt wird, da die Äußerung abgebrochen wird. Stattdessen wird in s082 mit der Matrixkonstruktion „Ich mein, wenn man s unter diesem […]“ neu angesetzt. Mit „Ich mein“ wird p als Ausdruck mentaler Prozesse, als „holding or supporting an opinion, which often is based on perception or impression“ (Hohenstein 2005: 19), prozessiert. Dazu wird in s082 eine weitere Matrix realisiert („dann hab ich schon den Eindruck, dass“), die den propositionalen Gehalt auf wahrnehmungsbasierte („Eindruck“) mentale Prozesse zurückführt. Zusammen mit dem Abbruch zeigt das, dass TH offensichtlich Wert auf diese Auszeichnung und „Anhebung“ (Rehbein 2003: 8) von p durch die Matrixkonstruktion legt. Es scheint ihm also wichtig zu sein, dass formulierte Wissen auf diese Weise als Aussage über ΠS, nicht über P, zu realisieren. Mit s082 wird eine vollständige, äußerst komplexe Äußerung realisiert, die die Refokussierung von bereits verbalisiertem Wissen mittels „diese beiden Gesichtspunkte“ wiederaufnimmt. Um sicherzustellen, dass PA das richtige Wissen aufruft, wird diese Refokussierung erläutert („also Ihr Freund als eigenständige Person und Ihr Freund als so n gewisser • Ersatz für Ihren Vater und •

„da scheint mir doch so der Hund begraben“ – Wissen und Handeln beim ›Deuten‹ | 247

Ihrem Vater/ Ihr Verhältnis zu Ihrem Vater“ (s082)). Im Zuge dieser Erläuterung kommt TH zu dem Ergebnis, dass es nicht um zwei, sondern um „drei • • Personen“ (s082) geht. Das eigentlich neue Wissen realisiert TH dann am Ende von s082: demnach hat er „den Eindruck“, dass es für PA in der Beziehung zu diesen drei Personen „die ganze Zeit drum geht: ähm • ‚kann ich mich nun lösen • • • oder nicht‘“. TH spricht hier also den Themenkomplex Abhängigkeit bzw. Selbständigkeit PAs von wichtigen Bezugspersonen an. In s083 wird die Frage, um die es dabei geht, noch einmal formuliert („Kann ich mich nun selbständig machen oder nicht“). In s084 wird dann der Versuch, sich beruflich selbständig zu machen und damit aus der wirtschaftlichen Abhängigkeit vom Vater zu lösen, als Beleg für THs Behauptung, dass es PA insgesamt um mehr Selbständigkeit gehe, angeführt und von PA bestätigt („Sicher.“ (s086)). Die „Vorbereitung“ der Deutung besteht also in der thematischen Weiterentwicklung des Diskurses von der Beziehung zum Freund, die in der vorangegangenen, hier nicht wiedergegebenen Deutung im Vordergrund stand, zur Beziehung zum Vater. TH ruft gemeinsames Wissen über diese Beziehung auf (mit „ja“ im Mittelfeld von s084 wird das formulierte Wissen als gemeinsames prozessiert) und nutzt dieses Wissen ab s087 zur Einführung von neuem Wissen, das die Beziehung zum Vater auf eine andere Art und Weise verstehbar macht. Auch in B6 besteht die „Vorbereitung“ der Deutung also im Anknüpfen an schon bestehendes Wissen und im Aufrufen des Themas der Deutung („Selbständigkeit“). Die anschließende „Verbalisierung“ der Deutung baut darauf auf und entwickelt das Thema weiter.

8.3.2 „Verbalisierung“ I TH:

/87/ ‿Und äh ((1,9s)) daa scheint mir so • • doch auch so der der Hund begraben̄. /88/ ‿Nämlich insofern : ((3s)) Sie sind irgendwo sehr gebunden an Ihren Vater. /89/ ((1,8s)) Und äh so ne Frage, die ich mir dann gestellt hab, nach em letzten Mal auch : • • • was was bindet Sie überhaupt so an Ihren Vatér. /90/ ((1,3s)) Und ((4,1s)) so eine Frage, die ich da habe, in dem Zusammenhang ist die, ob äh/ ((4,3s)) wie eigentlich so Ihr Bild is von Ihrem Vater̄. /91/ ((1,1s)) Ob das nich n Bild is, • vonn jemandem, den Sie ((1,1s)) sehr gerne mö gen, • • auf der einen Seite, ((2,7s)) und wo • aber Ihre Mutter eigentlich Zeit Ihres Lebens nichts anderes getan hat, • als Ihnen diese Liebe auszutreiben.

Die „Verbalisierung“ der Deutung beginnt in s087 mit „‿Und äh ((1,9s)) daa scheint mir so • • doch auch so der der Hund begraben̄“. Mit dem schnellen Anschluss (gemäß HIAT mit Ligatur transkribiert) sichert sich TH das Rede-

248 | Die Handlungsstruktur des tiefenpsychologischen ›Deutens‹ recht, konnektiert s086 und s087 mit „und“, nutzt „äh“ um am Turn zu bleiben und plant die weitere Prozessierung der Äußerung in der anschließenden, knapp zweisekündigen Pause. Mit dem Rest der Äußerung weist er PA auf die Bedeutung des zuvor verbalisierten und mit „daa“ refokussierten Wissens hin. Der Phraseologismus „da liegt der Hund begraben“ ruft beim Hörer Wissen auf, dass das mit „da“ fokussierte Wissen entscheidend ist für das Verständnis des aktuell thematisierten oder noch zu thematisierenden Geschehens. Der Aspekt des „Begrabenen“ kommt dabei insofern zum Tragen, als es sich bei diesem entscheidenden Wissen um ein erst noch aufzudeckendes, noch nicht versprachlichtes Wissen handelt. PA wird also darauf hingewiesen, dass es ein noch nicht versprachlichtes Wissen gibt, das ihr Erleben in entscheidender Weise verstehbar machen kann. Dieses Wissen ist „daa“ zu lokalisieren, also in dem zuvor angesprochenen Themenbereich, dem Versuch, sich von wesentlichen Bezugspersonen zu lösen. Deutlich wird, dass keine eindeutige Refokussierung vorgenommen wird, dass PA also nicht zweifelsfrei wissen kann, welches Wissenselement konkret ihr Erleben auf entscheidende Weise verstehbar macht. Darauf weist auch die nächste Äußerung hin, die mit „‿Nämlich insofern“ (s088) eine weitere inhaltliche Entwicklung dieser initialen Äußerung der „Verbalisierung“ ankündigt. Die Refokussierung mit „daa“ reicht demnach auch aus THs Perspektive nicht aus, um bei PA das entscheidende Wissen aufzurufen, dieses ist vielmehr im Zuge der „Verbalisierung“ noch zu entfalten. PA wird mit s087 also auf die Relevanz eines noch verborgenen Wissens hingewiesen, das sie anhand der vollzogenen Deixis nicht eindeutig lokalisieren kann. Auch das zweimal verwendete „so“ weist PA auf bestimmte Aspekte dieses Wissens hin, ohne sie zu versprachlichen. Dabei arbeitet das erste „so“ („daa scheint mir so“) auf dem Finitum „scheint“, das den verbalisierten propositionalen Gehalt als Abglanz wahrnehmungsgeleiteter Schlussprozeduren THs versprachlicht. „Scheinen“ geht auf ahd „scīnan“ „Licht, Helligkeit ausstrahlen“ (Paul u. a. 2002: s.v.) zurück und nahm früh die Bedeutung „zeigen, vorzeigen“ (Kluge 2002: s.v.) an. Der Wahrnehmungsbezug, der demnach am Ursprung der Bedeutungsentwicklung stand, wurde im Lauf der Sprachgeschichte weiter ‚mentalisiert‘, so dass „scheinen“ heute Wissen über mentale Prozesse des Sprechers, die auf Wahrnehmungen basieren, aufruft. Der propositionale Gehalt wird als wahrnehmungsbasierter Abglanz der Wirklichkeit versprachlicht. Mit „so“ wird in s087 auf einen Aspekt der mit „scheint“ versprachlichten mentalen Tätigkeit THs fokussiert. Welches dieser Aspekt ist und welche konkrete Ausprägung er hier erfährt, bleibt allerdings genauso unklar wie beim zweiten „so“, das auf „der Hund begraben“ operiert („doch auch so der Hund begraben̄“). Die Deixeis in s087 gehen also entweder ins Leere oder fokussieren ein unklares, kaum zu identifizierendes Wissen. Ähnlich wie mit der initialen

„da scheint mir doch so der Hund begraben“ – Wissen und Handeln beim ›Deuten‹ | 249

Äußerung in B5 wird auf diese Weise ein Hinweis auf für PA wesentliches Wissen versprachlicht, ohne dieses Wissen zu identifizieren (vgl. o. S. 207f.). Der Effekt von s087 auf Seiten der Hörerin besteht in dem Aufrufen eines NichtGewussten, das eine mentale Suche nach dem passenden Wissenselement auslöst. Die Suche richtet sich in diesem Fall auf das noch verborgene, entscheidende Wissenselement, das PAs Erleben verstehbar macht; der Suchfokus wird insofern eingeschränkt, als PA durch „daa“ weiß, dass dieses Wissenselement in dem zuvor angesprochenen Themenkreis über die Versuche der Loslösung von Freund und Vater zu lokalisieren ist. Die Zeit zum Vollzug dieser Suche wird PA erst nach Beginn der nächsten Äußerung gegeben, indem nach „‿Nämlich insofern“ (s088) eine dreisekündige Pause gelassen wird. Wie in s087 sichert sich TH mit einem schnellen Anschluss das Rederecht, konnektiert dann die aktuelle und die vorangegangene Äußerung und lässt danach eine Pause, in der er die Äußerung weiter planen kann, in der aber PA auch Zeit zum eigenständigen Auffinden von Wissen bleibt. Die Konnektierung erfolgt zum einen mit „nämlich“, das eine propositional basierte Ausarbeitung des zuvor versprachlichen Wissens ankündigt (Redder 1990: 111f.). Der zuvor prozessierte Hinweis auf ein entscheidendes Wissen wird demnach im Folgenden in seiner sprachlich gewussten Form entwickelt. Mit „insofern“ findet außerdem eine Verortung dieser propositional basierten Wissensentfaltung statt. Mit „in“ wird die folgende Wissensentfaltung in dem durch „fern“ prozessierten „Herausführen über die aktuelle Sprechsituation“ (Bührig 1996: 193) verortet23, mit „so“ wird diese Wissensentfaltung als Ausarbeitung eines Aspekts des zuvor prozessierten Wissens fokussiert. Die Kombination „Nämlich insofern“ kennzeichnet den anschließend prozessierten propositionalen Gehalt als p- basierte Entfaltung des zuvor prozessierten propositionalen Gehalts hinsichtlich eines bestimmten Aspekts. Da die Tonhöhe am Ende von „insofern“ leicht ansteigt, ist danach ein Doppelpunkt transkribiert worden. Die Kombination von steigender Intonation und anschließender Pause realisiert eine Zäsur im Sprechfluss und richtet die Erwartungen der Hörerin auf den anschließend prozessierten propositionalen Gehalt. Auf diese Weise funktioniert „Nämlich insofern“ wie eine Matrix, vor der der folgende propositionale Gehalt gelesen bzw. verstanden wird – und zwar als

23 Die Ausführungen zu „insofern“ orientieren sich an Bührigs Analyse von „inwiefern“ (1996: 192f.). Der Punkt von Bührigs Analyse scheint in dem genannten „Herausführen über die aktuelle Sprechsituation“, das von „fern“ geleistet wird, zu liegen. Aus diesem Herausführen über die aktuelle Sprechsituation ergibt sich die Notwendigkeit, neues Wissen einzubringen (wie beim ›Deuten‹) bzw. das bereits formulierte Wissen zu zerlegen (wie bei dem von Bührig untersuchten „Erläutern“ der Fall).

250 | Die Handlungsstruktur des tiefenpsychologischen ›Deutens‹ spezifizierende Bestimmung dessen, was zuvor gesagt wurde und im Hörerwissen weiterhin präsent ist. Nach der Pause formuliert TH ein bereits bekanntes Wissen, wonach PA „sehr gebunden“ (s088) an ihren Vater ist. Der Suchfokus der Patientin nach dem entscheidenden Wissen, wo „der Hund begraben“ liegt, wird also auf die Beziehung zum Vater gelenkt, die Frage an sich bleibt offen. Ähnlich operieren zwei weitere Äußerungen, die jeweils mit „Und“ konnektiert und mit Matrixkonstruktion und p-Konstruktion in Frageform prozessiert werden. Das formulierte Wissen wird von TH als „Frage, die ich mir dann gestellt habe, nach em letzten Mal“ (s089) gekennzeichnet, dabei wird der Suchfokus nach dem entscheidenden Wissen (wo der Hund begraben liegt) weiter eingeschränkt. Die erste Frage fragt nach den Ursachen der engen Bindung an den Vater („was bindet Sie überhaupt so an Ihren Vatér“), die zweite wird nach einer langen Planungspause von einer propositionalen („ob äh“ (s090)) zu einer „Wortfrage“ (Rehbein 1999: 110) („wie eigentlich so Ihr Bild is von Ihrem Vater̄“) repariert. Der Themenkomplex verengt sich schrittweise: nach der Gleichsetzung der Beziehungen zu Freund und Vater geht es zunächst nur noch um die enge Bindung an den Vater, dann um die Ursachen dieser Bindung und schließlich um das „Bild“ PAs von ihrem Vater. TH formuliert diese drei Äußerungen mit Fragetopologie und steuert so die Suche nach dem entscheidenden Wissenselement, die bei PA mental abläuft. Er nähert sich dem Wissen schrittweise an, so dass PA nicht auf einmal ein völlig neues Wissen vermittelt wird, sondern ein Element auf dem anderen aufbaut und Schritt für Schritt PAs mentalen Bereich umstrukturiert. Die Verbalisierung des entscheidenden Wissens wird auf diese Weise vorbereitet und kann von PA antizipiert werden. Mit den Matrixkonstruktionen knüpft TH gleichzeitig an eigene Wissensprozesse an, kennzeichnet den in Frageform formulierten propositionalen Gehalt also als Wiedergabe von ПS. Indem auch der Ansatz einer ersten Antwort in s091 dann als Frage formuliert wird („Ob das nich n Bild is […]“), wird PA zur Bewertung des formulierten Wissens aufgefordert, ein Abgleich von p mit dem Hörerwissen wird angeregt. Dies erleichtert PA auf der einen Seite die Ablehnung der Deutung, führt auf der anderen Seite, bei positivem Abgleich, dazu, dass PA eine weitgehend eigenständige Übernahme des formulierten Wissens vollzieht, sich das Wissen also aktiv aneignet. s091 nimmt das in s090 zu „wie“ reparierte „ob“ auf und formuliert in der Topologie der propositionalen Frage eine erste mögliche Antwort auf die in der initialen Äußerung der „Verbalisierung“ aufgerufene Frage nach dem entscheidenden Wissenselement. Demnach sieht PA ihren Vater als jemanden, den sie zwar „sehr gerne“ hat, bei dem aber gleichzeitig ihre Mutter „Zeit Ihres Lebens nichts anderes getan“ hat, als PA „diese Liebe auszutreiben“. Die Beziehung

„da scheint mir doch so der Hund begraben“ – Wissen und Handeln beim ›Deuten‹ | 251

zum Vater wird also durch die Beziehung zur Mutter verstehbar, die Probleme in der Beziehung zum Vater stehen mit dem Verhalten der Mutter, die diese Beziehung beeinträchtigt hat, in Zusammenhang. Das Verhalten der Mutter wird zwar zur Erklärung des Bildes vom Vater herangezogen, dennoch bleibt unklar, welche konkreten Auswirkungen das ‚Liebe-Austreiben‘ der Mutter gehabt hat. Eine echte Ursache-WirkungsBeziehung wird in s091 nicht entwickelt, die konkrete Vorgeschichte der schwierigen Beziehung zum Vater und die mögliche Rolle der Mutter dabei bleiben im Dunkeln. TH formuliert diese Wissenselemente erst in s099 und s101s106, zuvor wird die „Verbalisierung“ der Deutung von PA aber unterbrochen.

8.3.3 „Reaktion“ I PA:

/92/ • Sie sprechen wie die • Frau Müller-Rot, Frau Doktor Müller-Rot, • • bei der ich Name einer Therapeutin, anonymisiert

mal war. /93/ Die hat s ganz gleiche gesagt, wie Sie s jetzt formuliert ham, haargenau. /94/ Sie hat s nur anders formulier̄t. /95/ ‿Sie meinte, meine Mutter hätte es immer gut verstanden, • mich von meinem Vater fern zu halten. TH:

/96/ Hm̌˙

PA:

/97/ • Sehen Sie des auch so?

PA reagiert bereits vor der vollständigen „Verbalisierung“ in s092. Im Gegensatz zu anderen „Reaktionen“ (z. B. denen in B5 (s. o. S. 222ff, 228f., 232f.) oder B6 s100, s108) liegt zwischen „Verbalisierung“ (bzw. „Nachbearbeitung“) und „Reaktion“ keine längere Pause von einer Sekunde oder mehr, sondern nur eine Mikropause. PA denkt über die ›Deutung‹ also kaum nach, sondern prozessiert die „Reaktion“ quasi ‚im Affekt‘. Ebenfalls untypisch ist die sequentielle Position dieser „Reaktion“ ‚innerhalb‘ der „Verbalisierung“ der Deutung (s. u. S. 258f.). Beide Auffälligkeiten lassen sich damit erklären, dass PA das in s091 formulierte Wissen bereits bekannt und bewusst ist, dass sie es in ähnlicher Form bereits von einer anderen Therapeutin gehört hat. PA identifiziert das in s091 formulierte Wissenselement, wonach ihre Mutter versucht hat, ihr die Liebe zum Vater auszutreiben, als das gleiche Wissen, das auch „Frau Doktor Müller-Rot“ (s092) einmal „anders formuliert“ (s094) hatte, und setzt diesen Akt des Wiedererkennens verbal nach außen. Im Gegensatz zum Regelfall der „Reaktion“ muss die Patientin das formulierte Wissen hier also nicht mit dem bereits vorhandenen bewussten Wissen abgleichen und es ggf. in dieses vorhandene

252 | Die Handlungsstruktur des tiefenpsychologischen ›Deutens‹ Wissen integrieren, sondern das formulierte, deutende Wissen ist bereits ein Teil des vorliegenden bewussten Wissens der Patientin. Es muss nicht eigens bewertet und bearbeitet, lediglich identifiziert, werden, so dass PA fast unmittelbar auf die Formulierung eines deutenden Wissenselements reagieren kann. Wie andere „Reaktionen“ zeigt aber auch diese dem Therapeuten, wie die Patientin das verbalisierte Wissen verarbeitet (s. o. Kap. 8.2). In diesem Fall wird für TH erkennbar, dass das bisher formulierte Wissen bei PA bereits vorliegt, dass eine ›Deutung‹ in dem Sinne also überflüssig bzw. durch eine andere Therapeutin bereits erfolgt ist. TH wird damit die Möglichkeit gegeben, die Deutung an PAs Wissen anzupassen, sie also so weiter zu entwickeln, dass PA ihre Situation versteht und den ablaufenden Prozessen gegenüber handlungsfähig wird. Indem PA dem Therapeuten nach s091 keine Zeit zur Fortsetzung der Deutung lässt und mit einem längeren Beitrag reagiert, behandelt sie die Deutung als abgeschlossen. Sie wartet nicht ab, ob TH noch mehr sagen will, sondern bringt bereits an dieser Stelle ihr Wissen und ihre Bewertung des bisher formulierten deutenden Wissens ein. Dabei macht sie zum einen deutlich, dass eine andere Therapeutin ihr das gleiche bereits einmal gesagt hatte, zum anderen versichert sie sich, dass TH tatsächlich der gleichen Meinung ist: „Sehen sie des auch so?“ (s097). An THs Reaktion darauf – er setzt die „Verbalisierung“ der Deutung fort – wird offensichtlich, dass sich TH und PA an zwei verschiedenen Positionen im Muster des ›Deutens‹ befinden. Während PA davon ausgeht, dass die „Verbalisierung“ abgeschlossen ist und es nun an ihr ist, darauf zu reagieren, befindet sich TH noch innerhalb der Position der „Verbalisierung“. Er geht auf die – an sich ja durchaus überraschende – „Reaktion“ PAs kaum ein (PA erhält lediglich ein indifferentes, dethematisierendes „Hḿ˙“ (s098) als Antwort auf ihre Frage) und setzt in s099 die „Verbalisierung“ mit dem Einbringen neuen Wissens fort. Im Unterschied zu einer „Nachbearbeitung“ der Deutung wird das deutende Wissen also nicht an die „Reaktion“ der Patientin angepasst und diskursiv bearbeitet, sondern es werden mit s099 und s101-s106 neue Wissenselemente eingebracht, die „Reaktion“ der Patientin spielt dabei offensichtlich keine Rolle. Die untypische „Reaktion“ – ohne Pause und noch vor vollständiger „Verbalisierung“ – ist also darauf zurückführen, dass das zuvor formulierte deutende Wissen der Patientin bereits bewusst vorlag. Sie kommt dadurch zu dem Schluss, dass die „Verbalisierung“ der Deutung bereits abgeschlossen ist, TH dagegen setzt die „Verbalisierung“ im Anschluss an diese erste „Reaktion“ fort. TH und PA befinden sich an unterschiedlichen Positionen innerhalb des Musters der ›Deutung‹.

„da scheint mir doch so der Hund begraben“ – Wissen und Handeln beim ›Deuten‹ | 253

8.3.4 „Verbalisierung“ II und „Reaktion“ II TH:

/98/ • Hḿ˙ /99/ • • • Und dass Sie irgendwoó • • • ähm den Wunsch haben, da was wieder gut zu machen bei Ihrem Vater.

PA:

/100/ ((3,3s)) Muss ich mir mal durch n Kopf [gehen lassen].

TH:

/101/

[Und dass das] die die diese ganz — • äh in meinen Augen — so sehr enge, • • sehr zwiespältige, aber doch irgendwo sehr enge Bindung ausmacht.

Mit s099 kommt es dann zu einer Synchronisierung der Positionen beider Aktanten innerhalb des Deutungsmusters. TH bringt weiteres deutendes Wissen ein („Und dass Sie irgendwoó • • • ähm den Wunsch haben, da was wieder gut zu machen bei Ihrem Vater“ (s099)), woraufhin eine längere Pause entsteht, nach der PA dann die Notwendigkeit weiterer mentaler Bearbeitung dieses Wissens verbalisiert („((3,3s)) Muss ich mir mal durch n Kopf gehen lassen“ (s100)). Sie produziert also eine ‚klassisch‘ zu nennende Reaktion, indem sie zunächst überlegt und dann darauf hinweist, dass sie noch mehr überlegen müsse. An dieser Stelle ist nicht zu entscheiden, ob es sich lediglich um eine taktisch motivierte Form der „Reaktion“ handelt, die zuallererst den Erwartungen des Therapeuten an eine ‚gute Patientin‘ entsprechen soll und keine tatsächlich vollzogenen mentalen Prozesse zum Ausdruck bringt. Konversationsanalytisch vorgehende Untersuchungen würden möglicherweise darauf verweisen, dass die Patientin mit ihrer „Reaktion“ das Spiel wie gewünscht mitspielt (vgl. Wolff 1994a). Wenn solche Phänomene des taktischen Vollzugs einer vom Gegenüber erwarteten Handlung auch immer wieder zu beobachten sind (vgl. U. Streeck 2004: 245ff), so kann die Metapher von Therapie – oder sprachlichem Handeln überhaupt – als ‚Spiel‘ doch die große und immer wieder nachgewiesene Wirkung von Therapie (s. o. S. 4) nicht erklären. Daher wird hier dafür plädiert, taktisches oder strategisches Handeln von Aktanten als solches zu erfassen (vgl. Grießhaber 1987) und nicht mit gesellschaftlicher Realität generell gleichzusetzen. Sprachlich manifest ist in jedem Fall, dass das deutende Wissen von PA hier weder abgelehnt noch einfach übernommen, sondern zum Ausgangspunkt einer mentalen Bearbeitung gemacht wird. TH formuliert in s099 einen „Wunsch“ der Patientin und bringt damit zum ersten Mal den Aspekt der Motivation von PAs Verhalten in diese Deutung ein. Demnach möchte PA im Verhältnis zum Vater „was wieder gut“ (s099) machen. Die Äußerung wird, wie die folgenden s101 und s102 (s. u. S. 255f.), mit „und dass“ konnektiert, es wird also keine inhaltliche Relationierung der Wissenselemente prozessiert, die Verbindung des in s099 formulierten Wunsches

254 | Die Handlungsstruktur des tiefenpsychologischen ›Deutens‹ PAs mit ihrem Verhalten wird nicht in p hergestellt, sondern muss von der Hörerin geleistet werden. Die Beziehung zum Vater ist demnach durch einen Wiedergutmachungswunsch der Patientin motiviert, der aus der Tatsache entstanden ist, dass ihre Mutter die Beziehung zum Vater früher stark beeinträchtigt hatte. Diese Handlungsgeschichte wird in s099 nicht vollständig rekonstruiert, sondern mit dem Ausdruck „Wunsch“ wird Wissen über mentale Prozesse aufgerufen, die Handeln bzw. Verhalten auslösen können, während mit „da“ das Wissen über die beeinträchtigte Beziehung zum Vater refokussiert wird. Der in der Infinitivkonstruktion („da was wieder gut zu machen bei ihrem Vater“) formulierte „Wunsch“ wird so als die Beziehung zum Vater bestimmender Faktor gekennzeichnet. Diese Bestimmung wird in der Verbalisierung III, die auf die bereits besprochene ‚klassische‘ „Reaktion II“ folgt, aufgegriffen und weiter entwickelt.

8.3.5 „Verbalisierung“ III PA:

/100/ ((3,3s)) Muss ich mir mal durch n Kopf [gehen lassen].

TH:

/101/

[Und dass das] die die diese ganz — • äh in meinen Augen — so sehr enge, • • sehr zwiespältige, aber doch irgendwo

sehr enge Bindung ausmacht. /102/ ((3s)) [Und] dass Sie im PA: TH:

/103/ [(= =)]˙ /102/ [1 [Moment] 1] dabei sind — nicht nur • heute, sondern in

PA:

/104/ [1 (= =) 1]˙

TH:

/102/ den letzten ((Einatmen; 0,4s)) Wochen, soweit ich s mitgekriegt habe — ((Einat -

[laut

men; 1s)) ((1s)) sich da n bisschen zu distanzierèn • • • n bisschen ((1,7s)) mehhr • • Selbständigkeit zu entwickeln̄. /105/ ((2,7s)) Und ich kann mir vorstellen, dass das Ihnen Angst macht. /106/ ((3,2s)) Dass Sie des durcheinander bringt. /107/ ‿[(Hm)]? [leise

In der Fortsetzung dieser Deutungspassage geht TH erneut nicht auf die „Reaktion“ PAs ein, passt das formulierte Wissen nicht an PAs „Reaktion“ an, sondern bringt neues deutendes Wissen in den Diskurs ein. Dieses Wissen wird in s099, s101 und s102 mit „Und dass“ eingeführt, jeweils ohne dass eine übergeordnete Matrixkonstruktion, auf der die Äußerungen basieren, formuliert wird. Es handelt sich also um mit „und“ angeschlossene „nicht-eingebettete-daß-

„da scheint mir doch so der Hund begraben“ – Wissen und Handeln beim ›Deuten‹ | 255

Sätze“ (Schlobinski 1988), die, wie beschrieben (o. S. 219ff), Wissen zwar formulieren, es jedoch mit keiner illokutiven Qualität versehen. Insbesondere werden keine kausalen Konnektoren benutzt, die Patientin muss das Abfolgeverhältnis der einzelnen Wissenselemente, die Vorgeschichte, Geschichte und Nachgeschichte des fraglichen Geschehens, selbst rekonstruieren. Mit „und“ werden die Äußerungen s099-s105 stattdessen jeweils nur durch die „operative Prozedur des Ausbaus von Wissen unter einer gemeinsamen Kategorie“ (Redder 2007a: 500) konnektiert, sie scheinen damit alle auf der gleichen epistemischen Stufe zu operieren und das bereits verbalisierte Deutungswissen linear weiterzuentwickeln. Dass auch in dieser Deutung „nicht-eingebettete-daß-Sätze“ verwendet werden, sollte allerdings nicht zu dem Schluss verleiten, dass dieses Oberflächenphänomen ein Kennzeichen jeglicher ›Deutung‹ ist. Zu rekonstruieren ist vielmehr die Leistung dieser Konstruktion, die auf eine besondere Weise das Wissen des Patienten für das ›Deuten‹ nutzt (s. o. S. 219ff). In diesem aktivierenden Zugriff auf das Hörerwissen ist ein Kennzeichen des ›Deutens‹ zu sehen, nicht in seiner einzelfallartigen Vermittlung an die sprachliche Oberfläche, die sich jeweils auch unterschiedlich realisieren kann (s. u. Kap. 9.2). Obwohl das Wissen in p vergleichsweise unstrukturiert formuliert wird, sind kausale Beziehungen, im Sinne der Relationierung von Vorgeschichte, Geschichte und Nachgeschichte (Thielmann 2009: 209f.), zwischen den einzelnen Wissenselementen durchaus auszumachen. In s101 wird der „Wunsch“ (s099), beim Vater „was wieder gut zu machen“ (s099), mit „das“ (s101) refokussiert und als das bezeichnet, was die „sehr zwiespältige, aber doch irgendwo sehr enge Bindung“ (s101) an den Vater ausmacht. Die schwierige, „zwiespältige“ (s101) Beziehung zum Vater wird also durch PAs Wiedergutmachungswunsch (s099) geprägt, der auf die Interventionen der Mutter zurückgeht (s091). Während die Deutung bis hierhin die grundsätzliche Struktur der Beziehung zum Vater zum Thema hatte, werden von TH ab s102 neuere Entwicklungen aus „den letzten ((Einatmen; 0,4s)) Wochen“ angeführt, um das aktuelle Erleben und Empfinden der Patientin verstehbar zu machen. Demnach ist PA „im Moment dabei“, „sich da n bisschen zu distanzierèn • • • n bisschen ((1,7s)) mehhr • • Selbständigkeit zu entwickeln̄“ (s102), was „Angst“ (s105) auslöst bzw. „durcheinander“ (s106) bringt. Dabei ist s106 im Sinne Bührigs (1996: 94ff) als ein „Umformulieren“ der vorangegangen Äußerung zu verstehen. Das Ausbleiben einer Reaktion wird von TH so ausgelegt, dass PA „nicht die mentalen Operationen ausführt, die für den Mitvollzug der sprecherseitig realisierten Handlungsalternative […] notwendig sind“ (a. a. O.: 283). TH versprachlicht deshalb das gleiche Wissenselement in veränderter Form noch einmal, um PA

256 | Die Handlungsstruktur des tiefenpsychologischen ›Deutens‹ die Möglichkeit zu geben, anhand der veränderten Formulierung die entsprechende Handlung mitzuvollziehen. Insgesamt nutzt TH an dieser Stelle das in der Deutung entwickelte Wissen also nicht nur, um PA auf die Beziehungsstruktur zum Vater und mittelbar auch zur Mutter hinzuweisen, sondern er macht mit diesem Hinweis insbesondere ihr aktuelles Erleben, ihre „Angst“ (s105) bzw. ihre „Gedanken […], sich umzubringen“ (s048; s. Anhang), von denen PA in der letzten Stunde berichtet hatte, verstehbar. PAs Selbstmordgedanken, die von TH auch zuvor in einer Deutung behandelt worden waren, können demnach verstanden werden, indem man zum einen die grundsätzliche Struktur der Beziehungen, in denen PA sich befindet, durchsichtig macht, und zum anderen die Veränderungen berücksichtigt, die sich – angestoßen u. a. durch die Therapie – in diesem Beziehungsgeflecht aktuell ergeben. Der Versuch, sich aus dem engen, zwiespältigen Beziehungskomplex, in dem sich PA befindet, zu lösen, macht ihr Angst. Diese Angst gipfelt in Selbstmordgedanken. Die Deutung formuliert den Beziehungskomplex, den Versuch der Lösung daraus und die sich ergebenden mentalen Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge. Dies geschieht so, dass die Patientin aktiv mitarbeiten und mitkonstruieren muss, dass das Wissen der Patientin also für den Aufbau des Deutungswissens genutzt wird. Das so prozessierte deutende Wissen bietet PA neue, veränderte Möglichkeiten, die Beziehungsstruktur zu wichtigen Bezugspersonen, das aktuelle Erleben und die Zusammenhänge zwischen diesen Aspekten zu sehen.

8.3.6 „Reaktion“ III PA:

/108/ ((4,1s)) [Tja, des wär vielleicht ne Möglichkeit, • • dass es so ist]. [sehr leise, nachdenklich

/109/ • • [Eine Möglichkeit, an die ich eigentlich selber noch nicht gedacht] [1 (hab. [nachdenklich [1 sehr leise

/110/ Gar nich/ gar nich =) 1]. /111/ ((4,5s)) [Da hab ich • nicht dran gedacht]. [leise, nachdenklich

/112/ ((1,2s)) Aber für mich war s eigentlich immer schon wichtig, wenn ich mich von irgendeiner Sache, • • sei es, ne Sache oder ein Mensch gewesen is, gelöst habe, • • dann brauchte ich… /113/ ‿Zum Beispiel wenn ich ein Kleid weggeschmissen hab ((1,6s)), dann hab ich s nur weggeschmissen, wenn ich wusste, • da hängt ein neues hier drinnen. /114/ ((1,2s)) Und wenn ich einen Mensch ((1s)) nicht mehr • • • ertragen konnte oder aus anderen [(=== ==)],• • dannn — genau wie mein Mann — • • dann hab ich

„da scheint mir doch so der Hund begraben“ – Wissen und Handeln beim ›Deuten‹ | 257

TH: PA:

[((Lautes Husten))]˙ /114/ nur • • mich lösen können, wenn ich nicht mehr dran gehangen hab, • • • weil jemand • Neuer da war. /116/ Und vielleicht is es jetzt wieder so.

TH fordert in s107 mit „(Hm)?“ eine Reaktion der Patientin an. Diese überlegt zunächst vier Sekunden, weist dann mit „Tja“ auf ein Dilemma – vermutlich bzgl. widerstreitender Wissenselemente – hin und bezeichnet das mit „des“ und „so“ refokussierte neue Deutungswissen als „Möglichkeit“ („Tja, des wär vielleicht ne Möglichkeit, • • dass es so ist“ (s108)). In den nächsten drei Äußerungen betont sie, dass sie selbst diese Möglichkeit noch nicht in Betracht gezogen hatte („Eine Möglichkeit, an die ich eigentlich selber noch nicht gedacht (hab. Gar nich/ gar nich =). ((4,5s)) Da hab ich • nicht dran gedacht.“ (s109-s111)). Zunächst reagiert PA also überrascht, nachdenklich und abwägend, in s112 vollzieht sie dann, nach einer weiteren Pause von gut einer Sekunde, einen Wechsel hin zu einem Belegen der Deutung an ihrem biografischen Wissen über sich selbst. Dieser Wechsel wird in s112 mit einem erwartungsbearbeitenden „Aber“ (vgl. o. S. 138) eingeleitet, der Hörer wird so auf eine Abweichung von seinen Erwartungen ausgerichtet. Diese Abweichung besteht darin, dass in der Folge nicht weiter Nachdenklichkeit oder Nicht-Wissen ausgedrückt wird, sondern Teile des deutenden Wissens mit Hilfe eigenen biografischen Wissens als richtig identifiziert und somit in das eigene Wissen integriert werden. PA bringt in s112 bis 116 Selbstbeobachtungen zum Ausdruck, wonach sie sich „nur“ (s114) habe „lösen können“ (s114) – von Gegenständen („Kleid“ (s113)) oder Menschen („mein Mann“ (s114)) – wenn sie „nicht mehr dran gehangen“ (s114) habe, „weil jemand • Neuer da war“ (s114). Diese „Reaktion“ greift aus dem Deutungswissen also den Aspekt ‚Schwierigkeiten sich zu lösen‘ heraus und belegt ihn anhand von partikularem Erlebniswissen sowie Wissen, das die Struktur von „Einschätzungen“ (Ehlich & Rehbein 1977: 49ff) hat. Die „Reaktion“ entspricht damit der bereits beschriebenen (o. S. 132, 232f.): Die Patientin elaboriert die ›Deutung‹ und belegt sie dabei an ihrem eigenen Wissen. Dies geschieht, indem sie das vergleichsweise abstrakte Deutungswissen mit konkreten Vorgängen aus ihrer Biografie verknüpft und das konkrete Erleben als Instantiierung des abstrakten, ‚prinzipiellen‘ Deutungswissens begreift. Die in der Deutung dargelegte Systematik, nach der sich das Erleben der Patientin entwickelt, wird von der Patientin an konkreten Wissenselementen, die in der Deutung nicht angesprochen waren, erkannt. Auf diese Weise wird einerseits die Deutung verifiziert, andererseits werden auch weitere lebensgeschichtliche Episoden durch das deutende Wissen verstehbar. In der letzten Äußerung dieser „Reaktion“ macht PA dann mit „vielleicht“ deutlich, dass die Wiedererken-

258 | Die Handlungsstruktur des tiefenpsychologischen ›Deutens‹ nung des deutenden Wissens im eigenen Erleben noch nicht abgeschlossen ist, dass eine endgültige Bewertung noch aussteht („Und vielleicht is es jetzt wieder so.“ (s116)). In diesem Transkript zeigt sich mithin eine große Bandbreite von „Reaktionen“, von denen nur die letzte der klassischen „Reaktion“ entspricht, auf die sich die Forschung bisher konzentriert hat (s. o. Kap. 2.3.6.2). Der erste Durchlauf durch die Position der „Reaktion“ erfolgt von s092 bis s097 und unterbricht die „Verbalisierung“ der Deutung. Diese erste „Reaktion“ ist insofern als Ausnahme einzustufen, als sie das zuvor formulierte deutende Wissen als bekanntes behandelt. Die Deutung funktioniert an dieser Stelle also nicht eigentlich als ›Deutung‹, weil sie PA nicht auf unbewusste Elemente ihres Erlebens hinweist. Vielmehr handelt es sich um eine – unwissentliche – Wiederholung eines solchen Hinweises. Mit der Bekannt- und Bewusstheit des Wissens lässt sich die ungewöhnliche Form (ohne vorangehende Pause) und Position (innerhalb der „Verbalisierung“) dieser „Reaktion“ erklären. TH behandelt die „Reaktion“ dann auch nicht auf die zu erwartende Art und Weise, er geht nicht auf sie ein, passt das formulierte Wissen nicht an sie an, sondern prozessiert weitere neue Wissenselemente, setzt die „Verbalisierung“ also fort. Die von den sonstigen Fällen abweichende sequentielle und inhaltliche Realisierung der „Reaktion I“ in diesem Beispiel lässt sich also durch eine veränderte Wissensstruktur erklären: das formulierte Wissen ist für die Hörerin nicht, wie es dem Zweck des ›Deutens‹ entspricht, unbekannt bzw. unbewusst, sondern liegt ihr bereits bewusst vor. Der abweichende Fall kann also mithilfe der gleichen analytischen Prinzipien (das Verhältnis zwischen Deutungswissen und vorhandenem Patientenwissen bestimmt die „Reaktion“) erklärt werden, wie die regelhaften Reaktionen. Damit wird die grundsätzliche Analyse der Patientenreaktion durch den abweichenden Fall bestätigt. An zwei anderen Stellen (s100, s108-s110) reagiert PA zunächst mit Nachdenklichkeit und mit dem Hinweis darauf, dass das deutende Wissen für sie neu ist. Diese Form der „Reaktion“ scheint ein Vorläufer des dritten Typs der „Reaktion“, der in diesem Transkript realisiert wird zu sein, des Belegens der ›Deutung‹ am eigenen Erleben. Wenn der Hinweis auf unbewusstes Wissen in der ›Deutung‹ gelingt, PA also eine andere Sichtweise auf die eigene Situation vermittelt wird, so äußert sich diese mentale Veränderung zunächst als Verunsicherung, Überraschung, Nicht-Wissen. Die Patienten brauchen eine gewisse Zeit, das deutende Wissen zu verstehen, es also in ihr bereits bestehendes Wissen zu integrieren und die Konsequenzen zu erfassen, die sich hinsichtlich der mentalen Repräsentation ihrer Situation ergeben. Dieser Prozess kommt oft noch in dem hier zu beobachtenden dritten Typ, dem Belegen, zum Ausdruck, wenn die Patienten das deutende Wissen zwar an eigenen Wissenselementen

„da scheint mir doch so der Hund begraben“ – Wissen und Handeln beim ›Deuten‹ | 259

identifizieren und illustrieren, zugleich aber auf die Unsicherheit dieser Identifikation hinweisen und Bedarf für weitere mentale Bewertungsprozesse („vielleicht“ (s116)) versprachlichen. Die Bedeutung dieser belegenden „Reaktion“, und der Grund dafür, dass sie von den Therapeuten angestrebt wird (vgl. Peräkylä 2005: 168), liegt eben darin, dass sie das Wiederkennen und produktive Verarbeiten des Deutungwissens erkennbar macht und damit auf eine gelungene Wissensumstrukturierung hinweist. In diesem Punkt gleicht die „Reaktion“ auf die ›Deutung‹ auch der „Reaktion“ auf die ›VEE‹ (o. Kap. 7). Auch beim ›VEE‹ lässt eine elaborierende, belegende „Reaktion“ auf eine erfolgreiche Umstrukturierung des mentalen Bereichs des Patienten schließen. Diese „Reaktion“ wurde daher auch beim ›VEE‹ als Teil des Handlungsmusters, mithin also als notwendiges Element für eine erfolgreiche ›VEE‹, erkannt. Unterschiede zwischen den beiden „Reaktionen“ zeigen sich in Ansätzen in der Ausgestaltung der „Reaktion“: Auf das ›Deuten‹ reagieren Patienten ausführlicher und detaillierter. Dies ist auf die deutlich umfassendere Wissensumstrukturierung, die mit der ›Deutung‹ angestrebt wird, zurückzuführen (für einen ausführlichen Vergleich von ›Deuten‹ und ›VEE‹ s. u. Kap. 9.1).

8.3.7 Nachgeschichte24

/117/

TH [v]

• • Nich weil sondern bis jemand Neuer da war. -

/118/

/119/

Oder… • Ja ich hab mir das immer mit

PA [v]

TH [v]

/120/

/122/

Hm̌˙

Nur lösen weil.

/121/

PA [v]

weil erklärt. Ich sag immer : • • • Du konntest dich nur lösen, weil -

24 Da sich in dieser Passage viele Überlappungen befinden, wird sie in Partiturschreibweise wiedergegeben.

260 | Die Handlungsstruktur des tiefenpsychologischen ›Deutens‹

TH [v]

PA [v]

/123/

/124/

/125/

/126/

‿Jetzt, ja.

So.

Jaja˙

Jaá˙

weil da jemand

noch äh da gewesen ist (mit).

Die Deutung wird von TH nicht nachbearbeitet. Auch an dieser Stelle zeigt sich somit der Vorzug einer theoretischen Konzeption, die sprachliche Ablaufstrukturen nicht schlicht an der Oberfläche des Geschehens festmacht, sondern von der funktionalen Ausrichtung sprachlichen Handelns auf den Hörer her denkt (s. o. Kap. 3). Aktanten sind nicht Ausführende starrer „Kommunikationsschemata“, sondern sie nutzen auf der Basis laufend aktualisierter Konstellationseinschätzungen ihr Wissen über zur Verfügung stehende Handlungswege so, dass ein bestehendes Bedürfnis befriedigt wird. TH kommt in der gegebenen Konstellation zu der Einschätzung, dass eine „Nachbearbeitung“ des deutenden Wissens nicht notwendig ist, und verzichtet daher darauf. Dies ist im konkreten Fall zweckmäßig, ändert aber nichts daran, dass die Position der „Nachbearbeitung“ ein wesentliches, wenn auch nicht unverzichtbares, Element des Handlungsmusters ›Deutung‹ ist. Statt einer „Nachbearbeitung“ realisiert TH in s117 eine inhaltliche Wendung, die einen Teil des von PA in der „Reaktion“ gerade formulierten Wissens konfrontativ korrigiert: „Nich weil sondern bis jemand Neuer da war“. Er korrigiert „weil“ zu „bis“ und verändert damit den Zusammenhang der von PA geschilderten Prozesse. Während PA mit „dann hab ich nur • • mich lösen können, wenn ich nicht mehr dran gehangen hab, • • • weil jemand • Neuer da war“ (s116) die Tatsache, dass eine andere Person zur Verfügung stand, als entscheidungsrelevantes Wissen für das Lösen-Können angibt, legt TH mit „bis“ den Schwerpunkt (auch intonatorisch) auf den zeitlichen Aspekt der fraglichen Veränderungen. Demnach steht die von PA formulierte Vorgeschichte des Lösen-Könnens grundsätzlich außer Frage: es war für PA (unbewusst) schon deutlich früher klar, dass sie ihren Partner verlassen würde, sie wartete nur noch „bis“ der richtige ‚Ersatz‘ gefunden war. Entscheidend ist also nicht, welche Vorgeschichte das Lösen-Können hat, denn diese ist in jedem Fall gleich (Ersatz der bestehenden Bindung durch eine andere) und von PA unbewusst bereits vorgeplant. Entscheidend ist vielmehr, wann sich diese Vorgeschichte ereignet bzw. wann die Gegebenheiten so sind (‚Ersatz‘ also verfügbar ist), dass sie sich realisieren lässt. Bearbeitet wird damit nicht nur PAs Konzeptualisierung der Trennungs-, sondern auch der Beziehungsgeschichte überhaupt. Demnach hat

„da scheint mir doch so der Hund begraben“ – Wissen und Handeln beim ›Deuten‹ | 261

PA eine bestehende Beziehung unbewusst so lange am Leben erhalten, bis „jemand Neuer“ (s116) zur Verfügung stand. TH verbalisiert hier also ein neues, sehr weitgehendes Wissenselement über das Beziehungs- und Trennungsverhalten PAs. Dieses neue Wissenselement wird in p nur durch die Korrektur von „weil“ zu „bis“ – unterstützt durch die Betonung – realisiert und folgend nicht weiter ausgeführt. Aufgrund dieser knappen Formulierung wird es von PA nicht verstanden, der Punkt der Äußerung – eine veränderte Konzipierung der Vorgeschichte von Trennungen und damit auch von Beziehungen an sich – wird von PA nicht nachvollzogen, sie besteht auf dem „weil“ (s119). TH gibt das neue Wissen daraufhin auf („Nur lösen weil. ‿Jetzt, ja. So. Jaja˙“ (s122-s125)) und verzichtet darauf, PA das fragliche Wissen bewusst zu machen. TH kommt in seiner Konstellationseinschätzung nach der dritten „Reaktion“ der Patientin also zu dem Schluss, dass das deutende Wissen angemessen verbalisiert und von PA aufgenommen worden ist. Eine weitere Anpassung des deutenden Wissens nach Maßgabe dieser „Reaktion“ ist nicht nötig. Stattdessen bringt er neues Wissen ein, indem er PAs „Reaktion“ korrigiert. Dieses Wissenselement wird von PA aufgrund seiner verkürzten Realisierung nicht verstanden. Als TH dies erkennt, gibt er dieses Element auf und schwenkt auf PAs Perspektive ein. Eine neue Deutung wird hier also nicht prozessiert, genauso wenig wird die vorangegangene Deutung nachbearbeitet. s117 könnte zwar zu einem Ausgangspunkt einer Deutung werden – schließlich würde auch durch diese Äußerung auf der Seite der Patientin eine Reihe von Fragen aufgeworfen, wenn sie die Äußerung denn verstünde. Da TH s117 allerdings nicht als Ausgangspunkt einer ›Deutung‹ behandelt, also keine weiteren Äußerungen prozessiert, in denen das deutende Wissen Schritt für Schritt aufgefaltet würde, das neue Wissenselement vielmehr gleich wieder fallen lässt, ist hier nicht von einem ›Deuten‹ zu sprechen. Damit zeigt dieses Beispiel auch, welches interaktive ‚Schicksal‘ eine Intervention erfährt, die nicht die herausgearbeiteten, für das ›Deuten‹ zweckmäßigen Charakteristika der Wissensentfaltung aufweist. Sie wird erstens vom Patienten nicht verstanden und zweitens als Konsequenz daraus vom Therapeuten fallen gelassen. Auch dieser abweichende Fall einer ‚Deutung im Ansatz‘ macht daher eine Bestätigung der vorgelegten Analyse ex negativo möglich, da sich die Abweichung auf die gleichen analytischen Prinzipien – Berücksichtigung des Patientenwissens als die das ›Deuten‹ strukturierende Kategorie – zurückführen lässt wie die regelhaften Fälle.

262 | Die Handlungsstruktur des tiefenpsychologischen ›Deutens‹

8.4 Zusammenfassung: Formale und funktionale Charakteristika des ›Deutens‹ Nach dieser ‚Mesoanalyse‘ der einzelnen Positionen werden im Folgenden die formalen und funktionalen Charakteristika des ›Deutens‹ kurz dargestellt. Da die Zusammenfassung von B5 bereits präsentiert wurde (8.2.9) und beide Beispiele im Grunde die gleichen Charakteristika zeigen, liegt der Schwerpunkt der Ausführungen auf B6. Bereits ein oberflächlicher Durchgang durch das Material lässt einige Merkmale des ›Deutens‹ erkennen, die sich in B5 und B6 gleichermaßen zeigen. So verwendet TH in B6 in der „Vorbereitung“ (s081-s085) und dem ersten Durchlauf durch die Position der „Verbalisierung“ (s087-s090), in insgesamt also neun Äußerungen, zehnmal die Aspektdeixis „so“ – in B5 wird sie elfmal verwendet. Der Ausdruck steht in der Regel „prärhematisch“ (Rehbein 1982b), leistet also keine Fokussierung innerhalb des Textraumes auf Wissenselemente, die davor oder danach verbalisiert werden, sondern weist PA auf eine Ausprägung bestimmter Aspekte hin. Wie diese Ausprägung konkret gestaltet ist, wird dabei in p gerade nicht verbalisiert, sondern der Vorstellung der Hörerin anheimgestellt. PA wird durch den Verweis auf den Vorstellungsraum dazu gebracht, die Äußerungen selbsttätig zu ergänzen und greift dabei auf ihr Wissen über das fragliche Erleben zurück. Die ›Deutung‹ wird mittels „so“ auf eine Weise prozessiert, die die Patienten das formulierte Wissen selbsttätig ergänzen lässt. Ebenfalls sehr auffällig und eine erstaunliche Parallele zwischen beiden Beispielen sind die ‚freischwebenden‘ p-Konstruktionen, die den zweiten Durchlauf durch die „Verbalisierung“ bestimmen. In beiden Fällen ist eine Matrixkonstruktion, von der der prozessierte propositionale Gehalt syntaktisch abhängt, nicht zu erkennen, es kommt zu einer Dissoziation von Proposition und Illokution. Die Äußerungen versprachlichen Wissen, geben aber keine Anweisung zur Verarbeitung dieses Wissens. Weder wird assertiv eine schlichte Übernahme des Wissens angeregt, noch wird das formulierte Wissen personalund temporaldeiktisch in der Sprechsituation verankert oder der inhaltliche Bezug zu den zuvor verbalisierten Wissenselementen (z. B. mittels Konnektoren oder „zusammengesetzten Verweiswörtern“ (Rehbein 1995b)) deutlich gemacht. Der Zusammenhang der verbalisierten Wissenselemente – wie sich eins aus dem anderen entwickelt – muss damit konkret von der Hörerin hergestellt werden. Sie muss die zeitliche Abfolge und mögliche begründende Aspekte der formulierten Wissenselemente rekonstruieren und sie so zueinander relationieren, dass sich eine sinnvolle Neuperspektivierung ihres eigenen Erlebens ergibt.

Zusammenfassung: Formale und funktionale Charakteristika des ›Deutens‹ | 263

Die Wissensumstrukturierung, die das ›Deuten‹ leistet, wird damit zu einem Teil von den Patienten selbst durchgeführt, die Patienten werden an Aufbau und Ordnung des umstrukturierenden Wissens beteiligt. Ein weiteres Kennzeichen der Prozessierung der ›Deutung‹ ist das Aufwerfen von Fragen durch die initiale Äußerung der „Verbalisierung“. Die Aufmerksamkeit der Patienten wird damit auf die folgenden Äußerungen ausgerichtet, zugleich wird eine Suche nach dem fraglichen, bestimmten Nicht-Gewussten ausgelöst. In B6 prozessiert TH die anschließende Wissensentfaltung ebenfalls in der Form von Fragen, die den Suchfokus der Patientin immer weiter einschränken. Diese Wissensprozessierung mithilfe von in Matrixkonstruktionen formulierten Fragen spiegelt quasi die mentalen Prozesse, die gleichzeitig bei der Patientin ablaufen. Die Fragen grenzen den Suchfokus langsam ein und führen PA Schritt für Schritt zu dem entscheidenden Wissen, das die zu Beginn der „Verbalisierung“ aufgeworfenen Fragen beantwortet. Indem auf diese Weise das Nicht-Gewusste immer bestimmter, immer stärker eingegrenzt, wird, wird es PA eher möglich, das fragliche Wissen selbst aufzurufen oder seine Verbalisierung durch TH zu antizipieren. Auch verleihen die Fragen dem formulierten Wissen nicht den Charakter von Aussagen über die Wirklichkeit P, sondern stellen es der Bewertung der Patientin anheim, machen es also von ihrem Wissen über P abhängig. Die Prozessierung der ›Deutung‹ greift also in B5 wie in B6 durch das Aufwerfen und schrittweise Beantworten von Fragen zu Beginn der „Verbalisierung“ in spezifischer Weise auf das Wissen der Patienten zu. Eine ähnliche Wirkung wie die Formulierung von Fragen haben sprachliche Mittel, die die Zukommensrelation des Gewus sten zum Thema des Wissens modalisieren und von der Bewertung durch die Patientin abhängig machen. Zu diesen gehören in beiden Beispielen Matrixkonstruktionen („Und ich kann mir vorstellen, dass“ (s105)) und Parenthesen25 („— • äh in meinen Augen —“ (s101)), die den prozessierten propositionalen Gehalt als Wiedergabe mentaler

25 Parenthesen (Hoffmann 1998, von Kügelgen 2003) spielen in der Therapie eine besondere Rolle, weil sie es dem Therapeuten erlauben, die Verarbeitung von Wissen durch den Hörer noch während dessen Formulierung propositional zu steuern. Für die Therapeuten bietet sich so die Möglichkeit, Missverständnisse bei der Formulierung von häufig delikatem, die Integritätszone des Patienten an sich verletzendem Wissen zu vermeiden. Parenthesen innerhalb von Interventionen wären daher als Mittel zu beschreiben, die es dem Therapeuten ermöglichen, während der Anwendung therapeutischer Techniken auch den anderen zentralen Wirkfaktor verbal orientierter Psychotherapie, die ›Objektbeziehung‹ zwischen Therapeut und Patient, gezielt zu beeinflussen. Parenthetisch prozessierte Interventionen schlagen quasi ‚zwei Fliegen mit einer Klappe‘: sie vermitteln einerseits neues Wissen und sorgen andererseits gleichzeitig dafür, dass dieses Wissen richtig aufgenommen wird und die Beziehung zwischen Therapeut und Patient tragfähig bleibt.

264 | Die Handlungsstruktur des tiefenpsychologischen ›Deutens‹ Prozesse des Therapeuten realisieren. Das Wissen wird damit als Aussage über mentale Prozesse des Therapeuten – Gedanken, Vorstellungen, Wahrnehmungen – kategorisiert, nicht als Aussage über die Wirklichkeit. Dieser Schritt, die Zuschreibung des Wissens zur Wirklichkeit, ist dann von der Hörerin vorzunehmen. Während Parenthesen und Matrixkonstruktionen also die mentale Verarbeitung der prozessierten Proposition in toto steuern und damit die Illokution der Äußerung modifizieren, modifizieren Ausdrücke wie „irgendwie“ (s084), „ein bisschen“ („n bisschen ((1,7s)) mehhr • • Selbständigkeit zu entwickeln“ (s102)) oder „irgendwo“ („Sie sind irgendwo sehr gebunden“ (s088), „dass Sie irgendwoó • • • ähm den Wunsch haben“ (s099)) den Aufbau der Proposition. Die von TH in p versprachlichten Prozesse und Zustände haben demnach ein eher geringes Ausmaß („n bisschen“) bzw. sind hinsichtlich unterschiedlicher Aspekte („irgendwo“, „irgendwie“) nur vage bestimmt. Während die Bearbeitung der Illokution dafür sorgt, dass PA das verbalisierte Wissen als Ausdruck mentaler Prozesse versteht und eigenständig bewertet, führen die genannten Ausdrücke, die den propositionalen Gehalt modifizieren, dazu, dass das aufgebaute Wissen an sich weniger weitreichend ist, dass ПPA also auch bei einer positiven Bewertung durch die Patientin weniger drastisch umstrukturiert wird. Indem sie die Reichweite und damit auch die ‚Neuheit‘ des formulierten Wissens reduzieren, erleichtern diese Einschränkungen des propositionalen Gehaltes der Patientin die Zustimmung zur ›Deutung‹ insgesamt. Beide Beispiele, B5 wie B6, zeigen also, wie die Prozessierung der ›Deutung‹ das Wissen des Patienten in spezifischer Weise aktiviert. Dieser Zugriff auf das Hörerwissen, nicht die jeweilige einzelne Realisierung an der sprachlichen Oberfläche, charakterisiert das tiefenpsychologische ›Deuten‹ als dezidiert „hörerzentriertes“ sprachliches Handeln. Sowohl Aufbau und Abfolge der einzelnen Positionen der Tiefenstruktur als auch die einzelnen sprachlichen Mittel – von der Prozedur bis zur sprachlichen Handlung – erschließen das Hörerwissen als Ressource der ›Deutung‹. Wie gesehen werden dafür alle drei Akte (Äußerungsakt, propositionaler Akt, illokutiver Akt) einer sprachlichen Handlung genutzt. Der Zweck der ›Deutung‹, die Bewusstmachung unbewussten Wissens, wird nicht nur propositional, mit dem, was gesagt wird, sondern insbesondere auch prozedural, also wie es gesagt wird, realisiert. Abbildung 6 auf Seite 267 stellt die Handlungsstruktur des ›Deutens‹ grafisch dar. Es zeigt sich, dass die Positionen „Vorbereitung“, „Verbalisierung“ und „Reaktion“ jeweils in zwei Schritten realisiert werden, dass also jeweils zwei interaktionale Handlungen die Musterposition an die Oberfläche des sprachlichen Handelns vermitteln. Diese Handlungen sind funktional jeweils so ineinander verschränkt – die zweite kann in keinem Fall ohne die erste reali-

Zusammenfassung: Formale und funktionale Charakteristika des ›Deutens‹ | 265

siert werden – dass sie hier zu einer tiefenstrukturellen Position zusammengefasst werden. Wie das ›VEE‹ nimmt das ›Deuten‹ seinen Ausgangspunkt im Handeln des Patienten, aus dem der Therapeut an (2) ein bestimmtes Wissen über die mentale Verfasstheit des Patienten erschließt. Allerdings handelt sich bei diesem Wissen im Unterschied zum ›VEE‹ nicht um das Wissen, das später in der Intervention geäußert wird, sondern um eine Konstellationsbewertung dergestalt, dass der Patient gegenwärtig in der Lage ist, das bereits länger vorliegende deutende Wissen zu verarbeiten. An (3) wird also entschieden, ob der geeignete Zeitpunkt (verstanden als Entwicklung des therapeutischen Prozesses) für die ›Deutung‹ gegeben ist. An (4) wird das Thema der ›Deutung‹ verbalisiert, was auf der Seite des Patienten zur Aktualisierung bereits vorhandener, bewusstseinsfähiger Wissenselemente über das Thema der ›Deutung‹ (5) und zu einer Reaktion (6) führt. Die Reaktion an (6) gibt dem Therapeuten einen Hinweis darauf, wie das Thema der ›Deutung‹ vom Patienten momentan verarbeitet werden kann. Sie wird vom Therapeuten in (7) daraufhin bewertet, ob eine ›Deutung‹ zu diesem Zeitpunkt zweckmäßig ist. Die Handlungen (4), (5) und (6) dienen also der Vorbereitung der „Verbalisierung“ der ›Deutung‹, sie werden mit Hinblick auf das in (8a) und (8b) zu verbalisierende Wissen abgearbeitet. Daher werden auch die patientenseitigen Handlungen (5) und (6) der Position der „Vorbereitung“ zugerechnet. Wenn der Therapeut an (7) zu dem Ergebnis kommt, dass eine ›Deutung‹ angebracht ist und vom Patienten auch verarbeitet werden kann, initiiert er die „Verbalisierung“ der ›Deutung‹. Diese besteht wie gesehen aus zwei Elementen: dem initialen Aufwerfen von Fragen (8a) sowie dem schrittweisen Beantworten von Fragen (8b), das in der Regel mehrfach durchlaufen wird.26 Beim Patienten korrespondiert diesen Handlungsschritten die mentale Suche nach dem fraglichen Nicht-Gewussten (9) sowie die Realisierung dieses NichtGewussten als deutendes Wissen (10). Diese Realisierung kann sich sowohl als ein „Finden“ im eigenen Wissen als auch ‚nur‘ im Nachvollzug der deutenden Äußerungen in (8b) ereignen. Der Patient verarbeitet das formulierte Wissen in

26 Handlungsmuster sind grundsätzlich keine starren Ablaufschemata, bei denen alle Positionen in der angegebenen Reihenfolge durchlaufen werden müssen. Vielmehr ist davon auszugehen, dass jede Position konstellationsabhängig auch mehrfach durchlaufen (bei (8b) ist dies die Regel) bzw. im konkreten Fall auch ausgelassen werden kann (wie die „Nachbearbeitung“ in B6). Dies wird hier vorausgesetzt, grafisch daher nicht eigens markiert. Die (insbesondere beim ›VEE‹) angegebenen optionalen Elemente sind dagegen für die Realisierung eines Musters nicht essentiell, können standardmäßig daher auch entfallen. Für das ›Deuten‹ ist z. B. nicht entscheidend, dass die Patienten das fragliche Nicht-Gewusste in (9) komplett selbst aufrufen, weil es ohnehin vom Therapeuten in (10) verbalisiert wird.

266 | Die Handlungsstruktur des tiefenpsychologischen ›Deutens‹ (11) und verlässt das Muster oder reagiert in (12). Wie gesehen, kann diese Reaktion unterschiedlich ausfallen, es besteht – wie beim ›VEE‹ – also eine Reihe von Handlungsmöglichkeiten für den Patienten. Für den Therapeuten wird an der initialen „Reaktion“ ((12a) bis (12c)), die in der Regel noch kein Elaborieren der ›Deutung‹ ist, erkennbar, wie der Patient mit dem deutenden Wissens umgeht (13), er kann es nun in der Position der „Nachbearbeitung“ (15) an die „Reaktion“ anpassen. Wie an B6 gesehen besteht aber auch die Möglichkeit, dass er die „Reaktion“ quasi übergeht und die „Verbalisierung“ an (8b) fortsetzt. Auch die „Nachbearbeitung“ an (15) wird vom Patienten in (11) bewertet und mit dem eigenen Wissen abgeglichen. Kommt es zu einem positiven Abgleich und findet der Patient zusätzliche Wissenselemente im biografischen Wissen, die das deutende Wissen belegen, kann er die ›Deutung‹ verstehen (16) und eine neue Perspektive auf sein Erleben entwickeln. Dieses Verstehen äußert er als Elaborieren der ›Deutung‹ in (12d). Der Therapeut erkennt, dass der Patient verstanden hat (17), das Muster wird in der Regel verlassen (18), es kann aber auch über (2) ein weiterer Musterdurchlauf angeschlossen werden.

Zusammenfassung: Formale und funktionale Charakteristika des ›Deutens‹ | 267

Abb. 5: Das ›Deuten‹-Handlungsmuster als Flussdiagramm [Legende s. S. 188]

9 Synopse: Sprachliches Handeln in der Psychotherapie Nach den Analysen von ›VEE‹ (›Verbalisierung des emotionalen Erlebnisgehalts‹) und ›Deutung‹ wird in diesem Kapitel der Versuch unternommen, die in der Mikroanalyse gemachten Beobachtungen theoretisch zu rekonzeptualisieren und in ihrer Bedeutung für die Heilung des Patienten zu verstehen. Die analytische Mikroperspektive (Kap. 7, 8) wird mit der handlungstheoretischen Makroperspektive auf Psychotherapie (Kap. 4) und den Ergebnissen der Literaturdiskussion (Kap. 2) vermittelt. Um sicherzustellen, dass diese Synopse theoretisch und begrifflich konzise bleibt, fließen auch Betrachtungen über die Begriffsfelder „Deuten“ (vgl. Anton 1971a, 1971b, Bachem 1992) und „Verstehen“ (vgl. Apel 1955, 1971) ein (s. auch Scarvaglieri i. Vor.). Die Darstellung bleibt zunächst (9.1) bei den beiden untersuchten therapeutischen Handlungen. Unterschiede und Gemeinsamkeiten von ›VEE‹ und ›Deuten‹ werden herausgestellt, insbesondere wird eine Antwort auf die Leitfrage der Arbeit entwickelt, wie beide Handlungen das Wissen des Patienten je so umstrukturieren, dass eine Heilung möglich wird.1 In einem zweiten Zugriff (9.2) auf die angestellten Analysen sowie die in Kapitel 2 diskutierte Literatur über Psychotherapie werden spezifische Charakteristika des therapeutischen Diskurses festgehalten. Es zeigt sich rein deskriptiv, dass wesentliche Merkmale des hier untersuchten Materials auch in den in der Literatur zugrundegelegten Daten vorkommen. Die Feststellung solcher Übereinstimmungen in der Datengrundlage ermöglicht nicht nur eine Validierung der vorgelegten Analysen, sondern macht weiter reichende Schlüsse über Therapie möglich. Indem die übereinstimmend beschriebenen Charakteristika mit dem Zweck von Psychotherapie, der Heilung des Patienten durch „nichts anderes als […] ein[en] Austausch von Worten“ (Freud 1948a: 9), in Verbindung gebracht werden, wird Psychotherapie als dezidiert hörerzentrierter Diskurs rekonstruierbar. Abschließend werden die Ergebnisse der Arbeit reflektiert und hinsichtlich theoretischer wie praktischer Relevanz verortet (9.3). Außerdem wird versucht,

1 An dieser Stelle sei noch einmal darauf hingewiesen, dass der Arbeit erfolgreiche Therapien als Datengrundlage dienen, so dass der Schluss von der sprachlichen Form auf die heilende Funktion des Geschehens in der Psychotherapie gerechtfertigt erscheint (s. o. Kap. 5).

270 | Synopse: Sprachliches Handeln in der Psychotherapie Linien, an denen sich eine sprachwissenschaftlich wie therapietheoretisch fruchtbare Untersuchung von Psychotherapie entwickeln kann, aufzuzeigen.

9.1 Heilendes „Verstehen“ durch ›Deuten‹ und ›VEE‹ Das ›VEE‹ wurde in Kapitel sieben im Kern als eine Form des „Deutens“ analysiert, die im Unterschied zur psychoanalytischen bzw. tiefenpsychologischen ›Deutung‹ stark an der alltäglichen Form des „Deutens“ (vgl. Bachem 1992) orientiert ist. Die Therapeuten behandeln das Verhalten des Patienten als unverstandenes Phänomen und befragen es in der ›VEE‹ auf seine eigentliche Bedeutung, seinen „‚tieferen‘ Sinn“ (Bachem 1992: 496) hin, „deuten“ es also. Die „Oberfläche“ (a. a. O.: 497) patientenseitigen Handelns wird ausgelegt auf eine „Tiefenschicht“ (ebd.), also das, was sie wirklich über den Patienten aussagt. Diese Auslegung ermöglicht dem Patienten, bestimmte Aspekte von höherer Konstanz und größerer Relevanz zu erkennen, die zuvor nicht erkennbar waren. Das ›VEE‹ realisiert sich in der für das „Deuten“ charakteristischen Struktur. ›VEE‹ und ›Deutung‹ verfahren also beide grundsätzlich interpretativ. Die Kernstruktur der beiden Muster, die im Wesen vorgenommene Verarbeitung von Wissen, ist ähnlich. Unterschiede ergeben sich aber bereits rein deskriptiv, wenn man Anzahl und Größe (verstanden als Menge der Partiturflächen, über die sich ein Handlungsmuster erstreckt) der Interventionen betrachtet (s. o. Kap. 6). Pro gesprächstherapeutischer Sitzung werden in meinem Material etwa 14 ›VEE‹ realisiert, in einer tiefenpsychologisch geführten Stunde fallen dagegen nur2 zwei ›Deutungen‹. Dafür haben die ›VEE‹ eine deutlich geringere Ausdehnung, im Mittel erstrecken sie sich über etwa zehn Partiturflächen, bei den ›Deutungen‹ ist ein Mittelwert von 60 Partiturflächen anzusetzen. Diesen Unterschieden an der Oberfläche korrespondieren Unterschiede in der Tiefenstruktur der Handlungsmuster. Das ›Deuten‹ ist in sich komplexer strukturiert, insbesondere die Position der „Verbalisierung“ fällt durch eine spezifische Wissensentfaltung auf: zunächst werden eine Reihe von Fragen aufgeworfen, die dann schrittweise in aufeinander aufbauenden Äußerungen beantwortet werden. Daneben sind beim ›Deuten‹ mehrere Durchläufe durch die Positionen der „Reaktion“ und der „Nachbearbeitung“ zu beobachten, was

2 Dieses „nur“ lässt sich in der Tat nur im Vergleich zum ›VEE‹ einfügen, an sich scheint es sich hier um eine vergleichsweise hohe Deutungsfrequenz zu handeln (s. Kap. 6 Anmerkung 1).

Heilendes „Verstehen“ durch ›Deuten‹ und ›VEE‹ | 271

beim ›VEE‹ nicht der Fall ist und zur unterschiedlichen Länge der Interventionen beiträgt. Auch werden beim ›Deuten‹ vier in sich weiter differenzierbare Positionen unterschieden, beim ›VEE‹ mit „Verbalisierung“ und „Reaktion“ dagegen nur zwei. Eine echte Vor- oder Nachbereitung der ›VEE‹ ist nicht zu beobachten, das „Einführende“ oder „Belegende Wiederaufgreifen“ dient zwar der patientenseitigen Aktualisierung von Wissen und damit dem Nachvollzug des „Interpretierens“, wird konstellationsabhängig aber häufig nicht realisiert, so dass es nicht als elementarer Teil des Handlungsmusters anzusetzen ist. Anstelle einer „Nachbearbeitung“, die sich von der eigentlichen „Verbalisierung“ strukturell unterscheidet, kommt es beim ›VEE‹ häufig zu einem komplett neuen Musterdurchlauf, was zur Kürze und hohen Frequenz des ›VEE‹ beiträgt. Ein weiterer Unterschied ist in der Realisierung der Handlungsmuster zu beobachten. Das ›Deuten‹ wird in nahezu jedem Fall vorschlagend realisiert, bei den mir vorliegenden VEE ist eine vorschlagende Realisierung dagegen nur in etwa die Hälfte der Fälle zu konstatieren. Der wesentliche Unterschied aber, der dann auch die Unterschiede an der Oberfläche und in der Tiefenstruktur erklärt, ist die Reichweite des jeweils realisierten deutenden Wissens. Das in der ›VEE‹ verbalisierte Wissen hat einen deutlich geringeren ‚Operationsbereich‘ als das Wissen beim ›Deuten‹. Die ›Deutung‹ setzt Lebensbereiche, die von den Patienten als separat gesehen werden, in ein Ursache-Wirkungs-Verhältnis: Aktuelle Erlebnisse des Patienten werden durch Rückbezug auf die Kindheit verstehbar gemacht, die gegenwärtige Beziehung wird als Ausgleich für eine vorangegangene Beziehung verstanden, die Beziehung zum Therapeuten wiederholt die Beziehung zum Vater etc. Die ›Deutung‹ macht also eine Situation aus einer anderen verstehbar, sie verbindet verschiedene Lebensbereiche des Patienten miteinander. Das ›VEE‹ dagegen beschäftigt sich nur mit dem aktuell relevanten Lebensbereich und will das, was den Patienten momentan beschäftigt, verstehbar machen. Dabei wird durchaus auf allgemeine, konstante Strukturen des Erlebens hingewiesen (besonders auffällig in B1 „Sie machen sich selber sehr klein“), diese werden aber nicht aus der Vergangenheit abgeleitet oder auf die Zukunft hin extrapoliert (man vergleiche dagegen die „Warnung“ in der ›Deutung‹ in B5). Das ›VEE‹ macht das verstehbar, was in der Situation3, in der gera-

3 Wenn hier und in der Folge von „Situation“ gesprochen wird, könnten mitunter auch die Ausdrücke „persönliche Lebenswelt“, „Beziehungskonstellation“ oder konkret „Beziehung“ verwendet werden. „Situation“ wird also nicht im streng handlungstheoretischen Sinn ver-

272 | Synopse: Sprachliches Handeln in der Psychotherapie de gehandelt wird, von Relevanz ist. Das deutende „Verstehen“ eines Lebensbereichs wird dabei aus diesem Lebensbereich selbst heraus generiert, Lebensbereiche, die vom Patienten getrennt gesehen werden, bleiben auch in der ›VEE‹ getrennt, werden also z. B. in zwei unterschiedlichen, unverbundenen VEE bearbeitet. Dies zeigt sich in den hier zugrundegelegten Gesprächstherapien immer wieder. Selbst für das Auge des Laien sind Parallelen, die die Patienten in ihren Beziehungen wiederholt herstellen, sehr deutlich erkennbar. Insbesondere ist auffällig, dass Beziehungsmuster, die das Leben in der Primärfamilie geprägt haben, immer wieder reaktualisiert werden. So nimmt die Patientin in der Therapie, aus der die Beispiele B1 und B2 stammen, in der Beziehung zu ihrem Mann eine dienende, sich selbst verleugnende Rolle ein, die sie auch in der Primärfamilie inne hatte und an der sie sehr leidet, und der Patient aus den Beispielen B3 und B4 macht in verschiedenen Beziehungen immer wieder die Erfahrung vollständiger Geringschätzung, die seine frühe Kindheit geprägt hatte. Der Therapeut erkennt dies jeweils, weist in den VEE auch immer wieder auf die Bedeutung dieser Strukturen hin, setzt sie jedoch nicht miteinander in Verbindung. Im Unterschied zu tiefenpsychologisch oder psychoanalytisch vorgehenden Therapeuten, die die eine Situation aus der anderen ableiten würden, werden solche Parallelen in den vorliegenden Gesprächstherapien also nicht ›gedeutet‹, die Patienten werden nicht auf einen inhaltlichen Zusammenhang hingewiesen. Stattdessen wird die jeweilige Situation, der jeweilige Lebensbereich, isoliert bearbeitet. Dabei sind die Therapeuten bemüht, feste, dauerhafte Strukturen des Erlebens und der Persönlichkeit herauszuarbeiten, sie setzen die unterschiedlichen Situationen jedoch nicht miteinander in Verbindung. Mit dem ›VEE‹ wird die aktuell relevante Situation in sich verstanden. Das ›Deuten‹ will also mehr verstehen als das ›VEE‹, es will nicht nur einzelne Situationen verstehen, sondern die Entwicklung der aktuell relevanten Situation aus einer früheren heraus. Der durch die ›Deutung‹ angezielte mentale Prozess ist mithin komplexer und abstrakter, als der, auf den das ›VEE‹ abzielt. Die höhere Abstraktionsstufe und die größere Reichweite des in der ›Deutung‹ formulierten Wissens können zunächst einen höheren Formulierungsaufwand mit sich bringen – schließlich muss nicht nur die aktuell relevante, sondern noch eine weitere Situation geklärt und dann die eine aus der anderen entwickelt werden. Weil das ›Deuten‹ dabei für den Patienten überraschende und oft

wendet. Für eine handlungstheoretische Aufschlüsselung dessen, was hier mit „Situation“ angesprochen ist, s. o. Kapitel 4.2 sowie u. S. 280f.

Heilendes „Verstehen“ durch ›Deuten‹ und ›VEE‹ | 273

auch nicht nachvollziehbare kausale Verbindungen herstellt, hat es per se außerdem größere Widerstände zu überwinden als das ›VEE‹. Daher wird es ausführlich vorbereitet und in der „Nachbearbeitung“ nach Maßgabe der „Reaktion“ an die mentale Verarbeitungskapazität des Patienten angepasst. Auf die vermehrten Widerstände ist auch die durchweg vorschlagende Realisierung des ›Deutens‹ zurückzuführen. Sie korrespondiert nicht etwa mit einem im Vergleich zum ›VEE‹ weniger sicheren Wissen des Therapeuten, sondern erleichtert den Patienten den Umgang mit der ›Deutung‹. Als Vorschlag wird die ›Deutung‹ so realisiert, dass in p klar gemacht wird, dass der Patient die ›Deutung‹ auch ablehnen kann, dass das formulierte Wissen unsicher und nur nach einer Bewertung durch den Patienten selbst gültig ist. Die ›Deutung‹ formuliert weitergehendes Wissen als das ›VEE‹, dieser weitergehende Wissensanspruch wird durch die vorschlagende Realisierung der ›Deutung‹ teilweise abgemildert. Die Unterschiede zwischen ›VEE‹ und ›Deuten‹ bestimmen sich also durch ihre unterschiedliche epistemische Abstraktionsstufe und Reichweite. Weil das ›Deuten‹ Verbindungen zwischen unterschiedlichen Lebensbereichen des Patienten herstellt und an sich getrennt erscheinende Situation aus einander herleitet, löst es mehr Widerstände beim Patienten aus und muss daher vor- und nachbereitet werden, um zu wirken. Die einzelne ›Deutung‹ setzt eine weitergehende Wissensumstrukturierung um, daher kommen weniger ›Deutungen‹ als ›VEE‹ vor. Die weitreichende Umstrukturierung des Wissens wird durch eine vorschlagende Realisierung der ›Deutung‹ abgemildert, was beim ›VEE‹ nicht in allen Fällen nötig ist. Entscheidend für das Verständnis der beiden therapeutischen Handlungen sind aber weniger ihre Unterschiede als ihre Gemeinsamkeiten. Beide Handlungen gehen „deutend“ vor und bezwecken ein „Verstehen“ des Patienten. Da sie also im Kern auf den gleichen Zweck hinarbeiten, sind sie in wesentlichen Aspekten auch gleich ausgeformt (vgl. hierzu auch u. Kap. 9.2). ›Deuten‹ und ›VEE‹ werden durch ähnliche sprachliche Handlungen gebildet bzw. befördert. Auf das „Vorschlagen“ wurde oben bereits eingegangen; obwohl es für beide Handlungsmuster funktional ist, kommt es beim ›Deuten‹ so gut wie immer, bei den ›VEE‹ konstellationsabhängig – abhängig von Komplexität, Reichweite und Provenienz des formulierten Wissens – vor. Das „Wiederaufgreifen“ wurde am ›VEE‹ ausführlich untersucht, findet sich aber auch in den ›Deutungen‹, etwa an der Position der „Vorbereitung“ (z. B. in B5). An dieser Stelle führt der Therapeut das Thema der ›Deutung‹ ein, greift bereits vorhandenes Wissen auf und macht diese Rückgriffe auch in einer Matrixkonstruktion sprachlich als solche kenntlich. Das „Wiederaufgreifen“ dient sowohl in ›VEE‹ als auch ›Deutung‹ dem patientenseitigen Nachvollzug der angestellten

274 | Synopse: Sprachliches Handeln in der Psychotherapie „Interpretation“, es soll sicherstellen, dass die Patienten das Wissen aufrufen, das zum Verständnis der „Verbalisierung“ von ›Deutung‹ oder ›VEE‹ notwendig ist. Das „Wiederaufgreifen“ reaktualisiert also das gemeinsame manifeste Wissen und ist hinsichtlich seiner Funktion in der übergeordneten Handlungseinheit mit dem „Beschreiben“ in der Kunstkommunikation vergleichbar, das die Basis für die anschließende „Deutung“ des Kunstwerks bereitet (Hausendorf 2005, 2007b, 2011a). Entscheidendes geschieht nun in der Position der „Verbalisierung“ bzw. beim ›Deuten‹ auch in der „Nachbearbeitung“. Ein Prozess, der die Wissenbearbeitung an dieser Stelle wesentlich kennzeichnet und für das „Verstehen“ von großer Bedeutung ist, ist die Synthese des vom Patienten eingebrachten Wissens auf einer höheren Abstraktionsstufe. Das konkrete partikulare Erlebniswissen des Patienten wird zu komplexeren, abstrakteren Wissenseinheiten zusammengefasst, die dem Erleben des Patienten Struktur und Konstanz verleihen. Durch die Formulierung von Sentenzen (z. B. mittels „Wenn…dann“Konstruktionen wie in B3) oder Bildern (eindrücklich z. B. in B1 als Verweis in den Vorstellungsraum: „Ich kann nix, ich bin ne Null…“ (s086)) werden konstante mentale Strukturen erkennbar, die das Erleben des Patienten global prägen. Das Erleben des Patienten wird geordnet und systematisiert, es wird greifbar bzw. be-greifbar und damit auch veränderbar. Wenn solche dauerhaften Strukturen, wie das Selbstbild des Patienten oder die Abhängigkeit von der Meinung Anderer, erkannt sind, können sie reflektiert und bearbeitet werden. Voraussetzung dafür ist, dass mentales Erleben als Handeln konzipiert wird (vgl. Flader 1995). Die regelhafte Selbstentwertung des Patienten (B1, B3), die Herstellung von Abhängigkeit vom Mann (B2) oder Therapeuten (B5), der Versuch der Wiedergutmachung dem Vater gegenüber (B6) werden in den angestellten „Deutungen“ jeweils als Handlungsprozess verstanden, an dem der Patient aktiv beteiligt ist. Das Handeln des Patienten wird durch die erkannten mentalen Strukturen gesteuert, ihre Reflexion dient einem Eingriff in die Handlungsprozesse. Der therapeutische Prozess besteht also u. a. im Erkennen mentaler Strukturen, die von großer Konstanz sind und das Leben des Patienten global prägen. Indem ihr Einfluss auf das Handeln des Patienten – auch als Handeln sich selbst gegenüber – begriffen wird, kann die Bearbeitung der erkannten mentalen Strukturierung zu einem veränderten Handeln, einem veränderten Umgang mit sich selbst und Anderen führen. Auch ein Blick auf die Begriffsfelder „Deuten“ und „Verstehen“ zeigt die Handlungsbasiertheit der sprachlichen Handlung „Deuten“ und des mentalen Prozesses „Verstehen“. Wer deutet, so zeigt meine hier verkürzt wiedergegebene begriffliche Untersuchung (Scarvaglieri i. Vor.), versteht Gegebenes auf seine Bedeutung für das Handeln hin, erschließt es für das eigene oder das fremde

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Handeln. Dies wird bereits an dem klassischen Dreischritt der Interpretation „intelligere, explicare, applicare“ (Bachem 1992: 497; vgl. Anton 1971b: 516) deutlich, der in der Anwendung endet. Die Ausrichtung auf das Handeln zeigt sich aber insbesondere an den Gegenständen, an denen das „Deuten“ zum Tragen kommt. Der Ursprung des „Deutens“ bzw. „Interpretierens“4 liegt bei den „inter-pretes divum“, die Naturerscheinungen, Träume oder „Flammen und Rauch bei Herdfeuern“ (Anton 1971b: 515) auf ihre Aussagekraft für das kollektive Handeln hin ausdeuteten. Auch das „Deuten“ heiliger oder juristischer Texte fragt primär nach Ge- und Verboten, also nach dem, was zu tun und was zu lassen ist. Es basiert auf der „Deutungshoheit“ einiger weniger „Experten, d. h. den mit größerem Sachwissen, größerer Belesenheit, größerer semiotischer Sensibilität Ausgestatteten“ (Bachem 1992: 497), denen es weitgehende Handlungskompetenzen und Macht bzw. „Herrschaft“ (a. a. O.: 496) verleiht. Zweck des „Deutens“ ist dabei jeweils das „Verstehen“ eines unverstandenen Objekts, das dieses Objekt für das individuelle und kollektive Handeln erschließt. Den Zusammenhang zwischen „Verstehen“ und Handeln betonen auch linguistische Arbeiten aus dem Bereich der Gesprächsforschung. So konzipieren etwa funktional-pragmatische Untersuchungen „Verstehen“ als Nachvollzug des „illokutiven Punkts“ (Kameyama 2004: 113; s. auch Rehbein 1977: 190ff, Ehlich & Rehbein 1986: 101ff) durch den Hörer und machen damit deutlich, dass es beim sprachlichen „Verstehen“ darum geht, den Zweck einer Handlung zu erkennen. Nur wenn dieser rekonstruiert werden kann, wenn also das „warum“ bzw. „wozu“ des Gegenstandes klar ist, kann angemessen reagiert, also ‚weiter gehandelt‘ werden.5 „Verstehen“ basiert einerseits auf dem „Zusammenhang mit etwas Allgemeinem“ (Hörmann 1976: 500), in dem die zu verstehende Handlung steht, andererseits ist ohne das „Verstehen“ der vorangegangenen Handlungen kein zweckmäßiges Voranschreiten auf einer Handlungslinie möglich (vgl. dazu die Arbeiten von Deppermann u. a. (2010), in denen die Bedeu-

4 „Deuten“, „Interpretieren“ und „Auslegen“ werden hier, wie in einem Großteil der zugrundegelegten Literatur, synonym verwendet. Dafür spricht u. a., dass sich „Deutung“ in viele Sprachen nur mittels lat. „interpretatio-“ übersetzen lässt (man vgl. für das Englische die Ergebnisse des Internetübersetzungsportals Linguee (http://www.linguee.de/deutschenglisch/page/about.php), wo „Deutung“ durchweg entweder mit „interpret“ oder „interpretation“ übersetzt wird). Für eine nähere Auseinandersetzung mit dem Ausdrucksfeld s. Anton (1971a: 157f.) sowie Schaeffler (1974: 1628). 5 Die Handlungsbasiertheit des Sprachverstehens wird im übrigen auch von neurologischen Untersuchungen gestützt (s. z. B. Pulvermüller u. a. 2005 sowie den Überblick bei Konerding 2009: 92f).

276 | Synopse: Sprachliches Handeln in der Psychotherapie tung der Darstellung bzw. „Dokumentation“ von Verstehen für die weitere Entwicklung der Interaktion herausgestellt wird). Verstehen ist zugleich Voraussetzung und Ziel kooperativer Interaktion. Eine Art Paradebeispiel für die Trias von „Deuten – Verstehen – Handeln“ stellen die antiken Orakel dar. Die Ratsuchenden befragten das Orakel grundsätzlich auf Empfehlungen für das Handeln hin. So war die Urform der Orakelfrage: „Soll ich … oder nicht?“ (Giebel 2001: 14). Während die Antwort auf diese Frage – „ja“ oder „nein“ – noch leicht zu verstehen war, machte die Rätselhaftigkeit bzw. Doppeldeutigkeit späterer Orakelsprüche ausführliche Diskussionen in der Volksversammlung (a. a. O.: 57) bzw. die Tätigkeit von „Orakeldeuter[n]“ (ebd.) nötig. Das „Verstehen“ des Orakels war also von derartiger Relevanz für das kollektive Handeln, dass Gesellschaften ein eigenes Amt zu ihrer „Deutung“ schufen. An diesem Beispiel zeigt sich auch, dass das „Deuten“ eines Gegenstands immer dann nötig wird, wenn sich dieser einem „Verstehen“ – einem systematischen, sinnvollen Erschließen für das Handeln – besonders hartnäckig widersetzt. Wenn alltägliches Routine- oder Handlungsmusterwissen zum Umgang mit einem Objekt (Orakelspruch, Vogelflug, Herdfeuer, Kunstwerke, religiöse oder juristische Texte) keine erfolgversprechenden Handlungsmöglichkeiten erkennen lässt, müssen „Experten“ (Bachem 1992: 497) spezielles Deutungswissen aktivieren und das Objekt für das Handeln erschließen. Dementsprechend lässt sich der Ausdruck „Deuten“ etymologisch auf die Unterscheidung zwischen dem, was „in der Volkssprache“ (Kluge 2002: s.v.) verstehbar ist und dem, was nicht verstehbar ist, also gedeutet werden muss, zurückführen (vgl. auch das Herkunftswörterbuch des Duden (2001: s.v.)). Wie die folgenden Ausführungen noch genauer zeigen, besteht die Herstellung von „Verstehen“ durch „Deuten“ in der Rekonstruktion einer dem Gegenstand inhärenten Systematik, so dass ein gerichtetes, dem Gegenstand angemessenes Eingreifen in die Wirklichkeit möglich wird. Dabei ist die Frage, ob der Gegenstand ‚richtig‘ verstanden, also nach bestimmten, als objektiv gültig gesetzten Kriterien erkannt wird, nachrangig. Entscheidend ist die Herstellung von Handlungsfähigkeit, verstanden als gesellschaftlich basierte, nicht zufällige Fähigkeit zur Veränderung gegebener Sachverhalte. Das Mittel des „Deutens“ und dessen Zweck, das „Verstehen“, sind also handlungsbasiert, sie werden in einem Handlungsprozess entwickelt und bestimmen den Fortgang dieses Handlungsprozesses. In der Psychotherapie nun basiert die Bearbeitung von Handlungsstrukturen im Zusammenspiel von „Deuten“ und „Verstehen“ auf einer sprachlichen Handlung, deren Bedeutung oben (S. 138ff) im Anschluss an Wygotski herausgestellt wurde. Das „Benennen“ erfasst das partikulare Erleben des Patienten aus einer gesellschaftlichen Per-

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spektive und schafft die Grundlage für seine Bearbeitung. Herausgearbeitet wurde die Bedeutung des „Benennens“ zunächst im Zuge der ›VEE‹-Analyse. Beim ›Deuten‹ spielt es aber eine genauso zentrale Rolle, etwa wenn die Beziehung zum Therapeuten als „Abhängigkeit“ (B5) benannt wird oder die Gefühle der Patientin als „Wunsch, etwas wieder gut zu machen“ (B6), erfasst werden. Singuläre Ereignisse werden durch diese Benennungen als etwas erkannt, das kollektiv bekannt ist, über das also gesellschaftliches Wissen vorliegt. Die verallgemeinernde „Benennung“ schafft „Orientierung für das Einzelne“ (Wygotski 1987: 397), Partikulare, das der Patient erlebt, sie macht „Zusammenhänge und Gesetzmäßigkeiten“ (ebd.) offenbar und lässt im Anschluss daran gesellschaftlich gewusste Handlungswege der Bearbeitung des Erkannten sichtbar werden. Die Situation des Patienten wird mit Begriffen erfasst, die kollektives Wissen z. B. über Entstehung, Ausformung oder Bearbeitung von Situationen dieser Art anschlussfähig machen. Die Benennung wirkt wie eine Entpartikularisierung bzw. „Vergesellschaftung des Denkens“ (Forschner 2006: 125), die das Erleben des Patienten für eine Bearbeitung durch kollektives Handlungswissen erschließt. Benannt werden dabei jeweils die Momente, die das Erleben des Patienten entscheidend prägen, deren handungsmäßige Bearbeitung also einen besonders großen Effekt, besonders weitreichende Veränderungen dieses Erlebens verspricht (s. genauer u. S. 279f.). Das „Deuten“, als Kern von ›VEE‹ und ›Deutung‹, nutzt das „Benennen“, um das Wissen des Patienten aus kollektiver Perspektive umzustrukturieren und Ansatzpunkte für Handlungen zu schaffen. Mit der abstrahierenden Erfassung mentaler Strukturen als Handlungsstrukturen, dem Ordnen des patientenseitigen Erlebens hinsichtlich Handlungskausalität und der benennenden „Vergesellschaftung“ von Erfahrung sind wesentliche Elemente der mentalen Veränderung, die Therapie bewirkt und die hier als „Verstehen“ erfasst wird, bereits benannt. „Verstehen“ basiert auf kollektivem Wissen, genauer: auf kollektivem Wissen darüber, wie ein Gegenstand „handhabbar“ gemacht wird. Dies zeigen auch die bereits angesprochenen Untersuchungen von Heiko Hausendorf zur Kommunikation über Kunst (2005, 2007b, 2011a). Die von Hausendorf untersuchten Transkripte, in denen Kunstwerke „gedeutet“ werden, lassen nicht nur erkennen, dass „Deuten“ eine „Art von Verstehen“ (2005: 110) bezweckt, sondern auch, dass es dafür kollektives Handlungswissen nutzt. Kollektives, methodisches Wissen wird auf einen konkreten singulären Gegenstand angewendet. Das Ergebnis dieser „Applikation“ (vgl. o. S. 275), das „Verstehen“, kann als Einholung der Partikularität des Kunstwerks durch und in kollektive Wissensbestände gefasst werden. Das Kunst-

278 | Synopse: Sprachliches Handeln in der Psychotherapie werk erhält einen ‚Sinn‘, es macht eine Aussage6, bekommt eine Bedeutung, die zum Ausgangspunkt von Handlungen werden kann. So kann ein rätselhaftes ‚Etwas‘ zu einem Hinweis auf soziale Missstände werden, der den Rezipienten zu ihrer Beseitigung aufruft. Indem dem partikularen, vereinzelten Gegebenen basierend auf kollektivem Handlungswissen in der „Deutung“ eine verstehbare Bedeutung zugeschrieben wird, wird es Teil eines sinnvollen, weil in ihm angelegten, Handlungsprozesses. Dies gilt auch für andere Objekte, die nicht ohne weiteres verstanden werden können und also gedeutet werden müssen. So kann die „Deutung“ des Vogelflugs den erwogenen Feldzug als vielversprechend erscheinen lassen, der Orakelspruch als Aufforderung zur Aussendung von Siedlern gedeutet werden, die heilige Schrift je unterschiedlich auf Ge- und Verbote hin ausgelegt werden, die Geste als Aufforderung, zu schweigen, die zunächst unverständliche Äußerung als verklausulierte Bitte verstanden werden. Die rätselhafte Einzelheit des Gegebenen wird im Prozess des „Deutens“ kollektiv anschlussfähig und damit für das Handeln des Einzelnen potentiell relevant. Im Verstehen, so auch eine Schlussfolgerung der philosophischen Hermeneutik, welche in ihrem Namen bereits „Deuten“ und „Verstehen“ verbindet (Vetter 2007: 11ff), entsteht eine Handlungsfähigkeit, die dem erkannten Gegenstand entspricht: „indem erkannt ist, wie es an sich ist, ist es eben dadurch in der Weise verfügbar gemacht, daß man mit ihm rechnen, d.h. aber seinen eigenen Zwecken einordnen kann“ (Gadamer 2010: 454). Gedeutet und verstanden wird also nicht einfach irgendwie, sondern anhand von gesellschaftlichem Handlungswissen, das die Schritte zur kollektiven Integration des Einzelnen vorgibt und damit vorgibt, wie der Gegenstand für das Handeln zu erschließen ist. „Verstehen“ rekonstruiert, so wäre präziser zu formulieren, seinen Gegenstand auf seine inhärente Systematik hin. Diese Rekonstruktion basiert auf gesellschaftlichem Handlungswissen. Sie macht an dem Verstandenen Ansatzpunkte für menschliches Handeln erkennbar, die der erkannten Systematik entsprechen. Das „Verstehen“ macht den Verstehenden handlungsfähig, das Verstandene wird im „Verstehen“ „handhabbar“. In der Psychotherapie erkennt das „Verstehen“ eine Systematik, nach der sich die Situation des Patienten entwickelt bzw. immer wieder entwickelt hat und daher auch künftig entwickeln wird. Diese Erkenntnis ermächtigt den Patienten zum Eingriff in die ablaufenden Handlungsprozesse, so dass die Systematik verändert und eine den Bedürfnissen des Patienten besser entsprechende

6 So besteht auch nach Gadamer Verstehen darin, dass „was in der Überlieferung begegnet, uns etwas sagt“ (2010:463).

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Situation herstellbar wird. Indem also z. B. die Beziehung zum Therapeuten als die Wiederholung alter oder die Herstellung neuer „Abhängigkeit“ gedeutet wird, wird ein „Verstehen“ des Geschehens möglich, das ein Umdenken der Patientin und einen Eingriff in den Handlungsprozess ermöglicht. In der „Nachbearbeitung“ der ›Deutung‹ wird dann auch geschildert, wie dieses Umdenken aussehen könnte, mit einem Verweis in den Vorstellungsraum wird ein alternativer Handlungsweg sogar konkret versprachlicht („Nur könnten Sie s ja auch umdrehen, die ganze Geschićhte, und sagen : ((1s)) ‚Äh • vielleicht • • geht das deswegen jetzt so gut mit der, • • weil • • ich selber vielleicht noch n bisschen anders bin‘“ B5, s020). Auch der Hinweis auf den „Wiedergutmachungswunsch“ als Grund für die zwiespältige Beziehung zum Vater und die in der Folge ausgelösten Ängste macht in B6 einen möglichen Ansatzpunkt zum Handeln erkennbar – etwa in einer beidseitigen, bewussten Neuausrichtung der Beziehung (vgl. u. S. 282). Das ›VEE‹ funktioniert grundsätzlich auf die gleiche Weise. Wenn dem Patienten z. B. gesagt wird, dass sein Selbstbild von Anderen abhängig ist (B3, s038s051), wird es ihm möglich, die Prozesse, die sein Erleben beeinflussen, zu erkennen, zu reflektieren und zu verändern. Die Systematik, nach der sich die Selbsteinschätzung des Patienten entwickelt, wird durch Abstraktion an einer Reihe von konkreten Fällen erkannt. Sie wird benannt (z. B. „Wenn Ihnen niemand • das gibt, diese Nahrung für Ihr Selbstwertgefühl […] dann sind Sie wirklich so klein mit Hut“ B3, s044), damit in gesellschaftliche Kategorien eingeordnet und kann so zum Ansatzpunkt von Handlungen werden, die die benannten mentalen Strukturen bearbeiten. Auch wenn in B2 eine Verbindung zwischen der „Angst“ (s030) der Patientin und ihren Schlafschwierigkeiten hergestellt wird, wird – in ihrer psychischen Verfasstheit – ein potentieller Ansatzpunkt für die Bearbeitung der Schlafschwierigkeiten erkennbar. Indem das Erleben des Patienten durch Abstraktion und Benennung „gedeutet“ wird, wird es als etwas verstehbar, das „handelbar“ bzw. „handhabbar“ ist. Die ‚zuhandene‘ unverstandene Situation, in der sich der Patient befindet, wird in der Therapie dadurch verstehbar, dass die in ihr wirkende Systematik abstrahierend rekonstruiert und auf Ansatzpunkte für Handlungen hin benannt wird. Das „Verstehen“ ordnet und systematisiert das Geschehen, in dem sich der Patient befindet, es lässt feste Ablaufstrukturen und prägende Momente erkennbar werden, schafft damit Ansatzpunkte für Handlungen, macht den Patienten also handlungsfähig und die Situation, in der er sich befindet, „handhabbar“. Die hier untersuchten Formen verbal orientierter Psychotherapie stellen, so kann zusammenfassend gesagt werden, „Verstehen“ und damit Handlungsfähigkeit her. Dieses „Verstehen“ basiert auf unterschiedlichen Ausformungen des „Deutens“, das v. a. mittels Abstraktion, Ordnung hinsichtlich Kausalität

280 | Synopse: Sprachliches Handeln in der Psychotherapie und „Benennung“ von Wissenselementen, die der Patient eingebracht hat, operiert. Gegenstand des „Verstehens“ ist die unverstandene Situation, in der sich der Patient befindet (s. o. Kap. 4.2). Die philosophische Hermeneutik bestimmt die Situation, in der verstanden wird, als „Standort“ (Gadamer 2010: 307), der zwar „die Möglichkeiten, des Sehens beschränkt“ (ebd.), aber damit Erkenntnis überhaupt erst möglich macht, weil „ohne eine solche Beschränkung überhaupt nichts gesehen werden könnte“ (Vetter 2003: 99). Diese Beschränkung des Blicks konstituiert den „Horizont“: „Horizont ist der Gesichtskreis, der all das umfasst und umschließt, was von einem Punkte aus sichtbar ist“ (Gadamer 2010: 307). Den Prozess des situativ eingebetteten „Verstehens“ fasst Gadamer als „Horizontverschmelzung“ (a. a. O.: 311), also als einen Prozess der Erweiterung des Gesichtskreises, in dem sich „der eigene und der fremde Horizont […] von ihrer gemeinsamen Sache her“ (Vetter 2003: 99) begegnen. „Verstehen“ ist demnach „standortgebunden, doch gerade deshalb in der Lage, seinen Horizont zu erweitern“ (ebd.).7 Die Standortgebundenheit bzw. Perspektivität von „Verstehen“ ist bereits in der Ursprungsbedeutung des Ausdrucks „verstehen“ angelegt: laut Kluge geht „verstehen“ zurück auf ahd. „farstān, farstantan“ (2002: s.v.) und bedeutete ursprünglich „‚davor stehen‘“ (ebd.). Dieses „davor stehen“ verband sich „von Anfang an“ (ebd.) mit einem geistigen Prozess, der entweder allein auf der räumlichen Position basiert war („‚vor einem Objekt stehen‘ (und es damit besser wahrnehmen)“ (ebd.)) oder auf Vorwissen zurückgeführt wurde („‚vor Gericht, vor etwas oder jemandem stehen‘, ‚eine Sache vertreten‘ und damit ‚sie verstehen‘“ (ebd.)). Der Ursprung des Ausdrucks „verstehen“ lässt sich also in der Verbindung von räumlicher Positionierung und Wahrnehmung bzw. Erkenntnis verorten: wer so steht, dass er sieht, „ver-steht“. Greift man die handlungstheoretischen Überlegungen über die Ausgangssituation von Psychotherapie (o. Kap. 4.2) auf, lassen sich die Hinweise auf die Standortgebundenheit bzw. Perspektivität des „Verstehens“ mit der vorge-

7 Dietrich Böhler kritisiert diesen Verstehensbegriff als „okular“ (1981: 502), da er „Verstehen“ mit Sehen gleichsetze und damit als einen einseitigen Prozess fasse, in dem das Objekt des Verstehens den Verstehenden verändere, selbst aber unverändert bleibe (vgl. auch Habermas 1981 I: 195f.). Es handle sich um einen dogmatischen Verstehensbegriff, der „einem unkritisch verfolgten Interesse […] an der Kontinuität klassischer Bildungstradition“ (Böhler 1981: 503) verpflichtet sei. Böhler setzt dem, in Anschluss an Apel und Habermas, einen diskurspragmatischen Verstehensbegriff entgegen, der „Verstehen“ als einen „offenen Dialog von Gleichberechtigten“ (a. a. O.: 510) fasst, in dem „beiden Seiten […] Neues widerfahren, sich also Zukunft eröffnen“ (ebd.) kann.

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nommenen Analyse von Therapiegesprächen verbinden. Die Ausgangssituation von Psychotherapie war oben auf den gesellschaftlichen Standpunkt des Patienten zurückgeführt und als Handlungsdilemma, in dem keine Pläne für eine angemessene Veränderung der Wirklichkeit entwickelt werden können, gefasst worden. Die etymologische und hermeneutische Betrachtung des Verstehensbegriffs trifft sich mit der vorgelegten handlungstheoretischen Konzipierung psychischer Erkrankungen also in einem Abstellen auf Perspektive bzw. sozialen Standort. Dementsprechend ist auch die durch das „Verstehen“ bewirkte Heilung als eine Veränderung von Standort und Perspektive zu begreifen. Das „Verstehen“ in der Psychotherapie stellt Handlungsfähigkeit her, indem es die inhärente Systematik der Situation des Patienten deutend so erfasst, dass Handlungswege erkennbar, also denkbar, werden, die zuvor nicht zu erkennen waren. Die Veränderung von Perspektive oder Standort, die „Horizontverschmelzung“, ist konkret als Wissen neuer Handlungswege zu bestimmen. Die Grafik aus Kap. 4.2 wäre nach erfolgreicher Therapie demnach folgendermaßen zu zeichnen (Abbildung 6):

Abb. 6: Erweitertes Handlungsfeld bei erfolgreicher Psychotherapie

Das Wissen neuer Handlungswege bedeutet, dass der Patient sich selbst, als Subjekt des „Verstehens“, verändert. Der Verstehensbegriffs der philosophischen Hermeneutik lässt sich so handlungstheoretisch rekonzeptualisieren. Aber auch ein diskurspragmatischer Verstehensbegriff, der Verstehen als „Dialog Gleichberechtigter“ (Böhler 1981: 510) fasst, in dem „beiden Seiten […] Neu-

282 | Synopse: Sprachliches Handeln in der Psychotherapie es widerfahren“ (ebd.) kann (s. o. Anmerkung 6), wird im Material bestätigt. Denn die Selbstveränderung des Patienten beruht ja gerade darauf, dass seine Situation und sein Wissen über diese Situation rekonzeptualisiert und auf Ansatzpunkte zum Handeln hin benannt werden. So kommt es zu einer Veränderung im mentalen und aktionalen Zugriff auf die unverstandene, erratische Situation, die nach der Therapie nicht mehr die gleiche ist wie zuvor. Die Veränderung des Verstehenden beruht also auf einer Veränderung des zu Verstehenden. Damit kann die obige Frage nach den Unterschieden zwischen ›VEE‹ und ›Deuten‹, die auf der unterschiedlichen Reichweite und Abstraktionsstufe des jeweils verbalisierten Wissens beruht, wieder aufgenommen werden. Offensichtlich schaffen ›VEE‹ und ›Deuten‹ nicht auf die gleiche Art und Weise „Verstehen“ bzw. Handlungsfähigkeit – sonst wäre nicht erklärbar, warum das ›VEE‹ viel häufiger genutzt wird, dafür viel ‚kleiner‘ ist als das ›Deuten‹. Der Unterschied liegt im Zugriff auf den Gegenstand bzw. in der dem Gegenstand inhärenten Systematik, die jeweils rekonstruiert wird. Das ›Deuten‹ nimmt verschiedene Situationen zum Gegenstand und leitet die eine Situation aus der anderen ab. Die rekonstruierte Systematik bezieht sich also nicht auf eine Situation, wie beim ›VEE‹, sondern auf die Entwicklung der aktuell relevanten Situation aus einer anderen. Das ›Deuten‹ verlagert damit den „verstandenen“ Ansatzpunkt zum Handeln tendenziell aus der aktuell relevanten Situation in die ferner liegende, an sich separate Situation, von der die aktuell wirksame Systematik ausgeht. So wird in B6 die „zwiespältige“ (s101) Beziehung zum Vater dadurch rekonstruiert, dass sie auf einen Wiedergutmachungswunsch zurückgeführt wird, welcher seinerseits dadurch entstanden ist, dass die Mutter der Patientin die Beziehung zum Vater wiederholt negativ beeinflusst hat (s091s095). Dieser Wiedergutmachungswunsch prägt die Beziehung zum Vater so, dass die Lösungsversuche, die die Patientin „im Moment“ (s102) unternimmt, „Angst“ (s105) und Gedanken über Suizid auslösen. Es wird also eine komplexe Systematik des Erlebens bzw. Handelns rekonstruiert, die sich über mehrere biografische Episoden bzw. „Situationen“ erstreckt und deren Ausgangspunkt lebensgeschichtlich relativ weit zurückliegt. Damit gerät auch ein möglicher Ansatzpunkt für einen Eingriff in die Handlungsprozesse in vergleichsweise weite Ferne. Ein verändertes Verhalten der Patientin würde auf einer Reflexion der Beziehung zum Vater basieren, der Wiedergutmachungswunsch bzw. mentale Prozesse, die er auslöst, müssten erkannt, reflektiert und in das Handeln produktiv integriert werden, so dass die „zwiespältige“ Beziehung verändert werden kann, die Patientin in ihrem Handeln ‚freier‘ und unabhängiger wird. Indem das ›Deuten‹ die aktuell relevante Situation aus einer anderen Situation (bzw. einer Reihe anderer Situationen) verstehbar macht und so den An-

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satzpunkt zum Handeln lebensgeschichtlich tendenziell zurückverlagert, gibt es den Patienten einen vergleichsweise großen, mächtigen ‚Hebel‘ in die Hand. Die Patienten können, wenn sie die ›Deutung‹ verstehen, also die inhärente Systematik nachvollziehen und die Ansatzpunkte zum Handeln finden und nutzen können, ihr Leben anhand nur einer ›Deutung‹ weitgehend verändern. Andererseits stellt sich die Frage, ob sie dazu tatsächlich in der Lage sind, ob sie den ‚Hebel‘ also immer umlegen, das Wissen anwenden können, oder ob es, weil es von der aktuellen Situation eben vergleichsweise weit entfernt ist, nur abstraktes Wissen ohne konkrete Handlungsrelevanz bleibt. Eine gute Lösung für dieses Dilemma scheint die Deutung in B5 zu finden. Sie weist zwar auf den „wiederholenden“ Aspekt der „Abhängigkeit“ hin, macht aber in der „Nachbearbeitung“ den Ansatzpunkt am aktuellen Handeln der Patientin fest und konkretisiert ihn mit der Formulierung eines möglichen alternativen Handlungsweges („Nur könnten Sie s ja auch umdrehen, die ganze Geschichte, und sagen […]“). Damit wird einerseits eine Systematik des Handelns erkennbar, die sich über mehrere Situationen (z. B. auch in die Zukunft) erstreckt, andererseits auch ein Ansatzpunkt im konkreten, aktuellen Handeln. Zurückzuführen ist dies auch auf die „Reaktion“ der Patientin, die dem Therapeuten zeigt, welcher Handlungsbereich für sie augenblicklich relevant ist. Therapie gelingt im Zusammenspiel von Therapeut und Patient. Wenn das „Verstehen“, das die ›Deutung‹ anstrebt, also gelingt, ist es folgenreicher als das „Verstehen“, das die ›VEE‹ anstrebt. Das ›VEE‹-„Verstehen“ ist weniger ambitioniert, es versteht, was in der aktuell relevanten Situation wirksam ist. Dies ist jeweils relativ leicht nachzuvollziehen, hat allerdings, auch wenn es gelingt, vergleichsweise wenig Konsequenzen für das Handeln des Patienten. Das ›VEE‹ wird folgerichtig in einer höheren Frequenz realisiert als das ›Deuten‹.8 Die Zusammenschau der Transkriptanalysen, der begrifflichen und etymologischen Betrachtungen über „Deuten“ und „Verstehen“ sowie der handlungstheoretischen Konzipierung von Psychotherapie lässt gelingende Psychotherapie als die Herstellung von Handlungsfähigkeit erkennbar werden. Diese Handlungsfähigkeit basiert auf dem „Deuten“ (Therapeut) bzw. „Verstehen“ (Patient) einer der fraglichen Situation inhärenten Systematik, die auf Ansatzpunkte zu alternativem Handeln hin rekonstruiert wird. Das „Verstehen“ lässt neue Handlungswege erkennen und macht die Situation des Patienten so „handhabbar“. Wie die Analysen zeigen, ist das „Deuten“ dabei so ausgeformt,

8 Eine Wertung der Interventionen ist nicht intendiert.

284 | Synopse: Sprachliches Handeln in der Psychotherapie dass die Patienten „Verstehen“ zu einem großen Teil selbsttätig herstellen. Wissen wird also aktiviert, nicht übertragen. Während dieses Kapitel also versucht hat, die Wirkung von Psychotherapie global zu erfassen, beschäftigt sich das folgende mit den Beobachtungen über Formen therapeutischen Sprechens, wie sie in den hier angestellten Analysen und in der linguistischen Literatur gemacht werden konnten. Diese können verstanden werden, indem sie auf den gerade dargestellten Zweck von Therapie zurückgeführt werden.

9.2 Psychotherapie als hörerzentrierter Diskurs Die Transkriptanalysen in Kapitel sieben und acht treffen sich mit der besprochenen Literatur (Kap. 2) in einer Reihe von Beobachtungen über Formen sprachlichen Handelns, die für Psychotherapie insgesamt charakteristisch zu sein scheinen. Sie werden hier zunächst zusammengefasst und danach auf ihre Funktion im therapeutischen Diskurs befragt. – Besonders augenfällig ist zunächst die veränderte Wahrnehmungssituation, die viele psychoanalytisch durchgeführte Therapien prägt (Koerfer & Neumann 1982: 105ff). Der Patient liegt auf der Couch, er kann vom Analytiker gesehen werden, selbst sieht er den Analytiker aber nicht. Der Patient kann also weder sehen, wie seine Äußerungen auf den Analytiker wirken, noch dessen Mimik oder Gestik beim Sprechen verfolgen. Dieses Arrangement ist methodisch gewollt; es soll verhindern, dass das Mienenspiel des Analytikers »dem Patienten Stoff zu Deutungen [gibt] oder ihn in seinen Mitteilungen beeinfluss[t]« (Freud 1948d: 467). In den hier untersuchten Therapien ist dieses Arrangement allerdings nicht gegeben, Therapeut und Patient können sich sehen. – Die Interventionen der Therapeuten werden in meinem Material und bei Peräkylä (2004) und Vehviläinen (2003: 577) langsam intoniert und durch viele, vergleichsweise lange Pausen unterbrochen. – Ebenfalls an der Oberfläche des sprachlichen Handelns ablesbar sind die auch in den hier zugrundegelegten Transkriptauszügen auffallenden hohen Anteile an Schweigen in der Psychotherapie. Wrobel kommt in seinen Daten auf einen Anteil von 30% Schweigephasen im Therapiegespräch (Wrobel 1990: 242). Er beobachtet, dass dieses Schweigen häufig an Stellen auftritt, an denen eigentlich eine Turnübernahme durch den Therapeuten zu erwarten wäre. Der Therapeut verweigert dies, das Gespräch wird daher erst dann fortgesetzt, wenn der Patient weiterspricht. Auf diese Weise wird Wrobel zu-

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folge dem Patienten das Recht bestritten, „selbst zu bestimmen, wann sein Beitrag zu Ende ist“ (a. a. O.: 244). Das Schweigen führt Wrobel also auf Veränderungen des Sprecherwechselmechanismus zurück. Auch Koerfer & Neumann beobachten veränderte Strukturen des Turn-taking: Für den Patienten ist es häufig nicht möglich, den Therapeuten als den nächsten Sprecher auszuwählen (Koerfer & Neumann 1982: 108ff, vgl. Wrobel 1985). Die Kontrolle darüber, wer spricht, liegt weitgehend beim Therapeuten. Kontrolle über das Gespräch übt der Therapeut auch als Hörer aus. Die Höreräußerungen von Therapeuten sind auch in meinem Material (s. o. S. 225) überwiegend zustimmend (vgl. Flader & Koerfer 1983: 71ff, Wrobel 1985: 164ff). Wrobel sieht diese „fast stereotyp wirkende“ (Wrobel 1985: 167) Realisierung der Höreräußerung als „Ausdruck einer angestrebten HörerSprecher-Beziehung“ (a. a. O.: 168), führt sie also auf die therapeutische Beziehung zurück. In meinem Material wird gleichzeitig deutlich, dass der Therapeut den Patienten, indem er Konvergenz ausdrückt, auch zum Weitersprechen ermuntert, also den Prozess der patientenseitigen Selbstthematisierung unterstützt. In die Themaorganisation greift der Therapeut nicht nur mittels Höreräußerungen ein, sondern auch, wenn er selbst am Turn ist. Speck (1990; vgl. Flader & Grodzicki 1987, Wolff & Meier 1995: 61ff) beobachtet, dass die vom Therapeuten neu eingebrachten Themen „Vorrang vor einer Weiterbehandlung des laufenden Themas“ (Speck 1990: 203) haben. Auch Themen, die vom Patienten eingebracht werden, werden vom Therapeuten so bearbeitet, dass z. B. „Patientenäußerungen mit betont affektiver Proposition“ (a. a. O.: 206) in den Vordergrund gerückt werden. Die Frage, worüber gesprochen wird, wird demnach maßgeblich vom Therapeuten beantwortet. Therapie wird außerdem durch eine spezifische Strukturierung des gegenseitigen Wissens geprägt. Der Therapeut verfügt über einen beträchtlichen Wissensvorsprung, was die Pathologie des Patienten und ihre lebensgeschichtlichen Ursachen betrifft (Flader 1979, Schröter 1979, Flader & Grodzicki 1982b, 1982a). Außerdem akquiriert er im Verlauf der Therapie immer mehr Wissen über private und intime Details aus dem Leben des Patienten, während der Patient über den Therapeuten als Person kaum etwas

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erfährt, der Therapeut als Mensch nahezu anonym bleibt (Koerfer & Neumann 1982: 121ff).9 Dass Patienten die Therapeuten nicht zu den im Alltag erwartbaren „zweiten Handlungen“ veranlassen können und damit die Handlungsstruktur in der Therapie verändert ist, wurde wiederholt festgestellt. Erste Beobachtungen dazu machte Roy Turner (1976), die in einer Reihe von Arbeiten mit jeweils unterschiedlicher Akzentuierung bestätigt werden (Flader 1979, Flader & Grodzicki 1982a, Koerfer & Neumann 1982: 112ff, S. Streeck 1989: 116ff, Gebel & Speck 1991). Das Paradebeispiel ist die Frage des Patienten, die von den Therapeuten nicht beantwortet wird (Koerfer & Neumann 1982: 115ff, S. Streeck 1989: 116ff). Vehviläinen und Peräkylä sehen den Ausgangspunkt des ›Deutens‹ in der Entwicklung eines „puzzle“ (Vehviläinen 2003: 580), das mit der ›Deutung‹ schrittweise aufgelöst wird. Diese Feststellung konnte an meinem Material als das Aufwerfen von Fragen, das die initiale Äußerung der „Verbalisierung“ der ›Deutung‹ leistet, präzisiert werden. Das Aufwerfen von Fragen ermöglicht eine Entfaltung der ›Deutung‹, die auf das Wissen des Patienten spezifisch zugreift (s. o. Kap. 8). Eine Reihe von Arbeiten spricht von „Modalisierungen“ (Dittmar 1988: 72) der Interventionen bzw. sieht die „assertive illokutive Kraft“ (Ehlich 1990: 219; Hervorh. von mir, C.S.) der Äußerungen „abgeschwächt“ (ebd.). Diese Beobachtungen konnten in der vorliegenden Arbeit detailliert und auf ihre Funktion für das sprachliche Handeln zwischen Therapeut und Patient zurückgeführt werden. Die Mittel, die dafür verwendet werden, arbeiten auf dem illokutivem und teilweise auch auf dem propositionalen Akt: – Das zu vermittelnde Wissen wird häufig im Interrogativmodus (Rehbein 1999: 105ff) formuliert (beobachtet in meinen Daten (etwa B6) sowie bei Wahmhoff 1981: 101, Baus & Sandig 1985: 160f., Sandig 1990: 176, Vehviläinen 2003: 577, Peräkylä 2004). Das „deutende“ Wissen wird also nicht deklarativ (s. Rehbein 1999: 100ff) vom Therapeuten auf den Patienten übertragen, sondern dem Patienten zur Bewertung vorgelegt. – Auch Interventionen im Deklarativ-Modus sind häufig „vorsichtig“ (Wolff & Meier 1995: 84) formuliert. In meinem Material kamen z. B. die

9 Die Annahme von Koerfer & Neumann über die Anonymität des Therapeuten ist sicher eine Idealisierung und realiter nicht immer gegeben. Gleichwohl wird das Privatleben des Therapeuten auch in den mir vorliegenden Therapien kein einziges Mal thematisiert, der Wissensunterschied ist diesbezüglich also tatsächlich erheblich.

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Ausdrücke „vielleicht“, „eigentlich“, „ein bisschen“ vor (vgl. MeyerHermann & Weingarten 1982, Kindt 1984, Dittmar 1988: 83, Weingarten 1990: 231). Diese Ausdrücke modalisieren das eingebrachte Wissen (Redder 2009: 91) bzw. bearbeiten die Zukommensrelation von p zu P. Ob p der außersprachlichen Wirklichkeit P (bzw. H’s mentaler Widerspiegelung von P) wirklich zukommt, wird in p als vergleichsweise unsicher angegeben, so dass eine eigenständige Bewertung des propositionalen Gehalts durch den Hörer nötig wird. Eine andere Form der Modalisierung (nach Redder (2009) eine „Wirklichkeitsmodalisierung“ (91f.)) wird durch den Konjunktiv II geleistet, mit dem in meinem Material eine Reihe von Interventionen realisiert wird (z. B. in B5 die „Nachbearbeitung“; außerdem beobachtet von Dittmar 1988: 83). Durch den Konjunktiv II erhält die Äußerung eine „mentale Wirklichkeitsqualität“ (Redder 2009: 92; Hervorh. von mir, C.S.), es wird also nicht über die Wirklichkeit P, sondern über das Wissen П von S gesprochen. Die Zuschreibung dieses Wissens auf die Wirklichkeit muss in einem zusätzlichen, eigenständigen mentalen Prozess vom Patienten vorgenommen werden. In meinem Material fielen außerdem das Modalverb „können“ und die Aspektdeixis „so“ auf. Mit „können“ wird der formulierte propositionale Gehalt als Angabe einer Möglichkeit prozessiert (Redder spricht von „Handlungsmodalisierung“ (a. a. O.: 88f.)); ob die formulierte Möglichkeit in die Realität umgesetzt wird, wird dem Patienten überlassen. Mit „so“ (Ehlich 1987) fokussiert der Therapeut in meinem Material (insbesondere in den ›Deutungen‹ B5 und B6) einen bestimmten Aspekt, ohne diesen zu benennen. Er realisiert so einen Verweis in den Vorstellungsraum, dessen Verweisobjekt von der Patientin identifiziert werden muss. Die Patientin muss selbst konkretes Wissen aufrufen und die Äußerung um eigene Wissenselemente ergänzen und wird auf diese Weise an der Prozessierung der Intervention beteiligt. Eine teilweise Dissoziation von Proposition und Illokution wird durch die Matrixkonstruktionen (Rehbein 2003) geleistet, mit denen nahezu jede Intervention – oft in einer Reihe von Matrizen – realisiert wird (vgl. die Daten in Vehviläinen 2003, Peräkylä 2004)10. Die übergeordnete

10 Die Daten von Peräkylä (2004) und Vehviläinen (2003: 577) zeigen ebenfalls Realisierungen von Deutungen mithilfe von Matrixkonstruktionen – überhaupt lassen sich sehr viele der hier gemachten Beobachtungen am Material von Peräkylä und Vehviläinen, die bisher als einzige

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Matrixkonstruktion knüpft an das Wissen von Sprecher und Hörer an und kennzeichnet den in der anschließenden p-Konstruktion formulierten propositionalen Gehalt häufig als Ausdruck mentaler Prozesse des Therapeuten (z. B. B6, s105: „Und ich kann mir vorstellen, dass…“). Die Dissoziation von Illokution und Proposition geht teilweise so weit, dass isolierte Äußerungen mit Nebensatz-Topologie, mitunter auch ohne Finitum, realisiert werden, bei denen keine übergeordnete Matrixkonstruktion erkennbar ist (Schlobinski (1988) spricht von „nichteingebetteten-daß-Sätzen“). Formal wäre davon auszugehen, dass mit diesen Äußerungen keine Illokution realisiert wird – im sprachlichen Handeln zwischen Therapeut und Patient wird jedoch deutlich, dass die illokutive Qualität der Äußerungen, ihre Bedeutung im Handlungszusammenhang relativ zu dem zuvor formulierten und dem bereits vorliegenden Wissen, vom Hörer (also dem Patienten) erkannt werden muss. Der Hörer erkennt, welchen Zweck die Äußerung in der gegebenen Konstellation erfüllt, er ordnet das formulierte Wissen so, dass es gemeinsam mit dem zuvor formulierten Wissen eine sinnvolle, verstehbare Wissenseinheit ergibt.11

Die in der Literatur sowie in der vorliegenden Arbeit gemachten Beobachtungen über das Setting, die Struktur von Wissen und Handeln, über kommunikative Apparate und die Organisation des Themas sowie über die charakteristischen Ausformungen von Äußerungsakt, propositionalem und illokutivem Akt in der Therapie treffen sich in einem Punkt: der alleinigen Ausrichtung auf den Patienten, als den Hörer der für die Wirkung von Therapie entscheidenden Äußerungen. Das therapeutische Gespräch ist zuerst auf die Selbstthematisierung des Patienten ausgerichtet. Deswegen übernimmt der Therapeut nicht den Turn, reagiert nicht auf Fragen, richtet das Gespräch thematisch auf den Patienten aus und unterstützt dessen Ausführungen mit konvergenten Höreräußerungen. So soll der Patient zum Sprechen, zur alleinigen Beschäftigung mit sich selbst und dem, was für ihn wichtig ist, gebracht werden. Aber auch in den Handlungen des Therapeuten geht es ausschließlich um den Patienten. Wenn der Therapeut

detaillierte linguistische Transkriptionen von ›Deutungen‹ vorgelegt haben, bestätigen. Während Pausen, Fragen oder Parenthesen allerdings auch in der Übersetzung erhalten bleiben sollten, ist es für mich nicht erkennbar, ob jeweils auch das finnische Original der Deutung mit Matrixkonstruktionen operiert oder ob dies ein Effekt der Übersetzung ins Englische ist. 11 Eine solche eingeschränkte bzw. im Diskurs sehr ‚späte‘ Realisierung des illokutiven Akts scheint sich ebenfalls in den Daten von Peräkylä (2004) und Vehviläinen (2003) zu zeigen.

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spricht, dann so, dass der Patient spezifisch involviert ist bei Aufbau, Einordnung und Bewertung des versprachlichten Wissens. Die beschriebenen formalen Kennzeichen von ›Deutungen‹ und ›VEE‹ dienen der Aktivierung des Hörers und seines Wissens über sich selbst. Das Wissen des Hörers ist gleichzeitig Ressource und zu veränderndes Objekt der therapeutischen Interventionen. Die charakteristischen Ausformungen des therapeutischen Sprechens greifen auf dieses Wissen je unterschiedlich zu: Sie geben ihm Zeit, das formulierte Wissen zu verarbeiten; sie machen deutlich, dass eine eigenständige Bewertung des Wissens durch den Hörer nötig ist, dass das Wissen vom Hörer der Wirklichkeit eigenständig zugeschrieben werden muss; sie involvieren ihn beim Aufrufen von Wissen, lassen ihn das formulierte Wissen in der gegebenen Konstellation verorten und gar den Zweck der Äußerung selbst erkennen. Sämtliche Charakteristika therapeutischen Sprechens sind also auf die Aktivierung des Hörers ausgerichtet. Sprachliches Handeln in der Psychotherapie ist demnach hörerzentriertes Handeln. Sprachliches Handeln zielt zwar eo ipso auf eine Veränderung des mentalen Bereichs des Hörers ab, so dass im Grunde auch jede sprachliche Handlung zunächst als „hörerzentriert“ bezeichnet werden könnte – was in sich wiederum eher geringen heuristischen Wert hätte (vgl. das Konzept des „recipient design“ nach Sacks u. a. 1974). Das sprachliche Handeln des Therapeuten stellt aber wie beschrieben in besonderer Weise auf die Belange des Patienten ab. Rein sprecherseitige Motive, wie etwa das Teilen des Erlebten beim Erzählen (vgl. Klotz 1982) oder das Durchsetzen der eigenen Meinung beim Argumentieren (Trautmann 2004, Spranz-Fogasy 2005) oder Streiten (Komor 2010), treten in der Therapie dagegen völlig in den Hintergrund. Die alleinige Ausrichtung auf den Patienten, den Hörer der therapeutischen Interventionen, formt und prägt den therapeutischen Diskurs durchgehend, dies wird als „Hörerzentrierung“ benannt. Zurückführen ist die „Hörerzentrierung“ des therapeutischen Diskurses darauf, dass Therapie die Heilung des Patienten durch Sprache bezweckt. Diese Heilung kann nicht, wie es die Psychiatrie versucht (s. o. Kap. 4.1), von außen in den Patienten ‚injiziert‘ werden, sie muss vom Patienten selbst vollzogen werden. Die durch Sprache vorzunehmende Sachverhaltsänderung ‚im Kopf des Patienten‘, das „verstehende“ Handhabbarmachen der eigenen Situation, kann vom Therapeuten zwar angeregt, letztendlich aber nur vom Patienten tatsächlich realisiert werden. Der Patient muss das Wissen über sein Erleben und Handeln selbst aktivieren und sein Handeln selbst verändern. Der Patient, als Hörer der entscheidenden therapeutischen Äußerungen, muss die zugrunde liegende Systematik selbst erkennen, muss selbst verstehen, wie er in die missliche Situation geraten ist, und seine Perspektive auf sein Leben selbst so verändern, dass

290 | Synopse: Sprachliches Handeln in der Psychotherapie für ihn neue Handlungswege erkennbar und ausführbar werden.12 Daher greift Therapie buchstäblich ‚mit allen Mitteln‘, die Sprache bietet, auf das Wissen des Patienten zu, legt ihm neues Wissen vor und regt ihn zu einer verstehenden Neuperspektivierung seines Selbst und seiner Situation an. Das oben (Kap. 9.1) beschriebene „Verstehen“ ist also ein „Verstehen“ des Patienten durch den Patienten. Der Blick auf den therapeutischen Diskurs und sein Wirken zeigt, dass das heilende „Verstehen“ nicht vom Therapeuten deutend auf den Patienten übertragen wird, sondern vom Patienten mit Hilfe der „Deutungen“ des Therapeuten selbst hergestellt wird. Maßgeblich für die Wirkung von Psychotherapie ist die Aktivierung und Involvierung mentaler Ressourcen des Patienten, die die Basis der Heilung bilden. Indem der Patient versteht, gewinnt er Handlungsfähigkeit, er macht seine Situation handhabbar. Damit lässt sich nun auch der Zweck von Psychotherapie, der bisher als „Heilung des Patienten“ benannt wurde, genauer fassen. Indem der Patient die Fähigkeit (wieder-)gewinnt, in der Situation, in der er sich befindet, sozial angemessen zu handeln, ist er geheilt. Die Heilung besteht im „Verstehen“ der eigenen Situation, in der Herstellung von Handlungsfähigkeit der aktuellen lebensgeschichtlichen Situation gegenüber. Dieser Zweck von Psychotherapie ist es, der das sprachliche Handeln in der Psychotherapie wie gesehen leitet und formt.

9.3 Perspektiven für die Therapieforschung Wenn „Verstehen“, wie hier entworfen, handlungsfähig macht, so muss auch der hier unternommene Versuch, Psychotherapie zu verstehen, auf mögliche Ansatzpunkte zu weiterem Handeln befragt werden. Die folgenden Ausführungen versuchen deshalb aus der vorgelegten handlungstheoretischen Analyse von Psychotherapie Schlussfolgerungen theoretischer wie praktischer Natur zu ziehen. Dabei werden auch noch weitgehend unbearbeitete Problemstellungen aufgezeigt, an denen sich die linguistische Untersuchung von Psychotherapie weiterentwickeln kann.

12 Die Arbeit zeigt damit linguistisch, wie das schon mit Freuds Abkehr von der Hypnose (Freud 1948e) erkannte Prinzip, dass Psychotherapie dann heilt, wenn sie die Patienten in die Lage versetzt, bestimmte Einsichten selbst zu gewinnen, in die therapeutische Praxis umgesetzt wrid. Die „Hörerzentrierung“ bündelt die formalen Merkmale, mit denen Therapie den entscheidenen therapeutischen Prozess, das „Selbst“ des Patienten anzuregen, realisiert.

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Auffällig und durchaus überraschend ist zunächst die große formale und funktionale Nähe von ›Deuten‹ und ›VEE‹. Beide Handlungen gehen im Kern „deutend“ vor, d. h. sie erarbeiten an dem manifesten Wissen, das der Patient in die Therapie einbringt, ein neues Wissen von höherer Konstanz und größerer Bedeutung. Auch das „Wiederaufgreifen“ bereits vorhandenen Wissens – allerdings in unterschiedlicher Ausprägung – sowie das „Benennen“ der Erfahrungen des Patienten aus kollektiver Perspektive zeichnen beide Handlungsmuster aus. Als Charakteristikum, das beide Handlungsmuster global prägt, wurde die „Hörerzentrierung“ herausgearbeitet, die sowohl einzelne Prozeduren als auch die komplette Musterstruktur formt und auch unterschiedliche funktionale Momente (erfasst mithilfe der Akte) einer Äußerung bestimmt. Damit scheinen die Gemeinsamkeiten zwischen ›Deuten‹ und ›VEE‹ zu überwiegen, die festgestellten Unterschiede haben für das Handeln von Therapeut und Patient weniger Gewicht, als nach dem Blick auf die unterschiedliche oberflächliche Ausprägung (Häufigkeit, Größe; s. o. Kap. 6.2) zu erwarten gewesen wäre. Die Analyse zeigt damit, dass das sprachliche Handeln in der Psychotherapie durch den praktisch zu realisierenden Zweck geprägt wird und nicht etwa, wie aufgrund der Ausführungen in den Lehrbüchern anzunehmen wäre, vornehmlich durch die jeweilige Therapietheorie. Die Therapeuten richten ihr Handeln auf den Patienten und dessen Bedürfnisse aus und gestalten ihre Interventionen nach ihrem praktisch erworbenen Handlungswissen. Die Therapietheorie setzt quasi einen Rahmen – in den untersuchten Fällen insbesondere hinsichtlich der Reichweite des verbalisierten deutenden Wissens – die Ausgestaltung dieses Rahmens folgt den gegebenen konstellativen Notwendigkeiten. Die Arbeit leistet also auch einen Beitrag zu der Debatte über die Bedeutung von Therapietheorien für die therapeutische Praxis. Die von Therapeuten häufig zum Ausdruck gebrachte Einstellung, wonach die Praxis des eigenen Handelns entscheidend ist und eine Theorieorthodoxie dem Erfolg therapeutischer Behandlungen eher im Wege steht, wird durch die Analysen gestützt. Die große Übereinstimmung von ›Deuten‹ und ›VEE‹ gibt Anlass zu weitergehenden therapietheoretischen Überlegungen. Die Forschung über die Wirkung von Psychotherapie („Outcome“) unterscheidet klassisch zwischen Wirkfaktoren, die allen Therapieformen gemein sind (etwa die therapeutische Beziehung), und solchen, die nur der gewählten Therapieform zukommen. Zu diesen „spezifischen Wirkfaktoren“ würde man auch die ›Deutung‹ (für tiefenpsychologische und psychoanalytische Therapie) und das ›VEE‹ (für Gesprächstherapie) zählen. Der detaillierte linguistische Blick auf den Therapieprozess lässt diese Unterscheidung, die ja im Ursprung nicht am Therapieprozess gewonnen ist, sondern auf Ausführungen in Lehrbüchern basiert, allerdings fraglich werden. Indem sich nämlich zeigt, dass ›VEE‹ und ›Deuten‹ in entscheiden-

292 | Synopse: Sprachliches Handeln in der Psychotherapie den Punkten gleich ausgeprägt sind, dass sie grundsätzlich ähnlich funktionieren und in mentale Prozesse des Patienten strukturell übereinstimmend eingreifen, tritt das ‚Spezifische‘ dieser „spezifischen Wirkfaktoren“ hinter das Allgemeine des sprachlichen Handelns in der Psychotherapie zurück. Es stellt sich die Frage, ob tatsächlich zwischen spezifischen und allgemeinen Wirkfaktoren unterschieden werden kann, wenn selbst die „spezifischen Wirkfaktoren“ unterschiedlicher Formen verbal orientierter Psychotherapie im Wesen gleich ausgeprägt sind. Mit dieser Infragestellung würde auch dem immer wieder unternommenen Versuch, allgemeine gegen spezifische Wirkfaktoren auszuspielen (vgl. Grawe u. a. 1994, Hubble u. a. 2001, Asay & Lambert 2001), der sich insbesondere gegen ›deutende‹ und allgemeiner gegen verbal orientierte Therapien überhaupt zu richten scheint, die Grundlage entzogen. Indem Therapeuten „deuten“, bringen sie genauso spezifische wie allgemeine Wirkfaktoren von Therapie zur Anwendung, die entwickelte Unterscheidung zwischen diesen erweist sich als eine Strategie, bestimmte Therapieformen mithilfe ihrer eigenen Therapietheorie zu diskreditieren. An diese Frage kann eine weitere Reflexion überkommener therapietheoretischer Annahmen anschließen. Die Ausführungen aus der Theorie der Gesprächstherapie (s. z. B. Eckert 2000, Eckert u. a. 2006) betonen stets die vollständige Ausrichtung des therapeutischen Prozesses auf den Patienten, sehen die „Klientenzentriertheit“ als das Merkmal ihrer Therapieform. Der Vergleich mit der tiefenpsychologischen Therapie zeigt allerdings, dass die Gesprächstherapie nicht mehr (oder weniger) klienten- bzw. „hörerzentriert“ vorgeht, als ›deutende‹ Formen verbal orientierter Therapie, von denen man sich in der Entwicklung der Gesprächstherapie ja gerade abzugrenzen versucht hat (vgl. z. B. Rogers 1973). Die Gesprächstherapie ist im Grunde genauso „klientenzentriert“ wie die tiefenpsychologische Therapie. Damit stellt sich die Frage, was sich mit dem Schlagwort der „Klientenzentriertheit“, das ja z. B. auch in die Beratung Eingang gefunden hat (s. Berndt & Kleppin 2010), in der Praxis sprachlichen Handelns eigentlich verbindet. Das ›VEE‹, das im Kern – entgegen der Therapietheorie – als „Deuten“ analysiert wurde, geht nicht grundsätzlich „klientenzentrierter“ vor als das tiefenpsychologische ›Deuten‹. In beiden Fällen wird das Handeln des Patienten zum Ausgangspunkt der therapeutischen Intervention, ist das Handeln durch die Ausrichtung auf den Patienten geprägt, so dass tatsächlich von einer „Hörerzentrierung“ sprachlichen Handelns in der Psychotherapie zu sprechen ist. Gleichzeitig fungiert in beiden Fällen der Therapeut als eine Mittlerfigur, die die Befugnis und die Fähigkeiten hat, die Wirklichkeit auszulegen und diese Auslegung dem Patienten nahezubringen (zur Rolle der Mittlerfigur beim „Deuten“ s. Bachem 1992). In beiden Fällen

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erkennt der Therapeut also etwas, das dem Patienten verborgen bleibt, auch beim ›VEE‹ verfügt der Therapeut daher über einen erheblichen Wissensvorsprung, der es ihm erst ermöglicht, als Therapeut heilend tätig zu werden. Auch in der Gesprächstherapie leitet der Therapeut den Patienten bei der Veränderung seines mentalen Bereichs an, auch der Gesprächstherapeut ist mithin entscheidend verantwortlich für die Veränderungen, die in der Therapie vor sich gehen. Von einer besonderen „Klientenzentriertheit“ der Gesprächstherapie kann nach dem vergleichen Blick auf die therapeutische Praxis daher m. E. nicht gesprochen werden. Die „Hörerzentrierung“ erfasst die Ausrichtung von Therapie auf die Belange des Patienten, die das sprachliche Handeln durchgehend formt. Sprachliches Handeln in der Psychotherapie wirkt, indem es das Wissen des Patienten spezifisch – ‚mit allen Mitteln‘ – aktiviert und zur Ressource seiner eigenen Veränderung macht. Aus dieser Erkenntnis ließen sich – nach einer Überprüfung der vorgelegten Analysen (s. u. S. 295) – auch Empfehlungen für die Praxis der Therapie ableiten. Der für die Wirkung von Therapie entscheidende Zugriff auf mentale Prozesse des Patienten kann nur gelingen, wenn der Patient an der Entwicklung, Aus- und Verarbeitung, der Bewertung und Aneignung des deutenden Wissens beteiligt wird, wenn diese Prozesse auf seine mentale Strukturiertheit, wie sie vor der „Deutung“ vorliegt, Rücksicht nehmen. Therapie gelingt nicht als Übertragen von Therapeutenwissen auf Patienten, sondern als gemeinsames Herstellen und Verändern von Wissen. Der kooperative Vollzug sprachlicher und darüber vermittelt auch mentaler Handlungen ermöglicht es dem Patienten, das „Nicht-Verstehen“ seiner Situation in „Verstehen“ umzuwandeln und damit dem eigenen Erleben gegenüber handlungsmächtig zu werden. Die Rücksichtnahme auf den Patienten, die aktive Beteiligung des Patienten bei der Prozessierung therapeutischer Interventionen erscheint entscheidend für den Erfolg von Psychotherapie – dies wäre mithin eine Konsequenz, die für die therapeutische Praxis aus den vorgelegten Analysen zu ziehen wäre. Den Therapeuten wäre zu empfehlen, den Patienten wo immer und wie immer möglich an der Entwicklung und Bearbeitung von Interventionen zu beteiligen und diese so zu gestalten, dass sie vom Patienten nach Maßgabe seines Wissens verarbeitet werden können. Neben solchen Überlegungen therapeutischer Natur sind die gemachten Beobachtungen auch aus sprachwissenschaftlicher Perspektive zu reflektieren. Es zeigt sich zunächst, dass Therapie, im Anschluss an Flader (1995) und Ehlich (1990), als Handeln mit Sprache verstanden werden kann. Der therapeutische Prozess ist ein Handlungsprozess von Therapeut und Patient, in dem der Therapeut den Patienten auf eine seinem Handeln inhärente Systematik hinweist. Dieser Hinweis, der, wenn er vom Patienten nachvollzogen wird, das Umwan-

294 | Synopse: Sprachliches Handeln in der Psychotherapie deln von „Nicht-Verstehen“ in „Verstehen“ bedeutet, ermöglicht dem Patienten einen systematischen, funktionalen Eingriff in die ablaufenden Handlungsprozesse. Therapie kann so als das kooperative (Wieder-)Gewinnen von Handlungsfähigkeit gegenüber der eigenen lebensgeschichtlichen Situation verstanden werden. Das ursprüngliche Ausgeliefertsein an die eigene lebensgeschichtliche Situation wird überwunden, indem eine Reintegration in kollektiv gewusste und akzeptierte Formen des Handelns erreicht wird. Die vorgenommene Konzipierung von „Verstehen“ als das Herstellen von Handlungsfähigkeit, als das „Handhabbarmachen“ eines Gegenstands, könnte daneben einen veränderten Blick auf den Zusammenhang von mentalen und interaktionalen Prozessen ermöglichen. Dass sich „Verstehen“ im Handeln manifestiert und vollzieht, ein ‚Gegenstand‘ (ein Begriff genauso wie ein Gerät, eine Handlung wie ein Kunstwerk) erst dann „verstanden“ ist, wenn man seiner inneren Systematik gemäß mit ihm handeln kann, macht z. B. eine Modifizierung von Theorien oder Strategien des Lernens in schulischer und außerschulischer Kommunikation möglich. Auch andere institutionelle Diskurse, etwa in der Medizin (B. Meyer 2004, Nowak 2010) oder Beratung (Nothdurft u. a. 1994; Hartog 1996, Reitemeier 2010) die auf das Vermitteln von Wissen und mithin auf das Verstehen der eigenen Situation ausgerichtet sind, wären daran zu messen, inwieweit sie den Patienten zu situativ angemessenem Anschlusshandeln ermächtigen. Daneben kann die festgestellte „Hörerzentrierung“ des therapeutischen Diskurses zu einem Ansatzpunkt für einen methodischen Vergleich institutionell basierter Diskursformen werden. Diskurse könnten danach differenziert werden, inwiefern sie funktional und formal auf die Belange der beteiligten Aktanten ausgerichtet sind. Unterschiede würden sich vermutlich nicht nur zwischen therapeutischem Sprechen und Homileïk (man denke etwa an die Sprecherzentrierung des Erzählens), sondern beispielsweise auch zwischen therapeutischem und medizinischem Diskurs erkennen lassen. So zeigt sich etwa an der Tatsache, dass Patienten in der Arzt-Patienten-Kommunikation kaum Zeit zum Beschwerdevortrag erhalten (Nowak 2010), eine teilweise institutionell bedingte Negierung zentraler Belange des Klienten. Der ArztPatienten-Diskurs scheint demnach grundlegend anders ausgeformt und von anderen Faktoren bestimmt zu sein als der therapeutische Diskurs. Darüber hinaus kann die Diskussion über eine „Therapeutisierung“ des Alltags (vgl. die in Hausendorf 2011c versammelten Beiträge) von den hier zusammengetragenen Charakteristika therapeutischen Handelns profitieren. Insbesondere die „Hörerzentrierung wäre als Charakteristikum therapeutischen Handelns aufzugreifen und könnte damit einen Ansatzpunkt liefern, um therapeutisches von therapeutisierendem Handeln zu unterscheiden. „Therapeuti-

Perspektiven für die Therapieforschung | 295

sierung als Kommunikationsphänomen“ (Hausendorf 2011b: 14) bzw. „Alltagserfahrung“ (10) könnte so als etwas erkannt werden, das bestimmte Merkmale des therapeutischen Diskurses, insbesondere die „Selbstthematisierung“ (Hahn 1987), zwar aufgreift bzw. zitiert, dessen Mikrostrukturierung allerdings darauf hinweist, dass in den therapeutisierenden Texten und Diskursen grundsätzlich andere Zwecke verfolgt werden als in der Psychotherapie (vgl. auch Imhof 2011). Neben der gerade erst in Gang kommenden Diskussion über „Therapeutisierung“ lässt die vorliegende Untersuchung eine Reihe weiterer linguistisch interessanter und therapeutisch relevanter Problemstellungen erkennen und trägt damit auch zu dem bestimmten „Nicht-Gewussten“ bei, von dem aus sich eine Frage ja erst formulieren lässt. So basieren zwar die vorgelegten exemplarischen Analysen von sprachlichem Handeln in der Psychotherapie einerseits auf einem breiten Korpus von etwa 70 Therapiesitzungen und wurden andererseits anhand der Daten, die über die linguistische Literatur zugänglich sind, so weit als möglich validiert. Dennoch wäre eine Überprüfung der Analyseergebnisse an zusätzlichem Material wünschenswert. Ein weiteres Desiderat besteht, neben der quantitativen Verbreiterung, in der qualitativen Ausdehnung der Untersuchung. Die linguistische Forschung hat insbesondere die Verhaltenstherapie bisher nahezu vollständig ignoriert. Dabei wäre es interessant, Eigenschaften wie die „Hörerzentrierung“ oder andere Diskursmerkmale am verhaltenstherapeutischen Diskurs zu untersuchen. Anzunehmen wäre, dass sich die grundsätzliche Ausrichtung auf den Patienten auch in der Verhaltenstherapie zeigt, sich aber teilweise unterschiedlich ausformt. Auch das multimodale Zusammenspiel von verbaler und non-verbaler Kommunikation wäre an der Verhaltenstherapie, die ja auch als Einüben von Handlungen operiert, vermutlich produktiv zu untersuchen, was sich mit dem gegenwärtigen MultimodalitätsTrend (z. B. Deppermann & Linke 2010, Mondada & Schmitt 2010, Hausendorf u. a. 2012) der linguistischen Gesprächsforschung träfe. Eine weitere notwendige Verbreiterung der linguistischen Untersuchung von Psychotherapie besteht in der Analyse mehrsprachiger Therapie. In dem Mangel an Angeboten von gedolmetschter Psychotherapie ist ein fundamentales Defizit des deutschen Gesundheitssystems zu sehen, das sehr weitgehende Auswirkungen auf das Wohlergehen erkrankter Individuen – häufig Flüchtlingen aus Kriegsgebieten – hat (Spiewak 2010). Eine Untersuchung der wenigen vorhandenen Angebote hätte u. a. die Aufgabe, auf diese Lücke aufmerksam zu machen und linguistisch zu belegen, wie bedeutsam professionelles Dolmetschen für den Erfolg von mehrsprachiger Therapie ist. Dabei wäre zum einen auf sehr wenigen Vorläuferarbeiten über gedolmetschte Psychotherapie (Bot 2005) sowie zum anderen auf vorliegenden Untersuchungen zum Dolmetschen

296 | Synopse: Sprachliches Handeln in der Psychotherapie in medizinischer Kommunikation aufzubauen (z. B.,Bührig & B. Meyer 2004, B. Meyer 2004, B. Meyer u. a. 2010). Besonders interessant erscheint die Frage, wie die hier festgestellten funktionalen und formalen Charakteristika therapeutischer Kommunikation, die ja auf dem einzelnen sprachlichen Mittel und seinem spezifischen Zugriff auf die Kommunikationskonstellation basieren, in gedolmetscher Kommunikation verarbeitet werden. Eine eins-zu-eins Übersetzung scheint nicht möglich, vielmehr müssten Strategien der Kompensation erkennbar werden, die die Wirksamkeit des therapeutischen Handelns im gedolmetschten Diskurs erhalten. Im Sinne einer möglichst vollständigen Erforschung des therapeutischen Handelns erscheint schließlich die verstärkte Kooperation mit den Praktikern der Psychotherapie wünschenswert. Ihnen könnte nicht nur die Aufgabe zufallen, die vorgelegten Ergebnisse auf ihre Passung für die therapeutische Praxis zu überprüfen, sie könnten insbesondere auch Hinweise auf Passagen im Geschehen zwischen Patient und Therapeut geben, die aus therapeutischer Perspektive bedeutsam erscheinen. Die vorliegende Arbeit musste die Wirksamkeit von Therapie durch die ‚Fenster‘ von ›Deuten‹ und ›VEE‹ betrachten und konnte den therapeutischen Diskurs als Ganzes nur auszugsweise thematisieren. Die Kooperation mit Therapeuten könnte diese, hier notwendige (s. o. Kap. 5.1) Reduktion des Gegenstandes auf die Handlungen, die in der Therapietheorie als die entscheidenden gelten, überwinden helfen. Der therapeutische Blick auf das Material hätte die Aufgabe, Stellen zu identifizieren, an denen sich die Wirkung von Therapie vollzieht, an denen aber gerade keine ›Deutungen‹, ›VEE‹ oder sonstige therapeutische Techniken zur Anwendung kommen. Damit könnte das Gesamt des Therapieprozesses besser in den Blick genommen werden, die Materialkonstitution könnte die institutionelle Realität noch besser abbilden. Die Aufgabe allerdings, zu zeigen, ob und wie das Heilen durch Sprache im kooperativen Handeln von Therapeut und Patient gelingt, verbliebe der linguistischen Analyse.

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Anhang A1 Transkripte B1 Erste Sitzung einer gesprächstherapeutischen Kurzzeittherapie. Vorausgegangen sind ein Anamnesegespräch sowie ein Erstgespräch zwischen Therapeut und Patientin. TH: Gesprächspsychotherapeut, leichter bairischer Akzent. PA: Patientin, Mitte 50, Hausfrau, zum dritten Mal verheiratet, deutlicher bairischer Akzent. Spricht leise und zurückhaltend. Therapie findet als Nachsorge nach Suizidversuch durch Medikamentenabusus statt. /64/

((2,9s)) Was hat Ihnen dieses Gefühl

TH [v] /63/

• Hm̌˙

PA [v]

TH [v]

gegeben? /65/

PA [v]

((9s)) Ich hab Angst gehabt, ich werd zu früh entlassen, und ich hab Angst

PA [v]

gehabt, ich muss wieder in die Arbeit gehen und des/ die Angst, die hab ich jetzt heut /66/ /67/

Hm̄˙ ((Räuspern))˙

TH [v]

/68/ PA [v]

noch.

/69/

((Ausatmen))˙ ((2s)) Vor zu Haus hab ich mich gefürchtet.

/70/ PA [v]

((5,3s)) Ich war froh, dass/ ((2,7s)) wie Herr Doktor Albert gesagt hat, ich kann noch • /71/

Hm̀hḿ˙

TH [v]

/72/ PA [v]

äh länger bleiben.

((1,5s)) Ich wär so ge/ • so/ sogar (noch gerne) noch länger

/73/

/75/

Haben Sie das gesagt?

TH [v]

((1,7s)) Hat /74/

PA [v]

geblieben, • wenn s gegangen wäre.

((1,5s)) [Ja]. [leise

322 | Anhang

TH [v]

ma/ äh hat man Sie dann • hinaus geworfen? /76/

Nein das nicht, aber sie haben gesagt : •

PA [v]

/77/ PA [v]

"Sie können heute gehen". ‿Dann hab ich gesagt : "Kann ich nicht • nicht noch ein /80/

• [Hm̀hḿ]˙

TH [v] /78/ /79/ PA [v]

bißchen bleiben"? Ja. "Morgeǹ oder übermorgen" hab ich (ihnen) gesagt. [leise /81/

TH [v]

/83/ /84/

((1,5s)) Hm̄˙

Hm̌˙ ((2,6s)) Tjà˙ /82/

((2,7s)) Ich mein ich versteh dess • • • kostet viel Geld.

PA [v] /85/ TH [v]

• • • Sie machen sich/ Sie sehen sich selber und Sie machen sich auch, glaub ich, •

TH [v]

Sie sehen sich selber sehr klein. • • "Ich kann nix, ich bin ne Null, ein Floh, den man

TH [v]

zerdrückt ((ahmt Geräusch des Zerdrückens mit der Zunge nach)), nix wert. • Wenn s

TH [v]

mich nicht gibt, dann weint kein Mensch drum". • • • Hm? • "Die Welt verliert nix an

TH [v]

mir, so ungefähŕ".

/86/

/87/

/88/

/90/

PA [v]

Hm̀hḿ˙ /89/

/91/

• Ja (bestimmt) nicht.

• • I… Zum Beispiel heut hab ich mir

/92/

/93/

Hm̀hḿ˙

TH [v]

/94/ PA [v]

gedacht — ((2,1s)) ich hab Zeitung gelesen

— [u:nd das is so] , ich schau immer [schnell

PA [v]

hinten drauf, • •Todesanzeigen und so und dann war so eine ganz große

A1 Transkripte | 323

PA [v]

Todesanzeige (in der) Danksagung drin, hab ich mir gedacht : "Ja, ((2,5s)) wie langé"… /96/

Hm̄˙

TH [v] /95/ PA [v]

• • • Oder besser gesagt, die Frau • • — Melanie Krauß — das war so eine /97/

PA [v]

/99/

Hm̌˙

TH [v]

Persönlichkeit

Hm̀hḿ˙ /98/

/100/

und wer spricht denn heut noch von ihr?

Und von mir erst — /101/

• • Hm̀hḿ˙

TH [v] PA [v]

• da hab ich von mir/ zu mir (gesagt) : • "Ich wär schon lang vergessen".

B2 Siebte Stunde einer Kurzzeitgesprächspsychotherapie. Die Patientin erzählt von der Reise ihres Mannes zu seiner Verwandtschaft. TH: Gesprächspsychotherapeut; leichter bairischer Akzent, erkältet. PA: Patientin, Mitte 50, Hausfrau, zum dritten Mal verheiratet, deutlicher bairischer Akzent. Therapie findet als Nachsorge nach Suizidversuch durch Medikamentenabusus statt. /14/ PA [v]

/15/

/16/

Ich weiß… Ich war soo nervös. ((1s)) Sag mal "Nee, des gibt s net. • • Des gibt /17/

((1,3s)) Jaá˙

TH [v]

/18/ PA [v]

s net, dass ich überhaupt net schlafen kann".

Und heut Nacht hab ich

PA [v]

aber gut geschlafen. ((1,3s)) Ich bin gestern um zehn in s Bett gegangén, ((1s)) (um

PA [v]

halb) eingeschlafen und heut früh bin ich s erste Mal wach geworden um halb sechs.

/19/

/20/ TH [v]

((1,2s)) [Háh]! /21/

((3s)) Also, des hab ich schon laang laang nimmer, dass ich

PA [v] [staunend

-

324 | Anhang

/22/ TH [v]

Na jetz is ja auch,

seit gestern, seit der Rückkehr Ihres Mannes, is ja die

durchschlafen kann.

PA [v]

/24/ TH [v]

Welt auch — zumindest für Sie —

PA [v]

ein bisschen in Ordnung. ‿Und dann

/23/

/25/

Wieder in Ordnung.

Jā˙

/27/ TH [v]

können Sie auch schlafen, ne?

/28/

/29/

((1,1s)) Hm̌˙ ((1,5s)) Ja˙ Des heißt, dasss sonst /26/

• Jā.

PA [v]

/30/ TH [v]

TH [v]

/31/

eben net so in Ordnung ist. ‿Zumindest, [ähm • dass Sie die Angst ham]. Sie [etwas langsamer

sagten, dass Sie drauf gewartet hätten, dass Ihr Mann Ihnen Nachricht gäbe. /32/

/33/

TH [v]

((2,4s)) Nun, ((2,2s)) mir fällt da ein dazu, dass Sie… ((1,1s)) Sie sorgen sich sehr um

TH [v]

Ihren Mann, nicht? Sie ham ihm die Sachen eingepackt und ham ihm das

/34/ /35/

Ja˙

PA [v]

/36/ TH [v]

mitgegeben, ham geschaut, dass er gut daa unterwegs ist und so weiter. ((Zieht Luft

TH [v]

ein, hustet, 2,3s ))˙ Offensichtlich sorgt er sich nicht umgekehrt • genauso um Sie.

/37/

/39/

Und diese Rollenverteilung — da war ma s letzte Mal auch gewésen

TH [v] /38/ PA [v]

[(Nein des net)]. [sehr leise

TH [v]

— ((1,7s)) diese Rollenverteilung zwischen Ihnen beiden ist ziemlich eindeutig, nich?

A1 Transkripte | 325

/40/ TH [v]

‿Sie suchen ihm s Gewand raus, Sie legen ihm die Krawatten zurecht, Sie legen /41/

Ja˙

PA [v]

/42/ TH [v]

ihm die Hemden raus und so weiter. • Äh ((räuspern)) obwohl er des noch

TH [v]

selbstverständlich auch selber könnte. ‿Und er is irgendwo in Ihrer Obhut etwas

/44/

PA [v]

/43/

/45/

[(Genau).

(Richtig)].

[sehr leise

TH [v]

selb/ un selbständiger und hilfloser als er eigentlich sein müsste, so dass Sie sich

TH [v]

manchmal schon fragen: • "Ja, äh baut der jetzt ab, wird der schon se nil

-/46/

oder so /47/

[(H m̌)˙ (=)]˙

PA [v]

[sehr leise /49/ TH [v]

/50/

/52/

was?". ‿N e? ‿Da drü ber ham S mir des letzte Mal erzählt. • • Ähhm, ja nun, mit

PA [v]

/48/

/51/

[Ja˙

Ja]˙

[kurz

TH [v]

diesem äh Wegfahren und • keine Nachricht geben, • • is eigentlich auchch so. /53/

TH [v]

• • Sie sorgen sich, Sie machen alles für ihn, und Sie erwárten irgendwie , dass es

TH [v]

dass es zurück kommt, und es kòmmt net.

/55/

((2,3s)) Also des is die ei /54/

PA [v]

[(Nein)]˙ [sehr leise

TH [v]

ne Seite davon, dass Sie da • • • äh • • • vielleicht enttäuscht drüber sind, dasss

326 | Anhang

nicht so viel • • Rücksichtnahme, • Mitdenken, äh dass er sich vielleicht denkt: "Ja

TH [v]

gut, wenn ich nix von mir hören lass, dann macht sie sich Sorgen" und so weiter…

TH [v]

/56/

Scheint ihn/

TH [v] PA [v]

scheint ihn weniger zu bedrücken, ne? /57/

/58/

An des denkt er gar net.

Jaâ.

/59/

/60/

TH [v]

((2s)) Nun, ((1,2s)) weiß net, wie s Ihr Mann sieht. Vielleicht ham Sie da ne Phantasie

TH [v]

drüber. Wie sieht des bei ihm aus, wie denkt er über Sie, wenn er in Lahnstein ist oder

TH [v]

sonstwo?

/61/

B3 Zweite Stunde einer Kurzzeitgesprächspsychotherapie. Bereits vor diesem Ausschnitt geht es um die äußerst negative Selbsteinschätzung des Patienten. Nach dem Ausschnitt werden die Alkoholprobleme des Patienten thematisiert. TH: Gesprächspsychotherapeut PA: Patient; spricht leise und wenig, mit bairischem Akzent; Alkoholiker, Mitte 30, geschieden. Die Therapie findet als Nachsorge nach Suizidversuch statt. /26/ TH [v]

((7,3s)) Aber ((räuspert sich)) • • sind Sie denn nun wirklich • • dieses • • • hilflose • •

TH [v]

Würm chen, als das Sie sich vorkommen, das eigentlich nix kann und • • • nix wert is /27/

TH [v]

und • • • hilflos da herumstrampelt in einem Sog? ((1,6s)) Sind Sie só ((1,6s)) klein? /28/

PA [v]

/29/

/30/

((2,3s)) [Ja. ((11,3s)) Ja ich glaub schon]. ((26,1s)) Ja drum is das só, ((1,5s)) wenn ich in [leise

PA [v]

der Arbeit was geleistet habe ((2s)) in dem Moment ((5,9s)) is das • äh

A1 Transkripte | 327

TH [v]

/31/

/32/

Hm̄˙

Hm̀hḿ˙ ((2,7s)) Hm̀hḿ˙

/33/ /34/

PA [v]

Selbstwertgefühl

• nich mehr so negativ.

((3s)) Da/ da

PA [v]

steigt s dann. • • Da is dann/ da is dann irgendwas da. ‿Dann hast was gemacht.

/35/

/37/

/36/

/38/

TH [v]

• • Jaā˙ • • • In übertragenem Sinne könnte man doch sagen: ((1,9s)) Sie brauchen

TH [v]

((3s)) die Anderen dazu, um • • • sich • ei nigermaßen erträglich zu finden̄. • • • Und

/39/ /40/

/41/

TH [v]

Sie… Jetzt noch e… Übertra/ mit dem übertragen mein ichs/ • mein ich jetzt noch:

TH [v]

((1,6s)) Ähh ((1,4s)) Sie brauchen ((1,2s)) Nahrung • • von außen.

/43/

Ne? /42/

((2,5s)) Ja˙

PA [v] /44/ TH [v]

• Wenn Ihnen niemand • das gibt, diese Nahrung für Ihr Selbstwertgefühl, wenn Ihnen

TH [v]

das niemand gibt, ((1,1s)) wenn Ihnen im Gegenteil äh • • • vermittelt wird, ((1,7s))

TH [v]

[Enttäuschung, Ablehnung, • • Verachtung, • • und so weiter] , • • • dann sind Sie wirk -

-

[langsam /45/ TH [v]

/46/

lich so klein mit Hut. ((1s)) Eigentlich nichts mehr, null, ne? ‿Sie sagen ja,

Ihre

/47/

Hm̌˙

PA [v]

TH [v]

eigentlich mensch liche Existenz is/ is/ is damit ja den Bach runter • • und/ und Sie -

328 | Anhang

/48/ TH [v]

sind wirklich n Klumpen Fleisch. Und was is an nem Klumpen Fleisch dran, ((1,2s)) das/

TH [v]

das s zu erhalten gälte? ‿Der geht selber • dahin. Da haben Sie völlig Recht.

TH [v]

((Einatmen, Räuspern)) Nur das is offensichtlich • • • nicht immer so und is abhängig

TH [v]

davon, ob Sie eben diese Zufuhr bekommen oder nicht.

/49/

/50/

/51/

/53/

Hm̀hḿ˙ /52/

((3,7s)) Ja sicher.

PA [v] /54/

/55/

TH [v]

((2,3s)) Hm̀hḿ˙ ((5,2s)) Und wenn s nicht kommt, • • von den anderen, ((1,4s)) dann hilft

TH [v]

der Alkohol aus. Der betäubt s.

/56/

/58/

PA [v]

/59/

((3,2s)) Hm̀hḿ˙ ((1,1s)) Hm̄˙ /57/

/60/

Genau.

((12,7s)) /61/

Hm̌˙

TH [v] PA [v]

((Einatmen)) Ich hab eine komische • • • Wandlung • • in mir • • verspürt. /62/

PA [v]

((3,3s)) Es is jetzt nich mehr so:́, ((4,6s)) dass ich von der Arbeit nach Hause und dann /63/

Hm̀hḿ˙

TH [v]

/64/ PA [v]

gleich ins Wirtshaus renn̄.

((2,6s)) Ich bleib jetzt komischer Weise ((1,5s)) die

/65/

PA [v]

/67/

Hm̀hḿ˙

TH [v]

ganze Woche zu Haus,

• Hm̀hḿ˙ /66/

/68/

aber dafür äh trink ich dann daheim.

((5,5s))

B4 Der Auszug stammt aus der zwölften und letzten Sitzung der bereits in B3 präsentierten Therapie. Der Patient hat sich zu einer Alkoholentzugskur entschlossen und bespricht mit TH die notwendigen Schritte. Dabei klagt er sehr über bürokratische Hindernisse. Die Stunde be-

A1 Transkripte | 329

kommt auf diese Weise den Charakter einer verwaltungstechnischen Beratung durch den Therapeuten, therapeutisch gearbeitet wird vor dem hier präsentierten Ausschnitt kaum. TH: Gesprächspsychotherapeut. PA: Patient, spricht mit bairischem Akzent; Alkoholiker, Mitte 30, geschieden. Die Therapie findet als Nachsorge nach Suizidversuch statt. /1/

/2/

/3/

TH [v]

Na gut. Also es liegt an Ihnen. Tun Sie jetzt des heut abend unterschreiben lassen und

TH [v]

stempeln lassen und bringen Sie s her,

• geben Sie s morgen in der Früh gleich /4/

Hm̀hḿ˙

PA [v]

/5/ TH [v]

auf der Tox ab und fragen S nach, ob n Platz da is̄. ‿Und äh • • nachdem Sie dann

TH [v]

die Voraussetzungen erfüllt haben, werd ich schauen, dass ich Ihnen da eine/ • • •

TH [v]

dass ich da da zu helfe, dass Sie möglichst schnell dran kommen, • in dieser Woche

-

/7/

TH [v]

noch.

PA [v]

/9/

Gell?

Hm̌˙

/6/

/8/

Des is prima ja.

Weil ich war gestern ziemlich fertig. Äh des… ((1,7s)) Und

/10/

/11/

/12/ PA [v]

ich hab auch nicht gewußt ((1,2s)) wie des jetzt weiter läuft, weil ich • • äh… ((1s)) /13/

PA [v]

/14/

((1,6s)) Ham… "Hab ich einmal gekündigt"?

TH [v]

Zwischendurch hab ich mal gekündiḡt. /16/

Jā˙

TH [v] /15/

/17/

PA [v]

• • Zwischendurch hab ich gekündigt.

• Bei der Firma Siemens. ((1,2s)) Weil äh • •

/18/

PA [v]

• des net äh revelant wäre ((1,9s)) oder • ich ((1,2s)) Angst vor den Vorwürfen gehabt

PA [v]

hätte, die mir da drüber gemacht werden, wenn ich da jetzt irgendwie eine

330 | Anhang

/19/

((1,7s)) Wo vor ham Sie da Bedenken

TH [v]

PA [v]

Behandlung, • die längere Zeit dauert, mache.

TH [v]

gehabt? /20/

((2,6s)) Ja dass des äh irgendwie ((3,1s)) Fehl reaktionen • beim ((1,2s))

PA [v]

/21/

PA [v]

/22/

• • Ja was denn zum Beispiel? • • • ((Zieht Nase hoch))˙

TH [v]

gewisse • äh Vorgesetzte… /23/

PA [v]

((3,2s)) Ja äh ((7,5s)) die äh • • • äh äh • ich mein, die Kur dauert dóch einige Zeit. /24/

TH [v]

• Sechs Monate. /25/ /26/

Ja. ((1,6s)) Und dass des für die irgendwie äh ((4s)) Anlass zu einem

PA [v] /27/

/29/

((2,6s)) Des könnt natürlich schon sein. Und

TH [v]

-

äh Sie möchten s, wenn

/28/

PA [v]

Ärgernis is.

Hm̀hḿ˙

TH [v]

ich Sie recht versteh, dadrauf net ankommen, lassen, dass Sie…

/31/

Ja dass Sie da

/30/

[Genaù].

PA [v]

[entschieden /32/ TH [v]

blöd angeredet werden. ‿Ja nun, was was was befürchten Sie denn, dass man sagt:

TH [v]

"Der Säufer da!" oder oder irgend so was da? /33/

Ja in der Richtung sowieso • und äh in

PA [v]

/34/ PA [v]

/35/

der anderen Richtung ja… ((lacht kurz))˙ ((8,5s)) Also die Niederlage vor den • • äh

A1 Transkripte | 331

/36/

Hm̄˙

TH [v]

/37/ PA [v]

Arbeitskollegen und vor de m ganzen̄. • • • Es is ja doch ein größerer Kreis, • mit dem /38/

Die Schmach , die die die damit auf Sie kommen würde, die

TH [v]

PA [v]

man da verkehrt.

/39/

/40/

Ja genau.

[Hm̀hḿ]˙ [leise /42/

TH [v]

möchten Sie/ • der möchten Sie aus dem Weg gehen.

/43/

Hm̀hḿ˙ ((1,1s)) [Jetzt ham /41/

Richtig.

PA [v]

[schwebende /45/ TH [v]

S gekündigt].

/46/

((1,8s)) Vielleicht hätt Ihnen Siemens hin terher gekündigt. • • •

-

/44/

Ja.

PA [v] Intonation

TH [v]

Mein, solang Sie im Krankenhaus sind, kann man Ihnen ja nicht kündigen, aber

TH [v]

vielleicht hätten die Ihnen hinterher gekündigt. Ist es besser gekündigt zu werden oder

TH [v]

ge/ oder selber zu kündigen?

/47/

/48/

TH [v]

/51/

/53/

Hm̀hḿ˙

((5,7s)) Ja. • Nur also durch die

/50/ PA [v]

/49/

((Zieht Luft ein)) Ja die Frage is jetz… ((Lacht kurz))˙

PA [v]

/54/

/52/

• Des is eine reine Geld frage.

Sonst nix.

/55/ TH [v]

PA [v]

/57/

Kündigung, • • • wollten Sie oder wol len S… ‿Sie ham ja gekündigt, ne?

-

• • [Äh • /56/

Hm̌. [langsam,

332 | Anhang

/59/ TH [v]

damit wollen Sie diese Schmach umgehen, • die Sie erwarten]?

Und Se/ Sie /58/

Genau.

PA [v] schwebende Intonation

TH [v]

sind da ziemlich sich er — • äh s sonst hätten Sie ja den schwerwiegenden Schritt ja

TH [v]

gar net unternommen — • • zu kündigen, • Sie sind sich er, dass Sie/ dass sowas auf

/61/ TH [v]

Sie zukommt, nich?

• • Sie können sich nicht vorstellen, dass die anders

-

/60/

Hm̌.

PA [v] /62/ TH [v]

/63/

reagieren. • • Oder Sie lassen es dadrauf net ankommen. Reagieren die mit Ver ständ

/65/ TH [v]

nis • oder mit Ablehnung.

PA [v]

• Hm̄˙ /64/

/66/

((3s)) Genau.

((7s)) Also ich kann mir des net/ • • •

/67/ PA [v]

irgendwie net vorstellen. ‿Ich hab mir gedacht äh, ((3,1s)) wenn ich des • Ganze durch

TH [v] PA [v]

/68/

/69/

[Hm̌]˙

Hm̀hḿ˙

• • hab,

• • • ganz neu • • und • • auf ganz andere Weise anzufangen. [kurz /71/

• • Hm̀hḿ˙

TH [v] PA [v]

TH [v] PA [v]

/70/

/72/

((1s)) Vielleicht is des schon äh ((1,5s)) in mir drin.

• • Dass ich des vielleicht

/73/

/74/

(Hḿ)˙

• • • Was möchten Sie denn machen?

schon früher machen wollte und (hier)…

A1 Transkripte | 333

/75/ PA [v]

((3,2s)) Ja des is dann die andere Frage, die ((1,1s)) is net so einfach zu beantworten. /76/

TH [v]

((1,2s)) Aber ganz neu • und ganz anders, ja?

-

/77/

/78/

Hm̀hḿ˙ ((11,5s)) Auf alle Fälle des • • •

PA [v] /79/ /80/ PA [v]

vielleicht nimma. (Äh)˙ ((23s)) Da waren vielleicht ((1,4s)) viel zu viele Fragen und viel/ /81/

((23,5s)) Bei Siemens meinen Sie?

TH [v]

/82/ /83/ PA [v]

immer die selbe Antwort drauf. /84/

TH [v]

Hm̌. ((1s)) Genau.

/85/

((1,2s)) Hm̀hḿ˙ Möchten Sie irgendwo anfangen, wo Sie keiner kennt? /86/

((3,1s))

PA [v] /87/

/89/

((1,6s)) Ohne Handicap also?

TH [v]

Ohne diesen Schatten der /88/

PA [v]

Vielleicht.

TH [v]

Vergangenheit, hḿ?

• • Jā. /92/

Hm̀hḿ˙ /90/

/91/

/93/

PA [v]

((2,5s)) (Hm̄)˙ • Des wär vielleicht • richtiger.

PA [v]

kann mir zwar noch nicht vorstellen, wie des dann • • • gehen soll, aber ((3s)) es gibt /94/

((15,5s)) Ich

/95/

((1,3s)) Hm̀hḿ˙ ((4s)) Sie werden sich ne neue Arbeit suchen

TH [v] PA [v]

bestimmt Möglichkeiten.

TH [v]

müssen.

334 | Anhang B5 Sechste Stunde einer tiefenpsychologischen Kurzzeittherapie. In der Sitzung geht es um „Abhängigkeiten“ der Patientin – zum einen um wirtschaftliche und emotionale Abhängigkeit von den Eltern, zum anderen um psychische und physische Abhängigkeit von Tabletten. Die Patientin stellt fest, dass sich ihre Situation hinsichtlich beider Aspekte deutlich gebessert habe, sie eigentlich nicht mehr „abhängig“ sei. Es folgt eine lange Pause, an deren Ende der Therapeut eine weitere Form der Abhängigkeit thematisiert. TH: Tiefenpsychologisch arbeitender Psychotherapeut. PA: Patientin, Ende 20, geschieden. Die Therapie findet als Nachsorge nach Medikamentenabusus statt. /1/ TH [v]

((16, 3s)) Ich wollt noch mal eines aufgreifen, vomm letzten Mal auch [• • • des war so

[nn]

[Knarren eines /2/

TH [v]

mehr oder weniger im • • •] im Rausgehen. ((1,7s)) Äh ((1,6s)) da hatten wir so drüber

[nn]

Drehstuhls

TH [v]

gesprochen auch, hm̄ • • ((räuspert sich)) • • dasss ((1,7s)) Sie eigentlich so des

TH [v]

eigene Wohlbefinden so sehr abhängig vvon • mir machen oder von dem, dass Sie

TH [v]

hérkommen, und ähm sich doch auch n bisschen schwer tun, • des für sich sel ber

TH [v]

-

eigentlich so zu akzeptieren und zu sagen : "Okay des ((Zieht Luft ein)) is jetzt so mein

/3/ TH [v]

Gefühl". ‿Ich weiß nich, ob Sie da nochmal so drüber nachgedacht haben? /4/

Eigentlich

PA [v] /6/

/7/

/8/

• Hm̌˙ ((3,6s)) Weil ((1,5s)) ich hatt es Ihnen… ‿Ich weiß nich, ob ich s

TH [v] /5/ PA [v]

nich. ‿Nein nein.

TH [v]

Ihnen letzte Mal auch so dazu gesagt hab,((2s)) ähm ((4,5s)) des kann ja auch sehr hin

-

A1 Transkripte | 335

/9/ TH [v]

/11/

derlich sein, sone Einstellung, nich? • Für Sie .

-

Dass äh wenn Sie sagen: "Also des /10/

Já˙

PA [v]

TH [v]

liegt jetzt nǔr • • an • dem Therapeuten da, dass dass es mir gut geht und äh • wenn

TH [v]

ich da nich mehr hingeh, dann gehts mir wieder schlecht", oder so, kann ja auch gleich

TH [v]

damit zusammenhängen̄. ((4,2s)) Ähm ((2,1s)) dass das einfach noch mal so n Stück

TH [v]

((1,2s)) Wieder hol ung auch is, dieser • Ab hängigkeit, ne? • • Oder ne neue

/12/

/13/

TH [v]

-

-

Abhängigkeit, ne? /14/

((2,1s)) Naja, abhängig als solches bin ich ja jetzt wieder auch mal

PA [v]

/15/

• • Hm̌˙

TH [v]

/16/ PA [v]

von meiner Freundin.

• Denn die gibt mir jetzt sehr viel — • • • ich will nich

PA [v]

sagen Selbstbewusstsein — aber • • doch sehr viel ähm… ((1,3s)) Sie baut mich sehr

/17/

TH [v]

/19/

/20/

Hm̌˙

Nur könnten Sie s ja auch um

/18/ PA [v]

auf, indem sie überhaupt da is. • • Also

• hm̀…

TH [v]

drehen, die ganze Geschićhte, und sagen : ((1s)) "Äh • vielleicht • • geht das deswegen

TH [v]

jetzt so gut mit der, • • weil • • ich selber vielleicht noch n bisschen anders bin". /21/

PA [v] [nn]

/22/

((1,1s)) [Da hab ich eigentlich noch nich dran gedacht. ((1,2s)) Vielleicht ham Sie da [nachdenklich

336 | Anhang

/23/

((2,7s)) Weil weil Sie sich vielleicht dann leichter tun, einfach mit ((atmet ein))

TH [v] PA [v]

Recht].

[nn]

TH [v]

äh mit der Freundin auch umzugehen und • vielleicht auch sich leichter tunn

PA [v]

/24/

/25/

Ja˙

Ja des stimmt.

TH [v]

Spaß zu haben und und nich gleich wieder n schlechtes Gewissen haben zu müssen

TH [v]

Spaß zu haben̄. /26/

/27/

• • Ja des stimmt. • • • Also schlechtes Gewissen hatt ich in letzter

PA [v]

/28/

Hm̌˙

TH [v]

/29/ PA [v]

Zeit ((1,1s)) so gesehen eigentlich gar nicht.

-

Ü berhaupt nicht.

-

B6 Achte Stunde einer tiefenpsychologischen Kurzzeittherapie. In dem Gespräch geht es vor allem um einen neuen Bekannten der Patientin, zu dem sich eine Beziehung anzubahnen scheint. Direkt voran geht diesem Ausschnitt eine Deutung über die Beziehung der Patientin zu ihrem eigentlichen Freund. TH deutet, dass diese Beziehung im Grunde beendet ist. Er bringt dieses Ende in Verbindung mit dem Verhältnis der Patientin zu ihrem Vater und kommt in dem hier wiedergegebenen Ausschnitt auf Parallelen in den Beziehungen zu Freund und Vater zu sprechen. TH: Tiefenpsychologisch orientierter Psychotherapeut. PA: Patientin, Ende 20, geschieden. Die Therapie findet als Nachsorge nach Medikamentenabusus statt. /1/

/2/

TH [v]

((8,2s)) Hm̀hḿ˙ ((6,3s)) Ich mein, ham Sie auch schon so sich Gedanken gemacht wie

TH [v]

das mit Ihrem [Freundd] weitergeht, welche • • • Rückwirkungen das auf ihn/ auf die [langsam

A1 Transkripte | 337

TH [v]

Beziehung • hat oder ha ben wird? /3/

/4/

/5/

Ja hab ich. Des is es ja. ‿Ich weiß, (wie er des • merken

PA [v]

/6/ PA [v]

würde, dass er des) nicht mehr (als einmal bei mir) mitgemacht. Was heißt

PA [v]

mitgemacht, da hat mir einer • • schön einmal den Kopf verdreht. ‿[Des war meine

/7/ [leicht lachend /8/ PA [v]

/9/

große Liebe]. • In einer Zeit, wo er mich wirklichch • wahnsinn… ‿Des war kurz vor

/10/

Hm̌˙

TH [v] PA [v]

meinen • • Tabletten- • Attacke — sag ich immer, ich mag des Wort Selbstmord nicht

PA [v]

benutzen. ((Einatmen)) Uund • • • da hat mir eben einer sehr n Kopf verdreht.

/11/

/12/

/13/

PA [v]

Des war auch der, der mich jetzt gestern angerufen hat. Und an dem Mann hab ich

PA [v]

[waahn sinnig] gehangen und ich hab also mich schon… Da also/ muss sagen, für

/14/ [mit Emphase /15/

[Hm̌]˙

TH [v]

/16/ PA [v]

diesen Mann hätt ich mich sofort von meinem Freund getrennt.

((Einatmen)) • • [kurz

/17/ TH [v] PA [v]

Er is Uund • dann hab ich…

/19/

dieser verheiratete Mann (jetzt)? Hm̀hḿ˙ /18/

/20/

/21/

Ja.

Ja.

Und dann hab ich wie

338 | Anhang

/22/

Hm̀hḿ˙

TH [v] PA [v]

gesagt erfahren, dass er eben verheiratet iś

— des hab ich also auch ganz

/23/

• Hm̀hḿ˙

TH [v] PA [v]

raffiniert rausbekommen —

und dann brach für mich ehrlich gesagt die Welt /25/

Hm̀hḿ˙

TH [v] /24/ PA [v]

/26/

zusammen. Also ich war an dem Tag

wahn sinnig • fertiḡ. • • • Und dann hab ich /28/

Hm̀hḿ˙

TH [v] /27/ PA [v]

des meinem Freund erzählt. ‿Der sah mich dann heulen und hat ge fragt was los is. /30/ /31/

PA [v]

/33/

• Ja˙ Des haben Sie schon erzählt. [Hm̌]˙

TH [v] /29/

/32/

Und dann hab ich ihm des gesagt.

(Völlig)

miss [kurz

/34/ /35/

/36/

Hm̌˙ Aber • dá jetzt noch mal ((1,3s)) so n Eindruck von mir. Ähm ((2,6s))

TH [v] PA [v]

verstanden.

TH [v]

ich hab s Gefühl, es gehen zwei Dinge durcheinander bei Ihnen. ‿Und die mach/

TH [v]

stiften auch diese Ver wir rung. • • Zum ein en, ((1,4s)) glau be ich, dasss ähh Sie

TH [v]

wissen, dass das Verhältnis zu Ihrem Freund beendet is.

/37/

/38/

/40/

• • • Und /39/

PA [v]

• • • [Hḿ]˙ [überrascht

A1 Transkripte | 339

/42/ TH [v]

dass Sie s nur nich wahr haben wollen.

‿[Ja]. /41/

((1,4s)) Meinen Sie von meiner Seite?

PA [v]

[leise,

TH [v]

/44/

/45/

[Ja].

• • [Das meine ich]. Is n ((1,4s))

/46/

/43/

((2,1s)) Sie meinen, ich möchte nicht?

PA [v] kurz

TH [v]

[leise, kurz

[leise

[Gedanke von mir]. /47/

(Damit ham Sie mich) richtig • • geschockt irgendwie.

PA [v] [langsam

lautes /48/

Weil

TH [v] Stuhlknarren 0,7s

TH [v]

(erinner)

mich an das, was Sie s

lautes Stuhlknarren 0,8s lautes Stuhlknarren

letzte Mal erzählt haben, wo Sie da am Dienstag ((1,2s)) [wieder soo Gedanken] [langsam /49/

TH [v]

hatten, sich umzubringen, [nich mehr leben zu wollen̄]. ((Einatmen; 1,8s)) Ich hab mir [schnell

TH [v]

jetzt noch mal in dem Zusammenhang • hm̄ die Frage gestellt : wa rum eigentlich. /50/

TH [v]

‿Und ((zieht Luft ein, 1,1s)) meine Vermutung is die, [dass ähh • Sie irgendwo [langsam

TH [v]

merken], dass Sie sich innerlich immer weiter von Ihrem Freund entfernen — • • oder

TH [v]

entfernt ha ben, schon lange — ((1,8s)) und dasss Sie sich sehr be müh en, ((1,6s)) hm̄

340 | Anhang

TH [v]

• diesess • • Gefühl, diesen Eindruck irgendwo nich hochkommen zu lassen, weil Sie

TH [v]

Angst habeǹ, • • weil das immer Angst mac̀ht, • sich von jemandem zu trennen. /51/

/52/

TH [v]

((2,4s)) Das die ei ne Seite. • • Und die ándere Seite is dié : ((1,8s)) jetzt ham Sie

TH [v]

jemanden kennen gelernt, der Ihnen viel besser gefällt, wo Sie sich wohler fühlen

TH [v]

können und so. Gut. Sind zwei verschiedene Dinge. ((2,3s)) Und ich hab des Gefühl,

TH [v]

die Konfu sion macht des aus, • • dass Sie des immer so durcheinander • bringen und

TH [v]

so • • voneinander abhängig sehēn.

/53/ /54/

/55/

/56/

((1,6s)) Von der Seite hab ich s noch nicht

PA [v]

/57/ PA [v]

gesehen muss ich sagen. ((4,5s)) Aber ((1,4s)) ich weiß nich, ob ich mich von meinem

PA [v]

• Freund/ auseinander/ • ob ich weg will. ‿Des is es ja. ‿Ich… Aber Sie ham Recht,

PA [v]

vielleicht dass des wieder meine Art is, des un/ zu unterdrücken und die Angst vor

/58/

/59/

/60/

/61/

• • • Vielleicht noch nich mal so sehr die

TH [v] PA [v]

was Neu/ vor • • irgendwas Neuem hab.

TH [v]

Angst vor was Neu em. • • • [Sondern diese Angst, • • sich zu trenneǹ, allein zu sein,

/62/ [langsam /63/ TH [v]

/64/

allein da zu stehen, ((1,6s)) nich jemanden zu Hause zu haben̄] . ‿(Hm)? ‿Das

A1 Transkripte | 341

TH [v]

((hustet)) vermut ich (mal). /65/

/66/

((2,7s)) Das könnte manchmal hinkommen. Gerade jetzt

PA [v]

/67/

• • • [Hm̌]˙

TH [v]

/68/ PA [v]

auch (zu) der Beziehung zu meiner Freundin.

• • • An der ich also [sehr leise

PA [v]

wirklichh • wahn sinnig hänge, mit der ich auch wahn sinnig gerne zusammen bin, die

PA [v]

mir sehr viel gib̄t. ((Zieht Luft ein, 1,2s)) Und • • • des hab ich eigentlich (= mehr

/69/

TH [v]

/71/

/72/

[Hm̌]˙

• • Na, ich mein, alles was Sie so in den

/70/ PA [v]

hängt, so n Gefühl). Des stimmt. [sehr leise /73/

TH [v]

letzten Wochen erzählt haben, deutet ja eigentlich in diese Richtung. ‿Dass Sie

TH [v]

((Einatmen; 1,1s)) im Prinzip kein gutes Haar an Ihrem Freund lassen und äh das auch

TH [v]

ganzz • für jemanden Dritten verständlich argumentieren̄.

•• /74/

((1,2s)) Tu ich des?

PA [v]

/75/ /76/ TH [v]

/77/

[Hm̌]. • [Ja]. Äh alles was Sie so sagen, äh spricht eigentlich ((1s)) da füür, dass dass [leise [kurz

Stuhlknarren, 2,3s /79/

TH [v]

Sie • hm̄ ((4,2s)) dass Sie sich da nich [wohl fühlen. ‿Ich mein, wir] hatten ja s letzte /78/

PA [v]

Me… [etwas lauter

342 | Anhang

TH [v]

Mal ja drüber gesprochen so, dass • • so ein As pekt möglicherweise von der

TH [v]

Freundschaft zu Ihrem Freund • [dér is, dass ((1,1s)) ähh Sie ihnn • • herabsetzen [langsam

TH [v]

können, dass Sie ihn ma dig machen können, dass Sie Sie über i hn schim pfen können̄ /80/

Hm̌˙

PA [v]

TH [v]

• • und dass das so n Aspekt is äh wo Ihr Freund • • • vermutlich auch so einen n Teil

TH [v]

Ihres Vaters und Ihrer Gefühle für Ihren Vater • äh repräsentiert und er diese Gefühle

TH [v]

von Ihnen auch abkrieḡt]. ((Ein- und ausatmen; 3,1s)) Das is/ das is so… • • • Ich

TH [v]

mein, wenn man s unter diesem/ [hm̀ hm̀ hm̀]

/81/

/82/

diese bei den Gesichtspunkte mal

[leise, deliberierend

TH [v]

zusammen zieht, also Ihr Freund als ei genständige Person und Ihr Freund als so n

TH [v]

ge wis ser • Ersatz für Ihren Vater und • Ihrem Vater/ Ihr Verhältnis zu Ihrem Vater,

TH [v]

also wenn man diese drei • • Personen mal zusammen zieht, ((1,4s)) dann hab ich

TH [v]

schon den Eindruck, dass ess soo die ganze Zeit drum geht: ähm • "kann ich mich

TH [v]

nun lösen • • • oder nicht". • "Kann ich mich nun selbständig machen oder nicht".

/83/

A1 Transkripte | 343

/84/ TH [v]

‿Ich mein die Sache mit dem Berufs kram und so hängt ja auch irgendwie da /85/

Hm̄˙

PA [v]

TH [v]

zusammen, né, mit dieser Selbstständig/ ((zieht Luft ein)) sich selbstständigmachen̄ /86/

Sicher.

PA [v]

/87/ TH [v]

und/ ((1,5s)) vom Vater vor allen Dingen, ne? ‿Und äh ((1,9s)) daa scheint mir so • •

TH [v]

doch auch so der der Hund begraben̄. ‿Nämlich in so fern : ((3s)) Sie sind irgendwo

TH [v]

sehr ge bun den an Ihren Vater. ((1,8s)) Und äh so ne Frage, die ich mir dann gestellt

TH [v]

hab, nach em letzten Mal auch : • • • was was bin det Sie überhaupt so an Ihren

TH [v]

Vatér. ((1,3s)) Und ((4,1s)) so eine Frage, die ich da habe, in dem Zusammenhang ist

TH [v]

die, ob äh/ ((4,3s)) wie eigentlich so Ihr Bild is von Ihrem Vater̄. ((1,1s)) Ob das nich n

TH [v]

Bild is, • vonn jemandem, den Sie ((1,1s)) sehr ger ne mögen, • • auf der einen Seite,

TH [v]

((2,7s)) und wo • aber Ihre Mutter eigentlich Zeit Ihres Lebens nichts anderes getan

TH [v]

hat, • als Ihnen diese Liebe auszutreiben.

/88/

/89/

/90/

/91/

/92/

• Sie sprechen wie die • Frau Müller-Rot

PA [v] PA [k]

Name einer /93/

PA [v]

, Frau Doktor Müller-Rot, • • bei der ich mal war. Die hat s ganz gleiche gesagt, wie

PA [k]

Therapeutin, anonymisiert Stuhlknarren

344 | Anhang

/94/

/95/

PA [v]

Sie s jetzt formuliert ham, haar genau. Sie hat s nur anders formulier̄t. ‿Sie meinte,

PA [v]

meine Mutter hätte es immer gut verstanden, • mich von meinem Vater fern zu /96/

/98/ /99/

Hm̌˙

TH [v]

• Hḿ˙ • • • Und dass Sie ir gendwoó • • • ähm /97/

PA [v]

halten.

• Sehen Sie des auch so?

TH [v]

den Wunsch haben, da was wieder gut zu machen bei Ihrem Vater. /100/

((3,3s)) Muss ich

PA [v]

/101/

Und dass das die die diese ganz — • äh in meinen Augen — so

TH [v] PA [v]

mir mal durch n Kopf gehen lassen.

TH [v]

sehr enge, • • sehr zwiespältige, aber doch irgendwo sehr enge Bindung ausmacht. /102/

TH [v]

PA [v]

((3,s)) Und dass Sie im [Mo ment] dabei sind — nicht nur • heute, sondern in den /103/

/104/

(= =)˙

(==)˙ [laut

TH [v]

letzten ((Einatmen; 0,4s)) Wochen, soweit ich s mitgekriegt habe — ((Einatmen; 1s))

TH [v]

((1s)) sich da n bisschen zu distanzierèn • • • n bisschen ((1,7s)) mehhr • •

TH [v]

Selbständigkeit zu entwickeln̄. ((2,7s)) Und ich kann mir vorstellen, dass das Ihnen

TH [v]

Angst macht. ((3,2s)) Dass Sie des durcheinander bringt. ‿ [(Hm)]?

/105/

/106/

/107/ /108/

((4,1s)) [Tja, des

PA [v] [leise

[sehr leise,

A1 Transkripte | 345

/109/ PA [v]

wär vielleicht ne Möglichkeit, • • dass es so ist]. • • [Eine Möglichkeit, an die ich nachdenklich

[nachdenklich /110/

PA [v]

eigentlich selber noch nicht gedacht] [(hab.

/111/

Gar nich/ gar nich =)]. ((4,5s))

[sehr leise /112/ PA [v]

[Da hab ich • nicht dran gedacht]. ((1,2s)) Aber für mich war s eigentlich im mer schon [leise, nachdenklich

PA [v]

wichtig, wenn ich mich von irgendeiner Sa che, • • sei es, ne Sache oder ein Mensch

PA [v]

gewesen is, gelöst habe, • • dann brauchte ich… ‿Zum Beispiel wenn ich ein Kleid

PA [v]

weg geschmissen hab ((1,6s)), dann hab ich s nur weggeschmissen, wenn ich

PA [v]

wusste, • da hängt ein neues hier drinnen. ((1,2s)) Und wenn ich einen Mensch

/113/

/114/

/115/

((Lautes Husten))˙

TH [v] PA [v]

((1s)) nicht mehr • • • ertragen konnte oder aus anderen (=== ==),

• • dannn

PA [v]

— genau wie mein Mann — • • dann hab ich nur • • mich lösen können, wenn ich

PA [v]

nicht mehr dran gehangen hab, • • • weil jemand • Neuer da war. Und vielleicht is es

/116/

/117/

• • Nich weil sondern bis jemand Neuer da war.

TH [v]

/118/ PA [v]

jetzt wieder so.

/119/

Oder… • Ja ich hab /120/

TH [v]

Hm̌˙ /121/

PA [v]

mir das immer mit weil erklärt. Ich sag immer : • • • Du konntest dich nur lösen,

346 | Anhang

/122/

/123/

TH [v]

Nur lösen weil. ‿Jetzt, ja.

PA [v]

weil

/124/

/125/

/126/

So.

Jaja˙

Jaá˙

weil da jemand

noch äh da gewesen ist (mit).

/127/ PA [v]

Da ist mir noch etwas eingefallen, zu diesem • neuen Bekannten, den ich da hab. /128/

PA [v]

• • Des war eigentlich auch eigenartig.

A2 Transkriptionskonventionen | 347

A2 Transkriptionskonventionen Äußerungsendzeichen Zeichen . ? ! …

˙

Gekennzeichnete Phänomene Äußerungen mit deklarativem Modus Äußerungen mit interrogativem Modus Äußerungen mit exklamativem, adhortativem, optativem, Aufforderungsoder Heische Modus Abgebrochene Äußerungen Äußerungen ohne Modus

Zeichen für tonale Bewegungen Zeichen

Gekennzeichnete Phänomene

ˋ ˊ ˆ ˇ ˉ

Fallende Intonation Steigende Intonation Steigend-fallende Intonation Fallend-steigende Intonation Gleichbleibende Intonation

Pausenzeichen Zeichen • •• ••• ((5s))

Gekennzeichnete Phänomene Kurzes Stocken im Redefluss Geschätzte Pause bis zu einer halben Sekunde Geschätzte Pause bis zu einer dreiviertel Sekunde Gemessene Pause ab einer Sekunde

Zeichen für intrasegmentale Phänomene und sonstige Zeichen Zeichen : „ ‿ / (Ich mein) (= =) ((Hustet)) Für Sie.

Gekennzeichnete Phänomene Ankündigung Uneigentliches Sprechen Schneller Anschluss Äußerungsinterne Reparatur Schwer verständliche Passagen Unverstandene Silben Nicht-phonologische Phänomene Emphatische bzw. Kontrastbetonung der unterstrichenen Silbe

348 | Anhang

A3 Verzeichnis der Tabellen und Abbildungen Tabelle 1:

Zwecke und Mittel helfender Diskursformen | 104

Abbildung 1: Abbildung 2: Abbildung 3: Abbildung 4: Abbildung 5: Abbildung 6:

Einheiten sprachlichen Handelns | 96 Das handlungstheoretische Wissensmodell | 98 Eingeschränktes Handlungsfeld von psychisch erkrankten Personen | 109 Das ›VEE‹-Handlungsmuster als Flussdiagramm | 188 Das ›Deuten‹-Handlungsmuster als Flussdiagramm | 267 Erweitertes Handlungsfeld bei erfolgreicher Psychotherapie | 281

Index Abwehr 15, 29 abweichender Fall 120f., 258, 262 Antimentalismus 78, 82 Antwort auf eine nicht-gestellte Frage 63ff, 210f., 235f. Aufwerfen von Fragen 208ff, 235, 249 Bedürfnisse 91, 108 Begründen 150, 157, 223 Benennen 139ff, 163, 181, 216, 277, 279f. Beratung 70, 102f., 292 Deuten – allgemein 134, 144, 161, 191f., 274ff – als Rätsel 72f., 208ff, 235 – in der Gesprächstherapie 114, 133f., 144, 279f. – konversationsanalytisch 68 – psychoanalytisch 60f., 113, 115, 193 Diskursstrukturen 13ff, 62, 284ff "elaboration" einer Intervention 73, 77, 68, 132, 232f. Erläutern 217 Erzählen 28ff, 145, 187 Fokussierung – konversationsanalytisch 46 – psychoanalytisch 44f., 47 Formulierungen 36ff, 145 Fragen 42ff, 157ff Gegenübertragung 69 Handlungsdilemma 108, 133, 160, 281 Heilung 1, 280ff, 290 Hermeneutik 88, 278, 280 Höreräußerungen 225, 285 Hörerzentrierung 218, 222, 225, 231, 237, 264, 284ff Horizontverschmelzung 280f. Illokution 59, 97, 213f., 219ff, 230f., 255, 264 Illustrieren 148 Intonation 31, 54, 142, 203, 228 Klientenzentrierung 292 Kommunikative Tiefenstruktur 51, 84f., 260, 265 Kooperativität 62, 64 Krankheit 101, 123

Matrixkonstruktionen 146, 201, 213, 219, 238, 263, 287 Medizin 101, 103, 294 Metaphern 162 Modalisierungen 46, 56, 159ff, 221f., 228f. 287 Muster 187ff, 265ff "nicht-eingebettete-daß/dass-Sätze" 58f., 219, 255, 288 Parenthesen 264 partikulares sprachliches Handelns 220 Position 85, 187, 233f., 252, 265 Proposition 237ff, 264f. Prozedur – allgemein 85, 92 – deiktisch 87, 93, 142, 226 – expeditiv 93, 129, 139, 204 – expressiv 93 – operativ 94 – symbolisch 94, 139, 141, 181, 248 Psychiatrie 101, 103 reformulierende Handlungen 42, 148ff richiami 145 Schweigen 20, 284 Sprachliche Mittel – aber 138, 157, 225, 257 – daß/dass 213 – das heißt 143 – denn 157, 180 – deswegen 226 – eigentlich 202f. – insofern 249 – irgend- 180 – ja 223, 226 – na 139, 223 – naja 223 – nämlich 249 – nun 158 – nur 165, 182, 225 – oder 216 – so 202f., 218, 248, 287 – sonst 142 – tja 128 – und 166, 182, 255

350 | Index – vielleicht 229 – weil 205, 226, 229 – wenn 131, 214 Sprechhandlungsaugmente/ question tags 142, 164, 183, 215 taktisches Handeln 254 Themaorganisation 23f., 128, 143, 157, 285 Therapeutisierung 294 Turntaking 22, 285 Übertragung 16 Umformulieren 256 VEE – als Deuten 143ff, 167f., 181f., 185, 279f. – in der Gesprächstherapietheorie 52, 114f., 116, 144f. Verdrängung 205 Verstehen 163, 185, 230, 275ff, 290 Vorgestellte Rede 54, 130, 214, 226

Vorschlagen 160f. Vorschlagende Realisierung von Äußerungen 159ff, 184f., 221f., 230, 238, 273 Warnen 207 Widerstand 29, 75, 273 Wiederaufgreifen 146f., 150, 164f., 182f., 201 Wirkung von Psychotherapie 4, 17, 81, 118f., 284, 290 Wissensstrukturtypen – Bilder 131, 182, 274 – Einschätzungen 131, 258 – partikulares Erlebniswissen 132, 151, 232, 258 – Sentenzen 274 Zukommensrelation 228, 238, 287 Zusammenfassen 149 Zweck von Psychotherapie 1, 102, 283f.