Muslime in der Psychotherapie: Ein kultursensibler Ratgeber 9783666401725, 9783525401729, 9783647401720

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Muslime in der Psychotherapie: Ein kultursensibler Ratgeber
 9783666401725, 9783525401729, 9783647401720

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© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40172-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-40172-0

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Hamid Rezapour / Mike Zapp

Muslime in der Psychotherapie Ein kultursensibler Ratgeber

Mit 4 Abbildungen und 4 Tabellen

Vandenhoeck & Ruprecht © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40172-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-40172-0

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-525-40172-9 ISBN 978-3-647-40172-0 (E-Book)

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Inhalt

Vorwort von Annette Schröder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Vorwort der Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

10

1

14 14

Muslime in Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1 Die muslimische Sozialstruktur in Deutschland 1.2 Organisation muslimischer Lebenswelt in Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3 Religiosität unter Muslimen in Deutschland . . . 1.4 Migration und Gesundheit . . . . . . . . . . . . . . . . . .

16 18 20

2 Die sozio- und psychokulturelle Dimension des Islam . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Islam: Eine kurze Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Kollektivistische Persönlichkeit . . . . . . . . . . . . . . 2.3 Geschlechterverhältnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4 Sexualität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.5 Sozialisierung und Erziehung . . . . . . . . . . . . . . . . 2.6 Körper- und Gesundheitsverständnis . . . . . . . . .

24 24 30 37 41 43 48

3 Besonderheiten in der Psychopathologie muslimischer Patienten und Konfliktfelder in der psychotherapeutischen Arbeit mit Muslimen . . . . 3.1 Somatoforme Erkrankungen . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Angst- und Zwangsstörungen . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3 Depression . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

50 52 56 58

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Inhalt

3.4 Persönlichkeitsstörungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.5 Psychotische Störungsbilder . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.6 Beeinträchtigung von Sexualfunktion und Sexualerleben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.7 Zwischen Segregation und Integration: Generationenkonflikte in muslimischen Migrantenfamilien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 Allgemeine Bausteine einer kultursensiblen Psychotherapie mit muslimischen Patienten . . . . 4.1 Grundlagen kultursensibler Psychotherapie . . . . 4.2 Von Hotspots, Hottopics und Hotwords: Grundlagen interkultureller Kommunikation . . . 4.3 Die Einschätzung des Patienten . . . . . . . . . . . . . . 4.4 Der Koran als therapeutischer Ratgeber . . . . . . . 4.5 Mythologie, Symbolik und Metaphorik . . . . . . . .

60 61 62

64

68 68 70 76 79 85

5 Kultursensibilisierung spezifischer Therapieschulen und Therapieformate . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93 5.1 Verhaltenstherapie und kognitive Verhaltenstherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93 5.2 Psychoanalyse und Ethnopsychoanalyse . . . . . . . 96 5.3 Familientherapie als Joining . . . . . . . . . . . . . . . . . 100 5.4 Paartherapie und sexualitätsnahe Konfliktfelder 103 Danksagung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 Anhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110 Sonnenberger Leitlinien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110 Adressen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116

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Vorwort

Ein wesentlicher unspezifischer Wirkfaktor jeder Psychotherapie ist die Therapeut-Klient-Beziehung, die – unabhängig davon, um welche Therapierichtung es sich im Speziellen handelt – die Grundlage für psychotherapeutisches Arbeiten bildet. Im Beziehungsaufbau zu Beginn jeder Psychotherapie geht es wesentlich darum, dem Patienten das Gefühl zu vermitteln, ihm bei seinen Problemen helfen zu können und seine Erwartungen an ein positives Ergebnis seiner Behandlung aufzubauen und zu stärken. Für den Therapeuten selbst sind die ersten Stunden wichtig, um den Patienten mit seinen Problemen kennen und verstehen zu lernen und mit ihm zusammen ein tragfähiges Arbeitsbündnis für die folgende Behandlung zu etablieren. Dass mit diesen Schritten immer auch unsere abendländisch geprägte christlich-jüdische Wertetradition einfließt, machen sich die wenigsten Psychotherapeuten in ihrer tagtäglichen Arbeit bewusst. Dass ihre Patienten in »Parallelwelten« leben könnten, zu deren Regeln und Normen sie nur schwer oder gar nicht Zugang erhalten, wird ihnen oft erst bewusst, wenn »wegen Kommunikationsproblemen« eine Psychotherapie nicht zustande kommt oder vorzeitig abgebrochen wird. Eine dieser Parallelwelten, die trotz mehr oder weniger lauter politischer Debatten existiert, ist die Lebenswelt des © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40172-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-40172-0

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Vorwort von Annette Schröder

Islam, der – durchaus anderen Religionen vergleichbar – nicht nur Vorschriften zum Praktizieren des Glaubens formuliert, sondern für viele, auch für nicht sonderlich religiöse Muslime die ethisch-moralische Richtschnur für letztlich alle Bereiche des Lebens darstellt. Mit diesem Buch gibt es nun endlich eine Orientierung für diesen den meisten deutschen Psychotherapeuten weitgehend unbekannten Bereich »Islam«. Angesichts von mittlerweile etwa 3,5 Millionen in Deutschland lebenden Muslimen gibt es zwar einige wenige Ratgeber für Patienten selbst, ein Ratgeber für psychosoziale Beratungsstellen und Psychotherapeuten fehlt aber bisher. Herrn Rezapour und Herrn Zapp gilt daher Dank für dieses längst fällige Buch. In insgesamt fünf Kapiteln gelingt es ihnen, nicht zuletzt aufgrund langjähriger praktischer Erfahrung des Erstautors als niedergelassener Psychotherapeut, für den Islam bzw. seine besonderen Einflüsse auf Alltagsleben wie Psychopathologie zu sensibilisieren. Im ersten Kapitel werden die muslimischen Sozialstrukturen in Deutschland beleuchtet. Darüber hinaus wird aufgezeigt, welchen Einfluss Migration auf Gesundheit hat. Das zweite Kapitel ist der Einführung in die sozio- und psychokulturellen Dimensionen des Islam gewidmet. Zu wissen, welches Verständnis der Islam zum Verhältnis der Geschlechter, zu Sexualität, Sozialisierung und Erziehung sowie zu Körper und Gesundheit hat, ist für eine gelingende Psychotherapie und Beratung unverzichtbar. Im dritten Kapitel werden die Besonderheiten psychischer Störungsbilder bei muslimischen Patienten beschrieben und mögliche Konfliktfelder in der psychotherapeutischen Arbeit herausgestellt. Von besonderer praktischer Relevanz für das konkrete © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40172-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-40172-0

Vorwort von Annette Schröder

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psychotherapeutische Vorgehen sind sicher die Ausführungen im vierten Kapitel. Den Autoren gelingt es mittels Fallbeispielen aus der Praxis sehr anschaulich, wirksame Interventionen und Zugangswege zu muslimischen Patienten zu beschreiben. Das fünfte Kapitel verdeutlicht, welche spezifischen Kommunikationsschwierigkeiten bei Anwendung verschiedener Therapierichtungen (Verhaltenstherapie, Psychoanalyse, Familientherapie, Paartherapie) zu gegenwärtigen sind und mit welchen Modifikationen des Therapieablaufs sie vermieden oder doch zumindest reduziert werden können. Es ist diesem Buch zu wünschen, dass es sein Ziel erreicht: ein kultursensibler Ratgeber zu sein für alle, die mit muslimischen Patienten in der Psychotherapie zu tun haben. Profitieren könnten Therapeuten und damit auch Patienten. Prof. Dr. Annette Schröder Universität Koblenz-Landau

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Vorwort der Autoren

Auf die Frage seines Hausarztes, welche Beschwerden er denn habe, antwortet ein türkischer Patient: »Herr Doktor, meine Leber brennt.« Die Reaktion des Arztes ist zunächst Unverständnis. Seine Diagnose lautet schließlich: Alkoholmissbrauch. Seine Empfehlung: »Hören Sie auf zu trinken.« Als der Patient befremdet die Praxis verlässt und mit seiner Tochter, die ihrem Vater beim Übersetzen zur Seite steht, einige Tage später zurückkehrt, klärt sich die Situation auf und der Patient bekommt die Behandlung, die er braucht: eine psychotherapeutische nämlich. Die Tochter, die in beiden Kulturen zu Hause ist, hat das Missverständnis aufgelöst, indem sie den Arzt darüber aufklärte, dass eine brennende Leber im Türkischen Ausdruck tiefen seelischen Schmerzes ist. Haben es die Patienten schließlich in die psychotherapeutische Praxis geschafft, so sind damit aber noch lange nicht die Gefahren interkultureller Missverständnisse gebannt. Die Diagnose auf schwere Depression, die ein deutscher Psychotherapeut seiner türkischen Patientin attestiert, die während der ersten beiden Sitzungen schweigend in der Praxis verweilt, fiele vielleicht anders aus, wenn der Behandelnde wüsste, in welcher Ehrfurcht sich die Patientin zu ihrem Therapeuten begibt. Eine Ehrfurcht, die © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40172-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-40172-0

Vorwort der Autoren

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sich mit dem hohen gesellschaftlichen Ansehen erklären lässt, das Ärzte und Heiler seit jeher im muslimischen Kulturraum genießen. Solche Beispiele gibt es viele und sie werden auch in Zukunft in Deutschland, das sich zunehmend als Einwanderungsland versteht, nicht weniger werden. Im besonderen Maße trifft die oben geschilderte Anfälligkeit für interkulturelle Fehlkommunikation für die Psychotherapie zu, nicht zuletzt deshalb, weil hier eine intime Begegnung stattfindet zwischen zwei einander zunächst fremden Menschen, die in einem langsamen Prozess Vertrauen zueinander gewinnen müssen, um ihre Ziele zu erreichen. Die Wahrscheinlichkeit, dass der Aufbau einer vielversprechenden Vertrauensbasis scheitert, ist umso größer, je unterschiedlicher die kulturellen Hintergründe sind, aus denen Behandelnde und Behandelte kommen. Dies ist unsere Erfahrung und der eigentliche Beweggrund, einen Ratgeber zu schreiben, der die Gefahr eines fruchtlosen Aufeinandertreffens kulturell diverser Menschen in der Psychotherapie thematisiert und Lösungen anbietet, wie genau diesen Gefahren interkulturellen Nicht- oder Missverstehens entgegengewirkt werden kann. Wir stützen uns dabei sowohl auf bereits zurückliegende Studien aus den Bereichen Medizin, Gesundheit und Altenpflege sowie auf Ergebnisse einer diesem Ratgeber vorausgehenden Studie, die zum ersten Mal die konkreten Herausforderungen einer psychotherapeutischen Behandlung von Muslimen und die bis dato bestehenden Missstände statistisch fundiert offenlegt (Rezapour, 2008). In allen Studienergebnissen ergibt sich dabei ein ähnliches Bild, bestehend aus Kommunikationsschwierigkeiten, Verständnisschwierigkeiten (die weit über die verbale Sprache hinausgehen), mangelnder Kenntnis der © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40172-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-40172-0

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Vorwort der Autoren

muslimischen Kultur und Lebensweise auf Seiten der Psychotherapeuten und Vorurteilen gegen die Psychotherapie auf Seiten der Patienten, die sich später in den meisten Fällen als unbegründet erweisen. All dies führt dazu, dass Patienten muslimischer Herkunft nicht in dem Maße von der medizinischen und psychosozialen Versorgung in Deutschland profitieren wie deutsche Patienten. Und dies, obwohl mit etwas Aufklärungsarbeit (bei Behandelnden wie Behandelten gleichermaßen) dieses Missverhältnis behoben werden könnte. An diesem Punkt setzt dieser Ratgeber an, der sich an Psychotherapeuten und psychosozial Behandelnde aller Fachgruppen richtet, in der Hoffnung, einen Beitrag zu leisten, die Schieflage im psychosozialen Versorgungssystem Deutschlands zu überwinden und muslimischen Patienten den Zugang zu einem kultursensiblen und damit wirkungsvollen Heilungsangebot zu ermöglichen. Wir reagieren damit auch auf den von einer überwältigenden Mehrheit der in oben genannter Studie befragten Psychologen, Psychiater und Ärzte geäußerten Wunsch, einen kompakten und praxisnahen Handlungsleitfaden anzubieten. Dabei sei an dieser Stelle auch erwähnt, dass wir unter keinen Umständen beabsichtigen, psychische Probleme von muslimischen Patienten exotisieren zu wollen, noch soll hierdurch der mitunter schädliche Diskurs der kulturellen Differenz unnötig genährt werden. So soll der Mensch als Individuum mit seiner spezifischen soziokulturellen Biografie und seinem jeweiligen Grad an Religiosität im Laufe der Ausführungen nicht in einer anonymen Masse der muslimischen Glaubensgemeinschaft oder der Nationalität bzw. Ethnizität abtauchen. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40172-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-40172-0

Vorwort der Autoren

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Nichtsdestoweniger ist eine idealtypisierende Zuschreibung ethnografischer Attribute unerlässlich, um die soziound psychokulturellen Besonderheiten des Islam adäquat herauszustellen. In diesem Buch ist bei Personenangaben durchgängig die maskuline Form angegeben, um die Lesbarkeit zu erleichtern. Frauen sind an den entsprechenden Stellen mit eingeschlossen oder gesondert hervorgehoben. Die in den Fallbeispielen genannten Protagonisten sind selbstredend namentlich fiktiv. Dr. Hamid Rezapour und Dipl.-Soz.-Wiss. Mike Zapp

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1 Muslime in Deutschland

1.1 Die muslimische Sozialstruktur in Deutschland In Europa leben derzeit etwa 35 Millionen Muslime, davon in Deutschland etwa 3,2 Millionen. Der Islam in Deutschland ist in seiner heutigen Gestalt das Ergebnis eines nahezu vierzigjährigen Zuwanderungsprozesses aus den verschiedensten Regionen der islamischen Welt und spiegelt eine große ethnische, kulturelle und religiöse Vielfalt wider. In Deutschland leben etwa 3,2 Mio. Muslime mit sehr unterschiedlichem ethnischen, religiösen und kulturellen Hintergrund.

Hinsichtlich der nationalen Zugehörigkeit ergibt sich folgendes Bild: Unter den in Deutschland lebenden muslimischen Hauptgruppen befinden sich fast 1,8 Millionen Türken, fast 160.000 Bosnier, rund 70.000 Marokkaner, 60.000 Iraner und 55.000 Afghanen. Dazu kommen etwa eine Million Eingebürgerte, die zumeist ursprünglich aus der Türkei stammen. In Deutschland leben somit zu mehr als 90 % Muslime aus nichtarabischen Ländern. Tabelle 1 veranschaulicht die muslimischen Bevölkerungsgruppen hinsichtlich ihrer Herkunft. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40172-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-40172-0

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Die muslimische Sozialstruktur in Deutschland

Tabelle 1: Grundlagenzählung von Muslimen in Deutschland (Zahlen der Bundesregierung, 2005) Herkunftsländer

Türkei BosnienHerzegowina Iran Marokko Afghanistan Irak Libanon Pakistan Tunesien Syrien Algerien Indonesien Ägypten Sonstige* ungeklärt** Summe

Ausländer (Stand 31.12.2005) 1.764.041 156.872

61.792 71.639 55.111 75.927 40.060 30.034 22.859 28.154 13.948 11.054 10.258 3.204 2.375.045

Einbürge- Gesamt rungen (1998 bis 2005) 673.024 2.437.065 31.315 188.187

67.903 52.242 40.511 18.468 29.753 19.317 20.671 14.158 5.843 1.761 5.755

129.695 123.881 95.622 94.395 69.813 49.351 43.530 42.312 19.791 12.815 16.013 22.050 4 3.208 1.001.578 3.376.623

% von Gesamt

% Eingebürgerte

72,17 5,57

27,6 16,6

3,84 3,67 2,83 2,80 2,07 1,46 1,29 1,25 0,59 0,38 0,47

52,4 42,2 42,4 19,6 42,6 39,1 47,5 33,5 29,5 13,7 35,9

0,10 100

0,1 29,7

* Eritrea, Bangladesh, Sudan, Libyen, Jemen, Saudi-Arabien, Bahrain, Brunei, Daressalam, Katar, Kuwait, Oman,Vereinigte Arabische Emirate ** Palästinensergebiete; eine Trennung von Guam ist nicht möglich

Eine Unterscheidung nach Glaubensrichtungen im Islam ergibt, dass neben rund 2,5 Millionen Sunniten knapp 645.000 Schiiten in Deutschland leben, die sich wiederum in 420.00 Aleviten und 222.900 iranische Imamiten und türkische Schiiten unterteilen lassen.

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Muslime in Deutschland

Neben Sunniten und Schiiten leben in Deutschland auch Aleviten, Imamiten und türkische Schiiten.

Kinder und Jugendliche machen etwa 26 % (850.000) aus (Zentralinstitut Islam-Archiv-Deutschland Stiftung e.V., 2005).

1.2 Organisation muslimischer Lebenswelt in Deutschland Es wird gemeinhin geschätzt, dass von den 3,2 Millionen Muslimen in Deutschland etwa 1,5 Millionen offiziell durch sechs islamische Spitzenverbände abgedeckt werden, denen jedoch bislang die Anerkennung als Religionsgemeinschaft oder rechtliche Körperschaft verwehrt geblieben ist. Formal als Vereinsmitglieder registriert sind nach Angaben des Zentralinstituts Islam-ArchivDeutschland knapp 400.000 von ihnen. Von 3,2 Mio. in Deutschland lebenden Muslimen sind 1,5 Mio. offiziell in sechs islamischen Spitzenverbänden organisiert.

Die Gesamtzahl muslimischer Verbände in Deutschland beläuft sich dabei auf 69, wobei sich unter diesen oftmals eine ethnische Abgrenzung finden lässt. Der Organisationsgrad von Muslimen in religiösen Vereinen in Deutschland beträgt nach Schätzungen der Bundesausländerbeauftragten 12 bis 15 %.

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Organisation muslimischer Lebenswelt in Deutschland

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Die wesentlichen islamischen Organisationen in Deutschland sind: − Türkisch-Islamische Union der Anstalt für Religion (DITIB), − Islamrat für die Bundesrepublik Deutschland, − Zentralrat der Muslime in Deutschland (ZMD), − Verband der Islamischen Kulturzentren (VIKZ), − Alevitische Gemeinde in Deutschland. Bislang gibt es in Deutschland keine einheitliche Repräsentation als verbindlichen Ansprechpartner für staatliche Stellen (Bund, Länder und Kommunen). Ende März 2001 haben sich indes vier der fünf größten Verbände zum Koordinierungsrat der Muslime in Deutschland (KRM) zusammengeschlossen. Er vertritt den Anspruch, der zentrale Ansprechpartner für Staat und Zivilgesellschaft zu sein. Schätzungen zufolge bestehen in Deutschland rund 2.500 Moscheevereine, in denen etwa 2.250 Imame tätig sind. Die meisten von ihnen wurden in der Türkei oder in arabischen Ländern ausgebildet und sind befristet nach Deutschland gekommen (Unabhängige Kommission Zuwanderung, 2001). Ein nebengeordneter Aspekt der Organisationsformen der islamischen Bevölkerung Deutschlands besteht in erzieherischer Hinsicht. Der Bericht der Unabhängigen Kommission Zuwanderung aus dem Jahre 2001 hält hierzu fest, dass etwa 10 % der islamischen Eltern ihre Kinder (entspricht 185.000 Kindern) auf Koranschulen schicken. Als nicht minder aufschlussreich für das Verständnis der muslimischen Lebenswelt in Deutschland erweist sich der Blick auf die Etablierung islamischer Kultur und Lebensweise in den Massenmedien: © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40172-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-40172-0

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Muslime in Deutschland

92,5 % der türkisch-stämmigen Bevölkerung in Deutschland nutzen türkisches Fernsehen. Türkische Tageszeitungen erreichen eine Auflage von 250.000.

Fast 86 % der türkischen Haushalte haben die Möglichkeit, Sendungen in der Muttersprache über Satellit oder Kabel zu empfangen. Eine ganze Reihe von Studien, die mittlerweile zum Thema Fernsehnutzverhalten bei türkischstämmigen Migranten erschienen sind, zeigt, dass 92,5  % der türkischstämmigen Bevölkerung türkische Fernsehprogramme nutzt (Ates, Becker u. Calagan, 2003). Auch in der Türkei produzierte türkische Tageszeitungen finden hierzulande zahlreiche Leser und erreichen in einigen Fällen eine Auflage von bis zu 250.000 Exemplaren, die häufig durch Berichte über das Aufnahmeland ergänzt werden. An dieser Stelle zeigt sich, wie stark bereits kulturelle Strukturen muslimischer Prägung in Deutschland verankert sind und wie engmaschig das Netz von Organisationen und Informationsträgern ist, das bei der Integration muslimischer Einwanderer ins Gesundheitssystem behilflich sein könnte.

1.3 Religiosität unter Muslimen in Deutschland Als Muslim in den Statistiken geführt zu sein, muss nicht mit der Ausübung islamischer Glaubenspraxis einhergehen. Die Stiftung Zentrum für Türkeistudien hat hierzu in den Jahren 2000 und 2005 den subjektiven Grad der Religiosität unter Muslimen erfragt (Sen u. Sauer, 2006). © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40172-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-40172-0

Religiosität unter Muslimen in Deutschland

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Ergebnis der Untersuchung ist, dass sich über 72 % der Befragten als »eher« bzw. als »sehr religiös« bezeichnen (vgl. Abb. 1).

Abbildung 1: Religiosität unter Muslimen

Will man »Religiosität« mit regelgeleiteter Praxis füllen, so bieten sich beispielsweise die Häufigkeit von Moscheebesuchen, das Fasten oder der Zakat, die Armensteuer, an. Hier zeigt sich, dass im Vergleich zum Jahr 2000 alle religiösen Praktiken (zum Teil erheblich) größeren Zuspruch erfahren. Tabelle 2 zeigt, wie viele Befragte welche Praxis »immer« – also in der vorgeschriebenen Häufigkeit – ausüben.

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Muslime in Deutschland

Tabelle 2: Religiöse Praxis unter Muslimen in Deutschland 2000 und 2005 in % (Sen u. Sauer, 2006) Antworten für die Antwortkategorie »immer« 2005 2000 Fasten 74,3 62,2 Tägliches Gebet 34,9 23,5 Freitagsgebet 33,3 21 Feiertagsgebet 50,9 31 Zakat 77,4 59,3

Es lässt sich also durchaus sagen, dass Religiosität und religiöse Praxis ungebrochene und sogar zunehmend starke Anhängerschaft innerhalb der muslimischen Gemeinde Deutschlands erfahren. Dieser Umstand verleiht nicht zuletzt auch dem hier präsentierten Vorhaben, eine kulturspezifische psychosoziale Versorgung anzubieten, weitere Relevanz.

1.4 Migration und Gesundheit Migration, also das freiwillige oder unfreiwillige Verlassen der Heimat, stellt ein besonderes Stressmoment dar, das psychosoziale Krisen auslösen kann. Inzwischen ist die Literatur zum Themenkomplex »Migration und Gesundheit« stark angewachsen und hat die letzten Zweifel an der Vermutung ausgeräumt, dass ein Orts-, Kultur- und Gesellschaftswechsel nicht ohne Folgen für physische und psychische Gesundheit bleibt. Migration löst nicht selten Stress aus und ist mit psychosomatischen Begleiterscheinungen Verbunden.

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Migration und Gesundheit

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Zu den migrationsspezifischen Stressoren gehören im Einzelnen: − Trennungs- und Verlusterfahrungen (Entwurzelung), − Heimweh, − die Fragmentierung von Familienverbänden, − Vereinsamung und Isolation, − die Neudefinition von sozialen Rollen und sozialem Status sowie Identitätsfindungsprobleme, − Anpassungsprobleme, − juristische, ökonomische, kulturelle Verunsicherung. Es versteht sich von selbst, dass diese Probleme in der Psychotherapie in dem Maße thematisiert werden müssen, in dem die Vermutung naheliegt, dass sie Auslöser der psychischen Beschwerden sind. Zum Teil gehen diese Negativerfahrungen auf die zweite Generation über, die vielleicht selbst nicht mehr den Ortswechsel erlebt hat, die aber ungeachtet dessen in einem Zustand kultureller Ambivalenz sozialisiert wird. Weiterhin sind zahlreiche Faktoren bei der Migration zu unterscheiden, die die Negativwirkung unterschiedlich beeinflussen: − Einreisealter der Migranten, − Einreisemotiv (Verfolgung, Folter, freiwillige Einreise), − Aufenthaltsstatus, − Sprachkenntnisse, − Bildungs- und Berufsstatus, − geschlechtsspezifische Aspekte, − Rassismus. Auch ist zu beachten, in welcher Migrationsphase sich der Patient befindet. Wen-Shing Tseng (2001) zufolge läuft Migration in vier Phasen ab, wobei jede Phase mit besonderen psychischen Merkmalen einhergeht: © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40172-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-40172-0

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Muslime in Deutschland

1.

Prämigration: Idealisierte Vorstellungen des Ziellandes Unrealistische Sorgen und Ängste Generelle Unsicherheit

2.

Initiale Phase: (bis zu einem halben Jahr nach Einreise) Euphorie Ablehnung Frustration

3.

Mittlere Migrationsphase: (3 bis 5 Jahre nach Einreise) Wille zur Anpassung Psychologische Belastung durch Anforderungen des Gastlandes

4.

Letzte Migrationsphase: (bis zu 20 Jahren) Integration und Akkulturation Oder bei Nichtgelingen: Chronifizierung von somatischen und/oder psychischen Beschwerden

Ungeachtet der individuell unterschiedlichen Situation von Migranten ist es mittlerweile zu einem Allgemeinplatz in der Ätiologieforschung geworden, dass migrationsspezifische Umstände im Allgemeinen zu einer verstärkten Anfälligkeit für psychosoziale Erkrankungen führen. In Anlehnung an Tsengs Vier-Phasen-Schema gilt eine solche Anfälligkeit besonders in der mittleren Migrationsphase. Das deutsche Gesundheitssystem hat gerade in den letzten 15 Jahren aufgrund dieser Einsicht spürbare Anstrengungen unternommen, sich interkulturell und migrationsspezifisch zu öffnen. Nichtsdestoweniger belegen auch neuere Studien, dass sowohl im medizinischen Bereich als © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40172-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-40172-0

Migration und Gesundheit

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auch (und gerade) im oft nachgelagerten psychosozialen Versorgungsbereich eine systematische Fehl- bzw. Unterversorgung an der Tagesordnung ist. So schreiben Branik und Mulhaxha (2000): »Die Hilflosigkeit unseres medizinischen Systems gegenüber ›somatisierenden‹ ausländischen Patienten dokumentiert sich u. a. in der manchmal abenteuerlichen Vormedikation mit einem Cocktail aus Psychopharmaka (ggf. nebst hochdosierter Schmerzmittel), der kaum ein psychiatrisches Zielsyndrom auslässt und jeden seriösen Psychiater schaudern lässt.« Allzu oft treten diese Behandlungsdefizite als »Einverständnis im Missverständnis« auf, so dass sich die Problemschwere im Zeitverlauf potenziert und der Symptomatik, die sich in der stationären Psychotherapie schließlich offenbart, letztlich nur noch mit hoch frequentierter psychosomatischer Therapie begegnet werden kann. Der überdurchschnittlich hohe Schmerzmittelmissbrauch, der seit den 1980er Jahren insbesondere bei türkischen Patienten auffällig ist (Brucks, v. Salisch u. Wahl, 1987; Lindert et al., 2008), lässt sich aus genau diesem Sachverhalt heraus erklären. Zu diesem Umstand kommt bei Asylbewerbern erschwerend hinzu, dass sich ihr Anspruch auf medizinische Versorgung lediglich auf akute Erkrankungen und Schmerzzustände beschränkt. Was die Diagnostik und Behandlung bei Ausländern überdies erschwert, sind kulturelle Barrieren, die weit über das Sprachproblem hinausgehen. Im folgenden Kapitel werden die soziokulturellen und psychokulturellen Faktoren vorgestellt, die der Islam mit sich bringt und die Diagnostik, Behandlung und Heilung von muslimischen Patienten zu einer besonderen Herausforderung machen. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40172-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-40172-0

2 Die sozio- und psychokulturelle Dimension des Islam

2.1 Islam: Eine kurze Einführung Der Islam (arab. »Ergebung im Glauben«) ist die jüngste der monotheistischen Weltreligionen (entstanden im 7. Jahrhundert nach Christus). Mit rund 1,2 Milliarden Anhängern ist sie nach dem Christentum die zweitgrößte Religion, hingegen die gegenwärtig am stärksten anwachsende. Der Islam ist die jüngste, aber auch die am stärksten wachsende monotheistische Weltreligion.

In 40 Staaten ist sie als Staatsreligion verankert. Die territoriale Ausdehnung erstreckt sich von Indonesien über Mittelasien, den Kaukasus und Nahen Osten bis zum Maghreb in Nordafrika. In Europa leben etwa 35 Millionen Muslime. Die regionale Verteilung im globalen Maßstab wird in Abbildung 2 ersichtlich. Mit einem Anteil von 90 % innerhalb der islamischen Glaubensgemeinde repräsentiert die Konfessionsgruppe der Sunniten ihrem Selbstverständnis nach die islamische Orthodoxie. Weitere Gruppen stellen die Schiiten (hauptsächlich in Iran; sie unterscheiden sich im Wesentlichen © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40172-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-40172-0

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durch eine von den Sunniten abweichende Interpretation der Nachfolge Mohammeds) und die Sufis (eine mystische Schule, die mit dem islamischen Mönchtum verbunden ist und vor allem in Süd- und Südostasien starken Einfluss besitzt). Abbildung 3 fokussiert den Nahen und Mittleren Osten sowie Zentralasien, die historisch am frühesten muslimisch geprägten Regionen.

Abbildung 2: Der Islam in der Welt (Pew Forum on Religion & Public Life, 2009)

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Abbildung 3: Der Islam im Nahen und Mittleren Osten sowie in Zentralasien (Alternatives Internationales, 2005).

Trotz innerreligiöser Aufspaltungen sind die muslimischen Glaubensgemeinden in Glaubensinhalt und -praxis geeint.

Ungeachtet der konfessionellen Trennlinien finden die islamischen Glaubensinhalte und -praktiken unverbrüchlichen Zuspruch; demnach sind die 114 Suren des Korans zentraler Bestandteil religiösen Lebens aller Muslime und damit von herausragender Bedeutung innerhalb der islamischen Lehre. Zum Kern gemeinsamer muslimischer Glaubenspraxis gehören ferner die so genannten »Fünf Säulen«, bestehend aus:

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Glaubensgrundsätze des Islam Fünfmaliges tägliches Auf die rituelle Reinigung erfolgt mit Gebet (Salat) Blick nach Mekka das tägliche, zeitlich festgelegte Gebet an einem reinen Ort nach Geschlechtern getrennt. Glaubensbekenntnis (Schahada)

Laut artikulierend bekennen sich die Gläubigen zu Allah und seinem Propheten Mohammed.

Fasten im Monat Ramadan (Siyam)

Ein je nach Mondkonstellation festgelegter Monat im Jahr, während dem von Sonnenauf- bis Sonnenuntergang jegliche Speisen, Getränke und sexuelle Handlungen untersagt sind und der mit einem dreitägigen Fest endet.

Pilgerfahrt nach Mekka (Hadsch)

Wenn gesundheitlich und finanziell möglich, sollte jeder Muslim einmal im Leben Mekka aufsuchen, um dort im Zustand kultischer Reinheit kanonischen Gebräuchen nachzugehen.

Almosensteuer (Zakat)

Pflichtabgabe für Arme und die Bedürfnisse der Gemeinde. Ursprünglich als fester Anteil des Vermögens.

Dazu kommen noch vier Speisevorschriften, die ebenfalls konfessionsübergreifend Gültigkeit besitzen. Ernährungsregeln – Verbot von Alkoholgenuss – Verbot des Genusses von Schweinefleisch und Fleisch von verendeten Tieren – völliges Ausbluten von Schlachtvieh (Schächten) – Speisenverzehr nur mit der reinen (rechten) Hand

Charakteristisch für den Koran ist seine sowohl geistliche als auch weltliche Reichweite hinsichtlich der Handlungsempfehlungen. So sieht sich die muslimische © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40172-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-40172-0

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Gemeinde in ihrer Gänze (arab. umma) einer ganzen Reihe von Gesetzeskatalogen gegenüber, die auf den im Koran niedergeschriebenen Schilderungen des Lebens Mohammeds, seinen Gleichnissen und Aussprüchen (arab. hadith) beruhen. Die Exegese dieser Koranpassagen obliegt institutionalisierten Rechtsschulen (davon vier im sunnitischen und eine gesondert im schiitischen Islam). Rechtsgelehrte dieser Schulen (Muftis) geben dazu so genannte Fatwas aus, das sind Rechtsanweisungen zu Fragen, bei denen die islamische Rechtsprechung nicht eindeutig ist. Diese Gesetzesformulierungen prägen letztlich auch die staatliche Rechtsprechung und durchziehen damit alle Lebensbereiche der Glaubensgemeinschaft und Lebensführung des Einzelnen. So sind individuumsbezogene (rituelle Waschungen; Speisevorschriften, Kleidung), familiäre (Gehorsamspflicht gegenüber den Eltern), zwischengeschlechtliche (eheliche Rechten und Pflichten) und allgemeine zwischenmenschliche (Erbangelegenheiten, Sanktionierung bei moralischem Vergehen) Lebensräume geleitet von islamischen Weisungen, Geboten und Verrechtlichungen (Scharia). Durch ständige Exegese von Mohammeds Gleichnissen wird der Geltungsanspruch des Koran immer wieder an sich ändernde gesellschaftliche Bedingungen angepasst.

Durch sozialen Wandel hervorgerufene veränderte gesellschaftliche Bedingungen (z. B. in Bildung, Wirtschaft oder Politik) müssen ihre rechtliche Einfassung auf der Basis der Hadithe erfahren, bevor sie als islamkonform einge© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40172-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-40172-0

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stuft werden können und damit politische, religiöse und gesellschaftliche Legitimation erhalten. Zwei Charakteristika des Islam sollen diesen kurzen Überblick abschließen, da sie für die weiteren Ausführungen relevant sind: 1. der durch die mehrdimensionale Tiefenwirkung des Islam hervorgerufene Umstand einer umfassenden religiösen Durchdringung nahezu aller öffentlicher wie persönlicher Lebensräume, 2. die Auffälligkeit, dass der Islam (und im Einzelnen die »Fünf Säulen«) in starkem Maße auf die Herstellung und den Erhalt der islamischen Glaubens- und Solidargemeinschaft ausgerichtet ist. Die für alle Gläubigen identische, strukturgebende Reglementierung des muslimischen Alltags mündet letztlich in der Herausbildung einer Wertegemeinschaft. Diese religiöse Prägekraft zeigt sich beispielsweise in Hofstedes (1980) Untersuchungen über die Verortung von sozioökonomisch und ethnisch so verschiedenen sowie geografisch so weit voneinander entfernten islamischen Ländern in Afrika, Klein-, Mittel- und Südostasien auf der Individualismus-Skala. Alle untersuchten Staaten und Regionen weisen gleichermaßen niedrige Ausprägungen individualistischer Kulturkonstitution auf. Wir werden diesen Aspekt im nächsten Kapitel noch näher beleuchten.

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2.2 Kollektivistische Persönlichkeit Wie schon an mehreren Stellen erwähnt, gelten muslimische Gläubige als weniger individualisiert, sei es durch das beduinische, Clan-orientierte Erbe, das in vielen muslimischen (vor allem arabischen) Völkern nachwirkt, oder durch die islamischen Glaubensinhalte, die eine kollektive Identität hervorbringen. Auch führt die nur wenig individuellen Spielraum lassende Sozialisierung nicht zu einer Auflehnung, sondern – im Gegenteil – im Allgemeinen unter gegebenen Umständen zu einer Stärkung der intrafamilialen Bindungskräfte. Dabei lassen sich zwar Verwestlichungstendenzen gerade bei Migranten zweiter und dritter Generation ablesen, gleichzeitig – wie oben in der Untersuchung zur Religiosität gesehen – gibt es aber auch eine scheinbar bewusste Rückkehr zu traditionellen Werten, was sich in einem zunächst fremden Einwanderungsland oder in einem unfreiwilligen Exil ereignen kann. Insofern erscheint es hilfreich, in diesem Ratgeber auch die Grundzüge einer kollektivistischen Persönlichkeit nachzuzeichnen, da sie nicht zuletzt Implikationen für die psychotherapeutische Arbeit in dem Maße mit sich bringt, in dem diese sich von der Arbeit mit individualisierten Patienten unterscheidet. Sammelt man die Gemeinsamkeiten, die eine mittlerweile breite Autorenschaft zum Thema »kollektivistische Persönlichkeit« vorbringt, so finden sich vier Grundzüge (ein Überblick bei Pedersen, 1990): 1. Muslime sind demnach eher durch eine gruppengebundene und gruppenzielorientierte Persönlichkeit als durch eine autonome Persönlichkeit getragen (inter-

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dependentes Selbstverständnis, Familienorientierung und Gehorsam). 2. Muslime sind eher durch ein situations- und kontextabhängiges (Rollenerwartungen und Normen) als durch ein innengerichtetes, reflexives Verhalten bestimmt. 3. Muslime sind eher von einem interpersonalen Verantwortungs- und Pflichtbewusstsein geleitet (anstelle von individuumsbezogenen Gerechtigkeits- oder Menschenrechtsvorstellungen) und 4. sie sind stärker von extern verankerten Affekten berührt (Mitleid, Scham, Stolz) als von individuellen Emotionen. Vor diesem Hintergrund erscheint es nur begrenzt sinnvoll, das Konstrukt »Persönlichkeit« mit seiner innerpsychischen Dynamik in der psychotherapeutischen Arbeit mit Muslimen von soziokulturellen Faktoren loszulösen. Stattdessen ist die kollektivistische Persönlichkeit als unverrückbar eingebettet in externe Bestimmungsgrößen (Normen, Werte, Autorität, Interdependenzen etc.) zu verstehen. Diese Einbettung lässt sich vor allem im familiären Rahmen beobachten.

Fallbeispiel 1: Familie als Segen, Familie als Fluch

Cem (28) kam als Kind mit seiner Mutter aus dem Osten der Türkei nach Deutschland. Seit jener Zeit reist die Familie regelmäßig in ihre alte Heimat. Auch der Heiratsplanung hat sich die Familie angenommen. Mit einer befreundeten Familie aus einem benachbarten Dorf in der Heimatregion wurden bereits die ersten Arrangements mit dem Ziel einer baldigen Heirat unternommen. Bei seinem letzten Türkei© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40172-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-40172-0

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besuch hat Cem allerdings eine junge Frau kennen gelernt, die ebenfalls aus der gleichen Gegend stammt. Beide kamen sich während der drei Wochen seines Aufenthalts näher und Cem ist fest entschlossen, sie wiederzusehen. Das Problem liegt nun darin, dass jene junge Frau, die Cem kennen lernte einer Familie angehört, die im Vergleich zu der von Cems Eltern ausgesuchten Familie weniger soziales Ansehen genießt, gar noch schlimmer: Einige im Dorf munkeln, dass die Schwestern von Cems Bekanntschaft in der Stadt abends einem allzu freizügigem Lebenswandel nachgehen. Zunächst nimmt Cem die ganze Situation mit etwas Ironie und schmunzelt über die Tatsache, sich in einer Lage wiederzufinden, die doch allzu stark dem Klischee einer türkischen Familienplanung entspricht. Als Cem die Praxis betrat, war hingegen die Selbstironie längst der Verzweiflung gewichen, hatte sich doch zwischenzeitlich die Situation erheblich zugespitzt: Nachdem Cem ein zweites Mal in die Türkei gereist war, um seine Freundin zu sehen (er sah die junge Frau zu jenem Zeitpunkt als solche an), fingen ihn noch am Flughafen Mitglieder seiner eigenen Familie, die noch immer dort wohnen, ab und ließen während zweier Wochen keinen Zweifel daran, dass sie fest entschlossen waren, das Fortbestehen dieser Bekanntschaft zu unterbinden. Entmutigt und entkräftet kehrte Cem, ohne seine Freundin auch nur einmal gesehen zu haben, zurück nach Deutschland, wo der Unmut der Familie über Cems Pläne nicht abbrach. Im Familienbetrieb von Cems Vater wurde er gemieden, seine Versuche, das Thema zur Sprache zu bringen, wurden geblockt, zur Hochzeit seines Cousins wurde er nicht eingeladen und selbst seine beiden älteren Brüder, mit denen Cem bisher in aller Offenheit über alles reden konnte, machten ihm unmissverständlich klar, dass © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40172-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-40172-0

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er sich nicht einfach über eine Familienentscheidung hinwegsetzen könne. Mittlerweile hat sich das Problem für Cem auch körperlich manifestiert: Sobald er inmitten seiner Familie ist, leidet er an Kopf- und Bauchschmerzen, im Betrieb seines Vaters ist er sogar einmal zusammengebrochen, kurz: Der Druck wurde einfach zu groß. Und Cem war sich des Dilemmas, in dem er sich befand, durchaus bewusst: Findet er sich mit der von seiner Familie für ihn getroffenen Entscheidung ab, stellt er zwar sein Ansehen wieder her, muss aber eine Frau heiraten, die er nicht liebt. Setzt er seinen eigenen Willen durch und heiratet seine Freundin, wird er auf unbestimmte Zeit aus dem Familienverband ausgeschlossen. Er kommt in die Praxis in der Hoffnung, eine Lösung für diese Zwickmühle zu bekommen. Nach mehreren Sitzungen, in denen Cem nicht müde wurde, die Bedeutung seiner Familie für ihn zu betonen, wurde schließlich eine Lösung mit Kompromisscharakter erarbeitet: Weder seine Freundin noch die für ihn ausgewählte Frau wird er heiraten. So umgeht er einerseits die Gefahr, eine Frau zu heiraten, die er fortan hassen wird, weil sie für ihn nur das ungewollte Zerrbild seiner Freundin darstellen würde. Andererseits vermeidet er allerdings auch, seine Familie vollends zu verprellen, indem er zwar den Heiratsvorschlag ablehnt, im Folgeschritt aber nicht diesem an und für sich schon unentschuldbaren Vorgehen noch das i-Tüpfelchen aufsetzt. Man mag zwar an dieser Stelle einwenden, Cem habe sich selbst aufgeopfert, um dem Familienwillen gerecht zu werden. Die Lösung, wie sie im Fallbeispiel dargelegt wurde, führte aber dazu, dass Cems Familie nach einer Weile wieder dazu bereit war, ihn als vollwertiges Mitglied © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40172-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-40172-0

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in ihre Reihen aufzunehmen. Eine Entwicklung, die im Fall einer von der Familie unerwünschten Heirat gewiss nicht eingetreten wäre. Cems Leiden verschwanden nach einigen Wochen, seine Lehre zog er dennoch aus dieser Geschichte. Er entschied sich dazu, sein Leben stärker selbst in die Hand zu nehmen, zog in eine andere Stadt und heiratete eine Frau, die zwar nicht von seiner Familie ausgesucht, die aber auch nicht von ihr abgelehnt wurde. Und all dies, ohne die Familienbande irreparabel zu zerschneiden und sich damit in ein soziales Vakuum zu stürzen. Konflikte in kollektivistischen Kulturen sind oft intrafamilial und nicht intrapsychisch; Therapien müssen dies berücksichtigen.

An diesem Beispiel zeigt sich die Bedeutung der türkischen Familie als psychosoziale und ökonomische Kerneinheit. In ihr finden sich Abhängigkeiten auf verschiedenen Ebenen, die sich stetig reproduzieren, in denen Familienplanung, Erwerbsarbeit und soziales Umfeld kollektiv (statt individuell) bestimmt sind. Vor diesem Hintergrund offenbaren sich psychische Krisen bei Muslimen entsprechend eher durch innerfamiliäre als durch innerpsychische Konflikte ausgelöst. Eine Herauslösung aus diesem Geflecht ist oftmals unmöglich oder nur unter schmerzhaften Verlusten zu erreichen und damit nicht immer der Königsweg in der psychotherapeutischen Begleitung von muslimischen Patienten. Die Familie ist also der Ort, von dem sowohl negativer (bei Abweichung vom familiären Wertekonsens bzw. Verhaltenskodex) als auch positiver Input (bei Steigerung des familiären Ansehens und Erfüllung familien© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40172-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-40172-0

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gebundener Pflichten) für das Individuum ausgehen. Persönlicher Erfolg liest sich somit als eine Funktion in Abhängigkeit des familiären Zuspruchs bzw. familiärer Missbilligung. Die zahlreichen Konstrukte der Persönlichkeitsforschung (Ich, Selbstkonzept, Selbstwert usw.) bedürfen daher einer systematischen Nuancierung im Sinne einer Externalisierung von Selbstbestimmung. Sehen wir uns noch etwas genauer die sozialen Mechanismen an, die sich in traditionell-muslimischen Gesellschaften und Familien beobachten lassen: Die starke Beeinflussung des Individuums innerhalb kollektivistischer muslimischer Kulturen vollzieht sich zuvorderst über ein soziales Phänomen, das Noor El-Deen (2000) mit dem arabischen Begriff mosayara umschreibt, der wohl am Besten mit »Bedecktheit« zu übersetzen ist. Hinter dieser Beschreibung verbirgt sich ein Mechanismus, der das Individuum dazu anhält, die Rollenerwartungen, die das Umfeld in es hineinlegt, zu erfüllen und dabei persönliche Anschauungen zu unterdrücken; all das mit dem Ziel, die soziale Kohäsion nicht zu durchbrechen. Die Tiefenwirkung des mosayara-Mechanismus reicht nicht selten bis zur Selbstverleugnung und einer Rollenübernahme, die das kollektiv bestimmte Rollenverständnis übertreffen. Studien aus Malaysia gehen sogar noch einen Schritt weiter und beschreiben eine paradoxe Coping-Strategie, die aus einer Identifizierung mit den Unterdrückern besteht, um die psychische Gewalt erdulden zu können. Yusooff (2003) fand eine extreme Form dieses Identifikationsmechanismus bei malaysischen Frauen. Für diese Frauen gilt demnach, dass sie selbst unter dem Eindruck gewalttätiger Missbrauchserfahrungen in der Ehe aushar© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40172-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-40172-0

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ren und dabei noch Schuldgefühle in sich selbst statt in ihren Aggressor projizieren. Es liegt auf der Hand, dass eine derartige externe Kontrolle von Handlung (in welchem Ausmaß auch immer) nicht ohne Ventil auskommen kann. Dementsprechend findet sich das Gegenstück zu mosayara im istighaba (»Ausbruch«). Während sich vor den Augen der Öffentlichkeit Nonkonformität unter nahezu keinen Umständen rechtfertigen ließe, schwächt sich der externe Druck (der Konformitätsdruck) innerhalb vertrauter, gleichgesinnter Gruppen ab. Hier kann in Anwesenheit von engen, oftmals gleichaltrigen und nicht der Familie angehörenden Vertrauten die Meinung geäußert und das Verhalten ausgelebt werden, das im Kreis der familiären Hierarchie nicht akzeptabel ist. Es wechselt sich also je nach Situation die private und die soziale Ebene der Persönlichkeit des Betroffenen ab. Diese Zwiespältigkeit durchzieht vor allem den Alltag junger Muslime (besonders unter jenen, die als »zweite Generation mit Migrationshintergrund« gelten), der sich durch bedingungslose Folgeleistung im öffentlichen und familiären Raum einerseits und nonkonformem bzw. islamischen Werten entgegengesetztem Verhalten andererseits auszeichnet. Es geht also um die Kunst der Muslime, Situationen gemäß ihrer Erwartungshaltung zu erkennen und entsprechend mit mosayara- oder istighaba-Verhalten zu reagieren.

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Geschlechterverhältnisse

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Muslime leben oft im Spagat zwischen Konformität und verstecktem Ausbruch. Dies als Doppelmoral abzutun, verkennt die soziale Realität muslimischer Gesellschaften.

Dabei soll es nicht die Aufgabe des Psychotherapeuten sein, die wechselhafte Erfüllung dieser beiden so entgegengesetzten Rollen als doppelgesichtiges oder scheinheiliges Spiel abzuwerten. Wird die Einbettung des Patienten in die beschriebenen sozialen Mechanismen infrage gestellt und die Loslösung vom identitätsstiftenden Kollektiv empfohlen, kann die Folge eine Verschlimmerung der psychosozialen Situation des Patienten sein. In dem Maße, in dem er dazu aufgefordert wird, seine kollektive Identität zu verleugnen, wird er fast zwangsläufig ins soziale und familiäre Abseits manövriert.

2.3 Geschlechterverhältnisse Islamisch geprägte Gesellschaften sind patrilinear und patriarchalisch organisiert, d. h., sowohl in Fragen der Abstammung und Vererbung als auch hinsichtlich gesellschaftlichen Prestiges sowie familiärer und ehelicher Rollendefinition wird dem Mann eine stärkere Stellung als der Frau beigemessen. Dies trifft im hohem Maße für den arabischen, türkischen, persischen und afghanisch-pakistanischen Raum sowie (wenngleich in geringerem Maße) für die südostasiatische Region zu. Zwar beginnen sich diese Geschlechtergefälle im Zuge von Globalisierung und sozioökonomischer Entwicklung einander anzugleichen, die Überlegenheit des Man© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40172-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-40172-0

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nes bleibt dennoch ein allgemeines Charakteristikum genannter Kulturräume. Die Auffassung, auf der diese Geschlechterunterscheidung fußt, legt nahe, dass Männer und Frauen zu verschiedenen, aber einander ergänzenden Aufgaben bestimmt sind. Die Betätigungsfelder der Frau beschränken sich dabei im Allgemeinen auf den Haushalt und die Erziehung der Kinder, auch wenn Frauen in ländlichen Gebieten nicht selten Feldarbeit verrichten. Sie werden hierfür jedoch nicht entlohnt und ihre Arbeitskraft wird entsprechend gering eingeschätzt. Es herrscht weiterhin die verbreitete Meinung, dass der Mann bei häuslichen und erzieherischen Aufgaben keinen Beitrag leisten muss. Muslimische Gesellschaften sind patrilinear und patriarchalisch. Die Scheidungsrate liegt bei 4 %. Homosexualität steht unter Strafe.

Die Institution der Ehe hat in muslimischen Gesellschaften während der letzten vier Jahrzehnte nicht die gleiche Entwicklung durchgemacht wie im Westen. Die Scheidungsrate in der arabischen Welt liegt bei ungefähr 4 %, während in Deutschland jede dritte Ehe geschieden wird (Fargness, 1996). Zum einen erklärt sich diese niedrige Scheidungsrate durch die in einigen Ländern langwierigen rechtlichen Verfahren (obwohl der Islam eine Scheidung nicht verbietet), zum anderen aber durch das Verständnis der Ehe als heiliges Bündnis und den geschmälerten Status einer geschiedenen Frau. Letzterer drückt sich dadurch aus, dass geschiedene Frauen oft gezwungen sind, wesentlich ältere © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40172-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-40172-0

Geschlechterverhältnisse

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Männer zu heiraten und in dieser Ehe oftmals missbräuchlichen Umgangsformen ausgesetzt sind. Die Heirat in muslimischen Ländern ist gemäß islamischer Lesart eine religiöse Verpflichtung und alleiniger Rahmen sexueller Handlungen, was unter anderem das im Durchschnitt junge Heiratsalter erklärt. Kennzeichnend ist darüber hinaus der Pragmatismus, mit dem die Eheschließung verbunden ist. Die Ehe ist demnach ein materiell begründetes Sicherheitsnetz, das vor allem der Frau die wirtschaftliche Absicherung garantiert. Dieser Pragmatismus drückt sich auch und gerade im Vorfeld der Eheschließung aus, indem sich die Partnerwahl meist auf einen einvernehmlichen Beschluss beider Familienzweige gründet und weniger auf eine individuelle, von Gefühlen geleitete Entscheidung zweier potentieller Eheleute. Diese Heiratsarrangements sind somit also eher als die Verknüpfung von zwei Familien zu verstehen und weniger die Folge einer emotionalen Verbundenheit zweier Liebender. Die Erwartungshaltung gegenüber einer geehelichten Beziehung zweier Erwachsener orientiert sich stärker an den Werten gegenseitigen Wohlwollens und Respekts als an einer amour fou, der leidenschaftlichen, romantischen, den Kopf verdrehenden Liebe. Diese im arabischen mit ishq bezeichnete und vor allem in der westlichen (aber auch indischen) Film- und Musikindustrie häufig vorzufindende Emotionalität im Erfahren des Verliebtseins wird von muslimischen Jugendlichen höchstens versteckt und subtil gelebt, bei Erwachsenen wird sie bestenfalls belächelt, schlimmstenfalls als krank und heilungsbedürftig quittiert.

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Eheschließungen sind meist ein pragmatisches Arrangement und eheliche Rollen sind klar definiert.

Ist die Ehe schließlich geschlossen, verlässt die Frau den Wohnort der eigenen Familie und begibt sich in den Haushalt der Fremdfamilie (insofern patrilinear). In der Öffentlichkeit übernimmt die Frau eine defensive Rolle und überlässt dem Mann die Entscheidungen, die außerhalb des Haushaltsbedarfs liegen. Selbst in bildungsnahen Schichten, in denen sich die Entscheidungsfindung in beidseitigem Einvernehmen immer mehr durchsetzt, verbleibt das letzte Wort meist beim Mann. Ausdruck findet die Ungleichbehandlung von Mann und Frau auch in der Wahrnehmung psychischer Erkrankung. Während die Erkrankung des Mannes sehr oft eine Mobilisierung aller finanzieller Ressourcen bewirkt, um eine Heilung zu ermöglichen, sind Frauen zum einen oft selbst nicht gewillt, ihre Krankheit einzugestehen, um nicht in beschämendem Licht zu erscheinen. Zum anderen mangelt es ihnen an finanziellen Mitteln, um die Therapie zu bezahlen, sowie an sozialem Status, um ihre Verwandten um Hilfe zu beten. Kommt also eine Muslima in die Praxis, kann davon ausgegangen werden, dass bereits viele Mühen in Kauf genommen wurden. Auch die Vermutung, dass sie dies im Geheimen tut, ist berechtigt. Das sind zwei Umstände, die dem Therapeut bewusst sein müssen, wenn er zum Beispiel eine paar- oder familientherapeutische Intervention vorschlägt, die Patientin dazu auffordert, mit dem Umfeld über entsprechende Probleme zu reden, oder bei ganz banalen Dingen wie Terminvereinbarung, telefonische Kommunikation oder Honorierung. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40172-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-40172-0

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Sexualität

2.4 Sexualität Es gibt bislang keine umfassenden Studien auf dem Gebiet der Sexualforschung, die sich auf muslimische Kulturräume beziehen. Dementsprechend fußen Erkenntnisse zu den Aspekten außerehelicher Sexualität, Homosexualität und dergleichen auf einigen wenigen empirischen Einzelergebnissen sowie der Erfahrung aus unserer therapeutischen Praxis. Zweifelsohne handelt es sich beim Thema Sexualität um das am stärksten tabuisierte Thema in der Zusammenarbeit mit muslimischen Patienten. Sexualität vor bzw. generell außerhalb der Ehe ist laut islamischer Auffassung nicht gestattet. Das Zusammenleben zweier nicht verheirateter Partner ist ebenso wenig erlaubt und auch das bloße Nebeneinander zweier Geschlechter innerhalb derselben Räumlichkeiten ist ein selten vorzufindender Zustand. Auch wenn islamische Glaubensinhalte keine sexuelle Übervorteilung des Mannes erwähnen, erscheint Geschlechtsverkehr in muslimischen Ländern als ein Akt, der traditionellerweise der Befriedigung des Mannes dient. Außerehelicher Geschlechtsverkehr ist verboten. Beeinträchtigungen des Sexuallebens werden in Bezug auf den Mann als schwerwiegender wahrgenommen.

Die Höherstellung des Mannes schlägt sich somit auch darin nieder, dass bei einer Störung des Sexuallebens – wenn die Frau als Ursache angesehen wird – alles dafür getan wird, das Problem zu lösen. Hier tritt schließlich © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40172-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-40172-0

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auch die Familie als Hilfesteller in Erscheinung, indem sie die finanziellen Ressourcen bereitstellt, die durch ärztliche Behandlung nötig werden. Umgekehrt spielt die Familie die Rolle des Trösters, wenn der Mann nicht in der Lage ist, ehelichen Erwartungen (Zeugung von Nachwuchs) nachzukommen. Die Frau wird allerdings dazu angehalten, diese Situation als vorbestimmt hinzunehmen. Ein offener Dialog über sexuelle Belange zwischen den Geschlechtern darf als äußerst selten angesehen werden und ist vor allem unter Frauen ein eher gemiedenes Thema. Was Homosexualität betrifft, findet sich kein mehrheitlich muslimisches Land, das Homosexualität duldet. Sowohl islamisches als auch staatliches Recht (sofern es sich denn im entsprechenden Land unterscheidet) stellt gleichgeschlechtliche Beziehungen unter Strafe. Die sexuelle Integrität der Frau ist in muslimischen Gesellschaften Voraussetzung für das Ansehen einer Familie.

Erfahrungsberichte aus der psychotherapeutischen Praxis lassen bei muslimischen Frauen auf einen im Vergleich zu westlich sozialisierten Frauen stärker schambesetzten Umgang mit dem Thema Masturbation und Sexualität im Allgemeinen schließen. Für den türkischen Kulturraum sind hierzu die Erläuterungen von Schouler-Ocak et al. (2008) aufschlussreich. Er beschreibt die besondere Konfliktdynamik, die sich aus namus (ein türkischer Begriff, der die sexuelle Integrität von Frauen beschreibt) und seref (türkisch für das Ansehen der Familie) ergibt. Dazu ist zu sagen, dass sich Letzteres ohne Ersteres nicht herstellen lässt. Eine Familie, in der ein (meist weibliches und junges) © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40172-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-40172-0

Sozialisierung und Erziehung

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Mitglied Anlass zu Zweifel an seiner sexuellen Integrität aufkommen lässt, ist unweigerlich in ihrem Ansehen beschädigt. Ziel bei der therapeutischen Thematisierung dieser kulturabhängigen Konfliktdynamik darf es letztlich nicht sein, diese kollektiven Tabuisierungen zu enttabuisieren oder in Zweifel zu ziehen, sondern sie ausfindig zu machen und sie kulturgerecht auf ihre therapeutischen Spielräume hin zu ergründen. In Kapitel 3.6 werden wir auf die psychosozialen Implikationen dieser Wahrnehmung von Sexualität und die Konsequenzen für die psychotherapeutische Arbeit näher eingehen.

2.5 Sozialisierung und Erziehung Die in westlichen Kulturen verbreitete bürgerliche Kernbzw. »Normalfamilie«, bestehend aus vier Mitgliedern, ist eine Erscheinung, die in muslimischen Kulturen keine Entsprechung findet. Trotz der in den letzten Jahren immer deutlicher werdenden Tendenzen zu einer durchschnittlichen Verkleinerung der Familie in städtischen Räumen, innerhalb bildungsnaher Schichten und bei Migranten zweiter Generation ist die Großfamilie patriarchalischer Prägung (arab. ashira) weiter vorherrschend (Authman, 1999). Vor diesem Hintergrund vollzieht sich auch die Erziehung der Kinder weiterhin unter dem Eindruck der in der Großfamilie verfestigten Werte, die sich zuvorderst durch einen hohen Grad an Autoritätsgläubigkeit auszeichnen. Für das frühkindliche Stadium lässt sich sagen, dass statt der intimen Enge zwischen Kind und Eltern, die sich © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40172-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-40172-0

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in der westlichen Kleinfamilie nachweisen lässt, in muslimischen Kulturen eine offenere Beziehung gelebt wird. Oft wird das Kind abwechselnd durch seine Mutter sowie andere Frauen zum Teil bis zum dritten Lebensjahr gestillt. Die Institution Kindergarten ist weitgehend unbekannt (abgesehen von urbanisierten Teilen der Türkei oder Nordafrikas). Erziehung in muslimischen Gesellschaften ist geprägt von häufiger Sanktionierung, Schuldzuweisung und passivem Lernen.

Die autoritären Grundzüge islamisch verfasster Kollektive schlagen sich sehr bald nach dem frühkindlichen Stadium nieder, sei es in der Verwehrung persönlicher Entscheidungsfreiheit des Kindes, der systematischen Verknüpfung verbaler Anweisungen mit Strafandrohungen, einer moralisierenden Belehrung oder schließlich der körperlichen Bestrafung. Diese Handlungspalette wird dabei ungeachtet des Schweregrades des Anlasses und von Vater wie Mutter gleichermaßen angewandt, wobei letztere zuweilen als Pufferzone zwischen dem Kind und dem tendenziell eher größere Distanz wahrenden Vater fungiert. Die Mutter benutzt jedoch wiederum den Vater als Sanktionierungsinstanz in ihren Drohungen und untermauert damit nicht zuletzt die patriarchalische Stellung. Ein leichtes Gefälle bei Übertretungen der strengen Sozialisierungsgrenzen findet sich im Vergleich zwischen weiblichen und männlichen Jugendlichen. Letztere sind tendenziell eher bereit, Grenzen zu übertreten, und erfahren infolgedessen eine umso autoritärere Behandlung. Nicht wenige Untersuchungen kreisen um die Bedeu© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40172-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-40172-0

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tung von Schamgefühlen in kollektivistischen Kulturen, besonders im muslimischen Kontext. Marwan Dwairy (1997b, 1998) legt hierzu nahe, dass sich muslimische Heranwachsende durch ein stärker ausgeprägtes Schamempfinden und die Ausbildung eines Kollektivbewusstseins von ihren westlichen Gleichaltrigen unterscheiden, die ihrerseits stärkere Schuldgefühle in der (individualisierten) Beziehung zu ihrem gesellschaftlichen Umfeld aufweisen. Die offenkundige Strenge dieses Erziehungsmodells setzt sich in den muslimischen Schulen fort, indem Dialog und Hinterfragung als pädagogische Elemente ausgeblendet und Eigeninitiative sowie Kreativität des Schülers als unerwünscht betrachtet werden. Physische Bestrafung darf als gängiges (wenn auch nicht von allen Eltern gerechtfertigtes) Instrument in arabischen und türkischen Schulen bezeichnet werden. Erklärte Ziele pädagogischen Wirkens sind das Memorisieren von Informationen, Selbstkontrolle und Selbstdisziplinierung. Mit Hilfe kulturvergleichender entwicklungspsychologischer Studien ist seit langem die Herausbildung unterschiedlicher kognitiver Kompetenzfelder je nach untersuchter Kultur belegt. In Vergleichsstudien zwischen israelischen und arabischen Schülern ist diese Differenz (höhere Memorisierungskompetenz bei arabischen und höhere Abstraktionskompetenz bei jüdischen Jugendlichen) bestätigt worden (Timimi, 1995). Die Entwicklung dieser Memorisierungskompetenz ist auch und gerade vor dem Hintergrund der religiösen Erziehung zu verstehen, in der das Auswendiglernen koranischer Passagen eine zentrale Rolle spielt.

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Analphabetismus ist vor allem bei Frauen aus ländlichen Regionen keine Seltenheit.

Oftmals ist es aber auch so, dass gerade Mädchen und junge Frauen besonders in ländlichen Regionen islamischer Länder selten länger (wenn überhaupt) als fünf Jahre zur Schule gehen. Leider finden sich aber auch viele Analphabeten unter ihnen, ein Umstand, der mit einer geringer ausgeprägten Abstraktions- und Reflexionsfähigkeit einhergehen kann. Dies muss bei der Anwendung bestimmter psychotherapeutischer Instrumente beachtet werden, so zum Beispiel bei dem Versuch, Selbsteffizienz in der kognitiven Verhaltenstherapie zu steigern. Bei Männern ist die Bildungsabstinenz weniger stark, hier sind acht bis zehn Jahre Schulbesuch häufiger anzutreffen, dementsprechend größer ist die Fähigkeit, therapeutische Aufgabenstellungen zu bewältigen. Bleibt die Frage, welche Konsequenzen diese unnachgiebige und oft gewalthaltige Erziehungsmethodik hinsichtlich der psychischen Befindlichkeit bei den Betroffenen nach sich zieht. Zahlreiche Studien legen nahe, dass eine derartige Erziehung innerhalb einer autoritativen Kultur nicht die gleichen Effekte zeitigt, wie sie in westlichen Kulturen beobachtet wurden. Die höhere Akzeptanzrate drakonischer Erziehungselemente scheint dabei nicht in Identitätsverzerrungen, Herausbildung einer Ablehnungshaltung bzw. der kategorischen Ablehnung elterlicher oder allgemeingesellschaftlicher Wertmaßstäbe zu münden (Timimi, 1995). Es sei an dieser Stelle auch noch einmal erwähnt, dass die beschriebenen Erziehungsschemata gemäß der sozioökonomischen Lage und geografischen Verortung der jeweiligen Familien variieren können. Dies kann sich © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40172-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-40172-0

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in der Lockerung der Erziehungsprinzipien äußern (wie es unter emigrierten oder städtischen Muslimen naheliegt) oder aber in der Umkehrung des oben beschriebenen Mann-Frau-Verhältnisses und der Steigerung des Strengegrades, indem junge Frauen in städtischen Räumen (auch außerhalb ihrer muslimischen Heimat) plötzlich einer strengeren Behandlung seitens ihrer Eltern bedacht werden als ihre männlichen Pendants bzw. ihre weiblichen Gleichaltrigen aus ländlichen Gebieten (Dwairy, 2006). Muslimische Familien richten ihr ganzes Augenmerk auf das Verhalten der weiblichen Nachkommen. Eltern, Brüder, bereits verheiratete Schwestern und Onkel sind so gleichermaßen an dieser Aufgabe beteiligt. Die von ihnen wahrgenommene Gefahr in Form von Drogen, Geschlechtsverkehr und sonstigen »unsittsamen« Handlungen, die in städtischen Räumen verstärkt auftreten, soll durch Mahnungen und Verbote gebannt werden. Einer eingehenden Behandlung geschlechtsspezifischer Erscheinungen werden wir uns im Weiteren noch stärker widmen. Auch sei in diesem Zusammenhang angemerkt, dass ein Einblick in die psychokulturellen Gegebenheiten der traditionell-islamischen Erziehung nicht den Anlass zu Fehldeutungen oder gar Pathologisierungen geben darf. Fisek und Kagitcibasi (1999) geben hier zu bedenken, dass der in türkischen Familien vorherrschende Autoritarismus in der Psychotherapie nicht als Synonym für Unterdrückung und Missbrauch verstanden werden darf. Die psychosozialen Abhängigkeiten, die sich aus der oben skizzierten Sozialisierung ergeben, dürfen in der therapeutischen Praxis nicht in die westlichen Konzepte von »Kindheitsübertragung/Gegenübertragung« (um die © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40172-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-40172-0

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psychoanalytische Terminologie zu bemühen), »Unreife« und »Abnabelungsschwierigkeiten« übersetzt werden.

2.6 Körper- und Gesundheitsverständnis Dass Ausdrucksformen körperlicher Empfindungen stark kulturabhängig sind, ist inzwischen zu einem Gemeinplatz innerhalb der kulturvergleichenden Ätiologieforschung geworden. Im Allgemeinen wird die westliche Aufteilung in Leib und Seele im Orient durch eine ganzheitliche und spirituelle Sichtweise ersetzt. Diese ganzheitliche Wahrnehmung von Erkrankungen begründet sich nicht zuletzt in einem weit verbreiteten Volksglauben mitsamt seiner ihm innewohnenden Mythologie. Krankheitswahrnehmung ist in traditionellen muslimischen Gesellschaften stark spiritualisiert.

Gerade unter den älteren und ländlich geprägten Jahrgängen haben Schutzgeister (altpersisch amesha spenta/ amschaspand) und Dämonen (arab. apaosha; persisch jinn) sowie humorale (die Körperflüssigkeiten betreffende), naturalistische (auf Naturelemente fußende) und mechanistische (das Verrutschen von Organen betreffende) Krankheitskonzepte große Bedeutung. Im Fall des persischen jinn zeigt sich die Verquickung mit einem pathologischen Muster deutlich: Im Allgemeinen wird nämlich eine psychische Krankheit mit jinnoon bezeichnet, was wörtlich »den Zustand eines von einem Dämon Besessenen« meint. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40172-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-40172-0

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Ähnliche Verbreitung findet der Glaube an die negative Kraft des so genannten bösen Auges, das eine bösartige Absicht eines Mitmenschen beschreibt, der durch einen Blick Unheil hervorruft. Studien in ausgewählten muslimischen Ländern legen nahe, dass über 80 % der Mütter glauben, das böse Auge habe einen schadhaften Einfluss auf ihre Kinder (Harfouche, 1981). In diesem Zusammenhang erfahren Heiler und volksmedizinisch geschulte Gelehrte große Zustimmung in der muslimischen Glaubensgemeinde. Heiler und volksmedizinisch geschulte Gelehrte spielen eine wichtige Rolle in muslimischen Gesellschaften.

Dieser Volksglaube erfreut sich in vielen muslimischen Ländern und in deren »Exilgemeinden« bis heute (wenngleich in unterschiedlichem Maße) großer Beliebtheit. Aus diesem Grund sollten sie ernst genommen (statt belächelt) werden, wenn der Patient sie thematisiert. Auf diese Weise wird dazu beigetragen, den Eindruck gegenseitiger Achtung und Würdigung zu stärken sowie die Auseinandersetzung des Patienten mit seinen Beschwerden zu fördern. Denn streng genommen erscheint gar die Diagnose »Somatisierung« als unzutreffend, lassen sich in kollektivistischen Kulturen doch keine ausschließlich psychischen Erkrankungen als solche klassifizieren. Dementsprechend ist es auch unangebracht, einen Somatisierungsverlauf hineinzudeuten. Kapitel 3.1 wird den Themenkreis »Psychosomatismus, Schmerzausdruck und Heilung« noch eingehend behandeln.

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3 Besonderheiten in der Psychopathologie muslimischer Patienten und Konfliktfelder in der psychotherapeutischen Arbeit mit Muslimen

Bis vor nicht allzu langer Zeit war die nichtwestliche Herkunft einer (geistigen wie körperlichen) Krankheit entscheidendes Kriterium bei ihrer Qualifizierung als kulturgebundene Krankheit (culture-bound syndrome, CBS). Dabei bewegt sich die wissenschaftliche Betrachtung von CBS grundsätzlich im Spannungsverhältnis zwischen kulturspezifischem und universell gültigem Wissen. Kulturgebundene Krankheiten müssen vor einem kulturspezifischen Hintergrund verstanden werden, aber zur Heilung in universelle Kategorien übersetzt werden.

Entscheidend sind dabei die Übersetzungsmöglichkeiten von kulturspezifischem Wissen, Verhalten und Symptomatik in universell gültige Kategorien. Für die amerikanischen Psychotherapeuten Wen-Shing Tseng und John F. McDermott (1981) sind die CBS nach ausschließlich kulturspezifischen Kriterien zu klassifizieren. Sie stützen sich dabei auf kulturabhängige Glaubensannahmen, Verhaltensnormen in Verbindung mit Sanktionierungsmechanismen, Interpretationsmustern und Heilungskonzepten. In diesem Sinne sind jene Formen von CBS von psychotherapeutischem Interesse, die als Importgut aus dem © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40172-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-40172-0

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ursprünglichen lokalspezifischen Rahmen in das neue Umfeld mitgebracht werden. So verhält es sich beispielsweise mit dem kulturspezifischen Stressor »Familienstruktur und -brauchtum«, namentlich der so genannten arrangierten Hochzeit. Dieses in fast allen mehrheitlich islamischen Ländern vorzufindende gesellschaftliche Phänomen (das in nicht wenigen Fällen nach der Emigration fortlebt) kann für die Braut, die oftmals ein sehr junges Alter aufweist, ein einschneidendes, stressauslösendes Erlebnis darstellen, das im äußersten Fall in eine »Heiratspsychose«, Suizid und Besessenheit gipfelt (van Quekelberghe, 1991). Während derartige Syndrome tendenziell eher exotischen Charakter besitzen, finden sich eine ganze Reihe von kulturgebundenen Symptomerscheinungen und -konstellationen im Zusammenhang mit bereits bekannten Störungsbildern, die sich innerhalb nichtwestlicher Kulturen systematisch nachweisen lassen. Okasha et al. (1994) haben dies exemplarisch für den arabischen Kulturraum zeigen können. Infolge dieser Erkenntnisgewinnung widmete die American Psychiatric Association im Jahre 1994 erstmalig derartigen durch Kultur bedingten spezifischen Störungsbildern ein eigenes Kapitel (APA, DSM-IV, 1994, Chap. 3). Auch wenn diese Diagnoseschemata zu Recht auf Kritik stießen, zeigen sie, dass Kultur als solche nunmehr ernst genommen wird. In einer Textrevision sechs Jahre später wurde versucht, dem kulturellen Reduktionismus Rechnung zu tragen und ein nuancierteres Instrumentarium vorzulegen (APA, 2000). Noch immer ist man weit davon entfernt, Kultur (auch der eigenen) eine differenzierte Berücksichtigung widerfahren zu lassen, aber die ersten Schritte in eine kultursensible Diagnostik sind damit getan. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40172-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-40172-0

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Im Folgenden sollen nun diejenigen häufigsten psychischen Erkrankungen vorgestellt werden, die durch die islamische Kultur beeinflusst sind und sich infolgedessen in ihrer Symptombandbreite von der westlichen unterscheiden können.

3.1 Somatoforme Erkrankungen Westliche Schulmedizin, die dem rationalen Kausalitätsprinzip und einer strikten Leib-Seele-Dichotomie unterliegt, gründet ihre Diagnostik auf die akkurate Zuschreibung von Symptomen zu ihren Erregern bzw. Ursachen. Dabei werden Organe einzeln betrachtet, Infektionen bakteriologisch bzw. virologisch und persönliche Lebensführung als gesundheitsfördernd bzw. -schädigend eingeordnet. Der im Westen etablierten Trennung von Geist und Körper steht eine ganzheitliche und deterministische Haltung im Orient Gegenüber.

Im Islam hingegen herrscht mehrheitlich die Auffassung, das eigene Dasein liege in der Hand Allahs. Dieser fremdbestimmte Determinismus kann mitunter zu Passivität in gesundheitsrelevanten Fragen führen. Nicht einzelne Körperteile gelten als betroffen, sondern der ganze Körper. Demnach muss der Mensch als Entität behandelt werden. Diese Betrachtungsweise beschränkt den muslimischen Patienten nicht nur in seiner Fähigkeit, Krankheitssymptome adäquat zu beschreiben, sie versperren ihm auch den Weg zu einem Verständnis von der © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40172-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-40172-0

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Beziehung zwischen Ursache und Wirkung, was wiederum bei durch Lebensführung ausgelösten Krankheiten (z. B. Diabetes) die Heilung erschwert. Für die naturwissenschaftlich fundierte Medizin, die auf der Geist-Körper-Dichotomie beruht, wird die Behandlung überdies beeinträchtigt, da ein gezieltes Unterscheiden von Haupt- und Nebenbeschwerden oder ein Verweis auf innere Ursachen für äußere Symptome (z. B. bei Stoffwechselerkrankungen) von einem muslimischen Patienten mitunter nicht nachvollzogen werden kann. Im Folgenden sollen einige dieser Studien im Zusammenhang mit muslimischen Patienten angesprochen sowie ihre Bedeutung für die psychosoziale Behandlung dieser Patienten herausgehoben werden. Insbesondere das als holistisch zu bezeichnende Körper- und Krankheitsverständnis und seine verbal-semantische Artikulation finden eingehende Beachtung. Schmerzerleben und Schmerzausdruck sind kulturabhängig.

Bazzoui hat bereits 1970 idiomatische Nuancen im Umfeld der Depressionsdiagnostik für den Irak herausgearbeitet. Dort beschreibt der durchschnittliche Patient die Depression als einen auf der Brust lastenden Druck. Weitere metaphorische Entsprechungen findet das Leiden in Formulierungen wie »dem Herzen als kalter, dunkler Raum in einer Winternacht« oder »dem toten Herzen« (Bazzoui, zit. nach van Quekelberghe, 1991, S. 51). An dieser Stelle wird die – regelmäßig in Studien bestätigte – ganzheitliche Auffassung des eigenen Körpers in muslimischen Kulturräumen offenbar, eine Auffassung, die z. B. WHO-Studien aus den frühen 1970er Jahren zum so genannten Somatisierungsphänomen bekräftigen. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40172-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-40172-0

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Ergebnis war, dass Untersuchungsgruppen in Teheran mit 57 % mehr als doppelt so stark somatisieren als Vergleichsgruppen aus Montreal (27 %). Weitere signifikante Unterschiede im Erleben einer depressiven Störung fanden sich zwischen Iran und z. B. der Schweiz. Hierbei wurden vor allem die divergierenden Ergebnisse hinsichtlich der im Verlauf der Depression auftretenden Schuldgefühle und Selbstvorwürfe auffällig (68 % der in Basel untersuchten Patienten bejahten Schuldgefühle, in Teheran lediglich 32 %). Die Ergebnisse sind dabei als Hinweis auf die islamisch verankerte Fremdbestimmtheit des körperlichen (und mentalen) Wohlergehens zu deuten. Diefenbacher und Heim (1997) haben mit ihren klinischen Studien über das Somatisierungsverhalten islamischer Patienten die bereits angeführten Hinweise über eine »Verkörperlichung« mentaler Beschwerden ausgiebig bestätigt. Überdies widerlegten sie die oft vorgebrachte Relevanz der sozioökonomischen Stellung und hoben damit die Bedeutung des kulturellen Hintergrunds als ausschlaggebendes Moment hervor. Schmerzmittelkonsum bei muslimischen Patienten ist durch Fehl- und Überdosierung durch den Hausarzt gekennzeichnet.

Die medikamentöse Behandlung muslimischer Patienten und deren Verhältnis zum Hausarzt als erster Anlaufstelle bei somatoformen Beschwerden ist ferner ein zentraler Drehpunkt weiterer Untersuchungen. Insbesondere die Arbeiten von Ursula Brucks (2004) sind in diesem Zusammenhang aufschlussreich. Ihre emblematische Beschreibung des Arzt-Patienten-Verhältnisses als »Einverständnis © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40172-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-40172-0

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im Missverständnis« bringt die systematische Fehldiagnose somatoformer Störungsbilder bei muslimischen Patienten durch den Hausarzt und die daraus resultierende Fehl- und Überdosierung von Schmerzmitteln einprägsam auf den Punkt. Weitere Erklärungsansätze finden sich in der kulturinduzierten gestischen und mimischen Artikulation von körperlichen Beschwerden. So weisen Becker, Wunderer und Schultz-Gambard (2001) auf einen intensiveren, weil lauteren und deutlicheren Schmerzausdruck durch Mimik, Gestik und Verbalität hin. Die allgemein überdeutlich bekundeten Gefühle (auch bei Freude, Mitleid, Trauer) entsprechen im muslimischen Verständnis Attributen wie Aufrichtigkeit, Ehrlichkeit und Ernsthaftigkeit und Intensität der durchlebten Emotionen bzw. der Anteilnahme an denen anderer. Reservierte, distanzierte oder verborgene Reaktionen werden im Umkehrschluss als Zeichen geringfügiger Schmerzen oder geringer Teilhabe an Leid und damit als soziale Unerwünschtheit be- und verurteilt. An dieser Stelle gilt es nicht minder, die kulturellen Verhaltensnormen zu erkennen und sie in die patientenspezifische Ätiologie einzuweben. Insofern lässt sich sagen, dass körperliche Beschwerden als gesellschaftlich legitimiertes Vehikel betrachtet werden, mit dem persönliche Probleme transportiert werden. Im Gegensatz dazu steht die Artikulation von Emotionen eher unter einem gesellschaftlichen Stigma (Budman et al., 1992). Wie bereits im Vorwort und eingangs in diesem Kapitel angesprochen, ist auch die verbal-semantische Dimension des Schmerzausdrucks nicht zu vernachlässigen. Menschen verbalisieren je nach Kultur ihre körperlichen Empfindungen anders. Die metaphorischen Ausdrücke, © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40172-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-40172-0

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die dabei verwendet werden, erfahren oft eine unserem Verständnis völlig fremde Deutung. Auch wenn diese Nuancen selten den Erfolg einer Psychotherapie in ihrer Gänze gefährden oder die Kommunikation per se behindern, können sie jedoch in manchen Situationen das fehlende Glied in der Deutungskette einer Erzählung des Patienten sein oder zumindest bei richtiger Erkennung und Deutung dem Patienten das Gefühl vermitteln, hintergründig informiert zu sein – eine Kompetenz, die in Bezug auf den Aufbau einer authentischen Vertrauensbasis nicht unterschätzt werden sollte.

3.2 Angst- und Zwangsstörungen Unter dem Einfluss islamspezifischer Rituale bilden sich Verhaltenssequenzen heraus, die in vielfacher Hinsicht die diagnostischen Kriterien (in Anlehnung an DSM-IV) einer Zwangsstörung erfüllen. Es handelt sich dabei um die Reinigung und die weswas (Denkzwang mit negativem Inhalt). Zwangshandlungen und -gedanken haben bei muslimischen Patienten oft einen religiösen Hintergrund.

Die Gebote zur Waschung von Kopf, Gesicht und Extremitäten vor jedem Gebet sowie das verbalisierte Gebet mitsamt seines vorgeschriebenen Bewegungsablaufs tragen dazu bei, dass sich ein Muster zu verstetigen beginnt, das nicht selten in zwanghafte Ausübung übergeht. Okasha et al. (1994) haben die Verknüpfung von Zwangsgedanken mit Zwangshandlungen bei ägyptischen Patienten © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40172-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-40172-0

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nachweisen können. Hier kreisten die Gedanken um permanente Ansteckungs- und Infektionsgefahr sowie um Reinigung, Waschung und Gebetsausübung. Im Gegensatz zu dem bei westlichen Patienten bekannten Erkrankungsprofil erkannten die arabischen Patienten jedoch nicht das Ausmaß der Absurdität ihrer gedanklichen Fixierung. Therapeutische Ansatzpunkte sind an dieser Stelle die durch die islamische Lehre angebotenen Alternativrituale, die spirituell gleichwertig sind, aber in ihrer Ausgestaltung variieren und dadurch die Ausschließlichkeit der wiederkehrenden obsessiven Gedanken relativieren (siehe Kapitel 1). Ein weiteres kulturgebundenes Erkrankungsbild lässt sich mit dem arabischen Begriff weswas ausdrücken, der eine »Verhaftung an bösen Gedanken« beschreibt. Gegenstand dieser Gedanken ist oftmals eine sündhafte Handlung in sexueller oder gewalttätiger Form. Die Entstehung dieser Gedanken wird durch den Patienten meist einer übernatürlichen Kraft – einem jinn oder dem Teufel – zugeschrieben, wodurch eine reflexive Schuldzuweisung oder ein innerpsychischer Unterdrückungsmechanismus ausgeblendet werden. Therapeuten, die in dieser Situation versuchen, unterdrückte Begehrlichkeiten oder Verdrängungsmechanismen durch psychodynamische Offenlegungstechniken zu behandeln, laufen dabei Gefahr, Gefühle auf Seiten des Patienten hervorzurufen, die seine Persönlichkeit (die bereits als kollektiv beschrieben wurde) vor eine vielleicht unlösbare Aufgabe stellen. Angebracht scheint daher eine therapeutische Kooperation mit traditionellen Heilern (arab. shek) bzw. eine religiös verankerte Lösungsstrategie (siehe Kapitel 4). Dies gilt in gleichem Maße für die weniger kulturgebundenen Angsterscheinungen. Seien es nun Platzangst, Ört© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40172-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-40172-0

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lichkeitsphobien (Höhe, Fahrstühle und andere geschlossene Räume), Dingphobien (Krankheit, Tiere, Gewitter, Tod), soziale Ängste, Angst vor Kontrollverlust und nicht zuletzt die Angst vor der Angst bzw. davor, von anderen erkannt zu werden – bei all diesen Angstformen kann nicht gesagt werden, dass sie muslimische Patienten häufiger oder weniger häufig befallen, als dies bei westlichen Patienten der Fall ist. Entsprechend unterscheiden sich auch die Bewältigungsstrategien nur unwesentlich, auch wenn wir verhaltenstherapeutische Instrumente für geeigneter halten als psychodynamische. Wir werden in Kapitel 4 diese Instrumente vorstellen und die Begründung dafür geben, warum verhaltenstherapeutische Methoden unseres Erachtens eine größere Kultursensibilität mit sich bringen.

3.3 Depression Im Zusammenhang mit dem Erkrankungsbild der Depression tritt die Verquickung von kulturell bedingten Phänomenen und dem besagtem Störungsbild äußerst deutlich auf. Nicht zuletzt die Tatsache, dass die Depression selbst vielerorts als ein kulturgebundenes, westliches Syndrom angesehen wird, verhindert den unveränderten Transfer von Diagnoseprofilen in eine andere kulturelle Lebenswelt. Bevor eine Depression diagnostiziert wird, muss die Verbalisierung der Symptome durch den muslimischen Patienten genau beachtet werden.

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Depression

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Das Nebeneinander zahlreicher, teils kompatibler, teils einander ersetzender Diagnoseinstrumente versperrt zudem den Weg zu einer Übertragung von Störungsprofilen. Eine der größten Schwierigkeiten bei der Diagnostizierung depressiver Perioden bei Patienten islamischen Hintergrunds ist das richtige Einordnen des Vokabulars, das der Befindlichkeit des Patienten Ausdruck verleiht. Da die Artikulation von Emotionen stark kulturgeprägt ist und die westliche Begrifflichkeit einer inneren Unzufriedenheit, Niedergeschlagenheit und Antriebslosigkeit im Gegensatz zur muslimischen Praxis oft mit starker Reflexivität und eigener Gefühlsergründung vonstatten geht, erweist sich der Transfer westlicher Terminologie als nicht selten verfehlt und irreführend. Die bereits mehrmals beschriebene Feststellung einer weniger stark ausgeprägten Unterscheidung somatischer und psychischer Beschwerden trägt ihren Teil zur Verwechslung von Symptomzuweisung, -benennung und -behandlung bei (siehe Kapitel 4). Auch innerhalb des islamischen Kulturraumes lässt sich die Intensität des Gefühlsausdrucks in seiner ganzen Bandbreite nachweisen. Als Beispiel soll hier die Gegenüberstellung der palästinensischen Kulturgruppe mit der persischen dienen. Bei Palästinensern lässt sich eine systematische Unterdrückung von öffentlich bekundeter Trauer feststellen, während innerhalb der iranischen eine ostentative Äußerung von Trauer als erwünscht angesehen wird (Good u. Good, 1982). Andere Studien, die im Zusammenhang mit dem depressiven Krankheitsbild durchgeführt wurden, belegen Annahmen, dass bei islamisch sozialisierten Patienten von westlichen Patienten abweichende Charakteristika vorliegen: darunter höhere Somatisierungsgrade, häufi© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40172-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-40172-0

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gere Selbstmordgedanken bei gleichzeitig relativ geringer Suizidrate, wenig ausgeprägte Schuldgefühle bei stark wirkenden Beschämungsängsten und die erkennbare Tendenz, die eigene Verantwortbarkeit auszuschließen und stattdessen auf externe Kräfte zu verweisen (für Ägypten: Abd El-Gawad, 1995; für die Türkei: Tuncer, 1995).

3.4 Persönlichkeitsstörungen Psychische Störungsbilder innerhalb des Konstrukts »Persönlichkeit« manifestieren sich bei islamisch sozialisierten Patienten meist nach Eintritt in eine neue, fremde Mehrheitsgesellschaft, die in ihrer Wertegrundierung von der Heimatgesellschaft stark abweicht. Antisoziale oder paranoide Züge können so eine Persönlichkeit im Transitionsstadium verändern. Der Eintritt in eine fremde Gesellschaft kann antisoziale und paranoide Züge hervorrufen.

Für weniger anpassungsfähige und sehr abrupt migrierende Muslime lässt sich z. B. eine auffällige BorderlineErkrankungsrate feststellen (Murphy, 1982). Innerhalb dieses Störungsbildes finden sich ferner charakteristische Unterschiede zur Symptompalette westlicher Patienten: Muslime weisen eine geringer ausgeprägte Schizoidität auf und beschreiben sich seltener als von einem Gefühl der Leere befallen. Der Kulturfaktor muss auch bei weniger exponierten Symptomen Berücksichtigung finden, so z. B., wenn es sich um ein scheinbares Abhängigkeitsverhältnis zwischen © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40172-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-40172-0

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Patient und dessen Familie handelt, in dem selbständige Entscheidungen dem Familienrang untergeordnet werden. Entsprechende Assessment-Anstrengungen (s. Kapitel 4.3: Einschätzung des Patienten) müssen im Vorfeld die therapeutische Arbeit absichern.

3.5 Psychotische Störungsbilder Das Bestehen interkultureller Unterschiede innerhalb der Symptomatik von Schizophrenie-Patienten ist in einer Serie von Studien bestätigt worden (WHO, 1973, 1979; Ndetei u. Vadher, 1984; Lin u. Kleinman, 1988). Psychosen verlaufen bei Muslimen öfter ohne Wahnvorstellungen, sind jedoch häufiger von affektiver Bipolarität gekennzeichnet.

Studien, in denen ägyptische Schizophrenie-Patienten mit britischen und amerikanischen verglichen worden sind, brachten ein signifikant unterschiedliches Symptomranking hervor: Affektive Bipolarität, gedankliche Zerstreuung, kognitive Blockade und Apathie wurden unter Muslimen wesentlich höher eingestuft als in der westlichen Vergleichsgruppe. Das Auftreten von Wahnvorstellungen war hingegen das zweithäufigste Symptom in der US-Gruppe, während es erst an zehnter Stelle im ägyptischen Sample verortet war (Abd El-Gawad, 1995). Okasha hält ferner ein Durchgangssyndrom für die am häufigsten gestellte Diagnose in seiner an ägyptischen Schizophrenie-Patienten durchgeführten Studie. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40172-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-40172-0

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Hier waren Halluzinationen wiederkehrende Einzelsymptome, die durch Stress ausgelöst wurden und die durch eine rasche Besserung charakterisiert waren (Okasha, 1999).

3.6 Beeinträchtigung von Sexualfunktion und Sexualerleben Bedenkt man den Tabuisierungsgrad, mit dem sexuelle und körperlich-erotische Handlungen innerhalb der muslimischen Lebenswelt belegt sind, bergen Störungen der sexuellen Aktivität bei Mann und Frau (wenn auch unter verschiedenen Vorzeichen) das größte Potential interkultureller Missverständnisse. Neben gesellschaftlich institutionalisierten Verhaltensnormen, wie Verheiratung Minderjähriger und Untersagung außerehelicher Sexualität, sowie der starken Tabuisierung von Homosexualität finden sich Erkrankungsauffälligkeiten, die überwiegend aus dem ungleichen Geschlechterverhältnis resultieren. Die oft und gerade in ländlichen Räumen arabischislamischer Kultursphären vorzufindende Auffassung, Frauen stünden Lust und Genuss an sexuellen Handlungen nicht zu, führt zur Gefahr einer erhöhten Anfälligkeit unter Frauen für pathophysiologische Erscheinungen im Umfeld der Sexualität. Die starken Konventionen im Sexualleben der Muslime können zu einem sehr dysfunktionalen Liebesleben führen.

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Nicht zuletzt der psychische Druck, der auf einer jung vermählten Braut lastet und der aus der Erwartungshaltung der sozialen Umwelt bezüglich ihrer »Kapazität« gespeist wird, führt zu einem erhöhten Auftreten von Vaginismus (Dwairy, 2006). Diese und weitere Erscheinungen werden von der islamischen Kultur als normal betrachtet. Zu jenen weiteren Störungsbildern zählen hauptsächlich Anorgasmie (regelmäßiges Ausbleiben des Orgasmus), Coitophobie (Furcht vor dem Geschlechtsverkehr) und Androphobie/Phallophobie (Furcht vor dem männlichen Geschlecht) bis hin zur Dyspareunie (fehlendes Wolllustgefühl bei der Frau infolge schmerzhaften, sexuellen Erlebens), die nicht selten zu völliger Anaphrodisie (Ausbleiben sexueller Lust) und Misandrie (Männerhass) führt. Auf Seiten des Mannes ist ein im westlichen Verständnis eher krankhaftes Phänomen – die frühzeitige Ejakulation – hingegen Ausdruck außergewöhnlicher Potenz, während Erektionsprobleme wiederum für den Mann und sein soziales Umfeld gravierende Erscheinungen darstellen. Zusammen mit dem Vaginismus sind Erektionsprobleme die am häufigsten gestellten sexualitätsbezogenen Diagnosen bei muslimischen Patienten (Dwairy, 2006). Diese sexuelle Symptomatologie wird vor allem durch außerprivate bzw. familiale Erwartungskulissen ausgelöst, die um die Ehepartner aufgebaut werden. Diese externen Faktoren bündeln sich in der bereits erwähnten Heiratspsychose: Während das frisch vermählte Paar sich zurückzieht, versammelt sich die Familie vor dem entsprechenden Raum und wartet den Ausgang der Vorgänge ab. Dabei spielen Problemkreise wie Virginität, das Eintreten vaginaler Lubrikation, erfolgreiche Erektion und Ejakulation naturgemäß die Hauptrolle. Sollten die Erwartungen nicht erfüllt werden, treten nicht nur kri© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40172-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-40172-0

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senhafte innerpsychische und interpersonale Zustände bei der Geehelichten auf, sondern Scham und Erniedrigung bei den Familienangehörigen. Auch wenn dieses westlich sozialisierten Beobachtern extrem erscheinende Brauchtum vor allem in urbanen Räumen und unter Auswanderergruppen an Bedeutung verliert, illustriert es doch in eindringlicher Weise, wie ritualisiert und damit andersartig Sexualität in traditionell-islamischen Gesellschaften gelebt wurde und zum Teil bis heute noch gelebt wird.

3.7 Zwischen Segregation und Integration: Generationenkonflikte in muslimischen Migrantenfamilien Mit der ersten Anwerbungswelle türkischer Arbeitskräfte Anfang der 1960er Jahre kamen überwiegend männliche Arbeitnehmer zwischen 20 und 40 Jahren. Damit finden sich in Deutschland inzwischen drei Generationen türkisch-muslimischer Zuwanderer bzw. deren Nachkommen. Die ersten Untersuchungen zum Thema »Intergenerationsverhältnis innerhalb türkischer Familien« datieren aus den 1980er Jahren. Intergenerationenkonflikte bei Muslimen sind oft auch Konflikte zwischen Heimat- und Gastkultur.

Die Erhebungen kreisten dabei hauptsächlich um die intrafamilialen, intergenerationalen Konflikte, die daraus erwachsen, dass Jugendliche verstärkt kulturelle Wertesys© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40172-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-40172-0

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teme aus der Peergroup übernehmen, die sich von denen der Elterngeneration wesentlich unterscheiden bzw. sogar diametral entgegengesetzt sind (Thomas, 1989). Andere Studien richten ihr Augenmerk auf die Art der Durchführung einer Ablösung von der Heimatkultur (der türkischen) und die Folgen dieser Ablösung. Silbereisen et al. (1989) konstatieren hierzu die Bereitschaft zu Normübertretungen, Alkoholmissbrauch und Gewalt, Verhaltensweisen, die gleichsam Methode und Auswirkung einer grundsätzlichen Ablösung sind. Nicht immer muss aber dieser Generationenkonflikt in einer offenen Rebellion der jüngeren gegen die ältere enden. Nicht selten herrscht ein lang andauernder Doppelstatus bei Zuwandererkindern, der aus einer westlichen, akkulturierten Außer-Haus-Identität und einer islamkonformen, traditionsbehafteten Zuhause-Identität besteht. Diese Doppelidentität zeigt sich im Widerspruch zwischen der säkularen Sozialisation außerhalb der elterlichen Reichweite und der religiösen innerhalb dieser. Das oben beschriebene Nebeneinander von mosayara und istighaba zeigt sich im Intergenerationenverhältnis also noch einmal ganz deutlich.

Fallbeispiel 2: Aus dem Doppelleben eines Migrantenkindes

Hudda (17) ist Einwandererkind zweiter Generation, also geboren und aufgewachsen in Deutschland. Ihre Eltern kamen Ende der 1970er Jahre im Zuge der iranischen Revolution hierher. Seit einigen Jahren lebt Hudda ein Doppelleben. Zu Hause versucht sie der von ihren Eltern erwünschten Lebensweise Rechnung zu tragen, während sie, sobald sie © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40172-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-40172-0

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das Haus verlässt, mit ihren Freundinnen in eine neue Rolle schlüpft. Zu ihrem täglichen Verwandlungsprozess gehört, dass sie in ihrer Tasche Make-up, Haarspray, Kleider und dergleichen aus dem Haus schmuggelt. Im Schulbus, der Schultoilette oder dem Klassenzimmer wird dann oft aus Hudda eine Person, die ihre Eltern nur mehr schwerlich wiedererkennen würden. Zigaretten, Alkohol und Partys bei Freunden sowie der wochenendliche Diskobesuch sind ihr von ihren Eltern untersagt worden. Oft genug muss sie sich deshalb möglichst plausible Vorwände ausdenken, um wenigstens abends etwas länger ausbleiben zu dürfen oder am Wochenende bei einer Freundin zu schlafen; vor allem nachdem ihre Eltern zufällig Zigaretten in ihrem Zimmer fanden und sie einige Male die vereinbarte Zeit, zu der sie zu Hause sein sollte, nicht einhielt. Ihr Freund, mit dem sie seit einem halben Jahr unter diesen Umständen versucht zusammen zu sein, hat ihr bereits gestanden, dass er diese Beschränkungen, unter denen Hudda lebt, nur schwer nachvollziehen kann und dass er nicht weiß, ob die ganze Sache Sinn hat angesichts der Umstände. Er hat ihr geraten, sich über den Willen ihrer Eltern einfach hinwegzusetzen und sich so mehr Freiheiten zu erkämpfen. Hudda ist verzweifelt, ihre schulischen Leistungen haben sich zudem in den letzten Monaten verschlechtert. Sie merkt, dass sich in ihr Unmut anstaut gegen ihre Eltern und gegen die Traditionen, mit denen sie außer in ihrer Familie nirgendwo in Berührung kommt. Ein Ansatz für therapeutisches Wirken bestünde nun darin, Huddas erstarkendes Selbstbewusstsein zusätzlich zu bestätigen und sie in ihrem Kampf für mehr Freiheiten und gegen islamische Gebote zu bestärken. Allerdings sollte diese Strategie nicht in einem kulturell leeren Raum © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40172-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-40172-0

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ausgeführt werden. Es kann nicht verleugnet werden, dass in diesem Beispiel Konfliktlinien sowohl entlang der Generationsfrage als auch der Frage der Sozialisation und damit der kulturellen Prägung verlaufen. Eine Strategie, die das kulturelle Fundament verkennt, auf dem die Sozialisation von Huddas Eltern steht, würde mit großer Wahrscheinlichkeit die Familienfehde zusätzlich befeuern und Huddas Zwiespalt vertiefen. Um dem Dilemma aus Generations- und Kulturkonflikt zu entgehen, schiene es daher angebracht, wenn Hudda, die den Islam kennt und ihn größtenteils überzeugt zu leben versucht, sich einige islamische Lehrsätze zu eigen machte. So der Hinweis, dass der Koran nicht explizit das Rauchen untersagt und bei Alkohol durch frühe Koranstellen (Al-Baqara #219), die von Alkohol lediglich abraten, späteren Verboten widerspricht. Sure 11 (Al-Ra’ad) spricht davon, dass Gott keine Menschen ändern kann, bevor sie sich nicht selbst ändern. Diese Sentenz könnte die strengen Verhaltensregeln, die Huddas Eltern vermitteln, etwas entschärfen.

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4 Allgemeine Bausteine einer kultursensiblen Psychotherapie mit muslimischen Patienten

4.1 Grundlagen kultursensibler Psychotherapie Hinter dem Begriff der kultursensiblen Psychotherapie steht die Auffassung von einer Psychotherapie, die jene Besonderheiten berücksichtigt, die aufgrund eines bestimmten kulturellen Hintergrunds auftreten, d. h. aufgrund der Werte, Verhaltensnormen und Glaubenseinstellungen, die der sozialen Gemeinschaft zugehörig sind, aus der die betreffende Person stammt. Es geht also darum, einen Begegnungsraum zu schaffen, in dem diese Besonderheiten thematisiert werden können, ohne sie infrage zu stellen, und so Lösungen unter Berücksichtigungen dieser Besonderheiten zu finden. Kultursensibilität meint weder Kulturalismus noch Kulturrelativismus.

Die Gefahren von Ethnozentrismus, Stereotypisierung, Schematisierung und allzu grober Vereinfachung sind dabei bei allen Akteuren des Gesundheitssystems groß – bei Behandelnden und Behandelten gleichermaßen. Sowohl Überbetonung als auch Verleugnung der kulturellen Unterschiede – zwei häufig nachweisbare Reaktionen von Therapeuten – sind also problematisch. Eine kultursensible Psychotherapie will verstehen, © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40172-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-40172-0

Grundlagen kultursensibler Psychotherapie

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wie Symptomatik und Krankheitsverarbeitung kulturell geprägt sind, um sich dieses Wissen für Diagnostik, Heilung und Planung zunutze zu machen. Im Folgenden sollen die Eckpfeiler einer solchen Therapie vorgestellt werden. Das Konzept der kulturellen Kompetenz wurde Ende der 1980er Jahre in den USA entwickelt und ist seit mehr als zehn Jahren fester Bestandteil der Richtlinien der American Psychological Association. Es umfasst Wissen, Verhalten und Einstellungen der Akteure der gesundheitlichen Versorgung. In diesem Konzept befinden sich: 1. Neugier auf Fremdes (cultural sensitivity), 2. Empathiefähigkeit (cultural empathy), 3. Möglichkeit und Bereitschaft, Beziehungen kulturell sinnvoll zu gestalten (adjustment of culturally relevant relations), 4. Bereitschaft seitens des Behandelnden, therapeutische Ziele zu formulieren, die verträglich sind mit dem kulturellen Hintergrund des Patienten (establishment of ability for cultural guidance). Es handelt sich hierbei also um die Grundbedingung des Umgangs mit Patienten, die einen migratorischen Hintergrund mitbringen: die Anerkennung kultureller Unterschiede zwischen der eigenen und der Fremdkultur.

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4.2 Von Hotspots, Hottopics und Hotwords: Grundlagen interkultureller Kommunikation Ein Bereich, der von besonderer Bedeutung für das Gelingen einer Psychotherapie ist, ist zweifelsohne die Kommunikation. In der interkulturellen Forschung wird dieser Bereich nicht umsonst als Hotspot bezeichnet, also als heiße Stelle in der interkulturellen Begegnung, bei denen sich Gesprächspartner die Finger (besser: die Zunge) verbrennen können (Heringer, 2004). Solche Hotspots finden sich zum Beispiel bei generellen Fragen des Gefühlsausdrucks, des Konversationsstils und der Beziehungsebene. − Gefühlsausdruck und Umgang mit Gefühlen in der kommunikativen Interaktion: Hierzu werden Gesprächsumstände in den Blick genommen: Begrüßung, Anrede, Sprachtempo und -lautstärke sowie Sprechfolge. Im Allgemeinen kann gesagt werden, dass im türkischen und arabischen Raum (aber auch in Südeuropa und Lateinamerika) mehr, schneller und lauter gesprochen wird. Gegenseitige Unterbrechung oder gleichzeitiges Reden sind ebensowenig Ausdruck von Unhöflichkeit, sondern schlichtweg Teil der Gepflogenheit. Für die Begrüßung gilt, dass streng gläubige Muslime nicht die Hand reichen, sondern diese auf die Brust legen. Generell sind körperliche Berührungen zwischen gegengeschlechtlichen Gesprächspartnern unüblich. Interkulturelle Kommunikation ist voller Hotspots – also »heiße Stellen«, bei denen besondere Vorsicht geboten ist.

Auf die Frage, ob es dem Patienten gut geht, ist eine Bejahung dieser Frage keine Garantie, dass dies tat© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40172-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-40172-0

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sächlich so ist. In einem frühen Verlaufsabschnitt des Gesprächs sind offene Bekundungen der wirklichen Befindlichkeit eher selten. Siezen ist im türkischen (und kurdischen) Raum eher unüblich, entsprechend ist der Vorname und nicht der Nachname für gewöhnlich die bevorzugte Anrede. Türkische Frauen, auch wenn sich nicht miteinander verwandt sind, bezeichnen sich oft als Schwestern (abla), Männer als Brüder (abi). Akademische, militärische oder politische Titel sind hingegen bei der Anrede stets zu nennen. Hinsichtlich des Blickkontakts ist zu sagen, dass bei gegengeschlechtlichen Gesprächspartnern selten ein längerer Augenkontakt zustande kommt. Ein intensiver Augenkontakt wird gemeinhin als Annäherung (bei gegengeschlechtlichen Gesprächspartnern) oder als Aggression (bei gleichgeschlechtlichen Gesprächspartnern) verstanden und entsprechend eingesetzt. − Konversationsstil: Hier stehen sich direkte und indirekte Kommunikationsstile gegenüber. In westlichen Kulturen ist es üblich, Sachverhalte präzise, differenziert und explizit auszuformulieren. Im islamischen Kulturraum hingegen bleiben Symptombeschreibungen und Selbstdiagnosen oft diffus und implizit, indem sie sich nonverbal äußern. Es ist daher unerlässlich, als Therapeut zwischen den Zeilen zu lesen. Dass Mitteleuropäer in anderen Kulturen oft als kalt und brüsk wahrgenommen werden, liegt an der prompten und analytischen Bezugnahme zum Gegenstand der Konversation. Umschreibungen, Ausschmückungen, Hinleitungen zum Thema und diskrete Paraphrasierung werden hierzulande zuweilen als störend und unnötig aufgefasst. Genau diese Attribute gehören aber zum Konversationsstil im islamischen Raum. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40172-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-40172-0

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− Beziehungsebene: Gemeinhin wird zwischen Sachebene und Beziehungsebene unterschieden. Während in Ersterer inhaltlich gearbeitet wird und das Ziel die möglichst effektive Problemlösung ist, steht auf der Beziehungsebene der Aufbau einer Vertrauensebene im Vordergrund. Muslimische Patienten (aber nicht nur diese) beklagen oft das Fehlen genau dieser persönlichen Atmosphäre im deutschen Gesundheitssystem, das nach Kosten-Nutzen-Kalkülen funktioniert, sich damit auf der Sachebene bewegt und den zeitintensiven Brückenschlag zwischen Behandelndem und Behandeltem nicht vollbringen kann. Für die Psychotherapie gilt das Gebot, die Beziehungsebene stärker zu berücksichtigen, natürlich in besonderem Maße. Denn nur ein Patient, dem merklich Wertschätzung entgegengebracht wird und der sich geborgen fühlt, wird sich öffnen und mit umso größerer Compliance den Therapieverlauf begleiten. Tabelle 3: Hotspots im westlich-muslimischen Vergleich westliche Gesellschaften Umgang mit Gefühlen emotionale Kontrolle Konversationsstil direkt Beziehungsebene sachorientiert Kulturstandards

muslimische Gesellschaften Expressivität indirekt beziehungsorientiert

Hottopics sind brisante Themen in der interkulturellen Begegnung.

Neben den Hotspots in der interkulturellen Begegnung finden sich auch zahlreiche Hottopics, also solche Themen, die mit einem hohen Tabuisierungsgrad belegt sind und deshalb mit besonderer Behutsamkeit behandelt werden müssen. Dazu gehören zum Beispiel: © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40172-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-40172-0

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− Familiäre Probleme und Intimes (insbesondere Sexualität und Homosexualität): Vor allem, wenn es sich um einen gegengeschlechtlichen Gesprächspartner sowie einen nichtmuslimischen Therapeuten handelt, wird sich der Klient entsprechend reserviert verhalten. Bei Fragen der Homosexualität kann es jedoch gerade für den muslimischen Patienten befreiend wirken, einen nichtmuslimischen Therapeuten vor sich zu haben. − Familienstand: Es gilt als Makel, nicht verheiratet zu sein. − Kinder außerhalb der Ehe: Es ist verboten, außerhalb der Ehe Geschlechtsverkehr zu haben. Eine ledige Frau, die Kinder hat, wird demnach dieses Thema mit Diskretion behandeln. − Kinderlosigkeit: Ab einem bestimmten Alter (frühestens seit der Geschlechtsreife) gilt es in muslimischen Kulturen als problematisch, wenn die Frau keine Kinder zur Welt bringt. Damit wird vom Umfeld oft eine Nichterfüllung fraulicher Pflichten assoziiert. Die Betroffene reagiert entsprechend beschämt. − Schwangerschaft: Vor allem mit einem männlichen Therapeuten wird eine Muslima über dieses Thema nur ungern reden. Oft sind die »heißen Themen«, die sich an »heißen Stellen« ansiedeln, obendrein noch mit »heißen Wörtern« belegt – Hotwords, die eine ganz besondere Konnotation mit sich bringen, je nachdem in welcher Kultur sie zum Ausdruck kommen. Zwei Beispiele sollen hierzu gegeben werden: die Bedeutung der Organe Leber und Galle im deutsch-türkischen Vergleich.

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Tabelle 4: Hotwords im deutsch-türkischen Vergleich (Heringer, 2004) Hot- symbolische Bedeutung im word Deutschen Leber trockene Leber haben → Durst haben es muss herunter von der Leber → es kann nicht länger verschwiegen werden frei von der Leber reden → ungehemmt sagen, was man denkt jemandem ist eine Laus über die Leber gelaufen → jemand ist über etwas verärgert

Galle jemandem läuft die Galle über → Wut Gift und Galle speien → Wut

symbolische Bedeutung im Türkischen Leberschmerz [ciğer acisi] → Verlustschmerz in die Leber arbeiten [ciğerine iplemek] → Mitleid haben die eigene Leber durchbohren [ciğerini delmek] → jemanden sehr kränken seine Leber brennt [ciğeri yanmak] → einen großen seelischen Schmerz verspüren seine Leber ist keine fünf xxx wert [ciğeri bep para etmez] → ein unnützer Mensch sein Ecke meiner Leber [ciğerimin köpesi] → Liebling, geliebtes Kind Galle werfen [safra atmek] → schädliche Personen fernhalten Galle drücken [safra bastirmak] → Hunger stillen seine Galle aufgehen [safrasi kabarmak] → Übelkeit vor Hunger

Während die Leber im deutschen der Ort ist, der entweder mit Durst bzw. Alkohol oder dem ungenierten Aussprechen von unliebsamen Tatsachen assoziiert wird, steht sie im Türkischen vor allem für seelischen Schmerz, der sich oft als Folge einer Verlusterfahrung einstellt.

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Hotwords sind stark kulturabhängig konnotiert und deshalb mit Vorsicht zu interpretieren.

Für die Galle gilt, dass sie im Deutschen sehr oft in Verbindung mit Wut und Hass benutzt wird, im Türkischen hingegen eher als metaphorische Wendung für Hunger bzw. Selbstschutz zu verstehen ist. An diesen beiden Somatismen wird deutlich, wie stark Bedeutungen je nach Kulturraum variieren können und wie groß hier die Gefahr von Fehldeutungen und Missverständnissen ist. Auch die allseits bekannte Anekdote des Eheberaters, der in einem Beratungsgespräch seinen türkischen Klienten, nachdem dieser ihm seine Eheprobleme eindringlich geschildert hatte, ihn nichtsahnend als »armes Schwein« bezeichnet, kann Aufschluss über semantische Tretminen geben. Auf die unbekümmert geäußerte Bemerkung des Eheberaters folgte sogleich ein Wutausbruch und Gesprächsabbruch seitens des Klienten – gilt doch das Schwein in der muslimischen Kultur als niederes, unreines Tier. Derartige Beispiele, von denen es noch weitaus mehr gibt, veranschaulichen, wie nuanciert Sprache in kulturell spezifischen Kontexten eingebettet ist und wie sehr daher Vorsicht geboten ist. Es geht also um die Fähigkeit, effektiv und angemessen mit Angehörigen anderer ethnischer Gruppen und in fremdkultureller Umgebung kommunizieren zu können. Dazu gehören die Einnahme einer empathischen Perspektive gegenüber Migranten ebenso wie der Versuch, Vorurteile abzubauen, ohne Unterschiede zu verkennen, um im nächsten Schritt diese Unterschiede zu respektieren.

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4.3 Die Einschätzung des Patienten Das in den vorangehenden Kapiteln skizzierte Bild traditioneller muslimischer Realitäten wird natürlich relativiert durch die unterschiedlichen Faktoren, wie sie sich in Form von Auswanderung, Verstädterung, Industrialisierung und informationstechnischer Globalisierung finden lassen. Trotz aller Kulturstandards – vor jeder Therapie muss der Patient individuell eingeschätzt werden.

Dabei erfährt jeder Patient eine ihm eigene Prägung, die sich je nach Dauer und Intensität des Akkulturationsprozesses verändert. Aus dieser unterschiedlichen Gradierung ergibt sich eine Skala, an deren einem Ende sich der traditionelle, nach Scharia urteilende, religiös-praktizierende, bildungsferne Muslim befindet, der den Großteil seines Lebens in einem muslimischen Land verbracht hat. Am anderen Ende dieser Skala steht ein westlich sozialisierter, säkular-rational wertender, unreligiöser, bildungsnaher und in Deutschland geborener Muslim in dritter Generation einer Gastarbeiterfamilie. Diese beiden Pole legen damit ein kulturelles Kontinuum fest (Abb. 4).

individualisiert kollektivistisch wenig gläubig streng gläubig Kulturkontinuum urban ländlich bildungsnah bildungsfern

Abbildung 4: Kulturkontinuum bestehend aus zwei einander entgegengesetzten lebensweltlichen Extremen

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Die Einschätzung des Patienten

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Selbstredend lassen sich dazwischen die unterschiedlichsten Nuancierungen finden. Es ist daher unerlässlich, vor Beginn einer Psychotherapie den Patienten hinsichtlich seiner Dispositionen und seiner Konstitution einzuschätzen, um ihn innerhalb des genannten Kontinuums verorten zu können. An dieser Stelle sollen deshalb einige Werkzeuge vorgestellt werden, die diese Evaluation ermöglichen. Reflexion und Akkulturation als Schlüssel zur Einschätzung des Patienten.

Ausgangspunkte sind dabei Weltanschauung, Akkulturation und Familienbezug (Dana, 1993; Ibrahim et al., 1994). Unter Weltanschauung soll in diesem Zusammenhang die subjektive Bewertung des Betroffenen in Bezug auf seine Beziehung zu den Menschen in seinem Umfeld, den Institutionen, der natürlichen Umwelt etc. verstanden werden. Akkulturation beschreibt hier das Hineinwachsen einer Person in eine ihr fremde Kultur. Die Kategorien Weltanschauung und Akkulturation lassen sich dabei anhand von sechs Kriterien aufschlüsseln (Grieger u. Ponterotto, 1995): 1. Reflexionsgrad des Patienten, 2. Reflexionsgrad der Familie des Patienten, 3. Meinung des Patienten und dessen Familie über Psychotherapie, 4. Akkulturationsgrad des Patienten, 5. Akkulturationsgrad der Familie des Patienten, 6. Meinung der Familie über die Akkulturation. Es obliegt dem Therapeuten daher, die Weltanschauung als Messkategorie des Individualisierungsgrads zu benut© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40172-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-40172-0

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zen, indem er das Profil des Patienten dem seiner Familie gegenüberstellt. Angelpunkt dieses Einschätzungsschlüssels ist nicht zuletzt der Reflexionsgrad des Patienten, der sich in erster Linie durch die Fähigkeit zur Selbstbeobachtung und zur (von der Therapie) unabhängigen Problemanalyse verstehen lässt. Um den Patienten anhand der beiden vorgestellten Kriterien entsprechend einschätzen zu können, bieten sich zum Beispiel Leitfadeninterviews an, um sowohl die Weltanschauung des Patienten als auch die seiner Familie offenzulegen. Zentrale Fragen kreisen dabei um die Bereiche Werte, Bedürfnisse, Sorgen, Ängste, Ziele, Problemlösungsstrategien und Verhaltensregeln. Dabei soll der Patient zunächst seine eigenen Positionen zu genannten Fragebereichen nennen, um im Anschluss aus seiner Perspektive auch die von ihm unterstellten Positionen seiner Familie vorzubringen. Um sich in Bezug auf die Aussagekraft der Antworten abzusichern, ist es überdies ratsam, auch die Familie nach gleicher Vorgehensweise zu interviewen. Nicht wenige Untersuchungen lassen den Schluss zu, dass nichtwestlich sozialisierte Patienten abgeänderte Testverfahren und in unserem Fall abgeänderte Interviews benötigen (De Vos u. Boyer, 1989). Die Gründe hierfür liegen zum Teil in der Unvertrautheit mit prüfungsähnlichen Situationen oder mit der Aufforderung, frei zu assoziieren bzw. ungelenkt Inneres zu offenbaren. Ein Beispiel hierfür wäre der Rorschach-Test, in dem die starke Umweltabhängigkeit von muslimischen Patienten reproduziert und infolgedessen Ergebnisse verzerrt würden. Analphabetismus (der zumindest in der älteren Generation von Muslimen vorzufinden ist) oder Leseschwä© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40172-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-40172-0

Der Koran als therapeutischer Ratgeber

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chen sind andere Gründe, die schriftliche Tests vorneweg unmöglich machten. Dies sollte berücksichtigt werden, da eine Aufdeckung dieser Schwäche möglicherweise auch zu Scham auf Seiten des Patienten führen kann. Während es an Konzepten, die die Beziehung zwischen Individuum und seinem sozialem Umfeld erfassen wollen, nicht mangelt, finden sich nur vereinzelte Ansätze zur Gegenüberstellung des Einzelnen mit seiner physischen Umwelt. Dwairy (2001) greift die Methodik Winnicotts (1953) auf und unterstellt dabei physischen Objekten eine ihnen innewohnende Ladung, die aus Erinnerungen, Gefühlen und weiteren subjektiven Konnotationen besteht. Er nennt seine Vorgehensweise »Talking about significant objects« (TASO; Über bedeutende Objekte reden). Besagte Objekte werden demnach vom Patienten selbst ausgesucht (darunter können sich Schmuck, Bücher und Kleider befinden) und sollen in ihm Erinnerungen hervorrufen, die wiederum die Entstehung psychosozialer Krisen zu rekonstruieren helfen. Das physische Objekt, das hier als Medium bzw. Vehikel Anwendung findet, ersetzt dabei die explizite und oftmals den Patienten (und in besonderem Maße den traditionell-muslimischen Patienten) überfordernde Aufforderung, sein Inneres offenzulegen. Diese Methode eröffnet auch die Möglichkeit, einer treffenden Einschätzung des Patienten ein Stück näher zu kommen.

4.4 Der Koran als therapeutischer Ratgeber Die zentrale Bedeutung des Korans in der islamischen Geisteswelt und seine sich immer wieder aufs Neue aktualisierende Exegese legen nahe, seine Inhalte therapeutisch © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40172-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-40172-0

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nutzbar zu machen. Der nichtmuslimische Psychotherapeut ist dabei nicht angewiesen, Sure für Sure zu studieren. An dieser Stelle wird deshalb auch nicht versucht, eine vollständige psychotherapeutisch zweckmäßige Exegese des Korans zu liefern. Lediglich einige Problemkreise sollen beispielhaft skizziert werden, um die Anwendung des Korans und der qeyas (Lehrsätze) zu veranschaulichen. Die Lehrsätze des Koran können als kultursensibles Instrument genutzt werden.

Eines der augenfälligsten Konfliktfelder findet sich im Verhältnis zwischen Mann und Frau. Ein systematischer Gebrauch des Korans kann bei geschlechtsspezifischen Konflikten entsprechend Wege eröffnen, die aus dem Dilemma herausführen, das sich aus kollektivistischer Kultur einerseits und Individualisierungstendenzen andererseits ergibt.

Fallbeispiel 3: »Meine Tochter wird kein Arzt«

Manolya (49), die vor sieben Jahren im Zuge einer Familienzusammenführung aus der Türkei nach Deutschland kam und sich in ihrer ersten Psychotherapie befindet, erzählt in ihrer dritten Sitzung von einem nun schon mehrere Wochen andauernden Streit mit ihrem Mann über die Zukunft ihrer 18-jährigen Tochter Sabiha. Sabiha hat gerade ihr Abitur mit guten Noten zu Ende gebracht und wünscht sich, Medizin zu studieren. Das ist auch der Wunsch von Manolya. Der Vater der Familie lehnt jedoch ein Studium ab. Nach seiner Meinung ist höhere Bildung und berufliche Karriere nicht das, wonach Frauen streben sollten. Erst recht nicht © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40172-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-40172-0

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Medizin, wo doch Ärzte es ständig mit nackten und vor allem männlichen Patienten zu tun haben. Manolya steht kurz davor, ihre Tochter ohne Wissen des Vaters an der Universität anzumelden. Sabiha hat bereits den Entschluss gefasst, von zu Hause auszuziehen und mit dem Vater den Kontakt abzubrechen. Die Situation droht zu eskalieren. Als Antwort auf den vom Vater untersagten Wunsch der Tochter, eine höhere Bildungseinrichtung zu besuchen, ließe sich nun auf den ersten Vers des Korans verweisen. Hier heißt es explizit, dass Gläubige sich der Lektüre und Bildung (und allgemein: intellektueller Aktivität) widmen sollen (der arabische Schlüsselbegriff ist hierzu iqra, der wortwörtlich »Rezitation« beschreibt). Dem sich sträubenden Ehemann und Vater kann ebenso die Rolle der jüngsten Frau des Propheten Mohammed, Aischa, geschildert werden. Sie kümmerte sich um Belange in Politik, Religion und Kriegsführung, also traditionell männliche Domänen. Auch Mohammeds erste Frau, Khadija, war eine erfolgreiche Geschäftsfrau; sie war 15 Jahre älter als er. Alle Frauen Mohammeds (mehr als zehn an der Zahl) konnten sich frei bewegen und waren engagiert in gesellschaftlichen Belangen. In Bezug auf Verlusterlebnisse und akute Stresseinwirkungen empfiehlt sich der Verweis auf den Determinismus, der im islamischen Daseinsverständnis verankert ist (die arabische Entsprechung ist maktub). Botschaften, wie sie sich in den Suren 19, 51 oder 169 finden lassen, bauen auf Begriffen wie Fatalismus, Vorherbestimmung und Ergebung in das Schicksal sowie Gottesfürchtigkeit auf. Derartige Leitsätze können bei identitätserschütternden Krisen Anleitungen zum Verarbeiten der Problemlagen geben. Gerade bei Todesfällen sind gegenüber religiösen © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40172-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-40172-0

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Patienten Verweise auf ein Leben nach dem Tod hilfreich, um Stress abzubauen. Bei Schiiten ist zudem der Hinweis auf die Wiedergeburt der Seele ein Weg, Schmerz zu lindern. Der Koran kann bei Ehestreitigkeiten, Gewalt und Verlusterlebnissen hinzugezogen werden.

Ein anderer Themenbereich, der sich mit Koranbotschaften therapeutisch angehen lässt, findet sich im Hinblick auf Gewalt und Aggressionen. Auch wenn der Koran und seine Auslegung zum Teil widersprüchlich Stellung zum Miteinander von Mann und Frau beziehen, so finden sich doch genug Belege, die das gewalttätige Übergreifen des Mannes auf seine Frau eindeutig verurteilen und den Mann von der Verwerflichkeit seiner Tat überzeugen können. So spricht zum Beispiel Vers 134 der 4. Sure von friedlicher Einigung im Streit. Grundsätzlich sind Koranstellen auch dazu geeignet eine Psychotherapie im Allgemeinen – hier verstanden als Streitschlichtungsinstanz bei intrafamilialen Konflikten – heranzuziehen: Sure 34, Vers 35 spricht davon, bei Familienfehden und Ehekonflikten Schiedsrichter zu konsultieren, die einen Beitrag zur Lösungsfindung leisten können. Auf dieser Grundlage könnte der Psychotherapeut dem Klienten bei entsprechendem Bedarf eine Familien- oder Ehetherapie vorschlagen. Es wird sehr schnell klar, dass die Fülle der Ansatzpunkte innerhalb der koranischen Lehre nahezu unerschöpflich ist. Dazu gibt Mernissi (1993) einen entsprechenden Überblick. Im Fall der Hadithe, der zweiten Quelle islamischer Jurisprudenz, seien einige Namen von Gelehrten genannt, © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40172-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-40172-0

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die im 20. Jahrhundert unter gemäßigten, freiheitlichen und egalitären Vorzeichen Koranauslegungen systematisiert haben. Unter ihnen befinden sich Al Tabari, Mohamad Abdu, Al-Afghani und Al-Tahtawi. Ihre reformerischen Interpretationen islamischer Glaubensinhalte finden sich gesammelt in A. Houranis Veröffentlichungen aus den Jahren 1983 bis 1993. Ein Verweis auf den Koran darf nicht in einen passiven Determinismus übergehen.

Allerdings soll hier auch nicht der Eindruck entstehen, der Koran sei ein Patentrezept oder Allheilmittel im Umgang mit muslimischen Patienten. Eine allzu einseitige Betonung religiöser Lösungswege kann im Umkehrschluss schließlich denn auch zu einer Passivität und Problemausblendung auf Seiten des Patienten führen. Hierzu folgendes Fallbeispiel:

Fallbeispiel 4: »Keine Heilung ohne Überzeugung, keine Überzeugung ohne Heilung«

Shamiran, eine 52-jährige Muslimin (Türkin), kam wegen ihrer Angst und Panikstörung auf Empfehlung ihres Psychiaters für eine Weiterbehandlung in die Praxis. Sie sprach gebrochenes Deutsch. Vieles musste man interpretieren, um zu verstehen, was sie genau meinte. Nach zwei Sitzungen war ein gewisses Maß an Vertrauen hergestellt. Sie berichtete, dass sie seit vielen Jahren immer wieder unter Panikattacken leide. Weiterhin litt Shamiran unter Durchschlafstörungen, Rückenschmerzen, Herzrhythmusstörungen, Alpträumen und Spannungsgefühlen. Besonders unangenehm sei es, © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40172-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-40172-0

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wenn der Schwindel unterwegs auftrete, wo sie nicht die Möglichkeit habe, sich hinzulegen. Insgesamt fühle sie sich derzeit innerlich unruhig und angespannt. Sie leide vor allem unter permanenten Angstzuständen. Zurzeit fehlen ihr der Ausgleich im Privatleben und Möglichkeiten, sich zu entspannen und abzuschalten, seien sehr eingeschränkt. Bei der Schilderung ihrer Probleme wirkt sie niedergeschlagen. Es zeigt sich eine deutliche Anspannung, die Stimmungslage ist depressiv. Panikattacken, Ängste und körperliche Beschwerden schaukeln sich zeitweise zu einem Zustand auf, der sie an den Rand des Erstickens bringt. Um ihre Angst unter Kontrolle zu bekommen, betet Shamiran täglich mehrfach zu Allah. Sie war ganz davon überzeugt, dass das Gebet zu Allah ihre Angst mildern würde, kein anderes Hilfsmittel besser wirken könne als ihr tägliches Gebet. Trotz dieser sehr zeitaufwändigen täglichen Gebete habe sich ihr Zustand aber auch nach Monaten nicht gebessert. In diesem Fall wurde die Angstsymptomatik durch das tägliche Gebet nicht wesentlich besser, sondern gab der Patientin lediglich ein gutes Gefühl, die Linderung der Symptome täuschte aber über die Ursachen hinweg, auch wenn dieses Gefühl der Sicherheit durch eine göttliche Kraft in jeder therapeutischen Interaktion willkommen geheißen werden kann. Alternativ standen aber nun in den ersten Therapiephasen die Vertrauensbildung und emotionale Stabilisierung im Sinne einer Angstbewältigung im Vordergrund. Shamiran lernte, dass es nicht möglich ist, allein durch das Gebet die Angstproblematik zu lindern. Stattdessen sei es auch und vor allem wichtig, an sich und ihr Wohlbefinden zu denken und sich nicht noch zusätzlich unter Druck zu © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40172-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-40172-0

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setzen. Sie fing allmählich an, wieder an ihre Stärken und Fähigkeiten zu glauben. Shamiran schenkte sich selbst und ihrem Therapeuten nun mehr Vertrauen und lernte, dass sie nicht immer alles allein bewältigen muss. Sie darf auch Schwäche zeigen. Nach 20 Sitzungen wurde die Therapie mit Shamiran beendet.

4.5 Mythologie, Symbolik und Metaphorik In der diesem Ratgeber zugrunde liegenden Untersuchung stellte sich heraus, dass alle muslimischen Patienten, bei denen therapeutische Instrumente wie Mythologie, Symbolik oder Metaphorik angewandt wurden, dies als hilfreich in der Therapeut-Patient-Kommunikation empfanden (Rezapour, 2008). Geschichten, Bilder und Symbole können dem Patienten Auswege aus Krisen auf subtile Art nahelegen.

Allerdings wurden diese Instrumente nach Aussage der muslimischen Patienten nur in der Hälfte der Fälle angewendet. Dies spiegelt sich entsprechend in der hohen Zahl befragter Therapeuten (55,4 %) wider, die sagten, sie setzten weder Geschichten noch symbol- oder bildhafte Verbalisierungen in der Arbeit mit Muslimen ein. Interessanterweise waren es mehrheitlich die nichtmuslimischen Therapeuten, die diese Instrumente nicht zum Einsatz bringen, während muslimische Therapeuten zu über 90 % versuchen, auf diese Weise eine Brücke zum Klienten zu schlagen. Deshalb soll an dieser Stelle der Hinweis erfolgen, dass Vertrauen und Verständnis stiftendes Potential verschenkt © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40172-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-40172-0

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wird, wenn auf diese didaktischen Therapiebausteine verzichtet wird. Muslimische Patienten sind besonders empfänglich für Mythologie, Metaphorik und Symbolik.

Die Idee hinter dieser Vorgehensweise ist, sozusagen über die rechte Gehirnhälfte, in der Phantasie und bildhaftes Denken verortet sind, zur linken Gehirnhälfte zu gelangen, also dorthin, wo das differenzierende und analytische Denken sitzt. Menschen denken schließlich nicht nur in abstrakten und theoretischen Begriffen, sondern vor allem in Bildern. Auch ermöglicht der Einsatz von Geschichten den Zugang zu den zu behandelnden Problemen, ohne sie explizit zu thematisieren – ein Umstand, der nicht zu unterschätzen ist, da bei vielen Patienten eine allzu plumpe »Enttarnung« zu Abwehrreaktionen führt. Volks- und Spruchweisheiten hingegen entpersonalisieren das Problem, ohne das Problem jedoch aus den Augen zu verlieren und die Person zu »entproblematisieren«. Dabei ist es prinzipiell egal, ob es orientalische oder europäische Geschichten sind, die in der Therapie zum Einsatz kommen, da Lehrgehalt und Aussagekraft oftmals ähnlich sind. Alle Parabeln enthalten innerseelische, zwischenmenschliche und gesellschaftliche Facetten, nicht selten auch Konfliktbeschreibungen mitsamt einer Lösung für diese Konflikte auf allen drei Ebenen. Nichtsdestoweniger kann eine Geschichte für muslimische Patienten zugänglicher und nachvollziehbarer sein, wenn Personen- und Ortsnamen, Erzählweise und Geschichtsverläufe aus einem vertrauten kulturellen Kontext stammen. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40172-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-40172-0

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Nossrat Peseschkian, Begründer der Positiven Psychotherapie, hat die therapeutische Anwendung orientalischer Geschichten im Laufe seiner langen professionellen Laufbahn immer wieder aufs Neue erprobt, ausgebaut und daraus einen Kernaspekt seines Ansatzes gemacht. In Werken wie »Psychosomatik und positive Psychotherapie« (1993), »Psychotherapie des Alltagslebens« (1993), »Der Kaufmann und der Papagei« (1994) oder »33 und eine Form der Partnerschaft« (1994) wird sehr anschaulich gezeigt, wie Weisheiten, Parabeln und Metaphorik ein fester Platz in der Psychotherapie zugewiesen werden kann. Folgende Geschichte, die aus dem persischen Kulturraum stammt, nähert sich auf epische Weise dem Thema des Verlustes einer geliebten Person und der Schwierigkeit, diese schmerzhafte Erfahrung zu verarbeiten.

Der gläserne Sarkophag

Ein orientalischer König hatte eine zauberhafte Frau, die er über alles liebte. Immer wenn er Zeit hatte, suchte er ihre Nähe. Eines Tages starb die Frau und ließ den König in großer Trauer zurück. »Nie«, rief er aus, »will ich mich von meinem geliebten jungen Weibe trennen.« In einem gläsernen Sarkophag bahrte er seine Frau im größten Saal des Palastes auf und stellte sein Bett daneben, um nicht eine Minute von ihr getrennt zu sein. Es war aber ein heißer Sommer, und trotz der Kühle des Palastes ging der Leichnam der Frau langsam in Verwesung über. Ihr holdes Antlitz begann sich zu verfärben und wurde von Tag zu Tag aufgedunsener. Der König in seiner Liebe sah dies nicht. Bald erfüllte der süßliche Geruch der Verwesung den ganzen Raum, und keiner der Diener wagte es, auch nur seine Nase herein© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40172-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-40172-0

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zustecken. Der König nahm selber schweren Herzens sein Bett und trug es in den Nachbarraum. Obwohl alle Fenster weit offen standen, kroch der Geruch der Vergänglichkeit ihm nach. Es flohen alle Diener und Freunde. Dann verlor der König das Bewusstsein. Der Hakim, der Arzt, ließ ihn in den großen Garten des Palastes bringen. Als der König erwachte, strich ein frischer Windhauch über ihn. Der Duft der Rosen umschmeichelte seine Sinne. Es war ihm, als lebte seine große Liebe noch. Nach wenigen Tagen erfüllte den König wieder Leben. Sinnend blickte er in den Blütenkelch einer Rose, und plötzlich erinnerte er sich daran, wie schön seine Frau zu Lebzeiten gewesen war. Er brach die Rose, legte sie auf den Sarkophag und befahl seinen Dienern, die Leiche der Erde zu übergeben. Es versteht sich von selbst, dass es innerhalb einer Psychotherapie nicht damit getan ist, Märchen zu erzählen, um ernsthafte psychosoziale Krisen in den Griff zu kriegen. Geschichten können dennoch einen kleinen Beitrag dazu leisten, das Gefühl von Perspektiv- und Hoffnungslosigkeit zu relativieren und neue Horizonte zu eröffnen. Auch Marwan Dwairy (1997a) hat einen Ansatz entwickelt, der die große Bedeutung berücksichtigt, die Muslime Visionen, Bildern und Erzählungen beimessen. In seiner Metaphertherapie will er gezielt Bildersprache als wesentliches Kommunikationsmittel einsetzen, ohne jedoch – wie es in der Psychoanalyse üblich ist – diese Bilder als Symbole zu verstehen, die es zu interpretieren gilt. Er stützt sich dabei auf die Einsicht, dass islamische Religion und ihre Verschriftlichung einen enormen Schatz an Bildern darstellen, der sich in den entsprechenden Sprachen (Arabisch, Persisch, Türkisch) niederschlägt und der für die psychotherapeutische Arbeit geborgen werden kann. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40172-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-40172-0

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Dwairy zufolge werden psychische Erfahrungen wie Angst, Wut und Glück unbewusst mittels eines Symbolisierungsprozesses in Bilder übersetzt. Diese Bilder sind wiederum geprägt durch persönliche und kollektive bzw. soziale Faktoren, wie sie sich in kulturspezifischen Spruchweisheiten, Redensarten und Mythen im Alltagsleben ausdrücken. Dazu kommt als ein dritter Faktor der neurologische, bestehend aus Neurotransmittern, Hormonen und Peptiden, die ihren Teil zur Verstärkung von persönlichen und sozialen Einflüssen bei der Verbildlichung von Befindlichkeiten beitragen. Depressive Stimmungen erzeugen depressive Bilder – aber auch das Gegenteil gilt!

Entsprechend erzeugen depressive Stimmungen eine depressive Bildersprache. Aber auch umgekehrt! Eine Veränderung der Metaphorik kann ein neues Licht auf die Problemlage werfen und einen Beitrag zur Heilung des Patienten leisten. Dabei ist jedoch festzuhalten, dass die Bilder genutzt werden sollten, ohne ihre symbolische Entsprechung in Eigenregie offenzulegen. Auch und gerade dann, wenn in diesen Bildern eine sehr reale und für das Problem zentrale Konnotation transportiert wird. Folgendes Beispiel soll diesen Punkt veranschaulichen.

Die Blinden und der Elefant

In einer großen Stadt waren alle Leute blind. Eines Tages besuchte ein König dieses Gebiet und lagerte mit seiner Armee in der nahen Ebene. Er besaß einen großen Elefanten, der seinen Leuten diente. Da wollten die Leute © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40172-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-40172-0

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diesen riesigen Elefanten »sehen« und eine Anzahl der Blinden machte sich auf und jeder eilte hin, um seine Gestalt und Form festzustellen. Sie kamen hin und da sie ja nicht sehen konnten, tasteten sie ihn mit ihren Händen ab. Jeder berührte irgendeinen Teil des Elefanten und gewann so eine Vorstellung von ihm. Als sie in die Stadt zurückkehrten, versammelten sich die Zurückgebliebenen erwartungsvoll um sie und fragten nach der Gestalt des Elefanten. Da berichteten sie von ihren Eindrücken. Einer, dessen Hand das Ohr des Elefanten betastet hatte, sagte: »Er ist ein großes und schreckliches Wesen, breit und rauh und flach wie ein Teppich.« Der, dessen Hand den Rüssel betastet hatte, sagte: »Ich fand, er ist lang und innen hohl, wie ein Rohr; ein furchtbares Wesen und ein Mittel der Vernichtung.« Und der, der die dicken, festen Beine des Elefanten betastet hatte, sagte: »Soweit ich erkennen konnte, ist seine Gestalt aufrecht wie eine Säule.« Jeder hatte nur eines der Glieder betastet, und alle lieferten eine unzureichende Beschreibung des Tieres. Keiner erkannte das Ganze. Ebenso kennt der Mensch das Wesen der Gottheit nicht und auch die Gelehrten können darüber nichts in Erfahrung bringen. In der Geschichte kann der Elefant als Bild für so manche krisenhafte Situation dienen. Der Elefant als eines der größten Säugetiere zu Land impliziert allein schon aufgrund seiner Größe die Ernsthaftigkeit einer Krise bzw. eines Problems. Entscheidend ist dabei aber hier die Moral der Geschichte, derzufolge der Elefant (sprich, das Problem des Patienten) je nach Betrachter eine andere Wendung bekommen kann. Da jeder Betrachter seine eigene Zuschreibung vornimmt, könnte auch die Ausweglosigkeit einer Situation eine nur relative (eben vom © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40172-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-40172-0

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Betrachter abhängige) Zustandsbeschreibung sein. Es geht bei diesem Ansatz nicht so sehr darum, ganz konkrete Lösungsstrategien zu finden, sondern vielmehr – sozusagen als vorgelagerte Handlungsstufe – die Denksackgasse, in der sich Menschen zuweilen befinden, als solche zu erkennen und sich die Relativität und Variabilität einer Situation klar zu machen. Auch islamische Spruchweisheiten, die oft trivial anmuten mögen, da sie der Alltagserfahrung entlehnt sind, können allenthalben Denkanstöße geben und Handlungsempfehlungen beinhalten. Viele Spruchweisheiten aus dem islamischen Raum geben auf einfache Art Orientierung in unübersichtlichen Lebenslagen.

Sentenzen wie »Die Männer bringen das Geld, aber das Geld bringt keine Männer« oder »Wer Freunde ohne Fehler sucht, bleibt ohne Freund« scheinen auf den ersten Blick aus psychotherapeutischer Perspektive allzu oberflächennah zu sein, sie sind aber nicht selten näher an der Lebenswelt des muslimischen Patienten und damit überzeugender als ein theoretisch elaboriertes Instrumentarium gleich welcher Schule. Auch hierzu bieten die Publikationen von Nossrat Peseschkian einen Fundus vielfältig einsetzbarer Zitationen aus dem islamischen Kulturraum. Markante Weisheiten, wie »Geduld ist ein Baum, dessen Wurzel bitter, doch dessen Frucht süß ist« oder die persische Parabel von Schebli, dem Wanderer, der auf seinem Weg zwei Kindern am Wegesrand begegnet, die um eine Nuss streiten und die, nachdem Schebli die Nuss geöffnet hat, um sie anschließend zu teilen, feststellen, dass diese leer ist © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40172-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-40172-0

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und sie vergebens stritten – all diese Weisheiten schaffen vor allem eins: Sie thematisieren ein therapierelevantes Problem, ohne im Verdacht zu stehen, Lebensweise und Kultur des Patienten in Frage stellen oder in Zweifel ziehen zu wollen – zwei Reaktionsmuster, die sehr rasch zu einer grundsätzlichen Abwehrhaltung des Patienten führen und die Gefahr eines vorzeitigen Therapieabbruchs erhöhen.

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5 Kultursensibilisierung spezifischer Therapieschulen und Therapieformate

5.1 Verhaltenstherapie und kognitive Verhaltenstherapie Zahlreiche Eigenschaften und Instrumente der Verhaltenstherapie lassen sich mit den Wesensmerkmalen muslimisch sozialisierter Patienten vereinbaren. Viele Instrumente der Verhaltenstherapie erfüllen per se die Anforderungen einer kultursensiblen Psychotherapie.

Die starke Betonung einer Leitung und engen Begleitung des Patienten in Konfliktsituationen, zielgerichtete und umweltorientierte Handlungsempfehlungen stehen im Einklang mit der islamischen Auffassung, lebensweltliche Ereignisse geschähen unter Einwirkung externer Kräfte. Folgendes verhaltenstherapeutisches Instrumentarium ist besonders geeignet, um den kulturellen Besonderheiten in der Therapie mit Muslimen Rechnung zu tragen: − Verträge zwischen Therapeut und Patient, − Entspannungs- und Atemtechniken, − Desensibilisierung durch progressive situative Aussetzung, − Rollenspiele, © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40172-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-40172-0

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− Steigerung der Selbsteffizienz, − Patienteninformation und Psychoedukation. Auch in der Anwendung auf Kinder ist das muslimische Sozialisierungsmuster, das durch eine starke Orientierung an Zentralfiguren der Umwelt geprägt ist, ein zupass kommender Umstand für eine therapeutische Anknüpfung. Nicht minder bedeutsam ist die Rolle der Familie, die – als interdependentes Sozialgefüge im Fall muslimischer Tradition – als Parameter der innerpsychischen Konstitution muslimischer Patienten nicht ausgeblendet oder als zu überwindende Hürde angesehen werden darf. Emanzipation von scheinbar systematisch auftretenden Unterdrückungsmechanismen, wie sie zum Beispiel in der Familie vermutet werden könnten, bedeutet nicht zuletzt eine Kampfansage an kulturelles Erbe, das, internalisiert, den traditionell sozialisierten Muslim in seiner Wahrnehmung und Lebensführung fundamental prägt. Die Bedeutung der so genannten »automatischen Gedanken«, die in der kognitiven Verhaltenstherapie zentral sind, muss demnach unter Mitwirkung der Familie eruiert werden, um im Folgeprozess keine Konfrontation zwischen Patient und Familie herbeizuführen, was besonders bei jungen Patienten zu beachten ist. Problematisch kann der Einsatz therapeutischer Techniken der kognitiven Behavioristenschule werden, namentlich der Einsatz des so genannten assertiveness trainings, das zum Ziel hat, die Durchsetzungsfähigkeit des Patienten zu stärken. Unter Berücksichtigung der in muslimischen Gesellschaften hoch geschätzten Charaktereigenschaft mosayara, was als Vermengung von Milde, Bescheidenheit und Geselligkeit zu übersetzen ist, kann die Hervorhebung egozentrierter und wettbewerbsorientierter Merkmale zu © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40172-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-40172-0

Verhaltenstherapie und kognitive Verhaltenstherapie

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neuen Reibungspunkten führen. Diese Befähigungsstrategie sollte deshalb nicht angewendet werden, bevor nicht das Umfeld entsprechend eingeweiht wird. Die Gefahr, dass durch die in Folge des Trainings vielleicht hervorgebrachte Antihaltung gegenüber Gepflogenheiten in der Peergroup, Familie oder – allgemein – Kultur des Klienten zu neuen Konfliktlinien führt, wäre anderenfalls sehr groß. Ein ebenso zentraler Aspekt der kognitiven Verhaltenstherapie, die Psychoedukation, muss im Umgang mit Analphabeten modifiziert werden. Es ist schließlich nur schwer vorstellbar, wie Fragebögen, Folienpräsentationen, Lehrbücher und Schmerztagebücher bei Patienten mit geringer bis gar keiner Schulbildung den gewünschten Effekt erzielen sollen. Eine alternative Copingstrategie ist in solchen Fällen zum Beispiel die so genannte Wunderfrage.

Fallbeispiel 5: Die Wunderfrage

Malika (48) kommt aus Arbil, einer Stadt im kurdischen Teil Iraks. Sie hat nur drei Jahre lang die Schule besucht, danach musste sie im Haushalt mithelfen. Vor 19 Jahren kam sie nach Deutschland, im Zuge einer Familienzusammenführung. Seit mehreren Jahren klagt sie über Schmerzen im rechten Arm. Nachdem keine klinischen Befunde für das Leiden festgestellt werden konnten, hat man ihr eine Psychotherapie angeraten. Nach einigen Sitzungen, in denen Entspannungsübungen und Aufklärung über Schonverhalten den wesentlichen Teil bestimmten, haben sich die Verspannungen bereits etwas gelöst. In einem zweiten Schritt wurde dann versucht, an die kognitiven Konstrukte der Patientin zu gelangen, indem die so genannte Wunderfrage gestellt wurde. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40172-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-40172-0

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Malika wurde gefragt, was sie denn gerne tun würde, wenn sie keine Schmerzen mehr hätte. Malikas Antwort war, dass sie gerne wieder Brot backen würde, etwas, das sie jetzt nicht mehr machen könne, weil das Kneten des Teiges Schmerz bereite. Die Antwort auf die Frage, warum sie das gerne wieder tun würde, war zuvorderst in dem Gefühl begründet, dadurch wieder eine vollwertige Ehefrau und Mutter zu sein und weniger schlichtweg aus Spaß am Backen. In Gruppengesprächen mit anderen türkischen Patientinnen, die sozusagen als Ko-Therapeutinnen fungierten, wurde schließlich der Frage nachgegangen, was denn eine gute Mutter ausmache, wie ein Haushalt bei bestimmten körperlichen Beschwerden zu führen sei und wie kritischen Kommentaren von Familienangehörigen begegnet werden könne.

5.2 Psychoanalyse und Ethnopsychoanalyse Die Psychoanalyse ist – unseres Erachtens – in ihrer angestammten Form nur bedingt für die Behandlung von traditionell sozialisierten muslimischen Patienten geeignet. Einige Gründe sprechen dagegen: Die Psychoanalyse ist nur unter Abänderung einiger zentraler Punkte für eine Behandlung von Muslimen geeignet.

Die mehrmonatige Eröffnungsphase einer psychodynamischen Therapie ist oft von einer sehr passiven Rolle des Therapeuten und einer damit einseitig aktiven Rolle © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40172-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-40172-0

Psychoanalyse und Ethnopsychoanalyse

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des Patienten gekennzeichnet, in der der Patient seine Problematik offenzulegen versucht. Die während dieser Phase eingesetzten assoziativen und projektiven Techniken können bei einem traditionell sozialisierten Muslim für Verwirrung sorgen, schließlich betritt er die Praxis in der Hoffnung, konkreten Rat erteilt zu bekommen. Diese nondirektive Phase wird den muslimischen Patienten stattdessen verunsichern, sein Vertrauen in die Therapie mindern und im Extremfall ihn zum Abbruch bewegen. − Die psychoanalytische Lehrmeinung, dass sich familiale und soziale Einflüsse auf die frühen Jahre des Lebens beschränken, trägt der soziokulturellen Umwelt von Muslimen nur unzureichend Rechnung. − Gegenwärtige psychische Probleme lediglich als Neuauflage vergangener Konflikte zu deuten und die damit verbundenen Techniken der Übertragung und Gegenübertragung gehen an der intrapsychischen Konstitution von traditionell sozialisierten Muslimen vorbei. − Die Offenlegung von sexuellen und konfliktiven Trieben (auch und gerade gegen Familienmitglieder) ist problematisch bei muslimischen Klienten, da diese sehr stark in den Familienverband eingebettet sind. Sowohl Erkennen und Deuten dieser Triebe als auch die Konfrontation mit ihnen stellen muslimische Klienten vor große Schwierigkeiten. Dazu kommt, dass derartige Thematisierungen bei gegengeschlechtlichen Gesprächspartnern zu Scham, Irritation und Ablehnung auf Seiten des Klienten führen. Diese Unsicherheit wird durch das typische Setting möglicherweise noch verschärft. − Erfolgskriterien von psychodynamischen Therapieformen sind Reflexions-, Abstraktions- und Verbalisie© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40172-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-40172-0

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rungsfähigkeit, die sehr stark mit dem Bildungsniveau des Patienten in Zusammenhang stehen. Bedauernswerterweise sind Migranten in Deutschland durchschnittlich weniger gebildet als Deutsche – ein Umstand, der für sich genommen schon traurig genug ist und der auch in der Therapiepraxis nicht ohne Konsequenzen bleibt. Es empfiehlt sich daher, psychoanalytische Weiterentwicklungen ins Auge zu fassen, die dem kulturellen Kontext angepasst erscheinen. Besonders die Arbeiten von Alfred Adler (1920/1994) und Carl Gustav Jung (1958–1981) sind in diesem Zusammenhang von Interesse. Adlers Fokus auf interpersonale (statt intrapsychische) Konflikte sowie seine Ausführungen zu Geburtsordnung und Geschwisterrivalitäten bieten einen theoretischen Rahmen und ein terminologisches Fundament, auf dem kinder- und jugendpsychologische Beobachtungen in muslimischen Gemeinden fußen können. Jung für seinen Teil bietet mit seinem Konzept eines kollektiven Unbewussten ebenso interessante Ansatzpunkte. Seine Überlegungen geben Aufschluss über die dynamische Vermengung von individueller und kollektiver Psyche, die eine Abgrenzung der beiden Einheiten erschweren. Die Ethnopsychoanalyse hat den intrapsychischen um einen interpersonalen Fokus stark erweitert.

Vor allem aber ist ein Sonderweg der Psychoanalyse für das vorliegende Thema von Bedeutung, der sich ethnologischer Erkenntnisse bemächtigte: die Ethnopsychoanalyse. Durch die Verbindung beider Disziplinen wurde die Individuumzentriertheit in der Psychoanalyse zugunsten einer neuen Haltung aufgegeben, die versucht, die Beziehung © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40172-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-40172-0

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zwischen Individuum und Kollektiv, zwischen Innenwelt und Außenwelt zu analysieren. Während die Begründer dieser Disziplin – Paul Parin, Goldy Parin-Matthèy und Fritz Morgenthaler – noch das klassische psychoanalytische Instrumentarium in ihren Feldstudien bemühten, änderte Maya Nadig (1986) dieses in der Folgezeit ab. In einem Dreischritt versucht sie ihre Patienten 1. ethnopsychoanalytisch zu begleiten, 2. eine ethnopsychoanalytische Beziehung aufzubauen und 3. die gewonnenen Daten tiefenhermeneutisch auszuwerten. Sie verzichtet auf das typische psychoanalytische Setting und auf Deutungsversuche, arbeitet mit konfrontativen Fragen und spiegelnden Feststellungen, die die realen, sozialen und subjektiven Konflikte des Gesprächspartners berücksichtigen. Nadigs Arbeiten dienen als Grundlage für die Behandlung in der ethnopsychiatrischen Ambulanz am Zentrum für Interkulturelle Psychiatrie, Psychotherapie und Supervision (ZIPP) der Charité Berlin (siehe Anhang). Auch wenn in der ethnopsychoanalytischen Behandlung von muslimischen Migranten die Lehre des Unbewussten, die ödipale Relation (umso mehr angesichts des ausgeprägten Über-Ich in Gestalt des Patriarchen) und die Traumdeutung für die meisten Analytiker eine ungebrochen zentrale Rolle bei ihrer Arbeit spielen, schließen wir uns dem Einwand Gehad Mazarwehs (2006) an, der die Grenzen psychoanalytischer Behandlungskonzepte vor allem bei schwer traumatisierten Patienten und strenggläubigen Frauen sieht, die besonders gegenüber einem männlichen, muslimischen Therapeuten hohen Tabuisierungsgraden ausgesetzt sind und aus Sozialisierungsgründen zu befangen wären, als dass eine Therapie die nötige Offenheit herstellen könnte. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40172-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-40172-0

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In Frankreich ist die Ethnopsychoanalyse wesentlich mit Namen wie George Devereux, Tobie Nathan und Marie Rose Moro verbunden. Moro (2000) versucht mit den Konzepten der Dezentrierung und Vielperspektivität die unterschiedlichen kulturellen Bezüge ihrer Patienten zu verbinden, ohne sie auf einen unterstellten Kulturhintergrund zu reduzieren. Ohne in Versuchung zu geraten, das Fremde vorschnell von Bekanntem abzuleiten, will Moro einen Dialog über kulturelle Repräsentationen führen. Organisatorisch ähnelt das Setting Moros dem des am ZIPP angewandten: − multikulturelles (dem Patienten entsprechendes), multidisziplinäres Team (bis zu 15 Personen), − Behandlung meist im Zweimonatstakt, − zweistündige Sitzungen, − abwechselnd unter aktiver Einbindung der Familie des Patienten und in integrativen Einzelsitzungen.

5.3 Familientherapie als Joining Die Behandlung eines Muslims, der sich in einem konfliktiven Verhältnis zu seiner Familie befindet, kann sich unter Umständen als brisante Aufgabe erweisen, da auf Seiten des Therapeuten die Empfehlung zur Emanzipation und Loslösung des Patienten von seinem familiären Verband aufkommen mag. Die Autorität einzelner Familienmitglieder mitsamt ihren subtilen Unterdrückungsmechanismen kann vom Therapeuten als zentraler Störfaktor wahrgenommen werden, dessen Beseitigung die psychosoziale Lebensqualität des Patienten unmittelbar zum Besseren wenden würde. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40172-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-40172-0

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Vor diesem Hintergrund geben nicht wenige auf dem Gebiet der kulturvergleichenden Psychologie forschende Autoren (Fisek u. Kagitcibasi, 1999; Dwairy, 2006) zu bedenken, dass die therapieinduzierte Kampfansage an die Familienzwänge zu noch schwerwiegenderen Folgen führen kann als eine im Rahmen des familialen Gefüges erwirkte Veränderung interpersonaler Beziehungen. Zentrale Bedeutung kommt dabei der Einbindung des Vaters zu, der gemäß der patriarchalischen Grundierung des familialen Wesens über den größten Einfluss verfügt. Bei der Familientherapie mit Muslimen kommt der Einbindung des Vaters eine besondere Rolle zu.

Die direkte Wertschätzung gegenüber dem Familienvater oder Ehemann, welcher sich einmal entschieden hat, eine therapeutische Praxis aufzusuchen, ist daher der erste Schritt in einem vertrauensbildenden Prozess zwischen Therapeut und muslimischem Mann. Nicht zuletzt, da vor allem Letzterer den stigmatisierenden Konventionen unterliegt und außerdem meist die Kosten einer psychosozialen Behandlung trägt. Die Betonung seiner unabdingbaren Hilfe bei der Heilung des betroffenen Familienmitgliedes und seiner zentralen Rolle innerhalb der Familie sollen die Notwendigkeit seiner Beteiligung am Behandlungsprozess zusätzlich hervorheben. Handelt es sich um den Mann selbst, der als Aggressor (sei es auf psychologischer oder auf physischer Ebene) gegenüber seiner Frau oder seinen Kindern auftritt, kann es als opportun erscheinen, ihm mit einer kulturell und religiös fundierten Argumentation zu begegnen. Erneut sei an dieser Stelle auf Koranpassagen verwiesen, die eine © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40172-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-40172-0

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milde und versöhnliche Haltung im Umgang mit Frau und Kindern vorschreiben (s. o.; Al-Kahf #46, Al-Umran #133, 134). Im Fall einer grundsätzlich ablehnenden Attitüde gegenüber Ratschlägen und Handlungsempfehlungen bietet es sich an, das islamische Gebot zum Ersuchen von Rat anzuführen, das sich im arabischen Begriff shura wiederfindet (Shura #38). All die hier skizzierten Vorgehensweisen erlauben es, die psychosozialen Notlagen, die in einer Familientherapie offengelegt werden, innerhalb des bestehenden islamischen Wertesystems anzugehen, ohne fundamentale Erschütterungen auszulösen, die sich im sozialen Handeln der Betroffenen negativ potenzieren würden. In der Behandlung von Muslimen ist Joining mit einer Annahme kulturell fremder Aktionsmuster verbunden.

Vor allem die kollektivistische Sozialkonstitution ist in diesem Zusammenhang bedeutend, zumal die in Deutschland vorherrschenden psychotherapeutischen Konzepte darauf fußen, Coping-Strategien zu erreichen. Eine derartige individuelle Bewältigung von Problemen ist aber eben in einer kollektivistisch geprägten Gesellschaft und bei deren Mitgliedern nur bedingt hilfreich und in nicht wenigen Fällen schädigend. Dieser Umstand legt nahe, dass sich der Therapeut stärker des Instruments des Joinings bedient, also der Bereitschaft, sich in die Lebenswelt der Patienten und der Familien mit Migrationshintergrund einzufühlen, hineinzubegeben und vor allem ihm kulturell fremde Denk- und Handlungsmuster als gleichwertig anzunehmen. Nicht selten heißt Joining, wie schon zuvor gesagt, dass © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40172-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-40172-0

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der Therapeut die Autorität des Vaters und Ehemanns akzeptiert und sie ummünzt in den Schlüssel zur Lösung des Problems.

5.4 Paartherapie und sexualitätsnahe Konfliktfelder Die besondere Schwierigkeit paarorientierter psychischer Behandlung liegt in der traditionellen Statusungleichheit zwischen Mann und Frau in islamischen Gesellschaften. Dazu kommt, dass Ehe in muslimischen Gesellschaften als eine funktionale, pragmatische und religiöse Institution gilt. Gruppen-, Familien- bzw. Clankonsens wiegen schwerer als eine individuelle Wunschvorstellung. Außerdem ist die Ehe ein Mittel, um Keuschheit zu sichern und sexuelle Abweichungen zu verhindern. Besondere Herausforderung bei der Paartherapie mit Muslimen ist die traditionelle Statusungleicheit zwischen Mann und Frau.

Paartherapien sollten erst dann eingeleitet werden, wenn zuvor eine Einzeltherapie mit beiden Partnern durchgeführt wurde. Die erste Aufgabe ist es dabei, vor allem auf Seiten des Mannes einen ausreichend ausgeprägten Grad an Sensibilisierung gegenüber den Bedürfnissen seiner Frau hervorzurufen. Darunter fallen in vielen Fällen nicht nur die großen Themen wie Selbstbestimmung und Emanzipation, sondern häufig sehr konkrete, wie die vom Ehemann auferlegte Einschränkung der Frau im Einsatz ökonomischer Mittel und in ihrer Außer-Haus-Mobilität. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40172-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-40172-0

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Nicht zu unterschätzen sind während einer Paartherapie (aber nicht ausschließlich in diesem Zusammenhang) die Ängste, die auf Seiten des Mannes vorherrschen, bestehend aus Kontrollverlust, Gesichtsverlust, Familienbeschmutzung, Traditionsbruch und Islamunkonformität sowie – im Fall einer weiblichen Therapeutin – die Hemmung, vor allem sexualitätsnahe Themen zu problematisieren. Die als traditionelle (nicht religiöse) muslimische Sozialisation zu verstehende Auffassung, Frauen seien in erster Linie dem Mann unterstellt, führt nicht selten dazu, dass die in der Therapie aufkommenden Überlegungen zur Selbstbestimmtheit der Ehefrau für den Mann eine völlig neue Perspektive darstellen. Betritt ein muslimischer Mann die psychotherapeutische Praxis, tut er dies mit weniger Angst vor einer Stigmatisierung (»verrückt« zu sein), mit geringeren Restriktionen, was zeitliche und finanzielle Flexibilität angeht, sowie mit einer durch die Traditionen gestärkten Grundhaltung in Eheangelegenheiten. Eine Scheidung, die auf Wunsch des Ehemanns erfolgen soll, wird sich dementsprechend recht schnell vollziehen lassen. Betritt eine Frau die psychotherapeutische Praxis, drehen sich all diese Vorzeichen um und eine Scheidung, die von der Frau herbeigesehnt wird, kann zu einer fast unmöglichen Prozedur werden, in deren Folge zudem ihr gesellschaftlicher Status stark geschmälert ist. Oft sind geschiedene Frauen im Anschluss gezwungen, ältere oder gesellschaftlich ebenso stigmatisierte Partner zu wählen – ein Umstand, der ihre psychosoziale Situation noch verschlimmern würde. Daher ziehen viele Muslima eine schlechte Ehe einer (vielleicht befreienden) Scheidung vor. Daher erklärt sich auch die niedrige Scheidungsrate, die in der arabischen Welt bei 4 % liegt. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40172-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-40172-0

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Muslimische Gesellschaften verstehen demnach den Therapeuten im Allgemeinen als einen Experten, der die Probleme löst, unter denen der Mann leidet. Diese Probleme können auch seine Frau einschließen, die die Erwartungen, die an sie gestellt werden, nicht erfüllen kann. Betreten beide Eheleute gemeinsam die psychotherapeutische Praxis, sollte dem Therapeuten diese Geschlechterdiskrepanz bewusst sein, bevor er interveniert. Hinsichtlich des partnerschaftlichen Sexuallebens zeigt sich zum Beispiel, dass sowohl die Tradition als auch der Islam die Beschreibung gewaltsamen Sexualverkehrs als Vergewaltigung oder Missbrauch untersagen. Gleichzeitig findet sich ein Ansatzpunkt, dieses Verhalten kultursensibel zu ahnden und zu ändern, indem auf Mohammed selbst verwiesen wird, der erzwungene sexuelle Handlungen verurteilte. Viele Koranverse lehren, dass Männer und Frauen freundlich zueinander sein und sich gegenseitig unterstützen sollen. Bei den Familienbeziehungen werden Liebe und Gerechtigkeit hervorgehoben, wird Grausamkeit untersagt. In Sure 30:21 heißt es: »Und zu seinen Zeichen gehört es, dass er euch aus euch selber Gattinnen geschaffen hat, damit ihr in Ruhe bei ihnen wohnet. Und er hat bewirkt, dass ihr einander in Liebe und Erbarmen zugetan seid. Darin liegen Zeichen für Leute, die nachdenken.« Chronologisch gesehen ist der letzte Vers aus den Offenbarungen des Korans, der sich auf die Beziehungen zwischen Ehemann und Ehefrau bezieht, ein Vers, in dem Männer und Frauen als Freunde beschrieben werden, die sich wechselseitig beschützen und behüten. Betont wird beim Zusammenleben ihre Rolle als kooperierende Part© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40172-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-40172-0

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ner; sie sind also weder Gegenspieler noch Vorgesetzte oder Untergebene. So ist in Sure 9:71 zu lesen: »Und die Gläubigen, Männer und Frauen, sind einer des anderen Freund. Sie gebieten das Rechte und verbieten das Unrechte und verrichten das Gebet und entrichten die Pflichtabgabe und gehorchen Allah und Seinem Gesandten. Sie – wahrlich, Allah erbarmt sich ihrer. Allah ist mächtig und weise.« Auf ähnliche Weise hebt der Hadith Mohammeds Respekt vor den Frauen hervor, denen er Schutz gewährte. Mohammed sagte: »Der Beste von euch ist derjenige, der am besten zu seiner Frau ist.« Mohammeds Ehefrau Aischa berichtete, Mohammed habe nie einen Diener oder eine Frau geschlagen. Weder im Koran noch im Hadith ist je die Rede davon, dass Mohammed eine seiner Frauen misshandelt oder die Geduld mit ihnen verloren habe, selbst dann nicht, wenn er unglücklich oder unzufrieden war. Jene, die den Koran heranziehen, um ihr Recht zur körperlichen Züchtigung von Frauen zu begründen, verweisen auf Sure 4:34, wo es heißt: »Und die rechtschaffenen Frauen sind demütig ergeben und geben Acht auf das, was verborgen ist, weil Gott darauf Acht gibt. Und wenn ihr fürchtet, dass Frauen sich auflehnen, dann ermahnt sie, meidet sie im Ehebett und schlagt sie! Wenn sie euch gehorchen, dann unternehmt nichts gegen sie!« In neuerer Zeit lautet die Meinung der Gelehrten, mit »Gehorsam« sei an dieser Stelle der Gehorsam gegen Gott gemeint, nicht der gegen den Ehemann. Überdies steht in diesem Vers Gehorsam in Verbindung mit der Bewahrung der Scham durch die Frau. Eine »gehorsame« Frau ist also eine, die sich sexuell nicht unmoralisch verhält. Das arabische Wort, das hier meistens mit »Ungehorsam« (nuschus) übersetzt wird, bezieht sich auf eine Störung der © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40172-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-40172-0

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ehelichen Harmonie, weil einer der Ehegatten seinen ehelichen Pflichten nicht nachkommt. Dieser Begriff wird an anderen Stellen des Korans sowohl auf Männer als auch auf Frauen angewandt. Überdies werden am Ende des zitierten Verses die Männer ermahnt, Frauen, die ihnen gehorsam sind, nicht zu züchtigen. Dieser Vers gewährt nach Ansicht von Reformern Männern gerade nicht das Recht, ihre Ehefrauen zu schlagen. Vielmehr erinnert er die Männer an ihre Verantwortung, Frauen fair zu behandeln. Nicht nur allgemeine eheliche Umgangsformen können bei reformerischer Auslegung aus dem Koran abgeleitet werden, auch Lösungsstrategien für Ehestreitigkeiten hält er bereit. So werden in Sure 4:35 und 4:128 Lösungswege für solche Ehekrisen aufgezeigt. Zunächst werden Ermahnungen und Unterredungen zwischen Ehemann und Ehefrau – allein oder unter Hinzuziehung eines Schiedsrichters – anempfohlen. Diese Praxis soll ebenfalls von Paaren angewandt werden, die sich scheiden lassen wollen. Fruchtet dieser Schlichtungsversuch nicht, so ist die zweite Option eine physische Trennung, also das Schlafen in getrennten Betten, um dem Paar Gelegenheit zur Beruhigung und zum Nachdenken über die Zukunft der ehelichen Beziehung zu geben. Allerdings – und das sei abschließend über die Verwendung des Korans in der Psychotherapie erwähnt – sind die Offenbarungen des Korans je nach Übersetzung und Auslegung potentiell kontraproduktiv. Es sei an dieser Stelle auf die bereits angesprochene Sure 4:34 verwiesen, die als Lösungsmöglichkeit bei ehelichen Problemen zu Schlägen (genau genommen im Singular: ein Schlag) raten. Sure 4:34 fällt in die Frühzeit der Offenbarungen, als Mohammed in Mekka wirkte – also in eine Zeit, in der Grausamkeit und Gewalt gegen Frauen eine durchaus © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40172-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-40172-0

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verbreitete Praxis waren. Daher argumentieren heute nicht wenige muslimische Gelehrte, dass der im zitierten Vers erlaubte Schlag eher als Restriktion für eine bereits existierende Praxis zu verstehen sei denn als empfohlene Form des Umgangs mit der eigenen Ehefrau. Alle wichtigsten Hadith-Sammlungen – die von alBuchari, at-Tirmidhi, Abu Da’ud, an-Nasa’i und Ibn Madscha – betonen, dass Schläge, wenn unvermeidlich, so verabreicht werden sollten, dass sie weder Schmerzen noch Verletzungen verursachen. Diese Quellen verweisen stets auf die eher symbolische Qualität eines einzelnen Schlages. Der Gründer der Rechtsschule der Schafiiten vertrat sogar die Ansicht, es sei besser, Schläge ganz zu vermeiden. Obgleich es in der von Männern beherrschten muslimischen Kultur häusliche Gewalt gab und gibt und obwohl diese gern im Namen der Religion legitimiert wurde und oftmals weiterhin wird, rechtfertigen und gestatten weder die große Mehrzahl der Koranverse noch die Hadithe diese Praxis. Dieses – brisante und oft von den Medien zugespitzte – Thema zeigt, dass ein blinder Korangebrauch nicht den Mehrwert an Kultursensibilität in die Psychotherapie hineinbringt, den dieser Ratgeber anstrebt. Es ist daher bewusst darauf zu verweisen, dass es eben zu einer Kultursensibilität in der Therapie gehört, auch die Fallstricke einer Kultur und ihrer gesellschaftlichen Ausformungen zu kennen. Dennoch gilt weiterhin auch und gerade für den Koran, dass ein gezielter Einsatz nicht nur eine Atmosphäre des Vertrauens hervorbringen kann, sondern vor allem therapeutische Intervention mit einer Überzeugungskraft ausstattet, die nachhaltige Veränderungen bewirkt. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40172-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-40172-0

Danksagung

Dieses Buch wäre nicht realisierbar gewesen ohne die Hilfe unserer zahlreichen Kollegen, die uns in langen Gesprächen ihre Begegnungen mit muslimischen Patienten mitteilten. Auch die Studie, die diesem Buch vorausging, war erst möglich durch das Engagement von Frau Prof. Annette Schröder, Universität Koblenz-Landau, sowie vieler Kollegen und Patienten, die Stellung bezogen haben zu ihren Erfahrungen mit dem deutschen Gesundheitssystem. Einen aufrichtigen Dank an Herrn Rainer Baumann für seine konstruktiven Anregungen während der Forschungsphase, die diesem Werk in den Jahren 2007 und 2008 vorausging. Besonders möchten wir auch unseren Familien danken, die mit viel Geduld und Nachsicht unser Projekt begleiteten. Dank gilt ferner auch Bertrand Triacca, der uns mit technischer Unterstützung zur Seite stand, sowie dem Verlag Vandenhoeck & Ruprecht, allen voran Herrn Presting und Frau Kamp, die uns stets mit Rat und Tat zur Seite standen.

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Sonnenberger Leitlinien Im Jahre 2002 trafen sich in St. Andreasberg die führenden Fachgesellschaften Deutschlands, darunter die Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde (DGPPN) und die Deutsch-Türkische Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und psychosoziale Gesundheit (DTGPP). Diese Fachtagung organisierte die Abteilung »Sozialpsychiatrie und Psychotherapie« der Medizinischen Hochschule Hannover (MHH) und das Ethno-Medizinische Zentrum e.V. in Hannover. Ergebnis dieser Tagung sind die so genannten Sonnenberger Leitlinien, die zum ersten Mal eine systematische Kultursensibilisierung des psychosozialen Gesundheitssektors in Deutschland in den Blick nehmen. Folgend werden die für das vorliegende Buch wichtigsten Leitlinien vorgestellt. 1. Erleichterung des Zugangs zur psychiatrisch-psychotherapeutischen und allgemeinmedizinischen Regelversorgung durch Niederschwelligkeit, Kultursensitivität und Kulturkompetenz. Hierzu gehört die Erfassung der Inanspruchnahme und Bedarfslagen psychiatrisch-psychotherapeutischer Einrichtungen © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40172-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-40172-0

Sonnenberger Leitlinien

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durch Migrantinnen und Migranten und eine entsprechende Gesundheitsberichterstattung. Bildung multikultureller Behandlerteams aus allen in der Psychiatrie und Psychotherapie tätigen Berufsgruppen unter bevorzugter Einstellung von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern mit Migrationshintergrund und zusätzlicher Sprachkompetenz. Organisation und Einsatz psychologisch geschulter Fachdolmetscherinnen und Fachdolmetscher als zertifizierte Übersetzer und Kulturmediatoren als VorOrt- oder als Telefon-Dolmetsch-Angebot. Kooperation und Vernetzung der Dienste der Regelversorgung im gemeindepsychiatrischen Verbund und der Allgemeinmediziner mit den Migrations-, Sozial- und sonstigen Fachdiensten sowie mit Schlüsselpersonen der unterschiedlichen Migrantengruppen, -organisationen und -verbände. Spezielle Behandlungserfordernisse können Spezialeinrichtungen (Kompetenzzentren) notwendig machen. Die regionalen Psychosozialen Arbeitsgemeinschaften (PSAG), die Psychiatriekoordinatoren, die Sozialpsychiatrischen Verbünde (SPV) berücksichtigen Bedarfslagen für die Versorgung von Migrantinnen und Migranten in Praxis, Berichterstattung und Evaluation. Beteiligung der Betroffenen, ihrer Angehörigen und von Selbsthilfegruppen an der Planung und Ausgestaltung der versorgenden Institutionen. Angehörigen-, Betroffenen- und Migrantenverbände kooperieren. Verbesserung der Informationen über das regionale gemeindepsychiatrische klinische und ambulante Versorgungsangebot durch Allgemeinärztinnen/Allgemeinärzte, mehrsprachige Medien und durch mehrsprachige Mediatorinnen und Mediatoren. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40172-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-40172-0

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7. Transkulturelle Aus-, Fort- und Weiterbildung für in der Psychiatrie, Psychotherapie und in der Allgemeinmedizin tätige Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter unterschiedlicher Berufsgruppen, einschließlich Sprachfortbildungen, Diagnostikschulungen und Fortbildungen zum Erwerb kultureller Kompetenzen. Wichtig sind diesbezüglich auch die Entwicklung von curricularen Grundlagen zur Facharztausbildung und die Gründung von Fachreferaten für transkulturelle Psychiatrie in den nationalen und internationalen Fachgesellschaften. 8. Entwicklung und Umsetzung familienbasierter primär und sekundär präventiver Strategien für die seelische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen aus Migrantenfamilien. 9. Unterstützung der Bildung von Selbsthilfegruppen mit oder ohne professionelle Begleitung. 10. Sicherung der Qualitätsstandards für die Begutachtung von Migranten im Straf-, Zivil- (Asyl-) und Sozialrecht. 11. Aufnahme der transkulturellen Psychiatrie und Psychotherapie in die Curricula des Unterrichts für Studierende an Hochschulen. Dies betrifft die Ausbildung der Mediziner, Psychologen, Sozialpädagogen und die Sozialpsychiatrischen Zusatzausbildungen (SPZA). 12. Initiierung von Forschungsprojekten zur seelischen Gesundheit von Migrantinnen und Migranten und deren Behandlung. Wichtige Fragestellungen betreffen hierbei die Epidemiologie, Psychopathologie, Ursachen und Behandlungsmethoden psychischer Störungen bei Migrantinnen und Migranten.

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Adressen Die Ethnopsychiatrische Ambulanz am Zentrum für Interkulturelle Psychiatrie, Psychotherapie und Supervision (ZIPP) der Charité Berlin Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie Charité – Universitätsmedizin Berlin Campus Charité Mitte Charitéplatz 1 10117 Berlin Tel. +49 (0)30 450 51 70 02 Im Zuge seines einjährigen Bestehens unternahm das ZIPP der Charité Berlin im Jahre 2003 einen ersten Versuch, Bilanz zu ziehen. Es wurde gegründet aus der Einsicht in die Notwendigkeit einer kultursensiblen Behandlung von Patienten mit Migrationshintergrund. Die Arbeit am ZIPP basiert im Wesentlichen auf der »Ansicht, dass die Missachtung kulturell differenter Traditionen und Vorstellungen häufig zu Fehldiagnosen und Pathologisierungen in der psychiatrischen Diagnostik führen kann« (Kassim, Heinz u. Wohlfahrt, 2004). Die personelle Zusammensetzung der Behandelnden ist hier ebenso interdisziplinär wie multikulturell. Dolmetscher, Ethnologen, Pädagogen und psychologische Fachkräfte haben demnach zu einem Gutteil denjenigen ethnischen bzw. religiösen Hintergrund, den auch die Patientengruppen mitbringen. Weitaus größte (religiöse) Zielgruppe ist mit 60 % die muslimische Gemeinde, die sich länderspezifisch aus dem ehemaligen Jugoslawien und der Türkei (jeweils 20 %), arabischen Ländern (15 %) und Iran (5 %) speist. Damit spiegelt sich hier die migrationsspezifische Sozialstruk© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40172-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-40172-0

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tur Deutschlands und im Einzelnen der Region BerlinBrandenburg wider. Theoretische Grundlagen schöpft das ZIPP aus der Ethnopsychoanalyse mit den maßgeblichen Konzeptionen von – allen voran – Parin (1978), Nadig (1986), Reichmayr (1995). Ferner ist das Bemühen um Integration freier Träger psychosozialer Versorgung sowie der Regelversorgung in die eigene Betreuungspalette charakteristisch für die dortige Arbeit. Die Hälfte aller Zuweisungsaufträge (die zu 40 % aus ambulanten Beratungsstellen, von Ärzten und Krankenhäusern erteilt wurden) beziehen sich dabei auf Psychotherapeutische Dienste. Die Rate von zehn Anfragen an das ZIPP aus Berlin und Umland pro Woche, die sich nach einer kurzen Phase der Öffentlichkeitsarbeit einstellte, legt dabei den Schluss nahe, dass sich hier eine Versorgungslücke zu schließen beginnt. Die mit 60 % vorherrschende Diagnose lautet weiterhin »Anpassungs- und Belastungsstörungen«. Des Weiteren vermuten die Autoren eine Resignation bei den ihnen vorgeschalteten Behandlern. Sie können die in der Literatur geschilderte hohe Abbrecherquote nicht bestätigen (Kassim et al., 2004). Nicht nur an dieser Stelle zeigen sich die Autoren von ihrem kultursensiblen Ansatz überzeugt, sondern auch bei der Diagnostik: Verwiesen wird zudem auf ein Diagnosespektrum, begleitet von einer »äußerst variationsreichen Symptomatik, die zuvor oft falsch eingeschätzt wurde« (Kassim et al., 2004, S. 19).

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Die Bertaklinik zu Hannover DRK-Bertaklinik Hannover gGmbH Bertastraße 10 30159 Hannover Tel. + 49 (0)511 30408-0 Am 1. November 2004 öffnete in Hannover eine Station ihre Türen, die in ihrer bestehenden Form ein Novum in Deutschland darstellte. Zum ersten Mal wurde eine islamsensible klinische Station aus der Taufe gehoben, die auch in ihrer Entstehungsgeschichte beispielhaft war: An diesem Konzept waren niedergelassene türkische Ärzte der Stadt genauso beteiligt wie Wissenschaftler der Medizinischen Hochschule und des Ethnomedizinischen Zentrums Hannover. Patienten werden auf den Gebieten Chirurgie, Gynäkologie, Innere Medizin und Urologie behandelt. Eine türkische Assistenzärztin und zwei türkische Krankenschwestern behandeln, für 23 Betten zuständig, überwiegend türkische Patienten unter Rücksichtnahme auf islamische Gebote. Sprachbarrieren, kulturspezifische Krankheitsverständnisse, Bet- und Ernährungsvorschriften, Einbindung der Familie in die Pflege usw. erfahren auf diese Weise erstmals konzeptuell und systematisch in der Regelversorgung Berücksichtigung. Die Einrichtung folgt damit einer Entwicklung hin zu einer stärkeren Berücksichtigung interkultureller Anforderungen, wie sie z. B. in der Allgemeinen Klinik zu Wien bereits seit einem Jahrzehnt existiert. Weitere Einrichtungen, die ähnlich wie die Hannoveraner Bertaklinik den Versuch der interkulturellen Öffnung übernommen haben, befinden sich in Bremen, Leipzig und Langenfeld. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40172-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-40172-0

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Deutsch-türkische Verständigungsprobleme in den Griff bekommen

Günsel Koptagel-Ilal / Ibrahim Özkan Wörterbuch Psychiatrie – Psychotherapie Psikiyatri – Psikoterapi Sözlügü

Deutsch – Türkisch / Türkisch – Deutsch. Almanca – Türkçe / Türkçe – Almanca 2008. 258 Seiten, gebunden ISBN 978-3-525-49129-4 Nach der Einwanderung türkischer Arbeitnehmer und dem Anstieg der türkischen Bevölkerungszahl auf über zweieinhalb Millionen in Deutschland hat die psychiatrische und psychosoziale Versorgung dieser Volksgruppe an Wichtigkeit gewonnen. Es treten jedoch immer wieder Verständigungsschwierigkeiten auf in der Arzt-Patient-Kommunikation wie auch unter deutsch- und türkischsprechenden Fachkollegen, die zusammenarbeiten oder sich intensiv austauschen wollen. Zudem können zwar die meisten der in Deutschland lebenden türkischen Ärzte, Psychologen, Soziologen fließend Türkisch sprechen, beherrschen aber nur selten die psychiatrisch-psychologische Fachterminologie ihrer Muttersprache. Darüber hinaus benötigen auch andere Berufsgruppen (Ämter und Behörden, Konsulate, Polizei, Juristen, Dolmetscher) ein Nachschlagewerk für psychiatrisch-psychotherapeutische Fachwörter. Dieses deutsch-türkische und türkisch-deutsche Wörterbuch beinhaltet das umfangreiche Begriffssystem der Psychiatrie und angrenzender Gebiete mit je 5600 Begriffen. Es soll primär der praktischen Anwendung dienen und umfasst deshalb auch allgemeinpsychologisches Vokabular. Die türkischen Begriffe werden je nach ihrer Anwendungsbreite mit den sprachlich älteren und den modernen Wörtern angegeben.

© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40172-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-40172-0