Neuvermessung des Religionsunterrichts nach Art. 7 Abs. 3 GG: Zur Zukunft religiöser Bildung [1 ed.] 9783737013123, 9783847113126

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Neuvermessung des Religionsunterrichts nach Art. 7 Abs. 3 GG: Zur Zukunft religiöser Bildung [1 ed.]
 9783737013123, 9783847113126

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Veröffentlichungen des Instituts für Islamische Theologie der Universität Osnabrück

Band 11

Herausgegeben von Bülent Uçar, Martina Blasberg-Kuhnke, Rauf Ceylan und Andreas Pott

Die ersten vier Bände dieser Reihe sind unter dem Reihentitel »Veröffentlichungen des Zentrums für Interkulturelle Islamstudien der Universität Osnabrück« erschienen.

Andreas Kubik / Susanne Klinger / Cos¸kun Sag˘lam (Hg.)

Neuvermessung des Religionsunterrichts nach Art. 7 Abs. 3 GG Zur Zukunft religiöser Bildung

Mit 2 Abbildungen

V&R unipress Universitätsverlag Osnabrück

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar. Veröffentlichungen des Universitätsverlags Osnabrück erscheinen bei V&R unipress. Gedruckt mit freundlicher Unterstützung des Bundesministeriums für Bildung und Forschung. © 2022 Brill | V&R unipress, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen, ein Imprint der Brill-Gruppe (Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland; Brill Österreich GmbH, Wien, Österreich) Koninklijke Brill NV umfasst die Imprints Brill, Brill Nijhoff, Brill Hotei, Brill Schöningh, Brill Fink, Brill mentis, Vandenhoeck & Ruprecht, Böhlau, Verlag Antike und V&R unipress. Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISSN 2198-5324 ISBN 978-3-7370-1312-3

Inhalt

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Susanne Klinger Neuvermessung des Religionsunterrichts nach Art. 7 Abs. 3 – eine Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

9

I. Rechtshistorische und juristische Hintergründe Hendrik Munsonius Religionsunterricht nach Art. 7 Abs. 3 GG – historisch bewährt, aber überlebt? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Angelika Günzel Art. 149 WRV und Art. 7 Abs. 3 GG: Alles beim Alten aus jüdischer Sicht? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Janbernd Oebbecke Art. 7 Abs. 3 GG und die Weiterentwicklung des Religionsunterrichts

. .

69

Michael Bauer Weltanschauungsunterricht. Anmerkungen zu einem inzwischen 100jährigen Problem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

87

II. Bestandsaufnahmen aus der Sicht religiöser Minderheiten und Konfessionsloser

Annett Abdel-Rahman Zum Stand und zu Entwicklungsmöglichkeiten des islamischen Religionsunterrichts in Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101

6

Inhalt

Uri R. Kaufmann Judentum, Religionsunterricht und der deutsche Staat . . . . . . . . . . . 117

III. Alternativen, Grauzonen, Ersatzfächer Bernd Schröder Welche Formen von Religionsunterricht existieren neben dem konfessionellen Religionsunterricht – offiziell und im Graubereich? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149 Anne Burkard Herausforderungen für die Kooperation zwischen bekenntnisorientiertem Religionsunterricht und seinen Ersatzfächern. Eine philosophiedidaktische Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179 Eva-Maria Kenngott Interreligiöser Religionsunterricht in Bremen . . . . . . . . . . . . . . . . 203

IV. Religionspädagogische Perspektiven Joachim Willems Art. 7 Abs. 3 GG bleibt – aber wohin geht der Religionsunterricht? Eine evangelische Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 231 Jan Woppowa Konfessioneller Religionsunterricht, wohin? Ein Antwortversuch aus katholischer Sicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 251 Cos¸kun Sag˘lam Einführung des Islamischen Religionsunterrichts und aktuelle Herausforderungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 273 Tarek Badawia / Said Topalovic Kontextbezogen – Vernunftbasiert – Lebensweltorientiert. Bildungstheologische und didaktische Bestimmungen des Islamischen Religionsunterrichts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 291

V. Statt eines Nachworts Andreas Kubik Kooperation – Dekonstruktion einer religionspädagogischen Sehnsucht Autor:innen

. . 317

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 335

Vorwort

Diesem Band liegen vorwiegend Vorträge zugrunde, welche auf einer Tagung vom 19. bis 21. September 2019 an der Universität Osnabrück gehalten und intensiv diskutiert wurden. Die Tagung stand unter dem Titel 100 Jahre Weimarer Reichsverfassung – 100 Jahre Religionsunterricht in der Demokratie. Zur Zukunft religiöser Bildung an öffentlichen Schulen. Einige Beiträge wurden von den Herausgebern im Nachgang der Tagung eingeworben, um den Band thematisch abzurunden. Für die unschätzbare Hilfe beim Lektorat, bei der Redaktion und der Gestaltung dieses Bandes danken wir der Lektorin Frau Sina Nikolajew (Berlin). Unser besonderer Dank gilt auch Frau Birgit Ardelt, die für die Erstellung des Bandes wertvolle Koordinationsarbeiten leistete. Herrn Prof. Dr. Bülent Uçar danken wir stellvertretend für den Herausgeberkreis für die unkomplizierte Aufnahme des Tagungsbandes in die Reihe Bildung und Integration – Veröffentlichungen des Instituts für Islamische Theologie der Universität Osnabrück. Herrn Oliver Kätsch vom Verlag Vandenhoeck & Ruprecht danken wir für die gute und bewährte verlegerische Zusammenarbeit. Osnabrück, Sommer 2021 Andreas Kubik, Susanne Klinger & Cos¸kun Sag˘lam

Susanne Klinger

Neuvermessung des Religionsunterrichts nach Art. 7 Abs. 3 – eine Einführung

1.

Historischer Rückblick

Der Religionsunterricht ist das einzige im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland ausdrücklich erwähnte Schulfach. Angesichts des Bedeutungsverlustes der organisierten christlichen Kirchen, des rasant wachsenden Anteils von Konfessionslosen sowie der fortschreitenden Ausdifferenzierung des religiösen Spektrums innerhalb und außerhalb der etablierten Religionsgemeinschaften spannt die Frage nach der Zukunft des bekenntnisorientierten Religionsunterrichts an der öffentlichen Schule jedoch ein anhaltend kontroverses Diskursfeld auf. Werfen wir zunächst einen kurzen Blick auf einige in der religionspolitischen Kontroverse prominent vertretene Positionen: Befürworter des christlichen, in konfessioneller Verantwortung erteilten Religionsunterrichts machen geltend, dass dieser auf eine lange Tradition zurückblicke und bereits mit Rücksicht auf die kulturprägende Kraft christlicher Traditionen ebenso wie die normativethischen Grundlagen humaner Praxis, wie sie sich in der westlichen Gesellschaft als Erbe des heilsgeschichtlichen jüdisch-christlichen Denkens herausgebildet haben, in seinen monokonfessionellen oder auch erweiterten konfessionell-kooperativen Realisierungsformen erhalten bleiben müsse. Auch solle der evangelische oder katholische Religionsunterricht angesichts der sozial-kulturellen Bedeutung und öffentlichen Wirksamkeit der christlichen Kirchen weiterhin den gesellschaftlichen Regelfall darstellen. Von laizistischer Seite wird dagegen die Forderung erhoben, an staatlichen Schulen den Religionsunterricht nach dem Vorbild Frankreichs, das heißt auf Grundlage einer strikten Trennung von Kirche und Staat, aus dem Fächerkanon zu streichen. Den Religionsgemeinschaften sei es schließlich vorbehalten, ersatzweise in eigener Regie einen außerschulischen Religionsunterricht anzubieten und zu gestalten. Weitere gesellschaftliche Stimmen verweisen darauf, dass sich das konfessionelle Prinzip überlebt habe – in der Schule spielten angesichts der tiefgreifenden modernitätsspezifischen gesellschaftlichen Transformationsprozesse konfessionelle Unterschiede immer

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Susanne Klinger

weniger eine Rolle – und fordern einen staatlichen konfessionsneutralen Religionskundeunterricht im Klassenverband ein. Wieder andere erinnern an das Neutralitäts- und Paritätsgebot des säkularen Staates, welches sie dahingehend interpretieren, dass auch religiösen Minderheiten sowie den Weltanschauungsgemeinschaften rechtlich gleichberechtigt mit den christlichen Großkirchen ein eigener bekenntnisorientierter schulischer Religions- bzw. weltanschaulicher Lebenskundeunterricht ermöglicht werden müsse. Konfessionslose und Freidenker machen in der religionspolitischen Debatte schließlich auf den rasant wachsenden Anteil religionsfreier Schülerinnen und Schüler aufmerksam und fordern einen verpflichtenden nicht religiös und nicht weltanschaulich gebundenen staatlichen Moral- bzw. Ethikunterricht ein, der unter säkularen Vorzeichen unterschiedlichen religiös wie nicht-religiös konnotierten Moralvorstellungen einen gemeinsamen Rahmen gibt. In Anbetracht der Tatsache, dass der Religionsunterricht in der Geschichte der Bundesrepublik wiederkehrend – sei es angesichts abnehmender Schülerzahlen seit Ende der 1960er Jahre, aufgrund der deutschen Wiedervereinigung oder in Reaktion auf die umstrittene Rolle von Religionen in religiös motivierten Gewaltkonflikten und den Missbrauch von Schutzbefohlenen – in den Fokus der öffentlichen Debatte gerückt ist, sprechen sicherlich gute Gründe dafür, die hier prototypisch skizzierte Kontroverse in der jüngeren Vergangenheit zu verorten. Die in ihr aufscheinenden Positionen waren jedoch sämtlich bereits im politischen Diskurs und in der öffentlichen Diskussion um den schulischen Religionsunterricht zu Beginn des 20. Jahrhundert leitend. Tatsächlich »gibt es im Grunde kaum einen heutigen Vorschlag« zu Organisationsformen des Religionsunterrichts, seiner Erteilung oder Abschaffung als Lehrfach an öffentlichen Schulen und zu seinen möglichen religionsneutralen Alternativangeboten, »der nicht auch bereits vor 100 Jahren gemacht […] und kaum ein Argument, das nicht auch damals bereits erwogen« worden wäre.1 Wie aber sah der schulische Religionsunterricht an der Wende zum vorigen Jahrhundert aus? Die Beschulung erfolgte überwiegend an weitgehend konfessionell-homogenen Bekenntnisschulen. Selbst für Konfessionslose war in der Regel die Teilnahme am Religionsunterricht verpflichtend. Die Möglichkeit zur Abmeldung blieb im Wesentlichen auf den Kreis jener Schülerinnen und Schüler beschränkt, deren Erziehungsberechtigte einer christlichen Freikirche angehörten, sofern das Angebot eines außerschulisch organisierten Religionsunterrichts als ordentliches Lehrfach im Gemeindekontext sichergestellt war. Auch hier aber wurde die Genehmigung, sich vom evangelischen oder reformierten Religions1 Andreas Kubik, »Die ›Weimarer Lösung‹ zum Problem des Religionsunterrichts. Ein Beitrag zur Frage ihrer Pluralitätsfähigkeit 2018«, in: Theologische Literaturzeitung 143 (2018), Sp. 181– 196, hier Sp. 182.

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unterricht freistellen zu lassen, keineswegs durchgängig erteilt. Lehrerinnen und Lehrer, die an den allgemeinen Volksschulen unterrichteten, waren grundsätzlich – ungeachtet ihrer persönlichen religiösen oder weltanschaulichen Orientierung – gehalten, christlichen, bekenntnisgebundenen Religionsunterricht zu erteilen. Neben dem in konfessioneller Verantwortung erteilten christlichen Religionsunterricht fand seit dem späten 19. Jahrhundert insbesondere an staatlich anerkannten jüdischen sowie an allgemeinen Volksschulen jüdischer Religionsunterricht orthodoxer, gelegentlich auch liberaler Prägung eine gewisse Verbreitung. Dieser aber stand vielerorts – auch noch in der Weimarer Zeit – unter der Kuratel des örtlichen protestantischen Pfarrers oder katholischen Priesters. Aus Diskussionen wie der oben geschilderten ist die Konstruktion des Religionsunterrichts in Art. 149 der Weimarer Reichsverfassung (WRV) hervorgegangen, die – weitgehend wortgleich – 1949 in das Bonner Grundgesetz übernommen wurde: (1) Der Religionsunterricht ist ordentliches Lehrfach der Schulen mit Ausnahme der bekenntnisfreien (weltlichen) Schulen. […] Der Religionsunterricht wird in Übereinstimmung mit den Grundsätzen der betreffenden Religionsgesellschaft unbeschadet des Aufsichtsrechts des Staates erteilt. (2) Die Erteilung religiösen Unterrichts […] bleibt der Willenserklärung der Lehrer, die Teilnahme an religiösen Unterrichtsfächern und an kirchlichen Feiern und Handlungen der Willenserklärung desjenigen überlassen, der über die religiöse Erziehung des Kindes zu bestimmen hat. (3) Die theologischen Fakultäten an den Hochschulen bleiben erhalten.

Der Sache nach handelt es sich bei der Verfassungsnorm um einen veritablen politischen Kompromiss, bei dem alle Beteiligten von ihren Maximalforderungen abrückten und sich auf das für sie absolut Notwendige beschränkten2 – ein Kompromiss, der, auch wenn er umstritten blieb, sich gleichwohl als tragfähig und belastbar erwies. Welche Leistungen erbrachten nun die den Religionsunterricht betreffenden staatskirchenrechtlichen Bestimmungen für die verschiedenen Parteiungen? Konfessionslose konnten einen doppelten Erfolg verbuchen: Zum einen besiegelte Art. 149 WRV im staatlichen Schulwesen das Ende der geistlichen Schulaufsicht. Die Schule war nun zu einer Veranstaltung des weltanschaulich und 2 Befördert wurde die Kompromissbereitschaft durch den heute wenig bekannten Umstand, dass einige linke Landesregierungen – allen voran Preußen, aber auch Sachsen und Hamburg – im Winter 1918/19 den konfessionellen Religionsunterricht bereits abgeschafft hatten. Vgl. Andreas Kubik, »Zu einer Neubewertung der sozialdemokratischen Haltung zum Religionsunterricht um 1918«, in: Religiöse Bildung und demokratische Verfassung in historischer Perspektive, hrsg. von Gregor Reimann und Michael Wermke, Leipzig 2019, S. 41–55.

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religiös neutralen Staates und seiner pädagogischen Fachaufsicht geworden. Zum anderen kam der Verfassungsartikel dem Recht auf negative Religionsfreiheit nach, indem er die Möglichkeit zur Abmeldung vom Religionsunterricht vorsah und die vom Religionsunterricht freigestellten Schülerinnen und Schüler auch von der ansonsten verpflichtenden Teilnahme an Schulgebeten und Gottesdiensten entband. Zugleich konnten staatliche Lehrkräfte nicht länger verpflichtet werden, gegen ihre Überzeugung Religionsunterricht zu erteilen. Darüber hinaus stand das Recht auf schulischen Religionsunterricht nicht allein den christlichen Kirchen zu – die Verfassung spricht so auch nicht von Kirchen, sondern von Religionsgesellschaften. Religionsunterricht als ordentliches Lehrfach in der Schule zu erteilen war damit kein Privileg der großen evangelischen und katholischen Konfessionen mehr, sondern stand – unter bestimmten Voraussetzungen – auch konfessionellen bzw. religiösen Minderheiten als Grundrecht zu.3 Durch Art. 149 Abs. 2 WRV war zudem die Möglichkeit eröffnet, auf Antrag der Erziehungsberechtigten bekenntnisfreie – in der damaligen Diktion als Sammelschule apostrophierte – Schulen einzurichten, in denen der Religionsunterricht kein ordentliches Lehrfach bildete, sondern durch einen moralbildenden Lebenskundeunterricht ersetzt wurde. Schließlich aber waren auch die Minimalforderungen der Kirchen bzw. der christlichen Parteien erfüllt: Der Religionsunterricht wurde nicht abgeschafft, sondern hatte weiterhin an den Schulen Bestand. Mit Ausnahme bekenntnisfreier Schulen war er ordentliches Lehrfach, ohne dass durch das Recht auf Freistellung sein Pflichtcharakter geschmälert wurde. Als ordentliches Lehrfach unterlag er zwar grundsätzlich der staatlichen Schulaufsicht, doch garantierte Art. 149 WRV, dass er in Übereinstimmung mit den Grundsätzen der betreffenden Religionsgemeinschaft erteilt wurde. Ebenso war nun der Fortbestand theologischer Fakultäten als Ausbildungsstätten an staatlichen Hochschulen institutionell gewährleistet. In Anbetracht der tiefen ideologischen, konfessionellen und politischen Gräben, welche zwischen den einzelnen Parteiungen zu Beginn des 20. Jahrhunderts verliefen, stellt der Artikel ein geradezu mustergültiges Beispiel politischer Vernunft dar. Verfassungen sind freilich nicht in Stein gemeißelt, sondern geschichtlich und damit variabel. Das macht auf fatale Weise die auf Weimar folgende nationalsozialistische Zeit deutlich. Nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten wurde der christliche Religionsunterricht zunächst deutsch-christlich beeinflusst, dann organisatorisch behindert und schließlich – mit regionalen Unter3 Staatskirchenrechtlich umstritten bleibt allerdings, inwiefern der Artikel, auch wenn er weit formuliert war, neben kleineren christlichen auch nicht-christliche Religionsgemeinschaften wie das Judentum einschloss. Vgl. dazu den Beitrag von Angelika Günzel in diesem Band.

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schieden – nicht mehr durchgeführt.4 Die Kirchen sahen sich verstärkt auf die gemeindliche Unterweisung zurückgeworfen. Unvergleichlich gravierender erwiesen sich die Folgen der NS-Herrschaft und der durch sie eingeleiteten politisch-kulturellen Zäsur für das Judentum: Jüdische Lehrer wurden unmittelbar nach der nationalsozialistischen Machtergreifung aus dem staatlichen Schuldienst verdrängt, 1936 wurde der jüdische Religionsunterricht verboten, kurze Zeit später wurden jüdische Schülerinnen und Schüler aus öffentlichen Schulen ausgeschlossen, 1942 auch sämtliche noch verbliebenen jüdischen Schulen geschlossen und jüdisches Leben in Deutschland nahezu vollständig ausgelöscht. Nach dem Zivilisationsbruch der NS-Diktatur schloss das Bonner Grundgesetz im Religionsverfassungsrecht überhaupt, spezifisch aber auch hinsichtlich des Religionsunterrichts erneut an die Weimarer Reichsverfassung an. Die sogenannten Weimarer Kirchenartikel, Art. 136, Art. 137, Art. 138, Art. 139 und Art.141 WRV, werden durch Art.140 in das Grundgesetz inkorporiert und bilden den Kern des bis heute geltenden Staatskirchen- bzw. Religionsverfassungsrechts. Auch die Regelung aus Art. 149 WRV wird in Art. 7 Abs. 3 nahezu wortgleich übernommen. Allerdings geht mit der Inkorporation der Regelungen in das Grundgesetz auch ein verändertes Verständnis des Verhältnisses von Staat und Kirche einher. Die Normen mögen gleich oder ähnlich formuliert sein, im geänderten Normkontext und im Horizont unterschiedlicher gesellschaftlicher Rahmenbedingungen besagen sie unweigerlich etwas anderes. In der prägnanten, vielfach zitierten Formulierung von Rudolf Smend: »Wenn zwei Grundgesetze dasselbe sagen, ist es nicht dasselbe.«5 Angesichts ihres unterschiedlich figurierten zeitgeschichtlichen, gesellschaftlichen, politischen und normativen Kontextes führen so auch die weitgehend identischen Formulierungen von Art. 149 WRV und Art. 7 GG jeweils anders geartete Auslegungshorizonte mit sich. Zwar blieb – auch wenn die Religionsartikel im Grundgesetz und Art. 7 Abs. 3 kein Privileg der christlichen Kirchen normieren – das in der Weimarer Zeit primär bikonfessionell angelegte Arrangement zwischen Staat und Kirche in der Frühzeit der Bundesrepublik zunächst erhalten. Das Verhältnis von Staat und Kirche findet eine Neubestimmung im Sinne einer gleichgeordneten, partnerschaftlichen Kooperation von Staat und kirchlichen Korporationen, weshalb die staatliche Rechtsaufsicht über kirchliche Körperschaften nun entfällt. Für das staatskirchenrechtliche Kooperationsmodell relevante Aspekte einer wechselseitigen Ergänzung von Staat und Religion bilden dabei vor allem der Öffent-

4 Vgl. Folkert Rickers, Zwischen Kreuz und Hakenkreuz. Untersuchungen zur Religionspädagogik im »Dritten Reich«, Neukirchen-Vluyn 1995. 5 Rudolf Smend, »Staat und Kirche nach dem Bonner Grundgesetz«, in: Zeitschrift für evangelisches Kirchenrecht 1 (1951), S. 4–14, hier S. 4. – Vgl. dazu auch den Beitrag von Angelika Günzel in diesem Band.

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lichkeitsauftrag und die Gemeinwohlverpflichtung der Kirchen. Der religiös und weltanschaulich neutrale Staat zeigt sich »um des eigenen Bestandes und des eigenen Funktionierens willen auf eine gute und enge Kooperation mit den (ihn bejahenden) Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften angewiesen […]. Mit Art.7 Abs.3 GG stellt sich die staatliche Schule nicht in den Dienst der Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften; vielmehr lädt sie diese ein, in der konfessionsgebundenen Unterrichtung von Kindern und Jugendlichen gemeinwohlförderliche Grundlagen- und Grundlegungsarbeiten zu leisten, auf die der Verfassungsstaat als Gemeinwesen mit begrenztem Sinnstiftungsangebot angewiesen ist, die selbst zu erbringen ihm aber infolge seiner Neutralität untersagt ist.«6

Gehörten 1950 gut 95 Prozent der Deutschen einer christlichen Kirche an, treten seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in der Folge einer fortschreitenden Säkularisierung auf der einen und einer forcierten religiösen und weltanschaulichen Pluralisierung auf der anderen Seite immer deutlicher die Integrationspotenziale des Religionsverfassungsrechts hervor. Der allgemeine Gleichheitsgrundsatz gebietet, die in Deutschland praktizierenden Religionen, sofern sie sich unter dem Aspekt ihrer historisch-kulturellen Präsenz, institutionellen Verfasstheit und Verfassungskonformität, des Bildungsauftrag von Schule oder der Mitgliederzahlen als gleich erweisen, auch gleich zu behandeln und ihnen die Möglichkeit zur Erteilung von Religionsunterricht zu gewähren. Längst wird Religionsunterricht in Deutschland nicht mehr vornehmlich für Schülerinnen und Schüler lutherischen, reformierten oder römisch-katholischen Bekenntnisses angeboten.7 In Bayern bereits in den 1950er Jahren eingerichtet, ist orthodoxer bzw. syrisch-orthodoxer Religionsunterricht nun auch in weiteren Bundesländern vertreten. Von Beginn der Bundesrepublik an ist der jüdische dem christlichen Religionsunterricht als ordentliches Schulfach rechtlich gleichgestellt. Nach der systematischen Vernichtung jüdischen Lebens kam er in der unmittelbaren Nachkriegszeit allerdings zunächst aufgrund verschwindend geringer Schülerzahlen nicht zustande, wurde dann seit den 1960er Jahren vor allem begrenzt auf einige wenige städtische Zentren jüdischen Lebens erteilt, bis in den 1990er Jahren mit dem Zuzug mehrheitlich nicht oder kaum religiös geprägter jüdischer Emigranten aus den Gebieten der ehemaligen Sowjetunion der Bedarf an einem staatlich anerkannten gemeindlichen und schulischen, identitätsstiftenden jüdischen Religionsunterricht wieder stieg. Mit der wachsenden Anzahl muslimischer Schülerinnen und Schüler wurde in den 1970er und

6 Matthias Jestaedt, »Schule und außerschulische Erziehung«, in: Handbuch des Staatrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. VII: Freiheitsrechte, hrsg. von Josef Isensee und Paul Kirchhof, Heidelberg 32009, S. 521–596, hier S. 571. 7 Die folgende Auflistung beansprucht keinen Anspruch auf Vollständigkeit und lässt sich entsprechend ergänzen.

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1980er Jahren zudem in einer Reihe von Bundesländern zunächst probeweise ein religionskundlicher Islamunterricht mit Türkisch oder Arabisch als Unterrichtssprache und – seit 1999 im Rahmen von Schulversuchen – das Fach ›Islamkunde‹ eingeführt. In den frühen 2000er Jahren etablierten unter anderem Rheinland-Pfalz und Bayern, später auch das Saarland an ausgewählten Grundschulen und schließlich auch an weiterführenden Schulen Modellprojekte zu einem bekenntnisorientierten islamischen Religionsunterricht. In NordrheinWestfalen und Niedersachsen ist der islamische Religionsunterricht mittlerweile Regelfach. Darüber hinaus wird, so etwa in Nordrhein-Westfalen, Baden-Württemberg, Bayern oder Niedersachsen, sofern es die Schülerzahlen erlauben, auch alevitischer Religionsunterricht als ordentliches Lehrfach an Regelschulen erteilt. Neben Berlin8 bietet Brandenburg humanistischen Lebenskundeunterricht als freiwilliges, vom Humanistischen Verband Berlin-Brandenburg verantwortetes Unterrichtsfach an. In Bayern trägt die Humanistische Lebenskunde als bekenntnisorientierter Weltanschauungsunterricht den Status eines ordentlichen Lehrfachs. Religiöse Bildung kann sich unter den Bedingungen einer religiös-pluralen Gesellschaft nicht länger in der Einführung von Kindern und Jugendlichen in einen festen Glaubens-, Weltanschauungs- und Kulturkontext erschöpfen. Konfessionell-kooperative Organisationsformen in Verbindung mit Konzepten eines pluralitätsbefähigenden (inter-)religiösen Lernens, die Kinder und Jugendliche zu einer selbstreflexiv-kritischen Prüfung religiöser Sinnkonstruktionen anleiten, bilden mittlerweile eine, wenn nicht sogar die maßgebliche Legitimationsinstanz für den schulischen konfessionellen Religionsunterricht. Die am Religionsunterricht teilnehmenden Schülerinnen und Schüler sollen über die hermeneutische Erschließung religiöser Traditionen zur autonomen Urteilsbildung in Fragen des Glaubens und der Religion befähigt werden. In der dialogischen Begegnung mit anderen religiösen Traditionen lernen sie, Religionen als geschichtlich-kulturelle Zeichensysteme zu lesen und zu verstehen. Religiöse Bildung leistet auf diese Weise im Raum der Schule nicht nur einen Beitrag zur weltanschaulichen Identitätsbildung, sondern trägt auch zur Prävention von tendenziell antidemokratischen religiös-fundamentalistischen Orientierungen bei.9 8 Unter Inanspruchnahme von Art. 141 GG bieten in Berlin neben dem Humanistischen Verband zudem insgesamt neun Religions- bzw. Weltanschauungsgemeinschaften, darunter die Jüdische Gemeinde in Berlin, die Griechisch-Orthodoxe Metropolie von Deutschland, die Buddhistische Gesellschaft in Berlin und das Kulturzentrum Anatolischer Aleviten einen konfessorisch gebundenen Unterricht an. 9 Vgl. Susanne Klinger/Christian Espelage, »Von der Hermeneutik zur Didaktik – Interreligiöse Bildung als Differenzkompetenz«, in: Interreligiöse Öffnung durch Begegnung. Grundlagen – Erfahrungen – Perspektiven im Kontext des christlich-islamischen Dialogs, hrsg. von Christian

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Art. 7 Abs. 3 des Grundgesetzes lässt dabei der organisatorischen und konzeptionellen Ausgestaltung und Weiterentwicklung des schulischen Religionsunterrichts große Freiheitsräume. Der bekenntnisorientierte Religionsunterricht schließt konstitutiv das Grundrecht auf negative wie positive Religionsfreiheit ein und eröffnet zahlreichen kleineren Religionsgemeinschaften sowie Konfessionslosen vielfältige Möglichkeiten der Mitwirkung. Was Ernst-Wolfgang Böckenförde vor mehr als einem halben Jahrhundert im Blick auf das politischkulturelle Dispositiv des freiheitlich-demokratischen Verfassungsstaates konstatierte, lässt sich freilich – mutatis mutandis – auch auf den schulischen Religionsunterricht übertragen: Auch Art. 7, Abs. 3 GG »lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann«.10 Angesichts allgemeiner weltanschaulicher, religiöser und kultureller Vielfalt stellt sich die Frage nach seiner Zukunftsfähigkeit und seinem Fortbestand neu.

2.

Die Beiträge dieser Publikation

Ausgehend von der verfassungsrechtlichen Grundnorm entfaltet der vorliegende Band im Licht verschiedener Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften wie dem Judentum, Christentum, Islam und Humanismus Perspektiven für einen zukunftsfähigen Religionsunterricht und lotet Kooperationsmöglichkeiten zwischen dem Religionsunterricht und seinen Ersatzfächern wie Ethik, Philosophie oder Werte und Normen aus.

2.1

Verfassungsrechtliche Klärungen

Henrik Munsonius nimmt Herkunft, Entwicklung und aktuelle Herausforderungen des Religionsunterrichts unter dem Aspekt der ihn tragenden verfassungsrechtlichen Normen in den Blick. Letztere gehen, wie der Beitrag deutlich macht, zurück auf den Kompromiss der Weimarer Reichsverfassung, der durch Art. 7 Abs. 3 GG weitgehend übernommen wurde. Danach ist der Religionsunterricht ordentliches Lehrfach und wird in inhaltlicher und personeller Rückbindung an die Religionsgemeinschaften erteilt. Zwar gerät das lange vorherrschende Konzept eines nach Lehrperson, Inhalt und Schülerschaft konfessionell homogenen Religionsunterrichts zunehmend unter Druck, so dass Formen inEspelage, Hamideh Mohagheghi und Michael Schober, Hildesheim u. a. 2021, S. 47–64, hier besonders S. 48f. 10 Ernst-Wolfgang Böckenförde, »Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation«, in: ders., Kirche und christlicher Glaube in den Herausforderungen der Zeit. Beiträge zur politischtheologischen Verfassungsgeschichte 1957–2002, Münster 2004, S. 213–230, hier S. 229.

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terkonfessioneller und interreligiöser Kooperation diskutiert und erprobt werden. Der maßgebliche Gesichtspunkt für die verfassungsrechtliche Beurteilung ist jedoch das Selbstverständnis der Religionsgemeinschaften, aus dem sich inhaltliches Profil, personeller Zuschnitt und Spielräume für Kooperationen ergeben müssen. Der Beitrag von Angelika Günzel ist einer rechtshistorischen und -dogmatisch-vergleichenden Analyse von Art. 149 WRV und Art. 7 Abs. 3 GG aus jüdischer Sicht gewidmet. Mit Blick auf jüdische Religionsgemeinschaften wird hier deutlich: Im jeweiligen historischen Verfassungskontext folgt aus den Verfassungsvorgaben – trotz des nahezu identischen Wortlautes – ausgesprochen Disparates. Während Art. 149 WRV als Norm ausschließlich den christlichen Religionsunterricht als ordentliches Lehrfach einschloss und insofern zu keiner rechtlichen Gleichstellung von jüdischem und christlichem Religionsunterricht führte – die Mehrzahl jüdischer Schülerinnen und Schüler besuchte allgemeine, de facto christliche Schulen –, ist Art. 7 Abs. 3 GG als eine prinzipiell für alle Religionsgemeinschaften offene Norm auszulegen; auch der jüdische Religionsunterricht trägt den Status eines ordentlichen Lehrfachs. Allerdings trifft die Etablierung des Fachs vielfach nun auf nicht-rechtlich begründete Hindernisse wie geringe Schülerzahlen oder den Mangel an jüdischen Lehrerinnen und Lehrern. Bildete der jüdische Religionsunterricht in der Weimarer Zeit vor allem ein Assimilationsinstrument, steht heute die Wahrung jüdischer Identität im Vordergrund. In Janbernd Oebbeckes Beitrag weitet sich die juristische Perspektive auf die Frage einer verfassungskonformen Weiterentwicklung des Religionsunterrichts aus. Die in der Themenstellung anklingende Verknüpfung von verfassungsrechtlicher Vorgabe und – eines als notwendig oder wünschenswert erachteten – Weiterentwicklungsbedarf erscheint allerdings, wie der Autor zu bedenken gibt, nur auf den ersten Blick evident. Tatsächlich eröffnet Art. 7 Abs. 3 GG Organisation und Praxis des Religionsunterrichts große Freiräume. Religionsunterricht kann – rechtlich abgesichert – durchaus in kleinen konfessionell homogenen Lerngruppen erfolgen. Ebenso wäre unter bestimmten Voraussetzungen die generelle Einführung eines konfessionell-kooperativen oder auch religionskundlich perspektivierten Unterrichts möglich. Als heuristisch aufschlussreich erweist sich in diesem Zusammenhang eine Analyse, in der der Autor zunächst den Motiven nachgeht, die den Ruf nach einer konzeptionellen oder organisatorischen Weiterentwicklung des konfessionellen Religionsunterrichts oder auch umgekehrt nach Bewahrung des Status quo anleiten, bevor er Grenzen des Geltungsbereichs der grundgesetzlichen Bestimmungen zum schulischen Religionsunterricht markiert und Möglichkeiten seiner Fortentwicklung andenkt.

18 2.2

Susanne Klinger

Bestandsaufnahmen aus der Sicht religiöser Minderheiten und Konfessionsloser

Michael Bauer wirft aus Sicht humanistischer Verbände ein Licht auf Art.7 Abs.3 GG. An der prinzipiellen Berechtigung, einen eigenen bekenntnisgebundenen, humanistisch-weltanschaulichen Unterricht im Rahmen der Verfassung anzubieten, gibt es zwar keinen Zweifel. Ein Blick in die Praxis aber zeigt: Konfessionsfreie und Nichtreligiöse mit weltanschaulich-humanistischer Orientierung sind in öffentlichen Debatten unterrepräsentiert. Das verwundert nicht zuletzt deswegen, weil die humanistischen Verbände und ihre Vorläufer – die freireligiösen Gemeinden – auf eine über hundertjährige Geschichte zurückblicken können. Ihre ›Debattenposition‹ wird freilich dadurch geschwächt, dass es im säkular-humanistischen Spektrum durchaus divergierende Auffassungen darüber gibt, wie und in welchem Organisationsrahmen die Stimme von Atheisten und Konfessionslosen im Raum der Schule am besten repräsentiert wäre. Der Autor zeigt am Beispiel vor allem Bayerns, mit welchen konkreten Hürden sich humanistische Gruppierungen in ihrem Wunsch nach eigenen Schulen und einem eigenen Weltanschauungsunterricht konfrontiert sehen. Der Beitrag macht deutlich: Eine ausgewogene Behandlung von Religionen und nichtreligiösen Weltanschauungen ist im Raum der öffentlichen Schule zurzeit nicht gewährleistet. Der Beitrag von Annett Abdel-Rahman gilt einer Bestandsaufnahme des islamischen Religionsunterrichts an Schulen in Deutschland. Die Autorin gibt einen Überblick über unterschiedliche Modellprojekte, Organisationsformen und inhaltliche Profilierungen des Faches in den Bundesländern. Am Beispiel der Entwicklung des Faches in Niedersachsen wird deutlich, wie komplex die Aufgabe, islamischen Religionsunterricht als ordentliches Lehrfach zu etablieren, anzusetzen und konzeptionell und didaktisch umzusetzen ist. Als bleibendes Desiderat und bedeutsame Zukunftsaufgabe markiert die Autorin die Frage nach einer an aktuelle allgemeinpädagogische, lerntheoretische wie auch christlichreligionspädagogische Diskurse anschlussfähigen bildungstheoretischen Verankerung islamischer Religionspädagogik.

2.3

Judentum, Religionsunterricht und der deutsche Staat

Uri R. Kaufmann beleuchtet die wechselvolle Geschichte des jüdischen Schulwesens vom Ausgang des 18. Jahrhunderts bis in die bundesrepublikanische Gegenwart, nimmt vertiefend die Frage nach Verbreitung, rechtlichem Status und Organisationsformen jüdischen Religionsunterrichts in jüdischen und allgemeinen Volksschulen sowie der Regelschule in den Blick und wirft ein Licht auf die Ausbildung jüdischer Lehrkräfte. Zieht man die Fluchtlinien seiner his-

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toriographischen Beobachtungen aus, so zeigt sich: Jüdischer Religionsunterricht konnte sich aufgrund mannigfaltiger Widerstände – er stand bis ins 19., in einigen Regionen bis ins 20. Jahrhundert unter christlicher Kuratel – in der deutschen Regelschule nie nachhaltig etablieren. In der Folge von Urbanisierung und Assimilation nahm seit dem späten 19. Jahrhundert auch die Zahl jüdischer Schulen stetig ab. Nach dem Verbot jüdischen Religionsunterrichts, dem Ausschluss jüdischer Schülerinnen und Schüler aus dem allgemeinen Schulwesen und der Vernichtung jüdischen Lebens in nationalsozialistischer Zeit vermochten sich religiöses jüdisches Leben und jüdischer Religionsunterricht in der Bundesrepublik erst allmählich zu konsolidieren. Zwar ist der jüdische Religionsunterricht dem christlichen nun rechtlich gleichgestellt, einmal mehr steht er heute aber vor tiefgreifenden Herausforderungen. Jüdischer Religionsunterricht muss sich in einem komplexen Spannungsfeld von zunehmender Säkularisierung und Religionsferne der jüdischen Mehrheit, dem Angebot eines religionsoder lebenskundlichen Religionsunterrichts in einigen Bundesländern, die zugleich Zentren des jüdischen Lebens bilden, und dem Interesse an Traditionserhalt und orthodoxer Profilierung der Religionspädagogik wie einem wachsenden Antisemitismus im schulischen Umfeld behaupten.

2.4

Alternativen, Grauzonen, Ersatzfächer

Der Beitrag von Bernd Schröder markiert zunächst Charakteristika des Religionsunterrichts nach Art.7 Abs.3 GG, die nach Meinung des Autors die Grundlage einer anstehenden Reform des Faches bilden sollten. Im Weiteren werden – rechtlich, fachlich und didaktisch ausgearbeitete – Makromodelle schulischer religiöser Bildung in Deutschland und Europa typologisierend beschrieben, ehe sogenannte Mikromodelle (denen eines oder mehrere der genannten Merkmale fehlen) in den Fokus rücken. Der Gewinn dieses Beitrags liegt in dieser Kartografie der Formen des Religionsunterrichts; abschließende Bemerkungen zu Kriterien und Wegen einer etwaigen Neujustierung verweisen auf andere Orte, wo solche Kriterien und Wege elaboriert werden. Anne Burkard lotet Chancen und Grenzen einer Kooperation der Fächer Ethik/Werte und Normen/Philosophie mit dem Religionsunterricht aus. Sie notiert dazu vor allem eine Reihe von Herausforderungen, welche eine Kooperation jedenfalls nicht als unproblematischen Normalfall erscheinen lassen. In den genannten Fächern steht der religionsbezogene Anteil keineswegs im Zentrum, und sofern es um Religion geht, ist die Art des Zugriffs durchaus unterschiedlich. Weitaus wichtiger wäre ihrer Meinung nach, dass die Ersatzfächer ihr je eigenes Profil schärfen und sich untereinander eventuell auch angleichen. Dabei steht dann auch die Frage im Raum, wie die religionsbezogenen Bestände

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im Studium gewährleistet werden. An dieser Stelle sieht Burkard größere Chancen für eine Zusammenarbeit mit den theologischen Fächern. Der Beitrag von Eva-Maria Kenngott erinnert zunächst an die beiden Wurzeln der Bremischen Spezialsituation, aus denen die ›Bremer Klausel‹ (Art. 141 GG) erwuchs: einmal der Unterricht in ›biblischer Geschichte‹, wie er sich schon im späten 18. Jahrhundert etablierte, dann das eher religionskundliche Modell, welches Teile der Bremischen Lehrerschaft um 1905 forderten. Art.32 der Bremer Landesverfassung ist deshalb in der Sache unklar, was nach Kenngott dazu führte, dass der Unterricht während des 20.Jahrhunderts zunehmend an Qualität verlor. Seit 2014/15 gibt es einen Neustart, der sich an den Hamburger Lehrplan anlehnt und eine religionskundliche Ausrichtung des Faches präferiert. Die »christliche Grundlage« aus Art. 32 LVerf wird im Sinne des kulturell Bedeutsamen aufgefasst. Der Unterricht soll interreligiöse Bildung ermöglichen, wobei die anderen verfassungsrechtlichen Voraussetzungen die Einlösung dieser Zieldimension erschweren: Die »allgemeine christliche Grundlage« erweist sich mitunter als Hindernis für den Dialog. Daraus folgt, die Theorien des interreligiösen Lernens nicht nur – wie bislang – pluralitätssensibel, sondern auch machtsensibel weiterzuentwickeln. Die Ziele des interreligiösen Unterrichts können, so das Resümee der Autorin, überzeugen, müssen aber noch stärker auf ihre häufig nicht thematisierten Voraussetzungen und vermeintlichen Selbstverständlichkeiten hin befragt werden.

2.5

Religionspädagogische Perspektiven

Der evangelische Religionspädagoge Joachim Willems nimmt in fünf Thesen Weichenstellungen für einen zukunftsfähigen Religionsunterricht vor. Die Formulierung eines normativen Erwartungshorizontes für einen zukünftigen Religionsunterricht ist freilich, wie der Autor betont, nicht ohne eine empirische Beschreibung seiner aktuellen und auch in naher und mittlerer Zukunft wahrscheinlich prägenden Kontextbedingungen leistbar. Unter den Bedingungen maximaler religiöser und weltanschaulicher Diversität und der Tendenz zu zunehmender Säkularisierung und Individualisierung habe der Religionsunterricht Schülerinnen und Schüler in religiöse Sprach- und Ausdrucksformen einzuführen, Sinnfragen, die sich einer Konversion in technisch-zweckrational bearbeitbare Fragen entziehen, wach und offen zu halten, und so – in kritischselbstreflexiver Absicht – Erfahrung mit Religion zu ermöglichen. Programmatisch markiert der Beitrag unter den Stichworten »religionsbezogene Pluralitätsfähigkeit und interreligiöse Bildung«, differenzkompetente »Unterscheidung von Modi der Welterschließung« und selbstkritische »Reflexion von Zuschreibungspraktiken« Standards, hinter die der Religionsunterricht, soll er sich als

Neuvermessung des Religionsunterrichts nach Art. 7 Abs. 3 – eine Einführung

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zukunftsfähig erweisen, nicht zurückfallen darf, und diskutiert Möglichkeiten und Grenzen ihrer gelingenden Umsetzung. Auf katholischer Seite unternimmt es Jan Woppowa, Positionslichter für eine zukunftsfähige konzeptionelle Gestaltung des Religionsunterrichts zu setzen. Als zukunftsfähig erweist sich – so die Leitthese des Beitrags – ein religiöses Lernen, das den Anspruch an ein bekenntnisbefähigendes Lernen mit dialogisch-kooperativen Lernformen, die einen differenzierten Umgang mit religiös-weltanschaulicher Pluralität ermöglichen, vermittelt. Ankerpunkte für einen solchermaßen zukunftsfähigen, durch das Recht auf positive wie negative Religionsfreiheit normierten katholischen Religionsunterricht entsprechend Art. 7 Abs. 3 GG bilden zum einen dessen Selbstverständnis als reflektierte Diakonie und damit eine an den Bildungsansprüchen und -bedürfnissen der Kinder und Jugendlichen selbst orientierte Zielbestimmung religiösen Lernens. Religiöse Bildung im katholischen schulischen Religionsunterricht beansprucht hier insbesondere über die Vermittlung (ideologie-)kritischer Urteilskompetenzen die religiöse Bildung seiner Subjekte zur individuellen Ausübung praktischer Religionsfreiheit. Für die Weiterentwicklung des Religionsunterrichts maßgeblich erweisen sich zum anderen an unterschiedliche regionale Erfordernisse angepasste konfessionelle Kooperationsmodelle, wobei, wie der Autor hervorhebt, zukünftig noch eine stärkere ökumenische Profilierung und interreligiöse Weitung des Kooperationsgedankens sowie die Öffnung der Lerngruppen auf maximale weltanschauliche Heterogenität in den Blick zu nehmen sein werden.

2.6

Einführung des Islamischen Religionsunterrichts und aktuelle Herausforderungen

Anders als die christlichen Theologien blicken die akademische islamische Theologie und der islamische Religionsunterricht an öffentlichen Schulen noch auf eine sehr junge Geschichte zurück. Cos¸kun Sag˘lam geht auf die Diskussionen im Vorfeld ihrer Einführung – unter anderem im Rahmen der Deutschen Islamkonferenz – ein, expliziert Motive und Ziele des Wissenschaftsrates und nimmt die folgenden Auseinandersetzungen über die inhaltliche Ausrichtung Islamischer Theologie in den Blick. Des Weiteren konstatiert der Autor – im Rekurs auf aktuelle empirische Erhebungen (Religionsmonitor der Bertelsmann Stiftung) – eine Diskrepanz zwischen der Wahrnehmung der Musliminnen und Muslime seitens der Mehrheitsgesellschaft und der tatsächlichen Einstellung der Musliminnen und Muslime zu Deutschland und dem politischen System der Bundesrepublik. Darüber hinaus zeigt sich, dass – wie bereits vom Wissenschaftsrat prognostiziert – sich unterschiedliche Profile an den neuen Standorten für Islamische Theologie abzeichnen, was auch innerhalb der muslimischen

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community ein kontroverses Diskursfeld eröffnet. Neben einer groben Darstellung des rechtlichen Rahmens für den Religionsunterricht in Deutschland fokussiert der Autor aktuelle inhaltliche Herausforderungen für den islamischen Religionsunterricht und geht hierbei unter anderem auf seine mögliche Rolle in der Extremismusprävention ein. Ausgehend vom Grundrecht auf religiöse Bildung nach Art. 7 GG reflektiert der Beitrag von Tarek Badawia & Said Topalovic die Grundideen eines islamischen Religionsunterrichts im europäischen Kontext. Bei aller Klarheit dieses Anspruchs kann man leider nicht davon ausgehen, dass der islamische Religionsunterricht trotz des enormen Interesses seitens der Musliminnen und Muslime, der Bundesländer und des Bundes nach der bisherigen 10-jährigen Praxiserfahrung zur Normalität in der deutschen Bildungslandschaft geworden ist. Auch wenn es noch keine rechtliche und strukturelle Klarheit zur flächendeckenden Etablierung eines solchen Bildungsangebots für junge Musliminnen und Muslime im öffentlichen Raum gibt, werden im Beitrag bewusst die sich erschöpfenden juristischen Debatten ausgeklammert und der Fokus auf bildungstheoretische und religionspädagogische Reflexionen gelegt. In diesem Sinne werden – in Anlehnung an Niklas Luhmanns Denkfigur der doppelten Kontingenz – im Umgang mit einem augenscheinlich uneinlösbaren Anspruch auf einen islamischen Religionsunterricht als reguläres Fach bildungstheoretisch relevante Zielsetzungen, religionspädagogische Potenziale und fachdidaktische Ansätze skizziert und abschließend auf ihre Bedeutung für eine zukunftsfähige Perspektive des Faches fokussiert.

2.7

Rückblick und Ausblick

Anstelle eines Nachwortes präsentiert Andreas Kubik Reflexionen zur Osnabrücker Tagung, aus der dieser Band hervorgegangen ist. Diese kreisen um das vielfach verwendete Stichwort der Kooperation. Eine geregelte Zusammenarbeit zwischen eigenständigen Partnern, also verschiedenen Religionsgemeinschaften, wäre in der Tat eine grundgesetzkonforme Weiterentwicklung des Religionsunterrichts. Sie ist auch in der Form der konfessionellen Kooperation schon in einigen Bundesländern erprobt. Allerdings zeigt sich, dass die Kooperation unterschiedlicher Religionen keineswegs einfach nur die verlängerte konfessionelle Kooperation darstellt. Außerdem sind kleinere Religionsgemeinschaften (genauso wie im Ethik-Unterricht) insgesamt tendenziell eher zögerlich und fürchten die Dominanz der etablierten – evangelischen wie katholischen – Diskurssysteme. Nicht zu Unrecht: Eine Tiefenanalyse der christlichen Sehnsucht nach Kooperation zeigt, dass diese zwar nicht auf inhaltlicher, aber sehr wohl auf didaktischer Ebene die Tendenz hat, didaktische Grundsätze, die im christlichen

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Denkraum entwickelt wurden, anderen Religionsgemeinschaften vorzuschreiben. Daher bedarf das Nachdenken über Kooperation eines verstärkten, gleichberechtigten Austauschs über die jeweiligen didaktischen Prinzipien. Gelingt dies, so kann verhindert werden, dass gemeindlich und schulisch kommunizierte Religion auseinanderfallen; beide aufeinander beziehbar zu halten, kann sinnvollerweise ein Ziel des Gedankens der Kooperation sein.

Literatur Böckenförde, Ernst-Wolfgang, »Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation«, in: ders., Kirche und christlicher Glaube in den Herausforderungen der Zeit. Beiträge zur politisch-theologischen Verfassungsgeschichte 1957–2002, Münster 2004, S. 213–230. Günzel, Angelika, »Art. 149 WRV und Art. 7 Abs. 3 GG: Alles beim Alten aus jüdischer Sicht?«, in: Neuvermessung des Religionsunterrichts nach Art. 7 Abs. 3 GG. Zur Zukunft religiöser Bildung, hrsg. von Andreas Kubik-Boltres, Susanne Klinger und Cos¸kun Sag˘lam, Osnabrück 2021, S. 47–68. Jestaedt, Matthias, »Schule und außerschulische Erziehung«, in: Handbuch des Staatrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. VII: Freiheitsrechte, hrsg. von Josef Isensee und Paul Kirchhof, Heidelberg 32009, S. 521–596. Klinger, Susanne/Christian Espelage, »Von der Hermeneutik zur Didaktik – Interreligiöse Bildung als Differenzkompetenz«, in: Interreligiöse Öffnung durch Begegnung. Grundlagen – Erfahrungen – Perspektiven im Kontext des christlich-islamischen Dialogs, hrsg. von Christian Espelage, Hamideh Mohagheghi und Michael Schober, Hildesheim u. a. 2021, S. 47–64. Kubik, Andreas, »Die ›Weimarer Lösung‹ zum Problem des Religionsunterrichts. Ein Beitrag zur Frage ihrer Pluralitätsfähigkeit 2018«, in: Theologische Literaturzeitung 143 (2018), Sp. 181–196. Kubik, Andreas, »Zu einer Neubewertung der sozialdemokratischen Haltung zum Religionsunterricht um 1918«, in: Religiöse Bildung und demokratische Verfassung in historischer Perspektive, hrsg. von Gregor Reimann und Michael Wermke, Leipzig 2019, S. 41–55. Rickers, Folkert, Zwischen Kreuz und Hakenkreuz. Untersuchungen zur Religionspädagogik im »Dritten Reich«, Neukirchen-Vluyn 1995. Smend, Rudolf, »Staat und Kirche nach dem Bonner Grundgesetz«, in: Zeitschrift für evangelisches Kirchenrecht 1 (1951), S. 4–14.

I. Rechtshistorische und juristische Hintergründe

Hendrik Munsonius

Religionsunterricht nach Art. 7 Abs. 3 GG – historisch bewährt, aber überlebt?

Die geltende Verfassungsregelung über den Religionsunterricht in Art. 7 Abs. 3 Grundgesetz (GG) geht in ihrer Substanz zurück auf die Verfassung des Deutschen Reiches vom 11. August 1919 (Weimarer Reichsverfassung, WRV) und ist damit nun 100 Jahre alt. In dieser Zeit hat sich die gesellschaftliche und religiöse Lage in Deutschland in vielerlei Hinsicht gewandelt. Das ist Grund genug, sich der Herkunft, Entwicklung und Zukunft des Religionsunterrichts und der ihn tragenden Normen zu vergewissern.

1.

Ausgangslage

1.1

Weimarer Reichsverfassung

Das Jahr 1919 ist für das Religionsrecht in Deutschland ein Epochenjahr. Mit dem Erlass der Weimarer Reichsverfassung wurde die seit Kaiser Konstantin bestehende Symbiose von weltlicher und kirchlicher Macht, von Staat und Kirche beendet. Und es wurden die bis heute geltenden Normen des Religionsverfassungsrechts erlassen, die das Grundgesetz in der Sache oder gar mit Art. 140 GG durch bloße Inkorporation der Weimarer Kirchenartikel übernommen hat. Die vor einhundert Jahren getroffenen Regelungen zielten darauf, die Trennung zwischen Staat und Kirche zu verwirklichen, den Kirchen im Übrigen ihren überkommenen Status zu erhalten und allen anderen Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften den Zugang zu gleichen Rechten zu eröffnen.1 Dem dienen insbesondere die Regelungen des Art. 137 WRV mit der Festschreibung der Trennung von Staat und Kirche, der Garantie des Selbstbestimmungsrechts der Religionsgemeinschaften und den Regelungen über den Status als Körperschaft des öffentlichen Rechts. 1 Zu den Verhandlungen Hans Michael Heinig, Öffentlich-rechtliche Religionsgesellschaften, Berlin 2003, S. 94–103.

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Der Religionsunterricht war wie das gesamte Schulwesen Gegenstand gründlicher Auseinandersetzung.2 Dabei standen unterschiedliche Zielsetzungen im Raum.3 Ging es den einen um eine konfessionell-katechetische Unterweisung, sahen andere den Nutzen sittlich-religiöser Erziehung für das Gemeinwesen, während von dritter Seite eine Verdrängung der Religion aus der Schule angestrebt wurde. Streitpunkte waren vor allem die Beendigung kirchlicher Schulaufsicht und die Etablierung der Simultanschule, in der Kinder verschiedener Konfession gemeinsam unterrichtet werden.4 Beim Religionsunterricht ging es um die Abgrenzung des staatlichen und kirchlichen Einflusses. Schließlich wurde eine inhaltliche Bindung an die Grundsätze der Religionsgesellschaften mit einer Bekräftigung der allgemeinen staatlichen Schulaufsicht verbunden.5 Außerdem wurde festgeschrieben, dass Lehrer6 wie Schüler nicht zum Religionsunterricht oder anderer religiöser Praxis gezwungen werden können.7 Artikel 149 WRV (1) Der Religionsunterricht ist ordentliches Lehrfach der Schulen mit Ausnahme der bekenntnisfreien (weltlichen) Schulen. Seine Erteilung wird im Rahmen der Schulgesetzgebung geregelt. Der Religionsunterricht wird in Übereinstimmung mit den Grundsätzen der betreffenden Religionsgesellschaft unbeschadet des Aufsichtsrechts des Staates erteilt. (2) Die Erteilung religiösen Unterrichts und die Vornahme kirchlicher Verrichtungen bleibt der Willenserklärung der Lehrer, die Teilnahme an religiösen Unterrichtsfächern und an kirchlichen Feiern und Handlungen der Willenserklärung desjenigen überlassen, der über die religiöse Erziehung des Kindes zu bestimmen hat. (3) Die theologischen Fakultäten an den Hochschulen bleiben erhalten.

Ich übernehme hierzu das Fazit von Andreas Kubik: »So kann man festhalten, dass die Weimarer Regelung ein wirkliches Pluralitätsmanagement darstellte, das verschiedenste Positionen und Forderungen aufzunehmen in der Lage war und eine historisch geradezu atemberaubend vernünftige Lösung bedeutete. Der 2 Ernst Christian Helmreich, Religionsunterricht in Deutschland. Von den Klosterschulen bis heute, Hamburg 1966, S. 158–167; Hinnerk Wißmann, in: Bonner Kommentar zum Grundgesetz, 172. Aktualisierung, Heidelberg Mai 2015, Art. 7–Ⅱ Rn. 13–19; dokumentiert bei JörgDetlef Kühne, Die Entstehung der Weimarer Reichsverfassung. Grundlagen und anfängliche Geltung, Düsseldorf 2018, S. 544–559, 689–692. 3 Vgl. zu verschiedenen religionspädagogischen Konzepten Andreas Kubik, »Die ›Weimarer Lösung‹ zum Problem des Religionsunterrichts. Ein Beitrag zur Frage ihrer Pluralitätsfähigkeit«, in: Theologische Literaturzeitung 143 (2018), Sp. 181–196, hier Sp. 183–186. 4 Kubik, »Die ›Weimarer Lösung‹«, Sp. 189f. 5 Hinnerk Wißmann, Religionsunterricht für alle? Zum Beitrag des Religionsverfassungsrechts für die pluralistische Gesellschaft, Tübingen 2019, S. 22. 6 Hier und im weiteren Verlauf des Beitrags werden generische Bezeichnungen verwendet. 7 Kommentierung bei Gerhard Anschütz, Die Verfassung des Deutschen Reichs vom 11. August 1919. Ein Kommentar für Wissenschaft und Praxis, Berlin 141933, S. 688–695.

Religionsunterricht nach Art. 7 Abs. 3 GG – historisch bewährt, aber überlebt?

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Kompromiss konnte gefunden werden, weil er gewissermaßen für alle Beteiligten die zweitbeste Lösung darstellte.«8

1.2

Grundgesetz

Bei den Beratungen des Parlamentarischen Rates zur Vorbereitung des Grundgesetzes vom 23. Mai 1949 ging es über weite Strecken weniger darum, wie die Regelungen über Schule und Religionsunterricht ausgestaltet werden, sondern darum, ob überhaupt im Grundgesetz als der Bundesverfassung eine Regelung dazu getroffen oder dies den Ländern überlassen bleiben sollte, die dazu bereits Regelungen getroffen hatten.9 Erst auf massive Intervention der Kirchen hin hat vor allem die CDU durchgesetzt, dass der Religionsunterricht im Grundgesetz geregelt wurde. Die weitere Auseinandersetzung drehte sich dann hauptsächlich um die Reichweite der Ausnahmeregelung des heutigen Art. 141 GG, der vor allem in Hinblick auf Bremen eingefügt worden ist, sich aber auf weitere Länder bezieht.10 In der materiellen Regelung hat man sich stark am Vorbild der Weimarer Reichsverfassung orientiert. Artikel 7 GG (1) Das gesamte Schulwesen steht unter der Aufsicht des Staates. (2) Die Erziehungsberechtigten haben das Recht, über die Teilnahme des Kindes am Religionsunterricht zu bestimmen. (3) Der Religionsunterricht ist in den öffentlichen Schulen mit Ausnahme der bekenntnisfreien Schulen ordentliches Lehrfach. Unbeschadet des staatlichen Aufsichtsrechtes wird der Religionsunterricht in Übereinstimmung mit den Grundsätzen der Religionsgemeinschaften erteilt. Kein Lehrer darf gegen seinen Willen verpflichtet werden, Religionsunterricht zu erteilen.

1.3

Bundesverfassungsgericht

»Das Grundgesetz gilt« – nach einem Diktum von Rudolf Smend – »nunmehr praktisch so, wie das Bundesverfassungsgericht es auslegt, und die Literatur kommentiert es in diesem Sinne«.11 Ich will offen lassen, ob man diese Aussage 8 Kubik, »Die ›Weimarer Lösung‹«, Sp. 191. 9 Helmreich, Religionsunterricht in Deutschland, S. 281–287. 10 Bernhard Schlink/Ralf Poscher, Der Verfassungskompromiß zum Religionsunterricht. Art. 7 Abs. 3 und Art. 141 GG im Kampf des Parlamentarischen Rates um die Lebensordnungen, Baden-Baden 2000. 11 Rudolf Smend, »Das Bundesverfassungsgericht«, in: ders., Staatsrechtliche Abhandlungen, Berlin 42010, S. 581–593, hier S. 582; eine kritische Auseinandersetzung mit der Rolle des Gerichts findet sich bei Matthias Jestaedt/Oliver Lepsius/Christoph Möllers/Christoph

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zum Nennwert nehmen muss. Auf jeden Fall sollte man die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Kenntnis nehmen. Dieses hat sich bisher zwar verschiedentlich zu Problemen der Religion in der Schule, aber nur einmal, 1987, unmittelbar zum Religionsunterricht geäußert. Dabei ging es um die Frage, ob eine katholische Schülerin beanspruchen kann, am evangelischen Religionsunterricht teilzunehmen.12 Das Gericht stellt zunächst klar, dass der Religionsunterricht als ordentliches Lehrfach eine staatliche Veranstaltung ist. »[251] Die Erklärung des Religionsunterrichts zum ordentlichen Lehrfach in Art. 7 Abs.3 Satz 1 GG stellt klar, daß seine Erteilung staatliche Aufgabe und Angelegenheit ist; er ist staatlichem Schulrecht und staatlicher Schulaufsicht unterworfen. Seine Einrichtung als Pflichtfach ist für den Schulträger obligatorisch; der Staat muß gewährleisten, daß er ein Unterrichtsfach mit derselben Stellung und Behandlung wie andere ordentliche Lehrfächer ist. Sein Pflichtfachcharakter entfällt nicht dadurch, daß Art. 7 Abs. 2 GG ein Recht zur Abmeldung einräumt. […]«

Als Besonderheit des Religionsunterrichts wird dann seine Konfessionalität herausgestellt, die dazu führt, dass er inhaltlich von den Religionsgemeinschaften zu bestimmen ist. Denn dem religiös-weltanschaulich neutralen Staat ist eine eigene Festlegung, was Inhalt einer Religion ist, verwehrt. Die Neutralität gebietet die Kooperation mit den Religionsgemeinschaften.13 »[252] Seine Sonderstellung gegenüber anderen Fächern gewinnt der Religionsunterricht aus dem Übereinstimmungsgebot des Art. 7 Abs. 3 Satz 2 GG. Dieses ist so zu verstehen, daß er in ›konfessioneller Positivität und Gebundenheit‹ zu erteilen ist. Er ist keine überkonfessionelle vergleichende Betrachtung religiöser Lehren, nicht bloße Morallehre, Sittenunterricht, historisierende und relativierende Religionskunde, Religions- oder Bibelgeschichte. Sein Gegenstand ist vielmehr der Bekenntnisinhalt, nämlich die Glaubenssätze der jeweiligen Religionsgemeinschaft. Diese als bestehende Wahrheiten zu vermitteln ist seine Aufgabe. Dafür, wie dies zu geschehen hat, sind

Schönberger, Das entgrenzte Gericht. Eine kritische Bilanz nach sechzig Jahren Bundesverfassungsgericht, Frankfurt am Main 2011. 12 BVerfGE 74, 244; dazu Hans Michael Heinig, »Religionsunterricht nach Art. 7 Abs. 3 GG – Rechtslage und Spielräume«, in: ders., Die Verfassung der Religion, Tübingen 2014, S. 338– 351, hier S. 339–342; Wißmann, Religionsunterricht für alle?, S. 43–48. 13 Christian Waldhoff, »Neue Religionskonflikte und staatliche Neutralität. Erfordern weltanschauliche und religiöse Entwicklungen Antworten des Staates?«, in: Gutachten D. zum 68. Deutschen Juristentag 2010, München 2010, S. 90; Wißmann, in: Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Art. 7–III Rn. 133. Damit handelt es sich bei Art. 7 Abs. 3 GG auch nicht um »verfassungswidriges Verfassungsrecht«, was abseits von Art. 79 Abs. 3 GG ohnehin eine tollkühne Konstruktion ist; so aber Erwin Fischer, Volkskirche ade! Trennung von Staat und Kirche, Berlin/Aschaffenburg 41993, S.117–125; richtig dazu Stefan Korioth, »Der Auftrag des Religionsunterrichts nach Art. 7 Abs. 3 GG«, in: Essener Gespräche 49 (2016), S. 7–33, hier S. 18f., 30.

Religionsunterricht nach Art. 7 Abs. 3 GG – historisch bewährt, aber überlebt?

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grundsätzlich die Vorstellungen der Kirchen über Inhalt und Ziel der Lehrveranstaltung maßgeblich.«

Das Bundesverfassungsgericht sieht dabei auch Raum für Anpassungen an geänderte Zeitumstände oder Vorstellungen der Religionsgemeinschaften, hält aber an dem konfessionellen Charakter des Religionsunterrichts fest. »Ändert sich deren Verständnis vom Religionsunterricht, muß der religiös neutrale Staat dies hinnehmen. Er ist jedoch nicht verpflichtet, jede denkbare Definition der Religionsgemeinschaften als verbindlich anzuerkennen. Die Grenze ist durch den Verfassungsbegriff ›Religionsunterricht‹ gezogen. Auch wenn dieser Begriff nicht in jeder Hinsicht festgelegt ist, sondern wie der übrige Inhalt der Verfassung ›in die Zeit hinein offen‹ bleiben muß, um die Lösung von zeitbezogenen und damit [253] wandelbaren Problemen zu gewährleisten, verbietet sich eine Veränderung des Fachs in seiner besonderen Prägung, also in seinem verfassungsrechtlich bestimmten Kern. Deshalb wäre eine Gestaltung des Unterrichts als allgemeine Konfessionskunde vom Begriff des Religionsunterrichts nicht mehr gedeckt und fiele daher auch nicht unter die institutionelle Garantie des Art. 7 Abs. 3 Satz 1 GG. […] Seine Ausrichtung an den Glaubenssätzen der jeweiligen Konfession ist der unveränderliche Rahmen, den die Verfassung vorgibt. Innerhalb dieses Rahmens können die Religionsgemeinschaften ihre pädagogischen Vorstellungen über Inhalt und Ziel des Religionsunterrichts entwickeln, denen der Staat aufgrund des Übereinstimmungsgebots des Art.7 Abs. 3 Satz 2 GG Rechnung tragen muß.«14

Dem Staat ist es aufgrund seiner religiös-weltanschaulichen Neutralität verwehrt zu bestimmen, was Gehalt einer Religion ist. Er ist darum auf die Zusammenarbeit mit der betreffenden Religionsgemeinschaft angewiesen. Diese erhält dadurch eine Einwirkungsmöglichkeit auf die staatliche Schule, die anderen gesellschaftlichen Kräften verwehrt ist. Sie ist darum auf das Ziel der authentischen Vermittlung von Religion einzugrenzen, um nicht möglicherweise die Rechte anderer Religionsgemeinschaften und die Religionsfreiheit der Schüler sowie das religiöse Erziehungsrecht der Eltern zu beeinträchtigen.15 »In der Regelung zum Religionsunterricht verschränken sich damit sachbereichsspezifisch Aspekte der Öffentlichkeit und der Freiheit von Religion, eine Verschränkung, die auch das sonstige Staatskirchenrecht prägt.«16

14 BVerfGE 74, S. 244, hier S. 251–253. 15 Vgl. Wißmann, in: Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Art. 7–III Rn. 138; ders., Religionsunterricht für alle?, S. 55, 72. 16 Heinig, »Religionsunterricht nach Art.7 Abs.3 GG – Rechtslage und Spielräume«, S.341; siehe auch Martin Heckel, »Neue Formen des Religionsunterrichts? Konfessionell – unkonfessionell – interreligiös – bikonfessionell – »für alle« – konfessionell-kooperativ?«, in: ders., Gesammelte Schriften VI, Tübingen2013, S. 379–418, hier S. 389f.; Christoph Link, »Religionsunterricht«, in: HSKR 2 (1995), S. 439–509, hier S. 503–509.

32

2.

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Entwicklungen

Wenn im Titel dieses Beitrags die Frage aufgeworfen wird, ob sich der Religionsunterricht überlebt hat, spielt dies auf Veränderungen an, die es während der letzten 100 Jahre in der Pädagogik, in der religiösen Lage und damit zusammenhängend bei der Interpretation des Religionsverfassungsrechts gegeben hat.

2.1

Religionssoziologie

Demographisch gibt es bekanntlich eine eindeutige Tendenz zu mehr Pluralität, Individualität und Diffusität im religiösen Feld.17 Gehörten 1950 in Westdeutschland noch ca. 45 % der Bevölkerung der römisch-katholischen und 50 % der evangelischen Kirche an, so sind es heute nur noch – aber immerhin – ca. 30 % und 25 %. Hinzu kommen ca. 5 % Muslime, 5 % Angehörige anderer Religionsgemeinschaften und 35 % Konfessionslose. Man wird sich darauf einstellen müssen, dass viele Menschen auf explizite Religion verzichten oder diese ohne organisatorische Anbindung leben wollen. Dabei gibt es große regionale Unterschiede. Diese größere Disparität wird vor allem dort zu einem Problem, wo für die wirkungsvolle Organisation religiöser Belange eine bestimmte Personenzahl erforderlich ist. So gerät der konfessionelle Religionsunterricht in manchen Regionen an die Grenzen dessen, was noch zu organisieren ist. Nicht zuletzt deshalb werden neue Modelle und Formen der Kooperation für den Religionsunterricht diskutiert oder schleichend eigene Wege und Lösungen gefunden.18 Auf diese Weise wird aber auch deutlich, vor welchem Problem kleine Religionsgemeinschaften und Konfessionslose schon immer gestanden haben. Meines Erachtens darf man sich aber mit dem Blick auf die bloßen Zahlen nicht zufriedengeben. Denn es ist doch nicht ausgemacht, dass mit den Mitgliederzahlen auch die Bedeutung von und der Bedarf an Religion zurückgeht. Begreift man Religion als eine Möglichkeit, die Erfahrungen von Kontingenz und Ambivalenz zu bewältigen, sprechen nach meinem Eindruck alle Analysen dafür, dass der Religionsbedarf eigentlich eher zu- als abnimmt, wenn dies vielen auch nicht so recht bewusst wird oder sich in etwas diffuser Weise äußert. Zumindest scheinen mir beispielsweise die Konzepte der »Resonanz« von Hartmut Rosa und der »Gesellschaft der Singularitäten« von Andreas Reckwitz ein erhebliches, noch 17 Waldhoff, »Neue Religionskonflikte und staatliche Neutralität«, S. 13–23. 18 Bernd Schröder, »Kooperation von Staat und Kirche bzw. Religionsgemeinschaften im Religionsunterricht – eine religionspädagogische Perspektive«, in: Zeitschrift für evangelisches Kirchenrecht 64 (2019), S.257–281; Heckel, »Neue Formen des Religionsunterrichts?«, S.401– 418; Heinig, »Religionsunterricht nach Art.7 Abs.3 GG – Rechtslage und Spielräume«, S.343– 345.

Religionsunterricht nach Art. 7 Abs. 3 GG – historisch bewährt, aber überlebt?

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nicht ausgeschöpftes Potential für Religion mit sich zu bringen.19 Auf jeden Fall wird Religion im 21. Jahrhundert wieder stärker wahrgenommen, sei es als gemeinwohlfördernde Kraft oder als Gefahr.

2.2

(Religions-)Pädagogik

Für die Pädagogik normativ leitend ist der Bildungsauftrag, wie er durch Landesverfassungen und Schulgesetze formuliert wird. Dabei tritt das Wechselspiel von Individualität und Sozialität des Menschen dadurch in Erscheinung, dass die Schule der Persönlichkeitsentwicklung der Schüler ebenso zu dienen hat wie ihrer Sozialisierung auf der Grundlage der geltenden Verfassungsordnung. Ich zitiere nur aus dem Niedersächsischen Schulgesetz: § 2 Abs. 1 NSchG: »Die Schule soll im Anschluß an die vorschulische Erziehung die Persönlichkeit der Schülerinnen und Schüler auf der Grundlage des Christentums, des europäischen Humanismus und der Ideen der liberalen, demokratischen und sozialen Freiheitsbewegungen weiterentwickeln. Erziehung und Unterricht müssen dem Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland und der Niedersächsischen Verfassung entsprechen; die Schule hat die Wertvorstellungen zu vermitteln, die diesen Verfassungen zugrunde liegen. […]«

Auf Entwicklungen in der Religionspädagogik will ich mangels eigener Kompetenz nicht weiter eingehen, sondern nur hinweisen.20 Sie sind eingebettet in Entwicklungen der Allgemeinen Pädagogik und der religiösen Lage. So sind mit der Zeit die missionarische Intention und die Konfessionsbindung mehr und mehr zurückgenommen worden. Und es gab Entwicklungen hin zur Subjektorientierung, zu erfahrungs- und erlebnisorientierten Konzepten und schließlich zur heute propagierten Kompetenzorientierung. In den letzten Jahren kommen noch die Bestrebungen, Inklusion zu verwirklichen, hinzu.

19 Hartmut Rosa, Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung, Berlin 2016, S.435–453; Andreas Reckwitz, Die Gesellschaft der Singularitäten. Zum Strukturwandel der Moderne, Berlin 2017; dazu Tobias Graßmann, »Die Gesellschaft der Singularitäten im Lichte reformatorischer Lehre«, in: DtPfrBl 118 (2018), S.475–477; siehe auch Thomas Bauer, Die Vereindeutigung der Welt. Über den Verlust an Mehrdeutigkeit und Vielfalt, Stuttgart 2018. 20 Fachkundig Bernd Schröder, Religionspädagogik, Tübingen 2012, S.126–165; siehe auch Link, »Religionsunterricht«, S. 447–452.

34 2.3

Hendrik Munsonius

Religionsverfassungsrecht

Wenn die Normen des Religionsverfassungsrechts auch über 100 Jahre hinweg weitgehend unverändert blieben, hat sich ihre Interpretation angesichts der gesellschaftlichen Entwicklung in charakteristischer Weise gewandelt. Während der Zeit der Weimarer Republik bestand in der Anwendung der ›Kirchenartikel‹ noch erhebliche Unsicherheit.21 Insbesondere die Trennung von Staat und Kirche wurde nicht konsequent umgesetzt, sondern durch Elemente der Staatsnähe und Staatsaufsicht konterkariert. Erst allmählich konnte die jeweilige Unabhängigkeit von Kirche und Staat durchgesetzt werden. In der NS-Zeit kam es zu einer faktischen Entwertung aller religionsrechtlichen Garantien. Der Einfluss der Religionsgemeinschaften sollte gebändigt und verdrängt werden. Nach dem Zweiten Weltkrieg setzte trotz der unveränderten Übernahme der Artikel aus der Weimarer Reichsverfassung eine Neubestimmung des Verhältnisses von Staat und Kirche ein. Geradezu klassisch ist die Formulierung von Rudolf Smend: »[W]enn zwei Grundgesetze dasselbe sagen, so ist es nicht dasselbe.«22 In der Folge kam es gestützt durch die gesellschaftliche Bedeutung der Kirchen zu einer Blüte der sogenannten »Koordinationslehre«, die von einer Gleichordnung zwischen Staat und Kirche als zweier je souveräner Gewalten ausging. Diese Vorstellung ist im Zuge der 1960er Jahre überwunden worden. Die Kirche wurde dem Staat nicht mehr gleichgeordnet, sondern als freiheitsberechtigter Akteur neben anderen innerhalb der Verfassungsordnung angesehen.23 Die zunehmende Pluralisierung seit dem letzten Drittel des 20. Jahrhunderts brachte es mit sich, dass die lange Zeit bestehende Fokussierung auf die beiden großen christlichen Kirchen überwunden wurde und das Religionsrecht insgesamt neu durchdacht wird.24 Dabei wird meines Erachtens seine ursprüngliche Intention wieder freigelegt. Mit der Weimarer Reichsverfassung ist vor 100 Jahren ein religionsrechtliches System etabliert worden, das für eine Vielfalt von Religions- und Weltanschauungsgesellschaften offen sein sollte. In der Interpretationsgeschichte hat sich jedoch gezeigt, dass oft mehr oder weniger unbewusst 21 Waldhoff, »Neue Religionskonflikte und staatliche Neutralität«, S. 27–30. 22 Rudolf Smend, »Staat und Kirche nach dem Bonner Grundgesetz«, in: Zeitschrift für evangelisches Kirchenrecht 1 (1951), S. 4–14, hier S. 4. 23 Wegweisend Konrad Hesse, »Freie Kirche im demokratischen Gemeinwesen«, in: Zeitschrift für evangelisches Kirchenrecht 11 (1964/65), S. 337–362; Martin Heckel, »Die Kirchen unter dem Grundgesetz«, in: VVDStRL 26 (1968), S.5–56; Alexander Hollerbach, »Die Kirchen unter dem Grundgesetz«, in: VVDStRL 26 (1968), S. 57–106. 24 Exemplarisch Hans Michael Heinig/Christian Walter (Hgg.), Staatskirchenrecht oder Religionsverfassungsrecht? Ein begriffspolitischer Grundsatzstreit, Tübingen 2007; dies. (Hgg.), Religionsverfassungsrechtliche Spannungsfelder, Tübingen 2015; Waldhoff, »Neue Religionskonflikte und staatliche Neutralität«.

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die beiden großen Kirchen als Blaupause gedient haben.25 Erst mit der Zeit ist mehr und mehr bewusst geworden, dass das Religionsrecht als Rahmenrecht für alle möglichen Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften interpretiert werden muss, wie es dem Grunde nach bereits seit der Weimarer Reichsverfassung angelegt ist.26

3.

Funktion

Welche Zukunft der Religionsunterricht hat und wie er auszugestalten ist, hängt davon ab, welche Funktion er in einer pluralen Gesellschaft übernehmen soll. Dabei können die Perspektiven der Religionsgemeinschaften, der Schüler und des Gemeinwesens unterschieden werden.27

3.1

Religionsgemeinschaften

Herkömmlich wird der Religionsunterricht vor allem als ein Recht der Religionsgemeinschaften angesehen. Sie können aus Art. 7 Abs. 3 GG einen Anspruch auf Einrichtung eines eigenen Religionsunterrichts herleiten, sobald die entsprechenden Schülerzahlen vorhanden sind.28 Im Hintergrund steht, dass der Religionsunterricht als Kompensation dafür gelten konnte, dass die Kirche im Übrigen aus der Schule verdrängt und eine allein staatliche Schulverantwortung und -aufsicht etabliert worden ist. Wenigstens in Religionsdingen konnten die Kirchen ihren Einfluss auf die Schule aufrechterhalten. Der Religionsunterricht bietet den Religionsgemeinschaften die Möglichkeit, ihre Themen und Inhalte in der Schule so zu präsentieren, wie sie es aufgrund ihres Selbstverständnisses für richtig halten. Ob damit ein missionarischer Impetus verbunden wird oder welche Bedeutung die Einweisung in religiöse Praxis hat, ist dann eine Frage der religionspädagogischen Konzepte. In einer pluralen Gesellschaft haben die Religionsgemeinschaften durch den Religionsunterricht die Möglichkeit, sich dort zu präsentieren, wo sich die Pluralität am deutlichsten abbildet und begegnet.29 25 Für die Verfassungsberatungen 1919 siehe Kubik, »Die ›Weimarer Lösung‹ zum Problem des Religionsunterrichts«, Sp. 192–195. 26 Hendrik Munsonius, »Quo vadis ›Staatskirchenrecht‹?«, in: ders., Öffentliche Religion im säkularen Staat, Tübingen 2016, S. 121–156; zum Konzept des säkularen Rahmenrechts Martin Heckel, »Zur Zukunftsfähigkeit des deutschen ›Staatskirchenrechts‹ oder ›Religionsverfassungsrechts‹?«, in: AöR 134 (2009), S. 309–390, hier S. 364–375. 27 Heinig, »Religionsunterricht nach Art. 7 Abs. 3 GG – Rechtslage und Spielräume«, S. 349; Korioth, »Der Auftrag des Religionsunterrichts nach Art. 7 Abs. 3 GG«, S. 31f. 28 Wißmann, in: Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Art. 7–III Rn. 135. 29 Korioth, »Der Auftrag des Religionsunterrichts nach Art. 7 Abs. 3 GG«, S. 8.

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Der Religionsunterricht bietet zudem eine Chance, etwas von dem zu kompensieren, was in den Familien an religiöser Sozialisation nicht mehr stattfindet. Man muss aber sehen, dass die verfassungsmäßigen Rechte der Religionsgemeinschaften nicht dadurch legitimiert sind, dass hiermit die Interessen von mehr oder weniger mächtigen gesellschaftlichen Organisationen geschützt werden. Der Schutz der Religionsgemeinschaften (wie auch anderer Organisationen) dient letztlich der individuellen Freiheit, die nicht nur isoliert ausgeübt werden kann, sondern auf Gemeinschaft angewiesen ist. Denn auch Religion ist stets sozial vermittelte Praxis.30 Darum reicht es nicht, für die Begründung des Religionsunterrichts allein auf die Religionsgemeinschaften abzustellen.

3.2

Schüler

Beim Religionsunterricht geht es letztlich um die Persönlichkeitsbildung der Schüler in ihrer Individualität und Sozialität.31 Bildung, verstanden als die »Realisierung der Bestimmung des Menschen am Ort des Individuums« und als »gesteigerte und über sich selbst aufgeklärte Handlungsfähigkeit«, hat immer auch eine religiöse Komponente.32 Das Recht auf Bildung würde verkürzt, wenn die Schüler nicht auch diese religiöse Komponente entwickeln könnten. Es geht folglich darum, Religion authentisch zur Sprache zu bringen und vor allem die Schüler religiös sprachfähig zu machen. Dies scheint mir umso dringlicher, je weniger das Wissen um Religion vorausgesetzt werden kann. Und so wie man nicht Sprache schlechthin, sondern stets nur eine bestimmte Sprache lernen kann, ist es ja wohl angebracht, Religion nicht abstrakt, sondern stets konkret zu vermitteln. Dann kommt es darauf an, dass die Lehrer selbst diese Sprache sprechen, das heißt in der betreffenden Religion beheimatet sind. Wegen der Bedeutung, die der Religionsunterricht für die Persönlichkeitsentwicklung der Schüler hat, wird zunehmend diskutiert und befürwortet, dass auch die Schüler und ihre Erziehungsberechtigten einen Anspruch auf die Einrichtung von Religionsunterricht haben, der allerdings dadurch konditioniert ist, dass es dazu auch einer kooperationsfähigen und -willigen Religionsgemeinschaft bedarf und die erforderlichen Schülerzahlen erreicht werden.33 30 Vgl. Hendrik Munsonius, »Religion – Öffentlichkeit – Recht«, in: ders., Öffentliche Religion im säkularen Staat, Tübingen 2016, S. 37–53, hier S. 38. 31 Korioth, »Der Auftrag des Religionsunterrichts nach Art. 7 Abs. 3 GG«, S. 25; Wißmann, Religionsunterricht für alle?, S. 24. 32 Reiner Preul, »Bildung IV. Religionsphilosophisch, dogmatisch, ethisch«, in: RGG I, Tübingen 4 2007, Sp. 1582–1584, hier S. 1583. 33 Wißmann, in: Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Art. 7–III Rn. 137; vorsichtiger Korioth, »Der Auftrag des Religionsunterrichts nach Art. 7 Abs. 3 GG«, S. 27f.; ausführlich zum An-

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3.3

37

Gemeinwesen

Auch für das Gemeinwesen erfüllt der Religionsunterricht eine Funktion. Daraus erklären sich auch die Bemühungen um einen islamischen Religionsunterricht. Doch auch hier hat sich eine gewisse Verschiebung ergeben. In einem weitgehend religiös oder konfessionell homogenen Gemeinwesen kann Religionsunterricht mit einer gewissen Selbstverständlichkeit stattfinden. Es geht dann um Inhalte, die allen gemeinsam sind und bei denen vorausgesetzt wird, dass sie der nächsten Generation zu vermitteln sind. Doch mit der Homogenität geht auch diese Selbstverständlichkeit verloren. Dann gerät in den Blick, inwiefern religiöse Bildung und Erziehung für das Gemeinwesen nützlich sein kann. Paradigmatisch findet sich im Allgemeinen Landrecht für die Preußischen Staaten von 1794 eine Regelung, wonach Religion letztlich dazu da ist, gute Untertanen hervorzubringen: »II.11. § 13. Jede Kirchengesellschaft ist verpflichtet, ihren Mitgliedern Ehrfurcht gegen die Gottheit, Gehorsam gegen die Gesetze, Treue gegen den Staat, [!] und sittlich gute Gesinnungen gegen ihre Mitbürger einzuflößen.«

In den Debatten der letzten Zeit tritt dieser Gedanke in der Form hervor, dass der Religionsunterricht der Werteerziehung dienen soll. Es wird dann gern auf das Böckenförde-Diktum rekurriert, wonach der Staat von Voraussetzungen lebt, die er selbst nicht garantieren kann,34 und die Religion bildet diesen »Humus«35, auf dem das Staatswesen wachsen kann. Dann liegt es allerding nahe, zwischen förderlichen und hinderlichen Religionen zu unterscheiden und erstere zu privilegieren.36 Mit einem solchen Hierarchisierungsmodell37 geraten aber die Persönlichkeitsbildung der Schüler, das Erziehungsrecht der Eltern und beider Religionsfreiheit in den Hintergrund. Dies gilt auch für die Angehörigen einer ›nützlichen‹ Religion, denn auch bei ihr ist damit zu rechnen, dass unter der Maßgabe von Wertevermittlung ihre Inhalte verkürzt werden. Um der Vereinnahmung der Religion durch die Staatsraison zu wehren, muss die Funktion des Religionsunterrichts in einem freiheitlichen Staat anders bestimmt werden. Es kann nicht darum gehen, dass bestimmte, als nützlich

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spruch auf Religionsunterricht Uta Hildebrandt, Das Grundrecht auf Religionsunterricht. Eine Untersuchung zum subjektiven Rechtsgehalt des Art. 7 Abs. 3 GG, Tübingen 2000. Ernst-Wolfgang Böckenförde, »Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation«, in: ders., Recht, Staat, Freiheit, Frankfurt am Main 1991, S. 92–114, hier S. 112. Paul Kirchhof, »Der kirchliche Beitrag zu Freiheit und Demokratie«, in: Essener Gespräche 48 (2015), S. 71–90, hier S. 77. Paul Kirchhof, »Die Freiheit der Religionen und ihr unterschiedlicher Beitrag zu einem freien Gemeinwesen«, in: Essener Gespräche 39 (2005), S. 105–122. Hans Michael Heinig, »Ordnung der Freiheit – das Staatskirchenrecht vor neuen Herausforderungen«, in: ders., Die Verfassung der Religion, Tübingen 2014, S. 3–21, hier S. 9–11.

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angesehene Inhalte vermittelt werden, sondern zunächst geht es um Vermittlung von Religion in ihrer jeweiligen Eigenart, um so der Religionsfreiheit von Schülern und Erziehungsberechtigten gerecht zu werden. Das Interesse des Gemeinwesens muss darauf hinauslaufen, dass ein friedlicher und produktiver Umgang mit religiös-weltanschaulicher Pluralität möglich wird. Dem dient es, wenn Menschen ihre eigene religiös-weltanschauliche Position kennen, reflektieren und darüber sprach- und auskunftsfähig werden und wenn sie lernen, sich von der je eigenen Position aus mit anderen konstruktiv auseinanderzusetzen.38

4.

Maßstab

Das Bundesverfassungsgericht hat schon 1987 darauf hingewiesen, dass sich der Religionsunterricht abhängig vom Selbstverständnis der Religionsgemeinschaften wandeln kann. Das herkömmliche Modell eines Religionsunterrichts, der in konfessioneller Bindung und Homogenität von Inhalten, Lehrkräften und Schülern stattfindet, ist nicht die einzige verfassungsrechtliche Möglichkeit. Hinnerk Wißmann hat in seinem Gutachten zum hamburgischen ›Religionsunterricht für alle 2.0‹ gezeigt, welcher Spielraum hier von Verfassung wegen anzunehmen ist.39 Dabei sind – in genauer Anlehnung an den Wortlaut von Art.7 Abs. 3 GG – die Grundsätze der Religionsgemeinschaften, mithin ihr jeweiliges Selbstverständnis der letztlich entscheidende Maßstab.40 Hiernach muss sich richten, welche Inhalte im Religionsunterricht zu behandeln sind, welche Personen daran beteiligt werden können und inwiefern interkonfessionelle und interreligiöse Kooperation möglich ist.41 Dabei ist stets auch die gegenwärtige religionssoziologische Lage zu berücksichtigen. 38 Heinig, »Religionsunterricht nach Art.7 Abs. 3 GG – Rechtslage und Spielräume«, S.350f. mit Hinweisen auf Jürgen Habermas. 39 Wißmann, Religionsunterricht für alle?, S. 61–83; die damit aufgeworfenen theologischen Fragen sind damit noch nicht beantwortet, sondern als solche aufgegeben; dazu aus evangelischer Perspektive Wilfried Härle, Religionsunterricht unter pluralistischen Bedingungen: eine kritische Sichtung des Hamburger Modells, Leipzig 2019. Zum früheren Konzept Christoph Link, »Konfessioneller Religionsunterricht in einer gewandelten sozialen Wirklichkeit? Zur Verfassungskonformität des Hamburger Religionsunterrichts ›für alle‹«, in: Zeitschrift für evangelisches Kirchenrecht 46 (2001), S. 257–285. 40 Wißmann, in: Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Art. 7–III Rn. 145; ders., Religionsunterricht für alle?, S. 75–78; Heckel, »Neue Formen des Religionsunterrichts?«, S. 395f.; Heinig, »Religionsunterricht nach Art. 7 Abs. 3 GG – Rechtslage und Spielräume«, S. 346; Link, »Religionsunterricht«, S. 452, 489–491; siehe dazu Friedrich Schweitzer, »Die (Selbst-)Verantwortung der Kirchen für die Ausbildung eines Propriums und einer religiösen Identität für den Religionsunterricht aus religionspädagogischer Sicht«, in: Essener Gespräche 49 (2016), S. 59–73. 41 Korioth, »Der Auftrag des Religionsunterrichts nach Art. 7 Abs. 3 GG«, S. 17f.

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4.1

39

Inhalt

Inhalt des Religionsunterrichts ist die authentische Vermittlung einer Religion. Diese soll in ihrer Eigenart und in der Differenz zu anderen Religionen und Weltanschauungen eindrücklich werden. Damit ist eine allgemeine Religionskunde ebenso ausgeschlossen wie die bloß religionsgestützte Einschärfung eines gesellschaftlichen Wertekanons. »Wie die konfessionelle Positivität und Gebundenheit von der Religionsgemeinschaft ausgestaltet wird, bleibt ihr überlassen.«42 Gleichwohl gehört zur Vermittlung einer Religion auch eine Verhältnisbestimmung zu anderen Religionen und Weltanschauungen. Die Frage ist jedoch nicht abstrakt, sondern von den eigenen Grundlagen aus zu bearbeiten: Was ist vom eigenen Glauben aus über ›die anderen‹ zu sagen?43 Als ordentliches Lehrfach ist der Religionsunterricht Unterricht im Sinne des allgemeinen schulrechtlichen Verständnisses. Es geht also nicht bloß um Einweisung und Einübung religiöser Praxis, sondern um »selbstreflexiv-kritische, wissenschaftlich abgesicherte Betrachtungen des eigenen und auch anderer Bekenntnisse«.44 Auch darf der Unterrichtsinhalt nicht im Widerspruch zu Grundsätzen der Verfassung stehen.45 Hier ist allerdings genauer hinzusehen. Denn es geht nicht darum, dass im Religionsunterricht Verfassungsgehalte vermittelt werden. Diese gehören in den Sozialkundeunterricht. Das Grundgesetz lässt ausdrücklich Raum für den Eigensinn von Religionen. Divergenz ist also möglich. Nicht alles, was für den Staat gilt, gilt auch für die Religionsgemeinschaften. Nötig ist allerdings, dass der Unterschied zwischen partikularer religiöser Normativität und der für alle geltenden Verfassungsordnung problematisiert und vermittelt wird. »Die Religion muss sich […] so aufstellen, dass sie den Anhängern ermöglicht, trotz partikularer religiöser Identität (als Protestant, Muslima, Jude, Atheistin), anderen Bürgerinnen und Bürgern im politischen Raum als gleichberechtigt zu begegnen und 42 Korioth, »Der Auftrag des Religionsunterrichts nach Art. 7 Abs. 3 GG«, S. 17. Von daher ist auch die Wendung des Bundesverfassungsgerichts, dass Glaubenssätze der jeweiligen Religionsgemeinschaft als Wahrheit zu vermitteln sind (BVerfGE 74, 244 [252]), zu interpretieren. Ob sich eine Religion in Glaubenssätzen artikulieren lässt und welches Verständnis von Wahrheit zugrunde zu legen ist, muss sich nach dem Selbstverständnis der Religionsgemeinschaft richten. Wahrheit ist in der Religion unter die Transzendenzbegriffe zu rechnen und beispielsweise als Gottesprädikat zu verstehen. Dann wäre es jedoch – gerade in religionspluraler Situation – fatal, bestimmte immanente Ausdrucksformen als Wahrheit zu stipulieren. Die Wendung des Bundesverfassungsgerichts ist m. E. dahin umzuformen, dass Fragen nach Sinn, Wahrheit etc. in bewusster und reflektierter religiös-weltanschaulicher Positionalität zu behandeln sind. 43 Vgl. Link, »Religionsunterricht«, S. 453f. 44 Wißmann, in: Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Art. 7–III Rn. 139; siehe auch Link, »Religionsunterricht«, S. 463f. 45 Wißmann, in: Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Art. 7–III Rn. 153.

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die sich daraus ergebenen [sic] Begrenzungen, die partielle Suspendierung der religiösen Wahrheitsfrage, zu verinnerlichen.«46

4.2

Personen

Die Grundsätze der Religionsgemeinschaften sind auch dafür maßgeblich, ob nur Angehörige der eigenen Konfession oder auch andere Schüler am Religionsunterricht teilnehmen können.47 Dies war es ja, worüber das Bundesverfassungsgericht 1987 zu entscheiden hatte.48 Wegen der Bindung an die Grundsätze der Religionsgemeinschaften müssen diese auch darüber entscheiden können, welche Lehrkräfte im Religionsunterricht tätig werden.49 Denn diese Lehrkräfte sind es letztlich, die die religiöse Authentizität zu gewährleisten haben. Wenn in Kooperationsmodellen Vertreter anderer Religionsgemeinschaften auftreten, kann dies nicht einfach additiv geschehen. Die Einbeziehung anderer muss durch die originär verantwortliche Lehrkraft gerahmt und bei Bedarf kommentiert werden, um die Übereinstimmung mit den Grundsätzen zu gewährleisten. Kooperationsmodelle können so eine erhebliche Bereicherung darstellen. Ein einfaches Mittel, den Aufwand für Religionsunterricht zu reduzieren, scheinen sie mir allerdings nicht zu sein.

4.3

Kooperation

Nach den Grundsätzen der Religionsgemeinschaften richtet sich auch, inwiefern Kooperation möglich ist. Mit dem Staat müssen die Religionsgemeinschaften jedoch notwendigerweise kooperieren, wenn Religionsunterricht überhaupt stattfinden soll. Die Kompetenz von staatlicher und religionsgemeinschaftlicher Seite ist dabei sorgfältig zu unterscheiden. Die Religionsgemeinschaft bestimmt die Inhalte. Der Staat muss darauf achten, dass die Standards eines ordentlichen Lehrfachs eingehalten und die (weitgesteckten) verfassungsrechtlichen Grenzen beachtet werden. Darum sind für die Lehrpläne beide Seiten gemeinsam verantwortlich. Die Kooperation mit anderen Religionsgemeinschaften setzt eine theologische Klärung voraus, welches Maß an Gemeinsamkeit und Differenz zugrunde zu 46 Heinig, »Religionsunterricht nach Art. 7 Abs. 3 GG – Rechtslage und Spielräume«, S. 350. 47 Link, »Religionsunterricht«, S. 493–495; Wißmann, in: Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Art. 7–III Rn. 143. 48 BVerfGE 74, 244. 49 Link, »Religionsunterricht«, S. 491–493; Wißmann, in: Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Art. 7–III Rn. 154.

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legen ist. Je größer die Schnittmenge, umso leichter dürfte Kooperation fallen und auch zur Entlastung beitragen. Aber auch sonst ist ein Mindestmaß an Kooperation angesichts der religiös-weltanschaulich pluralen Situation geboten. Denn in dieser Lage kann eine Religion nicht in Absehung vom Vorhandensein anderer realitätsgerecht und authentisch vermittelt werden. Pluralität birgt Konfliktpotential, aber auch einen Zugewinn an Perspektiven.50 Beim Hamburger ›Religionsunterricht für alle‹ wird die Grenze eines konfessionellen Religionsunterrichts jedoch wahrscheinlich überschritten. Denn in diesem Unterricht soll dieselbe Unterrichtsveranstaltung für alle Beteiligten zugleich als Unterricht auf der Grundlage des eigenen und Ausdruck fremden Bekenntnisses gelten können.51

5.

Perspektiven

Dass der Religionsunterricht auf der Grundlage von Art. 7 Abs. 3 GG nicht mehr so funktionieren kann, wie das in vergangenen Zeiten eines mehr oder weniger gleichgewichtigen Bikonfessionalismus der Fall war, dürfte sich mittlerweile herumgesprochen haben. Damit ergeben sich in dem Rahmen, den das Grundgesetz dafür steckt, Möglichkeiten und Herausforderungen.

5.1

Szenarien

Für die Zukunft des Religionsunterrichts hat Bernd Schröder vier Szenarien aufgestellt, die ich hier kurz nennen will.52 Das erste ist auf Beibehaltung, Ausbau und regionale Flexibilisierung bestehender Strukturen gerichtet. Mit diesem Modell würde der Weg eines positionell verantworteten Religionsunterrichts fortgesetzt. Das zweite Szenario ist darauf gerichtet, die Differenzierung nach Konfessionen durch eine solche nach Religionen abzulösen. Dies hätte erhebliche praktische Vorteile, wirft aber die theologische Frage nach der bleibenden Bedeutung von Konfessionsdifferenzen auf. Im dritten Szenario würde die nächste Stufe erklommen, indem Religionsunterricht multireligiös erteilt wird, wie dies bereits im ›Hamburger Modell‹ erprobt wird. Die Implikationen eines 50 Härle, Religionsunterricht unter pluralistischen Bedingungen, S. 46f. 51 Vgl. Heinig, »Religionsunterricht nach Art. 7 Abs. 3 GG – Rechtslage und Spielräume«, S. 347: »Die für die Zukunft ins Auge gefasste geteilte Verantwortung zwischen evangelischer Kirche und muslimischen Verbänden für den gleichen Religionsunterricht kann es von Verfassungs wegen nicht geben.« 52 Schröder, »Kooperation von Staat und Kirche bzw. Religionsgemeinschaften im Religionsunterricht«, S. 275–279; vgl. Wißmann, Religionsunterricht für alle?, S. 31f.

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solchen Modells sind allerdings enorm. Im vierten Szenario käme es zu einem allgemeinen Religions- und Weltanschauungsunterricht, der auf konfessionelle Positionalität verzichtet und den Übergang zu einer Religions- und Weltanschauungskunde darstellt. Damit wäre der Boden von Art. 7 Abs. 3 GG verlassen.

5.2

Herausforderungen

Gleichgültig, welches Modell man konkret verfolgt, stellen sich eine Reihe von Herausforderungen organisatorischer, theologischer und pädagogischer Art. a)

Organisation

Da der Religionsunterricht nach Art. 7 Abs. 3 GG notwendigerweise in Kooperation zwischen Staat und Religionsgemeinschaft stattfindet, stellt sich ein Problem, wenn religiöse Gemeinschaften nicht in ausreichendem Maße organisiert sind.53 Dieses Problem hat sich vor allem im Hinblick auf die Muslime in Deutschland gestellt und ist bis heute Gegenstand der Auseinandersetzungen. Hier geht es auf der einen Seite darum, dass religiöse Gemeinschaften, die das nicht gewohnt sind, wenigstens ein Mindestmaß an Organisation ausbilden, um verlässlicher Partner des Staates zu sein. Auf der anderen Seite gilt es, bei der Interpretation des Verfassungsrechts die versteckte Blaupause der beiden großen Kirchen zu erkennen und zu überwinden. Eine ›Verkirchlichung‹ ist von Verfassung wegen gerade nicht gefordert. Die Religionsgemeinschaft oder -gesellschaft des Grundgesetzes ist kein theologischer, sondern ein säkularer Begriff.54 Um hier weiterzukommen, hat man verschiedene Modelle entwickelt, in denen mit religiösen Vertretern besetzte Beiräte die Rolle der Religionsgemeinschaft übernehmen.55 Dabei handelt es sich erst einmal um Behelfslösungen, die vom Wohlwollen und der Einsicht aller Beteiligten abhängig sind und wenigstens ermöglichen, dass überhaupt islamischer Religionsunterricht stattfindet. Möglicherweise bieten solche Beiratsmodelle aber künftig auch eine Chance, wenn es darum geht, kooperative Formen des Religionsunterrichts zu etablieren. 53 Waldhoff, »Neue Religionskonflikte und staatliche Neutralität«, S. 91f. 54 Korioth, »Der Auftrag des Religionsunterrichts nach Art. 7 Abs. 3 GG«, S. 19f.; ausführlich Hans Michael Heinig, »›Religionsgemeinschaft/Religionsgesellschaft‹: Herkunft, aktuelle Bedeutung und Zukunft einer religionsverfassungsrechtlichen Zentralkategorie«, in: Zeitschrift für evangelisches Kirchenrecht 64 (2019), S. 1–23. 55 Waldhoff, »Neue Religionskonflikte und staatliche Neutralität«, S. 92–107; ausführlich Christoph Schmischke, Das Beiratsmodell – neue Wege für den islamischen Religionsunterricht, Göttingen 2018.

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Kooperation bietet sich vor allem an, wenn verschiedene Religionsgemeinschaften jeweils zu klein sind, um eigenständigen Religionsunterricht zu etablieren. Es besteht dann allerdings die Gefahr, dass Inhalte durch die Organisationsform, dass Qualität durch Quantität bestimmt wird. Im Übrigen kann Kooperation eine eigene Qualität hervorbringen, erfordert dann aber eher mehr als weniger Ressourcen und praktikable Formen der Zusammenarbeit unterschiedlicher Lehrkräfte.56 b)

Theologie

Da materieller Maßstab für den Religionsunterricht die Grundsätze der Religionsgemeinschaften sind, aus denen sich Inhalte, Teilnahme- und Kooperationsmöglichkeiten ergeben, werfen alle Modelle, die über den herkömmlichen Religionsunterricht hinausgehen, intrikate theologische Fragen auf. Es geht um den eigenen Umgang mit Pluralität, um eine Theologie der Religionen, das eigene Verständnis von Wahrheit und von Wahrheitsfähigkeit anderer Religionen, den Umgang mit Dissidenten, das Verständnis von Toleranz und mancherlei mehr, das jede beteiligte Religionsgemeinschaft von ihren eigenen Grundlagen aus klären muss.57 Daraus ergeben sich sowohl Möglichkeiten der Kooperation wie auch ihre Grenzen. Die Unterschiede der Religionen werden sich auch beim besten Willen nicht ohne weiteres überspielen lassen. c)

Pädagogik

Wer sich in der Schule dem Thema Religion stellt, sieht sich vor anspruchsvollen pädagogischen Herausforderungen – und dies letztlich unabhängig davon, in welchem Modell der Religionsunterricht stattfindet. Denn in jedem Fall muss zur Kenntnis genommen und bearbeitet werden, ›dass die anderen auch noch da sind‹. Lehrkräfte müssen einzeln oder gemeinsam als Repräsentanten der eigenen Religion, als Referenten anderer Religionen, als Bürgen für einen respektvollen Umgang und als Moderatoren des Dialogs zwischen religiösen Überzeugungen agieren.58 Abhängig vom gewählten Modell können aber auch die Anforderungen an die Schüler enorm zunehmen. Wenn die Konzepte immer aufwändiger und komplexer werden, dürfte sich das auch im Unterricht bemerkbar machen. Man 56 Härle, Religionsunterricht unter pluralistischen Bedingungen, S. 137. 57 Dazu ebd., S. 61–120; siehe auch Arnulf von Scheliha, »Religionsunterricht 4.0. Theologische Überlegungen zu kooperativen Modellen im Rahmen des geltenden Religionsrechts«, in: Zeitschrift für evangelisches Kirchenrecht 64 (2019), S. 374–393. 58 Härle, Religionsunterricht unter pluralistischen Bedingungen, S. 139; vgl. Wißmann, Religionsunterricht für alle?, S. 79–82.

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könnte sich fragen, ob das nicht auch zu einer Überforderung führt. Auf der anderen Seite müssen sich die Schüler dieser Komplexität im Leben ohnehin stellen. Der Religionsunterricht wird damit umso dringlicher, als es um die Persönlichkeitsbildung und die Vorbereitung auf das Leben geht, wie es gegenwärtig und zukünftig nun einmal ist und voraussichtlich sein wird.

5.3

Fazit

Die aktuellen Herausforderungen für den Religionsunterricht sind also beträchtlich. Dass es schwieriger wird, zeigt aber auch, wie dringlich notwendig ein zeitgemäßer Religionsunterricht ist. Mein Fazit lautet darum an dieser Stelle: Der Religionsunterricht nach Art. 7 Abs. 3 GG ist historisch bewährt und heute umso mehr gefordert.59

Literatur Anschütz, Gerhard, Die Verfassung des Deutschen Reichs vom 11. August 1919. Ein Kommentar für Wissenschaft und Praxis, Berlin 141933. Bauer, Thomas, Die Vereindeutigung der Welt. Über den Verlust an Mehrdeutigkeit und Vielfalt, Stuttgart 2018. Böckenförde, Ernst-Wolfgang, »Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation«, in: ders., Recht, Staat, Freiheit, Frankfurt am Main 1991, S. 92–114. Fischer, Erwin, Volkskirche ade! Trennung von Staat und Kirche, Berlin/Aschaffenburg 4 1993. Graßmann, Tobias, »Die Gesellschaft der Singularitäten im Lichte reformatorischer Lehre«, in: DtPfrBl 118 (2018), S. 475–477. Heckel, Martin, »Die Kirchen unter dem Grundgesetz«, in: VVDStRL 26 (1968), S. 5–56. Heckel, Martin, »Zur Zukunftsfähigkeit des deutschen ›Staatskirchenrechts‹ oder ›Religionsverfassungsrechts‹?«, in: AöR 134 (2009), S. 309–390. Heckel, Martin, »Neue Formen des Religionsunterrichts? Konfessionell – unkonfessionell – interreligiös – bikonfessionell – »für alle« – konfessionell-kooperativ?«, in: ders., Gesammelte Schriften VI, Tübingen 2013, S. 379–418. Heinig, Hans Michael/Christian Walter (Hgg.), Staatskirchenrecht oder Religionsverfassungsrecht? Ein begriffspolitischer Grundsatzstreit, Tübingen 2007. Heinig, Hans Michael/Christian Walter (Hgg.), Religionsverfassungsrechtliche Spannungsfelder, Tübingen 2015. Heinig, Hans Michael, Öffentlich-rechtliche Religionsgesellschaften, Berlin 2003.

59 So auch Waldhoff, »Neue Religionskonflikte und staatliche Neutralität«, S. 107; ähnlich Korioth, »Der Auftrag des Religionsunterrichts nach Art. 7 Abs. 3 GG«, S. 13.

Religionsunterricht nach Art. 7 Abs. 3 GG – historisch bewährt, aber überlebt?

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Angelika Günzel

Art. 149 WRV und Art. 7 Abs. 3 GG: Alles beim Alten aus jüdischer Sicht?

Bei einem ersten Vergleich des Art. 149 der Weimarer Reichsverfassung (WRV) mit Art. 7 Abs. 3 des Grundgesetzes (GG) scheint sich die Rechtslage in Bezug auf den jüdischen Religionsunterricht mit dem Inkrafttreten des Grundgesetzes nicht wesentlich verändert zu haben. Die beiden Normen sind über weite Strecken wortgleich. Trotzdem unterscheidet sich der Verfassungsstaat von Weimar aus jüdischer Sicht deutlich von dem des Grundgesetzes. Das hat seine Ursache darin, dass Verfassungen wesentlich von ihrem Vorverständnis und ihrem Kontext leben und beeinflusst werden.

1.

Religionsunterricht in der Weimarer Zeit, Art. 149 WRV

So wurde das Verständnis von Religionsunterricht im Rahmen der Weimarer Reichsverfassung durch die Rechtslage vor der Annahme dieser Verfassung geprägt.

1.1

Rechtslage vor der Weimarer Reichsverfassung

a)

Allgemeines

In dieser Zeit war Religionsunterricht in Deutschland ausschließlich Bestandteil des in der Schule des Staates erteilten Unterrichts.1 Dabei wurde das Schulwesen weiterhin durch die Kirchen geprägt, auch wenn es inzwischen in staatlicher Hand war. Aufgrund dessen war der Religionsunterricht an öffentlichen Schulen christlicher, also katholischer oder evangelischer Religionsunterricht. Auch der 1 Vgl. Walter Landé, in: Die Grundrechte und Grundpflichten der Reichsverfassung. Kommentar zum zweiten Teil der Reichsverfassung, Bd. 3, hrsg. von Hans Carl Nipperdey, Berlin 1930, Art. 143–149 WRV, S. 79. Ebenso Walter Landé, Die Schule in der Reichsverfassung. Ein Kommentar, Berlin 1929, S. 181f., zum Religionsunterricht insgesamt S. 180–212.

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sonstige Unterricht war mit religiösen, also mit christlichen Inhalten verwoben. Es bestand Schulzwang. Die Parität der Religionsgemeinschaften, damals als Religionsgesellschaften bezeichnet, galt nur bezüglich der lutherischen, reformierten und katholischen Kirche.2 Dementsprechend waren die Kinder mit anderen Bekenntnissen nicht verpflichtet, am (christlichen) Religionsunterricht teilzunehmen. b)

Zum Einfluss der Religionsgesellschaften auf den Religionsunterricht

Art und Maß des Einflusses der Religionsgesellschaften auf den Religionsunterricht waren im Recht der Länder unterschiedlich ausgestaltet: In der ersten Gruppe von Ländern lag der gesamte Unterricht in staatlicher Hand. In der zweiten erfolgte die Leitung durch die Religionsgesellschaft, Erteilung und Aufsicht waren hingegen Sache des Staates. In der dritten Gruppe hatte die Religionsgesellschaft die Leitung des Religionsunterrichts und erteilte ihn; der Staat übte lediglich eine Aufsicht über diesen aus.3 Mit der Forderung einer »Weltlichkeit des Schulwesens« im Vorfeld der Weimarer Reichsverfassung war deshalb die Verweisung des Religionsunterrichts an die außerstaatlichen Organisationen der Religionsgesellschaften verbunden. In der Schule sollte nach dieser Auffassung nur religionskundlicher oder religionsgeschichtlicher Unterricht erteilt werden, kein bekenntnisgebundener.4

1.2

Religionsunterricht in der Weimarer Reichsverfassung

a)

Debatten zur Regelung des Religionsunterrichts

Entsprechend der bis dahin existierenden landesrechtlichen Modelle wurden in der Debatte über den Religionsunterricht im Rahmen der Nationalversammlung 1919 drei Positionen vertreten: Nach der ersten Auffassung (Zentrum, Deutsche Volkspartei und Deutschnationale Volkspartei) sollte der Religionsunterricht in allen Schulen Lehrfach sein. Der Staat sollte dabei verpflichtet sein, Religionsunterricht anzubieten und die Aufsicht über diesen ausüben. Die inhaltliche Verantwortung sollten hingegen die Religionsgesellschaften übernehmen. Nach der zweiten Auffassung (Sozialdemokratie, Sozialisten) sollte der Religionsunterricht nicht durch den Staat, sondern die Religionsgesellschaft erteilt werden 2 Vgl. Georg Hildebrand, Der Religionsunterricht an öffentlichen Schulen im bisherigen und neuen Recht, Berlin 1922, S. 5f., 9. 3 Vgl. Landé, in: Die Grundrechte und Grundpflichten der Reichsverfassung, Art. 143–149 WRV, S. 79f. 4 Vgl. ebd., S. 80.

Art. 149 WRV und Art. 7 Abs. 3 GG: Alles beim Alten aus jüdischer Sicht?

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und folglich grundsätzlich außerhalb der Schule stattfinden. Die dritte, vermittelnde Position (Deutsche Demokratische Partei) sah den Religionsunterricht als organisatorischen Bestandteil des Schulunterrichts. Der Inhalt sollte an die Lehren der Religionsgesellschaft gebunden, Leitung und Aufsicht sollten aber Sache des Staates sein.5 Nicht präsent und auch nicht im Blick waren bei dieser Debatte die jüdische Gemeinschaft und der jüdische Religionsunterricht.6 Obwohl die Juden die religiöse Minderheit mit dem stärksten Prozentsatz darstellten,7 wird der jüdische Religionsunterricht in den Großkommentaren von Anschütz und Nipperdey zur Weimarer Reichsverfassung nicht erwähnt, nicht einmal in dem Kommentar von Landé zu den Regelungen der Reichsverfassung bezüglich des Schulwesens. Der Religionsunterricht für jüdische Kinder war allgemein sogar weniger im Blick als derjenige für christliche »Dissidenten-Kinder«, also für Kinder, deren Eltern aus ihrer ursprünglichen christlichen Religionsgesellschaft ausgetreten waren; zu letzterem findet sich wenigstens vereinzelt Schrifttum.8 b)

Die Regelung des Art. 149 WRV9

aa) Allgemeines Als Ergebnis der Debatte sah Art. 149 WRV den allgemeinen Religionsunterricht als konfessionellen Religionsunterricht der Religionsgesellschaften (katholisch/ evangelisch) vor und erteilte religionskundlichen Modellen eine klare Absage.10 Der Religionsunterricht ist nach dieser Norm ordentliches Lehrfach an staatli5 Vgl. Landé, in: Die Grundrechte und Grundpflichten der Reichsverfassung, Art.143–149 WRV, S. 80f.; vgl. dazu auch: Fritz Stier-Somlo, Reichsverfassung. Die Verfassung des Deutschen Reichs vom 11. August 1919. Ein systematischer Überblick, Bonn 1920, S. 127. 6 Vgl. zur Debatte um den Religionsunterricht die Auszüge aus den Beratungen bei: Landé, Die Schule in der Reichsverfassung, S. 182–194. 7 Vgl. Hildebrand, Der Religionsunterricht an öffentlichen Schulen, S. 48. 8 Vgl. z. B. R. W. Glatzel, Religionsunterricht der Dissidentenkinder, Berlin 1897; Julius Rosenthal, Die religiöse Erziehung der Dissidentenkinder in Preußen. Eine staatsrechtliche Studie, Greifswald 1918. 9 Die hier maßgeblichen Absätze des Artikels 149 WRV lauten wie folgt: (1) Der Religionsunterricht ist ordentliches Lehrfach der Schulen mit Ausnahme der bekenntnisfreien (weltlichen) Schulen. Seine Erteilung wird im Rahmen der Schulgesetzgebung geregelt. Der Religionsunterricht wird in Übereinstimmung mit den Grundsätzen der betreffenden Religionsgesellschaft unbeschadet des Aufsichtsrechts des Staates erteilt. (2) Die Erteilung religiösen Unterrichts und die Vornahme kirchlicher Verrichtungen bleibt der Willenserklärung der Lehrer, die Teilnahme an religiösen Unterrichtsfächern und an kirchlichen Feiern und Handlungen der Willenserklärung desjenigen überlassen, der über die religiöse Erziehung des Kindes zu bestimmen hat. 10 Vgl. Landé, Die Schule in der Reichsverfassung, S. 182 – Alternativmodell zum Religionsunterricht war ein religionskundlicher oder religionsgeschichtlicher, rein staatlicher Unterricht.

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chen Schulen. Seine Erteilung, Leitung und Aufsicht liegen in der Hand des Staates. Eine Delegation der Erteilung an die Religionsgesellschaft sollte verboten sein; der Staat sollte das alleinige Bestimmungsrecht bezüglich des Inhalts haben. Aufgrund seines Charakters als eines ordentlichen Lehrfaches war der Religionsunterricht Teil der Schulorganisation, der Schularbeit, des Lehrplans etc., und der Staat war verpflichtet, seine Kosten zu tragen sowie an allen öffentlichen und privaten, allgemeinbildenden und Berufsschulen Religionsunterricht bereitzustellen. Außerdem war der Religionsunterricht kein fakultatives Lehrfach, sondern obligatorisch, trotz der Freiwilligkeit für Lehrer und Lehrerinnen sowie Schüler und Schülerinnen.11 Inhaltlich war der Religionsunterricht als dogmatischer Unterricht, als Unterricht über den Bekenntnisinhalt der einzelnen Religionsgesellschaft konzipiert, nicht nur als religiöser Unterricht im Sinne von Art. 149 Abs. 2 WRV, der sich in irgendeiner Form inhaltlich mit Religion beschäftigt. Dabei wurden die Glaubenssätze als bestehende Wahrheiten vermittelt. Interkonfessioneller Unterricht war ausgeschlossen. Gebunden sollte der Staat dabei nur an die Grundsätze der jeweiligen Religionsgesellschaft sein. Eine Beteiligung der Religionsgesellschaften an der Aufsicht über den Religionsunterricht war unzulässig. Allerdings bestand eine Visitationsmöglichkeit für die betreffende Religionsgesellschaft, damit sich diese davon überzeugen konnte, dass der Unterricht tatsächlich in Übereinstimmung mit ihren Grundsätzen erteilt wurde. Ein Recht auf Einsicht stellte dies jedoch nicht dar. Entsprechend war verfassungsrechtlich auch kein besonderer Lehrauftrag der Religionsgesellschaft für den Religionslehrer im Sinne einer missio canonica oder einer vocatio erforderlich.12 bb) Zur Frage der Geltung des Art. 149 WRV für den jüdischen Religionsunterricht Nach Landé war der Religionsunterricht nach Art. 149 WRV nicht nur in bestimmten, etwa christlichen, sondern in allen Bekenntnissen ordentliches Lehrfach, auch für konfessionelle Minderheiten, grundsätzlich ohne Rücksicht auf die Zahl der vorhandenen Kinder.13 Auch Anschütz erwähnt Religionsunterricht für

11 Im Folgenden wird aus Gründen der leichteren Lesbarkeit nur die männliche Form verwendet. 12 Vgl. insgesamt Landé, in: Die Grundrechte und Grundpflichten der Reichsverfassung, Art. 143–149 WRV, S. 82–90. 13 Vgl. Landé, in: Die Grundrechte und Grundpflichten der Reichsverfassung, Art.143–149 WRV, S. 88. Ebenso Landé, Die Schule in der Reichsverfassung, S. 208. In beiden Fällen ohne weitere Nachweise und Ausführungen.

Art. 149 WRV und Art. 7 Abs. 3 GG: Alles beim Alten aus jüdischer Sicht?

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konfessionelle Minderheiten unter der Überschrift des Art.149 WRV.14 Unklar ist, ob hier mit Konfession nur christliche Konfessionen oder auch die jüdische Religion gemeint sind. Für letzteres könnte sprechen, dass die jüdische Religion im 19. Jahrhundert als dritte Konfession neben dem evangelischen und dem katholischen Christentum angesehen wurde.15 Dagegen spricht die fehlende Relevanz des jüdischen Religionsunterrichts in der Verfassungsdebatte. Angesichts der bis dahin bestehenden Beschränkung in den Ländern auf christlichen Religionsunterricht an staatlichen Schulen sowie der christlichen Prägung der Schulen hätte die Erörterung einer solchen Neuerung aber nahe gelegen. So spricht auch Heckel im Zusammenhang mit dem Religionsunterricht von religiösen Minderheiten in Bezug auf die Weimarer Zeit und davor nur von christlichen Minderheiten.16 Ausdrücklich gegen die Erfassung des jüdischen Religionsunterrichts votiert Hildebrand: Jüdischer Religionsunterricht stelle kein ordentliches Lehrfach dar und gelte damit nicht als Veranstaltung des Staates. Zur Begründung verweist er allgemein auf die Gesetzgebungsgeschichte.17 c)

Auswirkungen von Art. 149 WRV auf das bestehende Landesrecht

Generell hatte Art. 149 WRV keine suspendierende Funktion; die Rechtslage in den Ländern blieb also grundsätzlich unberührt. Die Verweisung auf die Schulgesetzgebung wurde so verstanden, dass sie nur eine Regelung des Religionsunterrichts durch kirchliches und nicht staatliches Recht ausschließen sollte. Allerdings entnahm man Art.149 WRV das Verbot für die Länder, die Leitung des Religionsunterrichts der Religionsgesellschaft zu übertragen. Diese durfte dementsprechend nicht mehr aus sich heraus allgemein bindende Anweisungen für die innere Ausgestaltung des Religionsunterrichts geben und seine Durchführung nicht mehr überwachen. Die Leitung erfolgte nur mittelbar durch Bindung des Staates an die Grundsätze der betreffenden Religionsgesellschaft. Ansonsten musste der Staat unter anderem über die Lehrpläne und Schulbücher

14 Vgl. Gerhard Anschütz, Die Verfassung des Deutschen Reichs vom 11. August 1919. Ein Kommentar für Wissenschaft und Praxis, Berlin 141933, Anm. 1, S. 690. 15 Vgl. Michael Demel, Gebrochene Normalität. Die staatskirchenrechtliche Stellung der jüdischen Gemeinden in Deutschland, Tübingen 2011, S. 239–241. Vgl. auch den Sprachgebrauch z. B. bei: Moritz Duschak, Umriß des biblisch-talmudischen Synagogen-Rechtes mit Rücksicht auf die jetzige Stellung der österreichischen Juden, Olmütz 1853, S. 3. 16 Vgl. Martin Heckel, »Religionsunterricht auf dem Prüfstand«, in: Zeitschrift für Theologie und Kirche 102 (2005), S. 246–292, hier S. 256. 17 Vgl. Hildebrand, Der Religionsunterricht an öffentlichen Schulen, S. 50.

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bestimmen, wobei er an die Übereinstimmung des Unterrichts mit dem betreffenden Bekenntnis gebunden war.18

1.3

Zum jüdischen Religionsunterricht in der Weimarer Zeit

Die Situation des jüdischen Religionsunterrichts in der Weimarer Zeit war generell eine andere als heute. So erfolgte die Erteilung desselben häufig an jüdischen Schulen. a)

Errichtung besonderer öffentlicher jüdischer Schulen für jüdische Kinder

aa) Allgemeines Aufgrund des konfessionellen Charakters gerade der öffentlichen Volksschulen erhielten die jüdischen Gemeinden die Möglichkeit, besondere öffentliche Schulen für jüdische Kinder zu errichten.19 Trotzdem besuchte zum Beispiel in Bayern um 1900 die Mehrzahl der jüdischen Kinder eine reguläre öffentliche und damit christlich geprägte Schule. Aufgrund der wachsenden Zahl antisemitischer Übergriffe wechselten in der Weimarer Republik jedoch mehr und mehr Kinder an jüdische Schulen.20 bb) Rechtslage in Preußen Im größten Land des Reiches, in Preußen, waren die jüdischen Kinder grundsätzlich verpflichtet, die christlichen Konfessionsschulen zu besuchen.21 Unter besonderen Voraussetzungen konnten aber jüdische Volksschulen gegründet 18 Vgl. insgesamt: Landé, in: Die Grundrechte und Grundpflichten der Reichsverfassung, Art. 143–149 WRV, S. 82f. 19 Vgl. Max P. Birnbaum, Staat und Synagoge 1918–1938. Eine Geschichte des Preußischen Landesverbandes jüdischer Gemeinden (1918–1938), Tübingen 1981, S. 209. Vgl. auch Hildebrand, Der Religionsunterricht an öffentlichen Schulen, S. 49. 20 Vgl. in Bezug auf Bayern: Rebecca Heinemann, »Jüdisches Schulwesen in Bayern (1918– 1945)«, www.historisches-lexikon-bayerns.de/Lexikon/Jüdisches_Schulwesen_in_Bayern_ (1918/19-1945) (Abruf: 28. 12. 2020). 21 Vgl. § 40 Abs. 1 Volksschulunterhaltungsgesetz (VUG), 1906, in Verbindung mit § 61 Gesetz über die Verhältnisse der Juden in den königlich preußischen Staaten vom 23. Juli 1847 (im Folgenden: Gesetz über die Verhältnisse der Juden, 1847). § 40 Abs. 1 Volksschulunterhaltungsgesetz, 1906: Für die Errichtung, Unterhaltung und Verwaltung der für jüdische Kinder bestimmten und mit jüdischen Lehrkräften zu besetzenden öffentlichen Volksschulen gelten bis auf weiteres die jetzt bestehenden Vorschriften, mit der Maßgabe, daß der § 67 Nr. 3 des Gesetzes vom 23. Juli 1847 über die Verhältnisse der Juden (Gesetz-Samml. S. 263) für den ganzen Umfang der Monarchie zur Anwendung gelangt. Die zur Unterhaltung solcher Schulen Verpflichteten gelten als Schulverbände im Sinne dieses Gesetzes. (Abdruck bei: Ismar Freund, Die Rechtsstellung der Juden im preußischen Volksschulrecht nebst den be-

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werden, die dann gemäß § 67 Satz 1 des Gesetzes über die Verhältnisse der Juden in den königlich preußischen Staaten vom 23. Juli 1847 den Charakter einer öffentlichen Schule hatten. Die Entscheidung über die Gründung einer solchen öffentlichen Schule stand im Ermessen der Regierung.22 Im Jahr 1903 existierten insgesamt 241 jüdische öffentliche Volksschulen.23 Ferner sahen §§61 und 64 des Gesetzes ausdrücklich die Möglichkeit jüdischer Privatschulen vor. Da nach Art. 14 Verfassungs-Urkunde für den Preußischen Staat von 1850, unbeschadet der im Art. 12 gewährleisteten Religionsfreiheit, die christliche Religion allgemein bei denjenigen Einrichtungen des Staates zu Grunde gelegt werden sollte, welche mit der Religionsausübung im Zusammenhang standen, war umstritten, wie groß der Spielraum der Kommunen allgemein für die Unterstützung jüdischer religiöser Bildung war.24 b)

Jüdischer Religionsunterricht in der Weimarer Zeit

Die Regelungen des Art. 149 WRV waren auf den jüdischen Religionsunterricht nicht anwendbar. Dementsprechend schrieb das Recht des Reiches in der Weimarer Zeit keinen staatlichen jüdischen Religionsunterricht vor. Damit standen die Fragen der Erteilung, Leitung und Aufsicht über diesen Unterricht einer individuellen Regelung durch die Länder weiterhin offen.

züglichen Gesetzen, Verordnungen und Entscheidungen, Berlin 1908, S. 376f.). Zur erstrebten Einrichtung jüdischen Religionsunterrichts an christlichen Volksschulen vgl.: Max Cahn, Die religiösen Strömungen in der zeitgenössischen Judenheit, Frankfurt am Main 1912, S. 36–120. § 61 Gesetz über die Verhältnisse der Juden, 1847: Die Juden sind schuldig, ihre Kinder zur regelmäßigen Teilnahme an dem Unterrichte in der Ortsschule während des gesetzlich vorgeschriebenen Alters anzuhalten, sofern sie nicht vor der Schulbehörde sich ausweisen, daß ihre Kinder anderweitig durch häusliche Unterweisung oder durch ordentlichen Besuch einer anderen vorschriftsmäßig eingerichteten öffentlichen oder Privat-Lehr-Anstalt einen regelmäßigen und genügenden Unterricht in den Elementarkenntnissen erhalten. (Abdruck in: Ismar Freund, Die Rechtsstellung der Synagogengemeinden in Preußen und die Reichsverfassung. Ein Beitrag zur Revision der bisherigen Gesetzgebung, Berlin 1926, S. 53). Vgl. ferner zur Rechtslage: Hildebrand, Der Religionsunterricht an öffentlichen Schulen, S. 50. 22 Vgl. § 40 Volksschulunterhaltungsgesetz, 1906, in Verbindung mit §§ 64–66 Gesetz über die Verhältnisse der Juden, 1847, Abdruck letzterer in: Freund, Die Rechtsstellung der Synagogengemeinden in Preußen und die Reichsverfassung, S. 53f. Vgl. ferner die Darstellung bei: Freund, Die Rechtsstellung der Juden im preußischen Volksschulrecht, S. 11. 23 Vgl. Freund, Die Rechtsstellung der Juden im preußischen Volksschulrecht, S.12; im Einzelnen zur Errichtung öffentlicher jüdischer Volksschulen: ebd., S. 19–40. 24 Vgl. Michael Germann/Cornelius Wiesner, »Schule und Religion in der Entwicklung des Schulwesens in Deutschland«, in: RdJB (2013), S. 396–424, hier S. 406f. Zur Unterhaltung öffentlicher jüdischer Volksschulen: Freund, Die Rechtsstellung der Juden im preußischen Volksschulrecht, S. 41–82.

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aa)

Erteilung des jüdischen Religionsunterrichts

Allgemein: kein ordentliches Lehrfach Auch nach dem Recht der Länder war der jüdische Religionsunterricht kein ordentliches Lehrfach; Religionsunterricht an staatlichen Schulen war christlicher, also katholischer oder evangelischer, Religionsunterricht. Damit erfolgte die Erteilung des jüdischen Religionsunterrichts nicht durch das Land. Aus der insgesamt insofern dünnen und zum Teil unpräzisen Quellenlage ergibt sich, dass generell der jüdische Religionsunterricht für Kinder, die die öffentliche, christliche Schule besuchten, nicht durch den Staat, sondern durch die Synagogengemeinden erteilt wurde. So bestand eine Verpflichtung jeder Synagogengemeinde, für Kinder, die auf christliche Schulen gingen, Religionsunterricht anzubieten. Der jüdische Religionsunterricht wurde dementsprechend nicht in staatlichen Schulen erteilt sowie in deren Lehrpläne und allgemein in den Unterricht integriert. Ferner erfolgte grundsätzlich keine Finanzierung des Unterrichts durch den Staat, inklusive der Lehrer; diese war durch die jüdischen Gemeinden zu leisten.25 Mögliche Gründe hierfür können teilweise die Konfessionalität der Schulen und die christliche Prägung des Staates gewesen sein. Ferner ist denkbar, dass in der fehlenden Ausgestaltung des jüdischen Religionsunterrichts als eines staatlichen Unterrichts faktisch die Idee fortwirkte, dass die jüdische Religionsgesellschaft nur eine geduldete Religionsgesellschaft sei.26 Zur Rechtslage in Preußen Da in Preußen Art. 14 Preußische Verfassungs-Urkunde, 1850, vorsah, dass der preußische Staat ein christlich geprägter sein sollte, durfte im staatlichen Unterricht nur die christliche Religion Berücksichtigung finden. So schreibt Anschütz hierzu: »Schreitet aber der Staat dazu, den Religionsgesellschaften Bildungsanstalten zur Verfügung zu stellen, sei es durch Begründung von Spezialinstituten (Religionsschulen, Prediger- und Priesterseminare), sei es durch Einfügung der Religion und Theologie in die Lehrpläne seines allgemeinen Unterrichtswesens, so gebietet ihm Art. 14 die ausschließliche Berücksichtigung der christlichen Religion.«27

25 Vgl. insgesamt Hildebrand, Der Religionsunterricht an öffentlichen Schulen, S. 49. 26 Vgl. für eine entsprechende Motivation in Preußen im Jahr 1847: Auszug aus der »Denkschrift des Staatsministeriums zum Regierungsentwurf des Gesetzes vom 23ten Juli 1847 betreffend die Verhältnisse der Juden in den königlich preußischen Staaten« bei Freund, Die Rechtsstellung der Juden im preußischen Volksschulrecht, S. 131, 225f. 27 Gerhard Anschütz, Die Verfassungsurkunde für den Preußischen Staat vom 31. Januar 1850. Ein Kommentar für Wissenschaft und Praxis, Bd. 1, Berlin 1912, Artikel 14, S. 274. Für ein

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Dies hatte zur Folge, dass grundsätzlich jüdischer Religionsunterricht an öffentlichen Schulen sowohl als obligatorischer als auch als fakultativer Unterricht verboten war. Eine Ausnahme hiervon galt für die öffentlichen Volksschulen: Hier sollte der jüdische Religionsunterricht zulässig, aber nicht mit dem christlichen Pendant gleichberechtigt sein. So bestand keine staatliche Verpflichtung, für jüdischen Religionsunterricht und seine Finanzierung zu sorgen oder Zwang zum Besuch desselben auszuüben; diese oblag vielmehr den Synagogengemeinden. Ferner wurde aus der Christlichkeit des Staates das Verbot der Einrichtung von Fakultäten oder Lehrstühlen für jüdische Theologie an staatlichen Universitäten abgeleitet, so dass eine Einbindung der Ausbildung der jüdischen Religionslehrer in das staatliche Bildungssystem ausgeschlossen war. Mit Blick auf das jüdische Schulwesen war der Staat allgemein verfassungsrechtlich nicht verpflichtet, jüdische Schulen mit jüdischen Lehrkräften für jüdische Kinder zu errichten und zu finanzieren. Diese Schulen waren deshalb, auch wenn sie als öffentliche Schulen galten, gemäß § 67 Satz 2 Nr. 2 Gesetz über die Verhältnisse der Juden, 1847, Sache der Synagogengemeinden oder jüdischen Schulsozietäten. Allerdings bestand eine Verwaltungspraxis der freiwilligen Übernahme der Finanzierung der jüdischen Schulen durch bürgerliche Gemeinden. Diese wurde teilweise als mit Art. 14 Preußische Verfassungs-Urkunde, 1850, für unvereinbar angesehen. Sie korrespondierte aber in der Sache mit §67 Satz 2 Nr.3 Gesetz über die Verhältnisse der Juden, 1847, der eine einfachrechtliche Pflicht zur finanziellen Unterstützung vorsah, so dass faktisch eine indirekte Mitfinanzierung des jüdischen Religionsunterrichts erfolgte.28 Zur Rechtslage in Bayern: Ein Ausnahmefall? In der Literatur findet sich die Einschätzung, Bayern sei das einzige Land gewesen, in dem es einen obligatorischen jüdischen Religionsunterricht an öffentlichen Schulen gegeben habe. Die Darstellung legt nahe, dass damit auch der Religionsunterricht als staatlicher erteilt worden sei.29 Dabei hat es, nach den vorhandenen historischen Darstellungen zu urteilen, zunächst keinen obligatorischen jüdischen Religionsunterricht an höheren Schulen gegeben. In der Weimarer Republik habe der dort inzwischen erteilte Religionsunterricht seinen Verständnis von Christlichkeit im Sinne einer christlichen, mit der jüdischen zu vereinbarenden Moral: Edmund Friedemann, Jüdische Moral und christlicher Staat, Berlin 1894. 28 Vgl. insgesamt Anschütz, Die Verfassungsurkunde für den Preußischen Staat vom 31. Januar 1850, Artikel 14, S. 274f. Ferner: Freund, Die Rechtsstellung der Juden im preußischen Volksschulrecht, S. 225–253 (Religionsunterricht an der nichtjüdischen öffentlichen Volksschule), insbes. S. 225f., 242–247; S. 253–260 (Religionslehrer); S. 130–133 (Religionsunterricht an der jüdischen öffentlichen Volksschule). 29 Vgl. Hildebrand, Der Religionsunterricht an öffentlichen Schulen, S. 49; ebenso Claudia Prestel, Jüdisches Schul- und Erziehungswesen in Bayern 1804–1933, Göttingen 1989, S. 164, 167.

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zwischenzeitlich obligatorischen Charakter wieder verloren, mit der Folge, dass die Religionslehrer zunächst ohne Besoldung gewesen seien.30 In der rechtswissenschaftlichen Abhandlung von Hildebrand wird der obligatorische Charakter damit begründet, dass in Bayern die Schulbehörden verpflichtet waren, auf die Erteilung des jüdischen Religionsunterrichts hinzuwirken. Gegen den Schluss Hildebrands darauf, dass damit auch staatlicher Unterricht vorlag, spricht aber, dass, wie er selbst konstatiert, die Kostentragung durch die »israelitischen Glaubensgenossen« erfolgen sollte.31 Nicht nur an der staatlichen Erteilung des jüdischen Religionsunterrichts an öffentlichen Schulen in Bayern bestehen Zweifel, sondern auch an der Singularität der Unterrichtspflicht. So umfasste auch in Preußen bereits vor der Weimarer Republik die Schulpflicht nach § 75 Abs. 2 Nr. 2 des Preußischen Allgemeinen Landrechts auch die Pflicht zum Besuch eines Religionsunterrichts. Die Anwendbarkeit dieser Regelung auf jüdische Kinder wurde durch entsprechende ministerielle Erlasse festgestellt und durch § 62 Gesetz über die Verhältnisse der Juden, 1847, bestätigt.32 Trotz dieser Pflicht sah aber § 62 ausdrücklich die Erteilung des jüdischen Religionsunterrichts durch die Synagogengemeinden vor.33 Schlussfolgerung Die Befunde für Bayern und Preußen machen deutlich, dass zumindest in den beiden größten Ländern des Deutschen Reiches eine Pflicht zum Besuch des jüdischen Religionsunterrichts auch während der Weimarer Republik bestanden hat. Aufgrund des Einflusses dieser Länder im Reich liegt es nahe, dass die Rechtslage in der Mehrheit der anderen Länder entsprechend war. Wie die Situation in Preußen deutlich macht, ist von dieser Unterrichtspflicht die Frage zu unterscheiden, ob der jüdische Religionsunterricht durch den Staat oder die Religionsgesellschaft erteilt wurde. Hier sprechen die Befunde nicht nur für Preußen, sondern auch für Bayern dafür, dass der Religionsunterricht allgemein durch die Synagogengemeinden, also die jüdische Religionsgesellschaft erteilt worden ist.

30 Vgl. Prestel, Jüdisches Schul- und Erziehungswesen in Bayern 1804–1933, S. 173, 177. 31 Vgl. Hildebrand, Der Religionsunterricht an öffentlichen Schulen, S. 49. 32 Vgl. dazu im Einzelnen: Freund, Die Rechtsstellung der Juden im preußischen Volksschulrecht, S. 220–222. 33 § 62 Gesetz über die Verhältnisse der Juden, 1847: Zur Teilnahme an dem christlichen Religions-Unterrichte sind die jüdischen Kinder nicht verpflichtet; eine jede Synagogengemeinde ist aber verbunden, solche Einrichtungen zu treffen, daß es keinem jüdischen Kinde während des schulpflichtigen Alters an dem erforderlichen Religions-Unterrichte fehlt. Als besondere Religionslehrer können nur solche Personen zugelassen werden, welche zur Ausübung eines Elementarschul-Amtes vom Staate die Erlaubnis erhalten.

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bb) Leitung und Aufsicht über den jüdischen Religionsunterricht Aufgrund der fehlenden Staatlichkeit leitete die jüdische Gemeinde den Religionsunterricht. Teilweise waren die Synagogengemeinden verpflichtet nachzuweisen, dass der Unterricht in einer nach dem Erachten des jüdischen Geistlichen der Gemeinde ausreichenden Weise erteilt wurde.34 Die Verneinung einer inhaltlichen Aufsicht des Staates über den jüdischen Religionsunterricht wurde in Preußen Anfang des 20. Jahrhunderts damit begründet, dass die Gesamtheit der jüdischen Synagogengemeinden nicht so organisiert sei, wie dies bei der evangelischen und der katholischen Kirche der Fall sei, so dass dem Staat das Organ fehle, um zu prüfen und zu entscheiden, welche Auffassung des Judentums – die liberale oder die orthodoxe – die richtige sei.35 cc) Insbesondere: Jüdischer Religionsunterricht in Preußen Da es sich bei Preußen um das größte und damit auch das einflussreichste Land in der Weimarer Republik handelte, soll die rechtstatsächliche Situation des jüdischen Religionsunterrichts anhand der Sachlage in Preußen verdeutlicht werden.36 Religionsunterricht an öffentlichen christlichen Volksschulen Auch in der Weimarer Republik behielten die Volksschulen in Preußen grundsätzlich ihren konfessionellen Charakter. Dabei waren die jüdischen Kinder, die öffentliche nichtjüdische Schulen besuchten, von der Pflicht zur Teilnahme am christlichen Religionsunterricht an diesen Schulen befreit.37 Die Sorge für den jüdischen Religionsunterricht war, wie erwähnt, grundsätzlich Sache der Synagogengemeinden. Die Zulassung als Religionslehrer setzte dabei eine allgemeine staatliche Ausbildung voraus.38 34 Vgl. Hildebrand, Der Religionsunterricht an öffentlichen Schulen, S. 49. 35 Vgl. Auszug aus der »Denkschrift des Staatsministeriums zum Regierungsentwurf des Gesetzes vom 23ten Juli 1847 betreffend die Verhältnisse der Juden in den königlich preußischen Staaten« bei Freund, Die Rechtsstellung der Juden im preußischen Volksschulrecht, S. 132. 36 Für einen Kurzüberblick über die Situation in anderen Ländern des Deutschen Reichs vgl. Max Kollenscher/Isidor (Moritz) Rosenfeld, »Religionsunterricht«, in: Jüdisches Lexikon IV.1, hrsg. von Georg Herlitz und Bruno Kirschner, Berlin 1930, Sp.1393–1400, hier Sp.1395f. 37 Vgl. § 62 Satz 1 Gesetz über die Verhältnisse der Juden, 1847 (Fn. 33). Zur Einrichtung jüdischen Religionsunterrichts für jüdische Kinder an nichtjüdischen öffentlichen Volksschulen vgl. Freund, Die Rechtsstellung der Juden im preußischen Volksschulrecht, S.219–260, insbes. S. 230ff. 38 Vgl. §62 Gesetz über die Verhältnisse der Juden (Fn.33); Fortgeltung für Volksschulen via §40 Abs. 2 Preußisches Volksschulunterhaltungsgesetz, 1906. Abdruck des Gesetzestextes bei: Hildebrand, Der Religionsunterricht an öffentlichen Schulen, S. 49. § 40 Abs. 2 Volksschulunterhaltungsgesetz, 1906: Werden die in den §§ 35 bis 39 erwähnten öffentlichen Volksschulen von jüdischen Kindern besucht, so finden bei Aufbringung der Kosten für die Erteilung von jüdischem Religionsunterricht und hinsichtlich der Anstellung von jüdischen

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Allerdings waren die bürgerlichen Gemeinden berechtigt, sich des Religionsunterrichts anzunehmen und zu diesem Zweck jüdische Lehrer an christlichen Volksschulen anzustellen.39 Trotz der damit verbundenen Aufnahme des jüdischen Religionsunterrichts in den Lehrplan erfolgte keine völlige Gleichstellung mit dem landeskirchlichen Religionsunterricht. So wurde der jüdische Religionsunterricht mindestens bis 1922 trotz entsprechender Anträge bei der Staatsregierung kein obligatorischer Lehrgegenstand.40 Religionsunterricht an staatlichen höheren Schulen Da die staatlichen höheren Schulen in Preußen im Unterschied zu den öffentlichen Volksschulen grundsätzlich nicht konfessionell waren, und die Mehrheit der jüdischen Jugendlichen höhere Schulen besuchte, war der Preußische Landesverband jüdischer Gemeinden bestrebt, an diesen Schulen die Gleichberechtigung der jüdischen Religion mit den christlichen Bekenntnissen zu erreichen. In Vorbereitung hierauf erarbeitete der Landesverband 1925/1926 »Richtlinien für einen Lehrplan im jüdischen Religionsunterricht an den höheren Lehranstalten Preußens«, die durch den Staat anerkannt wurden. Mit Erlass vom 5. April 1930 führte das Kultusministerium die jüdische Religion als eines der Prüfungsfächer für das Lehramt an höheren Schulen ein. Die Prüfungsordnung war in Verbindung mit den drei Rabbinerseminaren, also der liberalen Hochschule für die Wissenschaft des Judentums in Berlin, dem konservativen JüdischTheologischen Seminar in Breslau und dem orthodoxen Hildesheimer Rabbinerseminar in Berlin, erarbeitet worden; auch die Prüfungen sollten durch Dozenten der drei Rabbinerseminare erfolgen. Am 21. September 1931 erfolgte die Genehmigung der liberalen und konservativen jüdischen Lehrbücher für den Religionsunterricht.41 Lehrkräften an diesen Schulen zum Zwecke der Erteilung von jüdischem Religionsunterricht sowie hinsichtlich der anderweiten Beschäftigung der hierfür angestellten jüdischen Lehrkräfte an diesen Schulen bis auf weiteres die bis jetzt bestehenden Bestimmungen Anwendung. Beträgt in einer öffentlichen Volksschule, die nur mit evangelischen oder nur mit katholischen oder nur mit evangelischen und katholischen Lehrkräften besetzt ist, die Zahl der einheimischen jüdischen Schulkinder dauernd mindestens zwölf und wird in einem solchen Falle der Religionsunterricht für diese durch von der Synagogengemeinde bestellte Lehrkräfte erteilt, so findet § 67 Nr. 3 des Gesetzes vom 23. Juli 1847 sinngemäß Anwendung. Vgl. auch Hildebrand, Der Religionsunterricht an öffentlichen Schulen, S. 50. 39 Vgl. Hildebrand, Der Religionsunterricht an öffentlichen Schulen, S. 50. So auch Freund, Die Rechtsstellung der Juden im preußischen Volksschulrecht, S. 230. Das Engagement der bürgerlichen Gemeinde führte aber nicht dazu, dass die betreffende Schule zur christlich-jüdischen Simultan-Schule wurde; vgl. Hildebrand, Der Religionsunterricht an öffentlichen Schulen, S. 50. 40 Vgl. Hildebrand, Der Religionsunterricht an öffentlichen Schulen, S. 50. 41 Vgl. insgesamt Birnbaum, Staat und Synagoge 1918–1938, S. 209f. Vgl. auch Kollenscher/ Rosenfeld, »Religionsunterricht«, Sp. 1396. Zu den Versuchen der Aufstellung von Lehrplä-

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Organisation des Religionsunterrichts Nach der Gründung zweier Landesverbände jüdischer Gemeinden in Preußen42 erhielten diese Staatsbeihilfen für den Religionsunterricht und die Rabbinerbesoldung.43 Erstere dienten dazu, leistungsschwachen Synagogengemeinden zu ermöglichen, ihrer Verpflichtung nachzukommen, für die Erteilung von Religionsunterricht an Volksschulen im Sinne des § 62 des Gesetzes über die Verhältnisse der Juden, 1847, Sorge zu tragen.44 Die Kosten für den jüdischen Religionsunterricht an höheren Schulen wurden hingegen faktisch von den Schulen übernommen.45 Der Preußische Landesverband jüdischer Gemeinden übernahm dabei wesentliche Funktionen einer zentralisierten allgemeinen Lehrerausbildung.46 c)

Auswirkungen der Weimarer Reichsverfassung auf den jüdischen Religionsunterricht

Insgesamt ist festzuhalten, dass Art. 149 WRV als Norm, die sich ausschließlich auf den christlichen Religionsunterricht als ordentliches Lehrfach bezog, in rein rechtlicher Hinsicht für die jüdische Gemeinschaft und den jüdischen Religionsunterricht keine Veränderung bedeutet hat. Allerdings war die Norm als politisches Argument von Bedeutung. So bestand die Möglichkeit, dass sich Juden auf Art. 149 WRV dort beriefen, wo sie einen größeren Prozentsatz der Schulpflichtigen darstellten, um einen für den Schulplan obligatorischen Religionsunterricht durchzusetzen.47 Aufgrund der großen faktischen Bedeutung der jüdischen Volksschule für die jüdische Gemeinschaft ist hier auch Art. 146 Abs. 2 WRV48 zu nennen. Diese

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nen vor der Weimarer Zeit vgl. Cahn, Die religiösen Strömungen in der zeitgenössischen Judenheit, S. 203–232. Gründung des Preußischen Landesverbandes gesetzestreuer Religionsgemeinden bzw. Synagogengemeinden in Halberstadt (auch Halbstädter Verband/HV, Separatorthodoxie) und des Preußischen Landesverbandes jüdischer Gemeinden in Berlin (liberal, konservativ, orthodox), beide 1922, vgl. Avraham Barkai, »Die Organisation der jüdischen Gemeinschaft (1918–1933)«, in: Deutsch-Jüdische Geschichte in der Neuzeit, Bd.4, hrsg. von Avraham Barkai und Paul Mendes-Flohr, München 2000, S. 74–101, hier S. 84. Vgl. Birnbaum, Staat und Synagoge 1918–1938, S. 131–144, 109, 274. Vgl. Birnbaum, Staat und Synagoge 1918–1938, S. 142f. Vgl. Kollenscher/Rosenfeld, »Religionsunterricht«, Sp. 1396. Vgl. Birnbaum, Staat und Synagoge 1918–1938, S. 168–172, 241–253. Vgl. Hildebrand, Der Religionsunterricht an öffentlichen Schulen, S. 50. Artikel 146 WRV: (1) Das öffentliche Schulwesen ist organisch auszugestalten. Auf einer für alle gemeinsamen Grundschule baut sich das mittlere und höhere Schulwesen auf. Für diesen Aufbau ist die Mannigfaltigkeit der Lebensberufe, für die Aufnahme eines Kindes in eine bestimmte Schule sind seine Anlage und Neigung, nicht die wirtschaftliche und gesellschaftliche Stellung oder das Religionsbekenntnis seiner Eltern maßgebend. (2) Innerhalb der Gemeinden sind indes auf Antrag von Erziehungsberechtigten Volksschulen ihres Be-

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Norm bietet verfassungsrechtlich die Möglichkeit, die Einrichtung einer jüdischen Volksschule im gesamten Reichsgebiet zu beantragen. Allerdings war hierfür die Aufstellung der Grundsätze durch ein Reichsgesetz erforderlich.49 Der Erlass eines solchen Gesetzes ist jedoch mehrfach gescheitert, zuletzt 1927.50 Generell war für die jüdische Gemeinschaft mit Art. 149 WRV wenig gewonnen. Dies lag unter anderem auch an der Stärke des Landesrechts. Wie das Beispiel von Preußen zeigt, wurde die Situation der jüdischen Gemeinschaft wesentlich durch die politische beziehungsweise Verwaltungspraxis bestimmt, nicht durch formale Rechtspositionen.

2.

Religionsunterricht unter dem Grundgesetz, Art. 7 Abs. 3 GG

2.1

Möglichkeiten und Grenzen der Übertragbarkeit

Trotz der weitgehenden Wortgleichheit des Art.149 WRV mit Art.7 Abs.3 GG51 ist das Verständnis der Norm aus der Weimarer Republik in wesentlichen Punkten nicht auf das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland übertragbar. Zu berücksichtigen ist insbesondere der veränderte historische Kontext. Das Grundgesetz knüpft in der Sache an eine Republik an und steht nicht wie die Weimarer Republik letztlich in der Tradition einer Monarchie mit christlich geprägten Staaten, die Angehörige anderer Religionen zum Teil lediglich dulden. Auch ist die Stellung der Länder nach der Neugliederung des Bundesgebietes insbesondere aufgrund des Untergangs Preußens nicht mehr so stark, so dass eine größere Annäherung des Schulrechts der Länder in Bezug auf den Religionsunterricht – die stärkere Verpflichtungskraft des Art. 7 Abs. 3 GG signalisiert auch die Bremer Klausel des Art. 141 GG – naheliegt. Auch der Beitrag der Religionsgemeinschaften zum Widerstand gegen den Nationalsozialismus spricht für eine im Zweifel weitere Auslegung der Rechte der Religionsgemeinschaften in diesem Zusammenhang. In einem demokratischen und auf allgekenntnisses oder ihrer Weltanschauung einzurichten, soweit hierdurch ein geordneter Schulbetrieb, auch im Sinne des Abs. 1, nicht beeinträchtigt wird. Der Wille der Erziehungsberechtigten ist möglichst zu berücksichtigen. Das Nähere bestimmt die Landesgesetzgebung nach den Grundsätzen eines Reichsgesetzes. (…) 49 Vgl. Hildebrand, Der Religionsunterricht an öffentlichen Schulen, S. 50. 50 Vgl. Germann/Wiesner, »Schule und Religion in der Entwicklung des Schulwesens in Deutschland«, S. 409f. 51 Art. 7 Abs. 3 GG: Der Religionsunterricht ist in den öffentlichen Schulen mit Ausnahme der bekenntnisfreien Schulen ordentliches Lehrfach. Unbeschadet des staatlichen Aufsichtsrechtes wird der Religionsunterricht in Übereinstimmung mit den Grundsätzen der Religionsgemeinschaften erteilt. Kein Lehrer darf gegen seinen Willen verpflichtet werden, Religionsunterricht zu erteilen.

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meiner Gleichberechtigung beruhenden Staat, in dem ausdrücklich Ungleichbehandlungen aufgrund der Religion grundsätzlich verboten sind (Art. 3 Abs. 3 GG), muss aber die Allgemeinheit der Formulierung des Art. 7 Abs. 3 GG hinsichtlich des Religionsunterrichts für ein Verständnis der Norm als für alle Religionsgemeinschaften grundsätzlich offene Norm sprechen. Dieses Verständnis wird auch durch den sonstigen verfassungsrechtlichen Kontext wie den Schutz der Menschenwürde in Art. 1 Abs. 1 GG, die nun schrankenlos gewährleistete Religionsfreiheit in Art. 4 Abs. 1 und 2 GG sowie die Nähe des Religionsunterrichts zum Elternrecht in Art. 6 Abs. 2 GG gestützt. Speziell für die jüdische Gemeinschaft ist insbesondere nach der Schoah ein Ausschluss des jüdischen Religionsunterrichts aus dem staatlichen Schulunterricht nicht mehr denkbar, zumal die jüdischen Gemeinden in der Nachkriegszeit nicht mehr im alten Sinne funktionsfähig sind und jüdische Schulen nicht mehr existent. Nimmt man die Regelung des Art. 116 Abs. 2 GG für die Wiedererlangung der deutschen Staatsangehörigkeit als verfassungsrechtlichen Kontext in den Blick, so ist auch klar, dass nach der Entrechtung der Juden in Deutschland ein staatlicher jüdischer Religionsunterricht ein Angebot bleiben muss und nicht zum Oktroi werden darf. Was bleibt, sind die Konfessionalität des Religionsunterrichts und der Charakter dieses Unterrichts als Bekenntnisunterricht, die auch im Wortlaut über den Bezug auf die Religionsgemeinschaften sowie durch das Recht des Lehrers und der Lehrerin, keinen Religionsunterricht erteilen zu müssen (Art. 7 Abs. 3 Satz 3 GG), ihren Ausdruck finden und nicht zuletzt aufgrund der religiösweltanschaulichen Neutralität des Staates geboten sind.

2.2

Heutige rechtliche Situation des jüdischen Religionsunterrichts

a)

Staatsvertragliche Regelungen der jüdischen Landesverbände in den Ländern

Die heutige rechtliche Situation des jüdischen Religionsunterrichts in den Ländern ist wesentlich durch Staatsverträge geprägt, die die wieder- beziehungsweise neugegründeten Landesverbände der jüdischen Gemeinden mit den einzelnen Bundesländern abgeschlossen haben. Auf diese Weise kann die konkrete Ausgestaltung des Rechts auf jüdischen Religionsunterricht – die Anpassung an die speziellen Anforderungen der jüdischen Religion und der jüdischen Gemeinden – festgelegt und in dieser Konkretisierung rechtlich geschützt werden. Entsprechende Regelungen enthalten derzeit neun der insgesamt 16 Staatsverträge.52 52 Regelungen zum Religionsunterricht enthalten Art. 4 Staatsvertrag mit Baden-Württemberg

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aa) Garantie des jüdischen Religionsunterrichts als eines ordentlichen Lehrfaches In der Regel bestehen die Garantien der Staatsverträge in Bezug auf den Religionsunterricht in der Wiederholung und teilweisen Konkretisierung der Verfassungs- und einfachrechtlichen Rechtslage.53 Sie umfassen die Garantie des Religionsunterrichts als solche und die Garantie der Finanzierung des Unterrichts. In zwei Ländern, Sachsen und Schleswig-Holstein, verpflichtet sich das Land zur Prüfung, ob jüdischer Religionsunterricht als ordentliches Lehrfach eingeführt werden kann.54 In Sachsen ist inzwischen an Schulen in Chemnitz, Dresden und Leipzig jüdischer Religionsunterricht eingerichtet worden.55 Vor dem Hintergrund des früheren Verständnisses von Art. 149 WRV sowie angesichts der weiterhin durch die Schoah personell und finanziell stark geschwächten jüdischen Gemeinden gewinnt insbesondere die Klarstellung des Charakters des jüdischen Religionsunterrichts als eines ordentlichen Lehrfaches eigenständige Bedeutung, und die Wichtigkeit der finanziellen Fragen wird noch einmal verständlicher. Problematisch ist insofern der Weg Bayerns, wo die allgemeine Staatsleistung auch den Personal- und Sachaufwand für den jüdischen Religionsunterricht umfassen soll. Ist aber der Religionsunterricht als ordentliches Lehrfach eine staatliche Veranstaltung, so trifft den Staat, nicht die Religionsgemeinschaft, die Pflicht, die Kosten hierfür zu tragen.56 Abgesehen davon verbriefen die Verträge teilweise zusätzlich das Recht zur Errichtung von Privatschulen und sonstiger Bildungseinrichtungen in jüdischer Trägerschaft.57 bb) Besonderheiten der jüdischen Staatsverträge Aufgrund der nicht vorhandenen hierarchischen Struktur jüdischer Gemeinden sowie der fehlenden Tradition eines jüdischen Religionsunterrichts als eines ordentlichen Lehrfaches enthalten einige Verträge Regelungen zur Frage der Bevollmächtigung der Religionslehrer und Religionslehrerinnen, die in der Regel

53 54 55 56 57

(2010), Art. 2 Staatsvertrag mit Bayern (1983/2016), Art. 4 Staatsvertrag mit Brandenburg (2005/2018), Art. 8 Staatsvertrag mit Berlin (1994), Art. 3 Staatsvertrag mit Hamburg (2007), Art. 5 Staatsvertrag mit Rheinland-Pfalz (2012), Protokoll zu Art. 4 Abs. 2 Staatsvertrag mit Sachsen (1994/2019), Art. 5 Staatsvertrag mit Schleswig-Holstein (2018) und Art. 4 Staatsvertrag mit Thüringen (1993/2011). Vgl. Julia Lutz-Bachmann, Mater rixarum? Verträge des Staates mit jüdischen und muslimischen Religionsgemeinschaften, Tübingen 2015, S. 403. Vgl. Protokoll zu Art. 4 Abs. 2 Staatsvertrag mit Sachsen, 1994/2018, und Art. 5 Staatsvertrag mit Schleswig-Holstein, 2018. Vgl. Sächsisches Staatsministerium für Kultus, »Jüdischer Religionsunterricht als Angebot an ausgewählten Schulen« (17. 4. 2019), www.medienservice.sachsen.de/medien/news/225025 (Abruf: 28. 12. 2020). Vgl. dazu Lutz-Bachmann, Mater rixarum?, S. 403f. Vgl. Lutz-Bachmann, Mater rixarum?, S. 404.

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durch die vertragsschließenden Landesverbände erfolgt.58 Ferner räumen jüdische Staatsverträge teilweise den Landesverbänden, den von diesen vertretenen Gemeinden oder jüdischen Schulen der jüdischen Vertragspartner das Recht ein, den Religionsunterricht in ihren Räumlichkeiten abzuhalten.59 Dies ermöglicht es den Gemeinden mit wenigen Schulkindern, den Religionsunterricht schulübergreifend zentral an einem Ort und gegebenenfalls gebündelt an einem Wochentag durch einen externen Religionslehrer, eine Religionslehrerin oder einen Rabbiner durchzuführen. Auch hierin zeigt sich ein Unterschied zur Weimarer Republik: 1931 war der Abschluss eines Vertrages zwischen dem Land Preußen und den beiden jüdischen Landesverbänden zur Absicherung der Staatszuschüsse und der Anerkennung der drei Rabbinerseminare als Lehranstalten noch mit dem Hinweis durch das Land abgelehnt worden, dass dem Abschluss eines ›Konkordats‹ die Verschiedenheit der historischen und rechtlichen Voraussetzungen zwischen den Kirchen und den jüdischen Landesverbänden entgegenstünde.60 b)

Praxis des jüdischen Religionsunterrichts

aa) Religionsunterricht als solcher Der heutige jüdische Religionsunterricht sieht sich in der Praxis mit dem Problem der geringen Zahl jüdischer Schülerinnen und Schüler konfrontiert. Insofern sind die Mindestschülerzahlen für die Einrichtung von Religionsunterricht nach dem jeweiligen Landesrecht für die jüdischen Gemeinden von großer Bedeutung. Durch den teilweise schulübergreifend abgehaltenen Religionsunterricht in den Räumen der jüdischen Gemeinden lässt sich dieses Problem nur bedingt lösen. Da nicht alle jüdischen Kinder staatlichen Religionsunterricht erhalten, bieten die Gemeinden in der Regel zusätzlich religiöses Lernen im weiteren Sinn im Rahmen jüdischer Jugendzentren an. Weitere Probleme bestehen nicht nur in der Finanzierung, sondern auch in einem Mangel an jüdischen Religionslehrern und Religionslehrerinnen. Die Zahl jüdischer Religionslehrer im Staatsdienst ist gering, so dass die Länder zum Teil Gestellungsverträge mit den Landesverbänden bezüglich der Religionslehrer und -lehrerinnen abschließen, in denen die Landesverbände ihr Weisungsrecht gegenüber den jüdischen Religionslehrern und -lehrerinnen auf den Staat 58 Vgl. Art.4 Abs.2 Staatsvertrag mit Baden-Württemberg, 2010; Art.5 Abs.2 Satz 2 Staatsvertrag mit Rheinland-Pfalz, 2012; wohl in diesem Sinne auch Art. 2 Abs. 4 Staatsvertrag mit Bayern, 1983/2016. 59 Vgl. Art. 2 Abs. 1 Satz 3 Staatsvertrag mit Bayern, 1983/2016; Art. 3 Abs. 1 Staatsvertrag mit Hamburg, 2007; Art. 5 Abs. 3 Staatsvertrag mit Rheinland-Pfalz, 2012. 60 Vgl. Birnbaum, Staat und Synagoge 1918–1938, S. 156, 159.

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übertragen.61 Allgemein werden jüdische Religionslehrer und -lehrerinnen an der Hochschule für Jüdische Studien in Heidelberg ausgebildet, die sich in der Trägerschaft des Zentralrats der Juden in Deutschland befindet. bb) Jüdische Schulen Inzwischen gibt es auch wieder einige wenige jüdische Schulen. Konkret sind dies zehn jüdische Grundschulen sowie sieben weiterführende jüdische Schulen in Berlin, Düsseldorf, Frankfurt am Main, Hamburg, Köln, München und Stuttgart, die als Ersatzschulen durch den Staat anerkannt sind. Das jüdische Profil kommt darin zum Ausdruck, dass Judentum und Hebräisch hier Bestandteil des Unterrichts sind und die jüdischen Feiertage begangen werden. In der Regel gehören sowohl jüdische als auch nichtjüdische Schüler zur Schülerschaft. Einen Sonderfall stellt die Drei-Religionen-Schule in Osnabrück dar.62 Aufgrund der zunehmenden Zahl antisemitischer Vorfälle an staatlichen Schulen streben wieder mehr Landesverbände und jüdische Gemeinden die Errichtung jüdischer Privatschulen an, was in der Regel aus finanziellen Gründen scheitert; dies betrifft zum Beispiel die Wiederbegründung des jüdischen Gymnasiums Jawne in Köln.

3.

Vergleich der Rechtslage

3.1

Unterschiede

a)

Regelungsform

Vergleicht man die heutige Rechtslage des jüdischen Religionsunterrichts mit derjenigen während der Weimarer Republik, so besteht ein erster Unterschied bereits in der Regelungsform: Während heute die grundlegenden Regelungen und zum Teil auch Details in Staatsverträgen vereinbart werden, wurden in der Weimarer Zeit alle Rechtsverhältnisse der Juden einseitig per Gesetz geregelt und wesentlich durch die faktische Verwaltungspraxis geprägt. Diese Veränderung bedeutet eine Aufwertung der jüdischen Gemeinden und Landesverbände. Gerade für kleine Religionsgemeinschaften ist die Absicherung von Details wichtig.

61 Vgl. z. B. Gestellungsvertrag des Landes Niedersachsen mit dem Landesverband der Jüdischen Gemeinden von Niedersachsen über die Abstellung von Lehrkräften für den Religionsunterricht an öffentlichen Schulen, Bek. D. MK v. 30. Juli 2014–14.03 404/3 –, Nds. MBl. Nr. 29/2014, S. 541. 62 Vgl. den Überblick auf der Internetseite des Zentralrats der Juden in Deutschland, »Jüdische Einrichtungen«, www.zentralratderjuden.de/vor-ort/juedische-einrichtungen (Abruf: 28. 12. 2020).

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Zum Teil ist diese auch nötig, um auf Sonderprobleme wie die geringe Schülerzahl einzugehen. b)

Verhältnis zwischen Bundes- und Landesrecht

Ein weiterer Unterschied besteht in der größeren Bedeutung der Verfassung des Bundes. So führte die Annahme der Weimarer Reichsverfassung augenscheinlich nur zu wenigen Änderungen in den Landesrechten.63 Diese ist sicher nicht zuletzt auch in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts begründet, das, im Unterschied zum Staatsgerichtshof in der Weimarer Republik, aufgrund seiner Zuständigkeit für Verfassungsbeschwerden auch über die Wahrung der Grundrechte wachen kann.64 Allerdings hat das Reichsgericht in der Weimarer Republik bei der allgemeinen Abschaffung des Religionsunterrichts durch Länder wie Sachsen, Hamburg und Bremen auf der Grundlage von Art. 13 Abs. 2 WRV65 entschieden, dass diese Gesetze im Widerspruch zu Art. 146, 149 und 174 WRV66 standen.67 c)

Heutige Gleichstellung des jüdischen mit dem christlichen Religionsunterricht

Wie gezeigt, ist der jüdische Religionsunterricht mit dem katholischen und evangelischen heute gleichgestellt. Er ist ein ordentliches Lehrfach im Sinne des Art. 7 Abs. 3 GG, so dass insbesondere auch der Staat für die Kosten des Unterrichts und die Bezahlung der Religionslehrer zuständig ist und nicht mehr die jüdische Gemeinde beziehungsweise der Landesverband. Besonderheiten ergeben sich aus der Situation als Minderheitsreligion. Dabei hat sich die Funktion des Religionsunterrichts für die jüdische Gemeinschaft geändert. War der an öffentlichen Schulen erteilte jüdische Religi63 Vgl. für eine entsprechende Interpretation von Art.137 WRV z. B.: Freund, Die Rechtsstellung der Synagogengemeinden in Preußen und die Reichsverfassung, S. 20ff. 64 Vgl. allgemein: Horst Dreier, »Verfassungsgerichtsbarkeit in Weimar«, in: DÖV (2019), S. 609–621, hier S. 609f. 65 Artikel 13 WRV: (1) Reichsrecht bricht Landrecht. (2) Bestehen Zweifel oder Meinungsverschiedenheiten darüber, ob eine landesrechtliche Vorschrift mit dem Reichsrecht vereinbar ist, so kann die zuständige Reichs- oder Landeszentralbehörde nach näherer Vorschrift eines Reichsgesetzes die Entscheidung eines obersten Gerichtshofs des Reichs anrufen. [Das Reichsgesetz zur Ausführung des Artikel 13 Abs. 2 der Verfassung des Deutschen Reichs vom 8. April 1920 bestimmte unter anderem in § 1 die Zuständigkeit des Reichsgerichts.] 66 Artikel 174 WRV: Bis zum Erlaß des in Artikel 146 Abs. 2 vorgesehenen Reichsgesetzes bleibt es bei der bestehenden Rechtslage. Das Gesetz hat Gebiete des Reichs, in denen eine nach Bekenntnissen nicht getrennte Schule gesetzlich besteht, besonders zu berücksichtigen. 67 Vgl. Hildebrand, Der Religionsunterricht an öffentlichen Schulen, Nachtrag nach S. 52. Vgl. auch: Dreier, »Verfassungsgerichtsbarkeit in Weimar«, S. 614.

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onsunterricht in der Weimarer Zeit ein Instrument beziehungsweise das Ergebnis von Assimilationsbestrebungen insbesondere im liberalen, aber auch, abgeschwächt, im konservativen Judentum,68 so ist er heute stärker durch die Vorstellungen der jüdischen Orthodoxie geprägt und dient auch zur Wahrung der jüdischen Identität. Das Phänomen, dass einige jüdische Gruppierungen es vorziehen, eigene Privatschulen zu gründen und dort einen vollständig orthodox oder konservativ ausgerichteten Religionsunterricht abzuhalten, ist auch heute wieder vorhanden.69

3.2

Schlussfolgerungen

Der Vergleich der Rechtslage des jüdischen Religionsunterrichts in der Weimarer Republik mit der heutigen macht die große Bedeutung der Verfassungsinterpretation, des Vorverständnisses und des verfassungsrechtlichen Kontextes einer Norm deutlich. So war Art. 149 WRV trotz seiner allgemeinen Formulierung de facto historisch nur für den christlichen Religionsunterricht gemeint, so dass jüdischer Religionsunterricht nicht umfasst war. Insofern ist auf Rudolf Smend zurückzukommen: »Wenn zwei Grundgesetze dasselbe sagen, so ist es nicht dasselbe.«70 Das Beispiel des jüdischen Religionsunterrichts zeigt hier die große Bedeutung der Verträge zwischen dem Staat und den Religionsgemeinschaften.71 So nutzt die Mehrheit der jüdischen Landesverbände die Verträge dazu, um ihre Rechte aus der Verfassung und aus dem einfachen Recht ein weiteres Mal abzusichern und den Schutz ihrer besonderen Bedürfnisse zu gewährleisten. Die Verträge stellen dabei auch ein wichtiges Instrument dar, um den Staat auf eine bestimmte Interpretation der Verfassung zu verpflichten. Da ihr Abschluss und 68 Vgl. Kollenscher/Rosenfeld, »Religionsunterricht«, Sp. 1393f. 69 Vgl. die chassidisch-orthodoxe Jüdische Traditionsschule Or Avner der Chabad LubawitschBewegung in Berlin (Grundschule und Gymnasium), die orthodoxe Lauder Beth-Zion-Schule der Ronald S. Lauder Foundation in Berlin sowie die konservative Jewish International School – Masorti Grundschule von Masorti e.V. in Berlin. Allgemein zu den Bildungsidealen der verschiedenen Strömungen im Judentum und zu ihren Auswirkungen auf Form und Inhalt der jüdischen Bildung: Angelika Günzel, »Judentum an der Universität: Eine gute Idee?«, in: Bibel und Liturgie (2017), S. 219–231; ferner: Angelika Günzel, »Das Verhältnis zwischen Medium und Inhalt im Judentum«, in: Religionen und der globale Wandel, hrsg. von Reinhold Mokrosch und Habib El Mallouki, Stuttgart 2019, S. 133–153. 70 Rudolf Smend, »Staat und Kirche nach dem Bonner Grundgesetz«, in: Zeitschrift für evangelisches Kirchenrecht 1 (1951), S. 4–14, hier S. 4. 71 Zum Charakter der Landesverbände als Religionsgemeinschaften vgl. Angelika Günzel, »Der verfassungsrechtliche Begriff der Religionsgesellschaft und die jüdische Gemeinschaft«, in: Staat – Religion – Recht. Festschrift für Gerhard Robbers zum 70.Geburtstag, hrsg. von Kerstin von der Decken und Angelika Günzel, Baden-Baden 2020, S. 617–635, insbes. S. 622–628.

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ihr Inhalt aber maßgeblich von der politischen und gesellschaftlichen Stärke der betreffenden Religionsgemeinschaft abhängen, können mit ihrer Hilfe nicht alle Interpretationsfragen geklärt werden. Darüber hinaus zeigt sich ein Trend der Länder dahin, in solchen Verträgen sich nur ein weiteres Mal auf die Verfassungsund geltende einfachgesetzliche Rechtslage zu verpflichten und diese Verpflichtungen zeitlich zu befristen. Damit kommt der Existenz des Bundesverfassungsgerichts eine große Bedeutung zu, das letztverbindlich und unabhängig die Verfassung interpretiert und das den Religionsunterricht nach Art.7 Abs.3 GG als konfessionell gebunden versteht.72

Literatur Anschütz, Gerhard, Die Verfassungsurkunde für den Preußischen Staat vom 31. Januar 1850. Ein Kommentar für Wissenschaft und Praxis, Bd. 1, Berlin 1912. Anschütz, Gerhard, Die Verfassung des Deutschen Reichs vom 11. August 1919. Ein Kommentar für Wissenschaft und Praxis, Berlin 141933. Barkai, Avraham, »Die Organisation der jüdischen Gemeinschaft (1918–1933)«, in: DeutschJüdische Geschichte in der Neuzeit, Bd. 4, hrsg. von Avraham Barkai und Paul MendesFlohr, München 2000, S. 74–101. Birnbaum, Max P., Staat und Synagoge 1918–1938. Eine Geschichte des Preußischen Landesverbandes jüdischer Gemeinden (1918–1938), Tübingen 1981. Cahn, Max, Die religiösen Strömungen in der zeitgenössischen Judenheit, Frankfurt am Main 1912. Demel, Michael, Gebrochene Normalität. Die staatskirchenrechtliche Stellung der jüdischen Gemeinden in Deutschland, Tübingen 2011. Dreier, Horst, »Verfassungsgerichtsbarkeit in Weimar«, in: DÖV (2019), S. 609–621. Duschak, Moritz, Umriß des biblisch-talmudischen Synagogen-Rechtes mit Rücksicht auf die jetzige Stellung der österreichischen Juden, Olmütz 1853. Freund, Ismar, Die Rechtsstellung der Juden im preußischen Volksschulrecht nebst den bezüglichen Gesetzen, Verordnungen und Entscheidungen, Berlin 1908. Freund, Ismar, Die Rechtsstellung der Synagogengemeinden in Preußen und die Reichsverfassung. Ein Beitrag zur Revision der bisherigen Gesetzgebung, Berlin 1926. Friedemann, Edmund, Jüdische Moral und christlicher Staat, Berlin 1894. Germann, Michael/Cornelius Wiesner, »Schule und Religion in der Entwicklung des Schulwesens in Deutschland«, in: RdJB (2013), S. 396–424. Glatzel, R. W., Religionsunterricht der Dissidentenkinder, Berlin 1897. Günzel, Angelika, »Judentum an der Universität: Eine gute Idee?«, in: Bibel und Liturgie (2017), S. 219–231.

72 Vgl. BVerfGE 74, S. 244.

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Angelika Günzel

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Janbernd Oebbecke

Art. 7 Abs. 3 GG und die Weiterentwicklung des Religionsunterrichts1

1.

Vorüberlegungen

Dass die Organisatoren dieser Tagung es für richtig gehalten haben, einen Juristen über Art. 7 Abs. 3 Grundgesetz (GG) und die Weiterentwicklung des Religionsunterrichts sprechen zu lassen, impliziert zweierlei: Dass nämlich eine Weiterentwicklung des Religionsunterrichts ansteht, weil sie unausweichlich, zweckmäßig oder wünschenswert ist, und dass die verfassungsrechtliche Vorgabe für die Weiterentwicklung relevant ist. Beides versteht sich keineswegs von selbst. In den Mittelpunkt meines Beitrags will ich den Blick auf die Institution des Religionsunterrichts (2.) und auf die Bedeutung des Art. 7 Abs. 3 GG für die Fortentwicklung (3.) stellen. Weil die Verfassungsvorgabe die Institution Religionsunterricht mitprägt, ist allerdings schon die Beschreibung der Institution nicht ohne Rückgriff auf die verfassungsrechtliche Vorgabe möglich. Abschließend will ich versuchen, Ausgangspunkte einer Strategie für die Weiterentwicklung aufzuzeigen (4.).

2.

Die Institution des Religionsunterrichts

Wenn man den Religionsunterricht betrachtet, empfiehlt es sich, den Status quo (2.1) und die Herausforderungen für diesen Status quo (2.2) zu unterscheiden.

1 Der Text stellt eine unter Berücksichtigung der Diskussion in Osnabrück und – vor allem in den Fußnoten – nachträglich bekannt gewordenen Materials leicht überarbeitete Fassung des Vortrags vom 19. 9. 2019 dar. Er ist nicht als abschließende Bewertung, sondern als kritische Auseinandersetzung mit der Entwicklung gedacht. Für Kritik und Anregungen danke ich Herrn Prof. Dr. Hinnerk Wißmann. Im Text wird zumeist die männliche Form gebraucht, die weibliche ist dabei stets mitgemeint.

70 2.1

Janbernd Oebbecke

Der Status quo

Außer in Bremen und in Brandenburg und mit den Einschränkungen, die sich üblicherweise aus betrieblichen Problemen der Schulen ergeben (Lehrermangel, Krankheit usw.) wird überall in Deutschland regelmäßig Religionsunterricht erteilt, der sich auf Art.7 Abs.3 GG beruft. Die Regeln des Art.7 Abs.3 GG werden auch für den Religionsunterricht in den ostdeutschen Ländern als maßgeblich angesehen, die konfessionellen Religionsunterricht anbieten.2 Dieser Unterricht nimmt in der Stundentafel zwar nicht denselben Umfang ein wie die ›großen‹ Fächer, also etwa Deutsch, Mathematik oder die erste Fremdsprache, soll aber wie andere wichtige Fächer immerhin 90 Minuten pro Woche erteilt werden. Das Fach Religion unterscheidet sich jedoch in einigen Punkten von den anderen Fächern, wenn es nach den gesetzlichen Vorgaben unterrichtet wird: Es sind nicht alle Schüler zur Teilnahme verpflichtet, sondern nur diejenigen, die dem jeweiligen Bekenntnis angehören und sich nicht abgemeldet haben. Die staatlichen Lehrpläne bedürfen der Zustimmung der jeweiligen Religionsgemeinschaft. Die Lehrer benötigen eine Lehrerlaubnis der Religionsgemeinschaft. Diese kann auch wieder entzogen werden, was vor allem bei katholischen Lehrern gelegentlich auch vorkommt. Es ist das einzige Fach, von dem sich die Lehrer abmelden können, denn nach Art. 7 Abs. 3 Satz 3 GG darf kein Lehrer gegen seinen Willen dazu verpflichtet werden, Religionsunterricht zu erteilen. Den Religionsgemeinschaften steht ein Visitationsrecht zu, das sie allerdings praktisch wohl so gut wie nicht ausüben. Dieses Recht stellt eine Besonderheit dar: Man stelle sich vor, die Industrie- und Handelskammer, der DGB oder der Arbeitgeberverband dürften kontrollieren, wie der Unterricht im Fach Sozialwissenschaften aussieht. Die verfassungsrechtlichen Vorgaben lassen der Unterrichtspraxis einen großen, wenn auch nicht unbegrenzten Freiheitsraum. Wieweit die Praxis diese Grenzen und überhaupt die rechtlichen Vorgaben beachtet, ist unklar. Wie auch 2 Die Geltung der sog. Bremer Klausel des Art. 141 GG in den ostdeutschen Ländern ist umstritten. Dafür etwa Jarass in Hans Dieter Jarass/Bodo Pieroth, Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, München 152018, Art. 141 Rn. 1; Rolf Gröschner, in: GrundgesetzKommentar, hrsg. von Horst Dreier, Tübingen 32018, Art.7 Rn.12ff.; Frauke Brosius-Gersdorf, in: Grundgesetz-Kommentar, hrsg. von Horst Dreier, Tübingen 32018, Art.141 Rn. 32; Heinrich Amadeus Wolff, in: Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, hrsg. von Dieter Hömig und Heinrich Amadeus Wolff, Baden-Baden 122018, Art. 141 Rn. 2; Markus Thiel, in: Grundgesetz, hrsg. von Michael Sachs, München 82018, Art. 141 Rn. 9ff.; dagegen: Peter Unruh, in: Hermann von Mangoldt/Friedrich Klein/Christian Starck, Grundgesetz, München 72018, Art.141 Rn.8; Michael Germann, in: BeckOK Grundgesetz, Stand 421.2.2019, Art.141 Rn.6; Sigrid Boysen, in: Grundgesetz-Kommentar, hrsg. von Ingo von Münch und Philip Kunig, München 6 2012, Art. 141 Rn. 8.

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sonst verbietet es sich, von der Norm auf die Wirklichkeit zu schließen. Man kann aber wohl in aller Vorsicht davon ausgehen, dass der Unterricht weder nach seiner Ausrichtung noch der Zusammensetzung der Lerngruppe oder der Konfessionsgemeinsamkeit von Lehrern und Schülern stets den verfassungsrechtlichen Vorgaben entspricht. Der schulische Religionsunterricht steht in einem engen Zusammenhang mit dem Wissenschaftssystem. Die Religionslehrer werden nämlich wie die Lehrer anderer Fächer an wissenschaftlichen Hochschulen ausgebildet, die überwiegend staatliche Hochschulen sind. Die Lehramtsstudenten sind eine wichtige Gruppe unter den Studierenden der universitären Theologien. In den universitären Theologien wirken die Religionsgemeinschaften ähnlich wie im Religionsunterricht bei der Personalauswahl und der Ausgestaltung der Lehre mit. Grundlage dieser Mitwirkung ist nicht unmittelbar das Grundgesetz, sondern Vertragsrecht. Der staatliche Teil der Ausbildung sieht genauso aus wie bei anderen Lehrern und Religionslehrer verdienen dasselbe wie andere Lehrer. Dass Geistliche oder Katecheten unterrichten, wie das früher gang und gäbe war, ist in Nordrhein-Westfalen heute nur noch zulässig, wenn keine staatlich ausgebildeten Lehrkräfte zur Verfügung stehen.3 Bis 2005 war der Unterricht durch Geistliche in Nordrhein-Westfalen noch eine der beiden Regelformen,4 bedurften aber eines staatlichen Schulauftrages. Das Leitbild der Professionalisierung des Lehrerberufs lässt den Geistlichen als Religionslehrer hier heute ebenso wenig zu wie einen Trainer als Sportlehrer. Die Verbindlichkeit dieses Leitbilds hat ihre praktische Grenze aber bei den vielen Quereinsteigern und Aushilfen. Die Selbst- und Außenwahrnehmung eines religiösen Bekenntnisses wird maßgeblich auch dadurch bestimmt, dass es Religionsunterricht dieses Bekenntnisses gibt. Hier liegt der Grund dafür, dass der Religionsunterricht nach dem Kopftuch das wichtigste Forum der Auseinandersetzung über die Rolle des Islam in Deutschland geworden ist. Wenn die Alewiten oder die Ahmadiyya als Religionsgemeinschaften akzeptiert werden, sunnitische Verbände aber nicht, geht es um religionspolitische Fragen, die ohne den Religionsunterricht schwerlich so auf den Punkt gebracht werden könnten. Einen hohen Stellenwert hat die Möglichkeit, schulischen Religionsunterricht zu erteilen, nicht nur für den Islam, sondern auch für die verschiedenen orthodoxen Bekenntnisse. Von der akademischen Etablierung islamischer Theologie erhofft man sich einen wichtigen Beitrag zur Integration – man könnte auch sagen: ›Bändigung‹ – des Islam.

3 § 31 Abs. 3 Satz 2 SchulG NRW. 4 §32 Abs.1 und 4 SchOG v. 8. 4. 1952 in der Fassung des Gesetzes vom 8. 7. 2003, GV NRW S.413.

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Janbernd Oebbecke

Wer über den Religionsunterricht spricht, redet also nicht nur über das, was dabei zwischen Lehrern und Schülern geschieht. Er spricht auch über Schulpolitik, Religionspolitik, Wissenschaftspolitik, die Innen- und Außenwahrnehmung religiöser Gemeinschaften und über das Verhältnis von Staat und Religion.

2.2

Herausforderungen für den Status quo

Das Beitragsthema – darauf hatte ich eingangs hingewiesen – impliziert, dass eine Weiterentwicklung des Religionsunterrichts unausweichlich, zweckmäßig oder wünschenswert ist. Offenbar geht es nicht um eine Weiterentwicklung wie sie auch sonst bei Schulfächern üblich ist. Um Methoden oder Inhalte des Unterrichts in einem Schulfach zu ändern, braucht man zum Glück keinen Juristen. Beim Religionsunterricht kann das anders sein, wenn Änderungen für sinnvoll gehalten werden, welche die erwähnten rechtlichen Grenzen sprengen. Oder es liegt daran, dass man eigentlich nichts ändern will, aber die Verhältnisse solche Änderungen nahelegen oder erzwingen, und man die Rechtslage gegen solche Änderungen geltend machen will. Als Kandidat für eine solche Änderung der Verhältnisse wird vor allem der Rückgang der Schülerzahlen des Religionsunterrichts genannt. Die Demographie spielt dafür nur unter der Voraussetzung eine Rolle, dass die Schulpolitik der Länder auf den Rückgang von Schülerzahlen mit der Verkleinerung von Schulen und nicht mit Schulschließungen reagiert. Kleinere Schulen haben weniger Schüler, unter denen dann auch weniger Schüler der jeweiligen Konfession sind. Selbstverständlich spielt aber der Rückgang der konfessionellen Bindung eine Rolle.5 Der Anteil der katholischen und evangelischen Kinder an der Schülerzahl geht zurück, weil diese Kirchen Mitglieder verlieren und weniger Kinder getauft werden. Mit dem Rückgang der Schülerzahlen wird etwa der Abschluss einer Vereinbarung zwischen den Bistümern Aachen, Essen, Münster und Paderborn sowie den drei evangelischen Landeskirchen Nordrhein-Westfalens begründet, die in Grundschulen und der Sekundarstufe I konfessionell-kooperativen Religionsunterricht – im Jargon der Schulverwaltung: KoKoRU – ermöglichen soll6 und 5 Stefan Mückl, »Religionsunterricht bikonfessionell, ökumenisch, multireligiös«, in: Zeitschrift für evangelisches Kirchenrecht 64 (2019), S. 225–256, hier S. 227. 6 Ebd., S.243ff.; Gerd Felder, »Zwei Konfessionen, ein Unterricht – wie geht das?«, in: Kirche und Leben (17. 2. 2018), www.kirche-und-leben.de/artikel/zwei-konfessionen-ein-unterricht-wiegeht-das (Abruf: 13. 04. 2021). Zu Beginn des Schuljahres 2019/20 boten diesen Unterricht 356 Schulen im Lande an. Karin Völker, »›Kokoru‹ trennt nicht nach Konfession«, in: Westfälische Nachrichten (26. 9. 2019) Nr. 224, S. RMS01.

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offenbar gut angenommen wird.7 Zur Begründung heißt es, eine konfessionell einheitliche Lerngruppe lasse sich nicht aufrechterhalten. Das stimmt so nicht. Nach § 31 Abs. 1 Satz 2 SchulG NRW reichen zwölf Schüler eines Bekenntnisses an der Schule. Das Schulrecht ermöglicht Religionsunterricht also auch bei kleinen Teilnehmerzahlen und von dieser Möglichkeit machen kleinere Bekenntnisse wie die Orthodoxen durchaus Gebrauch. Als Problem angesehen wird demnach in Wirklichkeit nicht die Aufrechterhaltung konfessionell einheitlicher Lerngruppen überhaupt, sondern solcher Lerngruppen, in denen nicht klassenoder gar jahrgangsübergreifend unterrichtet werden muss. Anders formuliert: Die Vertragspartner finden klassen- oder jahrgangsweise erteilten gemeinsamen Unterricht wichtiger als konfessionell einheitliche Lerngruppen. Diese implizit getroffene Entscheidung wird nicht offengelegt, also muss sie auch nicht begründet werden. Dass sie nicht begründet wird, bedeutet indessen nicht, dass es keine Gründe gibt. Wenn angeführt wird, dass mit dem konfessionsübergreifenden Unterricht die Jugendlichen »zu einer gesprächs- und pluralitätsfähigen Identität« befähigt werden sollen, und »sie […] über den eigenen Glauben und den Glauben der anderen sprechen können, die eigene Konfession kennen, aber auch für die anderen sensibel sein« sollen, überzeugt das aber nicht. Ähnlich wurden früher schon Kooperationen dieser Art für einzelne Jahrgänge begründet und ähnliche Ziele verfolgt der Religionsunterricht ohnehin. Warum jetzt etwas Neues erforderlich ist, wird nicht gesagt. Der Leiter der Schulabteilung eines der beteiligten Bistümer wird damit zitiert, er wolle »von einer Krise des Religionsunterrichts […] nichts wissen. Man dürfe nicht die Defizite verstärken, sondern müsse nach vorn blicken und aus der Not eine Tugend machen.«8 Die spannende Frage ist: Worin besteht die Not eigentlich? Oder geht es um den Versuch, die Kontrolle über den Religionsunterricht zurückzugewinnen? Fragt man näher nach, erfährt man, dass es in weiten Bereichen des Landes einen Unterricht nach dem Leitbild des Art. 7 Abs. 3 GG in Nordrhein-Westfalen schon nicht mehr gibt, dass etwa an den Berufskollegs und den Grundschulen, aber auch sonst vielfach im Klassenverband unterrichtet wird und somit Lehrer und ein Teil der Schüler konfessionsverschieden sind. Zur Begründung dieser Praxis, die sich, wie es heißt, »unter der Hand« oder in der »Grauzone«9 entwickelt und dem Vernehmen nach auch den Abschluss der erwähnten Vereinbarung maßgeblich motiviert hat, heißt es im religionspädagogischen Schrifttum: 7 So heißt es in einer auf epd zurückgehenden Zeitungsmeldung in den Westfälischen Nachrichten (16. 8. 2019), S. 1: »Fast doppelt so viele Schulen wie bisher wollen im kommenden Schuljahr in NRW konfessionell-kooperativen Religionsunterricht anbieten.« Die Rede ist von 356 Schulen, siehe Völker, »›Kokoru‹ trennt nicht nach Konfession«, S. RMS01. 8 Felder, »Zwei Konfessionen, ein Unterricht«. 9 Mückl, »Religionsunterricht bikonfessionell, ökumenisch, multireligiös«, S. 247; zur ›pragmatischen‹ Handhabung Völker, »›Kokoru‹ trennt nicht nach Konfession«.

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»Eltern sowie viele Schülerinnen und Schüler stehen der Aufspaltung des gewohnten Klassenverbands im Religionsunterricht vermehrt ablehnend gegenüber.«10 Man kann aber sicher davon ausgehen, dass auch die Lehrer dazu eine Meinung haben, und ich vermute sogar, dass diese Meinung nicht ohne Einfluss auf die der Eltern und Schüler geblieben ist. Wenn man die Lehrer ausklammert, ist die ›Not‹, wie mir scheint, jedenfalls nur unvollständig beschrieben. Ich will das aus eigener Erfahrung anekdotisch ergänzen. Vor ziemlich genau 24 Jahren habe ich auf einer pädagogischen Woche des Erzbistums Köln vor in dreistelliger Zahl versammelten katholischen Religionspädagogen einen Vortrag über »Reichweite und Grenzen der grundgesetzlichen Garantie des Religionsunterrichts« gehalten. Gegen die hier und da in der Öffentlichkeit geäußerte Kritik an dieser und anderen Formen der Kooperation von Staat und Kirchen habe ich darauf hingewiesen, dass der Religionsunterricht wie anderer Unterricht die Schüler zur Grundrechtsausübung befähigen soll. Dazu sei auf unterschiedliche Weise ein religionskundlicher Unterricht genauso geeignet wie der Religionsunterricht. Die Unterscheidung zwischen den beiden Fächern habe ich so getroffen: »Religionsunterricht erteilt, wer nicht nur sagt, was geglaubt wird, sondern was geglaubt werden soll«11 und das ausdrücklich als zugespitzt gekennzeichnet. Dass das normative Moment, nämlich das betreffende Bekenntnis als richtig zu vermitteln, den Religionsunterricht im Sinne des Grundgesetzes ausmacht, ist damals wie heute ganz breit geteilte Überzeugung in der Rechtswissenschaft. Dazu später mehr. An dieser Stelle ist wichtig, dass mir nach dem Vortrag die breite Enttäuschung des Auditoriums entgegenschlug und diese Enttäuschung auch von den erzdiözesanen Verantwortlichen für die Tagung vorsichtig, aber unmissverständlich geteilt wurde. Schon damals waren es die Lehrer und die Religionspädagogen, die dem Konzept des Art. 7 Abs. 3 GG mit seiner konfessionellen Einheit von Religionsgemeinschaft, Lehrern und Schülern skeptisch gegenüber standen.12 Als Verwaltungswissenschaftler ist man gewohnt, auch nach den Interessen der beteiligten Personen zu fragen. Deshalb habe ich überlegt, ob es Gründe für diese Skepsis geben könnte, die mit dem Unterricht selbst nichts zu tun haben. Es fällt einem dann die organisatorische Mehrarbeit für die Schulleitungen ein,

10 Andreas Kubik, »Eine ›Periode des Experiments‹. Für mehr Realismus in der Debatte um die Zukunft des Religionsunterrichts«, in: ZPT 69 (2017), S. 70–81, hier S. 71. 11 Janbernd Oebbecke, »Reichweite und Voraussetzungen der grundgesetzlichen Garantie des Religionsunterrichts«, in: DVBl. (1996), S. 336–344, hier S. 341. 12 Mückl, »Religionsunterricht bikonfessionell, ökumenisch, multireligiös«, S. 225 spricht unter Berufung auf Christoph Link von einer »religionspädagogischen Avantgarde«, die immer wieder versuche, dem »verfassungsrechtlichen Korsett zu entkommen«.

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welche die Auflösung des Klassenverbundes mit sich bringt.13 Diese Schwierigkeiten unterscheiden sich qualitativ aber nicht von denen, die das Kurssystem der Oberstufe aufwirft. Bei katholischen Religionslehrern kann man auch an das Risiko des Verlusts der missio canonica denken, der etwa bei Wiederverheiratung droht. Es mag auch Unbehagen darüber geben, dass anders als in Geschichte oder Erdkunde die Kirchen an der Erstellung der Richtlinien beteiligt sind. Heute noch mehr als damals bin ich aber der Überzeugung, dass derlei allenfalls eine nachgeordnete Rolle spielt. Ausschlaggebend scheint mir die breite Überzeugung der Religionspädagogen zu sein, dass die Bekenntnisunterschiede zwischen den großen christlichen Kirchen einen getrennt erteilten Religionsunterricht nicht – jedenfalls nicht mehr – rechtfertigen14 und dieser die Unterschiede im Gegenteil in einer von vielen auch theologisch als ganz unangemessen empfundenen Weise akzentuiert. Angesichts der Änderungen in der vorschulischen religiösen Sozialisation gibt es für diese Überzeugung heute gewiss noch bessere Gründe als 1995. Wenn die Schüler immer weniger mitbringen, gibt es immer weniger Anlass, Unterschiede im Mitgebrachten zum Ausgangspunkt der Entscheidung zu machen, ob getrennt unterrichtet werden soll. Diese Überzeugung von der geschwundenen Bedeutung konfessioneller Unterschiede zwischen den großen christlichen Kirchen für den Unterricht in der Schule dürften Lehrer, Eltern, Schüler und weite Teile der Öffentlichkeit in der Tat teilen und sie ist auch in den hauptamtlichen kirchlichen Strukturen verbreitet. Für die weiteren Überlegungen ist aber wichtig, dass diese Skepsis gegenüber dem Religionsunterricht nicht überall geteilt wird. Das Unbehagen ist nämlich offenbar weitgehend auf die beiden traditionellen Großkirchen beschränkt. Die kleinen christlichen Bekenntnisse scheinen mit dem Status quo ebenso zufrieden zu sein wie die Juden. Trotz aller Hindernisse und Rückschläge vollzieht sich unverkennbar der Aufstieg des islamischen Religionsunterrichts.15 Wenn es dort Not gibt, dann besteht sie darin, dass ausgebildete Lehrer fehlen und die Schaffung der Kapazitäten für ihre Ausbildung Zeit in Anspruch nimmt. Selbst in den Großkirchen ist man sich nicht einig. Dem einen oder anderen wird aufgefallen sein, dass das nicht ganz unwichtige Erzbistum Köln an der erwähnten Vereinbarung über den KoKoRU nicht beteiligt ist. »Da jeder dritte Schüler im

13 Zu diesem Gesichtspunkt auch Mückl, »Religionsunterricht bikonfessionell, ökumenisch, multireligiös«, S. 227. 14 Dieses Argument zitiert auch Mückl, »Religionsunterricht bikonfessionell, ökumenisch, multireligiös«, S. 232. 15 Dazu Janbernd Oebbecke, »Die rechtliche Ordnung des islamischen Religionsunterrichts in Deutschland – Stand und Perspektiven«, in: Essener Gespräche zum Thema Staat und Kirche 49 (2016), S. 153–178, hier S. 153ff.

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Erzbistum katholisch sei, bestehe noch kein Handlungsdruck, alternative Modelle zu entwickeln«.16 Als Herausforderung an den Status quo lässt sich also festhalten: Die einschlägigen Fachleute und weite Teile der Öffentlichkeit lehnen getrennten evangelischen und katholischen Religionsunterricht ab, weil man ihn aus gut vertretbaren Gründen nicht mehr will. Die kleineren Bekenntnisse, aber auch relevante Kräfte mindestens in der katholischen Kirche sehen keinen Handlungsbedarf. Die Debatte wird dadurch erschwert, dass manche Vertreter der erstgenannten Gruppe sich für die Forderung nach Änderungen statt auf ihre guten Gründe auf angeblich bestehende, nicht unbedingt überzeugende Sachzwänge berufen.

3.

Die verfassungsrechtliche Regelung und ihre Relevanz

Bei dieser Sachlage ist es wichtig, sich über die Direktionskraft der verfassungsrechtlichen Regelung klar zu sein. Dabei muss man ihren Inhalt, über den es immer wieder Unklarheiten gibt, und ihre tatsächliche Maßgeblichkeit unterscheiden. Es gibt Elemente des verfassungsrechtlich garantierten Religionsunterrichts, über welche die Beteiligten verfügen können. Die Teilnahme von Schülern einer anderen Konfession ist ganz unproblematisch, wenn die Religionsgemeinschaft zustimmt. Wie die Verleihung der Lehrerlaubnis oder das Visitationsrecht gehandhabt werden, ist ebenso allein Sache der Religionsgemeinschaft. Wenn zwei verwandte Bekenntnisse sich einig sind, einen gemeinsamen Unterricht anzubieten, ist weder das Verfassungsrecht tangiert noch kann die staatliche Schulaufsicht intervenieren. Der generellen Einführung eines kooperativen Unterrichts der beiden großen Konfessionen – etwa dem erwähnten KoKoRU – steht also nichts entgegen. Die Grenze für solche Dispositionen liegt dort, wo der Charakter des Religionsunterrichts in Frage steht. Dieser Charakter wird mit einer seit der Zeit der Weimarer Republik benutzten Formel dahin beschrieben, dass er in »konfessioneller Positivität und Gebundenheit« oder mit den Worten meines Münsteraner Kollegen Wißmann in Ausrichtung auf die jeweiligen »Glaubenssätze als Wahrheit«17 stattfinden muss.18 »Erst und nur Glaubenswahrheit legitimiert ein 16 Felder, »Zwei Konfessionen, ein Unterricht«. 17 Hinnerk Wißmann, Religionsunterricht für alle? Zum Beitrag des Religionsverfassungsrechts für die pluralistische Gesellschaft, Tübingen 2019, S. 68. 18 Zur Notwendigkeit dieser normativen Tendenz und zur Unterscheidung von Religionsunterricht und Religionskunde Michael Germann, in: BeckOK Grundgesetz, Stand 421.2.2019, Art. 7 Rn. 47; Heinrich Amadeus Wolff, in: Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland,

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Mandat der Religionsgemeinschaften in der öffentlichen Schule.«19 Die so gezogene Grenze zwischen Religionskunde und Religionsunterricht ist nicht verfügbar, gerade auch für den Staat nicht. Der Grund liegt darin, dass der Staat eben nicht sagen darf, was und wie geglaubt werden soll, dass er als religionsneutraler Staat den Religionsgemeinschaften aber auch keine Disposition über die Inhalte religiös neutralen Schulunterrichts und – das wird gern vergessen – auf die Zulassung seiner Lehrer zum Unterricht einräumen darf. Art. 7 Abs. 3 GG sagt deshalb nichts über die Zulässigkeit von Religionskunde aus.20 Lebensgestaltung–Ethik–Religionskunde ist in Brandenburg also nicht etwa zulässig, weil dort Art. 7 Abs. 3 GG nicht gilt, vielmehr wäre ein solches Fach auch in Niedersachsen oder Bayern und neben dem Religionsunterricht zulässig. Wenn auf den Vorschlag eines religionskundlichen Unterrichtsfachs, den der FAZ-Herausgeber Kaube im Januar gemacht hat,21 von pädagogischer Seite fast reflexartig repliziert wird, ein nicht-konfessioneller Unterricht setze in Deutschland eine Änderung des Grundgesetzes voraus, ist das schlicht falsch. Dass man für ein solches neues Fach Platz in der Stundentafel benötigt, ist kein verfassungsrechtliches Problem. Art. 7 Abs. 3 GG sagt auch nicht, dass es konfessionellen Religionsunterricht geben muss. Ob es ihn gibt, hängt von zwei Voraussetzungen ab: Religionsgemeinschaften müssen ihn wollen und es muss in den Schulen die nach dem jeweiligen Landesrecht notwendige Mindestzahl von Schülern geben. Wenn die Religionsgemeinschaften den Standpunkt einnehmen, dass ein religionskundlicher Unterricht unter den gegebenen Umständen für alle die bessere Lösung ist, steht das Grundgesetz seiner Realisierung nicht im Wege. Die Bestimmung des Art. 7 Abs. 3 GG wäre nicht die erste Bestimmung, die nicht angewandt oder hrsg. von Dieter Hömig und Heinrich Amadeus Wolff, Baden-Baden 122018, Art. 7 Rn. 9 und 12; Peter Badura, in: Grundgesetz-Kommentar, hrsg. von Theodor Maunz und Günter Dürig, Werkstand 89. EL Oktober 2019, Art. 7 Rn. 70f.; Markus Thiel, in: Grundgesetz, hrsg. von Michael Sachs, München 82018, Art. 7 Nr. 40; Gerhard Robbers, in: Hermann von Mangoldt/ Friedrich Klein, GG Kommentar 1, München 62010, Art. 7 Rn. 127; Sigrid Boysen, in: Grundgesetz-Kommentar, hrsg. von Ingo von Münch und Philip Kunig, München 62012, Art.7 Rn. 77 und 80; Oebbecke, »Reichweite und Voraussetzungen der grundgesetzlichen Garantie des Religionsunterrichts«, S. 341. 19 Wißmann, Religionsunterricht für alle?, S. 72. 20 BVerwG, Urt. v. 17. 6. 1998 – 6 C 11/97 -, Juris Nr. 40; Gerhard Robbers, in: Hermann von Mangoldt/Friedrich Klein, GG Kommentar 1, München 62010, Art. 7 Rn. 139; für ein »Diskriminierungsverbot« aus Art.7 Abs.3 GG in dem Sinne, dass der Religionsunterricht nicht zu einer zusätzlichen Unterrichts»belastung« führen darf, siehe Peter Unruh, Religionsverfassungsrecht, Baden-Baden 42018, Rn. 433f.; vorsichtiger Hinnerk Wißmann, in: Bonner Kommentar, Aktualisierung Mai 2015, Art. 7 Rn. 150; Peter Badura, in: Grundgesetz-Kommentar, hrsg. von Theodor Maunz und Günter Dürig, Werkstand 89. EL Oktober 2019, Art. 7 Rn.78. Einen solchen Schutz könnte jedenfalls nur ein Religionsunterricht im Sinne des Art.7 Abs. 3 GG beanspruchen. 21 Jürgen Kaube, »Haben wir was in Reli auf ?«, in: FAZ (8. 1. 2019), S. 9.

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funktionslos wird. Sie würde dieses Schicksal etwa mit Art. 4 Abs. 3 GG über die Kriegsdienstverweigerung oder mit Art. 6 Abs. 5 GG über die inzwischen ja gesellschaftlich realisierte Gleichstellung unehelicher Kinder teilen. Denkbar und verfassungsrechtlich ganz unproblematisch sind aber auch Lösungen, die etwa für die Grundschule und Teile der Sekundarstufe I Religionskunde, und dann Religionsunterricht oder umgekehrt, oder einen jahrgangsweisen Wechsel vorsehen. Von der Frage nach dem, was das Verfassungsrecht vorschreibt, ist die Frage zu unterscheiden, ob man sich daran hält, das Verfassungsrecht für die staatliche Praxis also maßgeblich ist. Dass geltendes Recht nicht beachtet wird – auch vom Staat nicht beachtet wird – ist ein auch sonst nicht seltenes Phänomen. Dabei muss man unterscheiden: Es gibt den vor allem von Verwaltungen praktizierten verständigen Umgang mit dem Recht, den Niklas Luhmann für bestimmte Fälle als »brauchbare Illegalität« beschrieben hat,22 und es gibt gelegentlich Vorwegnahmen anstehender, aber noch nicht in Kraft getretener Rechtsänderungen. Schließlich gibt es auch den Rechtsungehorsam aus Dummheit, Faulheit, Eigensinn oder aus politischem oder sonst wie begründetem Eigennutz. Für die Nicht-Beachtung des geltenden Rechts gibt es auch auf unserem Feld Beispiele: Da ist die erwähnte schulische Praxis, die offenbar in Nordrhein-Westfalen Anlass für die Vereinbarung über den kooperativen Unterricht war. In Hamburg wird seit inzwischen langen Jahren ganz offiziell ein Unterricht praktiziert, der mit den Vorgaben des dort unstreitig geltenden Art. 7 Abs. 3 GG, wie sie nach ganz überwiegender Auffassung in der Rechtswissenschaft zu verstehen sind, schwerlich kompatibel ist.23 Auf der Homepage der Vereinigung Hamburger Religionslehrerinnen und Religionslehrer zu diesem ›Hamburger Weg‹ findet sich im Internet unkommentiert ein Verweis auf ein Gutachten des früheren Erlanger Staatskirchenrechtlers Christoph Link von 2001 für die Nordelbische Evangelische-Lutherische Kirche.24 Auch unter Berufung auf eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts hält Link dort einen Unterricht, in dem christliche Kirchen »die Bekenntnisverschiedenheiten zugunsten des gemeinsamen biblischen Fundaments zurückstellen«, für verfassungsrechtlich zulässig. Er fährt dann fort:

22 Niklas Luhmann, Funktion und Folgen formaler Organisation, Berlin 1995, S. 304ff. 23 Mückl, »Religionsunterricht bikonfessionell, ökumenisch, multireligiös«, S. 250ff. 24 Christoph Link, »Rechtsgutachten über die Vereinbarkeit des Hamburger Modells eines ›Religionsunterricht für alle in evangelischer Verantwortung‹ mit Art. 7 Abs. 3 GG vom 15. Januar 2001«, www.vhrr.jimdo.com/schule-ru-für-alle/der-hamburger-weg (Abruf: 26. 4. 2020).

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»Der Bogen würde aber überspannt, wollte man diesen Rechtsgedanken in Richtung auf eine ›Ökumene‹ der Weltreligionen, gar der in einem Bundesland vertretenen sonstigen Religionsbekenntnisse und Weltanschauungsvereinigungen weiterentwickeln. Die Schnittmenge der Gemeinsamkeiten wäre dann so gering, der Bekenntnisbezug so verwässert, dass der Verfassungsbegriff des Religionsunterrichts auch bei weitherzigster Auslegung verfehlt würde.«

Es geht hier darum, dass die Behauptung, der Unterricht habe die von der Verfassung vorausgesetzte normative Tendenz, plausibel sein muss, also darum, ob überhaupt eine Ausrichtung auf »Glaubenssätze als Wahrheit« stattfindet und möglich ist, wenn man tendenziell alle einbezieht, auch diejenigen, die ganz anderes oder gar nicht glauben wollen. Hamburg hat dieses Konzept jüngst durch den »Religionsunterricht für alle 2.0« ersetzt.25 Dabei werden die Inhalte jetzt nicht mehr allein von der evangelischen Kirche, sondern »gleichberechtigt von mehreren Hamburger Religionsgemeinschaften verantwortet und von Religionslehrkräften unterschiedlichen Bekenntnisses unterrichtet«26. Beteiligt sind außer der evangelischen Nordkirche die jüdische Gemeinde, die drei islamischen Religionsgemeinschaften und die alevitische Gemeinde.27 Die katholische Kirche will nach Auswertung eines Modellversuchs über ihre Beteiligung entscheiden.28 Wißmann meint in einem jüngst dazu erstellten Gutachten, »bei einem solch komplexen Modell (liege) eine Hauptlast bei der Durchführung durch die Lehrerinnen und Lehrer«.29 Mir scheint, diese Last ist übermenschlich schwer. Wie soll es möglich sein, einem 11-jährigen gleichzeitig als Glaubenswahrheit beizubringen, Christus sei auferstanden und das sei nicht der Fall – egal wie man Auferstehung versteht? Sogar Protagonisten des Projekts räumen ein, dass das von ihnen als Lösung befürwortete Zusammenspiel »von Perspektivität, einer

25 Peter Albrecht, www.hamburg.de/bsb/pressemitteilungen/13278536/2019-11-29-bsb-religion sunterricht (Abruf: 23. 4. 2020). 26 Patric Seibel, »Ein Modell für Hamburg«, in: Deutschlandfunk (6. 2. 2020), www.deutschland funk.de/religionsunterricht-fuer-alle-ein-modell-fuer-hamburg.886.de.html?dram:article_id =469619 (Abruf: 23. 4. 2020) 27 Die mit diesem Übergang verbundenen wesentlichen und nicht nur, aber gerade in Bezug auf die Lehrer (s. u.) durchaus grundrechtsrelevanten Änderungen vollzieht Hamburg ohne Einbeziehung des Gesetzgebers. Der einschlägige §7 des Schulgesetzes ist seit 1997 nicht mehr geändert worden. Nicht einmal einschlägige Verordnungen oder Erlasse sind ersichtlich. Ganz abgesehen von den materiell-rechtlichen Einwänden ist der Verzicht auf jede parlamentarische Regelung verfassungsrechtlich kaum in Ordnung. 28 Auskunft der Abteilung Schule & Hochschule, Erzbistum Hamburg (23. 4. 2020). 29 Wißmann, Religionsunterricht für alle?, S. 80; kritisch dazu Hartmut Kreß, »Rezension«, www.weltanschauungsrecht.de/meldung/rezension-wißmann-religionsunterricht-fuer-alle (Abruf: 23. 4. 2020).

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bestimmten Didaktik und der Kompetenzorientierung« die »innere Widersprüchlichkeit« nur »möglicherweise« auflösen kann.30 Ein anderes Beispiel für den – sagen wir euphemistisch: flexiblen – Umgang mit Art. 7 Abs. 3 GG ist die Praxis einiger Länder zum islamischen Religionsunterricht. Sie arbeiten mit Lösungen, bei denen letztlich sie es sind, die bestimmen, was von wem gelehrt werden soll, auch indem sie sich die Muslime aussuchen, die sie als Religionsgemeinschaft ansehen. Die genannten Abweichungen werden gern mit dem Hinweis kaschiert, es handele sich um Experimente oder um Notlösungen, die verfassungsnäher seien, als der Verzicht auf den Religionsunterricht. Die hier wie in anderen Bereichen gelegentlich bestehende Neigung, das geltende Recht nur selektiv zu beachten und durchzusetzen, wenn niemand da ist, der die Durchsetzung erzwingen kann und erzwingen will, kann man bedauern. Aber es mag darin ja auch eine Chance liegen. Auf die Dauer bergen solche Abweichungen jedoch Risiken. Es lebt sich leichter im Einklang mit dem geltenden Recht. Deshalb lohnt es sich darüber nachzudenken, wie ein sachgerechter Unterricht über Religion im Einklang mit dem Verfassungsrecht aussehen könnte.

4.

Vorüberlegungen zu einer Strategie für die Weiterentwicklung

Eine Strategie für eine Weiterentwicklung des Religionsunterrichts muss ihr Ziel klar bestimmen: Das kann der flächendeckende Erhalt des konfessionellen Religionsunterrichts sein oder die flächendeckende Einführung eines religionskundlichen Unterrichts oder eine Kombinationslösung – etwa Erhalt des konfessionellen Religionsunterrichts bei konsekutivem oder parallelem Angebot eines religionskundlichen Unterrichts. Sie muss vor allem die Gründe dafür klar benennen, warum die angestrebte Weiterentwicklung nötig ist. Dann gilt es die rechtlichen Grenzen zu bedenken: Verfassungsrechtliche Probleme sehe ich nur für den Fall, dass Unterricht nach Art. 7 Abs. 3 GG angeboten werden soll, der wegen der großen Diversität der einbezogenen Bekenntnisse und Weltanschauungen auf Seiten der Schüler und der den Unterricht tragenden Religionsgemeinschaften in seiner Qualität als Religionsunterricht fragwürdig ist. Ein religionskundlicher Unterricht dagegen kann von Rechts wegen ohne weiteres alle einbeziehen. Es mag sein, dass die Grenze zwischen beiden Formen, wie rechtliche Grenzen auch sonst nicht selten, manchmal nur schwer zu ziehen ist. Mir leuchtet aber nicht ein, warum diese Grenze bis auf den 30 Jochen Bauer, »Die Weiterentwicklung des Hamburger Religionsunterrichts in der Diskussion zwischen Verfassungsrecht und Schulpädagogik«, in: Zeitschrift für evangelisches Kirchenrecht 59 (2014), S. 227–256, hier S. 252.

Art. 7 Abs. 3 GG und die Weiterentwicklung des Religionsunterrichts

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letzten Millimeter ausgetestet werden muss. Welche Elemente des Hamburger Unterrichts sind es denn, die für den dortigen Unterricht notwendige Gelingensbedingungen sind und zugleich wegen ihrer religiösen Normativität nach Art. 7 Abs. 3 GG die Mitwirkung der Religionsgemeinschaften notwendig machen? Würde der Hamburger Weg in die Irre führen, wenn er in der alleinigen Verantwortung der Freien und Hansestadt als religionskundlicher Unterricht beschritten würde? Wäre das nicht gerade in einer Stadt, in der weniger als der Hälfte der Menschen irgendwie religiös gebunden sind, die richtige Lösung? Wie soll man einem vielleicht sogar europäischen Gericht erklären, warum man einen Lehramtsbewerber abgelehnt hat, weil er zwar alle anderen Qualifikationen besitzt, aber nicht die Lehrerlaubnis irgend einer der beteiligten Religionsgemeinschaften beibringen will oder kann, wenn er doch in Bremen Unterricht nach demselben ›Bildungsplan Religion‹ im Rahmen des dortigen religionskundlichen Unterrichts31 erteilen dürfte?32 Schließlich gilt es einige weitere Punkte zu bedenken: Eine Ausweitung des Raums für den religionsbezogenen Unterricht in der Stundentafel halte ich nicht für realistisch. Soweit Religionsunterricht nach Art.7 Abs. 3 GG weiter stattfindet, können seine Teilnehmer deshalb nur schwer in ein religionskundliches Angebot einbezogen werden. Es entstünde dann eine echte Konkurrenzsituation. Anders als von der Kirchensteuer kann man sich vom Religionsunterricht ja abmelden, ohne aus der Kirche auszutreten. Konkurrenz belebt zwar das Geschäft, ist aber anstrengend. Das muss nicht jedem gefallen. Dass eine offene Diskussion über die Zukunft des Religionsunterrichts religionspolitische Weiterungen hat, muss man zurzeit nicht befürchten. Die Debatte über das Verhältnis von Staat und Religion, Staat und Kirchen ist nicht erloschen, aber in den letzten anderthalb Jahrzehnten doch spürbar abgeflaut. Anders als noch vor zwei Jahrzehnten scheint mir der völlige Verzicht auf religionsbezogenen Unterricht politisch nicht ernsthaft in der Diskussion zu sein. Man muss also nicht befürchten, dass eine ehrliche politische Debatte über das Thema eine Lawine auslöst. Es gibt die Sorge, woher die Lehrer für den religionskundlichen Unterricht kommen sollen. Das ist ein Übergangsproblem. Übergangsprobleme sind dann relevante Argumente gegen Veränderungen, wenn die für ihre Bewältigung ent31 Der Bremer ›Bildungsplan Religion‹ für die Jahrgangstufe 1–13 »orientiert sich an den entsprechenden Hamburger Bildungsplänen zum Fach Religion« (Stand 2014, S. 4), www.lis.bre men.de/sixcms/detail.php?gsid=bremen56.c.15219.de (Abruf 23. 4. 2020). 32 Die Auswirkungen auf die Lehrerschaft werden inzwischen in der Öffentlichkeit diskutiert; siehe etwa Kaija Kutter, »Neuerungen im Religionsunterricht, Lehrer sollen in die Kirche. In Hamburg dürfen Lehrer in Zukunft ohne Mitgliedschaft in der Kirche keinen ›Religionsunterricht für alle‹ mehr geben. Bisher wurde das toleriert«, in: taz (11. 2. 2020), www.taz.de /Neuerungen-im-Religionsunterricht/!5650727 (Abruf: 24. 4. 2020).

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stehenden Kosten – monetäre und nicht monetäre – den langfristigen Nutzen der Veränderung überwiegen. So ist es hier aber wohl kaum. Man denke daran, welche fachlichen und didaktischen Anforderungen an die vielen Aushilfen und Quereinsteiger in unseren Schulen gestellt oder – häufig genug – nicht gestellt werden. Ausgebildete Religionslehrer egal welcher Konfession könnten, da bin ich sicher, vermutlich sogar ohne die wünschenswerten Fortbildungen einen guten religionskundlichen Unterricht erteilen, bis sie im Laufe der Jahre durch die Absolventen einer umgestalteten Lehrerausbildung ersetzt werden. Die Mitwirkung an einer so umgestalteten Lehrerausbildung ist eine Aufgabe, die theologische Fakultäten übernehmen oder bei der sie eine wichtige Rolle spielen können. Schließlich muss bedacht werden, dass der Staat einen religionskundlichen Unterricht zwar ohne die Zustimmung der Kirchen einführen kann, die Politiker dies aber vielerorts nur tun werden, wenn die Kirchen keine Einwände erheben. Für die in den Kirchen Verantwortlichen würde die Stellungnahme zu einem solchen Vorhaben schwierige Fragen aufwerfen. Sie müssen nämlich neben der zielführenden Gestaltung religionsbezogenen Unterrichts noch eine Reihe weiterer Punkte bedenken: – Sie müssen erwägen, wie sich ein mit der Einführung eines religionskundlichen Unterrichts gegebenenfalls verbundener Verzicht auf – einen eigenen oder gemeinsamen – Religionsunterricht auf die Stellung und das Gewicht der Kirchen in Gesellschaft und Politik auswirkt. Solche Gedanken mögen bei der Kölner Zurückhaltung gegenüber dem konfessionsübergreifenden Unterricht in Nordrhein-Westfalen mitgespielt haben, würden aber gewiss auch für die Haltung der Nordelbischen Kirche gegenüber einem nur noch staatlich verantworteten Unterricht in Hamburg eine Rolle spielen können. In NordrheinWestfalen etwa werden die Verantwortlichen sich fragen, welche Folgen ein solcher Schritt für die Zukunft der ohnehin unter Druck stehenden Bekenntnisschulen haben kann.33 – Von Bedeutung wird auch sein, ob der Staat die Kirchen und Religionsgemeinschaften bei der Gestaltung der Vorgaben für einen religionskundlichen Unterricht beteiligt. Eine obligatorische Anhörung zu den Richtlinien könnte deren Interesse daran wahren, in einem solchen Unterricht das eigene Bekenntnis angemessen dargestellt zu sehen. Im Hinblick auf die besondere verfassungsrechtliche Stellung der Kirchen und Religionsgemeinschaften wäre eine solche Regelung sicher gerechtfertigt. – Schließlich mag es hier und da die Hoffnung geben, dass die gegenwärtigen Trends der vielfältigen Schrumpfung sich abschwächen oder umkehren 33 Die Regelungen des § 26 Abs. 6 Satz 2 und Abs.7 SchulG sind schon angesichts der erwähnten Vereinbarung über den kooperativen Religionsunterricht kaum noch zu rechtfertigen, soweit es um die Differenz katholisch–evangelisch geht.

Art. 7 Abs. 3 GG und die Weiterentwicklung des Religionsunterrichts

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könnten. Soweit ich sehe, spricht dafür zurzeit aber nur die allgemeine Erfahrung, dass Trends nicht unbegrenzt andauern. Aber diese Sichtweise ist vielleicht nur Ausdruck einer wenig christlichen Kleingläubigkeit. Die Weiterentwicklung des Religionsunterrichts erfordert Geduld. Sie kann in Rheinland-Pfalz anders aussehen als in Hamburg, in Mecklenburg-Vorpommern anders als in Bayern. Sie wird aber nur gelingen, wenn über die Sachprobleme und die sehr unterschiedlichen Interessen der verschiedenen Religionsgemeinschaften offen gesprochen wird.

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II. Bestandsaufnahmen aus der Sicht religiöser Minderheiten und Konfessionsloser

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Weltanschauungsunterricht. Anmerkungen zu einem inzwischen 100jährigen Problem

1.

Einleitung

2019 feierte der verfassungsmäßig garantierte Religionsunterricht sein 100jähriges Jubiläum. Aus humanistischer Sicht ist die Freude darüber allerdings getrübt: Es gibt mitnichten in allen Bundesländern einen dem Religionsunterricht gleichwertigen, ebenso wertebildenden und identitätsstiftenden Unterricht für Menschen, deren Weltanschauung nicht religiös und transzendent, sondern humanistisch und immanent geprägt ist. Dieser Befund erscheint aus mehreren Gründen überraschend. – Die Weimarer Reichsverfassung verankerte nicht nur Religionsunterricht an den Schulen der neuen Republik, sie führte auch das Gleichbehandlungsgebot von Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften und das Diskriminierungsverbot aufgrund von Religion oder Weltanschauung ein. Doch daraus folgte keine breite Öffnung der Wertebildung an den Schulen über den Religionsunterricht hinaus. – Aus staatspolitischer Sicht sollte es sinnvoll sein, das demokratische Fundament der Republik von möglichst vielen Perspektiven aus zu stützen. Denn der Staat lebt zweifellos von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann, vielmehr bedarf er dazu zivilgesellschaftlicher Akteure (Böckenförde) – was die Werte angeht, vor allem der Religions- und, angesichts der zunehmenden gesellschaftlichen Pluralität, natürlich auch der nichtreligiösen Weltanschauungsgemeinschaften. Die Weltanschauungsunterrichte würden damit eine wichtige Funktion in der Schule erfüllen. – Und schließlich – nebenbei bemerkt – würde diese Pluralisierung an der Schule auch Brüche im Legitimitätsfundament der Religionsunterrichte vermeiden helfen, die durch deren einseitige Privilegierung entstehen können.

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2.

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›Ethik‹ ist kein Weltanschauungsunterricht

Man mag nun einwenden, es gäbe ja des Schulfach ›Ethik‹ als Ersatzfach. Allerdings scheint das neutrale Fach ›Ethik‹ als staatlicher Moral- und Sittenunterricht gegenüber dem Mehrwert des Religionsunterrichts über seine religionskundlichen Aspekte hinaus defizitär. Denn das Grundproblem von ›Ethik‹ ist eben seine Neutralität, was es als Wertefach kaum tauglich erscheinen lässt. Neutrale Werte gibt es nicht, und Wertebildung ist etwas anderes als dazu anzuleiten, Normen zu befolgen. Auch wenn manche in der politischen Debatte es für auskömmlich halten, wenn alle gemeinsam den Kanon des Grundgesetzes lernen würden: Normen sind bekanntlich keine Werte, sondern sie beruhen auf ihnen. Letzteres zu verstehen und positiv nachvollziehen zu können, ja selbst ein dazu kompatibles Wertefundament zu entwickeln: darum geht es. Dies kann ein Fach mit einem eigenen weltanschaulichen Standpunkt wesentlich besser erreichen als eines ohne einen solchen Standpunkt. Denn nichtreligiöse Menschen sind nicht ›nichts‹ oder stehen neutral zu allem, sondern haben eigene Lebenseinstellungen, Wertequellen und Sinnkonstruktionen ihres Lebens, und all dies hat eine eigene geistige Geschichte. Genügend Stoff also für ein eigenes Wertefach, und genügend Anlass, es von einer authentischen, weltanschaulich nicht beliebigen Lehrperson unterrichten zu lassen.

3.

Welche Organisationen als Partner des Staates?

Bei der Beantwortung der Frage, warum der Religionsunterricht eine beachtliche Erfolgsgeschichte aufweist, ein weltanschaulicher Unterricht aber bis heute kaum vorkommt, ist die Positionierung der möglichen Träger- oder Kooperationsorganisationen eines solchen Unterrichtes von Bedeutung. Ohne diese Organisationen als Partner wäre der Staat als schulischer Akteur nicht in der Lage, einen derartigen Unterricht zu implementieren. Dies sind historisch die Freireligiösen Gemeinden, die in der Regel bis auf die Zeit des ›Vormärz‹ zurückgehen. Sie haben sich 1859 zum Bund Freireligiöser Gemeinden1 zusammengeschlossen, eine Organisation die auch heute noch besteht, allerdings wenig in Erscheinung tritt. Die einzelnen Gemeinden in den Ländern bzw. ihren politischen Vorgängern existieren zum Teil ebenfalls heute noch, wenn auch auf unterschiedlichem Aktivitätsniveau und in mittlerweile verschiedenen weltanschaulichen Kontexten. Viele von ihnen sind seit der Weimarer Zeit Körperschaften des öffentlichen Rechts, wenn auch nicht alle auch heute noch einem freireligiösen Bekenntnis zugehörig sind. Dabei verläuft die Skala sozusagen von klassisch-freireligiös bis 1 Siehe www.freireligioese.de (Abruf: 14. 12. 2020).

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zu freidenkerisch-atheistisch, wobei gegenwärtig im freireligiösen Traditionsstrang vor allem drei Ausprägungen festzustellen sind: – Organisationen, die nach wie vor das freie Religiöse pflegen und mit einer allgemein humanistischen Ethik verbinden. Diese Organisationen finden sich vor allem am Rhein, etwa in Mannheim und Ludwigshafen, aber z. B. auch in Frankfurt am Main/Wiesbaden und Offenbach. Diese Gemeinden verfügen über das, was religiöse Gemeinden auch im kirchlichen Kontext üblicherweise aufweisen: einen Kultus, soziale Einrichtungen, und auch die Erteilung eines Freireligiösen Unterrichts als Religionsunterricht an den staatlichen Schulen, manchmal sogar Prediger im Talar. Oftmals sind diese Gemeinden mit Staatsverträgen oder zumindest Vereinbarungen über ihr Wirken mit den Ländern ausgestattet, nicht selten auch mit pauschalen finanziellen Zuwendungen. – Am anderen Ende des Spektrums befindet sich etwa der heutige Bund für Geistesfreiheit (bfg) Bayern, die ehemalige freireligiöse bzw. freigeistige Landesgemeinde Bayern, die ihren Namen 1990 änderte. Diese ist zwar bis heute eine Körperschaft des öffentlichen Rechts und erhält staatliche Zuschüsse für die ›Besoldung der Seelsorgegeistlichen‹, wie der Titel des Staatshaushalts heißt, lehnt jedoch politisch zugleich sowohl die öffentliche Rechtsform wie auch die staatliche Bezuschussung ab; entsprechend tritt der bfg »für die konsequente Trennung von Kirche und Staat sowie Abschaffung kirchlicher Privilegien ein«2. Die Organisation prägt kaum mehr eine Weltanschauungspflege aus, sondern verhält sich eher wie ein politischer Verein in freidenkerischer Tradition. Selbst die von ihr ausgerufenen ›Feiertage‹ orientieren sich an externen, vorgefundenen Inhalten, wie dem Tag der Menschenrechte. Derartig ausgerichtete Organisationen gibt es auch als neuere Gründungen, freilich ohne die Eigenschaft der öffentlich-rechtlichen Körperschaft, etwa den Verein des sog. Internationalen Bundes der Konfessionsfreien und Atheisten (gegründet 1976) oder die religionskritische privatrechtliche GiordanoBruno-Stiftung des Unternehmers Herbert Steffen (gegründet 2004) mit ihren regionalen Unterstützerkreisen. – Zwischen diesen Polen3 befinden sich die Organisationen, die in den letzten Jahrzehnten ebenfalls eine Fortentwicklung von ihrem freireligiösen Erbe erlebten, allerdings hin zu einer nichtreligiösen Weltanschauung, die übli-

2 Historisches Lexikon Bayerns, Artikel »Bund für Geistesfreiheit Bayern«, www.historisches-le xikon-bayerns.de/Lexikon/Bund_f%C3 %BCr_Geistesfreiheit_Bayern (Abruf: 22. 11. 2020). 3 Mit den vielfältigen Friktionen in und zwischen diesen Organisationen hat sich erstmals ausführlicher der Religionswissenschaftler Stefan Schröder befasst: Stefan Schröder, Freigeistige Organisationen in Deutschland. Weltanschauliche Entwicklungen und strategische Spannungen nach der humanistischen Wende, Berlin/Boston 2018.

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cherweise als Humanismus4 oder auch weltlicher oder säkularer Humanismus bezeichnet wird (wobei dieser Begriff vor allem im englischen Sprachraum leichter einleuchtet und eine bekanntere Tradition hat als in Deutschland). Diese weisen ebenfalls, aber schwächer, eine Form des Kultus (z. B. Hochzeitsfeiern, Namensfeiern oder Jugendfeiern) und ein Vereinsleben auf, widmen sich aber teilweise auch sozialer und Bildungsarbeit. Zu diesen Organisationen gehören die jeweiligen Landes-Mitgliedsorganisationen des Humanistischen Verbandes Deutschlands (HVD) e.V. und die Humanistische Vereinigung, die bundesweit als öffentlich-rechtliche Körperschaft auftritt. Einen bemerkenswerten Sonderfall, der auf die geradezu fluidale Offenheit der Entwicklungen in diesem Spektrum hinweist, bildet der Humanistische Verband Berlin-Brandenburg, der auf eine Versicherungsgesellschaft im Freidenker-Spektrum zurückgeht und mit der Wiedervereinigung und dem Zuwachs an ehemals Ostberliner Strukturen zu einer voluminösen Organisation aufwuchs. Im Rahmen der ›Bremer Klausel‹ (Art. 141 Grundgesetz [GG]) ist es nun diese freidenkerische Organisation und nicht die (ebenfalls noch existierende) Berliner Freireligiöse Gemeinde, die mit dem ›Humanistischen Lebenskunde-Unterricht‹ an vielen Berliner Schulen präsent ist. Aufgrund der Berliner Besonderheiten bewegt sich dieser als Bekenntnisunterricht ermöglichte Unterricht heute fließend hin zu einem allgemeinen ethischen Unterricht, was manche Beobachter kritisieren. Dementsprechend kämpfte der HVD Berlin auch bei dem damaligen Volksentscheid 2009 gegen einen allgemeinverbindlichen Religionsunterricht und für einen allgemeinen Ethikunterricht, wohl wissend dass er damit die Schlechterstellung seines eigenen Unterrichtsangebots perpetuiert.5 Letztere Beobachtung verweist darauf, dass die Frage, ob es einen dem Religionsunterricht formal vergleichbaren Unterricht an den öffentlichen Schulen überhaupt geben sollte, zwischen den Organisationen des ›säkularen Spektrums‹ und teilweise auch innerhalb dieser Organisationen durchaus umstritten ist. Selbst Organisationen, die zumindest historisch durchaus in der Lage waren, ein eigenes Unterrichtsfach anzubieten, verzichten heute darauf absichtsvoll zugunsten eines allgemeinen Faches ohne Bekenntnischarakter. Dazu zählt mit dem HVD Niedersachsen, früher Freie Humanisten, früher Freireligiöse Gemeinde, immerhin auch eine Organisation, die mit einem veritablen, großzügig

4 Zur Problematik des Begriffs und seiner Vieldeutigkeit siehe Horst Groschopp, HumanismusBegriffe, Aschaffenburg 2016. 5 Siehe dazu z. B. den Artikel: Werner van Bebber, »Religionsgegner – Wer sind die Humanisten?«, in: Der Tagespiegel (15. 2. 2009).

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dotierten Staatsvertrag ausgestattet ist6. Der HVD Baden-Württemberg e.V. bzw. die in ihm organisierten Humanisten Württemberg, früher Freireligiöse Landesgemeinde, verfolgen nicht das Ziel eines humanistischen Weltanschauungsunterrichts; stattdessen unterstützten sie eine (erfolglose) Verfassungsklage zur allgemeinen Einführung eines Ethikunterrichts als Ersatzunterricht im Land.7 Man erkennt leicht, dass eine konsistente, einheitliche Haltung der entsprechenden möglichen Kooperationsorganisationen zur Frage des weltanschaulichen Unterrichts an den öffentlichen Schulen in Deutschland nicht durchgängig besteht. Im Gegenteil, im Verlauf des letzten Jahrzehnts ist eher ein Abrücken von diesem weltanschauungspolitischen Ziel selbst bei denjenigen festzustellen, die es zuvor noch verfolgt hatten. Andere, säkularistisch-laizistisch oder freidenkerisch orientierte Gruppierungen wollten dies ohnehin und von Anfang an nicht, da sie für die Abschaffung aller derartigen Fächer eintreten. Politisch sprechen all diese Organisationen keineswegs mit einer Stimme, vielmehr verfolgen sie teils sogar gegenläufige Ziele. Freilich: Eine einheitliche Haltung im ›säkularen Spektrum‹ ist auch gar nicht zwingend erforderlich, und bloße Nichtreligiosität ist gewiss kein ausreichend einigendes Band für ein gemeinsames Auftreten. Die Vielstimmigkeit und Uneinigkeit erleichtert es aber staatlichen Akteuren, gegenüber allen ihren Anliegen eine ablehnende Haltung einzunehmen, indem sie das (nicht einmal für die verfassten Kirchen bekannte) Erfordernis einer umfassenden organisatorischen Homogenität aller (potentiellen oder subsummierten) Weltanschauungsangehörigen in der Bevölkerung konstruieren – auch die Islamverbände kennen dieses Spiel.

4.

Antrag auf Weltanschauungsunterricht der Humanistischen Vereinigung

Einen spezifischen Fall in diesem Spektrum bildet die 1848 in Nürnberg gegründete Humanistische Vereinigung, die wegen dessen zunehmender Nähe zu säkularistischen Strömungen8 2019 nach 20jähiger Zugehörigkeit den Dachverband des HVD e.V. verlassen hat. Sie legt ihrem Humanismus-Verständnis zwar ein modernes naturwissenschaftliches Weltbild zugrunde und versteht sich ausdrücklich als nichtreligiös, begreift aber Humanismus als undogmatische Lebenseinstellung, die konstruktivistisch geprägt ist und daher auch andere 6 Vgl. Humanistischer Verband Niedersachsen, »Humanistisch leben«, in: Zeitschrift des Humanistischen Verbandes Niedersachsen 1 (2019), S. 17. 7 Vgl. Humanistische Rundschau der Humanisten Württemberg (April 2013), S. 4. 8 Siehe Hanna Fülling, »HVD Bayern trennt sich vom Bundesverband«, in: EZW-Materialdienst 9 (2019), www.ezw-berlin.de/html/15_10253.php (Abruf: 13. 4. 2021), S. 339.

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»Konstruktionen der Wirklichkeit« (Berger/Luckmann) respektiert. Sie knüpft zugleich, was ihre Praxis angeht, explizit an ihre freireligiöse Tradition an und sieht diese als moderne Fortsetzung ihres historischen Erbes. Was ihre Weltanschauungspflege angeht,9 weist sie starke formale Ähnlichkeiten – freilich auch inhaltliche Unterschiede – zu den Freireligiösen Gemeinden auf. Vor allem soziale und pädagogische Tätigkeiten treten hinzu, die konzeptionell stark auf einen weltanschaulichen Humanismus im oben beschriebenen Sinne bezogen sind. Die Humanistische Vereinigung gründete die bislang einzige Humanistische Grundschule als Weltanschauungsschule in Fürth (2008), an der das Schulfach ›Humanistischer Unterricht‹ als ordentliches Lehrfach »an die Stelle des Religionsunterrichts« tritt.10 Daher ist es kein Zufall, dass die Humanistische Vereinigung (damals noch unter dem Namen HVD Bayern) die Frage nach einem weltanschaulichen Unterricht – zunächst an ihrem historischen Sitz in Bayern – neu stellte und einen solchen für sich und ihre Angehörigen in Anspruch nehmen wollte. Damit sollte er zugleich auch als offenes Angebot für alle interessierten Eltern und Schüler: innen an den öffentlichen Schulen eingerichtet werden. Nachdem ein entsprechender Antrag abgelehnt wurde,11 ist die Sache derzeitig – Stand: November 2020 – gerichtsanhängig.

5.

Begründung der Bayerischen Staatsregierung für die Ablehnung

Die Herleitung der Staatsregierung bei ihrer Ablehnung ist aufschlussreich. Diese beruht auf zwei Argumenten: – Art. 7 GG privilegiere nur den Religionsunterricht, keinen Weltanschauungsunterricht, denn dieser sei nicht aufgelistet. Dadurch würde ein Weltanschauungsunterricht die gebotene weltanschauliche Neutralität der Schule verletzen, die wegen Art. 7 für Religionen, aber eben nur für diese, nicht gelte. – Das in Art. 140 GG genannte Gleichbehandlungsgebot von Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften beziehe sich nur auf die in Art. 137 Weimarer Reichsverfassung (WRV) ausdrücklich genannten Bereiche, insbesondere auf die Rechtsform, nicht auf weitere, in der WRV bzw. im GG erklärten 9 Siehe vom Autor, »Humanistische Weltanschauungspflege – praktisch gesehen«, in: Humanistik. Beiträge zum Humanismus, hrsg. von Horst Groschopp, Aschaffenburg 2012, S. 247– 268. 10 Vgl. Schreiben des Bayerischen Staatsministeriums für Unterricht und Kultus (3. 3. 2010), Archiv der Humanistischen Vereinigung. 11 Vgl. Bescheid des Bayerischen Staatsministeriums für Unterricht und Kultus (11. 12. 2018), Archiv der Humanistischen Vereinigung.

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Maßgaben oder definierten Rechte für Religionsgemeinschaften oder Religion im Allgemeinen. Aus der Zusammenschau dieser beiden Argumente ergibt sich als Konsequenz, dass nach Ansicht der Bayerischen Staatsregierung Angehörige einer humanistischen Weltanschauung weniger Elternrechte haben als christliche Eltern, und dass auch ihre weltanschaulichen Zusammenschlüsse nicht die Rechte der Kirchen genießen. Diese von Kritikern als diskriminierend bezeichnete Haltung12 mag angesichts der politischen Verhältnisse in Bayern nicht überraschen, und es mag durchaus dahinstehen, wie die Gerichte diese Argumentation am Ende bewerten. In einem – angegriffenen – erstinstanzlichen Urteil des Verwaltungsgerichts Ansbach zum weltanschaulichen Unterricht an den staatlichen Fachakademien für Sozialpädagogik – einer etwas anders als bei den staatlichen allgemeinbildenden Schulen gelagerten Frage – schloss sich das Gericht in der Begründung allerdings weitgehend der Regierung an. Dieses Gericht lehnte freilich 2006 auch den Schulgründungsantrag für die Humanistische Grundschule ab; das Urteil wurde daraufhin vom Bayerischen Verwaltungsgerichtshof kassiert. Wahrscheinlich wird diese Frage erst von einem obersten Bundesgericht entschieden werden. Die bayerische Regierung hat im vorliegenden Fall eine bestimmte Auslegung der WRV zum Zentrum ihrer Ablehnung gemacht. Sie hat somit die rein bayerische, landesbezogene juristische Sphäre verlassen und die Problematik auf eine bundesweite Bühne gehoben. Wie auch immer diese Streitigkeit ausgeht, sie wird bundesweite Auswirkungen haben. Ohne damit alle juristischen Sachverhalte erledigen zu wollen, lohnt es sich in diesem Jubiläumsjahr dennoch, die historische Genese des einschlägigen Artikels der WRV etwas genauer zu untersuchen und zu überprüfen, ob die Lesart der bayerischen Staatsregierung stichhaltig oder gar zwingend ist – oder nicht.

6.

Freireligiöser Unterricht vor 1918

Die Geschichte der Freireligiösen Gemeinden reicht bis in die 1840er Jahre zurück. Im Zuge eines religiösen Aufbruchs entstanden in den Staaten des Deutschen Bundes Reformgemeinden, die sich einer rationalen Lesart der christlichen Religion (vor allem die sog. ›Lichtfreunde‹) oder einer allgemeinen Religion der Menschenliebe verschrieben hatten. In den größeren Städten, aber auch auf dem 12 Die Dimensionen solcher Diskriminierung sind dargestellt in Michael Bauer/Arik Platzek, Gläserne Wände. Bericht zur Diskriminierung nichtreligiöser Menschen in Deutschland, Berlin 22019.

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Lande gab es solche Gemeinschaften, die sich als Deutschkatholisch, als Freie Gemeinde oder Freie Christliche Gemeinde bezeichneten. Diese Landschaft war örtlich sehr unterschiedlich geprägt, sie reichte von einem rationalistischen Protestantismus verhafteten Gruppen bis hin zu solchen, die im frühsozialistischen Kontext standen und von denen einige auch offen atheistisch geprägt waren. Von der Obrigkeit waren sie wenig gelitten, teils wurden sie auch aktiv bekämpft. Während der Revolutionsjahre verbesserte sich ihre Stellung vielerorts, aber mit dem Scheitern der Revolution kam viele Gemeinden unter den verstärkten politischen Druck der Restauration. An vielen Orten entstanden aus den Reihen dieser Gemeinden freiheitliche Bildungsanstalten: viele Kindergärten, allgemeinbildende und Gewerbeschulen, auch eine Hochschule für Frauen war darunter. Auch wenn diese Pflanzen wegen der bald einsetzenden Repression nur von kurzer Blüte sein konnten, so gehört doch die Unterweisung der Kinder und die Erteilung eines eigenen, moralischen Unterrichts sozusagen zur DNA dieser Bewegung, die als eine der wirkmächtigsten sozialen Bewegungen der Jahrhundertmitte angesehen wird. Immerhin war ihre ›Gründungsurkunde‹, das Sendschreiben des schlesischen Pfarrers Johannes Ronge gegen die Zurschaustellung des Trierer Rocks 1843, die auflagenstärkste Flugschrift des Vormärz. In ihr stellte sich Ronge gegen den Wunderglauben und ebenso gegen die Geschäftemacherei des Bischofs, zwei seither gern besuchte Topoi der freidenkerischen Kirchenkritik. Aufgrund ihrer Ferne zum religiösen Dogma, ihrer Ablehnung der amtskirchlichen Strukturen und ihres Eintretens für Demokratie und Gleichberechtigung der Geschlechter fanden sie jedoch in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts kaum politische Unterstützung bei den zumeist durchgängig konservativen Regierungen in Deutschland. Ihre politische Heimat fand sie damals jedoch in der jungen SPD. Viele sozialdemokratische Politiker:innen waren Mitglieder und Funktionäre der Freireligiösen Gemeinden, wie diese Gemeinschaften nach dem Zusammenschluss im Bund Freireligiöser Gemeinden und später reichsweit einheitlich firmierten. Wie ein Blick in die Listen der Abgeordneten des Reichstages zeigt, war eine erhebliche Anzahl, wenn nicht sogar die meisten der SPD-MdR während der Weimarer Republik Mitglied einer solchen, freireligiösen Gemeinde. Trotz dieser offensichtlichen Bedeutung für die deutsche Geschichte ist die Geschichte dieser Gemeinden in politischer wie pädagogischer Hinsicht bisher nur in Ansätzen erforscht. Es ist davon auszugehen, dass angesichts der unterschiedlichen politischen Rahmenbedingungen und aufgrund der ohnehin gegebenen örtlichen Spezifika der Gemeinden und ihrer (landes)gesetzlichen Grundlagen große regionale Unterschiede bestanden (und bis heute bestehen), die es erschweren, ein klares Bild über sie zu gewinnen. Im Nürnberger Raum jedenfalls war die Freireligiöse Gemeinde Träger eines freireligiösen Unterrichts, der seit der Eröffnung der dortigen Simultanschule im Jahr 1871 erteilt wurde und jedes Jahr mehrere Hundert Schülerinnen und

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Schüler erreichte. Auch in den Nachbarstädten Fürth und Erlangen wurde von den dortigen Gemeinden ein solcher Unterricht veranstaltet, oftmals in personeller Kooperation. Als Lehrkräfte wurden von der Gemeinde mehrere Lehrer beschäftigt, wobei der ›Hauptlehrer‹ zugleich das Amt des Sprechers der Nürnberger Gemeinde bekleidete und – ähnlich wie ein sozusagen ›säkularer Pfarrer‹ – auch für das Gemeindeleben und den Kultus verantwortlich war. Die Stellung des Unterrichts war jedoch prekär. Er war von den liberal und sozialdemokratisch orientierten Stadträten genehmigt und finanziert worden; die königliche Regierung legitimierte ihn zunächst zwar, duldete ihn dann aber nur noch und verbot ihn nach dem Ausbruch des 1. Weltkrieges sogar. Mit der Gründung des republikanischen Freistaats lebte er jedoch sogleich wieder auf. Ähnlich wie in Nürnberg war der freireligiöse Unterricht auch andernorts im Reich fester Bestandteil des schulischen Lebens.13

7.

Freireligiöser Unterricht war Religionsunterricht im Sinne der Weimarer Reichsverfassung

Vor diesem Hintergrund wird klar, dass den Abgeordneten der Nationalversammlung die Vorstellung eines gänzlich nichtreligiösen weltanschaulichen Unterrichts fremd gewesen sein muss. Der freireligiöse Unterricht mag zwar von manchen auch als weltanschaulicher Unterricht gesehen worden sein, zuvorderst war er aber – wie der Name schon sagt – eine Spielart des Religionsunterrichts, und ein solcher war der einzige Unterricht, von dem man wissen konnte. Warum also einen Weltanschauungsunterricht antizipieren? Zudem war der Begriff ›Weltanschauung‹ im Zusammenhang mit dem Schulwesen eher im Kontext des Sozialismus verortet, wie auch die damalige, begrifflich oftmals unscharfe Auseinandersetzung um die ›Weltanschauungsschule‹ und die ›weltliche Schule‹ zeigt.14 Die Einbettung der Frage des schulischen Religions- und ggf. Weltanschauungsunterrichts in die Debatte um das Verhältnis von Staat und Kirche in der neuen Republik, die gerade von den Kirchen und dem Zentrum vor dem beängstigenden Hintergrund revolutionärer und sozialistischer Kultus- und Schulreformen geführt wurde, mag ein Übriges dazu getan haben, dass man hier mit dem gefundenen Schulkompromiss zufrieden war und einstweilen mit einem gewissermaßen unfertigen Ergebnis leben konnte. 13 Genauen Aufschluss über die unterrichtete Schüler:innenzahl und weitere Angaben dazu bieten die gedruckt veröffentlichten Jahresberichte der Freireligiösen Gemeinde Nürnberg aus dieser Zeit im Archiv der Humanistischen Vereinigung. 14 Siehe dazu beispielsweise Andreas Goeschen, Die bekenntnisfreie weltliche Schule: kein Fall der Weltanschauungsschule im Sinne des Art. 7 Abs. 5 Alt. 2 GG?, Frankfurt am Main 2005.

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Art. 149 Abs. 1 WRV war durchaus eine Reaktion der konservativen und klerikalen Parteien auf einige schulpolitischen Entscheidungen der sozialistisch beeinflussten Länderregierungen nach der Revolution 1918. In Bayern etwa war per Verordnung des damaligen zuständigen Ministers Johannes Hoffmann die geistliche Ortsschulaufsicht aufgehoben und Religionsunterricht zum Wahlfach herabgestuft, aber nicht abgeschafft worden. In anderen Ländern, zum Beispiel in Hamburg, wurde der Religionsunterricht dagegen komplett aus der Schule verbannt. Damit wurden schulpolitische Grundsatzentscheidungen des Erfurter Programms der Sozialdemokraten relativ schnell nach der Revolution umgesetzt. Die darauf einsetzende massive Gegenbewegung der Kirchen, kirchlichen Parteien und Verbände führte unter anderem auch zu einer intensiv diskutierten Interpellation in der Deutschen Nationalversammlung; in den diese Sache betreffenden und heftig geführten Beratungen im Verfassungsausschuss und in der Nationalversammlung kam es zur Eingabe und Annahme des entsprechenden Artikels zur verfassungsrechtlichen Garantie des Religionsunterrichts. Der Vorläufer des Art.7 Abs.3 verdankt seine Existenz den Forderungen vor allem des Zentrums, den Religionsunterricht im Schulkampf gegen die Idee der weltlichen, konfessionslosen Schule, die keinen Religionsunterricht kennt, zu verteidigen – im Rahmen des (anlaufenden) Schulkompromisses auch erfolgreich. Dass in Weimar keine Diskussion um die Einbeziehung des Ausdrucks ›Weltanschauungsunterricht‹ stattfand, ist insofern nachvollziehbar, als die bis dahin schon existierenden Weltanschauungsgemeinschaften zwar schulpolitische Vorstellungen hatten, aber keine eigenen Schulträger etwa im Volksschulbereich waren. Dass aber der von den Freireligiösen Gemeinden organisierte freireligiöse Unterricht sehr wohl unter diesen Artikel fiel, das wird etwa durch eine unwidersprochene Aussage des Abgeordneten Dr. Luppe in der zweiten Lesung der Verfassung in der Nationalversammlung deutlich, in der er die Geltung der Garantie des Religionsunterrichts aus dem im Verfassungsausschuss ausgehandelten Kompromiss bestätigt: »Hier war ausdrücklich festgelegt, daß der Religionsunterricht obligatorischer Unterrichtsgegenstand sein sollte, und zwar nicht nur für die bisherigen anerkannten Kirchengemeinschaften, sondern auch für alle freien Organisationen. Der ganze Religionsunterricht ebenso wie der freireligiöse Unterricht sollte von Staats wegen erteilt werden, und es sollte jedem Kinde und jedem Lehrer die Teilnahme und die Erteilung des Unterrichts freigestellt werden.«15

Das, was heutzutage als ›Humanistischer Unterricht‹ bezeichnet und als Weltanschauungsunterricht verstanden wird, wurde in Weimar unter den Religionsunterricht als Bekenntnisunterricht subsumiert. Freilich wurde der freireli15 Verhandlungen des Reichstags 328 (1919), S. 1704A.

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giöse Sitten- oder Religionsunterricht etwa 1914 auch schon verboten, und zwar aufgrund seines vermeintlich antichristlichen, monistischen und materialistischen Charakters (so in der Begründung der Königlich Bayerischen Regierung unter Knilling im Jahr 1914); dieses Verbot wurde jedoch durch den Minister Johannes Hoffmann Anfang 1919 unmittelbar nach der Revolution wieder aufgehoben und dann im Rahmen der WRV gemäß der obigen Aussage von Luppe verfassungsmäßig institutionalisiert. Es ist daher die These gerechtfertigt, dass die Nationalversammlung davon ausging, mit dem Begriff ›Religionsunterricht‹ seien auch alle Unterrichte der freireligiösen Gemeinden gedanklich und juristisch mit umfasst. Dafür gibt es nicht nur das weiter oben genannte, logische Indiz, sondern es liegen auch Äußerungen im Beratungsgang der Versammlung vor, die in diese Richtung weisen. Wenn also behauptet wird, dass ein Weltanschauungsunterricht in den entsprechenden Artikeln von den Verfassungsgebern ganz bewusst nicht genannt wurde, somit eine implizite Privilegierung des Religionsunterrichts gegenüber dem Weltanschauungsunterricht hineinzulesen ist, wie das heute die Bayerische Staatsregierung unternimmt, so muss man zumindest für den Art. 149 Abs. 1 WRV erkennen, dass aus dem historischen Kontext eine begriffliche und ausdrückliche Trennung von Religions- und Weltanschauungsunterricht und somit auch eine Privilegierung eben nicht bestand. Der Schluss scheint daher nach einer sorgfältigen historischen Betrachtung zwingend, dass ein heutiger Weltanschauungsunterricht, ganz in der Tradition des Freireligiösen Unterrichts, bei dem Wort »Religionsunterricht« in Art. 7 GG mit zu lesen ist, er von diesem Artikel mit umfasst ist. Auch Zeitgenossen war im Nachgang der Nationalversammlung aufgefallen, dass hier noch manch loses Ende zu verknüpfen wäre. Diese begrifflichen, konzeptionellen und politischen Unschärfen sollten im Rahmen des Reichsschulgesetzes behoben werden, zu dem es trotz einiger Anläufe jedoch nie kam.

8.

Schluss

Es war hier nicht der Ort, die gesamte Problematik weltanschaulicher Unterrichtsfächer in ihrer Komplexität darzulegen und aufzuschlüsseln. Einige Einblicke müssen genügen. Doch es dürfte immerhin deutlich geworden sein, dass auch nach 100 Jahren die Regelungen der WRV (und in der Folge des GG) zum Religionsunterricht und zum Status von Weltanschauung und Weltanschauungsgemeinschaften in Deutschland strittig bleiben – und die politischen und praktischen Folgerungen aus ihnen sogar unter den Weltanschauungsgemeinschaften selbst alles andere als einheitlich sind.

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Doch es geht letztlich nicht um das Eigeninteresse von Organisationen, ja nicht einmal um das ›Elternrecht‹ auf die Erziehung der Kinder in der elterlichen Religion und Weltanschauung (ein wichtiger Aspekt, zu dem hier keine Ausführungen gemacht wurden). Es geht um die Frage, was soll Schule sein, was soll sie leisten? Die Vision einer öffentlichen Schule, an der – die weltanschauliche Überzeugung aller gleich respektiert wird, und – die individuelle weltanschauliche Überzeugung aller gebildet und gelebt werden kann, bleibt in Deutschland16 noch zu verwirklichen. Wir wissen: Echte und gelebte Pluralität führt zu Verständnis und Wertschätzung des Anderen. Dieser essentielle Bildungsauftrag der Schule ist gerade unter den zeitgenössischen Bedingungen einer weltanschaulich pluralen, auch von Einwanderung geprägten Gesellschaft dringlich umzusetzen. Wertebildungsfächer auf Augenhöhe leisten dazu den entscheidenden Beitrag.17

Literatur Bauer, Michael, »Humanistische Weltanschauungspflege – praktisch gesehen«, in: Humanistik. Beiträge zum Humanismus, hrsg. von Horst Groschopp, Aschaffenburg 2012, S. 247–268. Bauer, Michael/Arik Platzek, Gläserne Wände. Bericht zur Diskriminierung nichtreligiöser Menschen in Deutschland, Berlin 22019. Bayerisches Staatsministerium für Unterricht und Kultus, »Bescheid« (11. 12. 2018), in: Archiv der Humanistischen Vereinigung. Bayerisches Staatsministerium für Unterricht und Kultus, »Schreiben« (3. 3. 2010), in: Archiv der Humanistischen Vereinigung. van Bebber, Werner, »Religionsgegner – Wer sind die Humanisten?«, in: Der Tagespiegel (15. 2. 2009). Bund Freireligiöser Gemeinden Deutschlands, www.freireligioese.de (Abruf: 14. 12. 2020). Freireligiöse Gemeinde Nürnberg, »Jahresberichte«, in: Archiv der Humanistischen Vereinigung. Fülling, Hanna, »HVD Bayern trennt sich vom Bundesverband«, in: EZW-Materialdienst 9 (2019), S. 329, www.ezw-berlin.de/html/15_10253.php (Abruf: 13. 4. 2021). Goeschen, Andreas, Die bekenntnisfreie weltliche Schule: kein Fall der Weltanschauungsschule im Sinne des Art. 7 Abs. 5 Alt. 2 GG?, Frankfurt am Main 2005. Groschopp, Horst, Humanismus-Begriffe, Aschaffenburg 2016. Historisches Lexikon Bayerns, »Bund für Geistesfreiheit Bayern«, www.historisches-lexikon -bayerns.de/Lexikon/Bund_f%C3%BCr_Geistesfreiheit_Bayern (Abruf: 22. 11. 2020). 16 Andere europäische Länder, wie etwa Belgien, verfügen bereits über einen entsprechenden Kanon an wertebildenden Fächern. 17 Der Autor dankt Herrn Dr. Stefan Lobenhofer für wertvolle Zuarbeiten insbesondere zur Geschichte der Weimarer Nationalversammlung.

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Humanisten Württemberg, Humanistische Rundschau der Humanisten Württemberg (April 2013). Humanistischer Verband Niedersachsen, »Humanistisch leben«, in: Zeitschrift des Humanistischen Verbandes Niedersachsen 1 (2019), S. 17. Schröder, Stefan, Freigeistige Organisationen in Deutschland. Weltanschauliche Entwicklungen und strategische Spannungen nach der humanistischen Wende, Berlin/Boston 2018. Verhandlungen des Reichstags 328 (1919), S. 1704A.

Annett Abdel-Rahman

Zum Stand und zu Entwicklungsmöglichkeiten des islamischen Religionsunterrichts in Deutschland

Einleitung

Abbildung 11

Im Fachseminar für das Fach Islamische Religion des Studienseminars für Grund-, Haupt- und Realschulen II in Hannover ist das oben gezeigte Tafelbild als Arbeitsergebnis in einem langen Gespräch der Teilnehmenden entstanden. Im Mittelpunkt des Seminars stand die Auseinandersetzung der Lehrkräfte im Vorbereitungsdienst (LiVD) mit ihrer zukünftigen Rolle als Religionslehrkraft an einer Schule – für das immer noch neue Fach Islamische Religion. In ihrer Diskussion haben sie thematisiert, welche Faktoren sie als Lehrkraft für dieses Fach beeinflussen. Es ging ihnen darum zu verstehen, welchen Referenzrahmen sie gegenüberstehen, welchen sie verpflichtet sind oder auch, welche sie prägen, um letztendlich die eigene Professionalisierung ihrer Rolle als Lehrkraft zu reflektieren. Die einzelnen Bereiche, die hier aufgeführt sind, sind schwergewichtig und teilweise nicht einfach zu bewältigen, schon allein deshalb nicht, weil dieses Fach immer noch auf dem Weg ist, im normalen Reigen der Schulfächer anzu-

1 Bild: Annett Abdel-Rahman (privat).

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Annett Abdel-Rahman

kommen und die Lehrkräfte dafür Pionierarbeit leisten: Oft sind sie die ersten an ihrer Schule, die dieses Fach unterrichten. Die Abbildung aus dem Fachseminar zeigt deutlich, welche Gegenstandsbereiche mindestens betrachtet (und erforscht) werden müssen, wenn man über den Stand der Entwicklungen des Faches Islamische Religion sprechen und es auch kontinuierlich weiterentwickeln möchte, um es als grundständiges Fach in öffentliche Schulen zu implementieren. Die Besprechung dieser noch unerschlossenen Bereiche kann im Rahmen dieses Artikels nicht vertiefend geleistet werden, aber es kann ein Überblick über den Stand des islamischen Religionsunterrichts in Deutschland gegeben werden. Am Beispiel des Bundeslandes Niedersachsen wird exemplarisch aufgezeigt, welche Anstrengungen bislang für das Fach unternommen worden sind, welche Entwicklungen noch ausstehen und welche Problemfelder bewältigt werden müssen. Nach dem politisch-organisatorischen Blick auf den islamischen Religionsunterricht soll der fachwissenschaftliche Blick einen ersten Eindruck geben, wie das Fach bisher inhaltlich ausgestaltet ist und welchen Anforderungen die Kooperation mit der christlichen Religionspädagogik unterliegt.

1.

Modelle für islamischen Religionsunterricht in den Bundesländern – ein Überblick

Islamischen Religionsunterricht gibt es derzeit an über 900 Schulen für knapp 60 000 Lernende in insgesamt neun Bundesländern.2 Die Modelle der einzelnen Bundesländer unterschieden sich dabei erheblich.

Niedersachsen Nach einem über mehrere Jahre laufenden Modellprojekt in der Primarstufe mit einer parallel durchgeführten Evaluation wurde der islamische Religionsunterricht 2013 in ein grundständiges Unterrichtsfach umgewandelt und seit 2014 in allen Jahrgangsstufen bis Jahrgang 10 unterrichtet. Um dem Anspruch eines Religionsunterrichtes nach Artikel 7 Absatz 3 des Grundgesetzes gerecht zu werden, wurde in Niedersachsen bereits 2011 ein Beirat3 gegründet, der sich aus 2 Mediendienst Integration, Religion an Schulen, Islamischer Religionsunterricht in Deutschland (Mai 2020), S. 3. 3 Eine Selbstdarstellung des Beirates und aller damit verbundenen Informationen seiner Tätigkeit findet sich hier: Beirat für den Islamischen Religionsunterricht in Niedersachsen, »Der Beirat«, www.beirat-iru-n.de/der-beirat (Abruf: 5. 6. 2020).

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jeweils zwei Mitgliedern der beiden Verbände SCHURA Niedersachsen – Landesverband der Muslime Niedersachsen e.V. und dem DITIB Landesverband Niedersachsen und Bremen e.V. und ihren jeweiligen Stellvertretern zusammensetzt. Die Geschäftsführung wird im Wechsel für jeweils zwei Jahre von einem der beiden Verbände übernommen und hat kein Stimmrecht. Der bekenntnisorientierte islamische Religionsunterricht in Niedersachsen wird somit in Kooperation mit den beiden Verbänden4 in Form des Beirates durchgeführt, er unterliegt aber als ordentliches Lehrfach staatlicher Verantwortung und wird in deutscher Sprache durch staatliche Lehrkräfte erteilt.

Hessen Auch Hessen hatte mit dem Schuljahr 2013/14 bekenntnisorientierten Religionsunterricht auf Grundlage des Artikels 7 Absatz 3 des Grundgesetzes eingeführt. Die beiden Kooperationspartner waren der DITIB Landesverband Hessen e.V. und die Ahmadiyya Muslim Jamaat in der Bundesrepublik Deutschland e.V. Islamische Religion wird hier allerdings nur bis zur Jahrgangsstufe 6 unterrichtet.5 Im April teilte das Kultusministerium Hessen in seiner Pressemitteilung mit, dass ab dem Schuljahr 2020/21 die Zusammenarbeit mit DITIB ausgesetzt wird. »Dies bedeutet, dass ab dem neuen Schuljahr 2020/2021 der fragliche Religionsunterricht bis auf Weiteres nicht mehr erteilt wird; eine diesbezügliche Kooperation mit DITIB Hessen findet nicht mehr statt.«6 Dies berührt nicht den islamischen Religionsunterricht, der in Kooperation mit der Ahmadiyya Muslim Jamaat stattfindet. Grund für diese Entscheidung sind die Konsequenzen aus den drei Gutachten von Prof. Dr. Rohe (islamwissenschaftlich), Dr. Seufert (turkologisch) und Prof. Dr. Isensee (verfassungsrechtlich). Der amtierende Kultusminister Lorz habe diese Entscheidung getroffen, weil »die Zweifel an der Erfüllung der notwendigen Kriterien durch DITIB Hessen weiterhin nicht im notwendigen Maße ausgeräumt werden konnten. Aus heutiger Sicht ist auch 4 In Niedersachsen hat sich am 26. Januar 2019 ein weiterer Landesverband mit elf Moscheegemeinden gegründet, der sich Muslime in Niedersachsen nennt und unabhängig von den Herkunftsländern der Muslime agieren will. Auch dieser Verband hat angekündigt, als Kooperationspartner für den islamischen Religionsunterricht zur Verfügung stehen zu wollen. Vgl. www.islamische-zeitung.de/land-niedersachsen-begruesst-gruendung-eines-neuen-islam -verbands (Abruf: 5. 6. 2020). 5 Kultusministerium Hessen, www.kultusministerium.hessen.de/schulsystem/religionsunterri cht/bekenntnisorientierter-islamischer-religionsunterricht (Abruf: 5. 6. 2020). 6 Kultusministerium Hessen, www.kultusministerium.hessen.de/presse/pressemitteilung/isla mischer-religionsunterricht-zusammenarbeit-mit-ditib-hessen-wird-ab-dem-kommenden-s chuljahr (Abruf: 5. 6. 2020).

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nicht zu erwarten, dass die Defizite in absehbarer Zeit beseitigt werden können. Dies betrifft insbesondere die Frage der hinreichenden Unabhängigkeit DITIB Hessens vom türkischen Staat. Aufgrund dieser ungünstigen Prognose lässt sich der DITIB-HessenReligionsunterricht bis auf Weiteres nicht mehr fortsetzen. Der Gesprächsfaden mit DITIB Hessen bleibt grundsätzlich erhalten; künftige Gespräche werden aber – anders als bisher – außerhalb eines aktiven Kooperationsverhältnisses stattfinden«.7

Mit der Entscheidung, die Zusammenarbeit auszusetzen, soll signalisiert werden, sie zu einem späteren Zeitpunkt – bei veränderten Bedingungen – wieder aufnehmen zu können. Dass dies allerdings nicht wirklich erwartet wird, zeigt die Planung, ab dem kommenden Schuljahr mit dem Schulversuch für »Islamunterricht« zu beginnen – einem Angebot, welches allein in staatlicher Verantwortung liegt, ohne die Beteiligung der Religionsgemeinschaften. Der bisherige islamische Religionsunterricht wird dann in einen staatlichen religionskundlichen Unterricht umgewandelt und auf die Jahrgangsstufe 8 ausgeweitet.8 Dass dieser Entscheidung nicht die Erwartungshaltung kurzfristiger Änderungen der Rahmenbedingungen zugrunde liegt, wird sichtbar, wenn man beachtet, dass alle Kerncurricula überarbeitet, evaluiert und für rechtsverbindlich erklärt werden müssen, dass zudem alle Lehrkräfte umgeschult werden müssen, Lehramtsstudiengänge und Ausbildungsinhalte für den Vorbereitungsdienst angepasst werden müssen und natürlich auch alle Eltern und Schulen in Kenntnis gesetzt werden müssen über das neue Modell »Islamkunde«.

Berlin In Berlin wird islamischer Religionsunterricht auf freiwilliger Basis als zusätzlicher Unterricht seitens der Islamischen Förderung angeboten. Die Unterrichtsinhalte der sogenannten ›Rahmenlehrpläne‹ werden von den Religionsgemeinschaften bestimmt, müssen aber seitens des Staates genehmigt werden.9

7 Ebd. 8 Ebd. 9 Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Familie Berlin, »Fächer, Rahmenlehrpläne: Religion«, www.berlin.de/sen/bildung/unterricht/faecher-rahmenlehrplaene/religion (Abruf: 5. 6. 2020).

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Nordrhein-Westfalen Auch in diesem Bundesland ist der Modellversuch, der 2012 begonnen wurde, nicht wie geplant 2019 problemlos in ein grundständiges Unterrichtsfach übergegangen. Stattdessen wurde das Modellprojekt bis zum 31. Juli 2025 verlängert. Brisant ist diese Entscheidung insofern, als es nun keinen Beirat mehr in NRW gibt, der bisher als Übergangslösung fungierte mit dem Ausblick, dass die Verbände als Religionsgemeinschaften anerkannt würden. Dies ist auch hier durch die Bewertung von DITIB in weitere Ferne gerückt. Das Beiratsmodell wurde ersetzt durch eine Kommission, die »gegenüber dem Ministerium die Anliegen und die Interessen der islamischen Organisationen bei der Durchführung des islamischen Religionsunterrichts als ordentliches Unterrichtsfach«10 vertritt, wobei ablehnende Beschlüsse »nur aus theologischen Gründen zulässig und dem Ministerium schriftlich darzulegen«11 sind. Jede islamische Organisation kann nun eine theologisch oder religionspädagogisch qualifizierte Person in die Kommission entsenden; jedes Mitglied in der Kommission hat eine Stimme. Da die Kommission ihre Beschlüsse mit der Mehrheit der Zahl der Mitglieder fasst, bleibt die offene Frage, inwieweit hier tatsächlich die Stimmen der Muslime angemessen Beachtung finden. Im Gesetz zum islamischen Religionsunterricht als ordentliches Lehrfach (14.Schulrechtsänderungsgesetz) vom 2.Juli 2019 gibt es keinen Hinweis, inwieweit Stimmrechte den Mitgliederzahlen der einzelnen islamischen Organisationen entsprechen. Dies wurde in mehreren Gutachten und Stellungnahmen islamischer Organisationen kritisiert, wie etwa seitens des Koordinierungsrates der Muslime12 oder auch des Aktionsbündnisses muslimischer Frauen13. Auch die Akademie für Islam in Wissenschaft und Gesellschaft (AIWG) hat sich in einem Gutachten dazu dezidiert geäußert: »Gleichzeitig ist davor zu warnen, das Kommissions-Modell als Instrument zu verstehen, eine politisch gewünschte Liberalisierung des Islams zu forcieren. (…) Sollte das vorgesehene gleichberechtigte Stimmrecht aller islamischen Organisationen in der Kommission darauf abzielen, liberale (kleine) mit traditionellen (großen) islamischen Organisationen gleichzustellen, entspräche dies nicht den Verhältnissen der bestehenden Gemeindestrukturen in Nordrhein-Westfalen. (…) Eine fehlende Gewichtung

10 Nordrheinwestfalen, »Gesetz- und Verordnungsblatt (GV.NRW)«, Ausgabe 2019 Nr.14 (16. 7. 2019), S. 299–342, www.recht.nrw.de/lmi/owa/br_vbl_detail_text?print=1&anw_nr=6&val= &ver=0&vd_id=17857&keyword= (Abruf: 5. 6. 2020). 11 Ebd. 12 Vgl. Migazin, »Muslime gegen Kommissionsmodell zum islamischen Religionsunterricht« (29. 5. 2019), www.migazin.de/2019/05/29/muslime-gegen-kommissionsmodell-zum-islamis chen-religionsunterricht (Abruf: 5. 6. 2020). 13 Die Verfasserin hat an der nichtöffentlichen Stellungnahme des AMF mitgewirkt.

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dieser Vertretungsrealität in einer Kommission sollte aus religionsrechtlicher Perspektive eingehend bewertet werden.«14

Rheinland-Pfalz Seit 2004 gibt es eine modellhafte Erprobung des islamischen Religionsunterrichts in der Primarstufe und in der Sekundarstufe I. Ziel ist ein dem evangelischen und katholischen Unterricht gleichgesetzter Religionsunterricht, der aber solange einen Modellcharakter hat, bis es einen legitimierten Ansprechpartner im Sinne einer Religionsgemeinschaft gibt. Bis dahin »bleibt es eine modellhafte Erprobung mit lokalen muslimischen Ansprechpartnern«15.

Saarland Der Modellversuch Islamischer Religionsunterricht im Saarland hat mit dem Schuljahr 2015/2016 an ausgewählten Grundschulen begonnen, ist momentan allerdings nur auf wenige Schulen im Primarbereich ausgelegt. Auch im Saarland wird dies als »bekenntnisorientierter Religionsunterricht« bezeichnet, der mit islamischen Verbänden und Vereinen vor Ort kooperiert.16 Das Saarland hat sein Modellprojekt 2019 um vier Jahre verlängert und möchte es schrittweise auf mehr Grundschulen ausweiten.17

14 Akademie für Islam in Wissenschaft und Gesellschaft, Stellungnahme zum Gesetzentwurf der Fraktion der CDU und der Fraktion der FDP im Landtag Nordrhein-Westfalen für ein Gesetz zum islamischen Religionsunterricht als ordentliches Lehrfach (14. Schulrechtsänderungsgesetz), Drucksache 17/5638 sowie zum Gesetzentwurf der Fraktion der SPD im Landtag Nordrhein- Westfalen, Gesetzentwurf für ein Gesetz zur Verlängerung des islamischen Religionsunterrichts als ordentliches Lehrfach (14. Schulrechtsänderungsgesetz), Drucksache 17/ 5618, S. 6–7. 15 Rheinland-Pfalz, Bildungsserver Rheinland-Pfalz, »Erprobungen zum Islamischen Religionsunterricht«, www.religion.bildung-rp.de/islamischer-religionsunterricht-erprobung.html (Abruf: 5. 6. 2020). 16 Landesinstitut für Pädagogik und Medien Saarland, www.lpm.uni-sb.de/typo3/index.php?id =867&no_cache=1 (Abruf: 5. 6. 2020). 17 Mediendienst Integration, Religion an Schulen, S. 4.

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Baden-Württemberg Auch der islamische Religionsunterricht sunnitischer Prägung in Baden-Württemberg ist ein Modellprojekt, welches 2006/07 gestartet wurde. Das bisherige Modellprojekt wurde 2019 weiterentwickelt und nun bis 2025 befristet.18 Dafür wurde im August 2019 eine Stiftung gegründet, die als Trägerin eine rechtssichere Basis für den Religionsunterricht garantieren soll. Die beiden islamischen Verbände Landesverband der islamischen Kulturzentren Baden-Württemberg und die Islamische Gemeinschaft der Bosniaken wirken in der Stiftung mit.19 Die Stiftung setzt sich aus einem Vorstand und einer Schiedskommission zusammen und hat rechtlich wie theologisch ähnliche Befugnisse wie die Beiräte bzw. Kommissionen anderer Bundesländer.

Bayern »An Bayerns Schulen soll der Islamunterricht als ›staatlich kontrollierte Aufklärung‹ islamistischer Propaganda vorbeugen. Das sagte Ministerpräsident Horst Seehofer in Wildbad Kreuth. Der Islamunterricht sei ein Beitrag zur Integration und überall hoch anerkannt. ›Es geht nicht um klassischen Religionsunterricht, sondern um staatlich kontrollierte Aufklärung, damit sie nicht in falschen Händen stattfindet‹, erklärte Seehofer.«20

Dieses Zitat zeigt deutlich, wie unterschiedlich die Auffassungen über den Sinn und Zweck islamischen Religionsunterrichts sein können. Bereits seit 2003 findet in Bayern ein Modellversuch für islamischen Religionsunterricht statt. Begonnen hatte er als Islamische Unterweisung in deutscher Sprache und als Islamunterricht nach dem Erlanger Modell, diese Modelle wurden dann 2009/10 beendet und gingen über in ein neues Konzept unter dem Namen Islamischer Unterricht.21 Nach mehreren Verlängerungen wurde es bis 2021 verlängert, um es in ein Wahlpflichtfach umzuwandeln.22 18 Baden-Württemberg, »Pressemitteilung« (16. 7. 2019), www.baden-wuerttemberg.de/de/ser vice/presse/pressemitteilung/pid/islamischer-religionsunterricht-sunnitischer-praegung-er haelt-rechtssichere-basis (Abruf: 5. 6. 2020). 19 Ebd. 20 Bayerisches Kultusministerium, »Bayern geht beim Islamunterricht seinen eigenen Weg weiter« (21. 1. 2015), www.km.bayern.de/eltern/meldung/3200/bayern-geht-beim-islamunter richt-seinen-eigenen-weg-weiter.html (Abruf: 5.6.20). 21 Doris Holzberger/Staatsinstitut für Schulqualität und Bildungsforschung München, Evaluation des Modellversuchs ›Islamischer Unterricht‹. Bericht zur Datenerhebung im Schuljahr 2013/14, München 2014, S. 6. 22 Bayerische Landesregierung, »Pressemitteilung« (26. 3. 2019), www.bayern.de/bericht-aus-de r-kabinettssitzung-vom-26-maerz-2019/?seite=1579#3 (Abruf: 5. 6. 2020).

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Schleswig-Holstein Das Bundesland bietet Islamunterricht in staatlicher Verantwortung an einigen wenigen Grundschulen an, die islamischen Verbände oder Vereine sind nicht daran beteiligt. Es bezeichnet diesen Unterricht dezidiert nicht als ›islamischen Religionsunterricht‹.23

Hamburg und Bremen In diesen beiden Bundesländern gibt es keinen islamischen Religionsunterricht, sondern konfessionsübergreifenden Religionsunterricht, an dem Lernende aller Religionen und Glaubensrichtungen teilnehmen. Das sog. »Hamburger Modell« sieht vor, den Religionsunterricht dialogisch interreligiös mit Beteiligung verschiedener Religionsgemeinschaften anzubieten.24 In allen anderen Bundesländern wird bislang kein islamischer Religionsunterricht erteilt.

2.

Niedersachsen – Ein Beispiel für die Entwicklung des neuen Faches Islamische Religion

Wie der Überblick über die verschiedenen Modelle und Entwicklungen zeigt, ist Niedersachsen momentan das einzige Bundesland, in dem das Fach Islamische Religion ordentliches Unterrichtsfach ist und nicht in befristeten Modellprojekten erprobt wird. Mit der Entscheidung für die Einführung als ordentliches Unterrichtsfach sind auch Maßnahmen verbunden, die eine nachhaltige Entwicklung und Verstetigung des Faches unterstützen. Die ersten Lehrkräfte, die dieses Fach unterrichten, sind ursprünglich Lehrkräfte für muttersprachlichen Unterricht (türkisch und arabisch), die sich bereiterklärt haben, an dem Modellunterricht mitzuwirken. Parallel zu ihrem Unterricht sind sie während des zehnjährigen Modellversuches in Niedersachsen weitergebildet worden. Erst mit Beschluss der regulären Einführung des Faches gab es die Möglichkeit für muslimische Lehrkräfte anderer Fächer, berufsbegleitend am Institut für Islamische Theologie der Universität Osnabrück das Fach Islamische Religion zu studieren. Der größte Teil der Lehrkräfte in Niedersach-

23 Schleswig-Holstein, »Religionsunterricht« (ohne Datum), www.schleswig-holstein.de/DE/F achinhalte/S/schule_und_unterricht/religionsunterricht.html (Abruf: 5. 6. 2020). 24 Mediendienst Integration, Religion an Schulen, S. 4.

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sen stammt aber bis jetzt aus den Weiterbildungsmaßnahmen der Modellversuchsphase.

Referendariat und Quereinstieg für das Fach Die Einrichtung des grundlegenden Studienganges für das Fach Islamische Religion am IIT der Universität Osnabrück ist mit der Konsequenz verbunden, auch ein Fachseminar in einem Studienseminar anzubieten, um den Abschluss eines Referendariats zu gewährleisten. Dieses ist mittlerweile im Studienseminar II für Grund- und Hauptschulen in Hannover angesiedelt und kooperiert mit Studienseminaren in anderen Städten, um zukünftigen Lehrkräften das Referendariat oder den Quereinstieg zu ermöglichen. Für die betreffenden zukünftigen Religionslehrkräfte ist das eine besondere Herausforderung: Sie müssen in der Schule das Fach neu einführen und im Kollegium ›verteidigen‹, ohne auf ausgereifte, grundlegend erarbeitete und strukturell verfügbare Fachdidaktik zurückgreifen zu können. Die vorhandene Literatur ist sehr überschaubar, auch können erfahrene Lehrende noch nicht genügend Unterstützung leisten. Es gibt bislang nur wenig nutzbares Material, geschweige denn Unterrichtsvorschläge oder ausgearbeitete Unterrichtssequenzen, die tatsächlich zu einem Lernzuwachs bei den Schülerinnen und Schüler in den Lerngruppen führen.

Kommissionen für die Kerncurricula des Faches Seitens des Kultusministeriums Niedersachsen werden zur Erstellung der Kerncurricula Kommissionen eingerichtet, die innerhalb von ca. zwei Jahren ein Kerncurriculum für die jeweilige Schulstufe erstellen. Berufen werden dazu ausgebildete Lehrkräfte für das Fach, theologische Expertinnen oder Experten und Lehrkräfte bzw. Fachberatungen aus der christlichen Religionspädagogik. Dabei ist anzumerken, dass die Expertise der Lehrkräfte aus der christlichen Religionspädagogik vor allem für didaktische Fragestellungen hilfreich ist; Entscheidungen zu theologischen Fragestellungen werden von den muslimischen Beteiligten getroffen. Zusätzlich ist ein Mitglied des Schulelternrates anwesend und auch ein Mitglied, welches vom Beirat für das Fach Islamische Religion für diese Kommission benannt wurde. Auch die Erstellung des Kerncurriculums ist eine Herausforderung: Zwar sind die Gegenstandsbereiche islamischer Theologie die inhaltliche Grundlage, aber für fachdidaktische Fragestellungen etwa nach der Eignung bisheriger Kompetenzmodelle, nach dem Umgang mit religiösem, gesellschaftlichem und individuellem Normverständnis, nach dem Raum für die arabische Sprache und nach dem tatsächlichen Lebensweltbezug muslimischer

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Schülerinnen und Schüler gibt es bislang nur ansatzweise erste bildungstheoretische Überlegungen. Mit der Fertigstellung eines Kerncurriculums beginnt ein demokratischer Prozess der Transparenz. In einem festgelegten Zeitraum wird das Kerncurriculum veröffentlicht, so dass jeder und jede – egal ob Privatperson oder Institution – dazu Stellung nehmen kann; auch der Beirat erhält die Möglichkeit der Stellungnahme aus theologischer Sicht. Nach Ablauf dieser Frist werden alle Rückmeldungen entweder eingearbeitet oder begründet abgelehnt. Erst nach diesem Prozess gelangt der Entwurf zu einer Anhörung in den Landtag und wird rechtswirksam, wenn der Landtag ihm zugestimmt hat. Diese Möglichkeit der Rückmeldung wird intensiv genutzt, doch nicht immer ist sie respektvoll und angemessen.25

Kommissionen für Unterrichtsmaterial für das Fach Bislang gibt es nur ein geringes Angebot an Lehrwerken und Unterrichtsmaterial für das Fach Islamische Religion, von denen wiederum nur wenige für den Unterricht in Niedersachsen zugelassen sind.26 In Folge dessen hat das Kultusministerium Niedersachsen eine Kommission27 aus erfahrenen Lehrkräften eingerichtet, die Materialbände28 für die Sekundarstufe I erstellen. Die Materialien orientieren sich an dem Kerncurriculum und sind sofort anwendbar. Bislang wurden Unterrichtssequenzen von Jahrgang 5 bis Jahrgang 9 erstellt. Die Fertigstellung für Jahrgang 10 ist zum Ende des Jahres 2020 geplant. Die Materialien sind in Unterrichtssequenzen eingebettet, die vor allem für die höheren Jahrgänge komplett ausgearbeitet sind; sie umfassen auch einen Methodenpool und Beispiele für Leistungsüberprüfungen. Die Themen umfassen beispielsweise folgende Schwerpunkte: – Ich, du, wir alle im Religionsunterricht, – Zu Allah beten – mit Allah sprechen, – Koran und Sunna als Quellen im Islam, – Sunniten und Schiiten – Entstehung, Gemeinsamkeiten und Unterschiede, – Wie gehen Mädchen und Jungen oder Frauen und Männer wertschätzend miteinander um?, 25 Die Verfasserin ist Mitglied aller Kommissionen für die Kerncurricula und hat an allen KCs aller Schulstufen mitgearbeitet. 26 Alle zugelassenen Lehrwerke für Niedersachsen können hier abgerufen werden: Niedersächsisches Schulbuchverzeichnis, www.book4school.de (Abruf: 5. 6. 2020). 27 Die Verfasserin ist Mitglied dieser Kommission. 28 Die Materialien können hier heruntergeladen werden: Bildungsportal Niedersachsen, www. nibis.de/islamische-religion-im-sekundarbereich-i_7065 (Abruf: 5. 6. 2020).

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Überlieferung und Kategorisierung von Hadithen, Leben und Tod, Ungewollt schwanger, Juden und Muslime.

Mit der Fertigstellung des Kerncurriculums für den Sekundarstufenbereich II ist eine weitere Kommission eingerichtet worden, die eine Text- und Quellensammlung erarbeitet, um Material für wissenschaftspropädeutisches Arbeiten in der Abiturstufe zugänglich zu machen.

Landeskoordination für das Netzwerk der Lehrkräfte für das Fach islamische Religion 2016 wurde die Landeskoordination für das Netzwerk der Lehrkräfte für das Fach islamische Religion in Niedersachsen eingerichtet, um die Lehrkräfte miteinander zu vernetzen und ihnen Möglichkeiten der Weiterbildung anzubieten. Da die Lehrkräfte in ihren Schulen jeweils allein für das Fach zuständig sind und sich nicht austauschen können, werden mehrmals im Schuljahr Dienstbesprechungen für die Lehrkräfte angeboten, die für fachdidaktische Weiterbildungen genutzt werden und als Möglichkeit für Beratung und Information. Die Landeskoordination ist als Ansprechstelle für Schulleitungen, Dezernenten, Fachmoderatoren anderer Religionen, Institutionen und Lehrkräfte gedacht, die Beratungsbedarf für das Fach haben. Gemeinsam mit dem Niedersächsischen Landesinstitut für Qualitätsentwicklung werden auch Fortbildungsangebote entwickelt und durchgeführt.

Fort- und Weiterbildungen für das Fach Einmal im Jahr wird eine dreitägige Fortbildung angeboten, die einen religionspädagogischen Schwerpunkt aufgreift und theologisch-fachdidaktisch sowie konkret-praktisch erarbeitet. Für eine nachhaltige Sicherung werden die seitens der Lehrkräfte erarbeiteten Ergebnisse der Fortbildung in Broschüren veröffentlicht und somit allen Lehrkräften zur Verfügung gestellt. Schwerpunkte bisheriger Fortbildungen waren: – Entwicklung kompetenzorientierter Jahresarbeitspläne für das Fach Islamische Religion, – Anforderungssituationen im islamischen Religionsunterricht, – Spiele für den islamischen Religionsunterricht, – Bodenbilder im islamischen Religionsunterricht,

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– Umgang mit der Heterogenität Lernender im Fach Islamische Religion. Seitens der Lehrkräfte werden die Fortbildungen sehr engagiert und interessiert angenommen und besucht, was deutlich zeigt, dass kontinuierlich Bedarf für die kollegiale Vernetzung miteinander und eine qualitative inhaltliche Weiterentwicklung besteht.

3.

Erste fachwissenschaftliche Ansätze für islamischen Religionsunterricht und zukünftige Entwicklungen

Viele Diskussionen und Überlegungen der letzten Jahrzehnte galten den Fragen, welchen Anspruch Muslime auf islamischen Religionsunterricht haben und wie er politisch verantwortet und juristisch ausgestaltet werden kann. Dabei wurde bedauerlicherweise die Frage nach der bildungstheoretischen Grundlegung29 vernachlässigt. In den letzten Jahren sind erste Dissertationen geschrieben worden, die beginnende Beiträge dafür bilden können: Jörg Ballnus30 setzt sich in seiner Dissertation Text und Performanz: Eine Didaktik des Gebets im islamischen Religionsunterricht zwischen Normativität und Spiritualität mit der Frage auseinander, inwieweit das rituelle Gebet (sala¯t) im islamischen Religionsun˙ terricht zwischen normativen und spirituellen Ansprüchen im schulischen Unterricht gewinnbringend für die Lernenden thematisiert werden kann. Fahimah Ulfat31 benennt in ihrer Arbeit Die Selbstrelationierung muslimischer Kinder zu Gott – Eine empirische Studie über die Gottesbeziehungen muslimischer Kinder als reflexiver Beitrag zur Didaktik des islamischen Religionsunterrichts das Ziel, »junge Gläubige auf ein Leben in einer religiös pluralen Gesellschaft vorzubereiten, in der die individuelle Gottesbeziehung und die Reflexivität der eigenen Religion eine entscheidende Voraussetzung zur Verhinderung von Radikalisierung und moralischer Rigidität darstellen.«32

29 Einen guten Überblick über erste religionspädagogische Positionen bietet Riem Spielhaus in ihrem Aufsatz »Der Umgang mit innerreligiöser Vielfalt im islamischen Religionsunterricht in Deutschland und seinen Schulbüchern«, in: Schulbuch und religiöse Vielfalt, Schriftenreihe des Georg-Eckert-Instituts zur internationalen Bildungsmedienforschung, hrsg. von Zrinka Sˇtimac und Riem Spielhaus, Göttingen 2018, S. 93–116, hier S. 93–116. 30 Jörg Ballnus, Text und Performanz: Eine Didaktik des Gebets im islamischen Religionsunterricht zwischen Normativität und Spiritualität, Frankfurt am Main 2016. 31 Fahimah Ulfat, Die Selbstrelationierung muslimischer Kinder zu Gott – Eine empirische Studie über die Gottesbeziehungen muslimischer Kinder als reflexiver Beitrag zur Didaktik des islamischen Religionsunterrichts, Paderborn 2017. 32 Spielhaus, »Der Umgang mit innerreligiöser Vielfalt«, S. 103.

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In ihrer Arbeit Die Bedeutung des Gesandten Muhammad für den islamischen Religionsunterricht setzt sich Tuba Is¸ık33 mit der Frage nach Vorstellungen, Rolle und Eignung des Propheten Muhammad als Orientierung individueller Identitätsentwicklung innerhalb des islamischen Religionsunterrichts auseinander. Diese ersten Beiträge sind ein anerkennungswürdiger Teil einer beginnenden islamischen Religionspädagogik in Deutschland. Aber abgesehen vom Gegenstandsbereich interreligiöser Religionspädagogik ist die Anschlussfähigkeit an christliche religionspädagogisch-fachdidaktische Diskurse noch nicht gegeben. Es fehlt an einer klaren, wissenschaftlich begründeten Ausdefinierung von Wissensinhalten und Kompetenzen, die im Lernraum Schule angeeignet werden sollten. Islamische Religionspädagogik muss sich als eigene Wissenschaft begreifen, deren Profil sich nicht nur auf den Anwendungsbereich Schule bezieht, sondern auch auf außerschulische Kontexte und gemeindepädagogische Perspektiven. Ausgehend von den Grundlagen und Gegenstandsbereichen islamischer Theologie und Geschichte muss eine Verortung innerhalb deutscher (historischer, gesellschaftlicher, wissenschaftlicher und weiterer) Rahmenbedingungen erfolgen in begründeter Wechselwirkung, Kooperation oder Abgrenzung mit anderen wissenschaftlichen Domänen. Desiderate, die hier exemplarisch benannt werden können, sind: – konzeptuelle Formgebung einer genuin islamischen Religionspädagogik und -didaktik in Deutschland, abgeleitet aus eigenen theologischen Begründungen und dem islamisch-ethischen Verständnis von Bildung, Lehre und Wissenschaft, – tragfähige Konzepte einer theologisch wie pädagogisch angemessenen Korandidaktik, – Überprüfung und Evaluierung religionspädagogischer Konzepte und Konstrukte der christlichen Religionspädagogik im Hinblick auf ihre Eignung für den islamischen Religionsunterricht, – Konzepte einer religionssensiblen Schulkultur auch im Kontext der Fragen nach dem Gebet in der Schule oder einem Raum der Stille, die alltagspraktisch realisierbar sind, – Überlegungen zum wachsenden Phänomen einer religionsdistanzierten Schülerschaft, – Ausarbeitung des lernförderlichen und angemessenen Umgangs mit arabischer Schrift und Sprache im islamischen Religionsunterricht im Lernraum Schule,

33 Tuba Is¸ık, Die Bedeutung des Gesandten Muhammad für den islamischen Religionsunterricht, Paderborn 2016.

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– Evaluationen zur tatsächlichen Lebenswelt und damit zum tatsächlichen Religionsverständnis muslimischer Schülerinnen und Schüler in Deutschland, – fachdidaktische Erschließungen lebensrelevanter, kritischer Themen für die Lernenden,34 – Überlegungen zum Umgang mit Orthopraxie und Normverständnis innerhalb des Faches Islamische Religion. Die genannten Schwerpunkte werfen ein Spotlight auf die Binnenperspektive der vielfältigen Anfragen, die die islamische Religionspädagogik in den nächsten Jahren bestenfalls beantworten, zumindest aber bearbeiten muss, wenn dieses Fach innerhalb aller anderen Fächer im öffentlichen Bildungssystem in den kommenden Jahren ernstgenommen werden soll. Dabei muss kritisch aufgezeigt werden, dass gesellschaftlich-politische Diskussionen über die Akzeptanz und das Modell des islamischen Religionsunterrichts sicherlich geführt werden müssen, aber nicht ablenken dürfen von der Notwendigkeit, fachwissenschaftlich überzeugende Konzepte und Grundlagen zu entwickeln, die für die muslimischen Schülerinnen und Schüler dem Anspruch gerecht werden, lebensweltliche Orientierung anzubieten. Denn sie sind es, die im Mittelpunkt aller Bemühungen stehen sollten; sie benötigen Instrumente, um religiöse Fragen oder Sinnfragen des Lebens tatsächlich überzeugend für sich beantworten zu können. Islamischer Religionsunterricht reiht sich ein in die Palette anderer, vor allen Dingen christlicher Religionsunterrichte und steht natürlich im Austausch mit vorhandenen Konzepten und Modellen sowie Überlegungen allgemein zur Frage nach Sinn und Zweck von Religionsunterricht. Ein kritisch-konstruktiver Austausch lebt von Wertschätzung und Dialog auf Augenhöhe, dieser findet aber nur dann statt, wenn vorhandene Dominanzstrukturen durch (gesellschaftliche, religiöse oder politische) Veranstalter interreligiöser Veranstaltungen aufgebrochen werden, indem muslimische Gesprächspartner:innen aufgrund ihrer wissenschaftlichen Expertise eingeladen werden und nicht aufgrund ihrer vermeintlich kritischen oder revolutionären Haltung zu einer Sachfrage, die dann aber weder einer tiefergehenden wissenschaftlichen Überprüfung standhält, noch in der muslimischen Community Akzeptanz findet. Dazu gehört auch ein erweiterter Perspektivenwechsel auf kooperatives, gemeinsames Arbeiten. Es schadet dem Vertrauen in kooperative Strukturen enorm, wenn seitens der Muslime wiederholt Erfahrungen gemacht werden, dass mit der einseitigen Auswahl von Referenten, Vorbildern und Ansprechpartnern der Diskurs zu Fragen zum Islam beeinflusst werden soll. Es ist ein erheblicher qualitativer Unterschied zwischen dem Anspruch, auf fachwis34 Das können etwa Genderfragen sein, Fragen nach dem Umgang mit Homosexualität oder zum Spannungsfeld Juden und Muslime.

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senschaftlicher Ebene zu streiten oder auf gesellschaftlich-politischer Ebene zu polarisieren. Ebenso ist es für den fachwissenschaftlichen Austausch und die kooperative Arbeit notwendig, von christlicher Seite den islamischen Religionsunterricht mitzudenken, Definitionen gemeinsam genutzter Begrifflichkeiten zu klären und diese gegebenenfalls zu präzisieren. Die Sensibilität für ein unterschiedliches Verständnis, eine verschiedene Wahrnehmung und Gewichtung von Wahrheit, Religion, Glaube, Spiritualität, Norm und Gottesbezug – um nur einige Begriffe zu nennen – ist Voraussetzung für ein gegenseitiges Verstehen. Die Konsequenz daraus ist eine sachorientierte, kritisch-konstruktive und wertschätzende Kommunikation, die alle Seiten nicht nur fachwissenschaftlich bereichert.

Literatur Akademie für Islam in Wissenschaft und Gesellschaft, Stellungnahme zum Gesetzentwurf der Fraktion der CDU und der Fraktion der FDP im Landtag Nordrhein-Westfalen für ein Gesetz zum islamischen Religionsunterricht als ordentliches Lehrfach (14. Schulrechtsänderungsgesetz), Drucksache 17/5638. Baden-Württemberg, »Pressemitteilung« (16. 7. 2019), www.baden-wuerttemberg.de/de/se rvice/presse/pressemitteilung/pid/islamischer-religionsunterricht-sunnitischer-praeg ung-erhaelt-rechtssichere-basis (Abruf: 5. 6. 2020). Ballnus, Jörg, Text und Performanz: Eine Didaktik des Gebets im islamischen Religionsunterricht zwischen Normativität und Spiritualität, Frankfurt am Main 2016. Bayerisches Kultusministerium, »Bayern geht beim Islamunterricht seinen eigenen Weg weiter« (21. 1. 2015), www.km.bayern.de/eltern/meldung/3200/bayern-geht-beim-islam unterricht-seinen-eigenen-weg-weiter.html (Abruf: 5. 6. 2020). Bayerische Landesregierung, »Pressemitteilung« (26. 3. 2019), www.bayern.de/bericht-au s-der-kabinettssitzung-vom-26-maerz-2019/?seite=1579#3 (Abruf: 5. 6. 2020). Beirat für den Islamischen Religionsunterricht in Niedersachsen, »Der Beirat«, www.beira t-iru-n.de/der-beirat (Abruf: 5. 6. 2020). Berliner Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Familie, »Fächer, Rahmenlehrpläne: Religion«, www.berlin.de/sen/bildung/unterricht/faecher-rahmenlehrplaene/religion (Abruf: 5. 6. 2020). Bildungsportal Niedersachsen, www.nibis.de/islamische-religion-im-sekundarbereich-i_ 7065 (Abruf: 5. 6. 2020). Holzberger, Doris/Staatsinstitut für Schulqualität und Bildungsforschung München, Evaluation des Modellversuchs ›Islamischer Unterricht‹. Bericht zur Datenerhebung im Schuljahr 2013/14, München 2014. Is¸ık, Tuba, Die Bedeutung des Gesandten Muhammad für den islamischen Religionsunterricht, Paderborn 2016. KNA, www.islamische-zeitung.de/land-niedersachsen-begruesst-gruendung-eines-neuen -islam-verbands (Abruf: 5. 6. 2020).

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Kultusministerium Hessen, www.kultusministerium.hessen.de/presse/pressemitteilung/is lamischer-religionsunterricht-zusammenarbeit-mit-ditib-hessen-wird-ab-dem-komm enden-schuljahr (Abruf: 5. 6. 2020). Kultusministerium Hessen, www.kultusministerium.hessen.de/schulsystem/religionsunte rricht/bekenntnisorientierter-islamischer-religionsunterricht (Abruf: 5. 6. 2020). Landesinstitut für Pädagogik und Medien Saarland, www.lpm.uni-sb.de/typo3/index.php? id=867&no_cache=1 (Abruf: 5. 6. 2020). Mediendienst Integration, Religion an Schulen, Islamischer Religionsunterricht in Deutschland (Mai 2020). Migazin, »Muslime gegen Kommissionsmodell zum islamischen Religionsunterricht« (29. 05. 2019), www.migazin.de/2019/05/29/muslime-gegen-kommissionsmodell-zum-i slamischen-religionsunterricht (Abruf: 5. 6. 2020). Niedersächsisches Schulbuchverzeichnis, www.book4school.de (Abruf: 5. 6. 2020). Nordrheinwestfalen, »Gesetz- und Verordnungsblatt (GV. NRW)«, Ausgabe 2019 Nr. 14 (16. 7. 2019), S. 299–342, www.recht.nrw.de/lmi/owa/br_vbl_detail_text?print=1&anw_ nr=6&val=&ver=0&vd_id=17857&keyword= (Abruf: 5. 6. 2020). Rheinland-Pfalz, Bildungsserver Rheinland-Pfalz, »Erprobungen zum Islamischen Religionsunterricht«, www.religion.bildung-rp.de/islamischer-religionsunterricht-erprob ung.html (Abruf: 5. 6. 2020). Schleswig-Holstein, »Religionsunterricht«, www.schleswig-holstein.de/DE/Fachinhalte/S/ schule_und_unterricht/religionsunterricht.html (Abruf: 5. 6. 2020). SPD-Fraktion Landtag Nordrhein-Westfalen, Gesetzentwurf für ein Gesetz zur Verlängerung des islamischen Religionsunterrichts als ordentliches Lehrfach (14. Schulrechtsänderungsgesetz), Drucksache 17/5618, S. 6–7. Spielhaus, Riem, »Der Umgang mit innerreligiöser Vielfalt im islamischen Religionsunterricht in Deutschland und seinen Schulbüchern«, in: Schulbuch und religiöse Vielfalt, Schriftenreihe des Georg-Eckert-Instituts zur internationalen Bildungsmedienforschung, hrsg. von Zrinka Sˇtimac und Riem Spielhaus, Göttingen 2018, S. 93–116. Ulfat, Fahimah, Die Selbstrelationierung muslimischer Kinder zu Gott – Eine empirische Studie über die Gottesbeziehungen muslimischer Kinder als reflexiver Beitrag zur Didaktik des islamischen Religionsunterrichts, Paderborn 2017.

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Judentum, Religionsunterricht und der deutsche Staat

1.

Autonomie der traditionalen jüdischen Gemeinschaft

Der deutsche Staat interessierte sich für Themen wie jüdische Bildung oder die Ausbildung von Lehrern und Rabbinern vor der Aufklärung – also vor Ende des 18. Jahrhunderts – nicht.1 Allenfalls wünschte sich der Staat einen religiösen Ansprechpartner, und so gab es in einzelnen Territorien einen »Landesrabbiner«, der den lokalen Rabbinern übergeordnet war, etwa für das damals österreichische Mähren in Nikolsburg/Mikulov nach 1653.2 Österreich machte den Auftakt mit den Toleranzpatenten für die verschiedenen Provinzen, die auch für Juden formuliert wurden. So findet sich im Toleranzpatent für die böhmischen Juden des Jahres 1781 die Bestimmung, dass ein Rabbiner an einer Landesuniversität studiert haben müsse, und in Vorderösterreich gab es Pläne, die Juden über modern ausgebildete Lehrer und moderne »Normalschulen« (= Lehrerseminare) sowie eine Modernisierung des jüdischen Schulwesens »aufzuklären«.3 Doch es war die Privatinitiative eines gebildeten Juden, des Mediziners Alexander Haindorf (1784–1862) in Münster, der vermutlich erste habilitierte Jude (Heidelberg 1812) des deutschsprachigen Raumes, 1827 ein modernes Lehrerseminar in Münster/Westfalen ins Leben zu rufen.4

1 Michael Meyer, Deutsch-Jüdische Geschichte in der Neuzeit 1, München 1997. 2 Dieter Alicke, »Nikolsburg«, in: Lexikon der jüdischen Gemeinden im deutschen Sprachraum 2, hrsg. von Dieter Alicke, Gütersloh 2008, Sp. 3066–3069. Die jüdische Bevölkerung machte im 18. Jahrhundert die Hälfte der Stadtbevölkerung aus. 3 Joseph Karniel, Die Toleranzgesetzgebung Joseph II., Gerlingen 1986. 4 de.wikipedia.org/wiki/Alexander_Haindorf (abgerufen 30. 3. 2020); Barbara Ernst, Die MarksHaindorf-Stiftung. Ein jüdisches Lehrerseminar in Münster als Beispiel für die Assimilation der Juden in Westfalen im 19. Jahrhundert, Münster 1989; Andreas Brämer, Leistung und Gegenleistung. Zur Geschichte jüdischer Religions- und Elementarlehrer in Preußen 1823/24 bis 1872, Göttingen 2006, S. 177–183. Zu Haindorf, siehe ebd., Anm. 51, S. 177f.

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2.

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Traditionales Bildungswesen

In der traditionalen jüdischen Gesellschaft galt ›Lernen‹, also das Studium jüdisch-religiöser Texte, als hohes Ideal. Wer es sich leisten konnte, studierte als Heranwachsender bei einem Rabbiner oder besuchte eine der Talmudhochschulen (Sg. ›Jeschiwa‹) oder ›Klausen‹, d. h. privaten Stiftungen, die jüdisches ›Lernen‹ anboten.5 Im 18. Jahrhundert konnte man so nach Fürth, Frankfurt am Main, Mannheim, Mainz, Worms, Halberstadt, Prag oder Metz reisen. Einzelne Rabbiner unterhielten an kleineren Orten private Lehrkreise. Ihre Empfehlung reichte bei einer Anstellung für den ›Parnass‹ (Hebräisch für ›Ernährer‹), also den Vorsteher der jüdischen Gemeinde, aus. Ebenso war die Ordination von Rabbinern nicht staatlich geregelt. Drei anerkannte Rabbiner stellten eine ›Smicha‹ (›Autorisierung‹) aus, und auf dieser privaten Basis galt der Kandidat als ordiniert, wobei es unterschiedliche Grade der Befähigung gab und gibt. Die meisten Studenten (›Bachurim‹) ›lernten‹ aus privatem Interesse, einige wenige vertieften ihre Studien und suchten ein Auskommen als Lehrer und Kantor, was aber nicht als prestigiös galt. Ganz wenige nur beschritten eine rabbinische Karriere. Die Familienväter, die Söhne im Schulalter hatten – nicht die jüdische Gemeinde als Ganzes! –, bezahlten einen ›Bachur‹, einen ›Unverheirateten‹, und offerierten ihm je nach Finanzlage der Gemeinde Freitische. Letzteres kam besonders in den vielen armen Landgemeinden vor – gerade auch auf dem Gebiet des heutigen Niedersachsens,6 Westfalens,7 Bayerns,8 von Rheinland-Pfalz9 und Hessens10 – und stellte eine Belastung für den jungen 5 Zu den wenigen erhaltenen Quellen gehören die Memoiren von Isaac Thannhäuser aus dem bayerisch-schwäbischen Altenstadt bei Ulm. Er wurde 1774 dort geboren. Sein Vater ließ ihn »bei zwei Rabbinern« lernen, siehe Monika Richarz (Hg.), Jüdisches Leben in Deutschland. Selbstzeugnisse zur Sozialgeschichte einer Minderheit 1780–1871, Bde.1 und 2, Stuttgart 1976/ 1979, Bd. 1, S. 100–113, hier S. 100. Dies qualifizierte ihn schon zum Lehrer. 6 Herbert Obenaus et al. (Hgg.), Historisches Handbuch der jüdischen Gemeinden in Niedersachsen und Bremen, 2 Bde., Göttingen 2005; David Frenkel (Hg.), Pinkas Hakehillot – Lower Saxony, Jerusalem 2007 (Hebr.). 7 Historische Kommission Westfalen (Hg.), Historisches Handbuch der jüdischen Gemeinschaften in Westfalen und Lippe, 4 Bde., Münster 2013; Pracht-Jörns, Elfie, Jüdisches Kulturerbe in Nordrhein-Westfalen, 5 Bde., Köln 2000–2009; Steinheim Institut, »Bibliographie Deutsch-jüdische Geschichte NRW«, www.steinheim-institut.de/ebib-djg-nrw/query.html (abgerufen 30. 3. 2020). 8 Wolfgang Kraus et al. (Hgg.), Gedenkbuch der Synagogen in Bayern. … Mehr als Steine, Bd. Oberfranken, Lindenberg 2007; Bd. Mittelfranken, Lindenberg 2010; Bd. Unterfranken, Lindenberg 2015; Falk Wiesemann, Bibliographie zur Geschichte der Juden in Bayern, Essen 2 2007. 9 Ingrid Westerhoff et al. (Hgg.), »… und dies ist die Pforte des Himmels«. Synagogen in Rheinland-Pfalz, Mainz 2005. 10 Henry Wassermann (Hg.), Pinkas Hakehillot Hessen, Hessen-Nassau, Francfort, Jerusalem 1993 (Hebr.); Paul Arnsberg, Die jüdischen Gemeinden in Hessen. Anfang, Untergang, Neu-

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Lehrer dar. Die Abhängigkeit vom Willen einzelner Gemeindevorsteher war für den Unterrichtenden unattraktiv. Zudem wurde von ihm in der Regel auch verlangt, Tiere zu schächten. Für hessische Landgemeinden ist nachgewiesen, dass dies bis in die 1920er Jahre galt. Ein christlicher Religionslehrer war hier ganz anders gestellt. Im Gegensatz zu diesem aber leitete der jüdische Lehrer allein den Gottesdienst in der Synagoge, denn ein Rabbiner war und ist dazu religionsgesetzlich nicht nötig. Hier befand er sich in einer besseren Position als der christliche Lehrer, der dem Ortspastor klar untergeordnet war und den Gottesdienst nur musikalisch zu begleiten hatte. Rabbiner waren selten in den kleinen Landgemeinden präsent, da sie viele Gemeinden gleichzeitig zu betreuen hatten. Je nach Finanzlage der jüdischen Gemeinde wurde bloß im Wohnzimmer des Lehrers unterrichtet. Im 19. Jahrhundert bauten viele Gemeinden eigene Schulgebäude. Die Jungen lernten die Traditionsliteratur und viel von den Texten der Gebete auswendig, verstanden aber oft nur wenig vom Hebräischen der Liturgie. Für Mädchen galt ein reduziertes Programm, das mehr auf das Erlernen der häuslichen Pflichten ausgerichtet war, etwa Speisevorschriften. Einzelne Frauen fielen durch dieses Bildungsnetz und so kann man auch Kringel anstelle von hebräischen Unterschriften finden; diese Frauen waren Analphabetinnen noch in den 1820er Jahren.11 Jüdische Aufklärer wie Naftali Herz Weisel übten 1782 scharfe Kritik an diesem traditionalen jüdischen Unterrichtswesen (Worte des Friedens und der Wahrheit).12 Er und Moses Mendelssohn waren mit der pädagogischen Diskussion ihrer Zeit vertraut. Mendelssohn beteiligte sich an der Gründung der ersten modernen jüdischen Schule in Berlin, Chinuch Nearim (1778). Die wenigen wohlhabenden jüdischen Familien konnten sich christliche Hauslehrer leisten, die ›allgemeine‹ Fächer wie Rechnen, Schreiben, Lesen, eine Fremdsprache, Geschichte oder Geographie und Musik unterrichteten.13 Viele beginn, Frankfurt am Main 1974; Ulrich Steinbach, Bibliographie zur Geschichte der Juden in Hessen, Wiesbaden 1992. 11 Uri Robert Kaufmann, Die Beerfeldener Juden, Beerfelden 2003, S. 44–47. 12 Michael Graetz, »Jüdische Aufklärung«, in: Deutsch-jüdische Geschichte in der Neuzeit Bd. 1, hrsg. von Michael Meyer und Michael Brenner, München 1996, S. 251–350; de.wikipedia.org /wiki/Hartwig_Wessely (Abruf: 30. 3. 2020); Mordechai Eliav, Jüdische Erziehung in Deutschland im Zeitalter der Aufklärung, Erstausgabe: Jerusalem 1960, übers. und ergänzt von Maike Strobel, Münster 2001. Siehe auch einen kurzen Auszug bei Julius, Höxter, Quellenbuch zur jüdischen Geschichte und Literatur Bd. 1, Zürich 1927, Bd. 4, Zürich 1983, S. 160–162 und auf Englisch bei Paul Mendes-Flohr et al. (Hgg.), The Jew in the Modern World. A Documentary History, New York 1995, S. 70–74. Naphtali Herz Wessely, Worte des Friedens und der Wahrheit. Dokumente einer Kontroverse über Erziehung in der europäischen Spätaufklärung, hrsg. von Ingrid Lohmann, Münster 2014. 13 Das schon galt für Rabbiner des 18. Jahrhunderts als irreligiöses Abweichen von der Norm, vgl. Azriel Schochat, Im Wandel der Epochen, Jerusalem 1960 (Hebr.).

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auf dem Lande konnten dagegen nur hebräische Buchstaben schreiben. Bis in die 1830er Jahre finden sich bei Älteren oft hebräische Vornamens-Unterschriften auf amtlichen Dokumenten. Man war alphabetisiert, aber eben nur in hebräischen Buchstaben. Die staatlich verordnete Schulpflicht galt für Juden bis Ende des 18. Jahrhunderts nicht, da sie bloß ›Schutzjuden‹ waren, theoretisch also Geduldete auf Zeit, obwohl ihre Vorfahren schon Jahrhunderte in Deutschland gelebt hatten. Die Schutzbriefe wurden auf sechs, acht oder vierzehn Jahre ausgestellt.14 Wer das Schutzgeld nicht zahlen konnte, musste weg. Viele sanken in die Unterschicht ab und nicht zufällig ist die Sprache des herumziehenden Volkes, das ›Rotwelsche‹ mit vielen Hebraismen durchsetzt gewesen.15 Um ein solches Absinken in die Unterschicht zu verhindern, sponserten wohlhabende jüdische Geschäftsleute moderne ›Freischulen‹, also Schulen ohne Schulgeld, um Kindern armer Familien eine gute Berufsausbildung zu ermöglich. Zehn solcher Modellschulen wurden zwischen 1778 und 1816 eingerichtet.16

3.

Die Modernisierung im 19. Jahrhundert

Mit der Aufklärung begannen einzelne Staaten, eine pädagogische Ausbildung von jüdischen Religionslehrern zu fordern. Jüdische Kinder unterstanden nun der allgemeinen Schulpflicht17 und Juden waren jetzt Untertanen und Staatsbürger, wenn auch lange nicht gleichberechtigte: Erst in den 1860er Jahren sollten sich die deutschen Regierungen dazu verstehen, etwa Preußen 1869, Bayern und Österreich-Ungarn 1867, Württemberg 1864 oder Baden 1862. Frankreich war hier großzügiger und hatte 1791 die Gleichstellung eingeführt, wobei die Judenfeindschaft insbesondere im Elsass nicht verschwand. Jüdische Familien erfuhren in den französischen Gebieten – links des Rheins nach 1792 oder in französisch beherrschten Gebieten wie dem Kunststaat ›Königreich Westphalen‹ oder dem ›Großherzogtum Berg‹ (1807–1814) – teilweise mehrere Jahre lang ihre Gleichstellung, die nach 1814 wieder rückgängig gemacht wurde.18

14 Friedrich Battenberg, Die Juden in Deutschland vom 16. Jahrhundert bis zum Ende des 18. Jahrhunderts, München 2010. 15 Siegmund A. Wolf, Deutsche Gaunersprache. Wörterbuch des Rotwelschen, Hamburg 1985. 16 Graetz, »Jüdische Aufklärung«, S. 344. 17 In Preußen galt nach dem Allgemeinen Preußischen Landrecht von 1794 für Christen die Schulpflicht, für Juden erst 1824, vgl. Gisela Miller Kipp, Zwischen Kaiserbild und Palästinakarte. Die jüdische Volksschule im Regierungsbezirk Düsseldorf (1814–1945). Archive, Dokumente und Geschichte, Köln 2010, S. 31. 18 In Verden an der Aller (bis 1814 französisch!) wurden die alten Handelseinschränkungen für Juden nach 1814 wieder in Kraft gesetzt, vgl.: Richarz, Jüdisches Leben in Deutschland, Bd. 1, S. 97f. zu Ascher/Lehmann.

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In der ersten Hälfte des 19.Jahrhunderts blühte das jüdische Volksschulwesen in Deutschland auf. Jetzt übernahm die jüdische Gemeinde – nicht mehr nur die Väter der zu erziehenden Söhne – die Kosten. Der Staat verlangte zudem die Unterrichtung von Mädchen, was vorher nicht überall oder nicht in gleichem Maße der Fall war. Traditionalistisch eingestellte Familienväter hegten Vorbehalte gegen diese neue ›deutsche‹ Schule, doch wurden diese überwunden. Oft wurden sogar an kleinen Orten Schulhäuser gebaut. An jüdischen Grundschulen war der Religionsunterricht integraler Teil des Unterrichts. Es gab aber keine Hierarchie, die einem jüdischen Lehrer einen Lehrplan für den Religionsunterricht vorschrieb. Nur in Baden und Württemberg entstanden 1809 und 1831 jüdische Landesverbände, die landesweite Regelungen durchsetzen konnten. Dies betraf aber nur einen kleinen Teil der Juden in Deutschland, nicht ganz ein Zehntel (38000 von 512153 im Jahr 1871).19 Darüber hinaus machte jede jüdische Gemeinde, was sie wollte. Mangels einer landesweiten Organisation fehlte es zudem an einer finanziellen Unterstützung zum Drucken von Religionslehrmitteln. Diese wurden von einzelnen Lehrern verfasst und häufig auf deren Risiko abgesetzt. Frühe Autoren waren Peter Beer oder Moses Mordechai Büdinger (1784–1841), Emanuel Hecht (1821–1862), Salomon Herxheimer (1801–1884), Josef Johlson (1777– 1851), Moses Philippson (1775–1814) oder Baruch Strassburger (1836–1912).20 Auch Aufklärer oder Rabbiner verfassten Lehrbücher, etwa Herz Homberg (1749–1841), Ludwig Philippson (1811–1889, 1862/65), Hillel Sondheimer (1840– 1899) und andere. Diese unkoordinierte Publikationsweise motivierte schon den jüdischen Lehrer Baruch Strassburger (1836–1912), 1887 eine Zusammenstellung der vorhandenen Lehrmittel zu recherchieren.21 Nach 1850 entwickelte sich der Jüdische Verlag I.(gnaz) Kauffmann in Frankfurt am Main bis 1938 zu einem wichtigen Druckort für Religionslehrmittel. In der neueren Bibliographie von Aron Freimann (1871–1948) aus dem Jahr 1932 kann man Dutzende von weiteren Nachweisen finden.22 In den 1840er Jahren differenzierten sich die drei modernen religiösen Strömungen im deutschsprachigen Judentum aus: Die liberale Bewegung änderte die 19 Jakob Lesczynsky, »Statistik der Juden, in: «Jüdisches Lexikon IV.2, hrsg. von Georg Herlitz und Bruno Kirschner, Berlin 1930, Sp. 630–698, hier Sp. 638. 20 Miller Kipp, Zwischen Kaiserbild und Palästinakarte, S. 270–273. Siehe hier die Bibliographie der für den Regierungsbezirk Düsseldorf nachgewiesenen eingesetzten Fibeln. 21 B.(aruch) Strassburger, Geschichte der Erziehung und des Unterrichts bei den Israeliten (…), Stuttgart 1887, siehe dort den Anhang. Er war sogar promoviert. 22 Aron Freimann (Hg.), Katalog der Judaica und Hebraica, Stadtbibliothek Frankfurt am Main, Frankfurt am Main 1932, Graz 1968 [Neudruck]. Siehe auch im Internet den neu zugänglichen Spezial-Katalog der UB Frankfurt am Main, die Sammelsondergebiet für die Bundesrepublik für Judaica ist: Goethe-Universität Frankfurt am Main, »Judaica«, http://www.ub.uni-frank furt.de/judaica (Abruf: 30. 3. 2020).

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Liturgie, führte teilweise deutsche Gebete und an vielen Orten auch eine Orgel ein und überließ die Lebenspraxis dem Individuum. Ihr Anliegen war eine Gleichstellung der Mädchen im Religionsunterricht und zu diesem Zwecke führte sie eine ›Konfirmation‹ – eine Abschlussfeier des Religionsunterrichts – ein, an der Jungen und Mädchen gleich beteiligt waren. In der traditionalen Gesellschaft gab es nichts Entsprechendes für Mädchen. Die konservative Richtung legte Wert auf die Verwendung des Hebräischen im Gottesdienst und darauf, dass keine Reformen von oben aufgezwungen werden sollten; eine Mehrheit der Mitglieder hatte diese zu befürworten. Die modern-orthodoxe Gruppe öffnete sich im Gegensatz zur Ultraorthodoxie in Polen für akademische Bildung an Universitäten und änderte nichts an der Liturgie, aber nahm doch gewisse Modernsierungen vor, etwa wenn ein professionell ausgebildeter Männerchor den Gesang begleitete oder im Gebetbuch eine hochdeutsche Übersetzung als Neuerung mit abgedruckt wurde. Im Gegensatz zur osteuropäischen Ultraorthodoxie trugen sie keine Tracht. Dies hatte sich in Deutschland im Gegensatz zum Polen des 18. Jahrhunderts nie entwickelt. Die Orthodoxie verlor in Deutschland bis 1900 erheblich an Bedeutung. Der Anteil ihrer Mitglieder wird für 1914 auf 10 % geschätzt.23

4.

Christliche Vormundschaft über jüdischen Religionsunterricht

Viele Staaten erließen punktuell Regelungen, etwa was die allgemeine pädagogische Ausbildung eines jüdischen Lehrers oder die allgemeine Bildung eines Rabbiners anging. Deutschland war bis 1871 lediglich ein lockerer Staatenbund und auch nach der nationalen Einigung blieb jeder Staat souverän in der Regelung seiner Bildungsangelegenheiten, so auch des jüdischen Erziehungswesens. So verlangte Hessen-Darmstadt 1823 den Nachweis (allgemeiner) seminaristischer Ausbildung und verfügte die Prüfung jedes jüdischen Lehrers durch den Staat mittels einer Kommission, in der nur ein jüdisches Mitglied Einsitz haben durfte.24 Viele jüdische Lehrer wurden bei dieser Gelegenheit auf Weisung des Staates hin entlassen, der allerdings einzelne (christlich geprägte) Seminare für externe jüdische Studenten öffnete. Leider gibt es keine Quellen, die beschreiben, wie es für jüdische Lehramtskandidaten war, in die christliche Lern- und Lebensgemeinschaft eines Seminars hineinzukommen. Hinzu kamen praktische 23 Mordechai Breuer, Die jüdische Orthodoxie im Kaiserreich, Sozialgeschichte einer Minderheit, Frankfurt am Main 1986. 24 Richarz, Jüdisches Leben in Deutschland, Bd. 1, S. 348–351, hier S. 348: Sussmann Frohmann aus Reinheim, resp. Griesheim (Region Darmstadt/Hessische Bergstraße). In Preußen gab es im September 1823 in der Provinz Bromberg eine ähnliche Untersuchung, Brämer, Leistung und Gegenleistung, S. 90.

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Probleme, etwa die Beachtung der Speisegesetze in diesem Rahmen. So mussten jüdischen Familien am Ort des Seminars leben und bereit sein, jüdische Studenten koscher zu verköstigen. Gerade im württembergischen Esslingen beispielsweise war dies um 1830 nicht unbedingt der Fall. In vielen Städten waren zu dieser Zeit nur wenige (wohlhabende) jüdische Familien zugelassen worden, denn bis in die 1860er Jahre herrschte in vielen Staaten keine Freizügigkeit für Juden. Ein Jahr später als in Hessen-Darmstadt – vielleicht auf Basis von Kenntnissen der Vorgänge in Süddeutschland? – wollte das große Preußen 1824 die jüdischen ›Winkelschulen‹ abschaffen und verlangte eine amtliche Konzessionierung jedes Lehrers bezüglich seiner allgemeinen pädagogischen Ausbildung.25 Nach dem Gebietsstand des Deutschen Bundes von 1816 wohnten 48 % aller Juden in Preußen.26 Hier war stets eine »Person der Civilgemeinde« Schul-Inspektor, dies waren vor allem die (evangelischen) Pfarrer (bis 1872), allenfalls auch Schuldirektoren, wo solche vorhanden waren. In der Hauptstadt Berlin, wo es ja genügend Schuldirektoren gegeben hätte, war es aber doch das evangelische Konsistorium, das prüfte.27 Gutachten von Rabbinern galten nicht.28 Die Rabbiner nahmen diese Disqualifizierung aber nicht einfach hin, so beanspruchte etwa Rabbiner Menachem Mendel Steinhardt 1815 in Paderborn die Prüfungsbefugnis jüdischer Lehrer für sich.29 In Preußen galt damals die evangelische Volksschule als ›Regelschule‹, was zu Konflikten mit den Katholiken führte.30 Württemberg prüfte mit der (staatlichen) Bestellung einer Israelitischen Oberkirchenbehörde (sic!) 1831/32 alle Rabbiner und Lehrer. Viele mussten über die Klinge springen, auch in Preußen.31 Diese Unterordnung des jüdischen Schulwesens unter Pfarrer vor dem Kulturkampf (1872/73) muss etwas Besonderes gewesen sein. In der Regel hatten diese kaum Kenntnisse vom nachbiblischen Judentum, etwa was Mischna, Gemara, Kommentare des Mittelalters, jüdische Religionsphilosophie, religiöse praktische Lebenskunde und anderes Themenbereiche angeht, und hegten durch 25 Miller Kipp, Zwischen Kaiserbild und Palästinakarte, S. 31; Brämer, Leistung und Gegenleistung, S. 90ff. 26 Richarz, Jüdisches Leben in Deutschland, Bd. 1, S. 27. 27 Brämer, Leistung und Gegenleistung, S. 93 (1823). 28 Ebd., S. 95 (1825). 29 Brämer, Leistung und Gegenleistung, S. 95. Steinhardt war immerhin Oberrabbiner des kurzlebigen Staates ›Königreich Westphalen‹ gewesen und hatte von 1807 bis 1814 in Kassel ein kleines Lehrer- und Rabbinerseminar geleitet (siehe unten). 30 Miller Kipp, Zwischen Kaiserbild und Palästinakarte), S. 30; Brämer, Leistung und Gegenleistung, S. 90. 31 Siegfried Däschler-Seiler, Auf dem Weg in die bürgerliche Gesellschaft: Josef Maier und die jüdische Volksschule in Württemberg, Stuttgart 1999; Brämer, Leistung und Gegenleistung, S. 102; A.(ron) Tänzer, Die Geschichte der Juden in Württemberg, Stuttgart 1937, S. 76f.

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ihre theologische Ausbildung nicht unbedingt eine freundliche Einstellung zu Judentum und Juden.32 Das Gedankengut der Judenmission wurde freilich nicht kritisch hinterfragt. Diese christliche Kuratel muss zu eigenartigen Situationen geführt haben. Erst nach 1872/76 wurde dies in einigen Staaten im Rahmen der Unterstellung des Schulwesens unter den Staat und das Schulministerium und seine Beamten verändert. Ministerialbeamte und Lehrer übernahmen die Inspektion der Schulen. So erließ der Regierungspräsident in Düsseldorf 1874 die Vorschrift, dass künftig nur Kreisschul-Inspektoren Kontrollfunktionen ausüben durften.33 Die Pastoren blieben fortan ausschließlich für den christlichen Religionsunterricht zuständig. Der Überlegenheitsanspruch christlicher Theologie zeigt sich besonders deutlich in der staatlichen (!) Rabbinerprüfung des Königreichs Württemberg (nach 1831), an der die jüdischen Mitglieder der Israelitischen Oberkirchenbehörde Rabbinats-Kandidaten nicht in ›Altem Testament‹ prüfen durften, sondern nur der evangelische Alttestamentler der Universität Tübingen.34 Das rabbinische Mitglied der Israelitischen Oberkirchenbehörde durfte nur Talmud und ›Ceremonialgesetz‹ prüfen.35 Ihm standen vier christliche Universitäts-Professoren gegenüber. Diese Regelung galt theoretisch bis zum Ende der Monarchie 1918. Hier zeigt sich, wie christliche Theologen ihre Deutungshoheit über die 32 Karl-Heinrich Rengstorf (Hg.), Kirche und Synagoge. Handbuch zur Geschichte von Christen und Juden, 2 Bde., München 1988. So prüfte in der preußischen Provinz Sachsen das ProvinzKonsistorium 1844 die jüdischen Lehrer und stellte Prüfungsfragen nach den »elementaren Religions-, Glaubens- und Sittenlehren«, Brämer, Leistung und Gegenleistung, S. 99f., Anm. 33. Der Pastor in Schenklengsfeld (Hessen-Nassau) wirft einem jüdischen Lehrer vor, die Wahl eines antisemitischen Abgeordneten verhindert zu haben, Monika Richarz, »Spiro, Samuel«, in: dies., Jüdisches Leben in Deutschland. Selbstzeugnisse zur Sozialgeschichte 2, Stuttgart 1979, S. 145. 33 Miller Kipp, Zwischen Kaiserbild und Palästinakarte, S. 33. 34 Abraham P. Kustermann, »›Zur Anstellung als Rabbiner (…) wird erfordert …‹. Württemberg und der Umbruch von Rabbinats- und Rabbinerausbildung im 19. Jahrhundert«, in: Jüdisches Leben im Bodenseegebiet, hrsg. von Abraham P. Kustermann und Dieter R. Bauer, Ostfildern 1994, S.133–155, hier S.144, zitiert nach Alfred Gunzenhauser (Hg.), Sammlung der Gesetze, Verordnungen (…) betreffend die religiösen Einrichtungen der Israeliten in Württemberg, Stuttgart 1909, S. 161–165. Uri Robert Kaufmann, »Die Professionalisierung der jüdischen Lehrerbildung in Deutschland 1800–1933«, in: Beruf und Religion im 19. und 20. Jahrhundert, hrsg. von Frank-Michael Kuhlemann und Hans-Walter Schmuhl, Stuttgart 2003, S. 129–154. 35 Kustermann, »›Zur Anstellung als Rabbiner‹«, S. 144. Hessen-Darmstadt bestellte eine Prüfungskommission für jüdische Lehrer im Jahr 1840, in der immerhin zwei von vier Mitgliedern jüdisch waren. Hier zumindest achtete man also auf Parität: Uri Robert Kaufmann, »Die jüdische Geschichte Bensheims«, in: Bensheim. Spuren der Geschichte, hrsg. von Rainer Maaß und Manfred Berg, Bensheim 2006, S. 275–298, hier S. 275. Die jüdischen Mitglieder mussten an öffentlich anerkannten jüdischen Schulen eingestellt sein. Derer gab es damals aber nicht viele.

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›Bibel‹ behalten wollten und wie im Gegensatz zum 18. Jahrhundert nun in die jüdische Religionsgemeinschaft von Staates wegen hineinregiert wurde. Man verstand sich in den konservativen Monarchien Deutschlands als exklusiv ›christlicher Staat‹. Zudem war es ›normal‹ wenn etwa das preußische Königshaus die 1822 gegründete Gesellschaft für Beförderung der Judenmission aus seiner Privatschatulle unterstützte. Ein evangelischer Fürst war immer oberster Herr (›Bischof‹) der evangelischen Landeskirche. Unter höheren Beamten hielt sich hartnäckig die Idee einer Förderung der Massenkonversion von Juden zum Christentum durch Nichtanerkennung einer Dachorganisation, wie etwa Vermerke des Freiherrn Karl Heinrich vom und zum Stein (1757–1831) aus der Zeit vor 1815 zeigen.36 Es wurde nicht kritisch hinterfragt, dass ein judenmissionarisches Institut wie 1886 das Institutum Judaicum von Franz Delitzsch an der Leipziger Universität verankert und Judenmission Teil der staatlich sanktionierten lutherischen Pastorenausbildung wurde. Und als im Revolutionsjahr 1848 der damals schon international angesehene Gelehrte und Begründer der modernen Judaistik Leopold Zunz (1794–1886) die Einrichtung eines Lehrstuhls für jüdische Geschichte und Literatur an der Berliner Universität beantragte, wurde er vom preußischen kommissarischen Leiter des Ministeriums, Adalbert von Ladenberg (1798–1853), abschlägig beschieden, denn so etwas fördere ja nur den »jüdischen Separatismus«.37 Die katholische Kirche hielt mit den Fratres und Schwestern Unserer Dame von Zion nach 1843 zwei judenmissionarische Orden bereit, die in Jerusalem ein eigenes Haus bauen konnten.38

5.

Der Status jüdischer Schulen und des Religionsunterrichts

In gewissen Staaten wurden ›private‹ konfessionelle Grundschulen auf Antrag hin für ›öffentlich‹ anerkannt, das heißt sie mussten von der Kommune bezuschusst werden, da sie dieser Schüler abnahmen. Ausgerechnet im Land der frühen Emanzipation, im französischen Elsass, gab es von den 1840er Jahren an besonders hartnäckige Widerstände gegen die staatliche Anerkennung der jüdischen Volksschule als écoles communales.39 Das konservative (in Frankreich) 36 Ismar Freund, Die Emanzipation der Juden in Preußen, Göttingen 2019 [Nachdruck]. 37 Heinrich Simon, »Wissenschaft vom Judentum in der Geschichte der Berliner Universität«, in: Wissenschaft des Judentums, hrsg. von Julius Carlebach, Heidelberg 1990, S. 153–164, hier S. 158–160. 38 Théodore und Alphonse Ratisbonne aus Strasbourg, beide jüdischer Herkunft aus einer Oberschichtsfamilie, gründeten diese Orden: Wikizeroo.org, www.wikizeroo.org/index.php? q=aHR0cHM6Ly9mci53aWtpcGVkaWEub3JnL3dpa2kvVGjDqW9kb3JlX1JhdGlzYm9ubm U (Abruf: 30. 3. 2020). 39 Hyman, Paula, The Emancipation of the Jews of Alsace, New Haven 1991; Uri Robert Kaufmann, »Das jüdische Schulwesen auf dem Lande. Baden und Elsaß im Vergleich 1770–1848«,

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katholische (klein-)städtische Bürgertum tat sich sehr schwer mit der praktischen Umsetzung des Gedankenguts der Emanzipation.40 Ähnliches galt für das Großherzogtum Baden bis zur Einführung der ›Simultanschulen‹ 1876. Im liberal geprägten Baden wurden nach dem Kulturkampf die Konfessionsschulen abgeschafft und durch ›gleichzeitige‹ (= simultane) Schulen ersetzt, an der Kinder aller Religionen unterrichtet wurden. Gab es genügend Schüler für das Angebot jüdischen Religionsunterrichts in einer Klasse, wurden jüdische Lehrer in den Staatsdienst übernommen. Preußen erließ 1847 ein Gesetz, das die rechtlichen Verhältnisse der jüdischen Gemeinden regelte. Diese konnten den Status einer Körperschaft des öffentlichen Rechts beantragen. Nur in diesem Fall konnten sie Zuschüsse von der ›Civilgemeinde‹ für die jüdische Volksschule erhalten, die in Trägerschaft der Synagogengemeinde geführt wurde. Oft gab es lange Auseinandersetzungen mit den Kommunen in dieser Sache. So erhielt die größte jüdische Volksschule im Regierungsbezirk Düsseldorf – diejenige in Essen – erst dreizehn Jahre nach Erlass dieses Gesetzes im Jahr 1860 den Status einer ›öffentlichen‹ Schule.41 Nach einem Abschluss der jüdischen Volksschule besuchten die Schüler die allgemeinen weiterführenden Schulen. Hier stellte sich die Frage nach dem Status des jüdischen Religionsunterrichts in der Stadt. Die städtischen jüdischen Gemeinden wuchsen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts stark an. Jüdische Gemeinden hatten immer weniger Kapazitäten, um den Religionsunterricht in ihren Räumlichkeiten stattfinden zu lassen. Man wollte aber auch aus Prinzip die Gleichstellung erhalten. Nach jahrelangen Verhandlungen, die der jüdische Lehrer Moses Blumenfeld führte, durften in Essen 1884 jüdische Religionslehrer an höheren Schulen Religionsunterricht erteilen.42 Eine umfangreiche Studie hat Till van Rahden für Breslau vorgelegt, mit ihren 25 000 Mitgliedern eine große Gemeinde für Deutschland.43 Hier hatte das jüdische Bürgertum nach langen Auseinandersetzungen erfolgreich die Gleichstellung des jüdischen Religionsunterrichts an den öffentlichen Schulen in den 1890er Jahren durchsetzen können.

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in: Jüdisches Leben auf dem Lande, hrsg. von Monika Richarz und Reinhard Rürup, Tübingen 1997, S. 315–317. Man denke auch an die Ausschreitung im Frühjahr 1848, die viele jüdische Familien zur Flucht bewogen: Daniel Gerson, Die Kehrseite der Emanzipation in Frankreich: Judenfeindschaft im Elsass 1778 bis 1848, Essen 2006. Miller Kipp, Zwischen Kaiserbild und Palästinakarte, S. 39. Ebd., S. 118f. Till van Rahden, Juden und andere Breslauer. Die Beziehungen zwischen Juden, Protestanten und Katholiken in einer deutschen Großstadt von 1860 bis 1925, Göttingen 2000.

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6.

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Private Initiativen zur Förderung der jüdischen Lehrerfortbildung

Mangels einer staatlichen Anerkennung und Regelung des jüdischen Religionsunterrichts nahmen sich Lehrervereine dieser Fragen an. Diese entstanden vor allem in den 1860 und 1890er Jahren. Ein Vorläufer dieser Bewegung war der Israelitische Lehrerverein Westphalen und Rheinprovinz. Er hatte sich nach 1846 aus regionalen Treffen in Neuss, Krefeld und Lübbecke (Westfalen) entwickelt und wurde formal erst 1856 gegründet. Noch als ›Konferenz‹ entwickelte er im Revolutionsjahr 1848 einen Lehrplan für das Fach jüdische Religionslehre. Er widmete sich besonders dem »Erarbeiten religionspädagogischer Grundsätze« und wurde von einem fünfköpfigen Vorstand geleitet.44 Attraktiv war die damit verbundene Gründung einer Mitglieder-Rentenkasse. 1863 folgte die Gründung eines Vereins israelitischer Lehrer im Königreich Hannover, der sich 1869 in Versammlung jüdischer Lehrer in der Provinz Hannover umbenannte. Es gab zusätzlich rein regionale Lehrerkonferenzen, an denen man sich austauschte.45 Erfahrene Rabbiner und Lehrer verfassten Lehrmittel, die in jüdischen Verlagen wie J. Kauffmann in Frankfurt am Main gedruckt wurden (nach 1850). Der Deutsch-Israelitische Gemeindebund (DIGB) – eine private Sponsorengruppe liberaler Ausrichtung –, der von den 1870er Jahren an wirkte, bezuschusste regionale Lehrerkonferenzen, half 1895 den Verband der jüdischen Lehrervereine im Deutschen Reiche zu gründen und vergab Zuschüsse für kleine Gemeinden an Gehälter von Religionslehrern, die auch als Kantoren dienten, da sonst das jüdische Leben zum Erliegen gekommen wäre.46 Der DIGB finanzierte weiter Recherchen bezüglich des jüdischen Religionsunterrichts und gab eine Bibliographie empfehlenswerter jüdischer Religionslehrmittel nach 1900 heraus: Man sieht, dass dies alles ein Desiderat war und eine private Mäzenaten-Organisation – der DIGB – hier verglichen mit dem Status des christlichen Religionsunterrichts staatliche Funktionen wahrnahm. Die christlichen (konfessionellen) Lehrerseminare dagegen wurden vom Staat finanziert – und damit notabene

44 Brämer, Leistung und Gegenleistung, S. 369–380. Hier spielte hier der in Essen 53 Jahre lang (1841–1894) tätige jüdische Lehrer, Kantor und ›Prediger‹ Moses Blumenfeld (1821–1902) eine große Rolle. In der Allgemeinen Zeitung des Judentums finden sich Berichte über die Tätigkeit des Vereins. Vgl. Carl Cohen, »Moses Blumenfeld, Prediger und Lehrer in Essen«, in: Hermann Schröter (Verf.), Geschichte und Schicksal der Essener Juden, hrsg. von der Stadt Essen, Essen 1979, S. 138–141. 45 Kaufmann, »Die Professionalisierung der jüdischen Lehrerbildung«, S. 144. 46 Reste des historischen Archivs des DIGB befinden sich im Centrum Judaicum, Oranienburgerstraße, Berlin unter der Signatur 75 C DIGB, Kaufmann, »Die Professionalisierung der jüdischen Lehrerbildung«, S. 146–150.

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ebenfalls durch nicht-christliche Steuerzahler –, wie auch die Theologischen Fakultäten, nicht von den Kirchen. Große jüdische Familien-Zeitschriften veröffentlichten pädagogische Beilagen (Israelitisches Familienblatt, Hamburg, 1900–1938), nachdem sich jüdische Lehrerzeitschriften nicht hatten etablieren können (darunter Wochenschrift für die jüdischen Kantoren, Bromberg, 1860; Der Israelitische Hauslehrer, hrsg. von Rabbiner Leopold Stein, Frankfurt am Main; Der Israelitische Lehrer, Mainz 1861–72; Jüdische Schulzeitung, 1925).47 Der am längsten existierende Israelitische Lehrer, der durch Josef Klingenstein in Mainz herausgegeben wurde, widmete sich der »Methodik, Didaktik und Pädagogik des jüdischen Religionsunterrichts«. Er war auf ganz Deutschland ausgerichtet und hatte mit Emanuel Hecht auch einen Lehrmittelautor als Mitherausgeber. Beide standen der Reformbewegung im Judentum nahe, was orthodoxe Lehrer eher davon abhielt, mitzumachen. So verstand sich das Organ der Separatorthodoxie, Jeschurun (1855–1887, Nachfolgeorgane) ebenfalls als Organ ›für die Schule‹. Religionspädagogische Debatten finden sich im orthodoxen Israeliten, der bis 1938 erschien.

7.

Jüdische Lehrerbildung als ›private‹ Unternehmung

Die private ›Meisterlehre‹ für jüdische Lehrer war das Normale und dies bis weit ins 19.Jahrhundert hinein. Das erste moderne jüdische Lehrerseminar baute eine private Stiftung – die Marks-Haindorfsche Stiftung – 1827 in Münster auf. Auch in kleineren Staaten kam es zur Gründung jüdischer Lehrerseminare, so in der Residenzstadt des Kurfürstentums Hessen-Kassel im Jahr 1825, das später als einziges für die Zweite Praktische Prüfung anerkannt war,48 oder im Königreich Hannover in der Landeshauptstadt (1848–1925). Hier wurde der langjährige Dozent am jüdischen Lehrerseminar, Salomon Frensdorff (1803–1880), mit dem 47 Georg Herlitz/Mendel Probst, »Presse, jüdische«, in: Jüdisches Lexikon IV.1, hrsg. von Georg Herlitz und Bruno Kirschner, Berlin 1930, nach Sp. 1103–1110 sowie Übersicht zu Stichwort »Presse, jüdische«, fol. IV–VI. Viele deutsch-jüdische Periodika sind heute digitalisiert: Siehe Goethe Universität Frankfurt am Main, Portal der Universitätsbibliothek, www.compactme mory.de (Abruf: 30. 3. 2020). 48 Kassel war ja Hauptstadt des großen ›Herzogtums Westphalen‹ und ein Versuchslabor für Neuerungen gewesen. So gab es hier ein kurzlebiges (1807–1814) Rabbiner- und Lehrerseminar unter Rabbiner Menachem Mendel Steinhardt (1768–1824). Wieviel sich davon über die Zeit nach 1814 retten konnte, ist nicht bekannt. Steinhardt wirkte nach 1814 noch zehn Jahre in Paderborn: Unterhielt er dort privat einen Studentenkreis? Kaufmann, »Die Professionalisierung der jüdischen Lehrerbildung«, S. 138; Salomon Wininger, Grosse Jüdische National-Biographie V, Czernowitz, 1926–36, S. 618, www.steinheim-institut.de:50580/cgi-b in/bhr?id=1720&suchename=Steinhardt (abgerufen 30. 3. 2020).

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Professorentitel ausgezeichnet. Dies zeigt, dass es lokal durchaus zu einer Wertschätzung der pädagogischen Arbeit für die jüdische Gemeinschaft durch den Staat – hier im Königreich Hannover, resp. in der späteren (1867) preußischen Provinz Hannover – kommen konnte.49 Diese kleinen Seminare galten traditionalistischen Zeitgenossen als liberal, und so baute die moderne Orthodoxie eine separate Infrastruktur auf: Die Israelitische Lehrerbildungs-Anstalt in Würzburg war nach 1864 für Süddeutschland die zentrale Ausbildungsstätte. Hier war der charismatische Rabbiner Seligmann Bär Bamberger (1807–1878) schon vorher tätig gewesen und um ihn scharte sich ein Schülerkreis, aus dem viele Lehrer hervorgingen, die in orthodoxen Landgemeinden Süddeutschlands und im französischen Elsass angestellt wurden. Ihm folgten Ludwig Stern – auch Lehrbuchautor – und Jakob Stoll (1876–1962) als führender Pädagoge und »Oberseminarlehrer«.50 Auch im katholischen Bayern musste die Lehrerbildungsanstalt bis 1915 50 Jahre auf die Anerkennung der Prüfungsberechtigung warten!51 Über Weinheim und Düsseldorf entstand in den 1870er Jahren in Köln ein weiteres orthodoxes Lehrerseminar für Preußen und Nordwestdeutschland und wirkte bis 1938. Orthodoxe Lehrer wollten sich austauschen. So gab der orthodoxe Israelit aus Mainz, resp. Frankfurt am Main (1860–1938) eine Lehrer-Beilage heraus. Erst nach mehreren Versuchen etablierte sich in Berlin, der bald größten jüdischen Gemeinde Deutschlands (1871: 36 015 Juden), nach 1859 ein modernes jüdisches Lehrerseminar. Begrenzte Hilfe bei der Professionalisierung des Religionsunterrichts kam von den drei modernen – notabene ebenfalls privat finanzierten – Rabbinerseminaren, doch an ihnen hielten sich Lehrerkurse meist nicht lange (Breslau 1854, Berlin 1872/73).52 Das 1854 gegründete konservative Rabbinerseminar Fraenckelscher Stiftung in Breslau und die 1872 gegründete liberale Hochschule für die Wissenschaft des Judentums, das liberale Rabbinerseminar Deutschlands, boten einige Jahr lang Kurse für Religionslehrer an, wie stark diese genutzt wurden, ist jedoch nicht erforscht, so wenig wie die Frage, ob der Ausweis eines ›Akademischen Religionslehrers‹, den die liberale Hochschule in den 1920er Jahren ausstellte, bei einer Anstellung wirklich half. Hinzu kam 1873 das orthodoxe Rabbinerseminar in Berlin, an dem ein Lehramtskandidat Basiswissen erwerben konnte.

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Brämer, Leistung und Gegenleistung, S. 217–220. www.compactmemory.de. Kaufmann, »Die Professionalisierung der jüdischen Lehrerbildung«, S. 140. Julius Carlebach (Hg.), Wissenschaft des Judentums, Heidelberg 1990, S. 36–73, Guido Kisch, Das Breslauer Seminar, Tübingen 1963.

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Haltungen der deutschen Staaten

Neben diesen separaten Lehrerseminaren gab es ein kombiniertes Modell: Im Großherzogtum Baden wurde das allgemeine Lehrerseminar in Karlsruhe und dasjenige in Tauberbischofsheim für jüdische Lehramtskandidaten geöffnet. Dort wurden die jüdischen Lehrer in allgemeiner Pädagogik ausgebildet. Quasi ›privat‹ wurden sie durch einen durch eine Stiftung bezahlten Rabbiner in Karlsruhe oder an anderen Orten in den jüdischen Fächern unterrichtet. Auch im Großherzogtum Hessen-Darmstadt beschritt man diesen Weg (etwa in Bensheim an der Bergstraße)53. Die oben erwähnte traditionale ›private Meisterlehre‹ in jüdischen Fächern bei einem angesehenen Rabbiner hielt sich in diesen Staaten besonders lange, da sie sie ja an allgemeinen Seminaren nur allgemeine Pädagogik lernen konnten. Wenige Staaten übernahmen Juden in den öffentlichen Schuldienst. Preußen vertrat eine besonders ablehnende Position, was dies anging. 1901 waren nur 95 jüdische Lehrpersonen an allgemeinen oder paritätischen Schulen angestellt im Gegensatz zu 299 an jüdischen Schulen.54 Dagegen wurden in Baden – wie erwähnt – nach 1876 jüdische Lehrer an Orten mit ausreichender jüdischer Schülerbevölkerung in den öffentlichen Dienst übernommen. Mit dieser Absicherung konnten ihnen nicht mehr so leicht bei einem Vorstandswechsel gekündigt werden.55 In Württemberg, das das System der Konfessionsschule fortsetzte, definierte der Staat klare Anstellungsbedingungen, was einen gewissen Kündigungsschutz vor Willkür bedeutete. Hier bezahlte der Staat nach 1835 immerhin den Dozenten für jüdische Fächer am Evangelischen Lehrerseminar von Esslingen (sieben Lektionen pro Woche), mithin eine gewisse staatliche Anerkennung der jüdischen Religionslehrerbildung.56 Es gab keine großen Kandidatenjahrgänge: In Baden gab es etwa 80, in Württemberg etwa 50 Gemeinden und da es auch Wanderlehrer gab, die mehrere Orte betreuten, war die Zahl der pro Jahrgang zu ersetzenden Lehrer nicht sehr groß. 53 Kaufmann, »Die jüdische Geschichte Bensheims«, S. 274 zu Abraham Koschland aus Ichenhausen am Seminar in Bensheim an der hessischen Bergstraße. 54 Brämer, Leistung und Gegenleistung, S. 441, Anm. 16. 55 In die Lebenssituation der jüdischen Lehrer geben Memoiren einen anschaulichen realistischen Einblick, vgl. etwa Lion Wolff (Aurich), 50 Jahre eines jüdischen Lehrers und Schriftstellers. Kulturbilder aus den jüdischen Gemeinden, Leipzig 1919, 346 Sn., oder die Ausschnitte aus Erinnerungen in Richarz, Jüdisches Leben in Deutschland, Bde. 1 und 2. 56 Kaufmann, »Die Professionalisierung der jüdischen Lehrerbildung«, S. 137; HStA Stuttgart E 201 C, Bü 80 (5. 4. 1897), www.alemannia-judaica.de/images/Images%20131/Esslingen%20A ZJ%2007121839.JPG (abgerufen 30. 3. 2020). Die Anmeldung der jüdischen Kandidaten war an das Königliche Evangelische Konsistorium zu richten. Die Dozenten Moses Liebmann und Leopold Lammfromm (1803–1859) veröffentlichten Schulbücher.

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Im Großherzogtum Baden war nach 1809 eine Gruppe dreier Rabbiner für den Oberrat der Israeliten in Religionsfragen – auch für Religionsunterricht – zuständig, die »Religionskonferenz«.57 Dies war ein Steuerungsgremium qualifizierter Persönlichkeiten unabhängig von der Politik und den anderen eher weltlichen Oberräten. Im liberalen Großherzogtum war man autonomer als im konservativen Württemberg, wo bis 1918 immer noch christliche Pastoren Inspektoren für jüdische Schulen waren. Hier hatte man im Gegensatz zu Baden auch die christliche Terminologie für die jüdische Landesorganisation verwendet. Man sprach in Stuttgart von 1831 bis 1918 vom »Israelitischen Oberkirchenrat« und der »Israelitischen Oberkirchenbehörde«.58 Es war also vor allem private Initiative, die die Bildung der jüdischen Religionslehrer verbesserte und zur Professionalisierung des jüdischen Religionsunterrichtes beitrug – dies in einer bis 1918 konservativen deutschen Staatenwelt, die sehr vom Prinzip des ›christlichen‹ Staates ausging. Allerdings nahm die Zahl der jüdischen Volksschulen ab. In Preußen sank sie von 445 Schulen in 1871 auf 302 Schulen im Jahr 1901.59 Viele auf dem Land lebende jüdische Familien zogen in dieser Zeit in Städte und so sank die Zahl der jüdischen Schüler an vielen Orten.

9.

Wandel: Weimarer Reichsverfassung

Hier setzte mit der Weimarer Reichsverfassung eine Wende ein, als es die Möglichkeit von explizit verfassungsrechtlich legitimierten bekenntnisfreien Schulen gab. Ihr Verfasser war ein jüdischer Rechtsanwalt, Hugo Preuss (1860– 1925), der Diskriminierung am eigenen Leib zu spüren bekommen hatte. Es wäre zu klären, ob die Erfahrung der langen Diskriminierung der jüdischen Religionsgemeinschaft vor dem Hintergrund des Bündnisses von Thron und Altar vor allem in Preußen bei der Gestaltung dieses Paragraphen eine Rolle spielte.60 Die Lehrerbildung wurde neu organisiert, Akademien sollten an Stelle der christlich geführten Seminare treten. Die meisten jüdischen Lehrerseminare gingen in den 1920er Jahren bedingt durch Wirtschaftskrise und Hyperinflation 57 Uri Robert Kaufmann, »Der Oberrat der Israeliten Badens«, in: Jüdisches Leben in Baden 1809 bis 2009, 200 Jahre Oberrat der Israeliten Badens, hrsg. vom Oberrat der Israeliten Badens, Stuttgart 2009, S. 145–157. 58 Tänzer, Die Geschichte der Juden in Württemberg, S. 31–35, 38–41; Kustermann, »›Zur Anstellung als Rabbiner‹«, S. 139. 59 Brämer, Leistung und Gegenleistung, S. 441. 60 Dian Schefold, Ein jüdischer Gründervater der deutschen Demokratie: Hugo Preuss, hrsg. von Alte Synagoge Essen, Essen 2018. Man müsste hier Protokolle der Diskussion der Verfassungsgebenden Versammlung in Weimar auswerten. Gustav von Schmoller stieß sich daran, dass Preuss aus einer wohlhabenden Familie stammte, ebd., S. 25.

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ein. Der jüdische Mittelstand, der sie finanziert hatte, war verarmt. Nur die beiden orthodoxen Anstalten in Würzburg und Köln konnten sich halten, beide bis zum Jahr 1938. Ob sich an den neuen drei ›simultanen‹ Akademien, wo jüdische Abiturienten überhaupt zugelassen wurden (Dresden, Frankfurt am Main und Breslau), jüdische Lehramtskandidaten zwischen 1925/27 und 1933 anmeldeten, ist nicht bekannt.61 Die Weimarer Reichsverfassung ging ja in Schulfragen vorsichtig vor; das konfessionelle Schulwesen wurde nicht abgeschafft. Der Besuch jüdischer Schulen in großen Städten vermehrte sich nach 1918 durch Kinder aus zugewanderten osteuropäischen Familien, die durch diese kulturelle Integration im geschützten Raum einen besseren Anschluss an die moderne westeuropäische Gesellschaft fanden. Die absolute Zahl der Schulen aber hatte sich in Preußen auf nur noch 141 vermindert (1932/33).62 In jüdischen Lehrerkreisen wurde in den 1920er Jahren heftig über ein ›Zurück zur jüdischen Schule‹ debattiert. Franz Rosenzweig hatte das Konzept eines ›Freien Jüdischen Lehrhauses‹ mit Martin Buber entworfen. Unter beider Einfluss entstand unter jüdischen Intellektuellen eine Bewegung ›zurück zu den Quellen‹, die auch die Debatte über die jüdische Schule und den dort besseren und intensiveren Religionsunterricht beeinflusste. Man diskutierte, ob jüdische Realschulen gegründet werden sollten. Die Gründung der Jawne-Realschule in Köln im Jahr 1919 erregte Aufsehen in der deutschsprachigen jüdischen Gemeinschaft.63 Der Rabbiner der Separat-Orthodoxie Emanuel Carlebach (1874–1927) war ihr spiritus rector, was ihre Bedeutung etwas einschränkte.64 Nach langen Querelen zwischen den Honoratioren wurde 1925 endlich der Preußische Landesverband jüdischer Gemeinden gegründet. Eines der ersten geförderten Werke war das noch heute nützliche fünf Teile und mehrere hundert Seiten umfassende Quellenbuch zur jüdischen Geschichte und Literatur, das der Frankfurter Lehrer Julius Höxter (1873–1944) von 1927 bis 1930 zusammengestellt hatte und Schlusspunkt jahrelanger Bestrebungen war. Unter den Gutachtern waren alle drei religiösen Strömungen des deutschsprachigen Judentums vertreten, von modern-orthodox über konservativ zu liberal.65

61 Moritz Rosenfeld, »Lehrerseminare, Jüdische«, in: Jüdisches Lexikon III, hrsg. von Georg Herlitz und Ismar Elbogen, Berlin 1930, Sp. 1024–1027, hier Sp. 1026. Der Verfasser Moritz Rosenfeld, Wien, war Direktor des Jüdischen Lehrerseminars. 62 Kaufmann, »Die Professionalisierung der jüdischen Lehrerbildung«, S. 151. 63 Cordula Lissner, Die Kinder auf dem Schulhof nebenan: zur Geschichte der Jawne 1919–1942; Begleitheft zur Ausstellung im Lernort Jawne, Köln 2009. 64 Steinheim Institut, »Carlebach, Emanuel, Dr.«, www.steinheim-institut.de:50580/cgi-bin/bh r?id=2067&suchename=Carlebach (Abruf 30. 3. 2020). 65 Julius Höxter, Quellenbuch zur jüdischen Geschichte und Literatur Bd. 1, Zürich 1927, S. III.

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›Machtergreifung‹

1933 war mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten nicht mehr an eine Hilfe des Staates in diesen Fragen zu denken, im Gegenteil. Mit der Machtübertagung an die Nationalsozialisten erfolgte ein zwangsweises ›Zurück zur jüdischen Schule‹, das die meisten Schüler traumatisierte, weil sie zuvor oft unter sehr belastenden Umständen aus den allgemeinen Schulen herausgeworfen worden waren.66 Vorrang hatte nun die Ausbildung für die Emigration in sprachlicher und beruflicher Hinsicht. Jüdische Schulen wuchsen exponentiell an. Zugleich begann die Abwanderung an der Substanz der jüdischen Bevölkerung zu zehren. 1939 lebt von 565 000 Juden (1925) noch 233 000 ›Glaubensjuden‹ im Deutschen Reich. Bis zum 9. 11. 1938 konnten alle drei Rabbinerseminare arbeiten. Nachher gab es nur noch einen kleinen Studentenkreis um Rabbiner Leo Baeck und den Historiker Ismar Elbogen. Drei der Studenten wurden bekannte Persönlichkeiten im deutschsprachigen Raum nach 1945: Rabbiner Nathan Peter Levinson, Ernst-Ludwig Ehrlich und Herbert A. Strauss, der Leiter des Zentrums für Antisemitismusforschung in Berlin. 1942 wurde bekanntlich jeglicher Unterricht verboten, die Deportationen hatten eingesetzt.67

11.

Fazit

Jüdische Lehrer waren weitgehend auf sich gestellt, den Religionsunterricht nach der pädagogischen Diskussion der Zeit weiterzuentwickeln. Die ›private Meisterlehre‹ hielt sich bei der Religionslehrerbildung trotz einiger jüdischer Lehrerseminare sehr lange. Die deutschen Staaten hielten sich bis 1918 mit der Gleichstellung des jüdischen Religionsunterrichts sehr zurück. Pastoren der Mehrheitskonfession waren bis zum Kulturkampf (1872/74) die Inspektoren des jüdischen Schulwesens. Dessen Blüte lag in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Mit der schnell einsetzenden Urbanisierung in den 1860er und 1870er Jahren verlor das jüdische Schulwesen an Bedeutung. Es blieb der Religionsunterricht. Der jüdische Lehrer musste an kleinen Orten bis in die 1920er Jahre schächten, was viele als Belastung empfanden. In den meisten jüdischen Gemeinden leiteten die Lehrer den Gottesdienst und waren neben dem Vorstand ein 66 Avraham Barkai, »Jüdisches Leben unter der Verfolgung«, in: Deutsch-Jüdische Geschichte in der Neuzeit 4, hrsg. von Michael A. Meyer und Michael Brenner, München 1997, S. 237–241. 67 Miller Kipp, Zwischen Kaiserbild und Palästinakarte, S. 54.

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Ansprechpartner für die Mehrheitsgesellschaft, insbesondere für religiöse Fragen. Von den 1880er Jahren an zeichnete sich ein verbesserter Zusammenschluss und Austausch ab. Der Deutsch-Israelitische Gemeindebund widmete sich als Sponsoren-Organisation liberaler Ausrichtung intensiv diesem Thema. Wie die christliche Mehrheit hatte auch die jüdische Minderheit mit der zunehmenden Säkularisierung (›Drei-Tage-Judentum‹) zu kämpfen und zählte 1925 564 379 Mitglieder im Deutschen Reich. Nach 1933 diente das jüdische Schulwesen vor allem der Auswanderungsvorbereitung.

12.

Nach dem Untergang

Die Entwicklung des Faches ›Jüdische Religionslehre‹ in der Bundesrepublik Nach der Schoah fand sich in Deutschland eine kleine Überlebendengemeinschaft von 25 000 bis 28 000 Personen zusammen, die Mitglieder in den neu gegründeten Nachkriegsgemeinden wurden.68 Die große Mehrheit der etwa 200 000 nach Deutschland geflüchteten jüdischen Staatenlosen (Displaced Persons) wanderte nach 1948 weiter in die USA, in den jungen Staat Israel und andere Länder aus. Es gab in der verbleibenden jüdischen Gemeinschaft in der Bundesrepublik der 1950er Jahre nur wenige Kinder. Die Vorstände der Gemeinden waren in den 1950er Jahren mit der Herstellung der Infrastruktur für jüdisches Leben und Fragen der Restitution für Gemeindemitglieder beschäftigt (›Wiedergutmachung‹).69 Es wurden Landesverbände und ein Zentralrat gegründet (19. Juli 1950).70 Gemeinden und Landesverbände erhielten um 1953 den Status einer öffentlich-rechtlichen Körperschaft. Der Staat zog für sie eine Kultusabgabe ein. Die Vorstände entschieden, wer als Religionslehrer durch die Ortsgemeinde oder den Landesverband ›privat‹ – also nicht öffentlich – eingestellt wurde. Doch von den 1960er Jahren an hätten sie Zeit gehabt, sich für Lehrpläne und Bil68 Juliane Wetzel/Angelika Königseder, Lebensmut im Wartesaal. Die jüdischen D.P.s im Nachkriegsdeutschland, Frankfurt am Main 2004. 1945/46 wurden über hundert oft sehr kleine jüdische Gemeinden gegründet. In Konkurrenz dazu standen die Komités der Befreiten Juden, die auswandern wollten. 69 Constantin Goschler/Ludolf Herbst, Wiedergutmachung in der Bundesrepublik Deutschland, Berlin [1988] 2019. 70 Zentralrat der Juden in Deutschland, »Der Zentralrat: Geschichte« www.zentralratderjuden. de/der-zentralrat/geschichte (Abruf: 27. 1. 2020). Die Komités der Befreiten Juden waren keine Vorläufer des Zentralrats, sondern eine Interessenorganisation osteuropäischer staatenloser Juden, die nicht in Deutschland weiter leben und schon gar keine festen Strukturen aufbauen wollten. de.wikipedia.org/wiki/Landesverband_der_J%C3%BCdischen_Gemeinden_von_N ordrhein, (gegründet 1950, Abruf: 30. 3. 2020); Donate Strathmann, Jüdisches Leben in Düsseldorf und Nordrhein, Essen 2003.

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dungsstandards zu interessieren. Dies war nicht der Fall. Sie waren vor allem an ihrer Präsenz in der Politik interessiert. 1989 hatte ich im Auftrag von Rektor Julius Carlebach s. A. die vorhandenen Lehrpläne bei den Landesverbänden und großen Gemeinden für die Bibliothek der Hochschule für Jüdische Studien in Heidelberg gesammelt.71 Das Ergebnis war ernüchternd. Durch gute Kontakte zur Ministerialbürokratie war es einzelnen Landesverbänden gelungen, das Fach Jüdische Religionslehre von den 1970er Jahren an für versetzungsrelevant erklären zu lassen. Damit aber übte der Staat eine gewisse Kontrollfunktion aus und sollte auf die Wahrung gewisser Standards achten. Allerdings wurde der jüdische Religionsunterricht kaum kontrolliert. Bis in die 1990er Jahre verlief die Einstellung einer Lehrperson über einen Landesverband nach Gutdünken des jeweiligen Vorsitzenden. Der Lehrende hatte daher nicht die Sicherheit einer staatlichen Anstellung und war vom goodwill des Vorstandes abhängig. Die Mehrheit der jüdischen Lehrer wird heute noch aus dem Haushalt des Landesverbandes oder der Lokalgemeinde und nicht durch das Kultusministerium bezahlt. Nach professionellen Qualifikationen wurde wenig gefragt, der erste Eindruck genügte. So wurden leider oft Personen ohne richtige pädagogische oder Fachausbildung eingestellt, Hauptsache man erweckte den Eindruck modern-orthodoxer Lebensführung. In Baden-Württemberg war Landesrabbiner Nathan Peter Levinson die treibende Kraft und 1978 wurde hier das Fach Jüdische Religionslehre als versetzungsrelevantes Schulfach anerkannt. Der Staat erachtete dabei christliche Theologen als zuständige Ansprechpartner. Diese kannten zwar das deutsche Schulwesen und die Schulverwaltungsbürokratie besser als importierte israelische Religionslehrer, doch kamen christliche Religionslehrer aus anderen Strukturen. Es gibt im Judentum weder ›Dogmatik‹, noch ›Systematik‹, noch eigentlich das Fach ›Theologie‹. Der Schwerpunkt der Tradition ist der Kommentar zum Tanach, der Hebräischen Bibel, und seit dem Mittelalter gibt es eine jüdische Religionsphilosophie und ethische Schriften, hinzu kommt die Auseinandersetzung mit der traditionellen Lebenspraxis, die das Christentum so nicht aufweist. Die Kultusministerien haben die Tendenz, jüdische Gemeinden zu drängen, den Religionsunterricht aus den Gemeinden herauszuführen und an staatlichen Schulen zu platzieren. Für den Landesteil Baden einigte man sich darauf, dass der gymnasiale Religionsunterricht an jeweils einem städtischen Gymnasium stattzufinden hat, der Grundschul-Religionsunterricht aber weiter in den jüdischen Gemeinderäumlichkeiten abgehalten werden darf. Viele Gemeindevorstände argumentieren, dass der Religionsunterricht die einzige Ge71 Landfriedstraße 12, 69117 Heidelberg, Hochschule für Jüdische Studien Heidelberg, »Bibliothek, Index«, www.hfjs.eu/bibliothek/index.html (Abruf: 23. 1. 2020).

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legenheit sei, bei der jüdische Jugendliche überhaupt in Gemeinden kämen. Bei den staatlichen Behörden spielt die Gleichbehandlung eine große Rolle: Man möchte den islamischen Religionsunterricht besser kontrollieren. Der jüdische Religionsunterricht sollte deshalb keinen gegenteiligen Präzedenzfall darstellen.

13.

Institutionalisierung der jüdischen Religionslehrerausbildung

Man griff bis in die 1970er Jahre auf deutschsprachige jüdische Lehrer:innen in Israel zurück, doch wurde dieses Publikum immer kleiner. Der badische Landesrabbiner Nathan Peter Levinson regte in den 1970er Jahren die Gründung eines Jüdisch-Theologischen Seminars an und hoffte, er würde mit seiner Gemahlin Penina Navé-Levinson dieses Seminar leiten dürfen.72 Doch entwickelten sich die Dinge unter dem Einfluss der Politik anders. Eine Hochschule für Jüdische Studien wurde zwar in Heidelberg 1979 gegründet, doch war und ist diese ein wissenschaftliches Institut in Kooperation mit der Universität Heidelberg. Im Laufe der Jahre etablierte sich ein stabiler Lehrkörper und nach 40 Jahren ist durchaus ein Beitrag dieser Hochschule für die Lehrer- und Grundausbildung der Rabbiner zu erkennen.73 Die Kultusministerkonferenz erklärte die Heidelberger Hochschule zum einzigen Ort in Deutschland, wo eine jüdische Religionslehrerausbildung gefördert wurde. Die praktische Lehrerausbildung wurde in den 1990er Jahren formalisiert und 2002 offiziell ein Staatsexamen für das Fach Jüdische Religionslehre eingeführt. Die Hochschule erhielt 1995 das Promotionsrecht. Mit zehn Professuren ist sie das größte Judaistik-Institut der Bundesrepublik Deutschland. Jüngst feierte sie ihr 40-jähriges Jubiläum (Juli 2019). ›Nationale Bildungsstandards‹ wurden für das Fach Jüdische Religionslehre im Rahmen von durch den Zentralrat der Juden finanzierten Konferenzen 2004 in Heidelberg zwar definiert, aber nicht umgesetzt.74 Die Autonomie der Landesverbände war und ist stärker. Viele Gemeindevorstände stellen Lehrpersonen weiter nach eigenem Gutdünken ein, oft vor Abschluss eines regulären Studiums an der Heidelberger Hochschule. Einige jüdische Religionslehrer aber haben alle Stationen durchlaufen und sind regulär im Öffentlichen Dienst angestellt. Dies

72 Memoiren: de.wikipedia.org/wiki/Nathan_Peter_Levinson (abgerufen 30. 3. 2020); Nathan Peter Levinson, Ein Ort ist, mit wem Du bist. Lebensstationen eines Rabbiners, Berlin 1996. 73 Hochschule für Jüdische Studien Heidelberg, »Profil, Index«, www.hfjs.eu/profil/index.html (abgerufen 30. 3. 2020). 74 Daniel Krochmalnik, »Nationale Bildungsstandards für den jüdischen Religionsunterricht in der Primarstufe und in den beiden Sekundarstufen«, www.hfjs.eu/imperia/md/content/hfj s/nbs_jued_ru.pdf (abgerufen 30. 3. 2020). Der Verfasser Daniel Krochmalnik, Professor der Philosophie an der Hochschule für Jüdische Studien in Heidelberg, lehrt heute in Potsdam.

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verschafft ihnen eine bessere Position als die de facto private Einstellung durch einen Gemeindevorstand oder Landesverband. Inzwischen werden in Deutschland jüdische Religionslehrmittel veröffentlicht – so etwa Michaela Rychlá, Der Glaube Israels (2 Bde., 2016) – oder neue Gebetbücher aufgelegt – Rabbiner Jonathan Magonet/Walter Homolka (2001), Andreas Nachama/Jonah Sievers (2009–2013) und weitere.75 Der Zentralrat gab auch eine umfangreiche Broschüre über Jüdische Ethik heraus.76 Allerdings stellten 1996 Rabbiner Josef Scheuer und Albert Richter in der Schweiz mit Siddur Schma Kolenu im Morascha Verlag Basel/Zürich die erste komplette deutsche Übersetzung der Liturgie nach der Schoah zusammen.77

14.

Jüdische Schulgründungen in Deutschland

Im nahen Frankreich, etwa in Strasbourg, wurde im Jahr 1948 die École Aquiba gegründet, zu der in den 1950er und 1960er Jahren Kinder aus jüdischen Familien aus Deutschland geschickt wurden.78 Die Schulen in den Lagern der jüdischen Staatenlosen (Displaced Persons) waren nach 1951 aufgelöst worden. 1966 und 1968 entstanden in München und Frankfurt am Main nach längeren Debatten jüdische Grundschulen.79 In Berlin weigerte sich Heinz Galinski (1912–1992) – ein ehemaliger deutscher Jude und langjähriger Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde – lange, eine jüdische Schule zuzulassen. Hier wurde die alte innerjüdische Diskussion aufgenommen, ob eine jüdische Schule eine ›Rückkehr ins Ghetto‹ darstelle. 1986 setzte sich im Vorstand der Jüdischen Gemeinde zu Berlin doch eine andere Meinung durch. Zum ersten Mal nach 18 Jahren wurde wieder eine jüdische Grundschule in Deutschland gegründet.80 Es gab aber bis 1993 keine weiterführenden jüdischen Schulen in ganz Deutschland, sodass auch diese Schulkinder nur vier oder sechs von 13 Jahren bis zum Abitur in einer jüdischen Schule verbrachten. 1993 entschloss sich der Vorstand, eine jüdische Oberschule am historischen Ort in Berlin-Mitte an der Großen Hamburger Straße einzurichten. Heute nennt sich diese Moses-Mendelssohn-Gymnasium. 75 Andreas Nachama/Jonah Sievers, Jüdisches Gebetbuch, Schabbat und Werktage, 2009; Andreas Nachama/Jonah Sievers, Tefilot lechol ha-Schana, Jüdisches Gebetbuch. Pessach, Schawuot, Sukkot, 2011; Andreas Nachama/Jonah Sievers, Jüdisches Gebetbuch. Jom Kippur, 2013. 76 Zentralrat der Juden in Deutschland/Schweizerischer Israelitischer Gemeindebund (Hgg.), Ethik im Judentum: »Lehre mich, Ewiger, Deinen Weg« (Ps. 86:11), Berlin 2015. 77 Josef Scheuer/Albert Richter, Siddur Schma Kolenu, Basel/Zürich 1996/2011. 78 École Aquiba, »Histoire«, aquiba.org/index.php/histoire-de-l-ecole (Abruf 30. 3. 2020). 79 Uri Robert Kaufmann/Fabian Roberto, »Jüdischer Unterricht – Unterricht über Judentum«, in: Bildung und Erziehung 48.4 (1995), S. 269–271. 80 Jüdische Gemeinde Berlin, »Heinz-Galinski-Schule«, www.jg-berlin.org/institutionen/bildu ng-erziehung/heinz-galinski-schule.html (Abruf: 30. 3. 2020).

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Jüdischen Eltern sind selbstverständlich frei, ihre Kinder auf eine Schule ihrer Wahl zu schicken. Von 1989 bis heute wuchs die organisierte jüdische Gemeinschaft in Deutschland durch Zuwanderung aus der ehemaligen Sowjetunion auf rund 100 000 Mitglieder. So wurden nach Berlin weitere jüdische Schulen gegründet: Düsseldorf (1993), Köln (2002)81, Stuttgart (2008) und Hamburg (2007). Diese Diskussion ist vermutlich auch im Kontext der Entwicklung der größten jüdischen Gemeinschaft zu sehen, der amerikanisch-jüdischen, die nach 1945 zur jüdischen (Privat-)Schule tendierte. In Düsseldorf ging die Anregung von Jugendzentrumsleiter Michael Goldberger aus Basel (1961–2012) aus, der 1988 als Jugendleiter nach Düsseldorf gekommen war und später Rabbiner der Gemeinde (1993–2003) wurde. Er kannte die seit 1975 bestehende (private) modern-orthodoxe Noam-Schule in Zürich gut. In Düsseldorf gab es ebenfalls große Debatten im Gemeinderat, wobei ausdrücklich der Begriff der ›Ghettoisierung‹ fiel. Die Schulgründung in Düsseldorf war erfolgreich und heute besuchen 180 Schüler diese vierzügige Grundschule sowie etwa 160 das 2016 gegründete Albert Einstein-Gymnasium, was einen bedeutenden Anteil aller Kinder von Gemeindemitgliedern im Schulalter ausmacht.82 Seit Juli 2017 gibt es in München ein neues jüdisches Gymnasium im Aufbau. An einem jüdischen Gymnasium kann man mehr jüdische Fächer unterrichten, als die Zeitplanung an einer staatlichen Schule hergäbe. Auch kommt man mit dem Hebräischen weiter: Die Schüler verstehen die Gebete, statt sie nur vorzulesen, und auch in anderen Bereichen der jüdischen Religion kann man erheblich mehr Wissen vermitteln. Wie in der Mehrheitsgesellschaft ist unter den Gemeindemitgliedern ein Desinteresse am Religionsunterricht zu beklagen. Für den Landesteil Baden ergab sich nach der Statistik der Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland im Vergleich zu den eingetragene Religionsschülern, dass bloß die Hälfte aller jüdischen Kinder überhaupt einen Religionsunterricht besucht. Dieser Prozentsatz gilt ebenso für das Gebiet des Landesverbandes der jüdischen Gemeinden in Hessen. Wenn Eltern, die ihren Kindern wenig religiöses Wissen bieten können, zur Hälfte ihren Nachwuchs nicht einmal am Religionsunterricht teilnehmen lassen, ist dies für die Substanzerhaltung der kleinen zerstreuten Gemeinden außerhalb der sechs Großstädte (Berlin, München, Düsseldorf, Frankfurt am Main, Hamburg, Berlin) auf längere Zeit bedrohlich.

81 Lauder Morijah-Grundschule: »Die Entstehung der Lauder Morijah-Grundschule« (ohne Datum), www.lms-koeln.de/eltern/2-uncategorised/5-die-enstehung-der-lauder-morijah-gr undschule (Abruf: 30. 3. 2020). Hier wird ausdrücklich auf die gestiegene Zahl der Gemeindemitglieder durch Zuwanderung hingewiesen. 82 Freundliche Information durch Herrn Herbert Rubinstein, Düsseldorf vom 7. 8. 2019, um 1990/1992 Schuldezernent der Jüdischen Gemeinde Düsseldorf.

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Die Gründer dieser neuen jüdischen Schulen sind vielfältig: In Berlin, Düsseldorf und Stuttgart ist es die jüdische Ortsgemeinde, in Hamburg die ultraorthodoxe chassidische Lubawitscher Strömung. Die amerikanisch-jüdische (modern-orthodoxe) Lauder-Foundation unterstützt die neue jüdische Schule in Köln83 und seit 2010 ein orthodoxes Rabbinerseminar in Berlin. Letzteres oszilliert zwischen moderner und Ultra-Orthodoxie. Die Studenten hier sind in der Regel ›Baʿalei Teschuwa‹, d. h. orthodox gewordene Juden mit vorheriger säkularer Sozialisation in der atheistischen Sowjetunion. Diese tendieren dazu, eine streng religiöse Variante der jüdischen Religion leben zu wollen, da sie nach festen Vorgaben und Grundsätzen suchen. Viele vervollständigen ihre religiöse Ausbildung später in Israel, wo sie noch intensiver mit der Ultra-Orthodoxie in Berührung kommen. Inzwischen sind Absolventen in den deutschen Gemeinden tätig, stehen aber mit ihrer orthodox-religiösen Auffassung im Gegensatz zur großen Mehrheit der säkularen Mitglieder. Oft erteilen sie älteren Schülern vor der Religionsmündigkeit – der Bar Mizwa – Religionsunterricht, d.h. sie sind Teil des öffentlichen Religionsunterrichts-Systems der Bundesländer. Für viele Ministerien reicht ihre Qualifikation als Rabbiner für die Lehrbefähigung an Gymnasien. Ob diese starke orthodoxe Präsenz im Rabbinat und unter Lehrern eine Veränderung der Lebensführung bewirkt, ist fraglich. Trotz fast 40 Jahren Einsatz in Deutschland haben die ultraorthodoxen Lubawitscher Rabbiner wenige Gemeindemitglieder für ihre Art der Lebenspraxis gewinnen können. Auch die Vorstände der Gemeinden und Landesverbände, die orthodoxe Rabbiner bevorzugen – sie machen die Mehrheit der in Deutschland tätigen Rabbiner aus –, leben selbst nicht orthodox. Seit 1999 gibt es parallel dazu eine liberale Rabbinerausbildung. Die World Union für Progressive Judaism begleitete die Gründung des Abraham-GeigerKollegs in Potsdam. Dieses wirkt in enger Kooperation mit der Universität Potsdam. Etwa zwei Dutzend Rabbiner:innen – hier herrscht die Gleichstellung – sind inzwischen in den Gemeinden tätig. Zuletzt (2013) kam die amerikanische konservative Masorti-Bewegung dazu, die ebenfalls in Potsdam Studenten ausbilden will (Zacharias-Frankel-College); ihr College kooperiert mit der Universität. Im Gegensatz zu ausländischen privaten Rabbinerseminaren verlangen diese beiden Institute geringe Studiengebühren, was sie attraktiv für Studenten aus dem Ausland macht.

83 Ihr Name ›Moria‹ (= Tempelberg) verweist auf ihre religiöse Ausrichtung.

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Resümee

Die Probleme der 25 000 Personen umfassenden kleinen Überlebenden-Gemeinschaft der Nachkriegszeit (bis 1989) waren durch die Auswirkungen der Schoah, aber auch durch das lange Desinteresse der jüdischen Repräsentanten an Fragen des Religionsunterrichts bis nach der Jahrtausendwende (2000) geprägt. Die jüdische Restgemeinschaft kümmerte sich in den 1950er und 1960er Jahren primär um Schadensersatzleistungen (›Wiedergutmachung‹). Die Verfolgten mussten eine neue Existenz aufbauen, was nicht jedem gelang.84 Hinzu kam für Gemeindevorsteher die Verlockungen der Repräsentation im öffentlichen Raum und der Politik, sodass ihr Interesse an Fragen der Professionalisierung des jüdischen Religionsunterrichts wenig ausgeprägt war. Durch Zuwanderung aus Osteuropa, vor allem der ehemaligen UdSSR, ist die Zahl der Gemeindemitglieder seit 1989 von etwa 25 000 auf heute 100 000 gestiegen.85 Die jüdische Gemeinschaft in Deutschland ist die drittgrößte in Europa nach Frankreich und Großbritannien. Ob die sieben jüdischen Grundschulen und die zwei Gymnasien einen fördernden Einfluss auf das jüdische Leben in Deutschland haben werden, ist noch nicht abzusehen. Die über 2500 Jahre alte jüdische Religion mit ihren Gebeten, dem Hebräischen, der Hebräischen Bibel, dem Talmud und Kommentaren, der Religionsphilosophie und Ethik, der Geschichte und Lebenspraxis zu vermitteln ist eine eigentlich unlösbare Aufgabe für einen schulischen Religionsunterricht im Umfang von zwei Lektionen in der Woche. In einem universalen religionskundlichen Unterricht wie er zurzeit diskutiert und im Stadtstaat Hamburg86 sowie in Berlin und Brandenburg (2008) als (säkularer) Unterricht ›Lebenskunde-Ethik-Religion‹ (LER) gelehrt wird, würde meines Erachtens die jüdische Tradition zu kurz kommen. Im brandenburgischen Lehrplan ist das Judentum bloß eine von fünf Weltreligionen. Der sehr abstrakt formulierte Studienplan ist mehr an Lebenskunde orientiert. Man müsste in diesem Fall – wenn ein universaler religionskundlicher Unterricht als öffentliches verpflichtendes Fach eingeführt würde – auf freiwilliger Basis einen privaten Zusatzunterricht in den jüdischen Gemeinden einführen, um die Zukunft der Gemeinschaft zu sichern. Es kommt darauf an, wie attraktiv der jüdische Religionsunterricht und das gesellschaftlich-kulturelle sowie religiöse Angebot jüdischer Gemeinden gestaltet werden, damit man die junge Generation für jüdisches Leben interessieren 84 Constantin Goschler/Ludolf Herbst, Wiedergutmachung in der Bundesrepublik Deutschland, Berlin [1988] 2019. 85 Zentralrat der Juden in Deutschland, »Vor Ort: Geschichte«, www.zentralratderjuden.de/vo r-ort/gemeinden www.zentralratderjuden.de/vor-ort/geschichte (Abruf: 30. 3. 2020). 86 Hier durchgeführt von evangelischen Religionslehrern, deren Stellen durch den Haushalt der Landeskirche finanziert werden.

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kann und sie sich nicht im Internet verliert. Dieses Problem teilt die jüdische Religionsgemeinschaft mit den schrumpfenden christlichen Religionsgemeinschaften, sind heute doch nur etwas mehr als die Hälfte aller Einwohner der Bundesrepublik Kirchenmitglieder. Jüdisches Leben hängt aber auch von den äußeren Lebensbedingungen ab. Das Klima für Juden in Deutschland ist in den letzten Jahren rauer geworden, Übergriffe haben sich vermehrt. Hemmungen, revisionistische Thesen zu verbreiten, sind gesunken. Rechte stören sich an der Erinnerungskultur der Bundesrepublik.87 In drei Bundesländern ist eine dezidiert rechte Partei stärkste oder zweitstärkste Kraft geworden (Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen). Das Internet ist eine Quelle für rechtsextreme Radikalisierung, man denke an das Attentat auf die Synagoge in Halle zu Jom Kippur 2019. In anderen Ländern ist die Situation im Umfeld von neuem Nationalismus und Populismus und offen antisemitischen Gruppierungen nicht besser. Über ein Drittel der europäischen Juden haben 2018 nach einer Umfrage des Jewish Policy Institute in London an eine Auswanderung gedacht.88 Als kleine Gruppe ist man diesen Dingen stärker ausgesetzt als die großen Kirchen oder die muslimische Gruppe mit etwa vier bis fünf Millionen Mitgliedern.

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87 Die NS-Zeit sei nur ein »Vogelschiss« in der sonst erfolgreichen tausendjährigen deutschen Geschichte (Alexander Gauland) oder man wird im Unklaren gelassen, ob die Platzierung des Schoah-Mahnmals in der deutschen Hauptstadt oder die Schoah selbst eine »Schande« sei und fordert eine »180-Grad-Wende« in der Erinnerungspolitik (Björn Höcke). 88 FRA – European Union Agency for Fundamental Rights, Experiences and Perceptions of Antisemitism among Jews in Europe, Second Survey on Discrimination and Hate Crime against Jews in the EU, London 2018.

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III. Alternativen, Grauzonen, Ersatzfächer

Bernd Schröder

Welche Formen von Religionsunterricht existieren neben dem konfessionellen Religionsunterricht – offiziell und im Graubereich?

1.

Tragfähigkeit und Elastizität der grundgesetzlichen Bestimmungen zur schulischen religiösen Bildung

Vorab sei festgehalten: Art. 7 Abs. 3 GG bietet seit einhundert Jahren nicht nur eine grundgesetzliche Garantie religiöser Bildung in der Schule, sondern einen guten und – wie sich vor allem in den letzten 25 Jahren zeigt – einen recht elastischen Rechtsrahmen für die Ausgestaltung des Religionsunterrichts. Diese Elastizität wird sichtbar erstens in der Beigesellung eines Ersatz- oder Alternativfaches ›Ethik‹ (oder ähnlich), das sich einerseits grundsätzlich vom Religionsunterricht unterscheiden soll, andererseits in religiös und weltanschaulich pluralen Kontexten mancherlei weithin noch ungenutzte Möglichkeiten der Zusammenarbeit bietet.1 Die Implementierung des Ethikunterrichts – in der Regel seit den 1970er Jahren – ergab sich – unter den Bedingungen der alten Bundesrepublik: als ›Ersatzfach‹ – einerseits aus der Abmeldemöglichkeit vom Religionsunterricht nach Art. 7 Abs. 3 GG, andererseits aus der wachsenden Zahl tatsächlicher Abmeldungen und Nicht-Anmeldungen von Schülerinnen und Schülern. Die Gründe dieser Abmeldungen und Nicht-Anmeldungen waren und sind zumeist Religionskritik, Konfessionslosigkeit oder Zugehörigkeit zu einer Religionsgemeinschaft, die ihrerseits für keinen Religionsunterricht mitverantwortlich zeichnet. Unter den Bedingungen des vereinten Deutschland, namentlich in den Schulgesetzen der ostdeutschen Bundesländer, ist ›Ethik‹ aus religionsdemografischen Gründen als ›Alternativfach‹ etabliert worden; inzwischen ist es de facto auch in weiten Teilen Westdeutschlands zum Wahlpflichtfach geworden. Diese Elastizität wird zweitens sichtbar in der Entwicklung des sogenannten konfessionell-kooperativen Religionsunterrichts. 1994 wurde diese Form der 1 Bernd Schröder/Moritz Emmelmann (Hgg.), Religions- und Ethikunterricht zwischen Konkurrenz und Kooperation, Göttingen 2018.

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Bernd Schröder

Zusammenarbeit zwischen Religionsgemeinschaften – konkret zweier Kirchen: der evangelischen und der römisch-katholischen – in einer Denkschrift der EKD als »für die Zukunft« wegweisend vorgeschlagen,2 1998 haben die beiden Kirchen einvernehmlich eine Vielzahl von Ausgestaltungsmöglichkeiten benannt,3 Anfang der 1990er Jahre begann sowohl in Niedersachsen als auch in BadenWürttemberg die administrative und schulpolitische Ausbuchstabierung, der dort 1998 bzw. 2005 auch die ordentliche Einführung folgte.4 2016 gab die Deutsche Bischofskonferenz nach langem Zögern prinzipiell grünes Licht5 und 2018 fand wiederum die EKD die unseres Erachtens glückliche Formulierung, der konfessionell-kooperative Religionsunterricht sei »als eine Regelform des konfessionellen bekenntnisgebundenen Religionsunterrichts« anzuerkennen.6 Nicht zuletzt findet das Konzept des konfessionell-kooperativen Religionsunterrichts in der community der wissenschaftlichen Religionspädagoginnen und Religionspädagogen weithin Unterstützung.7 Diese konfessionelle Kooperation wird de facto bislang nur zwischen evangelischem und katholischem Religionsunterricht praktiziert – die in Richtung der orthodoxen bzw. orientalischen Christentümer signalisierte Offenheit8 bleibt 2 Kirchenamt der EKD (Hg.), Identität und Verständigung. Standort und Perspektiven des Religionsunterrichts in der Pluralität. Eine Denkschrift, Gütersloh 1994, S. 65. 3 Die Deutsche Bischofskonferenz und der Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Zur Kooperation von Evangelischem und Katholischem Religionsunterricht, hrsg. vom Kirchenamt der EKD und dem Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz, Hannover/Bonn 1998. 4 Dazu hier Bernd Schröder/Albert Biesinger, »Konfessionelle Kooperation und der Stand ihrer religionspädagogischen Erforschung«, in: JRP 32 (2016), S.73–86. Näherhin vgl. auch Reinhold Boschki/Friedrich Schweitzer, »Religion unterrichten in Baden-Württemberg«, in: Religionsunterricht in den Ländern der Bundesrepublik Deutschland, hrsg. von Martin Rothgangel und Bernd Schröder, Leipzig 2020, S. 15–38, sowie Bernd Schröder (in Verbindung mit Martina Blasberg-Kuhnke), »Religion unterrichten in Niedersachsen«, in: ebd., S. 239–268, sowie Comenius-Institut (Hg.), Evangelischer Religionsunterricht (Evangelische Bildungsberichterstattung 5), Münster 2020. 5 Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz (Hg.), Die Zukunft des konfessionellen Religionsunterrichts. Empfehlungen für die Kooperation des katholischen mit dem evangelischen Religionsunterricht (Die deutschen Bischöfe 103), Bonn 2016. 6 Kirchenamt der EKD (Hg.), Konfessionell-kooperativ erteilter Religionsunterricht. Grundlagen, Standards und Zielsetzungen (EKD-Texte 128), Hannover 2018, S. 10. 7 Konstantin Lindner/Mirjam Schambeck/Elisabeth Naurath/Henrik Simojoki, »Positionspapier: Konfessionell, kooperativ, kontextuell – Weichenstellung für einen zukunftsfähigen Religionsunterricht« (2016), in: Zukunftsfähiger Religionsunterricht: konfessionell – kooperativ – kontextuell, hrsg. von Konstantin Lindner, Mirjam Schambeck, Elisabeth Naurath und Henrik Simojoki, Freiburg 2017, S. 445–448. 8 Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz, Die Zukunft des konfessionellen Religionsunterrichts, S. 9, Anm. 2, und 36, sowie Kirchenamt der EKD, Konfessionell-kooperativ erteilter Religionsunterricht, S. 12. Vgl. auch das Themenheft der ZPT von David Käbisch et al. (Hgg.), Zeitschrift für Pädagogik und Theologie (ZPT) 71, Themenheft 4: Religionspädagogik und Orthodoxie (2019).

Formen des Religionsunterrichts

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bislang virtuell. Allerdings gibt es innerhalb der christlichen Konfessionsfamilien und auch innerhalb nicht-christlicher Religionen eine Fülle weithin unsichtbarer Kooperationen.9 Zeigt dies die Elastizität, so ist auch festzuhalten, dass diese grenzbewusst bleibt: Alle Plädoyers für einen ökumenischen Religionsunterricht10 verhallten ungehört bzw. wurden durch entschiedenen Widerspruch beider verfasster Kirchen und vieler Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler zurückgewiesen. Drittens ist diese Elastizität sichtbar in der Entwicklung eines multireligiösdialogischen Religionsunterrichts auf der Basis von Art. 7 Abs. 3 GG: des sogenannten ›Hamburger Weges‹. Dessen anfängliche Konzeption – Erteilung eines Religionsunterrichts für Schülerinnen und Schüler aller Denominationen und Religionen durch evangelische Religionslehrende in alleiniger (Mit-)Verantwortung der evangelischen Kirche – ist mittlerweile in ganz Deutschland faktisch in Gebrauch: Die EKD hat spätestens in ihrer 1994er Denkschrift den evangelischen Religionsunterricht für die Teilnahme aller Schülerinnen und Schüler geöffnet. Allerdings wird in Hamburg seit Beginn der 2010er Jahre eine Weiterentwicklung konzipiert, erprobt und didaktisch,11 juristisch12 und theologisch13 ausgelotet: der sogenannte ›RUfa 2.0‹. Das eine Fach ›Religionsunterricht‹ soll demnach »in Übereinstimmung mit den Grundsätzen der [derzeit vier, durch staatsreligionsrechtliche Verträge eingebundenen] Religionsgemeinschaften« durch Lehrkräfte der verschiedenen beteiligten Religionsgemeinschaften erteilt werden, die – etwa mit Hilfe religionsspezifischer Lernphasen – den unterschiedlichen Vertiefungsbedürfnissen der Schülerinnen und Schüler gerecht werden sollen und wollen. Das dazu eingeholte juristische Gutachten sieht diesen Weg als möglich an, wenn a) in Lehrplan und Unterrichtsgestaltung jederzeit hinreichend klar wird, welche Religionsgemeinschaft verantwortlich zeichnet (»Verantwortungsklarheit«), und b) alle beteiligten Religionsgemeinschaften glaubhaft machen können, dass es mit ihren Grundsätzen vereinbar ist, die Wahrheitsansprüche der 9 Dazu Bernd Schröder, »Rechtliche Möglichkeiten der Kooperation«, in: Religion unterrichten in Vielfalt. Konfessionell – religiös – weltanschaulich. Ein Handbuch, hrsg. von Saskia Eisenhardt, Kathrin S. Kürzinger, Elisabeth Naurath und Uta Pohl-Patalong, Göttingen 2019, S. 45–53. 10 Für diese Position sei als besonders vernehmlich angeführt: Rainer Lachmann, Religionspädagogische Spuren. Konzepte und Konkretionen für einen zukunftsfähigen Religionsunterricht, als Festschrift zum 60. Geburtstag des Autors zusammengestellt und hrsg. von Manfred L. Pirner, Göttingen 2000 (2., erw. Aufl. Jena 2003), S. 11–85. 11 Jochen Bauer, Religionsunterricht für alle. Eine multitheologische Fachdidaktik (Religionspädagogik innovativ 30), Stuttgart 2019. 12 Hinnerk Wißmann, Religionsunterricht für alle? Zum Beitrag des Religionsverfassungsrechts für die pluralistische Gesellschaft, Tübingen 2019. 13 Wilfried Härle, Religionsunterricht unter pluralistischen Bedingungen: eine kritische Sichtung des Hamburger Modells, Leipzig 2019.

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Bernd Schröder

Anderen in ein und demselben Unterricht zu Gehör bringen zu lassen (»Äquivalenz zwischen Bekenntnisinhalten und Inhalt des Religionsunterrichts«), und c) die Lehrerinnen und Lehrer bestrebt sind und in die Lage versetzt werden, diesen komplexen Vorgaben unterrichtlich Rechnung zu tragen (»Prozedurale Verwirklichung«).14 Am derzeitigen Stadium des ›Hamburger Weges‹ sticht also nicht zuletzt die enorm gesteigerte Komplexität der rechtlichen Maßgaben, der didaktischen Anforderungen und der erforderlichen, auf eine Mehrzahl von Religionen bezüglichen Kompetenzen der Religionslehrenden ins Auge. Sie auf theoretischer Ebene zu beschreiben, mag gelingen, sie in der Praxis eines schülerorientierten, kreativen Unterrichts adäquat zur Geltung zu bringen bzw. fruchtbar zu machen und – zuvor – in der Ausbildung der Religionslehrenden in operationalisierbarer Weise zu erschließen, ist eine der derzeitigen Schlüsselherausforderungen von Religionsunterricht und Religionslehrerbildung. Dies gilt umso mehr, als auch einem scheinbar ›einfachen‹ konfessionellen Religionsunterricht mittlerweile kaum minder komplexe didaktische Konzeptionen zugrunde liegen. Für die Zukunftsfähigkeit von Religionsunterricht wird es entscheidend wichtig sein, für Lehrkräfte mit einer durchschnittlichen Bildungsbiografie handhabbare Anleitungen und Lösungen anzubieten. Die Genese nicht weniger der im Folgenden dargestellten Makro- und Mikromodelle verdankt sich dem Umstand, dass Religionspädagogik, Rechtswissenschaft und Zeitdiagnostik in der Wahrnehmung von Schulleitungen und Lehrkräften keine solchen Lösungen anbieten. Das erste, was ich im Licht dieses Auftaktes zu dem mir gestellten Thema herausstreichen möchte, ist also: Die Rede von ›dem konfessionellen Religionsunterricht‹ im Singular, die einen monokonfessionellen Unterricht im Sinne der sogenannten Trias insinuiert, bildet weder die rechtlichen Spielräume noch die faktische Gestalt des Religionsunterrichts gemäß Art. 7 Abs. 3 GG hinreichend ab. Vielmehr ermöglicht Art. 7 Abs. 3 GG – unter den Interpretationsbedingungen der Gegenwart15 – verschiedene Formen von Religionsunterricht, die allerdings ihre Gemeinsamkeit darin haben, dass – Staat und Religionsgemeinschaft gemeinsam Verantwortung für das Fach übernehmen (res mixta), – der Unterricht die ›Grundsätze‹ der Religionsgemeinschaften als für Lehrende und/oder Schülerinnen und Schüler möglicherweise ›bestehende Wahrheiten‹ und nicht im Sinne einer vergleichenden Religionskunde vermittelt, 14 Wißmann, Religionsunterricht für alle?, S. 75–83. 15 Auf die fortwährende Interpretationsbedürftigkeit und die dabei eröffneten Spielräume wies die EKD bereits Anfang der 1970er Jahre eindrücklich hin: »Zu verfassungsrechtlichen Fragen des Religionsunterrichts. Stellungnahme der Kommission I der EKD«, in: Die Denkschriften der Evangelischen Kirche in Deutschland 4.1: Bildung und Erziehung, hrsg. vom Kirchenamt der EKD, Gütersloh 1987, S. 56–63, hier S. 56 und 60.

Formen des Religionsunterrichts

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– namentlich die Lehrenden diesen spezifischen Bezug zu den Grundsätzen in ihrer Rolle sowie in der Wahl der Unterrichtsthemen und -methoden geltend zu machen haben. Das im gegenwärtigen religionspädagogischen Paradigmenstreit aus meiner Sicht entscheidende Merkmal ist die sogenannte ›transparente Positionalität‹.16

2.

Makromodelle innerhalb Deutschlands und in Europa

Unbeschadet dieser Entwicklungen in Auslegung und Anwendung von Art. 7 Abs. 3 GG gibt es in Deutschland und Europa weitere Formen von Religionsunterricht, die im jeweiligen Bundesland oder Staat rechtsförmig definiert werden und zudem auf einer expliziten, didaktisch und fachwissenschaftlich plausibilisierten Konzeption beruhen. Die Formen von Religionsunterricht, die in dieser Weise dreifach (rechtlich, didaktisch und fachlich) ausgewiesen sind, sollen hier Makromodelle genannt werden. Mit Fokus auf der Bundesrepublik Deutschland und Europa sind vor allem die folgenden zu nennen, die ich hier der Übersichtlichkeit halber zu Typen bündele;17 im Detail werden diese Typen immer wieder neu konzipiert, so dass sich mancherlei Mischformen ergeben. Zudem könnte dieses Tableau im Blick auf europäische Länder18 oder gar im Blick auf andere Weltregionen und Kulturkreise vermutlich noch komplettiert werden.19 16 Bernd Schröder, »Was heißt Konfessionalität des Religionsunterrichts heute? Eine evangelische Stimme«, in: Religionsunterricht wohin? Modelle seiner Organisation und didaktischen Struktur, hrsg. von Bernd Schröder, Neukirchen-Vluyn 2014, S. 163–178, 165 passim, und ders., »Konfessionalität und kooperativer Religionsunterricht aus evangelischer Perspektive«, in: Kooperativer Religionsunterricht. Fragen – Optionen – Wege, hrsg. von Jan Woppowa, Tuba Is¸ık, Katharina Kammeyer und Bergit Peters, Stuttgart 2017, S. 26–44. 17 Ähnliche systematisierende Übersichten habe ich andernorts skizziert: Bernd Schröder, »Religionsunterricht in Europa«, in: Religionspädagogisches Kompendium, hrsg. von Martin Rothgangel, Gottfried Adam und Rainer Lachmann, 7., grundl. neu bearb. und erg. Aufl., Göttingen 2012, S. 175–190, und ders., »Kooperation von Staat und Kirchen bzw. Religionsgemeinschaften im Religionsunterricht – eine religionspädagogische Perspektive«, in: Zeitschrift für evangelisches Kirchenrecht 64 (2019), S. 257–281, hier S. 266–274. 18 Detaillierte Länderberichte bieten Martin Rothgangel/Martin Jäggle/Thomas Schlag (Hgg.), Religious Education at Schools in Europe, Part 1: Central Europe (Wiener Forum für Theologie und Religion 10.1), Göttingen/Wien 2016; Martin Rothgangel /Robert Jackson/Martin Jäggle (Hgg.), Religious Education at Schools in Europe, Part 2: Western Europe (Wiener Forum für Theologie und Religion 10.2), Göttingen/Wien 2014; Martin Rothangel/Skeie Geir/ Martin Jäggle (Hgg.), Religious Education at Schools in Europe, Part 3: Northern Europe (Wiener Forum für Theologie und Religion 10.3), Göttingen/Wien 2014. In deutscher Sprache erschienen ist in der Reihe Religiöse Bildung an Schulen in Europa bislang Teil 1: Mitteleuropa (Wiener Forum für Theologie und Religionswissenschaft 5.1), hrsg. von Martin Jäggle, Martin Rothgangel und Thomas Schlag, Göttingen 2013.

154 2.1

Bernd Schröder

Erster Typ: Religionsbezogener (religionskundlicher) Unterricht in staatlicher Verantwortung

In diesem Fall zeichnet der Staat für die äußeren Gegebenheiten und die Inhalte religiösen Unterrichts verantwortlich. Inhaltlich optiert er dabei – eben weil der Staat sich nicht mit einer bestimmten Denomination bzw. religiösen Position identifizieren kann oder will – für eine pluralistische, in der Regel religionskundliche Darstellung mehrerer Religionen. Um diesen Akzent unübersehbar zu markieren spreche ich von religionsbezogener Bildung: Sie thematisiert Religion, nimmt aber selbst dem eigenen Anspruch nach keine religiöse Perspektive ein. Der so konzipierte Unterricht, der weder bei Schülerinnen und Schülern noch bei Lehrerinnen und Lehrern eine konfessionelle Bindung voraussetzt, ist für alle Schülerinnen und Schüler im Prinzip verbindlich (wobei bisweilen unbeschadet dessen eine Abmeldemöglichkeit eingeräumt wird). Er wird im Klassenverband von Lehrenden erteilt, die neben einer pädagogischen idealerweise auch über eine religionswissenschaftliche Ausbildung verfügen. In Deutschland zähle ich zu diesem Typ religionsbezogener Bildung – das Fach ›Religion‹, wie es seit 2014/15 in Bremen unterrichtet wird (vormals seit 1918: ›Biblischer Unterricht auf allgemein christlicher Grundlage‹),20 – und ›Lebenskunde – Ethik – Religionskunde‹ (LER), wie es nach 1990 in Brandenburg eingeführt wurde.21 Im religionspädagogischen Diskurs wird gemeinhin der Religionsunterricht in England als Prototyp dieses Modells diskutiert; dort wurde der bis dahin konfessionelle Religionsunterricht seit den 1960er Jahren, zuerst in Birmingham, auf den sogenannten multifaith approach umgestellt.22 Träger des Religionsunterrichts ist die staatliche Schule; die Teilnahme daran ist für die Schüler obligatorisch. Die Lehrenden werden primär pädagogisch qualifiziert, daneben auch religionswissenschaftlich. Sie sind wie die Lehrenden anderer Fächer Angestellte des Staates. Inhaltlich soll der Religionsunterricht überkonfessionell sein und 19 Dazu insbesondere: Derek H. Davis/Elena Miroshnikova (Hgg.), The Routledge International Handbook of Religious Education, London 2013. 20 Dazu Eva-Maria Kenngott, »Religion unterrichten in Bremen«, in: Religionsunterricht in den Ländern der Bundesrepublik Deutschland. Neue empirische Daten – Kontexte – Aktuelle Entwicklungen, hrsg. von Martin Rothgangel und Bernd Schröder, Leipzig 2020, S. 129–152. 21 Petra Lenz, »Religionskunde (und Religion) unterrichten in Brandenburg«, in: Religionsunterricht in den Ländern der Bundesrepublik Deutschland. Neue empirische Daten – Kontexte – Aktuelle Entwicklungen, hrsg. von Martin Rothgangel und Bernd Schröder, Leipzig 2020, S. 97–128. 22 Dazu facettenreich Brian Gates (Hg.), Religion and Nationhood. Insider and Outsider Perspectives on Religious Education in England (Praktische Theologie in Geschichte und Gegenwart 21), Tübingen 2016.

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zumindest den großen in England vertretenen Religionsgemeinschaften Rechnung tragen: Es handelt sich neben dem Christentum (anglikanischer Prägung) um Judentum, Islam, Hinduismus und Sikhismus. Allerdings gibt es in England nicht nur staatliche Schulen, sondern auch Privatschulen, darunter solche in anglikanischer und – mittlerweile – vor allem solche in römisch-katholischer Trägerschaft. In diesen wird der Religionsunterricht weiterhin konfessionell erteilt. Die Konzeption eines überkonfessionellen, in erster Linie religionskundlichen Religionsunterrichts findet sich mittlerweile auch in fast allen Ländern Skandinaviens, genauer: in Island (seit 1926), Schweden (›Religionskunskap‹; seit 1969), Dänemark (›Kristendomskundskab‹ bzw. ›Religion‹; seit 1975) und Norwegen (›Kristendomskunnskap med religions- og livssynsorientering‹; seit 1997, revidiert 2002 und 2005)23; zudem in der Türkei und einigen Kantonen der Schweiz (etwa ›Religion und Kultur‹ im Kanton Zürich24). Dieses Makromodell ist in den letzten Jahren zum wesentlichen Konkurrenzmodell eines transparent positionellen Religionsunterrichts geworden – nicht zuletzt dank der Unterstützung durch den Europarat.25

2.2

Zweiter Typ: Allein religionsgemeinschaftlich verantworteter Religionsunterricht in den Räumen der Schule als fakultative Ergänzung eines für alle verbindlichen Ethik- oder Wertebildungsunterrichts

In einer weiteren Gruppe von Ländern wird Religionsunterricht in den Räumen der staatlichen Schule ermöglicht, doch nicht der Staat bzw. die Schule sorgt für seine Erteilung oder gar für die Inhalte des Faches, sondern allein die jeweilige Religionsgemeinschaft bzw. Kirche. Die staatliche Seite beschränkt sich darauf, Räumlichkeiten und gegebenenfalls einen Platz in der Stundentafel zur Verfügung zu stellen – bisweilen kommt hinzu, dass der Teilnahme- oder Leistungsnachweis (ohne Versetzungsrelevanz!) in das Zeugnis der teilnehmenden Schülerinnen und Schüler eingetragen werden kann oder die Lehrenden, sofern es sich um staatliche Lehrerinnen und Lehrer handelt, ihre Unterrichtstätigkeit im Religionsunterricht auf ihr Lehrdeputat anrechnen lassen können.

23 Zum dort realisierten Modell siehe Wanda Alberts, Integrative Religious Education in Europe. A Study-of-Religious Approach (Religion and Reason 47), Berlin 2007. 24 Dazu Johannes R. Kilchsperger, »›Neugier auf das, was sie nicht glauben‹. Das neue Schulfach Religion und Kultur im Kanton Zürich«, in: Religionsunterricht – wohin?, hrsg. von Bernd Schröder, Neukirchen-Vluyn 2014, S. 89–104. 25 Robert Jackson, Signposts – Policy and Practice for Teaching about Religions and Non-religious World Views in Intercultural Education, Strasbourg 2014.

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In der Regel wird der Unterricht von kirchlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern (Katechetinnen und Katecheten) erteilt, die folglich nicht zum Schulkollegium gehören; die Schülerinnen und Schüler nehmen freiwillig und ohne Benotung teil; die Religionsgemeinschaft trägt die Kosten, gegebenenfalls mit Hilfe staatlicher Zuschüsse. In Deutschland zähle ich zu diesem Typ – den Religionsunterricht in Berlin26 – sowie den Religionsunterricht, der seit dem ›Vergleich‹ vor Gericht in Brandenburg ermöglicht wurde.27 Dieses Modell wurde nach der Öffnung des Eisernen Vorhangs auch etwa in Ungarn realisiert. Es führte dazu, dass vor allem Schülerinnen und Schüler, die eng mit einer Religionsgemeinschaft verbunden sind, den entsprechenden konfessionellen Unterricht besuchten – für alle anderen blieb das Fach unter den beschriebenen Bedingungen unattraktiv oder unzugänglich. Religionsunterricht ist unter diesen Umständen ohnehin ein Wahlfach, das heißt er wird nur eingerichtet, sofern hinreichend viele Lernende dies wünschen. Als Gegenstand allgemeiner Bildung trat Religion unter diesen Umständen gerade nicht in Erscheinung. Allerdings sah (und sieht) das ungarische Schulrecht vor, dass Religionsunterricht an privaten Schulen in kirchlicher Trägerschaft ordentliches Lehrfach ist, also prinzipiell obligatorisch und versetzungsrelevant.28 Ähnlich ist der Religionsunterricht in einigen Kantonen der Schweiz (etwa Schwyz) verfasst, zudem etwa in Irland und Polen.

26 Ulrike Häusler, »Religion unterrichten in Berlin«, in: Religionsunterricht in den Ländern der Bundesrepublik Deutschland. Neue empirische Daten – Kontexte – Aktuelle Entwicklungen, hrsg. von Martin Rothgangel und Bernd Schröder, Leipzig 2020, S. 71–96. Zur Vorgeschichte dieser Regelung, die weit vor die Einführung des Ethikunterrichts für alle zurückgeht, siehe Christian Grethlein, »Das ›Berliner Modell‹ – eine Rekonstruktion seines Ursprungs in religionspädagogischem Interesse«, in: 450 Jahre Evangelische Theologie in Berlin, hrsg. von Gerhard Besier und Christof Gestrich, Göttingen 1989, S. 483–509. 27 Dazu Lenz, »Religionskunde (und Religion) unterrichten in Brandenburg«, S. 110 u. ö. 28 Monika Solymar, »Religiöse Bildung an Schulen in Ungarn«, in: Religiöse Bildung an Schulen in Europa, Teil 1: Mitteleuropa (Wiener Forum für Theologie und Religionswissenschaft 5.1), hrsg. von Martin Jäggle, Martin Rothgangel und Thomas Schlag, Göttingen 2013, S. 229–264.

Formen des Religionsunterrichts

2.3

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Dritter Typ: Nebeneinander des Religionsunterrichts mehrerer Religionen bzw. Konfessionen, jeweils als gemeinsame Sache von Staat und Religionsgemeinschaft

Das den Ausführungen in Abschnitt 1 zu Grunde liegende bundesrepublikanische Modell des Religionsunterrichts nach Art.7 Abs.3 GG ist als dritter Typ eines Makromodells anzuführen. In dieser Konstellation wird schulischer Religionsunterricht von Staat und Religionsgemeinschaften aufgabenteilig gemeinsam verantwortet: Der Staat gewährleistet den Status des Faches und seine Integration in die Schule, die Religionsgemeinschaften verantworten den Inhalt des Religionsunterrichts und die Transparenz seiner Positionen in Achtung des allgemeinen staatlichen Rechts (siehe oben). Für das Modell ist entscheidend, dass die Einrichtung und Erteilung von Religionsunterricht nicht Privileg einzelner, besonders staatsaffiner Religionsgemeinschaften ist, sondern nach einsichtigen Regeln einer Mehrzahl von Religionsgemeinschaften möglich wird. Dieses Modell wird nicht nur in Deutschland, sondern darüber hinaus in Österreich, Finnland und Rumänien sowie in den französischen Departments Ober-Rhein, Nieder-Rhein und Mosel (›Elsaß-Lothringen‹) und einigen Kantonen der Schweiz praktiziert. Besondere Beachtung verdient unter diesen Referenzländern neben Österreich29 auch Finnland30. Dessen Bevölkerung gehört zwar mehrheitlich der lutherischen Kirche an, folglich besuchen die meisten Schülerinnen und Schüler evangelischen Religionsunterricht, doch es ist jeder religiösen Minderheit erlaubt und möglich, Religionsunterricht ihrer Konfession zu erteilen, sobald drei Schülerinnen und Schüler einer Klasse dieses wünschen; neben dem Religionsunterricht gibt es alternativ Lebenskunde-Unterricht (›Elämänkatsomustieto‹). Im Kontrast zu den Alternativen treten die Besonderheiten dieses Modells umso deutlicher hervor: Religionsunterricht ist als ordentliches Unterrichtsfach voll in die Schule integriert (anders als in Typ 2). Der Staat verzichtet auf die Bestimmung der Inhalte von Religionsunterricht (anders als in Typ 1), verpflichtet das Fach gleichwohl auf die Standards schulischen Unterrichts. Standpunkte der Lehrer und normative Grundlagen des Fachs werden ausgewiesen; 29 Dazu Martin Jäggle/Philipp Klutz, Religiöse Bildung an Schulen in Österreich, in: Religiöse Bildung an Schulen in Europa, Teil 1: Mitteleuropa (Wiener Forum für Theologie und Religionswissenschaft 5.1), hrsg. von Martin Jäggle, Martin Rothgangel und Thomas Schlag, Göttingen 2013, S. 69–94. 30 Dazu Martin Ubani/Kirsi Tirri, »Religious Education at Schools in Finland«, in: Religious Education at Schools in Europe, Part 3: Northern Europe (Wiener Forum für Theologie und Religion 10.3), hrsg. von Martin Rothgangel, Skeie Geir und Martin Jäggle, Göttingen/Wien 2014, S. 105–126.

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zugleich wird die Pluralität verschiedener Standpunkte und Normen gewährleistet (anders als in Typ 5). Mit diesen drei Typen ist der Reigen der in Deutschland als Makromodell praktizierten Form schulischer religiöser Bildung nahezu (vgl. zudem Typ 5) erschöpft. In Europa werden jedoch weitere Typen realisiert.

2.4

Vierter Typ: Religiöser Unterricht (allein) der Mehrheitskonfession in staatlicher Verantwortung

In vielen europäischen Ländern, in denen die absolute Mehrheit der Bevölkerung einer christlichen Konfession angehört, zeichnet der Staat ebenfalls sowohl für die äußeren Gegebenheiten als auch für die Inhalte religiösen Unterrichts verantwortlich. Die Inhalte des Religionsunterrichts sind gleichwohl nicht multireligiös oder religionskundlich angelegt, sondern im Wesentlichen an den Grundsätzen der Mehrheitskonfession orientiert. Dieser Religionsunterricht ist für die Schülerinnen und Schüler der Mehrheitskonfession verbindlich; für alle anderen fakultativ, aber in der Regel möglich oder sogar vorgesehen. Wer nicht teilnehmen will, hat entweder unterrichtsfrei oder nimmt an nicht-religiösem Ethikunterricht oder, in manchen Ländern, am Religionsunterricht konfessioneller Minderheiten teil. Das Maß der kirchlichen Mitbestimmung am Unterricht ist unterschiedlich ausgeprägt – am stärksten ist der Einfluss der Kirche in Italien, am schwächsten in Finnland. Diese Konzeption findet sich in Ländern mit klarer Dominanz einer Konfession bzw. Religion, etwa in Italien. Dort ist es die römisch-katholische Kirche, der etwa vier Fünftel der Bevölkerung angehören. Dementsprechend gibt es ein staatlich gewährleistetes, inhaltlich monokonfessionell bestimmtes Unterrichtsfach ›Unterweisung in katholischer Religion‹ (›Insegnamento della Religione Cattolica‹), an dem sämtliche Schülerinnen und Schüler teilnehmen können und an dem de facto nahezu alle Schülerinnen und Schüler teilnehmen. Wer dieses Wahlfach nicht in Anspruch nimmt, hat unterrichtsfrei – weder die muslimische noch die protestantisch-waldensische oder die jüdische Minderheit bieten Religionsunterricht in der Schule an; ein Ersatzfach, in dem ethische oder religiöse Inhalte vermittelt würden, gibt es ebenfalls nicht. Exemplarisch wird somit deutlich, dass weder Mehrheitskonfession noch Staat Interesse an einer Modifizierung des monokonfessionellen Religionsunterrichts haben – allerdings stehen auch die religiösen Minderheiten der Option, schulischen Religionsunterricht zu erteilen, hier bemerkenswert distanziert bis ablehnend gegenüber. Dies gilt etwa für die Waldenserkirche Italiens. Ähnliche Verhältnisse fanden sich in Griechenland, dessen Bevölkerung nahezu ausschließlich der griechisch-orthodoxen Kirche angehört, sowie in Spa-

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nien, das in ähnlich exklusiver Weise wie Italien römisch-katholisch geprägt ist. Während in Griechenland 2008 die Abmeldung vom obligatorischen und alternativlosen griechisch-orthodoxen Religionsunterricht ermöglicht und 2016 das Fach durch für alle obligatorische Religionskunde ersetzt wurde, steht dem römisch-katholischen Religionsunterricht in Spanien seit 2005 ein überkonfessioneller Religionsunterricht zur Seite, der vorzugsweise von muslimischen, protestantischen und jüdischen Schülerinnen und Schülern besucht wird.31 Auch wenn auf diese Weise Umbrüche vorgenommen (Griechenland) oder Wahlfreiheiten eingeräumt (Spanien) werden, so überspringt dieser Typ Religionsunterricht, der in Italien nach wie vor kultiviert wird, strukturell den Umstand, der in den meisten Ländern Europas zu einer der Schlüsselherausforderungen religiöser Bildung geworden ist: die Pluralität von Religionen und deren friedensfördernde Kommunikation untereinander.

2.5

Fünfter Typ: Priorisierung eines Ethik- oder Weltanschauungsunterrichts mit religionskundlichen Anteilen

Konzeptionell verwandt mit dem ersten hier vorgestellten Typ, setzt dieser Typ insofern einen eigenen Akzent, als gegenüber jedem explizit an Religion(en) orientierten Unterricht ein säkular verfasster Ethikunterricht als Grundtyp daseins- und wertorientierenden Unterrichts für alle favorisiert wird. Mit dieser Priorisierung einhergehend wird Religions- oder religionsbezogener Unterricht nicht nur marginalisiert, sondern inhaltlich beschnitten: Religionen kommen hier nur insofern zur Sprache, als sie ethisch relevant sind – ihre in der Regel jenseits ethischer Funktionalität liegende Eigenlogik findet keine Berücksichtigung. Die Einführung diesen Typs ist in Deutschland Anfang der 2000er Jahre unter großer öffentlicher Aufmerksamkeit vollzogen worden: Seit 2006/7 ist in der Bundeshauptstadt Berlin ›Ethik‹ das obligatorische daseins- und wertorientierende Fach für alle.32

31 Da der Südeuropa betreffende Band in der Reihe Religious Education at Schools in Europe noch nicht erschienen ist, sei hier auf Alessandro Ferrari, »Religious Education in Italy«, in: The Routledge International Handbook of Religious Education, hrsg. von Derek H. Davis und Elena Miroshnikova, London 2013, S. 175–180, sowie Nikos Maghioros, »Religious Education in Greece«, in: ebd., S. 130–138, und Carmen Garcimartin Montero, »Religious Education in Spain«, in: ebd., S. 329–336, verwiesen. 32 Dazu Ulrike Häusler, »Religion unterrichten in Berlin«, S. 74f., und Wilhelm Gräb/Thomas Thieme, Religion oder Ethik? Die Auseinandersetzung um den Ethik- und Religionsunterricht in Berlin, Göttingen 2010.

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In der weltweiten community der Religionspädagoginnen und Religionspädagogen sowie Ethikdidaktikerinnen und Ethikdidaktikern ist dieses Modell insofern auf dem Vormarsch, als mittlerweile vielerorts ein Fach namens worldviews bzw. worldview studies befürwortet wird.33

2.6

Sechster Typ: Kein Religionsunterricht in der Schule

Eine klare, radikale ›Lösung‹ der Frage nach religiöser Bildung in der Schule liegt dort vor, wo diese in der Schule kein eigenständiges Fach zugewiesen bekommt. Der völlige Verzicht auf ein eigenes Unterrichtsfach zum Thema ›Religion‹ bzw. ›Religionen‹ wird vor allem in Ländern geübt, die eine Tradition der strikten Trennung von Staat und Kirche pflegen. So gibt es beispielsweise keinerlei Religionsunterricht in Frankreich; er wurde durch Schulgesetze, die in den 1880er Jahren erlassen wurden, abgeschafft. Seit 1905 ist darüber hinaus das laizistische Selbstverständnis der Französischen Republik insgesamt festgeschrieben: Religion spielt seitdem in der Sphäre des Staates, einschließlich der Schule, keine Rolle mehr – sie gilt als Privatsache. Diese Konstellation bringt es mit sich, dass Religion nicht nur nicht Gegenstand von Unterricht wird, sondern nicht einmal im Raum der Schule in Erscheinung treten soll: Das Tragen religiöser Symbole ist für Schülerinnen und Schüler, erst recht für Lehrerinnen und Lehrer untersagt; Schulgottesdienste oder andere, jedermann offenstehende religiöse Vollzüge finden in der Schule nicht statt. Allerdings wird in Frankreich seit knapp zehn Jahren mit Modulen eines Unterrichts über Religion (l’enseignement du fait religieux) im Rahmen der Fächer Geschichte, Kunst und weiteren experimentiert; älter noch sind verschiedene Ausnahmetatbestände, die etwa die Erteilung von konfessionellem Religionsunterricht in den Departments Oberrhein, Niederrhein und Mosel (gemeinhin, wenngleich unpräzise, als ›Elsaß-Lothringen‹ zusammengefasst) 33 Früh schon hat sich dafür John Valk eingesetzt, Professor für Worldview Studies an der University of New Brunswick, Fredericton, Kanada; vgl. etwa ders., »A Plural Public School: Religion, Worldviews & Moral Education«, in: British Journal of Religious Education 29.3 (2007), S. 273–285. Derzeit ist eine solche Erweiterung des Themenspektrums des Religionsunterrichts auch in England in der Diskussion, siehe Commission on Religious Education (CORE), Religion and Worldviews: The Way Forward. A National Plan for RE (Final Report), London 2018. In Deutschland plädiert etwa der langjährige Bonner theologische Ethiker Hartmut Kreß für einen (für alle) verbindlichen »Ethik- und Werteunterricht«, siehe ders., »Konfessioneller Religionsunterricht oder pluralismusadäquater Ethikunterricht? Notwendigkeit einer rechtspolitischen Weichenstellung«, in: Zeitschrift für Rechtspolitik 52 (2019), S. 22–25, hier S. 24f., sowie ders., »Das Dilemma des konfessionellen Religionsunterrichts. Revisionsbedarf zugunsten des Faches Ethik«, in: Aktuelle Entwicklungen im Weltanschauungsrecht, hrsg. von Jacqueline Neumann et al., Baden-Baden 2019, S. 231–243.

Formen des Religionsunterrichts

161

oder in den Privatschulen, die von Religionsgemeinschaften – namentlich der römisch-katholischen Kirche – unterhalten werden, vorsehen.34 Kein Religionsunterricht wird zudem etwa in einigen frankophonen Kantonen der Schweiz (etwa Genève und Neuchâtel) oder in der Sekundarstufe II staatlicher Schulen der Niederlande35 erteilt.

3.

Mikromodelle

Jenseits dieser Makromodelle existiert – und hier verengt sich der Blick wieder auf die Bundesrepublik – etwas, was hier Mikromodelle genannt werden soll: Modelle, die keine oder nur eine randständige (etwa von einer einzelnen Schule vorangetriebene) konzeptionelle Darstellung, keine juristische Verankerung und/oder keine offizielle Realisierung aufweisen, Modelle also, die – wie es in der Titelformulierung heißt – ›im Graubereich‹ vorhanden sind. Empirische Daten sind dazu in der Regel nicht verfügbar. Die genannten Modelle finden gleichwohl vor allem lokale Resonanz, das heißt sie spielen in Reformdebatten vor Ort, etwa in einer einzelnen Schule oder einer Region, bisweilen auch in einer Schulform eine größere Rolle.36 Eines dieser Mikromodelle – das interreligiöse Lernen in der Fächergruppe – ist oben zur Sprache gekommen; ergänzend hinzuweisen wäre – ohne Anspruch auf Vollständigkeit – auf die Folgenden, wobei das im Exkurs beschriebene Modell eine Art Türöffner zur Entwicklung der meisten Mikromodelle darstellt.

34 Vgl. Bernd Schröder, »Religionspädagogik in Frankreich«, in: ders., Religionspädagogik, Tübingen 2012, §25, sowie ders.: Art. »Frankreich, Staat und Religion«, in: LKRR II (2019), S. 72f. 35 Allerdings gibt es in der Primar- und Sekundarstufe I staatlicher Schulen ein religionskundliches Fach namens ›Geistige Strömungen‹ (›Geestelijke Stromingen‹); in privaten Schulen in kirchlicher Trägerschaft, die knapp zwei Drittel aller Schulen ausmachen, wird konfessioneller Religionsunterricht erteilt. 36 Übersichten, an die hier angeknüpft werden kann, finden sich bei Bernd Schröder, »Auf dem Weg zu einer Option für die zukünftige Gestalt des Religionsunterrichts – methodische Überlegungen«, in: Religionsunterricht wohin? Modelle seiner Organisation und didaktischen Struktur, hrsg. von Bernd Schröder, Neukirchen-Vluyn 2014, S. 181–192.

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Exkurs: Religionsunterricht mit einladender Öffnung bzw. in ›Gastfreundschaft‹ für (einzelne) Schülerinnen und Schüler anderer Konfession oder Weltanschauung Die Entscheidung darüber, ob Schülerinnen und Schüler eines anderen Bekenntnisses beziehungsweise konfessionslose Schülerinnen und Schüler am Religionsunterricht gemäß Art.7 Abs.3 GG teilnehmen dürfen, steht de jure nicht dem Staat beziehungsweise der Schule zu, sondern der Religionsgemeinschaft, die den jeweiligen Religionsunterricht verantwortet. »Die geordnete Teilnahme von Schülern einer anderen Konfession am Religionsunterricht ist daher verfassungsrechtlich unbedenklich, solange der Unterricht dadurch nicht seine besondere Prägung als konfessionell gebundene Veranstaltung verliert«, so der Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 25.2.1987. Die Evangelische Kirche in Deutschland hat Schülerinnen und Schülern der Sekundarstufe II bereits 1974 »die geordnete Möglichkeit erhalten bzw. eröffnet […], auch an Kursen eines anderen Bekenntnisses als des eigenen teilzunehmen«; 1994 wurde der evangelische Religionsunterricht aller Schulstufen für die Teilnahme von Schülerinnen und Schülern aller religiösen Orientierungen geöffnet, ohne damit seine konfessionelle Gebundenheit im Grundsatz preiszugeben.37 Von diesem Recht auf Teilnahme wird immer wieder Gebrauch gemacht – im Schnitt nehmen 10 % mehr Schülerinnen und Schüler am Unterricht teil, als es tun müssten.38 Lehrerinnen und Lehrer im evangelischen Religionsunterricht sind somit seit Jahren mental und didaktisch darauf eingestellt, dass nicht-evangelische Schülerinnen und Schüler am Unterricht teilnehmen. Auch wenn die römisch-katholische Kirche demgegenüber prinzipiell an der konfessionellen Homogenität des von ihr verantworteten Religionsunterrichts festhält,39 hat sich im römisch-katholischen Religionsunterricht eine ähnliche Praxis herausgebildet. Der Deutsche Katechetenverein hat vor kurzem unter dem Titel Gastfreundschaft für die praktische Ausweitung und programmatische Grundlegung dieser Öffnung geworben40 – de facto wurde eine solche Gastfreundschaft allerdings auch zuvor schon vielfach praktiziert. 37 Kirchenamt EKD, »›Entschließung des Rates der EKD zum Religionsunterricht in der Sekundarstufe II‹ vom 19. 10. 1974«, in: Die Denkschriften der Evangelischen Kirche in Deutschland, Bildung und Erziehung 4.1, hrsg. vom Kirchenamt der EKD, Gütersloh 1987, S. 89f. 38 Vgl. dazu die Erhebung empirischer Daten in ausgewählten Bundesländern in ComeniusInstitut, Evangelischer Religionsunterricht, passim. 39 Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz (Hg.), Die bildende Kraft des Religionsunterrichts, Bonn 1996, S. 50 u. ö. – die 2016 formulierte grundsätzliche Bejahung eines konfessionell-kooperativen Settings relativiert diese Haltung freilich. 40 Dazu Hans Schmid/Winfried Verburg (Hgg.): Gastfreundschaft. Ein Modell für den konfessionellen Religionsunterricht der Zukunft, München 2010.

Formen des Religionsunterrichts

3.1

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Religionsunterricht im Klassenverband

Dieses Mikromodell findet zwar in mancher Hinsicht seine theoretische Ausarbeitung im sogenannten ›Hamburger Weg‹ (allerdings wird in Hamburg ab Klasse 7 mit ›Philosophie‹ ein Alternativfach angeboten, so dass ab dieser Jahrgangsstufe Religionsunterricht kaum je im Klassenverband erteilt wird), doch ist es dort, wo das Klassenverbandsmodell zur Anwendung kommt, in der Regel gerade nicht juristisch oder schulaufsichtlich grundgelegt und nur selten offiziell implementiert:41 Es lebt vielmehr in der Regel gerade von seinem informellen, nur schulintern kommunizierten Charakter.42 Religionsunterricht im Klassenverband wird von einer konfessionell gebundenen Lehrkraft erteilt, allerdings in einer Lerngruppe mit multikonfessioneller bzw. in der Regel multireligiöser Schülerschaft unter Einschluss konfessionsloser Schülerinnen und Schüler – es wird eben gerade angestrebt, alle Schülerinnen und Schüler einer gegebenen Klasse gemeinsam zu unterrichten (während im Mikromodell der Gastfreundschaft an die Teilnahme einzelner konfessionsverschiedener Schülerinnen und Schüler gedacht ist, die ihrerseits freiwillig Interesse an der Teilnahme bekunden und über ihre Teilnahme entscheiden). Die Häufigkeit dieses Religionsunterrichts im Klassenverband ist nicht leicht einzuschätzen – offizielle Schulstatistiken weisen ihn nicht aus, vielmehr firmiert er in ihnen aufgrund der Konfession der Lehrkraft als ›evangelischer‹ oder, seltener, als ›katholischer Religionsunterricht‹. In einer der jüngsten empirischen Untersuchungen ist davon die Rede, »der Religionsunterricht in SchleswigHolstein [werde] faktisch relativ häufig im Klassenverband erteilt«43 – wozu sicherlich maßgeblich beiträgt, dass der Katholizismus dort eine Minderhei41 Ein solches Beispiel ist die Robert-Bosch-Gesamtschule in Hildesheim; auf deren Erläuterung zum Fachbereich ›Religion/Werte und Normen‹ heißt es: »Die Besonderheit, die die Schülerinnen und Schüler der RBG erfahren dürfen, bildet ein im Klassenverband stattfindender Unterricht, der die Aufgabe hat gleichzeitig ›weltanschaulich neutral‹ und ›religionsübergreifend offen‹ zu sein. Zudem möchte gerade der ›religiöse‹ Teil dieses Doppelfaches nicht ohne die spezifische Perspektivität ihrer Lehrerinnen und Lehrer auskommen. Diese beiden Teile zu integrieren und jeweils als individuelle Lehrerpersönlichkeiten zu konturieren und vorzuleben, verstehen wir als unsere wichtigste Aufgabe.« Vgl. robert-bosch-gesamtschule.de /fachbereiche/religionwun (Abruf: 3. 9. 2019). 42 Vgl. die Beschreibung möglicher Konstellationen eines solchen Klassenverbandsunterrichts (nach Anlässen und Anliegen) durch Katja Boehme, »Modelle konfessioneller Kooperation in Deutschland in der Praxis«, in: Gastfreundschaft. Ein Modell für den konfessionellen Religionsunterricht der Zukunft, hrsg. von Hans Schmid und Winfried Verburg, München 2010, S. 102–115, hier S. 104–109, sowie durch Saskia Hütte/Norbert Mette, Religion im Klassenverband unterrichten: Lehrer und Lehrerinnen berichten von ihren Erfahrungen (Theologie und Praxis – Abt. B 16), Münster 2003. 43 Uta Pohl-Patalong/Johannes Woyke/Stefanie Boll et al., Konfessioneller Religionsunterricht in religiöser Vielfalt, Stuttgart 2016, S. 14 [Kursivierung BS].

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tenkonfession darstellt und islamischer Religionsunterricht nicht eingerichtet wurde. Aufhorchen lässt, dass für drei Viertel der befragten Religionslehrkräfte »die ideal zusammengesetzte Lerngruppe für den Religionsunterricht […] alle SuS einer Klasse, unabhängig von der religiösen Zugehörigkeit« umfassen würde.44 Als leitende Begründung für den Religionsunterricht im Klassenverband dient in der Regel (zumal in allgemeinbildenden Schulen, namentlich Grund- und Gesamtschulen) das pädagogische Argument, demzufolge gemeinsames Lernen für das Stabilisieren der Klassengemeinschaft, das Einüben von Verständigung, das vertiefte Kennenlernen oder das Stimulieren daseins- und wertbezogener Lernprozesse durch Verschiedenheit geboten oder förderlich sei. Allerdings findet sich daneben (insbesondere an berufsbildenden Schulen) eine rein schulorganisatorische Begründung: Demnach erfordern Kapazitätsengpässe (was das Lehrpersonal oder die Räume angeht), organisatorische Notwendigkeiten oder die Marginalität des Faches eine Unterrichtung im Klassenverband. Eine spezifisch religionspädagogische Begründung spielt demgegenüber eine nachgeordnete Rolle. Gleichwohl verändert sich der Charakter des intendierten religiösen Lehr-Lern-Prozesses im Vergleich zum Religionsunterricht nach Art.7 Abs. 3 GG erheblich: Die transparente Positionalität der Lehrkraft tritt zurück, aus dem Religionsunterricht wird weithin religionsbezogener, primär religionskundlicher Unterricht, der oft genug auch den Ethikunterricht inkludiert. Schulen, die programmatisch auf Religionsunterricht im Klassenverband abheben, nennen das Fach denn auch bisweilen sogar ›Religion & Ethik‹ oder ähnlich.

3.2

Rotierender Religionsunterricht

Rotierender Religionsunterricht ist bislang mehrfach konzeptionell entfaltet, aber nicht juristisch-administrativ oder projektförmig offiziell implementiert worden. Seinen Sitz im Leben stellt die Multireligiosität, also weltanschauliche Heterogenität der Schülerschaft und das daraus abgeleitete Erfordernis interreligiösen bzw. »interoptional«45-weltanschaulichen Lernens dar – die notwendige Voraussetzung ist das Vorhandensein von Religionslehrenden (und gegebenenfalls Ethiklehrenden) verschiedener Konfession oder Religion. Im Blick auf den Religionsunterricht an berufsbildenden Schulen schrieb Andreas Obermann schon 2006:

44 Pohl-Patalong/Woyke/Boll et al., Konfessioneller Religionsunterricht, S. 328. 45 Dieser Begriff stammt von Hans-Martin Barth, Konfessionslos glücklich: auf dem Weg zu einem religionstranszendenten Christsein, Gütersloh 2013.

Formen des Religionsunterrichts

165

»Die für einen dialogisch-interreligiösen Religionsunterricht […] bevorzugte Organisations- und Gestaltungsform wäre die Einführung des IrRU [= Interreligiöser Religionsunterricht] als eigenständiges Unterrichtsfach nach 7.3 GG […]. Der IrRU würde […] im Klassenverband durchgeführt […] und so in interreligiösen Lerngruppen erfolgen. Der IrRU würde innerhalb einer vorgegebenen schulischen Zeiteinheit (z. B. ein Schuljahr […]) entsprechend der Anzahl der vertretenen Religionsgemeinschaften in […] Phasen mit je spezifisch ausgerichtetem Religionsunterricht unterteilt: ›Religionsunterricht aus jüdischer Perspektive‹, ›Religionsunterricht aus islamischer Perspektive‹ und ›Religionsunterricht aus christlicher Perspektive‹. Die […] zur Verfügung stehenden Lehrkräfte jüdischen, muslimischen und christlichen Glaubens würden nun abwechselnd […] während einer Phase ›ihre‹ Religion authentisch und konfessionell […] unterrichten. Nach Ende der jeweiligen Phase wechseln die Lehrenden rotationsweise, so dass im Laufe der vorgegebenen schulischen Zeiteinheit jede Lerngruppe den konfessionellen Religionsunterricht der verschiedenen Religionsgemeinschaften erlebt bzw. erfahren hat.«46

In ähnlichem Sinne beschreibt Michael Domsgen ein rotierendes Modell der Kooperation ›füreinander‹ zwischen Religions- und Ethikunterricht in SachsenAnhalt: »Ein konfessionell-kooperativer Religionsunterricht im Modus wechselseitiger Anerkennung auf der Grundlage eines verbindlichen Fachlehrkräftewechsels [sc. im Turnus eines Schuljahres] wird dabei kaum zu realisieren sein. Dafür sind die Voraussetzungen nicht gegeben. Hilfreich kann hier eine Differenzierung sein, die Peter Brause, bis 2019 Abteilungsleiter Religionspädagogik/Lehrerfortbildung an der Edith-Stein-Schulstiftung in Magdeburg in einem Gespräch im Rahmen einer Fortbildung eingetragen hat. Er differenzierte zwischen einem konfessionell-kooperativen Religionsunterricht miteinander und einem konfessionell-kooperativen Religionsunterricht füreinander. Die erste Form wird wohl höchst selten umzusetzen sein. Hauptsächlich wird die zweite Form zur Anwendung kommen. Dabei geht es nicht um ein Einheitsfach, sondern um die Ermöglichung authentischer Begegnung mit der je anderen Konfession, indem beispielsweise eine Lehrkraft der anderen Konfession in einem fest verabredeten Zeitraum den Unterricht übernimmt und die je eigene Perspektive dadurch zum Tragen kommen kann. Umsetzbar wäre das beispielsweise durch Lehrkräfte, die eigens dafür ein Stundenkontingent zur Verfügung gestellt bekommen und als eine Art ›Wanderlehrer‹ in einer Region unterwegs sind. Ein solchermaßen von den Kirchen gemeinsam unterstützter und kooperativer Religionsunterricht könnte deutlich machen, was unter einer ernstgemeinten Ökumene zu verstehen ist – nämlich ein echtes Wahrnehmen und schulisches Zeigen von Differenz bei gleichzeitiger Vermittlung von gegenseitiger Wertschätzung und Würdigung.«47

46 Andreas Obermann, Religion unterrichten zwischen Kirchturm und Minarett: Perspektiven für einen dialogisch-konfessorischen Unterricht der abrahamischen Religionsgemeinschaften an berufsbildenden Schulen, Berlin u. a. 2006, hier S. 345f. 47 Hier aus: Michael Domsgen/Harald Schwillus, »Religion unterrichten in Sachsen-Anhalt«, in: Religionsunterricht in den Ländern der Bundesrepublik Deutschland. Neue empirische Da-

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Das Rotieren ist in beiden Modellen den Lehrenden vorbehalten – im einen Fall rotieren sie schulintern (und um dieser Rotation willen werden die nebeneinanderliegenden Religionsunterrichte zugunsten eines interreligiösen Religionsunterrichts aufgelöst), im anderen Fall rotieren sie schulübergreifend (und sorgen so für ein Moment authentischer Begegnung im weiterhin monokonfessionell konzipierten Religionsunterricht).

3.3

Thematisch differenziertes Wahlangebot innerhalb der Fächergruppe (›Themenplanarbeit‹)

In diesem Fall bieten Lehrkräfte verschiedener Konfession, Religion oder Weltanschauung, also Religions- und Ethiklehrende, die in einer gemeinsamen Fachkonferenz kooperieren, Kurse zu verschiedenen Themen an, die von den Schülerinnen und Schülern einmal oder mehrmals pro Halbjahr angewählt werden: Hier rotieren also – anders als in Modell 3.2 – die Schülerinnen und Schüler. Unter didaktischen Gesichtspunkten geht es um die Ermöglichung fächerübergreifenden Arbeitens an einem Thema oder ›Schlüsselproblem‹, das explizit oder implizit daseins- und wertorientierende Bezüge aufweist, etwa ›Gerechtigkeit‹ oder ›die Frage nach dem Sinn‹. Auf Lehrer- wie Schülerseite werden verschiedene Fachkompetenzen, Interessen und Perspektiven zusammengeführt. Nicht minder bedeutsam ist das Anliegen, Schülerinnen und Schülern projektartig eigenständiges, arbeitsteiliges Lernen zu ermöglichen. Ein solcher themenorientierter Unterricht kann seitens der Schülerinnen und Schüler binnen eines Halb- oder Schuljahres den Besuch von mehreren Kursen vorsehen – dies kann auch auf einzelne Unterrichtswochen oder -phasen beschränkt bleiben. Es geht also nicht notwendigerweise um die Auflösung des Religionsunterrichts als ordentliches Lehrfach oder die definitive Beendigung der Lerngruppen-Idee. Bei Christine Lehmann und Martin Schmidt-Kortenbusch etwa heißt es: »Das Aufgehen des gesamten Fachunterrichts Religion in einer solchen Themenplanarbeit […] lehnen wir jedoch ab.«48 Die einzelne themenorientierte Sequenz kann ihrerseits differenziert gestaltet werden: Der Unterricht erfolgt teils in sogenannten ›Differenzierungsphasen‹, also getrennt »zur Verständigung über die eigene kulturell-religiöse Perspektive, und teils

ten – Kontexte – Aktuelle Entwicklungen, hrsg. von Martin Rothgangel und Bernd Schröder, Leipzig 2020, S. 365–394, hier S. 391. 48 Christine Lehmann/Martin Schmidt-Kortenbusch, Thesen zur Themenplanarbeit im Fach Religion, o.O. o. J.; vgl. dies., Handbuch dialogorientierter Religionsunterricht. Grundlagen, Materialien und Methoden für integrierte Schulsysteme, Göttingen 2016, S. 49f.

Formen des Religionsunterrichts

167

in sog. Integrationsphasen, also gemeinsam.« Die »Absprachen über die […] Themen finden in der gemeinsamen Konferenz der Fächergruppe statt.«49 Christine Lehmann und Martin Schmidt-Kortenbusch haben diesen Unterricht konzeptionell beschrieben; er ist etwa an deren früherer Schule, der IGS Franzsches Feld in Braunschweig, implementiert.50

3.4

Religions- und Ethikunterricht als Wahlpflichtkurse in der Fächergruppe

In den neuen Bundesländern ist Ethikunterricht rechtlich nicht als Ersatz-, sondern als Alternativfach zum Religionsunterricht konzipiert. Gleichwohl ist ein Wechsel innerhalb der Fächergruppe in der Regel nur zum Halbjahres- oder Schuljahreswechsel möglich; ein Wechsel zwischen evangelischem und römischkatholischem Religionsunterricht ist nicht vorgesehen. Im Kontext religionspluraler Schulen wird diese Grundstruktur bisweilen auch in den Bundesländern aufgegriffen und modifiziert, in denen Ethikunterricht de jure Ersatzfach für den Religionsunterricht ist. Es wird zudem weitergehend so flexibilisiert, dass Schülerinnen und Schüler – sagen wir: halbjährlich – vor die Wahl zwischen den verschiedenen Religionsunterrichten sowie Ethikunterricht gestellt werden. Auf diese Weise können sie in ihrer Schullaufbahn Einblick in die Unterrichtskultur der verschiedenen daseins- und wertorientierenden Fächer gewinnen. Mit den Fächern stehen bisweilen gleiche, bisweilen alternative Halbjahresthemen (die von der gemeinsamen Fachkonferenz festgelegt werden) zur Wahl. Dies lässt sich als eine – konsequent liberale – Lesart der Fächergruppen-Idee interpretieren, die indes von deren Initiatoren gerade nicht intendiert war: 1994 hatte die EKD-Denkschrift Identität und Verständigung das Konzept der Fächergruppe vorgeschlagen, um mit dessen Hilfe die Stellung der beteiligten Fächer im Curriculum zu stärken. Die Fächer der daseins- und wertorientierenden Gruppe konstituieren demnach einen »eigenständigen Pflichtbereich«; unbe49 Martin Schmidt-Kortenbusch, »Pluralisierung der Gesellschaft und konfessioneller Religionsunterricht – reicht ein ›Weiter so‹?«, in: Zukunftsfähige Schule – zukunftsfähiger Religionsunterricht: Herausforderungen an Schule, Politik und Kirche. FS Hans-Georg Babke, hrsg. von Christine Lehmann, Harry Noormann, Martin Schmidt-Kortenbusch und Heiko Lamprecht, Jena 2011, S. 153–166, hier S. 163. 50 Vgl. dazu neben den in der vorherigen Anmerkung genannten Veröffentlichungen des Autorenduos dies., »Brücken zwischen den Fächern ›Religion‹ und ›Werte und Normen‹ bauen! Konturen eines Begegnungslernens im dialogorientierten Religionsunterricht«, in: Religionsund Ethikunterricht zwischen Konkurrenz und Kooperation, hrsg. von Bernd Schröder und Moritz Emmelmann, Göttingen 2018, S. 333–354, und dies., Dialogorientierter Religionsunterricht in integrierten Schulsystemen: Unterrichtsplanungen und -materialien zu zentralen Themen der Sek I, Göttingen 2016.

168

Bernd Schröder

schadet dessen handelt es sich um »voneinander unterschiedene Fächer«, die keineswegs inhalts- und zielgleich angelegt sind.51

3.5

Themengleich, aber perspektivdifferenzierend kooperierende Fächergruppe

Auch in diesem Mikromodell bleiben die verschieden konfessionellen Religionsunterrichte und der Ethikunterricht einerseits ›unterschiedene Fächer‹, die keineswegs inhalts- und zielgleich angelegt sind, werden aber andererseits zu kooperierenden Fächern. Die Kooperation erfolgt jedoch nicht durch koordinierte Themendifferenzierung (wie in 3.3) und auch nicht durch ein Kurswahlsystem (wie in 3.4), sondern durch eine koordinierte Phasengliederung des Unterrichts, die teils zur konfessionell-weltanschaulichen Mischung der Lerngruppen, teils zu konfessionshomogenen Lernphasen Anlass gibt. Ein solches Modell hat etwa Christian Kahrs ausgearbeitet.52 Ihm schwebt ein ›Fachbereich Religion‹ vor, der – für alle Schülerinnen und Schüler obligatorisch – Religion zum Thema macht und sie so als »integrale[n] Bestandteil der öffentlichen Schule« bzw. der Allgemeinbildung ausweist.53 Die Schülerinnen und Schüler werden jedoch nicht im Klassenverband unterrichtet, sondern durch Kooperation und regelmäßigen Wechsel der Schülergruppen zwischen den beteiligten ›Fächern‹ lernen sie verschieden ›konfessionelle‹ bzw. perspektivische Sichtweisen auf das jeweilige Thema kennen, ohne ihrerseits an eine bestimmte Konfession gebunden zu sein. Die jeweilige Lerngruppe wird in prozessualer Hinsicht mit einer Mixtur aus »fachdifferenzierter Erarbeitungsphase«, »integrativer Diskursphase« und »fachdifferenzierter Reflexionsphase« konfrontiert.54 Katja Boehme schildert ein ähnliches Modell, das sich aus dem Interesse an konfessionell vertiefendem und interreligiösem Lernen speist.55 Dessen Ursprungsimpuls verdankt sich dem Plädoyer für konfessionelle Kooperation – von der EKD 1994 ins Spiel gebracht und schon zuvor von Karl Ernst Nipkow vor-

51 Kirchenamt EKD, Identität und Verständigung, S. 80. Zu Genese und Einschätzung vgl. Christoph Scheilke, Von Religion lernen heute, Münster 2003, insbes. S. 249f. 52 Christian Kahrs, Öffentliche Bildung privater Religion. Plädoyer für einen »Fachbereich Religion« – obligatorisch für alle (Religionspädagogik in pluraler Gesellschaft 13), Freiburg im Breisgau 2009. 53 Kahrs, Öffentliche Bildung privater Religion, S. 11. 54 Kahrs, Öffentliche Bildung privater Religion, S. 216f. 55 Katja Boehme, »Fächergruppe Religionsunterricht in interreligiöser Kooperation«, in: Religionsunterricht wohin? Modelle seiner Organisation und didaktischen Struktur, hrsg. von Bernd Schröder, Neukirchen-Vluyn 2014, S. 31–44, hier S. 32–34 und 36ff.

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169

geschlagen56 – und dessen Weiterentwicklung durch das Erzbischöfliche Ordinariat Berlin und das Konsistorium der Evangelischen Kirche in Berlin-Brandenburg im Jahr 2000:57 »Der von den beiden Kirchen Berlins vorgelegte Entwurf lässt in einer ersten Phase (Phase 1) Schüler und Schülerinnen in den Fächern Katholischer, Evangelischer, ggf. Islamischer Religionsunterricht, Ethik/Philosophie und Lebenskunde58 zu einem zuvor festgelegten gemeinsamen Thema im Umfang einer Unterrichtseinheit getrennt lernen. Auf diese Differenzierungsphase des getrennten Fachunterrichts folgen die eigentlichen beiden Kooperationsphasen: Die der gegenseitigen Präsentation in einem Forum aller beteiligten Schülerinnen und Schüler (Phase 2) und die eines Austauschs (bzw. der Diskussion) in kleinen, gemischten Gruppen (Phase 3). Eine Reflexionsphase in der eigenen Lerngruppe (Phase 4) schließt die fächerverbindende Kooperation in der Fächergruppe ab.«59

Bemerkenswert ist an den Mikromodellen 3.2–3.6, dass sie allesamt von der 1994 ausgerufenen Idee einer ›Fächergruppe‹ ausgehen60 und dabei verschiedene konfessionelle, religiöse und zudem weltanschaulich unterschiedene Fächer und Fachlehrende sowie Schülerinnen und Schüler in Interaktion bringen.

56 Boehme verweist etwa auf Karl Ernst Nipkow: »Der Weg der Fächergruppe mit einem dialogorientierten, mehrseitig kooperierenden evangelischen Religionsunterricht«, in: Wahrheit und Dialog. Theologische Grundlagen und Impulse gegenwärtiger Religionspädagogik, hrsg. von Wolfram Weiße und Folkert Doedens, Münster 2002, S.89–106, hier S.100, und Karl Ernst Nipkow »Grundlagen und Profil eines zukunftsfähigen Religionsunterrichts angesichts religiöser Heterogenität«, in: Zukunftsfähige Schule – zukunftsfähiger Religionsunterricht: Herausforderungen an Schule, Politik und Kirche. FS Hans-Georg Babke, hrsg. von Christine Lehmann, Harry Noormann, Martin Schmidt-Kortenbusch und Heiko Lamprecht, Jena 2011, S. 69–88, hier S. 76. 57 Konsistorium der EKD Berlin-Brandenburg, »Erzbischöfliches Ordinariat Berlin: Eine Fächergruppe religiöser, philosophisch-ethischer und weltanschaulicher Bildung«, in: Religiöse Bildung und religionskundliches Lernen in ostdeutschen Schulen. Dokumente konfessioneller Kooperation, hrsg. von Matthias Hahn, Christoph Hartmann, Detlev Kahl et al., Münster 2000, S. 189–193; Rolf Lüpke, »Der Berliner Weg zum Konzept einer Fächergruppe«, in: Religions- und Ethikunterricht in der Schule mit Zukunft, hrsg. von Michael Domsgen, Matthias Hahn und Gisela Raupach-Strey, Bad Heilbrunn/Obb. 2003, S. 167–182. 58 Das Fach Lebenskunde der Humanistischen Union stellt eine Besonderheit des Bildungsangebots in Berlin dar, während der jüdische Religionsunterricht als wichtiger Partner im Konzept hier unerwähnt bleibt. 59 Für die ausführliche Beschreibung der vier Phasen vgl. Katja Boehme, »Abrahams Gastfreundschaft als Metapher für interreligiöses Lernen in der Schule«, in: Der andere Abraham. Theologische und didaktische Reflexionen eines Klassikers, hrsg. von Harry Harun Behr, Daniel Krochmalnik und Bernd Schröder, Berlin 2011, S. 217–245, hier S. 234–237. 60 Kirchenamt, Identität und Verständigung, S. 79 – vgl. zum Gesamt Bernd Schröder, »Religions- und Ethikunterricht – eine Fächergruppe? Ein Plädoyer«, in: Religions- und Ethikunterricht zwischen Konkurrenz und Kooperation, hrsg. von Bernd Schröder und Moritz Emmelmann, Göttingen 2018, hier S. 370–376.

170 3.6

Bernd Schröder

Religionsgespräch und Seminarunterricht

Für Berufsbildende Schulen sieht das schleswig-holsteinische Schulgesetz (§ 6 Abs. 2) im Laufe von drei Ausbildungsjahren lediglich dreißig Stunden Religionsunterricht bzw. ein sogenanntes ›Religionsgespräch‹ vor.61 Dies wird so ausgestaltet, dass entweder einmal im Monat eine Einzelstunde oder einmal in jedem zweiten Monat eine Doppelstunde Religionsunterricht erteilt wird; bisweilen kommen alternativ pro Schuljahr zwei Projekttage zur Durchführung. Verallgemeinerungsfähig erscheint – zumal an Berufsbildenden Schulen – die organisatorisch-didaktische Idee, den Religionsunterricht zu blocken und in Projekt- bzw. Seminarform zu gestalten. Auf diese Weise kann das methodische Spektrum erweitert, der Brückenschlag zu außerschulischen Lernorten erleichtert und die Schülerorientierung verbessert werden62 – freilich um den Preis der Ordentlichkeit des Unterrichts bzw. des Faches. In ähnlicher Weise wird Berufsbildenden Schulen in Berlin von Seiten der Evangelischen Kirche ein ›Seminartag‹ angeboten, der außerhalb der Schule in einer evangelischen Jugendbildungsstätte stattfindet.63 Wie weit solche Mikromodelle verbreitet sind, ist derzeit nicht empirisch erhoben bzw. dokumentiert – allerdings ist jedes der genannten Modelle mindestens an einzelnen Schulen, womöglich sogar in Schulformen oder Regionen zu finden. Ihr Vorhandensein und ihre mutmaßliche Verbreitung belegen somit den mehr oder weniger starken Veränderungsdruck, der in den Augen von Schulleitungen und Lehrenden ›vor Ort‹ auf dem Religionsunterricht lastet. Dieser Druck führt gegenwärtig nicht zuerst, sondern eher am Ende eines Weges zur Veränderung der offiziellen Rahmenbedingungen – er führt jedoch vielerorts bereits seit längerem zu einer »Periode des Experiments«64 in der je lokalen 61 Karlheinz Einsle/Holger Hammerich, »Religion unterrichten in Schleswig-Holstein«, in: Evangelischer Religionsunterricht in den Ländern der Bundesrepublik Deutschland. Empirische Daten – Kontexte – Entwicklungen, hrsg. von Martin Rothgangel und Bernd Schröder, Leipzig 2009, S. 347–360, hier S. 350. Vgl. auch Folkert Doedens, Evangelischer Religionsunterricht in Schleswig-Holstein. Befragung der ReligionslehrerInnen in allen Schularten und Schulstufen, Hamburg/Kiel 2008, und Roland Biewald/Andreas Obermann/Bernd Schröder/ Wilhelm Schwendemann (Hgg.), Handbuch Religionsunterricht an Berufsbildenden Schulen, Neukirchen-Vluyn 2018, S. 20. 62 Vgl. Hans-Henning Averbeck/Andreas Obermann/Bernd Schröder/Wilhelm Schwendemann, »Religionsunterricht an Berufsbildenden Schulen. Herausforderung für die religionspädagogische Theoriebildung«, in: BRU-Magazin 47 (2008), S. 42–50. 63 Biewald et al., Handbuch Religionsunterricht an Berufsbildenden Schulen, S. 68. 64 Was hier im deskriptiven Sinne als lokal bereits eingetreten benannt wird, postuliert Andreas Kubik als Prospekt – die Formulierung selbst geht auf Ernst Troeltsch, Der Religionsunterricht und die Trennung von Staat und Kirchen, Tübingen 1918/19 zurück; Nachweis bei Andreas Kubik, »Eine ›Periode des Experiments‹. Für mehr Realismus in der Debatte um die Zukunft des Religionsunterrichts«, in: ZPT 69 (2017), S. 70–81, hier S. 80.

Formen des Religionsunterrichts

171

Praxis. Diese empirisch zu kartografieren ist eine unerlässliche, wenngleich keineswegs hinreichende Aufgabe auf dem Weg zur Neujustierung des Religionsunterrichts.65

4.

Schlussbemerkung

Die disparaten Entwicklungsrichtungen des Religionsunterricht innerhalb Deutschlands wie Europas markieren (mindestens) drei Baustellen: – erstens: Legitimation religiöser, speziell religionsgemeinschaftlich mitverantworteter Bildung in der Schule, – zweitens: Suche nach einer angemessenen, schuladäquaten und hinreichend einfach zu handhabenden Organisationsform und – drittens: Neu-Justierung der Inhalte und Ziele (Kompetenzen) angesichts der Pluralität religiöser und konfessionsloser Orientierungen. Sollte in Zukunft im großen Stil und unter Einschluss der Veränderung seiner gesetzlichen Grundlagen eine Reform des Religionsunterrichts herbeigeführt werden, so stellen die Makro- und Mikromodelle fraglos ein Reservoir an Anregungen bereit. Eine solche Reform sollte indes nicht ›irgendwie‹ den in der Praxis beobachtbaren Veränderungen folgen, sondern vielmehr im Rückgriff auf empirische Daten und – nicht minder – auf religionspädagogische Theoriebildung und Expertise sowie Mitwirkungsbereitschaft in der Bezugswissenschaft ›Theologie‹66 begründbar sein. Einen Vorschlag, welche Kriterien bei der Sondierung und Gewichtung der Modelle zu berücksichtigen sind, habe ich an anderer Stelle unterbreitet.67 Nicht die geringste Rolle sollte dabei spielen, dass diese Neujustierung die Religionslehrerinnen und -lehrer in die Lage versetzen muss, den konzeptionell beschriebenen, in der Regel komplexen Vorgaben unterrichtlich Rechnung zu tragen68 – ein (zu) groß werdender Hiatus zwischen Anspruch und realer Unterrichtspraxis mindert nicht nur die Qualität des Religionsunterrichts, sondern untergräbt und delegitimiert auf Dauer Konzeption und Status des Faches. 65 Für Niedersachsen unternimmt das Projekt ›Religionsbezogene Bildung in Niedersachsen (ReBiNis)‹ unter der Leitung von Monika Fuchs und Bernd Schröder (2020–2022) den Versuch einer empiriebasierten Klärung. 66 Dazu – mit Recht – Arnulf von Scheliha, »Religionsunterricht 4.0. Theologische Überlegungen zu kooperativen Modellen im Rahmen des geltenden Religionsrechts«, in: Zeitschrift für evangelisches Kirchenrecht 64 (2019), S. 374–393, hier S. 391f. 67 Schröder, »Auf dem Weg zu einer Option für die zukünftige Gestalt des Religionsunterrichts«, S. 181–192. 68 Vgl. Wissmann, Religionsunterricht für alle?, vor allem S. 79–82.

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Bernd Schröder

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Bernd Schröder

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Anne Burkard

Herausforderungen für die Kooperation zwischen bekenntnisorientiertem Religionsunterricht und seinen Ersatzfächern. Eine philosophiedidaktische Perspektive

Wie sollte das Verhältnis zwischen dem bekenntnisorientierten Religionsunterricht und den Ersatz- und Alternativfächern wie Ethik, Werte und Normen oder Philosophie gestaltet werden? Bereits seit Jahrzehnten werden in Deutschland unterschiedliche Formen der Kooperation zwischen den Fächern diskutiert und erprobt. Das Spektrum reicht vom sogenannten ›Fächergruppenmodell‹, das primär auf eine engere organisatorische Verzahnung an den Schulen, eine Erleichterung inhaltlicher Kooperation sowie eine Stärkung der beteiligten Schulfächer setzt, über Modelle, nach denen der Religions- und der Ersatzunterricht für einzelne Sequenzen oder Projekte gemeinsamen erteilt werden, bis hin zu einer langfristigen Zusammenlegung des Unterrichts.1 Im vorliegenden Beitrag geht es mir nicht darum, die unterschiedlichen Modelle zu diskutieren oder ein neues Konzept für die Kooperation vorzustellen. Vielmehr möchte ich aus einer philosophiedidaktischen Perspektive Heraus1 Vgl. etwa Friedrich Schweitzer, »Kooperation zwischen Ethik/Philosophie und Religion«, in: Ethik/Philosophie – Didaktik. Praxishandbuch für die Sekundarstufe I und II, hrsg. von Barbara Brüning, Berlin 2016, S. 49–59 und Bernd Schröder, »Religions- und Ethikunterricht – eine Fächergruppe? Ein Plädoyer«, in: Religions- und Ethikunterricht zwischen Konkurrenz und Kooperation, hrsg. von dems. und Moritz Emmelmann, Göttingen 2018, S.356–376, Abschnitt 3 für Überblicksdarstellungen sowie diverse Beiträge in Bernd Schröder/Moritz Emmelmann, Religions- und Ethikunterricht zwischen Konkurrenz und Kooperation, Göttingen 2018, für die Vorstellung konkreter Beispiele für Kooperationsformen an Schulen. Die Unterscheidung zwischen so genannten Ersatz- und Alternativfächern bezieht sich auf unterschiedliche rechtliche Konstruktionen zum bekenntnisorientierten Religionsunterricht in den Bundesländern; insbesondere in östlichen Bundesländern hat Ethik teils den rechtlichen Status eines gleichberechtigten Alternativfaches. Da dieser Unterschied für die inhaltliche Ausgestaltung der Fächer weitgehend irrelevant ist, spreche ich im Folgenden der Einfachheit halber nur von Ersatzfächern. Die pauschale Bezeichnung von Philosophie als Ersatzfach ist insofern nicht ganz treffend, als der Philosophieunterricht in einigen Bundesländern in der Oberstufe den Status eines Wahlpflichtfaches besitzt. Um die Darstellung zu vereinfachen, schließe ich im Folgenden dennoch auch den Philosophieunterricht unter der Bezeichnung ›Ersatzfach‹ mit ein; siehe auch das Folgende. Vgl. Fachverband Ethik, »Denkschrift zum Ethikunterricht – Zwischen Diskriminierung und Erfolg« (2016), fachverband-ethik.de/index.php?id=7 (Abruf: 30. 3. 2020) für eine Übersicht zum und Kritik am Status quo.

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forderungen für eine engere Zusammenarbeit zwischen den Fächern aufzeigen, die primär mit dem Zuschnitt der Ersatzfächer, der Konstruktion des Verhältnisses zwischen Ersatz- und Religionsunterricht, aber auch mit organisatorischen Herausforderungen zu tun haben. Diese Benennung von Herausforderungen ist nicht als generelles Votum gegen Kooperationen zwischen den Fächern zu verstehen. Zwar könnte der Fokus auf die Herausforderungen durchaus dazu beitragen, dass Grenzen der Zusammenarbeit deutlicher sichtbar werden, und auch dazu, dass vor diesem Hintergrund manche Bemühungen um eine engere Verzahnung der Fächer nicht weiterverfolgt werden. Doch mag das Herausarbeiten von Herausforderungen ebenso dazu beitragen, dass Kooperationshindernisse aus dem Weg geräumt werden und die Zusammenarbeit verstärkt auf eine Weise verfolgt wird, die für alle Beteiligten einen größeren Gewinn verspricht. Im Folgenden skizziere ich zunächst den Rahmen der nachfolgenden Diskussion (Abschnitt 1), bevor ich in Hinblick auf Eigenschaften der Ersatzfächer sowie bezogen auf das Verhältnis zwischen Religions- und Ersatzunterricht eine Reihe von Herausforderungen für die Kooperation benenne (Abschnitt 2). Vor diesem Hintergrund skizziere ich in einem kurzen Ausblick mögliche Konsequenzen für Kooperationsbemühungen (Abschnitt 3).

1.

Der Rahmen der Diskussion

Auf den ersten Blick scheint die Lage klar zu sein: Im deutschen Bildungssystem stehen der bekenntnisorientierte Religionsunterricht und Fächer wie Ethik, Werte und Normen oder Philosophie in direkter Konkurrenz zueinander und das Verhältnis zwischen Religions- und Ersatzfächern ist asymmetrisch. Während der Religionsunterricht – als einziges dort genanntes Schulfach – im Grundgesetz verankert ist, werden die Ersatzfächer in Abhängigkeit von ihm bestimmt: Durch das Angebot dieser Fächer soll die negative Religionsfreiheit der Schüler:innen gewährleistet werden. Sie sollen die Möglichkeit erhalten, einen bekenntnisfreien Unterricht zu besuchen, dessen Gegenstände zumindest in Teilen zu denen des Religionsunterrichts äquivalent sind. Damit gibt es die Ersatzfächer in ihrer gegenwärtigen Form, weil es den konfessionellen Religionsunterricht gibt, zu dem ein angemessener, gleichwertiger Ersatz angeboten werden soll. Auch für die schulpraktische Ebene scheint die Konkurrenzsituation auf der Hand zu liegen, da die Schüler:innen in aller Regel nur am Religionsunterricht oder am Unterricht des jeweiligen Ersatzfaches teilnehmen können. Nicht zuletzt unterscheiden sich die Fächer scheinbar grundlegend in ihrer Ausrichtung oder Positionalität: Während auf der einen Seite die Bindung an ein religiöses Bekenntnis konstitutiv

Herausforderungen für die Kooperation Religionsunterricht/Ersatzfächern

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für die Gestaltung der Religionsfächer ist, sollen die Alternativ- und Ersatzfächer weltanschauungs- und bekenntnisneutral unterrichtet werden.2 Doch bei näherer Betrachtung wird schnell deutlich, dass das Verhältnis zwischen den Religions- und Ersatzfächern komplexer ist. Um nur einige Dimensionen dieses vielschichtigen Verhältnisses jenseits der skizzierten Konkurrenz zu nennen: Schüler:innen wechseln zwischen den Fächern hin und her, und die Wahl hat bisweilen mehr mit den jeweiligen Lehrkräften als mit dem eigenen Verhältnis zur Religion zu tun; keineswegs in allen Bundesländern stehen Religions- und Ersatzfach als Alternativen nebeneinander: in Berlin und Brandenburg etwa werden jeweils Modelle eines Ethik- oder Religionsunterrichts für alle praktiziert; aus schulorganisatorischen Gründen wird in anderen Bundesländern der Unterricht ebenfalls gelegentlich zusammengelegt; in der Oberstufe wird Philosophie teils neben Religion als Wahlfach angeboten und es ist prinzipiell möglich, beide Fächer parallel zu belegen; die Grenzziehung zwischen den Fächern in Bezug auf Fragen der Positionalität, Neutralität und Wertebildung wie auch bezüglich der Unterrichtsinhalte ist weit weniger scharf, als es zunächst scheinen mag; und nicht zuletzt wurde vorgeschlagen, Religions-, Ethik- und Philosophieunterricht unter einer gemeinsamen Perspektive als diejenigen Fächer zu vereinen, in denen »Probleme konstitutiver Rationalität« verhandelt werden.3 2 Vgl. Schröder, »Religions- und Ethikunterricht – eine Fächergruppe? Ein Plädoyer«, Abschnitte 1 und 2 für eine Übersicht zur Rechtslage sowie zur Geschichte des Religionsunterrichts und der Ersatz- und Alternativfächer in Deutschland; siehe auch Anita Rösch, »Religions- und Ethikunterricht im Vergleich«, in: Ethik & Unterricht 1 (2012), S. 1–3 für eine knappe Gegenüberstellung von Religions- und Ethikunterricht. Vgl. für eine Charakterisierung der Positionalität des Religionsunterrichts folgenden Auszug aus einem Gespräch zum Religions- und Ethikunterricht: »Das Proprium des Faches Religion würde ich darin sehen, dass man versteht, was es heißt, als religiöser Mensch zu leben, speziell als christlicher Mensch. Das heißt nicht, dass die Schülerinnen und Schüler diese Position übernehmen, aber dass wir offenlegen, auf welcher Basis der Unterricht erfolgt. Das ist die Positionalität der Lehrkraft. Sie ist der entscheidende Anker, über [den] die Positionalität gesichert wird. Ein Unterricht, bei dem transparent gemacht wird, von welchem Standpunkt er initiiert wird, kann produktive Lernprozesse auslösen und führt zu Auseinandersetzungen und Fragen.« Rainer Merkel/Till Warmbold, »Religions- und Ethikunterricht im Alltag der Schule«, in: Religions- und Ethikunterricht zwischen Konkurrenz und Kooperation, hrsg. von Bernd Schröder und Moritz Emmelmann, Göttingen 2018, S. 37–52, hier S. 42. 3 So Bernhard Dressler unter Rückgriff auf Jürgen Baumert, vgl. Bernhard Dressler, »Die Welt in unterschiedlichen Perspektiven verstehen. Philosophie und Religion in der schulischen Domäne ›konstitutiver Rationalität‹«, in: Ethik & Unterricht 2 (2014), S. 15–19, hier S. 17: »Unter dem Begriff der ›konstitutiven Rationalität‹ wird hier religiöse und philosophische Bildung als eigenständiger Beitrag zur schulischen Allgemeinbildung verstanden. […] [Es ist] sachgerecht, dass es fachspezifische Orte gibt, an denen die epistemischen Muster der Welterschließung thematisiert werden; an denen gleichsam die Bedingungen der Möglichkeit, die Welt zu verstehen, zur Sprache kommen. Hierum geht es in den Fächern Religion und Philosophie.« Vgl. auch Bernd Schröders ausführlichere Verhältnisbestimmung der Fächer und sein Plädoyer

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Das Verhältnis zwischen Religionsunterricht und den Ersatzfächern ist auch angesichts der divergierenden rechtlichen Regelungen für den Religionsunterricht in den Bundesländern und angesichts der unterschiedlichen Ausgestaltung der Ersatzfächer komplex und unübersichtlich.4 Nicht nur die Bezeichnungen der Fächer variieren, sondern auch ihre inhaltliche Ausrichtung und zentrale Zielsetzung sowie die Ausbildung der angehenden Lehrkräfte. Hinzu kommt, dass die sich verändernde gesellschaftliche Lage, insbesondere eine zunehmende Säkularisierung auf der einen Seite und eine gleichzeitige Pluralisierung konfessioneller und religiöser Bindungen auf der anderen Seite, den Status quo fragwürdig werden lässt.5 Vor diesem Hintergrund mag es nahe liegen, eine grundlegende Neuregelung des Religions- und Ersatzfachunterrichts anzustoßen. Wäre es nicht an der Zeit für einen (primär) religionskundlichen Unterricht für alle, wie es ihn beispielsweise in Schweden gibt, für Ethikunterricht, in dem alle Schüler:innen gemeinsam lernen, wie an den Sekundarschulen Berlins, oder für einen allgemeinen Philosophieunterricht, wie an den französischen Lycées? – Ein bekenntnisorientierter Religionsunterricht für alle käme nicht in Frage, da er der negativen Religionsfreiheit der Lernenden entgegenstünde. Doch im Sinne der Rahmung der Tagung, aus der dieser Band hervorgegangen ist, gehe ich hier von der Annahme aus, dass sich die grundgesetzlich festgeschriebene Struktur bis auf Weiteres nicht verändern wird. So wirft auch bereits die Nennung möglicher Richtungen, in die sich Reformen bewegen könnten, Licht auf eine Schwierigkeit, mit der Initiativen zur Veränderung des Status quo konfrontiert werden – ganz abgesehen vom Widerstand seitens der Vertretungen der bekenntnisorientierten Religionsfächer, die wohl alle drei Richtungen ablehnen würden. Somit beziehen sich die folgenden Überlegungen zu Herausforderungen für die Kooperation zwischen den Religions- und Ersatzfächern auf den gegenwärtig vorfindlichen rechtlichen Rahmen.

für den Aufbau einer »weltanschaulich-religiös-werteorientierende[n] Fächergruppe« in: Schröder, »Religions- und Ethikunterricht – eine Fächergruppe? Ein Plädoyer«, S. 375. 4 Vgl. Michael Meyer-Blanck, »Formen des Religionsunterrichts in den Ländern der Bundesrepublik Deutschland«, in: Religionspädagogisches Kompendium, hrsg. von Martin Rothgangel, Adam Gottfried und Rainer Lachmann, Göttingen 72012, S. 160–174 für eine detaillierte Übersicht mit Fokus auf den Religionsunterricht und einen Bericht der Kultusministerkonferenz, »Zur Situation des Ethikunterrichts in der Bundesrepublik Deutschland. Bericht der Kultusministerkonferenz vom 22. 2. 2008 i. d.f. vom 25. 6. 2020«, in: www.kmk.org [Stichwort ›Ethikunterricht‹] ([2008] 2020, Abruf: 13. 5. 2021) für eine Übersicht zur Vielfalt der Ersatzfächer. 5 Vgl. etwa Eva Kenngott, »Religionskunde«, in: Das wissenschaftlich-religionspädagogische Lexikon im Internet (2017), www.bibelwissenschaft.de/stichwort/100127 (Abruf: 30. 3. 2020), S. 3.

Herausforderungen für die Kooperation Religionsunterricht/Ersatzfächern

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Wenn ich hier aus philosophiedidaktischer Perspektive schreibe, beanspruche ich nicht, die vielfältige Stimmenlandschaft zu repräsentieren, durch die die Philosophiedidaktik und die von ihr nicht klar abzugrenzende Ethikdidaktik gekennzeichnet sind. Vielmehr soll durch die Markierung dieser Perspektive zum einen deutlich werden, dass es sich um einen Zugang handelt, dessen zentrale Bezugsdisziplin die Philosophie ist, und zum anderen, dass dieser sich von religionswissenschaftlichen, allgemeindidaktischen und erziehungswissenschaftlichen Perspektiven unterscheidet, die für die Ersatzfächer ebenfalls relevant sind. Auch wenn sich in aller Regel weder Lehrende und Forschende der Philosophie- und Ethikdidaktik noch die Lehrkräfte, die diese Fächer an den Schulen unterrichten, als Vertreter:innen von Ersatzfächern verstehen, verwende ich diese Bezeichnung im Folgenden immer dann, wenn es nicht um ein spezifisches Fach der so durch ihre strukturelle Position im schulischen Bildungssystem charakterisierten Fächergruppe geht. Damit möchte ich keineswegs Zustimmung zu einem Verständnis der Fächer als bloßen Ersatz für den Religionsunterricht signalisieren. Vielmehr kann diese Redeweise die Asymmetrie zwischen den Ethik- und Philosophiefächern der meisten Bundesländer auf der einen Seite und den Religionsfächern auf der anderen Seite unterstreichen, die bei allen Entwicklungen der letzten Jahrzehnte und trotz aller Unterschiede zwischen den einzelnen Fachzuschnitten das Fächerverhältnis charakterisiert.6

2.

Herausforderungen für die Kooperation

Die Ausführungen dieses Abschnitts sollen einen Einblick in wichtige Aufgaben geben, die es bei Kooperationsbemühungen zwischen Religions- und Ersatzfächern zu berücksichtigen gälte. Die Herausforderungen, die ich im Folgenden aufzeige, stehen dabei in keiner bestimmten Rangfolge zueinander. Ich gehe auf die ersten der skizzierten Herausforderungen a) bis c) etwas ausführlicher ein, weil sich in diesem Zuge zugleich Eigenschaften der Ersatzfächer darlegen lassen, die auch unabhängig von möglichen Kooperationen für die Fächer selbst oder die sie begleitenden wissenschaftlichen Disziplinen Herausforderungen darstellen. Für die weiteren benannten Herausforderungen d) bis j) reicht eine knappere Darstellung, weil sie sich entweder aus dem Vorherigen ergeben oder in Kürze 6 Auf das Fach Ethik in Berlin und das Fach Lebensgestaltung–Ethik–Religionskunde in Brandenburg, bei denen es sich nicht um Ersatz- oder Alternativfächer handelt, nehme ich im Folgenden nur Bezug, wenn es um die Philosophiedidaktik geht, die für diese Fächer selbstverständlich ebenso zuständig ist wie für die Ersatzfächer. In Brandenburg ist es allerdings möglich, sich vom gemeinsamen Unterricht abzumelden und stattdessen einen bekenntnisorientierten Religionsunterricht bzw. einen weltanschaulich gebundenen Lebenskundeunterricht zu besuchen.

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umreißen lassen. Aspekte, die für mehrere der benannten Herausforderungen eine Rolle spielen, betreffen die Selbstverortung und Zielsetzungen der Ersatzfächer, ihre teils interdisziplinäre Ausrichtung sowie organisatorische Schwierigkeiten, die der Kooperation auf schulpraktischer Ebene im Wege stehen.

a)

Unterschiedliche Bedeutung religionskundlicher Inhalte für die Ersatzfächer

Die erwähnte Vielfalt der Ersatzfächer in den einzelnen Bundesländern stellt unter anderem deswegen eine Herausforderung für die Zusammenarbeit mit dem Religionsunterricht dar, weil das Ersatzfach und damit auch das Verhältnis der Fächer zueinander jeweils ein anderes ist. So spielen insbesondere Religion und Religionswissenschaft für drei exemplarisch herausgegriffene Fächer der Sekundarstufe I – Philosophie in Schleswig-Holstein, Praktische Philosophie in Nordrhein-Westfalen und Werte und Normen in Niedersachsen – eine ganz unterschiedliche Rolle.7 Im Curriculum für den schleswig-holsteinischen Philosophieunterricht wird Religion lediglich in einem Reflexionsbereich explizit als Thema benannt.8 Angehende Lehrkräfte dieses Faches studieren Philosophie, ohne religionswissenschaftliche Anteile. Im schulischen Curriculum für das Fach Praktische Philosophie wird Philosophie als »Leitwissenschaft« genannt, Religionswissenschaft, Psychologie und Soziologie werden als »Bezugswissenschaft[en]« angeführt. Ein auf »Religion bezogene[r] inhaltliche[r] Schwerpunkt« ist in diesem Unterrichtsfach mindestens einmal im Laufe von sechs Schuljahren obligatorisch zu unterrichten, entsprechende Themenschwerpunkte werden für jeden Doppeljahrgang benannt.9 Auch hier bereitet ein Philosophiestudium auf den Lehrberuf vor, wobei an einigen Universitäten in Nordrhein-Westfalen auch religionswissenschaftliche Inhalte in geringem Umfang Teil des Studiums sind. Für das niedersächsische Schulfach Werte und Normen 7 Auch in anderen Hinsichten bestehen wichtige Unterschiede in der Ausrichtung der Fächer. In Bezug auf die Frage der ›Werteerziehung‹ stellt Ekkehard Martens beispielsweise fest, »die unterschiedlichen Lehrpläne [bewegten sich] konzeptionell zwischen einem ›weltanschaulichreligiösen‹, ›moralpädagogischen‹, ›lebenskundlichen‹ und einem ›Nachdenklichkeitsmodell‹«, siehe Ekkehard Martens, Methodik des Ethik- und Philosophieunterrichts. Philosophieren als elementare Kulturtechnik, Hannover 2003, S. 37. 8 Vgl. den Reflexionsbereich Was darf ich hoffen? im Curriculum und dort das Thema Vorstellungen und Begriffe des Göttlichen für den Jahrgang 8/9, siehe Ministerium für Schule und Berufsbildung des Landes Schleswig-Holstein (Hg.), »Fachanforderungen Philosophie«, lehr plan.lernnetz.de/index.php?wahl=199 (Abruf: 30. 3. 2020), S. 59f. 9 Vgl. Ministerium für Schule und Weiterbildung des Landes Nordrhein-Westfalen (Hg.), »Kernlehrplan für die Sekundarstufe I: Praktische Philosophie« (2008), www.schulentwicklung. nrw.de/lehrplaene/upload/lehrplaene_download/realschule/rs_praktische_philosophie.pdf (Abruf: 30. 3. 2020), S. 12 und 20.

Herausforderungen für die Kooperation Religionsunterricht/Ersatzfächern

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spielen Religion und Religionswissenschaft demgegenüber eine deutlich größere Rolle. Hier nennt das Curriculum Philosophie, Religionswissenschaft und ›geeignete Gesellschaftswissenschaften‹ als Bezugswissenschaften. Verbindliche religionsbezogene Leitthemen werden explizit für zwei von drei Doppeljahrgängen benannt und religionskundliche Fragestellungen sind auch in anderen Themenbereichen des Faches Lerngegenstand.10 Die angehenden Lehrkräfte belegen in ihrem Studium neben philosophischen Veranstaltungen je nach Universitätsstandort entweder in beträchtlichem, in annähernd gleichem oder sogar in größerem Umfang religionswissenschaftliche Angebote. Zusätzlich zählt teils ein Wahlpflichtangebot aus dem Bereich der Gesellschaftswissenschaften zum Studium des Faches Werte und Normen. Angesichts der Vielfalt der fachlichen Ausrichtung, die schon der kursorische Blick auf diese drei Fächer hinsichtlich des Gegenstandes Religion und die zu studierenden Fächer aufzeigt, ist bei der Entwicklung von Kooperationsmodellen mit dem bekenntnisorientierten Religionsunterricht zu berücksichtigen, in welchem Umfang und aus welcher fachlichen Perspektive in den Ersatzfächern selbst Religion zur Sprache kommt. Dies kann und sollte nicht zuletzt die jeweilige Zielsetzung der Kooperation beeinflussen. Aus Perspektive der Ersatzfächer gefragt: Soll es darum gehen, dass die Schüler:innen auf diese Weise mit religiösen Innenperspektiven in Berührung kommen, die eine bisher eingenommene religionswissenschaftliche Außenperspektive ergänzen? Das könnte für das Fach Werte und Normen relevant sein. Sollen sie Kenntnisse über Religionen erwerben, die ihnen in ihrem Ersatzfach nicht vermittelt werden? Dies mag für das Fach Philosophie angemessen sein. Oder soll gemeinsam mit den Schüler:innen aus dem Religionsunterricht vor dem Hintergrund verschiedener fachlicher und persönlicher Zugänge über religionsphilosophische, ethische oder gesellschaftspolitische Fragen reflektiert werden? Dies wäre möglicherweise besonders für das Fach Praktische Philosophie geeignet, aber auch eine Option für die anderen genannten Fächer.

b)

Vielfalt der Bezugswissenschaften und Zuständigkeit verschiedener Fachdidaktiken

Mit der unterschiedlichen Ausgestaltung der Ersatzfächer geht einher, dass jeweils andere Leit- oder Bezugswissenschaften und Fachdidaktiken für die Fächerentwicklung und die Lehrkräfteausbildung relevant sind. Das können allein 10 Vgl. Niedersächsisches Kultusministerium (Hg.) Kerncurriculum für das Gymnasium Schuljahrgänge 5–10, Werte und Normen, Hannover 2017, www.nibis.de/datenbank_3790. (Abruf: 30. 3. 2020), S. 8 und 11.

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oder primär Philosophie und Philosophiedidaktik sein, wie in Schleswig-Holstein und Nordrhein-Westfalen, oder zusätzlich Religionswissenschaft und ihre Didaktik sowie Soziologie, Politikwissenschaft oder Kulturwissenschaft, wie in Niedersachsen. Hinzu kommen allgemeindidaktische, pädagogische und psychologische Perspektiven, die unter anderem zum Thema Werteerziehung Forschungsbeiträge zu für die Ersatzfächer wichtigen Fragen beisteuern.11 Diese Vielfalt der wissenschaftlichen Bezüge ist insofern für die beteiligten Fächer und Disziplinen selbst eine Herausforderung, als dass das heterogene Feld eine konzertierte, fundierte und kohärente konzeptionelle Weiterentwicklung der Schulfächer, eine fachspezifische Begleitforschung und die Entwicklung geeigneter Lehrmaterialien sowie hochschuldidaktischer Konzepte erschwert. Wenn zudem an den Universitäten in jedem Bundesland jeweils nur einige wenige Personen Stellen innehaben, die Möglichkeiten für Forschung zu den jeweiligen Ersatzfächern bieten (was nicht einmal für alle Bundesländer gegeben ist), dann steht diese Konstellation einem Forschungsdiskurs entgegen, der es ermöglichen würde, jeden speziellen Fachzuschnitt passgenau zu untersuchen – ganz zu schweigen von einer Anbindung an internationale Forschung, die durch die Ausdifferenzierung der Fächer erschwert wird.12 De facto werden in der Forschungsliteratur und bei der Entwicklung von Lehrmaterialien daher häufig nicht die Spezifika der einzelnen Fächer berücksichtigt, sondern es wird beispielsweise auf den ›Philosophie- und Ethikunterricht‹ Bezug genommen. Dies kann zu einer fehlenden Passung zwischen entwickelten Unterrichtsmodellen, Lehrmaterialien oder empirischen Forschungsergebnissen auf der einen Seite und den curricularen Anforderungen oder rechtlichen Rahmenbedingungen der jeweiligen Fächer auf der anderen Seite führen. Diese Situation stellt zudem eine Herausforderung für die Kooperation zwischen Ersatz- und Religionsfächern dar. Denn die Ersatzfächer und die sie begleitenden Bezugsfächer sind einzeln und gemeinsam zu einem größeren Maß mit ihrer Selbstverortung beschäftigt, als dies beispielsweise bei einem bundesweit weitgehend gleichen Fachzuschnitt und bei einer klareren Anbindung an eine kleinere Zahl von Forschungsdisziplinen der Fall wäre. Für die Zusammenarbeit mit den bekenntnisorientierten Fächern können insbesondere fachdidaktische Dissense darüber, welche Rolle Religion im Phi11 Vgl. etwa Werner Wiater, Ethik unterrichten. Einführung in die Fachdidaktik, Stuttgart 2011. 12 Allerdings weist die Gestaltung von Religions- und Ersatzfächern auch auf internationaler Ebene eine große Vielfalt auf. Vgl. etwa Wanda Alberts, »Religionswissenschaftliche Fachdidaktik in europäischer Perspektive«, in: Zeitschrift für Religionswissenschaft 16.1 (2008), S. 1–14; Friedrich Schweitzer, »Religiöse Erziehung und Religionsunterricht im internationalen Vergleich«, in: Loccumer Pelicaan 1 (2001), S. 3–8 und die Länderberichte zum Philosophie- und Ethikunterricht, die in jeder Ausgabe des Journal of Didactics of Philosophy erscheinen.

Herausforderungen für die Kooperation Religionsunterricht/Ersatzfächern

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losophie- und Ethikunterricht spielen sollte, eine Hürde darstellen. Beispielsweise wären aus philosophiedidaktischer Perspektive im Unterricht primär philosophische Zugänge zu Religion zu wählen (etwa erkenntnistheoretische Fragestellungen zum Status religiöser Überzeugungen oder moralphilosophische Auseinandersetzungen mit der Frage, inwiefern ethische Urteile religiös fundiert sein können).13 Empirisches Wissen beispielsweise über bestimmte religiöse Gebote oder spezifische Gottesvorstellungen kann zwar für religionsphilosophische Zugänge relevant sein, doch dies eher in dem Sinne, wie medizinisches Wissen für die Behandlung medizinethischer Fragen relevant ist, als dass es für sich genommen Lerngegenstand eines philosophisch ausgerichteten Faches sein sollte. Demgegenüber kann eine religionskundliche Didaktik darauf pochen, dass dem Erwerb von Wissen über Religionen, aber auch einer kulturwissenschaftlichen Einbettung religiöser Phänomene oder der Beschäftigung mit Kommunikation über Religion genügend Raum gegeben wird, um dem religionswissenschaftlichen Anteil vieler Ersatzfächer gerecht zu werden.14 Hinzu kommt die auch in der Philosophiedidaktik kontrovers diskutierte Frage, inwiefern innerreligiöse Perspektiven und die religiöse Positionierung von Schüler: innen und Lehrkräften für die Behandlung von Religion im Ethik- und Philosophieunterricht eine größere Rolle spielen sollten.15 Angesichts derartiger interner Dissense über die Ausrichtung der Ersatzfächer und vor dem Hintergrund der Perspektivenvielfalt der beteiligten Disziplinen kann die Auseinandersetzung mit weiteren Perspektiven auf Religion, wie sie 13 Vgl. Hans-Bernhard Petermann, »Religion als Thema im Philosophie- und Ethikunterricht«, in: Religions- und Ethikunterricht zwischen Konkurrenz und Kooperation, hrsg. von Bernd Schröder und Moritz Emmelmann, Göttingen 2018, S. 129–143 für eine ausführlichere Darstellung zu unterschiedlichen Zugängen zum Thema Religion in den Ersatzfächern und für die Forderung nach einer dezidiert philosophischen Perspektive auf Religion. 14 Vgl. Petra Bleisch et al., »Einleitung/Introduction«, in: Zeitschrift für Religionskunde/Revue de didactique des sciences des religions (2015), S. 8–25, hier S. 10f. Vgl. auch die Einschätzung Michael Czelinski-Uesbecks, dass der Werte und Normen-Unterricht »in ganz besonderer Weise durch die Person den Lehrkraft geprägt« sei. »So wird die philosophisch ausgerichtete Lehrkraft dem Unterricht ein vermutlich eher philosophisches Gepräge verleihen, etwa auf dem Gebiet der praktischen Philosophie, entsprechend mit anderen Schwerpunkten die Lehrkräfte, die sich eher in den Religions- oder Sozialwissenschaften ›zu Hause‹ fühlen«, Michael Czelinski-Uesbeck, »Das Fach ›Werte und Normen‹ in Niedersachsen«, in: Werte in Religion und Ethik, hrsg. von Marie-Luise Rathers, Dresden 2011, S. 35–45, hier S. 44. Allerdings hat sich die Lage durch die Einführung der Kerncurricula für das Fach Werte und Normen in den Jahren 2017 und 2018 etwas verändert, da seitdem die verbindlichen Unterrichtsgegenstände recht kleinschrittig vorgegeben sind. 15 Vgl. hierzu etwa Christina Gruhne, »›Glauben Sie an Gott, Frau K.‹? Von der Schwierigkeit, wertneutral und doch nicht wertfrei zu unterrichten – ein Fallbeispiel aus der Praxis des Ethikunterrichts«, in: Ethik & Unterricht 1.12 (2012), S.15–18; Roland W. Henke, »Religionen im Philosophie- und Ethikunterricht«, in: Ethik/Philosophie-Didaktik. Praxishandbuch für die Sekundarstufe I und II, hrsg. von Barbara Brüning, Berlin 2016, S.124–132 und Petermann, »Religion als Thema im Philosophie- und Ethikunterricht«.

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eine Kooperation mit bekenntnisorientierten Religionsfächern erfordert, aus philosophiedidaktischer Sicht eher als Herausforderung denn als Chance erscheinen.

c)

Spannungsreiche Anforderungen an die Ersatzfächer

Landesgesetze, Curricula sowie Standards, die in den beteiligten Fächern und Fachdidaktiken formuliert werden, stellen teils zueinander in Spannung stehende Anforderungen an die Ausgestaltung der Ersatzfächer. Hieraus ergeben sich weitere Herausforderungen für die Kooperation zwischen Religions- und Ersatzfächern. Besonders grundlegend sind Spannungen, die im Zusammenhang mit Neutralitätsforderungen auf der einen Seite und Aufgaben der Wertevermittlung auf der anderen Seite bestehen, wie sie gleichzeitig an einige der Ersatzfächer gestellt werden. So heißt es beispielsweise im Curriculum für das Fach Werte und Normen einerseits: »Das Unterrichtsfach Werte und Normen leistet einen wichtigen Beitrag, um den Ansprüchen gerecht zu werden, die der §2 des Niedersächsischen Schulgesetzes formuliert. Dem dort verankerten Ziel, »die Persönlichkeit der Schülerinnen und Schüler auf der Grundlage des Christentums, des europäischen Humanismus und der Ideen der liberalen, demokratischen und sozialen Freiheitsbewegungen« weiterzuentwickeln, trägt das Fach Werte und Normen in besonderem Maße Rechnung.«16

Andererseits heißt es im Curriculum auch: »Zur Wahrung der Freiheit des Glaubens, des Gewissens und des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses verlangt der Unterricht im Fach Werte und Normen die weltanschauliche und religiöse Neutralität des Faches. Der gesetzliche Auftrag weist dem Fach zwar vergleichbare Fragestellungen, Probleme und Sachverhalte zu, wie sie auch im Fach Religion behandelt werden, doch ist die Behandlung hier ausdrücklich nicht an die Grundsätze einer Religions- oder Weltanschauungsgemeinschaft gebunden.«17 16 Vgl. Niedersächsisches Kultusministerium, Kerncurriculum für das Gymnasium Schuljahrgänge 5–10, Werte und Normen, S. 4. 17 Vgl. ebd., S.5. Ähnliche spannungsreiche Formulierungen finden sich beispielsweise auch im Curriculum für das Fach Praktische Philosophie in Nordrhein-Westfalen: »Das Fach […] ist auf die zusammenhängende Behandlung von Sinn- und Wertefragen gerichtet. Während dies im Religionsunterricht auf der Grundlage eines bestimmten Bekenntnisses geschieht, übernimmt Praktische Philosophie diese Aufgabe auf der Grundlage einer argumentativ-diskursiven Reflexion im Sinne einer sittlich-moralischen Orientierung ohne eine exklusive Bindung an eine bestimmte Religion oder Weltanschauung. Bezugspunkt für die Ausrichtung des Faches ist die Werteordnung, wie sie in der Verfassung des Landes Nordrhein-Westfalen, im Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland und in den Menschenrechten verankert

Herausforderungen für die Kooperation Religionsunterricht/Ersatzfächern

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Es liegen umfangreiche fachdidaktische, philosophische und juristische Überlegungen dazu vor, wie sich dieser scheinbare Widerspruch zwischen der geforderten expliziten Wertgebundenheit des Unterrichts – hier sogar einschließlich einer Berufung auf das Christentum – und den Neutralitätsanforderungen an das Fach auflösen ließe, auf die ich hier nicht im Detail eingehen kann.18 Grundsätzlich liegen primär zwei Optionen auf der Hand, um die Spannung aufzulösen: Erstens ließe sie sich in Richtung einer konsequenten Berücksichtigung des Neutralitätsgebots auflösen, zweitens in Richtung einer klaren und konsistenten normativen Ausrichtung des Unterrichts. Eine Auflösung der Spannung hin zu einer starken Neutralitätsforderung wäre nun allerdings vor dem Hintergrund rechtlicher und gesellschaftlicher Anforderungen an schulische Wertebildung im Allgemeinen und an die Ersatzfächer im Speziellen kaum möglich und auch angesichts didaktischer Erwägungen nicht überzeugend. Das sind beispielsweise die Anforderungen an Werteerziehung, die generell für schulische Bildung formuliert werden, aber auch didaktische Überlegungen dazu, dass umfassende Neutralität der Unterrichtsgestaltung weder möglich noch wünschenswert wäre, unter anderem, weil Bildung immer an bestimmten Werten ausgerichtet ist, oder weil Lehrkräfte in ihrer Vorbildfunktion auch zeigen sollen, was es heißen kann, ethisch oder politisch engagiert zu denken und zu handeln.19 Insofern liegt es nahe, die Spannung auch im Sinne größerer ist.« Ministerium für Schule und Weiterbildung des Landes Nordrhein-Westfalen, »Kernlehrplan für die Sekundarstufe I: Praktische Philosophie«, S. 9f.; in der Landesverfassung, auf die hier verwiesen wird, findet sich im Übrigen folgender Artikel (7): »(1) Ehrfurcht vor Gott, Achtung vor der Würde des Menschen und Bereitschaft zum sozialen Handeln zu wecken, ist vornehmstes Ziel der Erziehung. (2) Die Jugend soll erzogen werden im Geiste der Menschlichkeit, der Demokratie und der Freiheit, zur Duldsamkeit und zur Achtung vor der Überzeugung des anderen, zur Verantwortung für Tiere und die Erhaltung der natürlichen Lebensgrundlagen, in Liebe zu Volk und Heimat, zur Völkergemeinschaft und Friedensgesinnung.« 18 Vgl. etwa die juristische Erläuterung von Peter Bräth und Kollegen, der Begriff des Christentums sei hier »nicht im Sinne der ›confessio‹ bekenntnismäßig zu verstehen, sondern als historische Grundlage und wesentlicher Bestandteil der europäischen Kultur und Lebensanschauung«, Peter Bräth/Manfred Eickmann/Dieter Galas, Niedersächsisches Schulgesetz. Kommentar, Köln 2009, S. 57. Zu philosophiedidaktischen und philosophischen Vorschlägen vgl. beispielsweise Kirsten Meyer, »Moralische Bildung im Philosophie- und Ethikunterricht«, in: Sozialerziehung in der Schule, hrsg. von Maria Limbourg und Gisela Steins, Wiesbaden 2011, S. 225–239; Rolf Roew/Peter Kriesel, Einführung in die Fachdidaktik des Ethikunterrichts, Bad Heilbrunn 2017, Kap. 1 und 2, Peter Schaber, »Autonomie und Wertevermittlung«, in: Texte zur Didaktik der Philosophie, hrsg. von Kirsten Meyer, Stuttgart 2010, S. 139–155. 19 Für gesellschaftliche Erwartungen zur Werteerziehung in der Schule und im Ethikunterricht vgl. etwa Martin Drahmann/Colin Cramer/Samuel Merk, »Wertorientierungen und Werterziehung von Lehrerinnen und Lehrern in Deutschland. Kurzbericht zentraler Ergebnisse einer Befragung von Eltern schulpflichtiger Kinder und von Lehrerinnen und Lehrern allgemeinbildender Schulen« (2018), www.vbe.de/service/meinungsumfragen/werteerziehung

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Transparenz dahingehend aufzulösen, dass klar benannt wird, welche Werte vermittelt werden sollen und, insbesondere, in welchem Sinne von ›Vermittlung‹ dies geschehen kann und soll.20 Allerdings ergeben sich bei einer solchen Festlegung für einen philosophisch ausgerichteten Unterricht zwei fachinterne Herausforderungen, die ihrerseits Schwierigkeiten für die Bestimmung des Verhältnisses zu den Religionsfächern mit sich bringen. Erstens: Wie ließe es sich fachlich gesehen rechtfertigen, eine bestimmte moralphilosophische Auffassung, zum Beispiel eine kantische Prinzipienethik, als Grundlage der Wertevermittlung vorauszusetzen, wenn philosophisch strittig ist, ob nicht stattdessen etwa konsequentialistische oder tugendethische Positionen überzeugender sind oder ob sich Moral überhaupt sinnvoll in allgemeine Prinzipien fassen lässt?21 Festlegungen dieser Art auf philosophisch und auch gesellschaftlich strittige normativ-ethische Positionen wären offenbar problematisch und stünden dem Kontroversitätsgebot des vielbemühten Beutelsbacher Konsenses entgegen.22 Zweitens: Philosophisches Denken ist maßgeblich durch ein Hinterfragen vermeintlicher Selbstverständlichkeiten, durch Nachdenklichkeit und Offenheit für neue Weltzugänge geprägt; auch radikalen Zweifel zuzulassen oder gezielt herbeizuführen kennzeichnet philosophische Reflexion. Entsprechend spielt die Befähigung zum eigenständigen, kritischen und genauen Fragen und Nachdenken, zum Argumentieren und zum Urteilen in den Curricula für den Philosophie- und Ethikunterricht eine zentrale Rolle. Die Schüler:innen sollen nach verbreiteter fachdidaktischer Auffassung in einem problemorientierten Unterricht Philosophieren lernen und sich eigenständig »mit den Grundlagen des menschlichen Denkens, Handelns und Seins« auseinandersetzen.23 Auch dies steht nun aber offenbar in Spannung

20

21 22 23

-an-schule-2018/?L=0 (Abruf: 30. 3. 2020) respektive Michael Bongardt, »Sprachfähigkeit. Über Aufgaben und Ausbildungen von Ethiklehrkräften in Berlin«, in: Werte in Religion und Ethik, hrsg. von Marie-Luise Rathers, Dresden 2011, S. 99–112. Zu verschiedenen Sinne von »Wertevermittlung« vgl. zum Beispiel Ekkehard Martens’ Feststellung: »Umstritten ist allerdings, worin das Ziel einer Wertevermittlung genauer bestehen soll […], ob lediglich in einem Nachdenken über Wert- und Sinnfragen oder auch in einer bestimmten Urteilsfindung oder sogar in einem Handeln und Leben aus bestimmten Werten heraus«, Martens, Methodik des Ethik- und Philosophieunterrichts, S. 37. Das bloße »Nachdenken über Wert- und Sinnfragen« scheint allerdings den angeführten curricularen und gesellschaftlichen Ansprüchen nicht zu genügen. Vgl. auch Michael Hands für diesen Zusammenhang aufschlussreiche Unterscheidung zwischen direktiven und nicht-direktiven Formen moralischer Bildung in Michael Hand, »Towards a Theory of Moral Education«, in: Journal of Philosophy of Education 48.4 (2014), S. 519–532. Vgl. Meyer, »Moralische Bildung im Philosophie- und Ethikunterricht« zu dieser und weiteren Herausforderungen für Wertevermittlung im Philosophieunterricht. Vgl. Hans-Georg Wehling, »Konsens à la Beutelsbach«, in: Das Konsensproblem in der politischen Bildung, hrsg. von Siegfried Schiele und Herbert Schneider, Stuttgart 1977, S.173–184. Gisela Raupach-Strey, »Das Verhältnis des Ethik/Philosophie-Unterrichts zu den religiösen und nicht-religiösen Weltanschauungen«, in: Philosophie und Religion: Zukunft einer

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zur Anforderung einer substantiellen Wertevermittlung, die an die Ersatzfächer herangetragen wird. Es gibt durchaus plausible Vorschläge, wie mit diesen Spannungen umzugehen ist oder wie sie sich auflösen ließen. Beispielsweise könnten Werte und Normen identifiziert werden, über die philosophisch und gesellschaftlich weitgehende Einigkeit herrscht (so prima facie-Pflichten der Nicht-Schädigung, der Wahrhaftigkeit, der Hilfsleistung und weitere), oder es ließen sich primär kommunikative Normen festlegen, die zuallererst eine gleichberechtigte Verständigung über strittige Fragen ermöglichen (beispielsweise Normen wie Klarheit, Relevanz und Aufrichtigkeit für eigene Äußerungen, Normen des aufmerksamen Zuhörens und der wohlwollenden Interpretation des Gesagten, Orientierung an Wahrheit und Verständigung, das Anstreben von Konsens, wenn es um gemeinsames Handeln geht, gewaltfreier Umgang mit Dissens, wo Konsens nicht möglich oder angemessen ist und mehr). Dies gibt zwar auch einen Rahmen für den Unterricht vor, der nicht in einem starken Sinne wertneutral ist, doch es ließe viel Raum für eigenständiges Fragen, Philosophieren und auch für ethischen Dissens. Dessen ungeachtet bleibt das Verhältnis der Ersatzfächer zu den Anforderungen der Wertevermittlung spannungsreich, zumal die Vorgaben der Curricula häufig viel weitreichender sind als die genannten Beispiele für philosophisch und gesellschaftlich weitgehend unkontroverse Festlegungen, wie auch das obige Zitat aus dem Curriculum für das Fach Werte und Normen zeigt. Inwiefern stellen diese spannungsreichen Anforderungen an die Ersatzfächer nun aber eine Herausforderung für die Kooperationen mit Religionsfächern dar? Dies tun sie insbesondere, weil vor dem Hintergrund der vergleichsweise klaren Positionalität eines bekenntnisorientierten Religionsunterrichts ein irreführender Kontrast zum Unterricht im Ersatzfach entstehen kann:24 Je nachdem, wie mit den skizzierten Spannungen umgegangen wird, kann der nicht-religiöse Fächergruppe, Philosophische Manuskripte, Neue Folge 5, hrsg. von Heiner Hastedt, Sandra Ausborn-Brinker und Michael Fröhlich, Rostock 1998, S. 57–74, hier S. 59; vgl. etwa auch Ekkehard Martens, »Didaktik der Philosophie – Eine Standortbestimmung«, in: Information Philosophie 3–4 (2012), S.102–106 und die Kompetenzformulierungen im Curriculum für den Philosophieunterricht im Land Berlin: Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Sport Berlin (Hg.), »Rahmenlehrplan für die Gymnasiale Oberstufe Philosophie« (2006), www.ber lin.de/sen/bildung/unterricht/faecher-rahmenlehrplaene/rahmenlehrplaene (Abruf: 30. 3. 2020). 24 Vgl. auch Bernhard Dressler, »Religion im Ethikunterricht. Problemanzeigen«, in: Zeitschrift für Pädagogik und Theologie 2 (2010), S. 112–128, hier S. 116 für eine Kontrastierung von Religions- und Ethikunterricht hinsichtlich Positionalität und weltanschaulicher Neutralität wie auch für weitere erhellende Ausführungen zum Verhältnis der Fächer zueinander. Dresslers Feststellung, ethische Urteile setzten stets »weltanschauliche Prämissen« voraus (ebd.), die es im Unterricht transparent zu machen gelte, halte ich allerdings für moralphilosophisch nicht überzeugend. Für eine genauere Untersuchung dieser These bedürfte es nicht zuletzt einer Bestimmung des Begriffs der Weltanschauung.

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Unterricht im Kontrast zum konfessionellen Religionsunterricht entweder als beliebig-relativistisch oder als dogmatisch auf Normen der Mehrheitsgesellschaft festgelegt erscheinen. Zwar wäre in diesem Zusammenhang die Auseinandersetzung mit Unterschieden und Gemeinsamkeiten zwischen religiösen und nicht-religiösen Begründungen ethischer Urteile der Sache nach ein spannender Kooperationsgegenstand für Religions- und Ersatzfächer. Doch erstens ist es angesichts der hiermit verbundenen fachlichen Anforderungen besonders für die jüngeren Jahrgänge fraglich, ob sich eine solche Auseinandersetzung im Schulunterricht angemessen umsetzen ließe. Zweitens wäre aus philosophiedidaktischer Sicht auch für eine solche inhaltliche Kooperation das Problem virulent, dass das kritische Potential philosophischer Reflexion nicht ausgeschöpft werden könnte, wenn der Unterricht auf die Vermittlung bestimmter, in den Curricula festgeschriebener Werte ausgerichtet sein soll.

d)

Unklarheiten bezüglich der Eigenheiten der Fächer

Wenn für eine Kooperation zwischen den Religions- und Ersatzfächern unter weitgehender Beibehaltung der gegenwärtigen Fächerstruktur argumentiert wird, dann wird dabei häufig auf die Eigenheiten der Fächer verwiesen. So ermöglichen beispielsweise Friedrich Schweitzer zufolge Unterschiede zwischen den Fächern ein »Lernen an Differenzen«, wobei sich diese Unterschiede sowohl im Kontrast zwischen einer Innen- und Außenperspektive auf Religion zeigen könnten als auch in den »unterschiedlichen Erschließungszugänge[n] von Theologie, Philosophie, Sozialwissenschaften, Religionswissenschaft usw. […] und damit letztlich unterschiedlichen Weltzugänge[n].«25 Doch worin die Eigenheiten der Unterrichtsfächer jeweils bestehen, ist keineswegs einfach oder unstrittig zu bestimmen. Für Ersatzfächer wie Praktische Philosophie oder Werte und Normen ist dies nicht nur aufgrund der vielfältigen Bezugsdisziplinen wenig überraschend; in der zitierten Aufzählung Schweitzers ist augenfällig, dass sich 25 Vgl. Friedrich Schweitzer, »Religionsunterricht und Ethikunterricht: Gegen-, Neben- oder Miteinander?«, in: Religions- und Ethikunterricht zwischen Konkurrenz und Kooperation, hrsg. von Bernd Schröder und Moritz Emmelmann, Göttingen 2018, S. 301–316, hier S. 313. Vgl. hierzu auch Kerstin Gäfgen-Track, »Der konfessionelle Religionsunterricht und das Fach ›Werte und Normen‹ bzw. ›Ethik‹. Das grundgesetzliche Gebot der Religionsfreiheit in der Schule«, in: Religions- und Ethikunterricht zwischen Konkurrenz und Kooperation, hrsg. von Bernd Schröder und Moritz Emmelmann, Göttingen 2018, S. 203–211, hier S. 209f.: »Beide Fächer, der konfessionelle Religionsunterricht ebenso wie das Fach ›Werte und Normen‹ (bzw. Ethik) sind für das Gelingen schulischer Bildung notwendig und haben ein eigenständiges Recht in der Schule. […] Beide Fächer sollen klar voneinander unterschieden sein, zugleich die Zusammenarbeit suchen und auf Abgrenzung oder gar Abwertung verzichten. Beide gewinnen aus einer Erklärung und Anerkennung der jeweiligen Standpunkte […].«

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auf der Seite des Religionsunterrichts lediglich die Theologie als Bezugswissenschaft findet, während den Ersatzfächern ein ganzes Sammelsurium an ›Weltzugängen‹ zugeschrieben wird. Auch für Fächer wie Philosophie und Religion kommt für die Bestimmung ihrer jeweiligen Spezifika erschwerend hinzu, dass die Curriculumsentwicklung ebenso wie die Entwicklung von Lehrwerken oder die Gestaltung der Studien- und Ausbildungsgänge keineswegs nur durch fachliche und fachdidaktische Überlegungen geleitet werden. Vielmehr werden sie maßgeblich auch durch rechtliche, bildungspolitische, ökonomische und nicht zuletzt kontingente persönliche Einflüsse der Beteiligten bestimmt.26 Vor diesem Hintergrund ist die Forderung, die Kooperation zwischen den Religions- und Ersatzfächern mit Konzentration auf die Eigenheiten der beteiligten Fächer zu gestalten, alles andere als leicht umzusetzen – zumal für die in einigen Bundesländern große Anzahl an Lehrkräften, die die Ersatzfächer fachfremd unterrichten. Eine Überforderung der Lehrkräfte durch diese Forderung droht insbesondere für die Ersatzfächer mit zahlreichen Bezugsdisziplinen. Nicht zuletzt besteht die Gefahr, durch didaktisch notwendig erscheinende Zuspitzungen fachlicher Eigenheiten ein irreführendes Bild der vermeintlichen Eigenheiten der Fächer oder Disziplinen zu zeichnen.

e)

Verzerrende Charakterisierung der Fächer

Eine spezielle Schwierigkeit für die Bestimmung der Eigenheiten der Ersatzfächer und ihres Verhältnisses zu den Religionsfächern besteht darin, dass beide Arten von Fächern bisweilen in verschiedenen Hinsichten verkürzt dargestellt werden. Insbesondere sind weder Philosophie- und Ethikunterricht noch die Religionsfächer auf die Behandlung von Normen- und Wertfragen, geschweige denn auf Werterziehung beschränkt.27 Zwar verdecken die Fächerbezeichnungen dies zum Teil, doch zählen zu den philosophischen Gegenständen der Ersatzfächer in aller Regel auch Fragen der Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie, der Ontologie, der Religionsphilosophie, der Anthropologie und der Politischen Philosophie. Demgegenüber stellen ›Weltanschauungen‹ für die Ersatzfächer keinen 26 Vgl. auch Rainer Merkel/Lieselotte Lieberknecht/Svenja Haase, »Verschiedene Perspektiven zur Sterbehilfe? Ein Unterrichtsexperiment im Sinne einer kooperativ-dialogischen Fächergruppe Religion und Ethik/Werte und Normen«, in: Religions- und Ethikunterricht zwischen Konkurrenz und Kooperation, hrsg. von Bernd Schröder und Moritz Emmelmann, Göttingen 2018, S. 269–279, hier S. 270 zur Schwierigkeit der fachlich teils wenig ausgeschärften Curricula, hier in Bezug auf die Vorgaben zur Behandlung ethischer Fragestellungen im Werte und Normen- und Religionsunterricht. 27 Vgl. auch Dressler, »Religion im Ethikunterricht. Problemanzeigen«, S.113f. für eine Kritik an dieser Verkürzung bezogen auf den Religionsunterricht.

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zentralen Gegenstand dar – zumal notorisch unklar ist, was sich hinter diesem Ausdruck verbirgt; ›Philosophie‹ jedenfalls ist keineswegs mit ›Weltanschauung‹ gleichzusetzen.28 Damit sind aus philosophiedidaktischer Perspektive auch gemeinsame Charakterisierungen von Religions- und Ersatzfächern als ›religionskundlich-religionsphilosophisch‹ oder als ›weltanschaulich-religiös-wertorientierend‹ irreführend, fallen dabei doch wichtige Bereiche der Philosophie unter den Tisch, die für das Selbstverständnis einer zentralen Bezugsdisziplin der Ersatzfächer zentral sind und die in den Curricula durchaus Niederschlag finden.29 Verengte Charakterisierungen der Fächer wie diese stellen insofern eine Herausforderung für die Kooperation dar, als sie zu einem verzerrten Bild vom jeweiligen Gegenüber beitragen.30 Dies wiederum kann tatsächliche Gemeinsamkeiten und Unterschiede der Fächer verdecken und so eine mögliche fruchtbare Zusammenarbeit gerade auch jenseits ethischer Fragen erschweren, etwa im Bereich der Anthropologie und der Erkenntnis- oder Wissenschaftstheorie, oder auch bezogen auf Autor:innen und Texte aus der Philosophie- und Geistesgeschichte, die für den Religions- und Ersatzfachunterricht gleichermaßen einschlägig sind.

28 Vgl. dazu etwa Gisela Raupach-Streys Einschätzungen: »Philosophie versteht sich heutzutage jedenfalls im universitären Kontext in der Regel nicht als Weltanschauung, und auch nicht als System oder Lehre. Insbesondere die Philosophie als Schul- und Ausbildungsfach darf sich nicht auf eine Richtung festlegen, sondern stellt sich der Aufgabe, die Probleme im offenen Diskurs zu klären. Philosophie ist keine Weltanschauung; die Erfahrung des Mißbrauchs der Philosophie als Weltanschauung in totalitären Regimen sollte immer auch im Bewußtsein bleiben, wo der Philosophie eine Orientierungsfunktion zugeschrieben wird«, Raupach-Strey, »Das Verhältnis des Ethik/Philosophie-Unterrichts zu den religiösen und nicht-religiösen Weltanschauungen«, S. 59. Für eine Auseinandersetzung mit dem schillernden Begriff der Weltanschauung und eine Abgrenzung zur Philosophie vgl. Thomas Heinrichs/Heike Weinbach, »Weltanschauung als Diskriminierungsgrund – Begriffsdimensionen und Diskriminierungsrisiken. Antidiskriminierungsstelle des Bundes« (2016), www.antidiskriminie rungsstelle.de/SharedDocs/Downloads/DE/publikationen/Expertisen/Uebersichtsartikel_Welt anschauung_als_DiskrGrund_20160922.html (Abruf: 30. 3. 2020). 29 Vgl. für die genannten Charakterisierungen von Religions- und Ersatzfächern zum Beispiel eine Stellungnahme der Fachkommission des Comenius-Instituts von 1969, zitiert in Schröder, »Religions- und Ethikunterricht – eine Fächergruppe? Ein Plädoyer«, S. 370 sowie 375. 30 Vgl. auch Schweitzer, »Kooperation zwischen Ethik/Philosophie und Religion«, S. 51: »Unter der Voraussetzung einer solchen wechselseitigen [verzerrten] Wahrnehmung der Fächer wird eine Kooperation nicht gelingen. Beide Seiten werden vielmehr stets darauf bedacht sein, das jeweilige Zerrbild des anderen nicht durch allzu viel Kontakt in Frage stellen zu lassen.«

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f)

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Separierung der Lernenden als Herausforderung für die Entwicklung von Dialogfähigkeit

Die Aufteilung der Schüler:innen in verschiedene Religions- und Ersatzfächer stellt eine grundlegende Herausforderung für die Beförderung von Dialog- oder Sprachfähigkeit und verwandte Lernziele dar, die sowohl in den Curricula als auch in der fachdidaktischen Literatur der Fächer eine wichtige Rolle spielen.31 Auch wenn wir davon ausgehen, dass sich die rechtliche Lage bis auf Weiteres nicht ändert und dadurch die Separierung der Schüler:innen weiterhin der Normalfall sein wird, ist es wichtig, die daraus resultierenden inhaltlichen und pädagogischen Herausforderungen für eine Fächerkooperation anzuerkennen. So besteht bei einer temporären Zusammenführung von Religions- und Ethikkursen insbesondere die Gefahr, dass starre oder gar stereotype Zuschreibungen christlicher, muslimischer und anderer religiöser Identitäten auf der einen und atheistischer Identitäten auf der anderen Seite eher verstärkt als durchbrochen werden. Um tatsächlich Dialog- oder Sprachfähigkeit zu befördern, statt zu einem Othering, also zu Grenzziehungen zwischen ›uns‹ und ›den Anderen‹ beizutragen, bedarf es für diese Konstellation geeigneter Modelle und großen didaktisch-pädagogischen Geschicks.

g)

Pluralität der Religionsfächer

Nicht nur die Ausgestaltung der Ersatzfächer ist vielfältig, sondern auch die Landschaft der Religionsfächer differenziert sich zunehmend aus. Das ist in verschiedenen Hinsichten eine begrüßenswerte Entwicklung, nicht zuletzt, weil damit die Wahrnehmung des Grundrechts der positiven Religionsfreiheit im schulischen Kontext nicht mehr allein evangelischen und katholischen Schüler: innen vorbehalten ist – die Wahrnehmung eines Grundrechts, das häufig als wichtige Begründung für die Existenz eines bekenntnisgebundenen Religionsunterrichts angeführt wird.32 Auch wenn das deutsche Bildungssystem nach wie 31 Vgl. zu diesen Zielen etwa Bongardt, »Sprachfähigkeit. Über Aufgaben und Ausbildungen von Ethiklehrkräften in Berlin«, Abschnitte 1 und 4, Czelinski-Uesbeck, »Das Fach ›Werte und Normen‹ in Niedersachsen«, S. 44f., Bernd Schröder, »Einleitung«, in: Religionsunterricht – wohin? Modelle seiner Organisation und didaktischen Struktur, Neukirchner Theologie, hrsg. von dems., Neukirchen-Vluyn 2014, S. 7–16, hier S. 11f., Schweitzer, »Kooperation zwischen Ethik/Philosophie und Religion«, S. 52. 32 So schreibt beispielsweise Kerstin Gäfgen-Track in Bezug auf Forderungen, das Ersatzfach Werte und Normen zu einem Fach für alle zu machen: »Der Religion in ihrer Eigenart kann nur ein konfessioneller Religionsunterricht Rechnung tragen. […] Der Versuch, einen Werteunterricht für alle zu etablieren […], negiert das Recht auf religiöse Bildung und Erziehung. […] ›Werte und Normen‹ als verbindliches Fach für alle Schülerinnen und Schüler

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vor weit davon entfernt ist, Schüler:innen hinsichtlich ihrer Religionszugehörigkeit gleichberechtigt zu behandeln, so zeigt schon der bisherige Stand der Ausdifferenzierung der Religionsfächer, dass hierin eine weitere Herausforderung für die Kooperation mit den Ersatzfächern besteht. Diese Herausforderung wird größer, je mehr Religionsfächer angeboten werden. Denn die Kooperation könnte klarerweise nicht nur zwischen einem Religionsfach und dem jeweiligen Ersatzfach stattfinden, sondern es gälte, in einer Kooperation zwischen allen Fächern deren diverse Perspektiven, vielfältige Inhalte und Kompetenzziele unter einer gemeinsamen, für alle gewinnbringenden Zielsetzung zu koordinieren.

h)

Organisatorischer Aufwand

Mit der Pluralität der Religionsfächer hängt eine weitere Herausforderung zusammen, die sich auch schon in der Kooperation zwischen lediglich einem Religions- und Ersatzfach zeigt. Denn neben der inhaltlich anspruchsvollen Aufgabe, die Kooperation gewinnbringend und den jeweiligen Eigenheiten der Fächer entsprechend auszugestalten, sind die beteiligten Lehrkräfte mit organisatorischen Aufgaben konfrontiert, die im eng getakteten Schulbetrieb nicht einfach zu bewältigen sind. Dies zeigte sich beispielsweise auch in der Erprobung eines kooperativen Phasenmodells, bei dem der Unterricht in den Fächern Evangelische Religion und Werte und Normen über mehrere Wochen in enger Abstimmung und phasenweise lerngruppenübergreifend gemeinsam erteilt wurde. Während die durchführenden Lehrkräfte das Experiment in didaktischmethodischer und inhaltlicher Hinsicht als erfolgreich beurteilen, stellen sie fest, dass der erhöhte organisatorische Aufwand die an derartigen Kooperationsmodellen Beteiligten mit »unzumutbaren Hürden« konfrontiere.33

i)

Asymmetrien in der Ausbildung der Lehrkräfte

Nimmt man die Ausbildung der Lehrkräfte der Religions- und der Ersatzfächer in den Blick, wird eine weitere Herausforderung für die Kooperation deutlich, die in einer zweifachen Asymmetrie besteht. Eine erste Asymmetrie zwischen den Fächern zeigt sich in Bezug auf den fachfremd erteilten Unterricht. Während anzubieten und konfessionellen Religionsunterricht als zusätzliches Wahlfach einrichten, entspricht nicht dem Grundgesetz und dem darin verbürgten Recht auf positive Religionsfreiheit, zu dem das Angebot konfessioneller religiöser Bildung in Schule gehört«, GäfgenTrack, »Der konfessionelle Religionsunterricht«, S. 209. 33 Merkel/Lieberknecht/Haase, »Verschiedene Perspektiven zur Sterbehilfe?«, S. 275f.

Herausforderungen für die Kooperation Religionsunterricht/Ersatzfächern

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beispielsweise für den evangelischen Religionsunterricht strenge Ausnahmeregeln für die Möglichkeit des fachfremden Unterrichtens gelten, werden die Ersatzfächer auch Jahrzehnte nach deren Einführung in zahlreichen Bundesländern noch zu einem hohen Anteil fachfremd unterrichtet oder von Lehrkräften erteilt, die lediglich eine Zusatzausbildung absolviert haben, nicht aber ein Studium der relevanten Bezugsfächer.34 Zum anderen besteht zumindest in Bezug auf einen Teil der Ersatzfächer im Vergleich zu den Religionsfächern auch hinsichtlich des Studiums eine Asymmetrie. Denn wenn für ein Ersatzfach mehrere Bezugsdisziplinen als relevant für die Ausbildung der Lehrkräfte angesehen werden, wie das in verschiedenen Bundesländern der Fall ist, dann können die Studierenden in jeder dieser Bezugsdisziplinen nur eine verhältnismäßig geringe Anzahl von Modulen belegen. Demgegenüber belegen Studierende der Religionsfächer eine teils beträchtlich größere Anzahl fachwissenschaftlicher Module in den jeweiligen Theologien. Zusammengenommen führen diese Asymmetrien dazu, dass an den Schulen nicht selten Lehrkräfte der Religions- und Ersatzfächer aufeinandertreffen, die für ihre Fächer unterschiedlich gut ausgebildet sind und sich wohl auch unterschiedlich stark mit ihrem jeweiligen Fach identifizieren. Dass dies eine ungünstige Ausgangslage für fruchtbare Kooperationen auf Augenhöhe sein kann, liegt auf der Hand.

j)

Kooperation auch mit anderen Fächern

Betrachtet man schließlich die Ersatzfächer nicht primär im Hinblick auf ihren rechtlichen Status und nimmt man die breitere Palette an Gegenständen und Zielen der Fächer zur Kenntnis, die ich oben angesprochen habe, dann wird deutlich, dass der Religionsunterricht keineswegs der einzige potentielle Kooperationspartner unter den Schulfächern ist. Um nur einige Beispiele für thematische Bezüge und mögliche Kooperationsgegenstände bezogen auf andere Fächer zu nennen: Wissenschaftstheoretische Fragen ließen sich fruchtbar im Verbund mit Physik-, Chemie- oder Geschichtsunterricht verhandeln; es böte sich an, Medientheorie und Medienethik in Kooperation zwischen Deutsch- und Ethikunterricht zu bearbeiten; Reflexionen über Kunst und Schönheit sind 34 Vgl. etwa zu den Bedingungen für die Erteilung fachfremden evangelischen Religionsunterrichts in Niedersachsen: Religionsunterricht in Niedersachsen. Ein Portal für evangelische und katholische Religionslehrkräfte, »Vokation«, www.kirche-schule.de/themen/vokation (Abruf: 12. 5. 2021); Zahlen zur Ausbildung der Lehrkräfte für den Ethikunterricht und andere Ersatzfächer variieren stark je nach Bundesland. Während im Schuljahr 2014/15 in Sachsen-Anhalt 98,4 % und in NRW 79,6 % der Lehrkräfte dieser Fächer mit fachgerechter Ausbildung unterrichteten, taten dies in Bayern lediglich 4,3%, in Hessen 20,4% und in Berlin 21,2 %; vgl. Fachverband Ethik, »Denkschrift zum Ethikunterricht«, S. 11.

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ebenso Gegenstand des Kunstunterrichts wie der philosophischen Ästhetik; Bildung für nachhaltige Entwicklung, wie sie unter anderem im Rahmen von Geographie-, Politik-, Wirtschafts- und Biologieunterricht verfolgt wird, fällt klarerweise auch in den Bereich der philosophischen Ethik, in der beispielsweise Fragen individueller und kollektiver Verantwortung, der moralische Status von Tier und Natur oder Fragen der Klimagerechtigkeit verhandelt werden. Angesichts der hier nur angedeuteten Vielzahl möglicher Bezüge zu anderen Unterrichtsfächern ist eine besonders enge Kooperationsbeziehung mit dem Religionsunterricht aus philosophiedidaktischer Perspektive weniger naheliegend, als es zunächst erscheinen mag.

3.

Ausblick

Die Zusammenstellung dieser unabgeschlossenen Liste von Herausforderungen für die Zusammenarbeit zwischen Religions- und Ersatzfächern mag vor dem Hintergrund der vielfältigen vorliegenden Kooperationsmodelle und angesichts praktizierter Zusammenarbeit an den Schulen unangemessen pessimistisch und wenig konstruktiv erscheinen. Dazu sei zum einen bemerkt, dass selbstverständlich gelingende Kooperationen, die ja auch stark von den jeweiligen Bedingungen an den Schulen und den personellen Konstellationen abhängen, zu begrüßen sind. Zum anderen lässt sich die Benennung der Herausforderungen in verschiedenen Hinsichten durchaus konstruktiv wenden. Ich hatte festgestellt, dass aus philosophiedidaktischer Sicht ein Primat der Kooperation mit den Religionsfächern keineswegs auf der Hand liege, sondern die Zusammenarbeit mit anderen Fächern der Sache nach für viele Themengebiete der Philosophie und Ethik mindestens ebenso passend wäre. Vielversprechend könnten jedoch gerade auch Konstellationen sein, in denen Religions- und Ersatzunterricht im Rahmen themenspezifischer Kooperationen mit weiteren Fächern zusammenkommen. So ließe sich beispielsweise das Thema Wertewandel im schulischen Kontext fruchtbar mit Bezug auf historische, politikwissenschaftliche, philosophische und theologische Zugänge behandeln. Wissenschaftstheoretische Fragen könnten in einem fächerübergreifenden Unterricht besonders fruchtbar und anschaulich bearbeitet werden, wenn Beispiele für Erkenntnisse, Methoden und Zielsetzungen verschiedener Disziplinen verglichen werden, darunter Philosophie und Theologie. Auch Fragen nach Quellen der Normativität oder politischer Autorität ließen sich ertragreich aus politikwissenschaftlicher, philosophischer und theologischer Perspektive thematisieren. Kooperationen dieser Art wären also nicht auf eine Zusammenarbeit zwischen Religions- und Ersatzfächern beschränkt und dadurch auch nicht im gleichen Maße mit einigen der benannten Herausforderungen konfrontiert, könnten aber

Herausforderungen für die Kooperation Religionsunterricht/Ersatzfächern

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von relevanten Gemeinsamkeiten und Unterschieden gerade dieser beiden Fächer profitieren.35 Grundlegende Voraussetzung für gewinnbringende Kooperationen zwischen Schulfächern ist jedoch eine Klarheit und Transparenz bezüglich der jeweiligen Zielsetzungen, die mit ihr verbunden werden. Was ist aus der Perspektive der jeweiligen Fächer – und natürlich der beteiligten Schüler:innen – der zusätzliche Wert, der durch die Zusammenarbeit realisiert werden soll? Wenn dies klar ist, dann kann der Unterricht entsprechend ausgerichtet werden und es lässt sich auch prüfen, ob die Zielsetzungen verwirklicht wurden. Viele der hier benannten Herausforderungen haben mit dem jeweiligen fachlichen Zuschnitt, dem Selbstverständnis und der Fremdwahrnehmung der Schulfächer sowie der sie begleitenden Fachdidaktiken zu tun. Unter der Annahme, dass die rechtlichen Rahmenbedingungen sich in näherer Zukunft nicht maßgeblich ändern werden, bleiben die Selbstverortung sowie die Schärfung und womöglich auch eine Angleichung der Profile der Ersatzfächer wichtige Aufgaben. Diese Einsicht mag ein erster Schritt sein, um den genannten Herausforderungen zu begegnen. Wünschenswert wäre, dass landesrechtliche und curriculare Vorgaben so gestaltet (oder ausgelegt) werden, dass sie eine kohärente, weniger spannungsreiche Ausgestaltung der Fächer ermöglichen – sei es beispielsweise hin zu einer konsequenteren philosophischen Ausrichtung, wie in Schleswig-Holstein, oder sei es zu einem klar religionswissenschaftlich ausgerichteten Fach. Dass meine Präferenz in die erste Richtung geht, dürfte kaum überraschen. Nicht nur, weil die Ersatzfächer rechtlich in Abhängigkeit von den Religionsfächern bestimmt sind, sondern ebenso angesichts relevanter inhaltlicher Gemeinsamkeiten und Unterschiede, ist es wünschenswert, dass die Weiterentwicklung der Profile der Ersatzfächer auch im Dialog mit den Religionsfächern und der Religionspädagogik geschieht. Neben den Kontexten schulischer und wissenschaftlicher Kooperationen bietet sich der Austausch auch im Rahmen der Lehrkräfteaus- und -weiterbildung an. Dies könnte dazu beitragen, den teils verzerrten Wahrnehmungen vom jeweiligen Gegenüber entgegenzuwirken und mögliche Formen der Zusammenarbeit in der Schulpraxis frühzeitig auszuloten – auch wenn die Zusammenarbeit nicht auf diese Fächer beschränkt werden sollte. In diesem Sinne mag ein geschärfter Blick für Herausforderungen, mit 35 Die Herausforderung, die sich durch den erhöhten organisatorischen Aufwand fächerübergreifenden Unterrichts ergibt, bestünde natürlich auch für die hier skizzierten Konstellationen. Doch wenn derartige Kooperationen tatsächlich gewollt sind – sei es zwischen Religions- und Ersatzfächern, für die Kooperationen vielfach von bildungspolitischer Seite gefordert werden und die teils auch curricular verankert sind, sei es für andere Fächerkonstellationen –, dann müssen hierfür auch entsprechende Rahmenbedingungen geschaffen werden, beispielsweise in Form von Entlastungsstunden für die beteiligten Lehrkräfte.

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Anne Burkard

denen sich die Kooperation zwischen bekenntnisorientiertem Religionsunterricht und seinen Ersatzfächern konfrontiert sieht, Anstöße für einen weiteren Austausch und geben.36

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Herausforderungen für die Kooperation Religionsunterricht/Ersatzfächern

201

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202

Anne Burkard

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Eva-Maria Kenngott

Interreligiöser Religionsunterricht in Bremen1

Im kleinsten Bundesland der Republik ist in Sachen Religionsunterricht alles anders als im Rest der Bundesrepublik – und dies, historisch betrachtet, schon sehr lange. Bremen hat seit dem Ende des 18. Jahrhunderts ein überkonfessionelles Modell für den Religionsunterricht entwickelt und dieses in manchen Schleifen in das eigene Grundverständnis eingebaut und modifiziert. Die jüngste Transformation stammt aus dem Schuljahr 2014/15 und ist ein interreligiöser Unterricht für alle Schüler:innen. Im Folgenden werde ich holzschnittartig zentrale Stationen der historischen Entwicklung sowie der entsprechenden Argumentationslinien darlegen, um mich dann dem neuen interreligiösen Weg zu zuwenden.2 Dabei möchte ich einerseits die Vorreiterrolle, die Bremen mit dieser Entscheidung in Richtung eines Unterrichts für alle Schüler:innen einnimmt, darlegen und die Vorteile dieses Modells zeigen. Allerdings soll dabei keine weichgezeichnete Lobeshymne auf ein Modell in Probe herauskommen. Deshalb werde ich andererseits auch Probleme identifizieren, die mir allerdings im Wesentlichen keine bremenspezifischen zu sein scheinen. Denn die interreligiöse Bildung generell hat nicht Schritt gehalten mit den vielerlei kritischen Überlegungen, wie sie vor allem in der inter- bzw. transkulturellen Pädagogik, in der Religionswissenschaft und der Religionssoziologie in den letzten beiden Jahrzehnten ausgearbeitet wurden.

1 Für viele Diskussionen über Interreligiöse Bildung und Hinweise zum vorliegenden Text danke ich Jan Krawczyk. 2 Eine detaillierte Beschreibung und Analyse des Bremer Religionsunterrichts erfolgt in EvaMaria Kenngott, »Religion unterrichten in Bremen«, in: Religionsunterricht in den Ländern der Bundesrepublik Deutschland. Neue empirische Daten – Kontexte – Aktuelle Entwicklungen, hrsg. von Martin Rothgangel und Bernd Schröder, Leipzig 2020, S. 129–151.

204

1.

Eva-Maria Kenngott

Grundzüge der Überkonfessionalität à la Bremen

Die Anfänge des Bremer Religionsunterrichts liegen am Ausgang des 18. Jahrhunderts und sind mit einer kurzen Episode der Bremer Stadtgeschichte, der sogenannten ›Bürgerschule‹ verbunden. Der dort entstandene Religionsunterricht wird im städtischen Selbstverständnis als ›Reformprojekt‹ tradiert und ist insofern ein überkonfessioneller Religionsunterricht, als dort die beiden protestantischen Konfliktparteien Lutheraner und Reformierte gemeinsamen Religionsunterricht erhielten. Die Bürgerschule ist dem Reformwillen der Pastoren Ewald und Häfeli zu verdanken. Insbesondere der reformierte Pastor Ewald hatte schon vor seinen Bremer Zeiten – beeinflusst durch Pietismus und Aufklärung – in Lippe-Detmold für einen undogmatischen Religionsunterricht geworben und ein Lehrbuch Biblische Geschichte herausgebracht. Der Grundgedanke war bestechend einfach: Religionsunterricht sollte von dogmatischen und konfessionellen Verkrustungen befreit werden und sich auf das konzentrieren, worin die protestantischen Konfliktparteien sich einigen konnten: die Bibel. In der Konsequenz hieß der Religionsunterricht in der Stundentafel der Bürgerschule ›Biblische Geschichte‹. Auch wenn das Projekt Bürgerschule mit einer Laufzeit von drei Jahren nur von relativ kurzer Dauer war und der Interessensausgleich in einem gemeinsamen Religionsunterricht wohl nur bedingt gelang, so ist diese Idee ein Bestandteil des städtischen liberalen Selbstverständnisses geworden.3 Die zentralen Elemente des Unterrichts in ›Biblischer Geschichte‹ sind die folgenden: 1. Die Bibel ist das verbindende Zentrum, gewissermaßen der Kern des Einigungsprojektes, was im Namen ›Biblischer Geschichtsunterricht‹ zum Ausdruck kommt.4 2. Dieser Religionsunterricht ist auf das Christentum ausgerichtet, aber er vermeidet Dogmen und Katechismen. 3. Er verfolgt neben der bibelorientierten Pädagogik auch ethische Anliegen. Alle drei Argumente sind wesentliche Bestandteile der Tradierung des ›Bremer Modells‹. Demnach ist das Reformprojekt eine nach Gemeinsamkeit suchende Religionspolitik auf dem Feld der Pädagogik. Das Verbindungsstück für die streitenden Konfessionen ist die Bibel. Ein völlig anderes Grundverständnis eines überkonfessionellen Religionsunterrichts zeigt sich in der Denkschrift der bremischen Lehrerschaft von 1905. Sie begehrt auf gegen einen starren, langweiligen Religionsunterricht – und 3 Der Ausgleich zwischen den beiden Religionsparteien konnte kaum in einem pädagogischen Projekt gelingen, da die Machtverteilung ausgesprochen unterschiedlich war: die Reformierten machten den Großteil der städtischen Bevölkerung aus und bekleideten die zentralen Machtpositionen. Eine genauere Darstellung findet sich in Kenngott, »Religion unterrichten in Bremen«, S. 130–132. 4 Das Fach wurde offiziell erst 1916 so genannt, vgl. Kenngott, »Religion unterrichten in Bremen«, S. 135.

Interreligiöser Religionsunterricht in Bremen

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meint damit eben jenen überkonfessionellen Unterricht in den städtischen Schulen, von dem gerade im Sinne eines Reformprojekts die Rede war. Die Denkschrift argumentiert stattdessen für einen überkonfessionellen Unterricht in einem eher religionskundlichen bzw. religionshistorischen Verständnis. »Die Bremische Lehrerschaft genoß bisher das stillschweigend gewährte Recht, einen sog. objektiven Religionsunterricht zu erteilen. Dieses Recht wurde dahin ausgelegt, daß der Unterricht nichts weiter als Bibelkunde mit anschließender Worterklärung sowie ethischer oder historischer Belehrung zu bieten hätte; außerdem wurde etwas Kirchengeschichte getrieben.«5

Damit ist die zweite Traditionslinie des Biblischen Geschichtsunterrichts (BGU), wie er seit gut einhundert Jahren offiziell hieß, benannt. Beide Traditionslinien, die konfessionsübergreifende und die eher religionskundliche, existierten Seit an Seit und tun dies in gewisser Weise bis zum heutigen Tage. Eine komplizierte Wendung erfährt das Projekt BGU nach dem Zweiten Weltkrieg, denn damals wurde das überkonfessionelle Verständnis des Religionsunterrichts erstens in eine landesverfassungsrechtliche Formulierung gegossen und zweitens setzte sich das Land Bremen bei den Beratungen zum Grundgesetz durch und konnte erreichen, dass die Abweichung von den Regelungen zum Religionsunterricht von Art. 7 Grundgesetz (GG) in der Ausnahmeregelung Art. 141 verankert wurden. Er wird bis heute ›Bremer Klausel‹ genannt. So beeindruckend einerseits das Durchsetzungsvermögen eines kleinen Stadtstaates ist, so problematisch ist andererseits die rechtliche Form, in die der BGU in der Landesverfassung gegossen wurde. Denn die Formulierung ist ein Formelkompromiss, der zwischen den streitenden Parteien SPD und CDU gefunden wurde, und verrechtlicht die bislang bestehende gewohnheitsrechtliche Praxis zum Biblischen Geschichtsunterricht, der auf allgemein christlicher Grundlage erteilt werden soll: »Die allgemein bildenden öffentlichen Schulen sind Gemeinschaftsschulen mit bekenntnismäßig nicht gebundenem Unterricht in Biblischer Geschichte auf allgemein christlicher Grundlage.«6

Der 1947 von den politischen Parteien erzielte Formelkompromiss mag zwar damals den politischen Streit beigelegt haben, aber er ist für das Fach eine schwere Bürde, denn es ist inhaltlich unklar, welchen Charakter ein Religionsunterricht auf allgemein christlicher Grundlage tatsächlich hat.7 Dies zeigte sich auch daran, dass im Zuge der Klage der Evangelischen Kirche durch den Staat5 Ralf Koerrenz/Norbert Collmar (Hgg.), Die Religion der Reformpädagogen. Ein Arbeitsbuch, Weinheim 1994, S. 32. 6 Art. 32 Brem.Verf. 7 Zu den rechtlichen Auseinandersetzungen und den Rechtsgutachten zum BGU vgl. Kenngott, »Religion unterrichten in Bremen«, S. 138–145.

206

Eva-Maria Kenngott

gerichtshof im Jahr 1965 festgestellt wurde, dass der Unterricht auf allgemein christlicher Grundlage nicht als christlicher Gesinnungsunterricht auf evangelischer Grundlage zu verstehen sei8 und deshalb auch katholische Schüler:innen miteinbeziehe.9 Die Formulierung in der Landesverfassung »auf allgemein christlicher Grundlage« verweise auf »etwas, das ›aller christlichen Welt gemeinsam ist‹«.10 Darüber hinaus dürfe keine ›Phantasiekonfession‹ vom Staat gelehrt werden. Dies ist deswegen eine zentrale Aussage, weil hiermit untersagt wird, dass der Staat als Anbieter des Religionsunterrichts selbst definiert, was ›allgemein christlich‹ ist. Was allerdings das allgemein Christliche ist, das der Staat nicht definieren darf, ohne gegen das Neutralitätsgebot zu verstoßen, wird weder in diesem Urteil deutlich noch irgendwann sonst. Im Hinblick auf die didaktische Entfaltung des Faches hatte die politisch produzierte Unklarheit schwerwiegende Konsequenzen. Die Über- bzw. Transkonfessionalität, die im Begriff des ›allgemein Christlichen‹ sowie in der Formulierung, dass der BGU bekenntnismäßig nicht gebunden sei, angelegt ist, hat zu unterschiedlichen Ausdeutungen der Fachkonzeption geführt. Während bei der universitären Ausbildung mit der Bezugsdisziplin Religionswissenschaft ein religionskundliches Verständnis des Faches vertreten wird, findet sich bis weit über die Jahrtausendwende hinaus auch eine ökumenische Orientierung des Faches. Nach langen Jahren, in denen der Religionsunterricht ein Nischendasein führte, die Verwahrlosungstendenzen unübersehbar waren und schon der Name des Faches in krassem Widerspruch zur religiösen Pluralität in der Stadt stand, entschied die rot-grüne Landesregierung eine Reform des BGU. Im Schuljahr 2014/15 wurde in Bremen ein interreligiöser Religionsunterricht eingeführt. Das Fach wurde umbenannt in ›Religion‹, ohne dass die Verfassung geändert wurde. Im ›Bildungsplan Religion‹ wird der neue Religionsunterricht wie folgt umrissen: »Nach Art. 32 der Landesverfassung handelt es sich um einen bekenntnismäßig nicht gebundenen Unterricht auf allgemein christlicher Grundlage […] Der Unterricht im Fach Religion hat dabei nicht die Aufgabe, zu einem bestimmten Bekenntnis oder zu einer bestimmten Religion hinzuführen und ist nicht bekenntnisorientiert. Der Unterricht ersetzt nicht die religiöse Erziehung durch die Elternhäuser oder durch die Religionsgemeinschaften, sondern tritt als schulisches Bildungsangebot

8 Vgl. Christoph Link, »Die Rechtsnatur des bremischen ›Unterrichts in Biblischer Geschichte auf allgemein christlicher Grundlage‹ (Art. 32 Brem.Verf.) und die sich daraus für die religionspädagogische Ausbildung im Lande Bremen ergebenden Konsequenzen«, in: Zeitschrift für evangelisches Kirchenrecht 24 (1979), S. 54–111, hier S. 57. 9 Ebd., S. 61. 10 Zitiert nach Link, »Die Rechtsnatur«, S. 61.

Interreligiöser Religionsunterricht in Bremen

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hinzu. Der Religionsunterricht hat daher primär die Funktion zur Bildung in religiösen Fragen; unter diesem Aspekt können auch weltanschauliche Fragen berührt werden.«11

Dies bedeutet, dass einerseits die Unklarheiten im Hinblick auf die allgemein christliche Grundlage des Faches bestehen blieben und die Umorientierung andererseits tatsächlich zu einem Neuanfang führte, der mit vielen Verbesserungen verbunden ist. Sie liegen sowohl auf der schulorganisatorischen Ebene als auch auf der Ebene der Ausrichtung des Unterrichts. Der Bildungsplan orientiert sich im Grundverständnis sowie in weiten Passagen am Hamburger Rahmenlehrplan, also einem Fach mit konfessioneller Ausrichtung gemäß Art.7 GG, und versteht sich als ›dialogischer‹ Unterricht: »Insgesamt lässt sich eine neue gesellschaftliche Dynamik religiösen Denkens, Fühlens und Handelns feststellen. Diese neue religiöse Heterogenität ist Ausgangspunkt und gesellschaftliche Voraussetzung des Faches Religion; die Vielfalt wird dabei als Herausforderung und als Chance verstanden, einen Dialog zwischen Menschen verschiedener Religionen, Kulturen und Weltanschauungen einzuleiten und zu gestalten. Das Fach Religion wendet sich an alle Schülerinnen und Schüler, ungeachtet ihrer jeweiligen religiösen und weltanschaulichen Überzeugungen. Es bietet auch jenen, die keinen ausgeprägt religiösen Hintergrund haben bzw. sich in Distanz oder Widerspruch zu jeglicher Form von Religion verstehen, Erfahrungsräume und Lernchancen. Im Fach Religion kommt es daher vor allem darauf an, miteinander nach Orientierungen im Fühlen und Denken, im Glauben und Handeln zu suchen und einen offenen Dialog über religiöse Deutungen von Grunderfahrungen und Grundbedingungen des Lebens zu ermöglichen.«12

Im Hinblick auf diese Grundentscheidung und in der Zusammenschau der zurückliegenden Darstellung gilt es mehreres festzuhalten: 1. Der Unterricht wird in der Regel im Klassenverband abgehalten und ist nicht konfessionell gebunden. Der Staat ist der Anbieter des interreligiösen Unterrichts. 2. Eine genauere Spezifizierung der landesverfassungsrechtlichen Bestimmung »auf allgemein christlicher Grundlage« ist nicht gegeben. Die beiden Traditionslinien des ›Bremer Modells‹ sind weiterhin vorhanden. 3. Der Dialog ist die »didaktische Grundform«,13 die für diesen überkonfessionellen Unterricht vorgesehen ist. 4. Die besondere Rolle des Christentums wird aufgrund der dialogischen Öffnung einerseits zurückgenommen, bleibt allerdings andererseits erhalten. Im Bildungsplan wird hierfür das Argument der kulturell-religiösen Bedeutsamkeit des Christentums herangezogen,14 in der Fachentwicklung nahm die Evangeli11 Die Senatorin für Bildung und Wissenschaft, »Religion. Bildungsplan Grundschule – Oberschule – Gymnasium. Jahrgangsstufen 1–13«, Bremen: Landesinstitut für Schule 2014, www.bildung.bremen.de/sixcms/media.php/13/e_04-2014_a.pdf (Abruf: 8. 5. 2020), S. 5. 12 Ebd., S. 6. 13 Ebd., S. 8. 14 Vgl. ebd., S. 5f.

208

Eva-Maria Kenngott

sche Kirche eine herausragende Position ein. 5. Die dialogische Öffnung bezieht sich auch auf säkulare Schüler:innen, die im Bildungsplan gesondert erwähnt werden.

2.

Interreligiöse Bildung auf dem Prüfstand

Bremen hat auf einen Erfahrungsschatz in der Interreligiösen Bildung zurückgegriffen, der sich seit den 80er Jahren des vergangenen Jahrhunderts in Hamburg im christlichen Kontext entwickelt hat. Auch Grundannahmen aus interreligiösen Bildungskonzepten sind in das neue Fach eingegangen. Diese Konzepte sind in einer gewissen konfessionell-theologischen Abgeschiedenheit entstanden und nur bedingt anschlussfähig an verwandte Disziplinen wie die inter- bzw. transkulturelle Bildung sowie die Forschungen aus der Religionswissenschaft bzw. der Religionssoziologie. Sicherlich sind die interreligiösen Konzepte des zweiten Jahrzehnts dieses Jahrhunderts als pluralitätssensible Konzepte15 deutlich von den davor entstandenen zu unterscheiden. Jedoch sind auch sie, von wenigen Ausnahmen abgesehen,16 eher theologisch orientiert und beziehen sich kaum auf die genannten Nachbardisziplinen. In den religionsbezogenen Forschungen sind etwa interreligiöse Dialoge und interreligiöse Vernetzungen erforscht worden; in der Erziehungswissenschaft sind wichtige Überlegungen herauskristallisiert worden, die sich mit Machtprozessen und 15 Max Bernlochner, Interkulturell-interreligiöse Kompetenz. Positionen und Perspektiven interreligiösen Lernens im Blick auf den Islam, Paderborn/München/Wien/Zürich 2013; Karlo Meyer, Grundlagen interreligiösen Lernens, Göttingen 2019; Mirjam Schambeck, Interreligiöse Kompetenz, Göttingen 2013. 16 Unter der Kategorie der Ausnahme würde ich Joachim Willems’ Habilitationsschrift und weitere seiner Texte betrachten, denn Willems’ Ansatz der Bearbeitung interreligiöser Überschneidungssituationen wird bewusst von den theologischen Konzepten abgerückt, siehe Joachim Willems, Interreligiöse Kompetenz. Theoretische Grundlagen – Konzeptionalisierungen – Unterrichtsmethoden, Wiesbaden 2011; ders., »Interreligiöse Kompetenz an der öffentlichen Schule«, in: Wir sind alle »andere«. Schule und Religion in der Pluralität, hrsg. von Henning Schluß, Susanne Tschida, Thomas Krobath und Michael Domsgen, Göttingen 2015, S. 19–35 und ders., »Interreligiöse Kompetenz«, in: Das Wissenschaftlich-religionspädagogische Lexikon im Internet (WiReLex) (2015), www.bibelwissenschaft.de/fileadmin /buh_bibelmodul/media/wirelex/pdf/Interreligi%C3%B6se_Kompetenz__2018-09-20_06_2 0.pdf (Abruf: 8. 5. 2020). Ferner verarbeitet Bernhard Grümme insbesondere die poststrukturalistische Debatte in den Erziehungswissenschaften: Bernhard Grümme, Heterogenität in der Religionspädagogik. Grundlagen und konkrete Bausteine, Freiburg/Basel/Wien 2017; ders., »Heterogenität«, in: Das Wissenschaftlich-religionspädagogische Lexikon im Internet (WiReLex) (2017), www.bibelwissenschaft.de/wirelex/das-wissenschaftlich-religionspaedago gische-lexikon/wirelex/sachwort/anzeigen/details/heterogenitaet/ch/7dda0bc32fc7a57c2b88 84e0ee154d7f (Abruf: 8. 5. 2020); ders., »Der Religionsunterricht zwischen Macht und Bildung. Perspektiven für seine Zukunftsfähigkeit«, in: Grazer theologische Perspektiven (2018), S. 141–163, www.limina-graz.eu/index.php/limina/article/view/5/9 (Abruf: 8. 5. 2020).

Interreligiöser Religionsunterricht in Bremen

209

-dynamiken in Schule und Unterricht befassen und dabei Kultur als zentralen Aspekt dieser Dynamiken verstehen.17 Nun spielt – ganz spiegelbildlich – die Kategorie ›Religion‹ im erziehungswissenschaftlichen Diskurs eine eher nebensächliche Rolle, was gewissermaßen ein quid pro quo darstellt. Die folgenden Überlegungen sollen diesen Zustand in Ansätzen überwinden helfen und Schwachstellen interreligiöser Bildungsprogramme thematisieren. Dies geschieht – dem Anlass dieses Textes entsprechend – ausgehend von der Neuorientierung in der Hansestadt Bremen. Darüber hinaus werden allgemeiner einige Grundprobleme interreligiöser Bildungsprozesse thematisiert, die nach der Erfahrung der Autorin auch in Bremen zu finden sind.

2.1

Interreligiöse Dialoge

In den zurückliegenden Jahrzehnten hat die religiöse Vielfalt deutlich zugenommen – bei gleichzeitigem Rückgang konfessionell-christlicher Verortung.18 Beide Entwicklungen werden in den Eingangsüberlegungen zum Bremer ›Bildungsplan Religion‹ zum Thema gemacht, wobei der dialogische Unterricht unmittelbar zur religiösen Pluralität in Beziehung gesetzt wird (siehe oben). Dialogischer Religionsunterricht verkörpert geradezu die Öffnung von einem monologisch-konfessionellen Modell zur Aufnahme des Gesprächs mit anderen religiösen Gruppierungen. Dabei wird der Begriff ›Dialog‹ im Bremer Bildungsplan nicht näher erläutert. Er wird als didaktische Grundform betrachtet (wie oben ausgeführt) und aus dem dialogischen Hamburger Unterricht übernommen. Im Hinblick auf den Hamburger ›Religionsunterricht für alle‹ (RUfa) definiert Thorsten Knauth den ›Dialogischen Religionsunterricht‹ (DRU) wie folgt: »Als Dialogischer Religionsunterricht wird eine in der Hansestadt Hamburg entwickelte Praxis des Religionsunterrichts verstanden, die angesichts einer religiös, kulturell und sozial heterogenen Schülerschaft religiöses Lernen unter mehrperspektivischer Berücksichtigung verschiedener religiöser Traditionen von der Grundschule bis in die 17 In ihrer Bedeutung für die Erforschung kulturalistischer Argumente im Bildungssystem ist die Studie von Gomolla und Radtke bahnbrechend gewesen. Sie zeigen, wie diskriminierende Entscheidungen bei der schulischen Empfehlungspraxis für Schulformen mit kulturellen Argumentationsmustern operieren: Mechthild Gomolla/Frank-Olaf Radtke, Institutionelle Diskriminierung. Die Herstellung ethnischer Differenz in der Schule, Opladen 2002. 18 In Bremen liegt die Zahl der Katholik:innen gemäß dem Zensus von 2011 bei 11,8 %, die der Protestant:innen bei 43,2 %. Keiner öffentlich-rechtlichen Religionsgesellschaft zugehörig sind 38,9 % der Bevölkerung. Ca. 6 % der Bevölkerung sind Muslim:innen. 1,3 % sind evangelischen Freikirchen zugehörig, 1,4 % orthodoxen Kirchen, 0,2 % jüdischen Gemeinden, 3,2 % sonstigen öffentlich-rechtlich anerkannten Religionsgesellschaften, vgl. Kenngott, »Religion unterrichten in Bremen«, S. 135.

210

Eva-Maria Kenngott

Sekundarstufe II in einem gemeinsamen Schulfach dialogisch und interreligiös gestaltet.«19

Knauth unterscheidet einerseits zwischen dem empirisch vorfindlichen Hamburger Dialogischen Religionsunterricht und einem dialogischen Konzept von Religionsunterricht20 andererseits. Ferner hebt er das dialogische Modell von interreligiösem Religionsunterricht ab, weil der dialogische Ansatz umfassender gedacht sei als der interreligiöse. Er beziehe alle Schüler:innen ein, sowohl diejenigen, die keiner institutionalisierten religiösen Tradition angehören als auch die säkularen.21 Wie oben dargelegt, ist Bremen im Hinblick auf säkulare Schüler: innen diesem Argument gefolgt. Die Überlegungen der beiden Hansestädte sind insofern äußerst schlüssig, als die Einbeziehung nicht religiös orientierter Schüler:innen eine Öffnung des Religionsunterrichts für alle Schülerinnen impliziert und damit religionsbezogene Fragen als bildungsrelevant für alle Schüler: innen betrachtet. Knauth bestimmt die konzeptionelle Grundausrichtung wie folgt: »Konzeptionell geht es dem DRU um die theologische und pädagogische, also religionspädagogische Begründung für eine Praxis im Religionsunterricht, in der Schülerinnen und Schüler unterschiedlicher weltanschaulicher, religiöser und kultureller Hintergründe im gemeinsamen Austausch von Perspektiven voneinander lernen können. Ausdrücklich sind in diesen gemeinsamen Lernprozess auch Schülerinnen und Schüler eingeschlossen, die sich als areligiös verstehen oder sich keiner Religion verbunden fühlen.«22

Den Begriff Dialog ordnet Knauth in die Traditionslinie etwa von Buber ein23 und betont das interpersonale Element der intersubjektiven Begegnung: 19 Thorsten Knauth, »Dialogischer Religionsunterricht. Der Hamburger Weg eines Religionsunterrichts für alle«, in: Das Wissenschaftlich-religionspädagogische Lexikon im Internet (WiReLex) (2016, Stand der PDF: 20. 9. 2018), www.bibelwissenschaft.de/fileadmin/buh_bibel modul/media/wirelex/pdf/Dialogischer_Religionsunterricht_Der_Hamburger_Weg_eines_ Religionsunterrichts_f%C3%BCr_alle__2018-09-20_06_20.pdf (Abruf: 8. 5. 2020), S. 1. 20 Knauth weist den Charakter als ein ›Modell‹ von Religionsunterricht zurück und betont Situationsgebundenheit und Prozesshaftigkeit des ›Hamburger Wegs‹ eines dialogischen Religionsunterrichts, vgl. Knauth, »Dialogischer Religionsunterricht« (2018), S. 1f. 21 Vgl. ebd., S. 7. 22 Ebd. 23 Knauth bestimmt andernorts den Dialogbegriff stärker philosophisch und theologisch, so Thorsten Knauth, »Position und Perspektiven eines dialogischen Religionsunterrichts in Hamburg«, in: Konfessionell – interreligiös – religionskundlich. Unterrichtsmodelle in der Diskussion, hrsg. von Eva-Maria Kenngott, Rudolf Englert und Thorsten Knauth, Stuttgart 2015, S.69–85, hier S.78f. Insgesamt gibt es eine lange Tradition von Dialogen, beginnend mit den platonischen Dialogen, vgl. hierzu Ulrike Bechmann, »Interreligiöser Dialog und Religionswissenschaft. Zwischen Analyse und Engagement«, in: Religionswissenschaft, hrsg. von Michael Stausberg, Berlin/Boston 2012, S. 449–462, hier S. 451f.; Gritt Klinkhammer/HansLudwig Frese/Ayla Satilmis/Tina Seibert, »Interreligiöse und interkulturelle Dialoge mit

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»Dialog meint daher eine elementare intersubjektive Begegnung, die von Anerkennung und der Offenheit für andere Perspektiven bestimmt ist. Das dem DRU zu Grunde gelegte Verständnis von Dialog betont das interpersonale Element, in dem keine Voraussetzungen des Wissens und der Erfahrung gelten müssen, um in den intersubjektiven Austausch zu gelangen.«24

Demnach manifestiert sich im Dialog die wechselseitige Anerkennung derjenigen Personen, die am Dialog beteiligt sind.25 Die dialogische Konzeption bezieht allerdings noch weitere Aspekte von Anerkennung ein: Zunächst wird ganz grundsätzlich religiöse Pluralität anerkannt; es wird ferner versucht, produktiv mit verschiedenen religiösen Vorstellungen umzugehen, indem sie miteinander ins Gespräch gebracht werden; schließlich werden diejenigen religiösen Positionen, die in den Dialog einbezogen werden, als dialogwürdig anerkannt. Diesen Komplex bezeichne ich als Anerkennungspraxis, die dem dialogischen Religionsunterricht zugrunde liegt. ›Anerkennung‹ ist ein normativer Begriff; er hat in den vergangenen Jahrzehnten einen wichtigen Stellenwert in der sozialphilosophischen Debatte eingenommen und wurde auch in den Erziehungswissenschaften rezipiert. Mit dem Begriff der Anerkennung geht einher, dass ein Ich und ein Du sich wechselseitig aufeinander beziehen, sprich: der Begriff beinhaltet eine kommunikative Situation in Reziprozität, also wechselseitiger Bezugnahme aufeinander.26 In dieser grundlegenden Situation entwickeln Menschen Identität und – im Falle der Anerkennung – positive Selbstwertgefühle. Diese sehr grundlegende Form menschlicher Anerkennung sieht Honneth in persönlichen Beziehungen mit starken Gefühlsbindungen wie Freundschaft und Liebe. Hier finden Menschen Anerkennung als Person. Er unterscheidet diese Form der zwischenmenschlichen, für uns alle konstitutiven Form der Anerkennung von der rechtlichen und der sozialen Anerkennung. Während die rechtliche Anerkennung eine Anerkennungsform ist, die nach dem Gleichheitsgebot allen dieselben Rechte gewährt, ist die soziale Anerkennung mit menschlichen Leistungen und deren Wertschätzung verbunden.27 Es ist unschwer zu sehen, dass alle drei Anerkennungsmodi in dialogischen Religionsunterrichtsmodellen eine Rolle spielen. Auf der fundamentalen recht-

24 25 26 27

MuslimInnen in Deutschland. Eine quantitative und qualitative Studie«, Bremen: Universität Bremen 2011, www.uni-bremen.de/fileadmin/user_upload/fachbereiche/fb9/reliwiss/Doku mente__pdfs/Forschung/VIRR/VIRR_Band_01.pdf (Abruf: 8. 5. 2020), S. 9–19. Ebd. Vgl. Knauth, »Position und Perspektiven eines dialogischen Religionsunterrichts in Hamburg«, S. 79. Vgl. Rainer Winter, »Anerkennung«, in: Handbuch Migrationspädagogik, hrsg. von Paul Mecheril, Weinheim/Basel 2016, S. 466–479, hier S. 471–473. Vgl. Axel Honneth, Kampf um Anerkennung. Zur moralischen Grammatik sozialer Konflikte, Frankfurt am Main 1998, S. 148–211.

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lichen Ebene ist das dialogische Modell insofern mit Anerkennungsfragen befasst, als rechtliche Beteiligung diskutiert, entwickelt oder gar gesichert wird. Dann entsteht ein Anspruch, den Beteiligte oder mögliche Beteiligte einfordern können. In Hamburg und Bremen etwa ist ein Prozess rechtlicher Anerkennung durch Staatsverträge mit den Muslimen in Gang gesetzt worden. Die individuelle Seite der Anerkennung hat im dialogischen Austausch zwischen Personen ihren Platz, also situationsabhängig im dialogischen Unterricht selbst, aber auch beispielsweise in organisatorischen Rahmenbedingungen, die gegebenenfalls dialogisch entwickelt werden. Die soziale Anerkennung von Meriten bzw. die Wertschätzung kommt ebenso situationsbedingt zum Tragen. Schaut man unter positivem Vorzeichen auf die genannten Anerkennungspraxen, so ist die dialogische Form ein pluralitätssensibles Instrument, mit Hilfe dessen religiöse Pluralität in eine organisatorische und didaktische Form gegossen wird und im Zuge dessen anerkannt wird. In der Forschung zu interreligiösen Dialoginitiativen von Klinkhammer et al. (2011) wird dieser positive Aspekt hervorgehoben.28 Die Forscher:innengruppe hat freiwillige Dialoginitiativen im christlich-muslimischen Kontext untersucht und sieht den Dialog ›auf Augenhöhe‹ als ein normatives Ziel.29 In der dialogischen Gesprächsform werden demnach Reziprozität und Würdigung mittransportiert bzw. als erstrebenswert mitgedacht. So wichtig die positiven Gesichtspunkte interreligiöser Dialoge sind, so sehr haben die Autor:innen allerdings auch problematische Aspekte eruiert. Von den befragten Teilnehmer:innen an interreligiösen Dialogen wurde zum Beispiel als Problem genannt, dass in der konkreten Praxis der Dialoge der Austausch häufiger gerade nicht auf Augenhöhe stattgefunden habe, was Frustration und Resignation bewirke.30 Es zeigten sich auch Ungleichgewichte bei der Bestimmung der Dialogthemen und beim Dialoggeschehen selbst.31 Ferner zeigte sich partiell, dass das Christentum als Maßstab bei der institutionalisierten Verfasstheit betrachtet wird oder Muslime sich unter Rechtfertigungsdruck gesetzt fühlten.32 Befunde solcher Art machen auf Problemlagen und Defizite aufmerksam. Sie zu beachten ist einerseits für die Weiterentwicklung des Ansatzes, andererseits im Hinblick auf einen reflektierten Blick auf tatsächlichen dialogischen Unterricht außerordentlich notwendig. Der skeptische Blick sieht in Anerken28 Klinkhammer et al. verweisen dezidiert auf die Anerkennung religiöser Pluralität durch interreligiöse Dialoge: »Interreligiöse Dialoge sind insofern wichtige zivilgesellschaftliche Bausteine für die gesellschaftliche Anerkennung religiöser und kultureller Pluralität.« Klinkhammer et al., »Interreligiöse und interkulturelle Dialoge mit MuslimInnen in Deutschland«, S. 374. 29 Vgl. ebd., S. 99, 374. 30 Vgl. ebd., S. 266. 31 Vgl. ebd., S. 112f. 32 Vgl. ebd., S. 114–116; 182.

Interreligiöser Religionsunterricht in Bremen

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nungsprozessen einen Balanceakt, der misslingen kann und zuweilen eben auch misslingt. Anerkennung ist mitunter prekär oder halbherzig, es werden Ungleichheiten reproduziert – wie Mehrheiten- und Minderheitenverhältnisse – oder es empfinden sich unter Umständen bestimmte Personen oder Positionen als höchstens partiell anerkannt. Anerkennung gelingt demnach häufig nur bedingt. Diese Anfälligkeit für diverse Ungleichgewichte wie Ungleichbehandlungen, Diskriminierungserfahrungen, Ausschlüsse und weiteres kommt in der konzeptionellen Diskussion zum dialogischen Religionsunterricht nach meiner Wahrnehmung kaum zur Sprache.33 Hier werden positive Seiten von interreligiösen Dialogen betont und die Anfälligkeit von Dialogen für Verletzungserfahrungen ausgespart. Dabei ist gerade die Sensibilität für die Anfälligkeit durch Übergriffe sowie die Verletzungsgefahr im dialogischen Geschehen unter fachdidaktischer Perspektive ein Muss. Besonders in der Ausbildung sowie der Fortund Weiterbildung sollten (angehende) Lehrkräfte für mögliche Ungleichgewichte sensibilisiert werden, um etwa zu verhindern, dass in einem dialogischen Religionsunterricht gesellschaftliche Mehrheitsverhältnisse reproduziert werden.34

2.2

Dialogpartner:innen und die sogenannten ›Weltreligionen‹

Bis dato bezieht sich die Argumentation auf das interne Geschehen im Dialog. Eine weitere grundlegende Frage besteht darin, wer überhaupt beim Dialog dabei sein darf. Wer ist Dialogpartner:in? Dies ist nicht nur relevant im Hinblick auf freiwillige Dialoginitiativen, sondern auch auf dialogische Unterrichtskonzepte. Damit wird die Blickrichtung vom Innenleben von Dialogen auf die Konstitution dialogischer Gruppen sowie dialogischer Unterrichtskonzepte gerichtet. Die beiden Hansestädte Hamburg und Bremen, die Vorreiterin dialogischen Religionsunterrichts und die Nachahmerin mit unterschiedlicher Akzentsetzung, sind in dieser Frage durchaus unterschiedlich aufgestellt. In Hamburg sind 33 Knauth zeigt die Verletzlichkeit und Zerbrechlichkeit intersubjektiver Anerkennung, vgl. Knauth, »Position und Perspektiven eines dialogischen Religionsunterrichts in Hamburg«, S. 79. 34 In einer spannenden Unterrichtsanalyse zeigt Thorsten Knauth, wie in einer Hamburger Religionsgruppe nach und nach der christliche bzw. säkulare Teil der Schüler:innen verstummt. Hier werden nicht gesellschaftliche Mehrheitsverhältnisse reproduziert, sondern die muslimische Lehrkraft schafft thematische Identifikationsmöglichkeiten, denen nur noch die muslimischen Schüler:innen folgen können oder möchten, vgl. Thorsten Knauth, »Ein Zugang zum Incident-Begriff und zur Incident-Analyse. Theoretische Bemerkungen und ein Beispiel«, in: Religionsunterricht. Dialog und Konflikt. Analysen im Kontext Europas, hrsg. von Dan-Paul Jozsa, Thorsten Knauth und Wolfram Weiße, Münster 2009, S. 360–373, hier S. 368–372.

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im neu etablierten RUfa 2.0 muslimische Gemeinschaften, Aleviten sowie die jüdische Gemeinde35 beteiligt.36 In Bremen hatte die Bremische Evangelische Kirche ein großes Gewicht bei der Erarbeitung und Implementierung des Bildungsplans Religion, beratend wurden muslimische Gemeinschaften, Aleviten und die jüdische Gemeinde hinzugezogen. Allerdings ist in der Bremer Situation die verfassungsrechtliche Basis eines Religionsunterrichts »auf allgemein christlicher Grundlage« völlig anders als in Hamburg. Handlungsgrundlage ist nicht der konfessionelle Religionsunterricht, sondern der überkonfessionelle unter christlichem Vorzeichen. Damit stellt sich die Frage, ob hier nicht von vorneherein eine Art »hinkender Dialog«37 etabliert wurde. Der Modus der Beteiligung am Dialog ist bedeutsam, weil sich die Konstitutionsbedingungen vermutlich nicht allein auf die Implementierung des dialogorientierten Schulfaches auswirken, sondern auch Verständnisse des jeweiligen Unterrichts und der Professionswahrnehmung, von Unterrichtsmaterial oder behördlichen Strategien und weiteren Faktoren prägen. Alexander Nagel hat in seiner Forschung zu interreligiösen Netzwerken eklatante Ungleichgewichte durch Inklusion und Exklusion ausgemacht: Die Frage, wer dazugehört, ist zutiefst verbunden mit der Frage, wer ausgeschlossen wird und steht wiederum in Verbindung mit den Selbstbeschreibungsprozessen der Dialoggemeinschaft. Nagel stellt fest, dass interreligiöse Dialoge mit der Vorstellung assoziiert sind, dass es legitime Akteur:innen für solche Dialoge gibt: »Der ›ideale‹ Teilnehmer müsste dann zu einer monotheistischen (besser: abrahamitischen) Glaubensrichtung gehören, die innerweltlich orientiert ist, auf eine längere Tradition zurückblicken kann, formal (z. B. als Verein) organisiert ist und eng mit staatlichen Behörden zusammenarbeitet. Umgekehrt ist zu erwarten, dass neue religiöse Bewegungen, poly- oder atheistische Traditionen oder Religionsgemeinschaften wie Millî Görüs, die vom Verfassungsschutz beobachtet werden, kaum oder selten als legitime Akteure an interreligiösen Aktivitäten teilnehmen.«38

35 Vgl. Jochen Bauer, Religionsunterricht für alle. Eine multitheologische Fachdidaktik (Religionspädagogik innovativ 30), Stuttgart 2019, S. 40–45. 36 Nach Bauer sind im weiteren Kreis Buddhisten, Hindus und Bahai, vgl. ebd., S. 44. 37 Ich benutze diesen Begriff im Anschluss an de Wall, der sich im Rahmen der staatskirchenrechtlichen Verfasstheit der Kooperation zwischen Staat und Religionsgemeinschaften mit dem Vorwurf der »hinkenden Neutralität« auseinandersetzt, vgl. Heinrich de Wall, »Das deutsche Staatskirchenrecht und die Religionsfreiheit«, in: Religionsfreiheit. Positionen – Konflikte – Herausforderungen, hrsg. von Hans-Georg Ziebertz, Würzburg 2015, S.35–51, hier S. 43. 38 Alexander-Kenneth Nagel, »Diesseits des Dialogs: Zur Vielfalt interreligiöser Aktivitäten«, in: Religionen – Dialog – Gesellschaft. Analysen zur gegenwärtigen Situation und Impulse für eine dialogische Theologie, hrsg. von Katajun Amirpur und Wolfram Weiße, Münster/New York 2015, S. 57–68, S. 249.

Interreligiöser Religionsunterricht in Bremen

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Auf den dialogischen Religionsunterricht bezogen bedeutet dies, dass Einschluss und Ausschluss quasi die Basis des dialogischen Konzepts sind, weil mit transportiert wird, wer dabei ist und wer nicht. Die Frage, wer am Dialog beteiligt ist, ist in Hamburg und Bremen relevant.39 In Bremen sind hier zwei zentrale Gelenkstellen zu benennen: 1. Bildungsplan sowie behördliche Implementation des Faches gehen – vollständig in der von Nagel festgestellten Logik – von den drei großen westlichen monotheistischen Traditionen aus, die im Bremer Religionsunterricht zuallererst beteiligt sind und im Bildungsplan verarbeitet werden. 2. Die Beteiligung der islamischen Religionsgemeinschaften ist zwar erwünscht, wird aber in unterschiedlichem Ausmaß von den muslimischen Akteur:innen abgelehnt. Hierbei spielt vermutlich der oben angeführte ›hinkende Dialog‹ keine unbedeutende Rolle. Denn das selbstverständliche Prä des Christentums ist eine Dialoghürde. Daraus folgt zum einen, dass der Dialogische Religionsunterricht in seiner jeweiligen empirischen Verfasstheit mit Ausschlussmechanismen operiert, die so gar nicht zur dialogischen Öffnung passen wollen. In Bremen ist zudem nicht die Notwendigkeit gegeben, in der Logik des konfessionellen Religionsunterrichts zu denken und deswegen – wie in Hamburg – nur die rechtlich anerkannten Religionsgemeinschaften in den Dialog bzw. die Organisation dialogischen Religionsunterrichts einzubeziehen. Es wären im Prinzip auch fließendere und flexiblere Formen dialogischer Strukturen unter Beteiligung kleinerer Gruppierungen denkbar. Zweifelsohne wirft dies die entscheidende Frage auf, wer zum Dialog legitimiert ist oder wird und warum zu wem in welcher Weise und mit welcher Begründung Grenzen gezogen werden. Zum anderen wirkt im dialogischen Modell ein Grundverständnis der ›Weltreligionen‹ und deren didaktischer Darstellung nach, das in mehreren Hinsichten überholt und problematisch ist. Zunächst ist gar nicht ausgemacht, was überhaupt nach welchen Kriterien als eine ›Weltreligion‹ zu gelten hat. Hutter zeigt schön, dass drei gängige Kriterien, nämlich universeller Geltungsanspruch, Zahl der Anhänger:innen und/oder geographische Verbreitung sowie das Alter der jeweiligen Religion Kriterien sind, die in der ein oder anderen Weise manche Religionen – etwa das Judentum – eigentlich eher ausschließen und andere – wie den Zoroastrismus oder als neuere Religion die Bahaʾi-Religion – unter Umständen einschließen würden. Der Begriff ›Weltreligion‹ ist ein umgangssprachlicher Begriff, der allerdings nichtsdestotrotz in den Rahmenlehrplänen unhinterfragt Anwendung findet. Hinzu kommt, dass er ein eurozentrischer Begriff ist, der im 19. Jahrhundert, ausgehend von der Bibel des Chris39 In Hamburg hat sich ein beträchtlicher Teil der Tagung Dialogischer Religionsunterricht. Positionen, Kontroversen und Perspektiven (28.–30. 11. 2018) mit Fragen der Exklusion und Inklusion beschäftigt.

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tentums, diejenigen Religionen als ›Weltreligionen‹ deklariert, die über eine oder mehrere heilige Schrift(en) verfügen, auch wenn diese Schriften unterschiedliche Bedeutungen in den jeweiligen Religionen haben.40 Ein sehr anschauliches Beispiel Hutters aus dem asiatischen Raum zeigt ›Weltreligionendenken‹ von der anderen Seite des Erdballs, das die eigenen Selbstverständlichkeiten bloß stellt: In der indonesischen Staatsdoktrin gelten neben Islam, Hinduismus und Buddhismus der Katholizismus und der Protestantismus als die anerkannten Religionen,41 was aus christlicher Sicht durchaus verblüffend ist. Auch in diesem Beispiel zeigt sich freilich, dass die Problematik über Definitionsfragen hinausgeht und mit Fragen der Legitimität verknüpft ist. Schlussendlich ist mit den (westlichen) Weltreligionen als gegebenen Dialogpartnerinnen noch ein weiterer problematischer Zug verbunden, der erst nach und nach in den Blick rückt: die Homogenisierung von Weltreligionen. Sie sind an bestimmten »Kennzeichen« zu erkennen, wie es im Bremer Bildungsplan heißt.42 Diese von der Religionsphänomenologie geprägte Sicht ist in der Religionswissenschaft seit Jahren stark in der Kritik und führt langsam zu einer differenzierteren Wahrnehmung religiöser Traditionen.43 Im Hinblick auf die didaktischen Problemstellungen interreligiösen Unterrichts ist die Homogenitätsunterstellung freilich nicht zu verharmlosen, ist sie doch einerseits mit der Vorstellung von Weltreligionen verbunden; andererseits ist die Homogenitätsunterstellung gerne gekoppelt mit begegnungspädagogischen Repräsentationsmechanismen. Demnach werden im interreligiösen Unterricht Begegnungen mit Repräsentant:innen von Weltreligionen inszeniert, die einen Beitrag zu wechselseitigem Verstehen leisten sollen (siehe 2.4). Insgesamt betrachtet verflechten sich im dialogischen Unterrichtsmodell grundlegende Vorstellungen von Legitimität und Homogenität religiöser Traditionen in einem Grundverständnis der zum Dialog zugelassenen Weltreligionen. Im Vordergrund stehen dabei zunächst die abrahamitischen Weltreligionen, die inkludiert werden. 40 Hutter zeigt sehr klar, dass Religionen mit heiligen Schriften, die damals erst im Entstehen begriffen waren, wie die Bahaʾi-Religion oder der damals weitgehend unbekannte Sikhismus deswegen nicht in den ›Kanon‹ aufgenommen wurden. Vgl. Manfred Hutter, Die Weltreligionen, München 2016, S. 14f.; insgesamt zur Weltreligionenproblematik S. 9–16). 41 Vgl. Hutter, Die Weltreligionen, S. 15. 42 Die genauere Formulierung lautet: »Kennzeichen der Weltreligionen« und ist als verbindlicher Inhalt für die Klassenstufen 5/6 vorgesehen, vgl. Die Senatorin für Bildung und Wissenschaft, »Religion. Bildungsplan«, S. 19. Der Bremische Bildungsplan unterscheidet sich in dieser Hinsicht allerdings wenig von anderer Rahmenlehrplanlyrik. 43 Leni Franken zeigt zentrale Aspekte der Diskussion um eine religionswissenschaftlich informierte überkonfessionelle Religionspädagogik: Leni Franken, »Religious Studies and Non-confessional RE: Countering the Debates«, in: Religion & Education 45 (2018), S. 155– 172.

Interreligiöser Religionsunterricht in Bremen

2.3

217

Heterogenität und Religion

Erziehungswissenschaftliche Debatten finden erst allmählich Eingang in die interreligiöse Bildung. Dies gilt auch für den inflationär verwendeten Begriff der ›Heterogenität‹, der gerade durch die vielfältige Debatte in der inter- bzw. transkulturellen Pädagogik teilweise unbestimmt und wenig eingegrenzt ist. Dennoch steht er für eine Entwicklung, die seit dem Ende der 90er Jahre im Gange ist und als Sensibilisierung für Machtmechanismen, die mit kulturellen (und anderen) Zuschreibungsprozessen verbunden sind, beschrieben werden kann. Dabei kommen unterschiedliche theoretische Zugriffe zum Einsatz, wobei sicherlich dem Poststrukturalismus eine überragende Bedeutung zukommt. Bei aller Komplexität lässt sich argumentieren, dass der Begriff der Heterogenität zwei unterschiedliche Aspekte bündelt und deshalb eine doppelte Funktion hat: Er beschreibt einerseits die plurale bzw. vielfältige Zusammensetzung der Schülerschaft, im Falle von Religionszugehörigkeiten die religiöse Pluralität der Schülerschaft. Im Hinblick auf Bremen kann die Zunahme religiöser Pluralität grob als Entwicklung von einer protestantisch geprägten zu einer pluralen Großstadt mit einem hohen Anteil von Personen, die keiner Religionsgemeinschaft zuzuordnen sind, beschrieben werden.44 Andererseits thematisiert der Begriff Heterogenität eine Logik der »Einordnung von Schülerinnen und Schülern in bestimmte Gruppen«45 im Hinblick auf bestimmte Merkmale wie etwa das religiöse Bekenntnis.46 Diese Zuordnungsprozesse nach Kategorien wie Kultur, Geschlecht, Leistung oder Religion sind alles andere als unschuldig oder neutral. Es sind machtvolle Zuordnungen, die eine Einordnungslogik begleiten und »Subjekte« in einer bestimmten Weise als eingeordnet betrachten.47 In der interreligiösen Bildung spiegelt sich zwar die pluralitätssensible Perspektive wider, nicht allerdings die machtsensible. Damit ist gewissermaßen die halbierte Heterogenität im Grundverständnis interreligiöser Bildung präsent. Hierfür möchte ich beispielhaft die Definition interreligiöser Bildung von Friedrich Schweitzer heranziehen: »Interreligiöse Bildung ist eine Dimension von Bildung, die sich auf die Wahrnehmung eigener und anderer Religionen und ihr Verhältnis zueinander bezieht, die auf wechselseitigem Verstehen beruhende dialogische Einstellungen anstrebt und zu einem 44 Siehe Anm. 18. 45 Hans-Christoph Koller, »Einleitung: Heterogenität – Zur Konjunktur eines pädagogischen Konzepts«, in: Heterogenität. Zur Konjunktur eines pädagogischen Konzepts, hrsg. von HansChristoph Koller, Rita Casale und Norbert Ricken, Paderborn 2014, S. 9–18, hier S. 14. 46 Koller definiert Heterogenität als »die Verschiedenheit der Elemente einer Gruppe hinsichtlich eines gemeinsamen Merkmals«, vgl. Koller, »Einleitung: Heterogenität«, S. 16. 47 In der Religionspädagogik hebt Bernhard Grümme diesen Aspekt besonders hervor; sehr pointiert Grümme, »Der Religionsunterricht zwischen Macht und Bildung«.

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gesellschaftlichen Zusammenleben im Sinne von Frieden und Toleranz, Anerkennung des Anderen und Respekt voreinander befähigt.«48

In dieser Definition sind eine Reihe von Grundentscheidungen49 getroffen worden: 1. Religiöse Pluralität, also Heterogenität im pluralitätssensiblen Sinne, wird vorausgesetzt. 2. Interreligiöse Bildung wird dialogisch als Anerkennungsverhältnis verstanden (siehe 2.1). 3. Im dialogischen Geschehen findet wechselseitiges Verstehen statt (siehe 2.4). 4. Interreligiöse Bildung zielt auf ein gutes gesellschaftliches Miteinander (siehe 2.4). Schließlich werden 5. interreligiöse Bildungsprozesse unter Absehung von gesellschaftlich relevanten Macht- und Zuordnungsprozessen betrachtet – hier ist gewissermaßen eine Leerstelle. Nach dieser Bestimmung interreligiöser Bildung findet die interreligiöse Begegnung im machtfreien Raum statt, wobei vermutlich Angehörige unterschiedlicher monotheistischer Religionen im Modus des Dialogs aufeinander zugehen und sich austauschen.50 Dieser Austausch, so lässt sich mit Leimgruber und Ziebertz ergänzend präzisieren, wird als ein Akt der Perspektivenübernahme bzw. des Perspektivenwechsels51 betrachtet und verhilft, wenn er gelingt, im besten Falle zu einem besseren Verständnis der eigenen Religion. In diesem Sinne führt die interreligiöse Begegnung zu einer reflektierteren, gefestigteren oder revidierten Form der Positionalität.52 In diesem Setting interreligiöser Bildung ist nicht einmal in Ansätzen erkennbar, ob, wie, wann oder warum ›Religion‹ in der interreligiösen Begegnung ›gemacht‹ wird. Denn es werden ja in der interreligiösen Begegnung – Joachim Willems nennt sie interreligiöse Überschneidungssituation –53 erst Positionen 48 Friedrich Schweitzer, Interreligiöse Bildung. Religiöse Vielfalt als religionspädagogische Herausforderung und Chance, Gütersloh 2014, S. 132. 49 Ich befasse mich an dieser Stelle nicht mit Schweitzers völlig berechtigter Grundentscheidung, vom älteren Begriff des ›interreligiösen Lernens‹ Abstand zu nehmen und stattdessen interreligiöse Lernprozesse als Dimension von Bildung überhaupt zu betrachten, vgl. Schweitzer, Interreligiöse Bildung, S. 33, 132. 50 Hiermit ist die oben angesprochene Frage der legitimen Dialogpartner:innen berührt. Schweitzer beschreibt in seinem Buch exakt diese Dialogpartner: Christentum, Judentum und Islam, vgl. Schweitzer, Interreligiöse Bildung, S. 223–238. 51 In Kenngott (2012) nehme ich eine Klärung der Begriffe vor und kritisiere die Strategien von Perspektivenübernahmen in Konzepten interkultureller Bildung, vgl. Eva-Maria Kenngott, Perspektivübernahme. Zwischen Moralphilosophie und Moralpädagogik, Wiesbaden 2012, S. 215–239. 52 Vgl. Hans-Georg Ziebertz/Stefan Leimgruber, »Interreligiöses Lernen«, in: Religionsdidaktik. Ein Leitfaden für Studium, Ausbildung und Beruf, hrsg. von Georg Hilger, Stephan Leimgruber und Hans-Georg Ziebertz, München 2007, S. 433–442, hier S. 438–440. 53 Willems meint damit nicht exakt dasselbe, sondern verwendet den Begriff unspezifischer und bezogen auf Situationen, in denen Religionsdifferenzen in irgendeiner Form eine Rolle spielen. Dem ist zuzustimmen, weil schon allein durch diese Begriffspolitik religiöse Pluralität als gesellschaftliches Phänomen, das alle Bürger:innen betrifft, ernst genommen wird. Sie erscheint dann als Phänomen, das zu ›Überschneidungssituationen‹, auch solchen mit

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zugeordnet, homogenisiert oder repräsentiert. Sprich, in diese Situationen gehen Zuschreibungsprozesse, gesellschaftliche Positionen, Annahmen über Religion(en) und weiteres ein. In der Konzeptentwicklung interreligiöser Bildung hat dies bislang kaum Niederschlag gefunden. Dabei ist es eine Sache und legitim, wenn Theolog:innen und Religionspädagog:innen die theologischen Konsequenzen des interreligiösen Austausches reflektieren. Das Interesse richtet sich dann auf die Bedeutung, die ein solches Aufeinanderzugehen auf die eigene religiöse Positionierung sowie auf die Theologien, die dabei mit verhandelt werden, hat. Eine andere Sache allerdings ist es, wenn als Reaktion auf die zunehmende religiöse Pluralität interreligiöse Konzepte für einen modernen Religionsunterricht vorangetrieben werden und diese dabei lediglich die halbierte Heterogenität in Form religiöser Pluralität zur Sprache bringen. Prozesse von Zuschreibungen, von Positionszuweisungen, von möglichen Anerkennungsdefiziten, von Essentialisierungen, Homogenitätsunterstellungen und weiterem werden kaum in den Fokus religionspädagogischer Reflexion gebracht. Es ist dringend erforderlich, Reflexionsgewinne dieser Art in die Aus- und Weiterbildung zu integrieren, damit sie dereinst auch in der religionsunterrichtlichen Praxis von Lehrkräften Anwendung finden. Zunächst ist generell festzuhalten, dass die Frage religiöser Zugehörigkeiten schon die Wahrnehmung von Migration generell prägt. Migration wird häufig mit der Migration von Muslimen gleichgesetzt. Im Widerspruch zu diesem Eindruck von »islamisierter Migration«,54 gehören viele Migrant:innen zu christlichen Religionsgemeinschaften. Nagel sieht sie im Verhältnis von ca. drei Viertel zu einem Viertel.55 Die Problematik der Zuordnung zu einer Gruppe nach der Religionszugehörigkeit ist vielschichtig, der zentrale Aspekt allerdings besteht in der Verschachtelung von Zugehörigkeit und damit verbundener Abwertung. Paul Mecheril als einer der prominenten Analytiker von Zuschreibungsprozessen im Sinne des machtsensiblen Teils von Heterogenität stellt im Hinblick auf Praktiken der Religionszuordnung fest: »Religion stellt in diesem Zusammenhang mithin einen Zugehörigkeitscode dar, mit dem Personen als natio-ethno-kulturell Andere markiert werden, wie die Markierung

konflikthaftem Charakter, führt. Darüber hinaus thematisiert Willems aber auch die Notwendigkeit der Erforschung von religionsbezogenen Zuordnungsprozessen, vgl. Willems, »Interreligiöse Kompetenz«, S. 7. 54 Alexander-Kenneth Nagel, »Migration und Religion«, in: Handbuch Interkulturelle Pädagogik, hrsg. von Ingrid Gogolin, Viola B.Georgi, Marianne Krüger-Potratz, Drorit Lengyel und Uwe Sandfuchs, Bad Heilbrunn 2018, S. 72–76, hier S. 74. 55 Vgl. ebd., S. 74f.

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von MuslimInnen durch Angehörige der mehrheitlich christlichen Dominanzgesellschaft zeigt.«56

Dieser »Zugehörigkeitscode« im Sinne der Zugehörigkeit zum Islam steht zwar im Zusammenhang mit 9/11, ist aber eine Fortführung älterer, schon bestehender ethnisierender Zuschreibungsprozesse. Prägnant formuliert ist aus dem türkischen Gastarbeiter der ›Moslem‹ geworden, während der griechische Gastarbeiter nicht als orthodoxer Christ gelabelt wird.57 Die abwertende Zuordnung und die damit verbundenen Zuschreibungsmechanismen auf der Linie ›Ausländer – Türke – Muslim‹ zeigen sich auf vielen gesellschaftlichen Ebenen, aber auch in Bildungsinstitutionen.58 Im Hinblick auf interreligiöse Bildung und dialogische Lernprozesse ist allerdings die entscheidende Frage, wie verhindert werden kann, dass sie im Religionsunterricht reproduziert werden oder, entscheidender noch, durch didaktische Praxen mit initiiert werden. Dies geschieht etwa dann, wenn wohlmeinende Lehrkräfte muslimische Schüler:innen in vorgeblich authentischer Weise die Gebetspraxis im Islam demonstrieren lassen.59 Damit wird die Religionszugehörigkeit in einer aktiven Form der Ausübung des Islam präsent gemacht und womöglich zementiert. Auch begegnungspädagogische Szenarien sind anfällig für solche ›OtheringVorgänge‹. Ganz klassisch laden Lehrkräfte gern und mit den allerbesten Absichten Angehörige unterschiedlicher Religionsgemeinschaften als authentische Gäste in den Religionsunterricht ein, beispielsweise eine:n muslimische:n oder jüdische:n Vertreter:in. Abgesehen von der Authentizitätsunterstellung, die 56 Ulrike Lingen-Ali/Paul Mecheril, »Religion als soziale Deutungspraxis«, in: ÖRF 24 (2016), www.spezialprogramm.files.wordpress.com/2017/10/lingen-ali-ulrike-mecheril-paul-religio n-als-soziale-deutungspraxis.pdf (Abruf: 8. 5. 2020), S. 17–24, hier S. 19. 57 Diese Beispiele von ›Religionisierung‹ und ethnisierender Zuordnung stammen von Volkhard Krech und werden im Kontext der Argumentation von Lingen-Ali und Mecheril angeführt, vgl. Lingen-Ali/Mecheril, »Religion als soziale Deutungspraxis«, S. 18. Die Zugehörigkeitsordnungen haben sich also verändert, wie aus einem älteren Text von Werner Schiffauer gut zu ersehen ist. Er zeigt in seinen Forschungen zur Migration der sogenannten ›Gastarbeiter‹ aus der Türkei für die 90er Jahre schwerwiegende Diskriminierungserfahrungen, die insbesondere von Angehörigen der zweiten Generation thematisiert werden. Das ›Labeling‹ folgte damals einem ethnisierenden Muster. In einem Interview erzählte eine Migrantin aus der zweiten Generation: »Man muss sich als Ausländer erst beweisen, um anerkannt zu werden. Das ist absolut so. Ja, sie müssen viel, viel, viel dafür tun, um anerkannt zu werden und Akzeptanz zu kriegen […] Das habe ich so für meinen Teil festgestellt, dass immer das Bild da ist, du bist Ausländer, du bist Ausländer, obwohl ich kein Ausländer, also ich empfinde mich nicht mehr als Ausländer.« Werner Schiffauer, Migration und kulturelle Differenz. Studie für das Büro der Ausländerbeauftragten des Senats von Berlin, Berlin 2002, S. 22. 58 Siehe Anm. 17. 59 Bernhard Grümme beschreibt dieses Beispiel als Zuschreibungsphänomen, vgl. Grümme, »Der Religionsunterricht zwischen Macht und Bildung«, S.152. Auch ich selbst habe solch ein Vorgehen einer Lehrkraft schon in einer Hospitation beobachtet, allerdings nicht in Bremen.

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Grümme geißelt,60 besteht hierbei die Gefahr der homogenisierenden Zuschreibung. Wird solch ein Setting nicht reflektiert, kritisch und in didaktisch begleitete Prozesse eingebettet, so drohen Gäste zu Repräsentant:innen ihrer Religion zu werden. In solchen Kontexten können vereinfachende, homogenisierende Darstellungen von Religionen entstehen, wenn sie nicht etwa dadurch relativiert werden, dass auch andere Sichtweisen oder Traditionen aus derselben Religion eingespielt werden. Ferner kann es im dialogischen Geschehen in der Religionsgruppe selbst ebenso zu ›Religionisierungen‹ und der Festschreibung von Positionen und Zugehörigkeiten kommen, die im Unterricht produziert werden.61 Der Dialog beruht dann weniger auf den unterschiedlichen Sichtweisen, die in ihn einfließen, sondern er produziert Positionierungen, die vorher fließender waren.62 Die Gefahr der Verfestigung von Zuschreibungsprozessen durch wohlmeinende interkulturelle Pädagogik beschreiben Lingen-Ali und Mecheril folgendermaßen: »›Unter der Voraussetzung von struktureller Ungleichheit und Benachteiligung kann die pädagogisch in Gang gebrachte, auf Verständigung zielende interkulturelle Arbeit unter der Hand einen gegenläufigen Prozess der Fehlkommunikation befördern, bei dem stereotype Zuschreibungen verfestigt werden. Im Verlauf eines solchen Prozesses werden deutsche Kinder ›christlicher‹ und türkische Kinder ›muslimischer‹, als sie es je waren.‹ Diese Zuschreibungen verweisen darauf, dass Religion als soziale Unterscheidungskategorie und unter bestimmten Umständen natio-ethno-kulturell kodiert sein kann. Mit der Deutungspraxis Religion werden somit Zugehörigkeiten bestärkt, bestätigt oder erst hergestellt.«63

Bislang sind Analysen dieser Art in der interreligiösen Bildung selten anzutreffen. Sie wären aber nötig, damit Lehrkräfte bzw. angehende Lehrkräfte Analysefähigkeit und Sensibilität erlernen, um nicht selbst zu Akteur:innen in Zuordnungsprozessen zu werden.

60 Vgl. Grümme, Heterogenität in der Religionspädagogik, S. 193f. 61 Wir haben in der Analyse einer Unterrichtsstunde aus dem konfessionell-kooperativen Religionsunterricht in Baden-Württemberg die Macht solcher Zuordnungsprozesse dargestellt. Dort wurden evangelische und katholische Kinder jeweils zu solchen ›gemacht‹, vgl. EvaMaria Kenngott/Lothar Kuld, Religion verstehen lernen. Neuorientierungen religiöser Bildung, Münster 2012, S. 111–182, besonders S. 154–163 und 175–182. 62 Auch Klinkhammer et al. verweisen auf solche Dynamiken, wenn sie von der Reproduktion von Grenzen zwischen den Religionen im Dialog berichten, vgl. Klinkhammer et al., »Interreligiöse und interkulturelle Dialoge mit MuslimInnen in Deutschland«, S. 372f. 63 Lingen-Ali und Mecheril zitieren hier Hamburger, Lingen-Ali/Mecheril, »Religion als soziale Deutungspraxis«, S. 20.

222 2.4

Eva-Maria Kenngott

Ziele interreligiöser Bildung

Was soll interreligiöse Bildung bewirken? Was sind ihre Ziele und an welchen Kompetenzen soll gearbeitet werden? Im Bremer Bildungsplan findet sich eine doppelte Ausrichtung. Einerseits ist der Religionsunterricht in das Schulleben eingebunden und soll »gegenseitiges Verständnis und ein friedliches Zusammenleben« befördern.64 Der Unterricht soll andererseits die Schüler:innen befähigen »sich in dieser Gesellschaft zu orientieren, einen eigenen Weg zu finden sowie wahrzunehmen und anzuerkennen, dass es verschiedene Religionen und religiöse Bekenntnisse in unserer Lebenswelt gibt.«65

Auf der individuellen Ebene liegt demnach die eigene Orientierung, in vielen konfessionellen Bildungskonzepten steht hier eher die Bildung religiöser Identität im Zentrum;66 auf der gesellschaftlichen Ebene werden Toleranz oder mehr noch ein von gegenseitigem Respekt geprägtes Miteinander angestrebt.67 Wie in der Definition interreligiöser Bildung von Schweitzer ersichtlich, werden im Dialog die Ziele interreligiöser Bildung einzulösen versucht. Der Dialog soll zu wechselseitigem Verstehen führen. Diesem Programm liegen zwei zentrale Annahmen zugrunde, die eine begegnungspädagogischer Art,68 die andere bildungstheoretischer. Aus begegnungspädagogischer Sicht ist die interreligiöse Begegnung der zentrale Motor interreligiöser Bildungsprozesse, weil in und durch die Begegnung Verstehen angebahnt wird. Hier zeigt sich die positive Sicht der sogenannten ›Kontakthypothese‹, denn Kontakt zwischen Menschen unterschiedlicher Kulturen oder Religionen hilft demnach, bestehende Vorurteile zu vermindern. Das wechselseitige Kennenlernen bewirkt entsprechend, sich aufeinander zu zubewegen und vorherige Einstellungen zu revidieren. Der Kontakt zu einem spezifischen Menschen wirkt demnach generalisierenden negativen Annahmen entgegen. Diese Hypothese ist nicht unumstritten69 und 64 Die Senatorin für Bildung und Wissenschaft, »Religion. Bildungsplan«, S. 5. 65 Ebd. 66 Die Formulierung im Bremer Bildungsplan ist weniger stark konfessionell geprägt. Es findet sich aber auch dort in den folgenden Erläuterungen der Hinweis auf die identitätsstiftende Rolle religiöser Traditionen, vgl. Die Senatorin für Bildung und Wissenschaft, »Religion. Bildungsplan«, S. 5. 67 Beide Zielebenen gehen nicht bruchlos ineinander über und können zu Konflikten führen, vgl. Nagel, »Diesseits des Dialogs«, S. 59f. 68 Eine ausführliche Analyse des begegnungspädagogischen Settings erfolgt in Kenngott, Perspektivübernahme , S. 216–221. 69 Vgl. hierzu Gritt Klinkhammer, »Zugänge zum christlich-islamischen Dialog aus Sicht der empirischen Religionsforschung«, in: Handbuch christlich-islamischer Dialog. Grundlagen – Themen – Praxis – Akteure, hrsg. von Volker Meißner, Martin Affolderbach, Hamideh Mohagheghi und Andreas Renz, Freiburg/Basel/Wien 2014, S. 84–90, hier S. 88f.

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steht der Beobachtung entgegen, dass nähere Kontakte auch konfliktbeschleunigend wirken können. Insofern ist die Annahme, dass Begegnung zu Verstehen führt, auf jeden Fall zu pauschal, um als grundlegende Annahme interreligiöser Bildungsprozesse weiter transportiert werden zu können. Aus bildungstheoretischer Sicht ist die zentrale Rolle, die dem Verstehen bzw. der Verständigung eingeräumt wird, ein weiteres handfestes Problem, weil sich dahinter ein harmonisierendes Bildungsverständnis zu verbergen droht. HansChristoph Koller argumentiert von der Humboldt’schen Bildungstheorie her und zeigt, dass Humboldts hermeneutische und sprachphilosophische Überlegungen gut auf interkulturelle Bildungsprozesse übertragbar sind. Denn Humboldt versteht Sprachen als Medien, mithilfe derer sich Menschen bildend mit der Welt auseinandersetzen. Sprache repräsentiert nicht die Welt, sondern mithilfe der Sprache werden Gegenstände hervorgebracht.70 Aus der Verschiedenheit der Sprachen resultiert eine Verschiedenheit der Weltsichten, eben weil die Gegenstände auf unterschiedliche Weise sprachlich gefasst werden.71 So ist das Erlernen von Sprachen gleichzeitig ein Kennenlernen neuer Weltsichten. In dieser Auseinandersetzung mit einer neuen Weltsicht, die nicht konfliktfrei verlaufen muss, ist Bildung verortet. Dabei zielt das Verstehen der anderen Weltsicht eher auf die Differenz, die bildet, als auf die Gemeinsamkeit, die erzeugt wird: »In diesem Sinne wäre interkulturelle Bildung nicht nur als harmonisches Miteinander im Sinne begegnungspädagogischer Konzeptionen zu verstehen, sondern hätte stets auch mit der Möglichkeit des Widerstreits der Weltansichten, Deutungsmuster und Symbolsysteme zu rechnen. Das Ziel interkultureller Bildung bestünde dabei (ähnlich wie oben für das Verstehen beschrieben) nicht darin, Übereinstimmung herzustellen, sondern vielmehr darin, Differenzen auszuhalten und fruchtbar werden zu lassen. Daraus, dass (interkulturelle) Bildung selbst als ein Verstehensprozess aufgefasst werden kann, folgt zum anderen, dass auch Bildungsprozesse stets vom Nicht-Verstehen begleitet werden. Wie das Verstehen bleibt aus der Perspektive von Humboldts Sprachtheorie betrachtet auch (interkulturelle) Bildung ein riskantes Geschehen, das paradoxer Weise nur gelingen kann, sofern es sich seiner immanenten Grenze und der Notwendigkeit des eigenen Scheiterns bewusst bleibt.«72

Kollers Kritik an einer begegnungspädagogisch angelegten interkulturellen Bildung ist radikal, weil sie infrage stellt, inwiefern im Setting der Begegnung überhaupt Bildungsprozesse angestoßen werden. Überträgt man Kollers Thesen 70 Vgl. Hans-Christoph Koller, »Bildung«, in: Handbuch Migrationspädagogik, hrsg. von Paul Mecheril, Weinheim/Basel 2016, S. 32–44, hier S. 35. 71 Ebd., S. 36. 72 Hans-Christoph Koller, »›Alles Verstehen ist daher immer zugleich ein Nicht-Verstehen‹. Wilhelm von Humboldts Beitrag zur Hermeneutik und seine Bedeutung für eine Theorie interkultureller Bildung«, in: Zeitschrift für Erziehungswissenschaft 6 (2003), S. 515–531, hier S. 530.

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auf interreligiöse Bildungsprozesse, so lassen sich Anforderungen an deren Konzeption formulieren. Sie sind nicht harmonisch zu denken, sondern prozesshaft, konfliktträchtig und eher im Zeichen der Nicht-Übereinstimmung oder der Reibung. Das Verstehen anderer Religionen ist dann eher im Sinne einer Differenzlogik zu deuten als im Sinne einer Übereinstimmungslogik.73 Die interreligiöse Hermeneutik hat in der Konsequenz in der Reflexion auf das Verstehen anderer religiöser Traditionen auch die Grenzen des Verstehens mit zu bedenken und zu integrieren. Sowohl auf Konzeptebene als auch auf der Ebene der Rahmenlehrpläne wird die interreligiöse Begegnung zwischen Personen mit unterschiedlicher Religionszugehörigkeit vielfach mit dem Ziel in Verbindung gebracht, einander zu tolerieren, wenn möglich einander wechselseitig Achtung entgegenzubringen. Wie gesehen, gilt dies auch für den Bremer ›Bildungsplan Religion‹ und entspricht der Notwendigkeit, einen produktiven Umgang mit den vielen Verschiedenheiten in unserer Gesellschaft zu lernen. Problematisch allerdings wird es, wenn dieses grundlegende Ziel interreligiöser Bildung aus der Logik interreligiöser Begegnungen heraus entwickelt wird.74 Wechselseitige Achtung ist dann gegebenenfalls nicht Voraussetzung, um sich auf angemessene Weise zu begegnen, sondern ein Ergebnis wechselseitigen Kennenlernens. Gehen mit Begegnungslernen derartige Ziele einher, so werden die vielleicht grundlegendsten Einsichten der Philosophie der Menschenrechte verkehrt. Denn zu achten sind Menschen, egal welcher Couleur, nicht vor dem Hintergrund, sie verstanden zu haben, sondern weil sie Menschen sind. In der Konsequenz sind somit weniger die Ziele interreligiöser Bildung der Kritik zu unterziehen, sondern mehr die begegnungspädagogischen Selbstverständlichkeiten und Unterstellungen, mit denen sie häufig einhergehen. Deswegen sollte die begegnungspädagogische Zentrierung interreligiöser Bildung aufgebrochen und die Vielfalt didaktischer Strategien erhöht werden, auf dass die Dialoge streitbarer werden.75 73 Mit der Stärkung des Differenzgedankens argumentiert auch Schambeck: »Von daher gilt es, religionspädagogische Konzepte zu entwickeln, die den Differenzgedanken für religiöse Bildungsprozesse fruchtbar machen, und zwar ohne die Spannung von Eigenem und Fremdem einseitig aufzulösen.« Schambeck, Interreligiöse Kompetenz, S. 157. 74 Ganz paradigmatisch führt Johannes Lähnemann dies vor, indem er die wechselseitige Achtung aus dem wechselseitigen Verstehen erwachsen lässt, vgl. Johannes Lähnemann, »Religionsbegegnung als Perspektive für den Unterricht – Einleitende Thesen«, in: Dein Glaube – mein Glaube. Interreligiöses Lernen in Schule und Gemeinde, hrsg. von dems. und Werner Haussmann, Göttingen 2005, S. 9–24, hier S. 21. 75 Willems schlägt als alternative didaktische Strategien interreligiöser Bildung Rollen- bzw. Planspiele und Fallstudien vor, vgl. Willems, Interreligiöse Kompetenz, S. 229–244. Beide sind sehr umfassende Großmethoden, die in den vergangen Jahren in der Bremer Ausbildung vertieft wurden. Sie stärken den forschenden und diskursiven Charakter interreligiöser Bildungsprozesse.

Interreligiöser Religionsunterricht in Bremen

3.

225

Schlusswort

Die überkonfessionelle Ausrichtung des Bremer Religionsunterrichts in Verbindung mit einem interreligiös-dialogischen Ansatz ist ein Novum in der Landschaft der Religionsunterrichtsmodelle. Der Hamburger ›Religionsunterricht für alle‹ wurde insofern nicht nur kopiert, sondern auf eine andere Grundlage gestellt. Denn im Falle Bremens ist der Staat Anbieter des Religionsunterrichts. Diese erneute Besonderheit des ›Bremer Modells‹ ist nicht allen Akteur:innen gleichbleibend präsent. Auch hinsichtlich der Analyse interreligiöser Bildungsprozesse und deren programmatischer Weiterentwicklung ist noch viel Grundlagenarbeit zu leisten. Bei allen genannten Schwierigkeiten jedoch eröffnet das Bremer Modell die Möglichkeit der Einbeziehung unterschiedlicher religiöser Akteur:innen, auch wenn dies momentan erst im Anfangsstadium geschieht. Die staatliche Verantwortung für das Bremer Fach ›Religion‹ ermöglicht die Überschreitung des konfessionellen Rahmens, der durch Art. 7 gegeben ist, sodass im Prinzip dialogische Vernetzungen auch mit kleineren Religionsgemeinschaften in noch zu entwickelnden Formaten möglich wären. Gleichzeitig bietet der Bremer überkonfessionell-interreligiöse Weg ein alternatives Bildungskonzept. Religionsbezogene Bildung ist eine Notwendigkeit für alle Schüler:innen, dialogischer Austausch sollte auch religiös unmusikalische Schüler:innen einbeziehen. Ob Schüler:innen das Angebot des Religionsunterrichts nutzen, um über ihr Leben nachzudenken, hängt sicherlich von vielen Faktoren ab, unter anderem vom Unterrichtsangebot der Lehrkräfte. Im gesellschaftlichen Miteinander jedenfalls sind wir alle davon abhängig, dass die nachfolgenden Generationen, wie auch immer ihr persönliches Verhältnis zu Religion ist, sich gebildet mit Religionen und Weltanschauungen auseinandersetzen.

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IV. Religionspädagogische Perspektiven

Joachim Willems

Art. 7 Abs. 3 GG bleibt – aber wohin geht der Religionsunterricht? Eine evangelische Perspektive

In dem Thema, das die Herausgeber dieses Bandes gestellt haben, scheint keiner der drei Bestandteile unproblematisch zu sein. Bevor die Frage, wohin der Religionsunterricht gehen möge, beantwortet werden kann, soll daher zunächst (1.) die Themenstellung ausgelegt werden, um dann (2.) in fünf Punkten zu umreißen, wie ein Religionsunterricht der Zukunft angesichts der zu erwartenden Rahmenbedingungen aussehen sollte.

1.

Rückfragen an die Fragestellung

1.1

›Eine evangelische Perspektive‹ – Überlegungen zu Evangelizität und Perspektivität

Formulierungen wie ›eine evangelische/katholische/islamische/jüdische … Perspektive‹ sind beliebt. Nun ist es richtig, dass nicht nur Individuen, sondern auch soziale Systeme eine bestimmte Perspektive einnehmen, indem sie mit spezifischen Codes operieren und ihre Umwelt beobachten.1 Fraglich ist aber, wo die Grenzen eines sozialen Systems sein sollen, das man ›evangelisch‹ nennen könnte, und wer diesem System angehören sollte. Deshalb möchte ich, entgegen verbreiteter akademischer Gepflogenheiten, an dieser Stelle von der dritten in die erste Person wechseln und überlegen, inwiefern ich eine evangelische Perspektive einnehme oder gar repräsentiere. Immerhin ist nicht von ›der‹ evangelischen Perspektive die Rede, was mich schon ein wenig entlastet. Denn es ist klar, dass ich selbstverständlich nicht für ›die‹ evangelische Religionspädagogik oder ›die‹ evangelische Kirche sprechen kann.

1 Verwiesen sei in diesem Kontext unspezifisch auf das Gesamtwerk Niklas Luhmanns, ein wenig spezifischer auf Niklas Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, Frankfurt am Main 1998.

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Joachim Willems

Trotzdem: Inwiefern ist meine Perspektive eine evangelische Perspektive? Gewiss nicht automatisch dadurch, dass ich diverse Dokumente habe, die mir bescheinigen, ich sei so etwas wie ein evangelischer Theologe. Meine Perspektive auf den Religionsunterricht ist ja nicht nur bestimmt durch mein Studium der evangelischen Theologie und alle Folgen, die das hatte, sondern auch durch meine Erfahrungen als Schüler, als Religionslehrer und als Vater zweier Schülerinnen, als Staatsbürger und als Mensch mit bestimmten politischen Überzeugungen und mit bestimmten Interessen, als Westeuropäer des 20., manchmal auch des 21. Jahrhunderts und so weiter und so fort. Als eine solche multiple Person gestehe ich, dass ich die Frage danach, wohin der Religionsunterricht geht, gar nicht vorrangig von meiner evangelischen Identitätskomponente bearbeitet sehen möchte. Natürlich partizipiere ich schon aus institutionellen Gründen an einem Diskurs evangelischer Religionspädagogik und spreche innerhalb dieses Diskursrahmens, auf den ich mich im Laufe dieses Textes immer wieder beziehen werde. Ich versuche aber auch, immer wieder aus diesem Rahmen auszubrechen, und ich hoffe, Dich als Leser, Sie als Leserin nicht zu enttäuschen, wenn ich mich nicht in eine evangelische Perspektive einsperren lasse. Vielleicht ist aber auch gerade das etwas typisch Evangelisches an mir: Erst einmal von der Gruppe distanzieren, Individualität herausstellen, differenzieren und relativieren. Könnte ja sein. Kann aber auch sein, dass das Unsinn ist. Es soll ja auch Muslime geben, die differenzieren können, und Katholiken, die nicht allem folgen, was der Papst sagt. Warum sind mir diese Vorbemerkungen wichtig, die so gar nicht zum Thema hinzuführen scheinen? Deshalb, weil sie meines Erachtens eine unmittelbare religionspädagogische Relevanz für den sogenannten konfessionellen Religionsunterricht haben. Dort soll es ja auch um spezifische Perspektiven gehen, im evangelischen Religionsunterricht im besseren Fall um evangelische Perspektiven im Plural, im schlechteren um eine oder sogar ›die‹ evangelische Perspektive (im noch schlechteren Fall um allgemeine Moral und Glückskeksweisheiten; dazu später mehr). Denn es besteht die Gefahr oder – religiös gesprochen – die Versuchung, bei dem mir gestellten Thema vor allem an der eigenen evangelischen Identität zu arbeiten und in Othering-Prozesse zu fallen, bei denen Selbstund Fremdstereotypisierungen Hand in Hand gehen, nach dem Motto: Evangelische Kirche sei die »Kirche der Freiheit«2 (die römisch-katholische folglich eine ›Kirche der Unfreiheit‹ oder zumindest der ›unvollkommenen Freiheit‹), und deshalb setze sich evangelische Religionspädagogik ein für einen nicht2 So die Selbstbeschreibung der Evangelischen Kirche in Deutschland vor einigen Jahren: Evangelische Kirche in Deutschland, Kirche der Freiheit. Perspektiven für die evangelische Kirche im 21. Jahrhundert. Ein Impulspapier des Rates der EKD, Hannover 2006.

Art. 7 Abs. 3 GG bleibt – aber wohin geht der Religionsunterricht?

233

indoktrinierenden Unterricht, der an Leitbegriffen wie Bildung, Autonomie, Mündigkeit und Kompetenz orientiert sei. Ein solcher Einsatz wäre sicherlich nicht falsch, aber wäre das tatsächlich eine oder gar ›die‹ ›evangelische Perspektive‹? Selbstverständlich kann ich keine Aussage oder Beobachtung machen, ohne eine bestimmte Perspektive einzunehmen, aber im Blick auf Bildung muss es immer wieder auch darum gehen, genau das zu reflektieren, indem ich, im Bild gesprochen, ein paar Schritte zu der einen und der anderen Seite mache und so die Perspektive wechsele und indem ich darüber nachdenke, warum ich in welcher Situation welche Perspektive einnehme und welche ich stattdessen auch einnehmen könnte oder zumindest zu rekonstruieren versuchen müsste.

1.2

›Art. 7 Abs. 3. GG bleibt‹ – Überlegungen zum Bleiben

Können wir uns so sicher sein, dass Art. 7 Abs. 3 Grundgesetz (GG) bleibt? – Wer hätte vor zehn Jahren damit gerechnet, dass jemand wie Donald Trump Präsident der USA wird, eine Partei namens Alternative für Deutschland bei Bundestagswahlen stärkste Partei in Sachsen, die Krim zwar nicht nach internationalem Recht, aber doch faktisch ein Teil Russlands, dass Großbritannien die Europäische Union verlässt? Und da soll ich mir sicher sein, dass das Grundgesetz nicht geändert wird? Das muss Gottvertrauen sein … Zwar kann man durchaus Hinweise darauf finden, dass die meisten im Bundestag vertretenen Parteien keine Änderung des Grundgesetzes anstreben. Bei einer Podiumsdiskussion im Rahmen der Jahrestagung der Gesellschaft für wissenschaftliche Religionspädagogik am 6. September 2019 in Frankfurt am Main hat sich nur die Vertreterin der Partei Die Linke für eine Änderung von Art. 7 Abs. 3 GG ausgesprochen, und zwar mit der Begründung, dass Religion Privatsache sei. Die Vertreter der anderen Parteien (die AfD hatte die Gelegenheit zur Teilnahme nicht wahrgenommen) wollten das ausdrücklich nicht – auch nicht der Vertreter der Grünen, der Art. 7 Abs. 3 GG im Sinne des Hamburger Religionsunterrichts für alle auslegen möchte. Allerdings, und das muss man dazu sagen, hatten alle diese Vertreter von CDU, SPD, FDP und Grünen ausgesprochen deutlich einen evangelisch-kirchlichen Stallgeruch (ein Pfarrer, ein Prädikant, ein Mitglied der EKD-Kammer für Bildung und Erziehung, Kinder und Jugend). Schon anders sieht es aus, wenn man sich den Nachwuchs der Parteien anschaut: Gibt man in eine Internet-Suchmaschine »Jusos Religionsunterricht« ein, so findet man beispielsweise einen Beschluss vom Bundeskoordinierungstreffen der Juso-Hochschulgruppen von 2013:

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»Der unmittelbare und mittelbare kirchliche Einfluss auf die Bildung ist von Sozialistinnen und Sozialisten immer kritisiert worden. An diese Kritik wollen und müssen wir mit unseren laizistischen Werten anknüpfen. Wir fordern deswegen eine Entfernung von religiösen Symbolen aus und an öffentlichen Gebäuden und öffentlichen Bildungseinrichtungen. […] Der konfessionsgebundene Religionsunterricht soll durch ein konfessionsübergreifendes Schulfach LPR (Lebenskunde, Philosophie, Religion) ersetzt werden. […] Der Artikel 7 des Grundgesetzes muss dementsprechend geändert werden. Das Recht auf zusätzlichen Religionsunterricht auf freiwilliger Basis bleibt davon unberührt. […] Wir sprechen uns außerdem gegen Erziehungseinrichtungen (Kita, Schule, Hochschule) in kirchlicher Trägerschaft aus […]. Unsere Mindestforderungen an eine laizistische Hochschule sind die Überführung von theologischen in religionswissenschaftliche Fakultäten und Studiengänge.«3

Ähnlich die Grüne Jugend: »Solange es noch fächerdifferenzierten Unterricht gibt, fordert die GRÜNE JUGEND verpflichtenden Ethikunterricht für alle Schulklassen. […] Der Religionsunterricht genießt als ordentliches Lehrfach durch Art. 7 Abs. 3 GG eine verfassungsrechtliche Institutionsgarantie, an welche die meisten Bundesländer gebunden sind. Die GRÜNE JUGEND fordert die Abschaffung dieser Einrichtungsgarantie.«4

Und auch die Jungen Liberalen erklären: »Wir stehen für eine Gleichbehandlung aller Religionsgemeinschaften durch den Staat und damit zugleich für eine stärkere Trennung von Staat und Kirche. Unsere Kernforderung ist die Auflösung der längst nicht mehr zeitgemäßen Staatskirchenverträge und der damit zusammenhängenden, kirchlichen Privilegien. Die Kirchensteuer sowie die Kirchenaustrittgebühren müssen abgeschafft werden. Verflechtungen zwischen Kirche und Staat gibt es in Deutschland noch immer in vielen Lebensbereichen.«5

Auch wenn der Religionsunterricht hier nicht erwähnt wird, kann man sich vorstellen, wie die Stellungnahme der Jungen Liberalen dazu aussehen würde. Die AfD betont gern, sie bekenne sich »zur deutschen Leitkultur«, die unter anderem wesentlich vom Christentum geprägt sei. So im Wahlprogramm für die Bundestagswahl 2017.6 Auch wendet sich das Wahlprogramm nicht gegen den Religionsunterricht im Allgemeinen. Religionsunterricht wird ausschließlich als

3 BKT 2013/2 in Berlin, »Mehr Laizismus wagen! – Kirche, Staat und Religion endlich konsequent trennen!«, www.jusohochschulgruppen.de/meldungen/beschluesse/beschluss.html?&o bject=218 (Abruf 8. 5. 2020). 4 So im Beschluss »Säkularismus neu denken!« auf dem 36. Bundeskongress vom 13.–15. Mai 2011 in Würzburg; www.gruene-jugend.de/sakularismus-neu-denken (Abruf 8. 5. 2020). 5 Junge Liberale, »Julis: Programmatik-Lexikon: Religion«, www.julis.de/politik/beschluesse/p rogrammatik-lexikon/religion (Abruf: 8. 5. 2020). 6 So im Wahlprogramm für die Bundestagswahl 2017: Alternative für Deutschland, Wahlprogramm der Alternative für Deutschland für die Wahl zum Deutschen Bundestag am 24. September 2017 (2017), S. 47.

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islamischer Religionsunterricht thematisiert, der abzulehnen sei.7 Dabei argumentiert die AfD formaljuristisch, dass »die islamischen Gemeinschaften in Deutschland keine kirchenähnliche Struktur aufweisen« würden.8 Im Kontext wird freilich deutlich, dass die AfD ›dem‹ Islam durchgehend mit Skepsis begegnet. Angesichts der teils scharfen Kritik an der Evangelischen Kirche, die einen »Pakt […] mit dem Zeitgeist und den Mächtigen« eingegangen sei,9 und ähnlich auch an der römisch-katholischen Kirche10 sollte man kirchlicherseits nicht davon ausgehen, in der AfD einen Bundesgenossen für die Beibehaltung des Religionsunterrichts in »Übereinstimmung mit den Grundsätzen der Religionsgemeinschaften« (Art. 7 Abs. 3 GG) und damit in Kooperation des Staates mit den Kirchen zu haben – falls man einen solchen Bundesgenossen denn überhaupt wollen sollte. Wenn allein die CDU den konfessionellen Religionsunterricht (noch) vorbehaltlos verteidigt, dann ist das bei der gegenwärtigen Erosion der ehemaligen Volksparteien sicherlich keine Garantie für den Fortbestand von Art. 7 GG in der heutigen Form. Dieses Bild bestätigt sich, wenn man regelmäßig bei Google-News die Artikel zum Religionsunterricht liest, vor allem die Beiträge in den Diskussionsforen zu Artikeln. Zu diesem Bild passen Zahlen, die im Herbst 2019 vom ZDF publiziert wurden, und zwar unter der Überschrift »Religionsunterricht – ein Auslaufmodell?«: Im letzten Schuljahr nahmen demnach in Bayern noch 75 Prozent der Schülerinnen und Schüler am Religionsunterricht teil, das sind elf Prozentpunkte weniger als zehn Jahre zuvor; die Zahlen für Niedersachsen sind ähnlich.11 Das sind zwar noch hohe Werte; doch wenn die Erosion der Kirchenmitgliedszahlen und in der Folge die der Teilnehmenden am Religionsunterricht weiter voranschreitet, dann ist absehbar, dass der Religionsunterricht an Selbstverständlichkeit verlieren wird. Selbst wenn die Zahlen teilweise kompensiert werden durch die Teilnahme von Konfessionslosen und Andersreligiösen, wird die Frage nicht von der Hand zu weisen sein, warum diese Schülerinnen und Schüler dann an einem konfessionellen Religionsunterricht teilnehmen und nicht stattdessen an einem allgemeinen Religionsunterricht.

7 Ebd., S. 45. 8 Ebd. 9 So im Untertitel der Broschüre »Unheilige Allianz. Der Pakt der evangelischen Kirche mit dem Zeitgeist und den Mächtigen« der AfD-Fraktion im Thüringer Landtag. Erfurt 2019. 10 Vgl. die durchgehend kritischen Überschriften und Artikel zu Kirchenthemen im AfD-Magazin AfD Kompakt, hier exemplarisch für den Zeitraum vom 12. 1. 2018 bis zum 9. 3. 2020; afd kompakt.de/tag/kirche (Abruf: 13. 3. 2020). 11 Vgl. »Religionsunterricht – ein Auslaufmodell?«, in: ZDF heute (11. 9. 2019, 14:46 Uhr), www. zdf.de/nachrichten/heute/mitgliederschwund-in-kirchen-auslaufmodell-religionsunterricht -100.html (Abruf: 8. 5. 2020).

236 1.3

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»Aber wohin geht der Religionsunterricht?« – Überlegungen zum Gehen

Man kann die Frage nach dem Wohin empirisch oder normativ auslegen; je nachdem hat man eine ganz andere Themenstellung. Angesichts der beschriebenen Unsicherheit, ob Art. 7 Abs. 3 GG überhaupt bleibt, sind prognostische Aussagen über die Zukunft des Religionsunterrichts problematisch. Im Übrigen wäre mir auch nicht klar, was der Nutzen von Mutmaßungen über die Zukunft sein sollte. Deshalb gehe ich davon aus, dass die Frage in einem normativen Sinn gemeint ist: Wohin soll der Religionsunterricht weiterentwickelt werden, wohin möge er gefälligst gehen? Nun könnte eine lange Wunschliste folgen (möglicherweise sogar aus ›evangelischer Perspektive‹). Angesichts unseres Unwissens über die Zukunft ist freilich auch das problematisch. Wie der Religionsunterricht sich seine Wege suchen wird (hoffentlich ist es erlaubt, hier im Sinne einer zweiten Naivität in Anthropomorphismen vom Religionsunterricht zu sprechen), hängt davon ab, wo wir in Zukunft sein werden. Führt uns die Zeit ins Gebirge, wird sich der Religionsunterricht anders auf den Weg und zu anderen Zielen aufmachen, als wenn der Weg in die Wüste führt oder auf einen Ozean. Was mir also bleibt, ist der Versuch, das Thema weniger im Sinne von Zukunftsforschung oder wissenschaftlich eingefärbter Prophetie auszulegen (sei es Heils-, sei es Unheilsprophetie), sondern einen Wahrscheinlichkeitsraum zu beschreiben, in den hinein ich einen Religionsunterricht entwerfe, der mir aus (wie ich finde) guten Gründen wünschenswert erscheint – aus evangelischtheologischen Gründen, aber auch aus politischen, erziehungswissenschaftlichen und anderen Gründen. Das geht nur als Skizze, in der ich einige allgemeine Standards benenne, die ein Religionsunterricht der Zukunft erreichen bzw. hinter die er nicht zurückfallen sollte. Und deshalb die lange Vorrede: Weil ich mich nicht auf eine evangelische Perspektive festlegen (lassen) möchte, und weil unklar ist, ob Art. 7 Abs. 3 GG bleibt oder nicht – und weil ohnehin Prognosen schwierig sind, denn sie beziehen sich auf die Zukunft –, sehe ich mich als völlig frei, eigene Schwerpunkte zu setzen. Und ich gestehe auch, dass meine Beschreibung der möglichen Zukunft schon mit Blick auf meine religionspädagogischen Steckenpferde hin entworfen erscheinen könnte.

2.

Prognosen und Utopien

Nach all diesen Vorreden möchte ich nun in Thesenform fünfmal erstens ein paar Vermutungen über den Kontext von Religionsunterricht in der nahen und mittelfristigen Zukunft formulieren, daraus zweitens religionspädagogische Konsequenzen ableiten und drittens jeweils auf mögliche Gefahren oder Probleme hinweisen, die damit einher gehen könnten.

Art. 7 Abs. 3 GG bleibt – aber wohin geht der Religionsunterricht?

2.1

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Säkularisierung, religiöse ›Sprache‹ lernen und das drohende Ende des Religionsunterrichts

Auch wenn die Säkularisierungsthese in den letzten Jahren bzw. Jahrzehnten an Plausibilität verloren hat, scheint es mir wahrscheinlich zu sein, dass sich auch in der mittelfristigen Zukunft der Trend fortsetzen wird, dass für die Religiosität und Weltsicht des Einzelnen zumindest die religiösen Institutionen an Bedeutung verlieren und die Zahl derer zunimmt, die sich als Agnostiker und Atheisten verstehen. Im Bereich des christlich bzw. post-christlich orientierten Teils der Bevölkerung ist ein Indikator unter anderen die massiv einbrechende religiöse Sozialisation auch in Westdeutschland. Gaben 2013 unter den über 66-Jährigen noch 70 Prozent an, religiös erzogen worden zu sein, waren es bei den 16- bis 25Jährigen nur 25 Prozent.12 Die Wahrscheinlichkeit, dass die religiös Erzogenen später ihrer Religion und Religionsgemeinschaft verbunden bleiben, ist deutlich höher als bei den nicht religiös Erzogenen,13 so dass sich dieser Trend aller Voraussicht nach fortsetzen wird. Warum dann noch Religionsunterricht? Mit Dietrich Benner: Weil Religion »sich heute […] nicht von selbst tradiert«, aber zugleich ihre Tradierung im öffentlichen Interesse moderner Gesellschaften liege; deshalb bedürfe es der ›künstlichen‹ und ›kunstvollen‹ Tradierung in der Schule, insofern diese Tradierung »religionszivilisierend«, »aufklärend erinnernd« und drittens »innovatorisch« ausgelegt werde.14 Trotz der dezidiert nicht religiösen oder theologischen, sondern bildungstheoretischen Argumentation von Benner dürfte der Gedanke einer Notwendigkeit oder auch nur Legitimität der ›künstlichen Tradierung‹ von Religion kaum allgemein konsensfähig sein. Wenn es aber Religionsunterricht gibt – und das setzt die Frage nach dem Wohin ja voraus –, dann muss sich dieser Religionsunterricht auf etwas beziehen, was in einer Situation »nach dem Traditionsabbruch«15 nicht mehr vorausgesetzt werden kann – wenn es nicht im Unterricht ›künstlich tradiert‹ wird. Eine solche Tradierung bedarf eines Unterrichts, der Erfahrungen mit Religion ermöglicht, gerade weil die »christliche Religion […] für die meisten Kinder und Jugendlichen zur Fremdreligion« geworden ist.16 Denn (christliche) Religion wird »nur als 12 Vgl. Gert Pickel, Religionsmonitor – Verstehen was verbindet. Religiosität im internationalen Vergleich, hrsg. von der Bertelsmann Stiftung, Gütersloh 2013, S. 15. 13 Ebd., S. 16. 14 Dietrich Benner, »Bildungsstandards und Qualitätssicherung im Religionsunterricht. Günter Biemer zum 75. Geburtstag«, in: Theo-Web 2 (2004), S. 22–36, hier S. 26. 15 So im Untertitel von Bernhard Dressler, »Darstellung und Mitteilung. Religionsdidaktik nach dem Traditionsabbruch«, in: Schauplatz Religion. Grundzüge einer Performativen Religionspädagogik, hrsg. von Thomas Klie und Silke Leonhard, Leipzig 2003, S. 152–165 [Nachdruck aus rhs 1 (2002), S. 11–19]. 16 Dressler, »Darstellung und Mitteilung«, S. 152.

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erzählte, gestaltete, gefeierte Religion begreifbar«.17 Ohne den Bezug auf Erfahrungen mit Religion und möglicherweise auch religiöse Erfahrungen wäre die Voraussetzung für Erschließungs- und Reflexionsprozesse, die dem ›Gegenstand‹ Religion angemessen sind, nicht gegeben. Religionsdidaktisch heißt das, dass es eine zentrale Aufgabe des Religionsunterrichts auch und gerade »nach dem Traditionsabbruch« sein muss, in religiöse Sprach- und Ausdrucksformen einzuführen. Dies geschieht in der Schule freilich immer im Kontext von Lernund Bildungsprozessen, also nicht durch bloßes Einüben, sondern eben immer verbunden mit Reflexion. Diese Argumentation bewegt sich nun aber nicht im luftleeren Raum: Dass die Tradierung von Religion im öffentlichen Interesse liege und Aufgabe der Schule sei, dürfte, wie gesagt, kaum allgemein konsensfähig sein. Deshalb braucht es meiner Meinung nach hier eine anthropologisch reflektierte Reformulierung angesichts einer wesentlichen Zahl an Menschen, die sich selbst dezidiert als nicht-religiös verstehen. Wenn man, mit einer prägnanten Formulierung Niklas Luhmanns, davon ausgeht, dass Religion vorliegt, »wenn man einzusehen hat, weshalb nicht alles so ist, wie man es gerne haben möchte«,18 dann ist die Funktion, die Religion erfüllt,19 universal in dem Sinne, dass auch nichtreligiöse Menschen dem zugrunde liegenden Problem nicht entgehen können. Allerdings sind die Umgangsformen mit diesem Problem nicht zwangsläufig ›religiös‹ im engeren, substantialen Sinne. Für die Schule könnte und müsste daraus folgen, dass es zur allgemeinen Bildung gehört, Sinnfragen zu stellen und zu bearbeiten und damit den Schülerinnen und Schülern die Möglichkeit zu geben, »in Auseinandersetzung mit vorgegebenen Antworten religiöser und weltanschaulicher Traditionen […] zu einer eigenen Antwort zu kommen«.20 Eine Anforderung an einen Religionsunterricht der Zukunft wäre dann also, angesichts von Säkularisierungstendenzen religiöse Fragen und Sinnfragen wach und offen zu halten und dafür zu sensibilisieren, dass es menschliche Fragen und Herausforderungen gibt, die man nicht (nur) technisch und zweckrational bearbeiten kann. In die spezifischen Modi und Ausdrucksformen nicht-technischer und nicht-zweckrationaler Bearbeitung einzuführen, wäre dann eine der zentralen Aufgaben von Religionsunterricht und verwandten Fächern, die sich auch auf die Weltanschauungen und Überzeugungen nicht-religiöser Menschen beziehen.

17 18 19 20

Ebd., S. 157. Niklas Luhmann, Funktion der Religion, Frankfurt am Main 1982, S. 122. Bei Luhmann ist an dieser Stelle wichtig hinzuzufügen: für die Gesellschaft erfüllt. So Siegfried Vierzig und Ernst Kreis in: Lernziele und Religionsunterricht. Grundsätzliche Überlegungen und Modelle lernzielorientierten Unterrichts, hrsg. von Horst Heinemann, Günter Stachel und Siegfried Vierzig, Zürich/Köln 31972, S. 61.

Art. 7 Abs. 3 GG bleibt – aber wohin geht der Religionsunterricht?

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In diesem Kontext besteht freilich die Gefahr, dass mit einem zunehmenden Plausibilitätsverlust von Religion der Religionsunterricht ganz aus der Schule zu verschwinden droht und damit, wie ja schon seit längerem zu beobachten ist, die Vorherrschaft von Verwertungslogiken und Zweckrationalitäten weiter voranschreitet.

2.2

Religionsdemographischer Wandel, interreligiöse Bildung und Organisationsprobleme

Ich gehe davon aus, dass der religionsdemographische Wandel der letzten Jahrzehnte zu einer bleibenden, vermutlich eher noch zunehmenden Diversifizierung von Diversität führt – also zu super-diversity im Sinne von Steven Vertovec21 – und dass diese Pluralisierung einhergeht mit einer anhaltenden oder sogar noch zunehmenden Individualisierung22 und möglicherweise auch mit zunehmenden Polarisierungen, die seit einigen Jahren die europäischen Gesellschaften prägen. Bei Letzteren spielt die Bezugnahme auf Religion eine wichtige Rolle (dazu mehr unter 2.5). Das stellt den Religionsunterricht vor die gesellschaftliche Aufgabe, religionsbezogene Pluralitätsfähigkeit und interreligiöse Bildung zu fördern. Der wichtigere Grund ist dabei meines Erachtens nicht, dass der Religionsunterricht gesellschaftliche Integration oder Harmonie fördern solle – das wäre eine Fremdoder Selbstinstrumentalisierung –, sondern dass Bildung eben mit Welterschließung zu tun hat und es in der Welt nicht nur die Konfession oder Religion gibt, der ein Schüler oder eine Schülerin zugeordnet wird oder der er oder sie sich selbst zuordnet. Zur interreligiösen Bildung gehört ein Mindestmaß an religionskundlichem Wissen über andere Religionen und Weltanschauungen sowie die Kompetenz, das eigene Leben im Horizont religiös-weltanschaulicher Diversität zu gestalten, 21 Vgl. Steven Vertovec, »Super-diversity and its Implications«, in: Ethnic and Racial Studies 30.6 (November 2007), S. 1024–1054. 22 Bei Heranwachsenden aus (post)christlich geprägten Familien sind solche Individualisierungsprozesse bereits weit fortgeschritten. Es ist zu erwarten, dass Individualisierungen aber auch zunehmend die Religiositäten von Musliminnen und Muslimen verändern werden. Bisher scheint für diese Bevölkerungsgruppe zu gelten, was Friedrich Schweitzer vor etwas mehr als zehn Jahren über muslimische Jugendliche geschrieben hat, nämlich dass es Hinweise darauf gebe, »dass sie mehr religiöse Kontrolle erfahren als die im weitesten Sinne christlichen bzw. durch die christliche Tradition geprägten Jugendlichen«. Deshalb fragt Schweitzer, ob »solche Befunde es erlauben, auch im Blick auf junge Muslime in Deutschland oder Europa von individualisierter Religion zu sprechen«. Friedrich Schweitzer, »Religiöse Individualisierung – Chance oder Hindernis für Bildung zur Toleranz?«, in: Religion – Toleranz – Bildung, hrsg. von Friedrich Schweitzer und Christoph Schwöbel, Neukirchen-Vluyn 2007, S. 95–109, hier S. 98.

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sich selbst also und gegebenenfalls anderen Rechenschaft darüber zu geben, was man denkt, glaubt und für wichtig hält und wie man davon ausgehend mit anderen religiösen und weltanschaulichen Traditionen umgeht. Es geht also, um im Bild mit der religiösen Sprache zu bleiben, um eine gewisse religiöse ›Mehrsprachigkeit‹. Dabei ist freilich zu berücksichtigen, dass die Zuordnung der Lernenden zu religiösen Traditionen oft deutlich komplexer ist, als es die formale Mitgliedschaft zu einer Religionsgemeinschaft suggerieren könnte. Angesichts von Pluralisierungen und Individualisierungen erscheinen mir, wie den meisten meiner Kolleginnen und Kollegen, zwei Modelle unzureichend: erstens ein religionskundliches Lernen, das darauf verzichtet, eigene religiösweltanschauliche Positionierungen der Lernenden zu explizieren und weiterzuentwickeln, und zweitens katechetische Modelle, die vor allem in einer religiösen Tradition ›beheimaten‹ wollen und den konfessionellen Religionsunterricht als Ort der bekenntnisorientierten, orthodoxen und orthopraktischen Sozialisation und Erziehung (miss)verstehen. Stattdessen geht es um interreligiöse und religiöse Bildung, die von der Freiheit der Lernenden ausgeht und die Lernenden zunehmend darin unterstützt, »die Grundrechte«, hier die Religionsfreiheit, »für sich und jeden anderen wirksam werden zu lassen« – so die Formulierung im Schulgesetz von Niedersachsen.23 Das ist grundsätzlich möglich sowohl in Formen von allgemeinem Religionsunterricht (im Klassenverband) als auch in getrennten Lerngruppen (im konfessionellen bzw. konfessionell-kooperierenden Religionsunterricht, in Modellen wie einer Fächergruppe oder in interreligiöskooperativen Formen). Ein Problem, das in dieser Hinsicht besteht, ist der hohe organisatorische Aufwand, der mit religiöser Pluralisierung einher geht. Wenn zu viele konfessionelle Religionsunterrichte parallel organisiert werden müssen, dann könnte der verständliche Wunsch nach Vereinfachung und ›Flurbereinigung‹ gerade einer Verstaatlichung Vorschub leisten, wie sie beim islamischen Religionsunterricht gegenwärtig in Hessen und Bayern zu beobachten ist.24 Nun zeigt aber die Praxis in den Ländern, in denen die religiöse und religionsbezogene Bildung ausschließlich in staatlicher Verantwortung liegt, dass der Religionsunterricht bzw. der Bestandteil Religionskunde im Brandenburgischen LER institutionell schlecht abgesichert ist und dass beim (notwendigen) Versuch, staatliche Neutralität zu wahren, ein Unterricht droht, der nicht mehr auf religiöse Bildung der Lernenden abzielt, sondern allenfalls (und immerhin) auf die Vermittlung von Wissen. 23 NSchG §2 Abs. 1 Satz 3. 24 Ulrich Pick, »Islamischer Religionsunterricht. Erdog˘ans Arm soll draußen bleiben«, in: Deutschlandfunk, Sendung ›Hintergrund‹ (5. 9. 2019), www.deutschlandfunk.de/islamischer -religionsunterricht-erdogans-arm-soll-draussen.724.de.html?dram:article_id=458121 (Abruf: 8. 5. 2020).

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Der Ehrlichkeit halber muss man freilich ergänzen, dass das auch im Religionsunterricht nach Art. 7 Abs. 3 GG ein Problem ist, wie eine Studie von Rudolf Englert und anderen zeigt, in der festgestellt wird: »Insgesamt gibt es deutliche Anhaltspunkte dafür, dass auch im konfessionellen Religionsunterricht die Tradition christlichen Glaubens vermehrt wie eine ›Fremdreligion‹ behandelt wird: dass hier eine Verlagerung von einer Teilnehmer- zu einer Beobachterperspektive stattfindet.«25

Damit einher geht dann, dass die Theologie als Bezugsdisziplin ins Hintertreffen gerät und – wenn ich hier in einer evangelischen Perspektive einen Begriff aus der römisch-katholischen Religionspädagogik verwenden darf – gerade keine ›Korrelation‹ mehr stattfindet, also »Religion und Lebenswelt bzw. religiöse Zeugnisse und aktuelle Erfahrungen im Religionsunterricht« nicht mehr »in einen lebendigen Dialog miteinander« gebracht werden.26 Ein weiteres Problem bei der Verhältnisbestimmung von staatlich verantwortetem und konfessionellem Religionsunterricht ergibt sich aus einem jüngeren Urteil des Verwaltungsgerichts Wiesbaden: Das Gericht hat Anfang Juli 2019 einen Eilantrag des Zentralrats der Muslime gegen den neuen staatlichen Islam-Unterricht in Hessen abgelehnt, den das Land in einem Schulversuch ohne Kooperation mit einer Religionsgemeinschaft anbietet, und zwar parallel zum islamischen Religionsunterricht in Kooperation mit Ditib und der AhmadiyyaGemeinde. Der staatliche Islam-Unterricht, so das Gericht, sei nicht bekenntnisorientiert im Sinne von Art. 7 GG, denn es »werde Wissen über den Islam vermittelt, ohne dass religiöse Bekenntnisinhalte als wahr dargestellt würden, also ähnlich wie im Ethik-Unterricht. Die staatliche Neutralitätspflicht werde nicht verletzt.«27 Diese Formulierung impliziert, dass es im konfessionellen (also auch im evangelischen) Religionsunterricht darum gehe, »religiöse Bekenntnisinhalte als wahr« darzustellen, und reduziert die gebotene Komplexität doch über Gebühr bzw. ist schlicht höchst problematisch. Das gleiche gilt für die bekannte Formulierung des Bundesverfassungsgerichts von 1987, dem zufolge der Gegenstand des Religionsunterrichts »der Bekenntnisinhalt, nämlich die Glaubenssätze der jeweiligen Religionsgemeinschaft« sei, die der Unterricht »als 25 Rudolf Englert, »Connection impossible? Wie konfessioneller Religionsunterricht Schüler/ innen ins Gespräch mit Religion bringt«, in: Konfessionell – interreligiös – religionskundlich. Unterrichtsmodelle in der Diskussion, hrsg. von Eva-Maria Kenngott, Rudolf Englert und Thorsten Knauth, Stuttgart 2015, S. 19–30, hier S. 29; und Thorsten Knauth, »Position und Perspektiven eines dialogischen Religionsunterrichts in Hamburg«, in: ebd., S. 69–85. 26 Rudolf Englert/Elisabeth Hennecke/Markus Kämmerling, Innenansichten des Religionsunterrichts. Fallbeispiele – Analysen – Konsequenzen, München 2014, S. 12. 27 Matthias Trautsch, »Hessen darf Islam-Unterricht selbst erteilen«, in: FAZ (aktualisiert am 9.9.2019); www.faz.net/aktuell/rhein-main/hessen-darf-islam-unterricht-ohne-ditib-selbst-e rteilen-16375769.html (Abruf: 8. 5. 2020).

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bestehende Wahrheiten zu vermitteln habe«.28 Die Religionspädagogik gerät hier zwischen Skylla und Charybdis: Wir weisen die Kritik am konfessionellen Religionsunterricht etwa von säkularistischer Seite gern zurück, denn es gehe um Wissen, nicht um religiöse Sozialisation oder gar Indoktrination. Wenn dem aber so ist, stellt sich bzw. stellt das Verwaltungsgericht Wiesbaden mit dem Bundesverfassungsgericht die Frage, ob ein solcher Religionsunterricht noch unter (dem Schutz von) Art. 7 Abs. 3 GG steht.

2.3

Pluralisierung plus Säkularisierung, interweltanschauliche Bildung und Profilverlust

Wenn man die Diagnosen der religionsdemographischen Pluralisierung und der Säkularisierung verbindet, ergibt sich daraus die Notwendigkeit, interreligiöse Bildungsprozesse zu öffnen hin auf interweltanschauliche Bildungsprozesse unter Einbeziehung säkularer (nicht-religiöser) Weltanschauungen. Ein Religionsunterricht, der diesen Weg nicht geht, wird mit hoher Wahrscheinlichkeit an Rückhalt in der Gesellschaft verlieren und hilft darüber hinaus nicht, die Welt in ihrer religiös-weltanschaulichen Diversität angemessen zu erschließen, sich in dieser Welt zu orientieren und sie mitzugestalten. Zu klären wäre hier die Frage, in welcher Form nichtreligiöse Weltanschauungen im Unterricht thematisiert werden. Als Religionskritik geschieht das bereits heute, im interweltanschaulichen Lernen kommt es aber darauf an, nichtreligiöse Positionen in ihrer Breite in den Dialog mit unterschiedlichen religiösen Positionen zu bringen und sich dazu auch auf die jeweils wirkmächtigen Traditionen zu beziehen. Dabei ist zu bedenken, dass die nicht-religiösen Weltanschauungen sich weitaus weniger auf klar erkennbare Traditionen beziehen, von denen Traditionsbestandteile als exemplarisch im Unterricht thematisiert werden könnten. Während im Blick auf das Christentum der Bezug auf die Bibel oder die Kirchengeschichte ein strukturierendes Element ist, gibt es für den säkularen Humanismus und verschiedene Atheismen keinen ›Kanon‹, und auch der geringe Organisationsgrad von nicht-religiösen Menschen wirft Fragen nach der didaktisch reflektierten Auswahl von Personen und Positionen auf, die als exemplarisch gelten und nicht-religiöse Menschen repräsentieren könnten. Die Gefahr, die besteht, wenn der Religionsunterricht zu einem Ort interweltanschaulicher Bildung weiterentwickelt wird, sehe ich in einem Profilverlust 28 BVerfGE 74, 244 [252]. Hier zitiert nach Karl-Hermann Kästner, »Religionsunterricht III«, in: Lexikon für Kirchen- und Staatskirchenrecht 3: N–Z, hrsg. von Axel von Campenhausen, Ilona Riedel-Spangenberger und P. Reinhold Sebott SJ, Paderborn/München 2004, S. 423f., hier S. 424.

Art. 7 Abs. 3 GG bleibt – aber wohin geht der Religionsunterricht?

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des Religionsunterrichts als Religionsunterricht, selbst wenn Religion(en) weiterhin den (quantitativ) wesentlichen Inhalt des Unterrichts bilden. Ein Fokus auf mehrere religiöse und nicht-religiöse Traditionen macht es gerade in einer Situation »nach dem Traditionsabbruch« (siehe oben) wahrscheinlich, dass lediglich oberflächliche Bezugnahmen auf Religion dort vorgenommen werden, wo Religion in einem säkularen Referenzsystem anschlussfähig erscheint und dann auch anders plausibilisierbare moralische Entscheidungen religiös gedoppelt werden, anstatt spezifisch religiöse Ausdrucks- und Kommunikationsformen im Kontext konfessionell tradierter Symbolsysteme in der Tiefe zu erschließen.29 Das interweltanschauliche Lernen könnte dann ein Zwischenschritt sein auf dem Weg hin zu einem allgemeinen kultur- und lebenskundlichen Unterricht, sozusagen das Brandenburgische Lebensgestaltung – Ethik – Religionskunde, allerdings ohne Religionskunde, dafür mit der Frage, was eigentlich die Bezugsdisziplin dieses Faches sein soll. Im besten Falle wäre das die Philosophie anstelle der Theologie, im schlechteren Falle bliebe die Bezugsdisziplin unklar. Aber in beiden Fällen gäbe es eben eine Leerstelle mit Blick auf das Religiöse. Freilich ist das zum einen keine notwendige Folge einer Öffnung des interreligiösen Lernens hin auf interweltanschauliches Lernen, zum anderen tritt die beschriebene Verflachung auch in einem anspruchslosen (mono)konfessionellen Religionsunterricht ein, wenn dieser, wie der Staatskirchenrechtler Hans Michael Heinig nahelegt, häufig nur »Ethik, Religionskunde und Glückskeksweisheiten bietet«.30

29 Vgl. die aktuelle Debatte in England um die Integration von nicht-religiösen Weltanschauungen in das Fach Religious Education. Philip Barnes argumentiert unter anderem, dass die Ausweitung des Faches Religious Education auf immer mehr Religionen und nun auch nichtreligiöse Weltanschauungen zu einer notwendigerweise oberflächlichen Beschäftigung mit den Inhalten führe und ein tiefergehendes Verständnis von Religion geradezu verhindere: »If one looks dispassionately at this line of development it should be obvious that too many religions are already prescribed for study, and to add worldviews makes an already bad educational practice worse. Such a policy ensures superficial teaching and learning and pupil confusion. How can it be otherwise? What understanding of religion and the religions is gained by pupils by requiring them to study at least thirteen different belief and value systems? Perhaps at the end of their study pupils will be able to recite a catalogue (of greater or shorter length) of correct and often trivial religious facts and to have some basic understanding of the nature and dynamics of religion, but that is all.« Barnes, L. Philip, »Humanism, Non-religious Worldviews and the Future of Religious Education«, in: Journal of Beliefs & Values 36.1 (2015), S. 79–91, hier S. 87. 30 Hans Michael Heinig, Säkularer Staat – viele Religionen. Religionspolitische Herausforderungen der Gegenwart, Hamburg 2018, S. 47.

244 2.4

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Funktionale Differenzierung und Unterscheidung von Modi der Welterschließung

Man wird sich nicht zu weit aus dem Fenster lehnen, wenn man davon ausgeht, dass wir es auch in näherer und mittelferner Zukunft noch mit einer funktional differenzierten Gesellschaft zu tun haben werden. Zwar zeigen die Arbeiten von Niklas Luhmann eindrücklich, dass unterschiedliche Formen der gesellschaftlichen Differenzierung sich historisch abgelöst haben (segmentäre, stratifikatorische und funktionale Differenzierung),31 und so kann man mit gutem Grund davon ausgehen, dass auch die funktionale Differenzierung keinen Endpunkt der Geschichte darstellen wird. Aber zumindest für mich ist der nächste große gesellschaftliche Paradigmenwechsel noch nicht erkennbar. Daraus folgt meines Erachtens, dass in dieser Hinsicht der Religionsunterricht der Zukunft zumindest nicht hinter das zurückfallen darf, was Bernhard Dressler und andere schon für die Gegenwart entfalten: dass nämlich zur allgemeinen Bildung in einer funktional differenzierten Gesellschaft die Fähigkeit gehört, unterschiedliche Modi der Welterschließung zu unterscheiden, und dass diese Modi in der Schule zu kultivieren sind. Im Übrigen kann man davon ausgehen, dass dies schon aus anthropologischen Gründen selbst in einer nicht (mehr) funktional differenzierten Gesellschaft pädagogisch unhintergehbar wäre.32 Die Kultivierung solcher Modi der Welterschließung geschieht durch die Unterscheidung von Schulfächern, in denen fachspezifische Methoden und Theorien gelernt und angewendet werden. Diese Methoden und Theorien sollten aber auch daraufhin befragt werden, wo ihre Grenzen sind und wie Abstimmungsprobleme zwischen unterschiedlichen fachspezifischen Betrachtungsweisen bearbeitet werden könnten. Mit Blick auf den Religionsunterricht bedeutet das, eben nicht nur in religiöse Sprache und ihre theologische und religionswissenschaftliche Reflexion einzuführen, sondern auch die Kategorie ›Religion‹ situativ zu relativieren. Auch wenn es im Religionsunterricht nahe liegen mag, jede Frage als religiös relevant zu betrachten, so kann es gerade Ausweis religiöser Kompetenz sein, das nicht zu tun. Für die Frage, seit wie vielen Jahren es unsere Erde gibt, ist eben nicht die alttestamentliche Exegese zuständig, so wie es im Biologieunterricht unsinnig wäre, Menschen zu sezieren, um die Aussage zu falsifizieren, dass der Mensch Ebenbild Gottes sei. Gefahren sehe ich in diesem Zusammenhang eigentlich keine. Anders schätzt das Bernhard Grümme ein. Er hat in seinem Vortrag bei der Jahrestagung der Gesellschaft für wissenschaftliche Religionspädagogik 2019 31 Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, Kap. 4. 32 Vgl. Dietrich Benner, Allgemeine Pädagogik. Eine systematisch-problemgeschichtliche Einführung in die Grundstruktur pädagogischen Denkens und Handelns, Weinheim/Basel 82015.

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in Frankfurt am Main Bernhard Dressler kritisiert, dessen Verhältnisbestimmung von Religion und Politik er mit dem Begriff »Unterscheidungshermeneutik« beschreibt. Diese führe zu einer unangemessenen »Entpolitisierung«.33 Den Begriff der ›Unterscheidungshermeneutik‹ könnte man ebenso anwenden auf die Verhältnisbestimmung anderer Welterschließungsmodi. Ohne hier ins Detail gehen zu können, scheint Grümme mir an dieser Stelle zu wenig in den Blick zu nehmen, dass die Unterscheidung von Funktionssystemen der Gesellschaft bei Luhmann und auch die Unterscheidung von Modi der Welterschließung bei Dressler ja nicht im Sinne einer berührungslosen Trennung gedacht sind. Systemimmanent werden die Unterscheidungen durch ein Re-Entry ja durchaus wieder thematisiert,34 aber das ändert nichts daran, dass in einer politischen Betrachtung die Verhältnisbestimmung eben politisch vorgenommen wird. In diesem Sinne wäre ein Religionsunterricht tatsächlich problematisch, in dem politische Dimensionen ignoriert würden. Aber die Alternative dazu kann eben nicht ein Religionsunterricht sein, der zum Politikunterricht wird. Vielmehr müsste der Religionsunterricht mit Blick auf politische Themen seinen fachspezifischen Beitrag leisten und damit den Politikunterricht ergänzen.

2.5

Dominanzstrukturen, Reflexion von Zuschreibungspraktiken und das Kind mit dem Bade

So, wie ich davon ausgehe, dass die Geschichte nicht mit der funktionalen Differenzierung der Gesellschaft endet, so hoffe – oder fürchte – ich auch nicht, dass die Wiederkunft Christi und/oder der Kommunismus (wie auch immer) vor der Tür stehen. Das bedeutet aber: Auf absehbare Zeit werden wir uns darauf einstellen müssen, dass wir uns in unterschiedlichen Macht- und Dominanzstrukturen bewegen, dass Macht ungleich und ungerecht verteilt ist und dass das auf sich warten lassen wird, was Friedrich Engels im Anti-Dühring, Henri de SaintSimon referierend, beschreibt als »die Überführung der politischen Regierung über Menschen in eine Verwaltung von Dingen und eine Leitung von Produktionsprozessen«.35 Unter 2.2 hatte ich bereits darauf hingewiesen, dass die Polarisierungen in europäischen Gesellschaften seit einigen Jahren zunehmen. Dabei spielt die Bezugnahme auf Religion eine wichtige Rolle, und zwar einerseits indem sie zur 33 Bernhard Grümme, »Religiös und politisch zweisprachig – was heißt das? Sprach- und Gesprächsfähigkeit im Kontext politischer Religionspädagogik«, in: Theo-Web 18.2 (8. 11. 2019), S. 42–51, hier S. 44. 34 Vgl. Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 44–59. 35 Friedrich Engels, »Herrn Eugen Dühring’s Umwälzung der Wissenschaft«, in: MEW 20 (1962), S. 239–303, hier S. 241.

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Konstruktion einer Wir-Identität dient, und andererseits als Mittel zur Exklusion anderer Personen, vor allem von Menschen, die als ›jüdisch‹ oder als ›muslimisch‹ markiert werden. Ein Religionsunterricht, der Religion unter anderem auch »als gesellschaftliches und kulturelles Phänomen« wahrnimmt (so 2006 eine Formulierung der Expertengruppe am Comenius-Institut zu Kompetenzorientierung und Bildungsstandards)36, so ein Religionsunterricht muss reflektieren, welche Position den unterschiedlichen Religionen jeweils in der Gesellschaft und ihren Diskursen zugewiesen wird – und damit auch den Personen, die von sich selbst oder von anderen als Angehörige dieser Religionen betrachtet werden.37 Das hat religionspädagogische und didaktische Konsequenzen auf unterschiedlichen Ebenen: Naheliegend ist die Forderung nach selbstkritischer Reflexion, ob bzw. wo im evangelischen Religionsunterricht nicht-evangelischen Konfessionen oder nicht-christlichen Religionen bestimmte Merkmale, Eigenschaften und Verhaltensweisen zugeschrieben werden, so dass ein stereotypes und abwertendes Fremdbild entsteht, mit dessen Hilfe ein positives Selbstbild konstruiert werden kann.38 Da solche Othering-Prozesse nicht nur im Religionsunterricht stattfinden, sondern auch in den Medien, in Alltagskommunikation, in Kunst und Literatur, und zwar in Geschichte und Gegenwart und wohl auch in Zukunft, sollte der Religionsunterricht stärker als bisher die Aufgabe annehmen, über solche Prozesse aufzuklären und damit auch einen Beitrag zu einer rassismuskritischen Grund(rechts)bildung zu leisten. Wenn auch in diesem Kontext eine Herausforderung beschrieben werden soll, so ist das meiner Einschätzung nach vor allem die Gefahr, dass bei der kritischen Reflexion und Dekonstruktion von Zuschreibungen in Dominanzverhältnissen das Kind mit dem Bade ausgeschüttet wird. So haben Ulrike Lingen-Ali und Paul Mecheril sicherlich recht, wenn sie zu bedenken geben, dass begegnungspädagogische Ansätze »immer jene Differenzen voraus[setzen], auf die sie pädagogisch zu reagieren suchen, wodurch diese Ansätze zu einer Praxis der Herstellung von Differenz werden«.39 Dadurch, so Lingen-Ali und Mecheril weiter, würden Schülerinnen und Schüler

36 Dietlind Fischer/Volker Elsenbast (Redaktion), Grundlegende Kompetenzen religiöser Bildung. Zur Entwicklung des evangelischen Religionsunterrichts durch Bildungsstandards für den Abschluss der Sekundarstufe I, Münster 2006, S. 18. 37 Vgl. Ulrike Lingen-Ali/Paul Mecheril, »Religion als soziale Deutungspraxis«, in: ÖRF 24 (2016), unipub.uni-graz.at/download/pdf/1646705?name=Lingen-Ali-Ulrike-Mecheril-PaulReligion-als-soziale-Deutungspraxis (Abruf: 8. 5. 2020), S.17–24, hier S.18. Vgl. auch Joachim Willems, »The Position of Muslim Pupils in Discourses at German Schools: Two Accounts«, in: International Journal of Practical Theology 21.2 (2017), S. 194–214. 38 Vgl. Joachim Willems, »Judentum und Islam, interreligiöses Lernen und Othering im christlichen Religionsunterricht«, in: Jahrbuch der Religionspädagogik 36 (2020), S. 149–161. 39 Lingen-Ali/Mecheril, »Religion als soziale Deutungspraxis«, S. 22.

Art. 7 Abs. 3 GG bleibt – aber wohin geht der Religionsunterricht?

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»lernen zu MuslimInnen und Nicht-MuslimInnen zu werden, wobei unter Bedingungen einer potenziell und tendenziell antimuslimischen Kultur dieser Lernprozess auch einer ist, in dem die Kinder in das Schema von Höher- und Minderwertigkeit eingeführt werden«.40

Deshalb plädieren sie für eine rassismuskritische Perspektive, die »es PädagogInnen [ermöglicht], diese an Rassekonstruktionen anschließenden Praktiken der Differenz zu erkennen und zu erfassen. Sie [die rassismuskritische Perspektive] fordert nachdrücklich dazu auf, den Konsequenzen nachzuspüren und sich dazu zu verhalten. Nicht zuletzt zielt sie darauf, Veränderungs- und Handlungsmöglichkeiten zu erkunden und zu erproben, von denen weniger Gewalt ausgeht.«41

Einerseits erscheint auch mir wie Lingen-Ali und Mecheril eine dekonstruktivistische Perspektive unverzichtbar zu sein, in der die Frage gestellt wird, »welche Ordnungen und Normen im Zuge dieses differenzachtenden Einsatzes (ungewollt) gestützt bzw. produziert werden«.42 Andererseits wäre es meines Erachtens überzogen zu behaupten, dass jeder Akt illegitim, rassistisch und gewalttätig wäre, in dem jemand von anderen einer Religion zugeordnet wird – vielleicht sogar, wenn jemand sich selbst einer Religion zuordnet, nachdem er oder sie im Sinne von Lingen-Ali und Mecheril zum Muslim oder zur Jüdin ›gemacht‹ wurde. Ein Religionsunterricht, der an lebensweltlich und familiär tradierte Identitäten und Deutungen anschließt und diese reflektiert und erweitert, ist dann kaum noch denkbar, ebenso wenig ein Unterricht, der auf religiöse, interreligiöse und interweltanschauliche Bildung abzielt. Dabei müsste es, so scheint mir, eher darum gehen, neben der Dekonstruktion und der Reflexion von Dominanzverhältnissen auch Gegenerzählungen zu stereotypisierenden Zuschreibungen zu entwickeln und Formen des Unterrichts zu gestalten – ja sogar Formen der Begegnung –, in denen die Beteiligten sich selbst zunehmend die Definitionsmacht über ihre multiplen Identitäten aneignen und in denen sie ihre eigenen Überzeugungen und Vorstellungen im Dialog mit religiösen Traditionen klären und weiterentwickeln können – und zwar mit religiösen Traditionen, die sie als ihre eigenen anerkennen, und mit solchen, die sie als andere sehen oder die ihnen fremd sind.

3.

Kein Fazit, aber eine Schlussbemerkung

Aus ästhetischen Gründen müsste nun noch ein dritter Teil folgen. Aber das Ende bleibt offen.

40 Ebd., S. 23. 41 Ebd. 42 Ebd.

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Joachim Willems

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Jan Woppowa

Konfessioneller Religionsunterricht, wohin? Ein Antwortversuch aus katholischer Sicht

Aus katholischer Sicht? Diese Zuspitzung verdient zunächst eine kurze erklärende Vorbemerkung. Mit ihr verbindet sich der Auftrag an den Autor dieser Zeilen, eine katholische Stimme in den Chor von Antworten auf die Ausgangsfrage einzubringen. Das wirft allerdings einige Fragen auf: Wie zeichnet sich die hier verlangte Stimme oder Perspektive als eine katholische aus, wenn nicht nur dadurch, dass sie von einem katholischen Religionspädagogen kommt? Worin unterscheidet sie sich prinzipiell – bei aller Konvergenz zwischen katholischer und evangelischer Religionspädagogik – von der evangelischen Perspektive, wenn nicht nur allein dadurch, dass diese ein evangelischer Kollege mit seinerseits individuellen Gedanken und Ideen schreibt? In dieser prinzipiellen Perspektivik von Antworten liegt auch die entscheidende Schwierigkeit bei einer Beantwortung der Ausgangsfrage ›aus katholischer Sicht‹. Denn amtskirchlich verortete katholische Stimmen würden hier und da anders, ganz anders, wenn nicht konträr zu dem antworten, wie es die Zunft wissenschaftlicher Religionspädagoginnen und Religionspädagogen tut, einmal davon abgesehen, dass auch diese nicht mit einer Stimme sprechen. Die Differenzlinien laufen hinsichtlich der Fragen zum Religionsunterricht weniger zwischen den Konfessionen als vielmehr quer dazu und auch innerhalb der Konfessionen, je nach individueller Perspektive der Autorin bzw. des Autors. Wenn hier also ›aus katholischer Sicht‹ argumentiert wird, dann geschieht das in erster Linie aus dem Kontext des Autors heraus, wenn auch nicht ohne ein Bemühen, hier und da etwas ›spezifisch Katholisches‹ herauszuarbeiten oder es mehr oder weniger bewusst zuzulassen, gleichsam ›zwischen den Zeilen‹. Der Versuch erfolgt in drei Schritten: Aus aktuellen Beobachtungen zum konfessionellen Religionsunterricht und durchaus ambivalenten Prozessen (1.) werden eine Leitfrage und zwei Antwortpole abgeleitet, die für eine Weiterentwicklung des Religionsunterricht an zentraler Stelle zu stehen scheinen (2.), um schließlich fünf Ankerpunkte für einen zukunftsfähigen Religionsunterricht zu benennen (3.).

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1.

Jan Woppowa

Aktuelle Beobachtungen zum konfessionellen Religionsunterricht »Der schulische Religionsunterricht steht erneut in der Diskussion: seine Zielsetzung und damit seine Zukunft, seine verfassungsrechtliche und staatskirchenrechtliche Begründung, seine Beziehungen zu den Lebenswelten der Schülerinnen und Schüler, der Lehrerinnen und Lehrer, seine Möglichkeiten, seine Dringlichkeiten unter den gegenwärtigen schul- und bildungspolitischen, religions- und kirchenpolitischen Bedingungen – mitten in einer faktisch multikulturellen und multireligiösen Gesellschaft.«1

Vor 25 Jahren hat Gottfried Bitter diese Diagnose über den Status des Religionsunterrichts gestellt und damit die gegenwärtigen Anfragen an dessen Zukunft insofern auf den Punkt gebracht, als das Fach auch heute immer noch oder erneut in der Diskussion steht. Denn zu den im Zitat genannten Gründen lassen sich ausnahmslos entsprechende aktuelle Beispiele anführen. Bitter hat damals für einen Religionsunterricht geworben, den er in programmatischer Weise als ›Aufklärung und Diakonie‹ charakterisiert hat.2 Diese doppelte Aufgabe religiöser Bildung in der Schule hat meines Erachtens auch für unseren gegenwärtigen Blick auf den Religionsunterricht nichts an Relevanz eingebüßt – doch zunächst in die Gegenwart.

1.1

Aufbruch: Die bischöfliche Erklärung und die von ihr ausgelösten Folgeprozesse

Aus katholischer Sicht kann man im Rückblick auf die letzten zwei Jahre durchaus von einer Aufbruchsstimmung sprechen, insofern die Erklärung der deutschen Bischöfe zur Zukunft des konfessionellen Religionsunterrichts3 einige 1 Gottfried Bitter, »Religionsunterricht als Aufklärung und Diakonie: Überlegungen zum Religionsunterricht an Gymnasien morgen«, in: Religion in der Schule? Projekte – Programme – Perspektiven, hrsg. von Reinhard Göllner und Bernd Trocholepczy, Freiburg i. Br. 1995, S.187– 204, hier S. 187. 2 Einige der folgenden Gedanken können zugleich als eine implizite Relecture des damaligen Grundanliegen Bitters gelesen werden, den schulischen Religionsunterricht zwischen Aufklärung und Diakonie zu verorten. Bitter hat als Konsequenz daraus für den Religionsunterricht (an Gymnasien) ein konkretes organisatorisches Modell vorgeschlagen, nämlich eine Kombination aus einer Stunde Religionsunterricht für alle im Klassenverband und einer Stunde konfessionellen Religionsunterricht. Das Modell war in der damals vorgeschlagenen Form allerdings schulpraktisch wenig realistisch, bleibt in seinem diakonischen Kernanliegen der Ermöglichung religiöser Bildung für alle Schülerinnen und Schüler aber nach wie vor relevant. In dieser gedanklichen Fluchtlinie liegen auch die folgenden Ausführungen. 3 Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz (Hg.), Die Zukunft des konfessionellen Religionsunterrichts. Empfehlungen für die Kooperation des katholischen mit dem evangelischen Religionsunterricht (Die deutschen Bischöfe 103), Bonn 2016. Vgl. dazu auch Jan Woppowa,

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Bewegungen ausgelöst hat. Die Bischöfe haben darin ausdrücklich die konfessionelle Kooperation zwischen katholischem und evangelischem Religionsunterricht empfohlen, begründen sie allerdings nicht nur demographisch, sondern auch theologisch sowie religionspädagogisch und lösen sich faktisch von der zuvor noch immer wieder bekräftigten konfessionellen Trias. Die erfolgreiche Verabschiedung der Erklärung war daher ein Novum in der katholischen Denktradition über den Religionsunterricht, auch wenn das Papier und seine Positionierung nach den einschlägigen Stellungnahmen der Evangelischen Kirche in Deutschland längst überfällig gewesen ist. Insofern kann man es als einen Befreiungsschlag bezeichnen für all diejenigen, die auf administrativer Ebene schon für die Einrichtung konfessionell heterogener Lerngruppen eingetreten sind – wie schon lange in Niedersachsen, Baden-Württemberg und einigen anderen Regionen Deutschlands mit singulären Ausnahmeregelungen zur Zulassung anderskonfessioneller Schülerinnen und Schüler. Obwohl der religionspädagogische Diskurs zum konfessionell-kooperativen Religionsunterricht schon generationenübergreifend geführt wird, erlebt er durch diese offizielle, amtskirchliche Großwetterlage eine Renaissance: in empirischen Studien, in neuen Begründungsfiguren, insbesondere in der Profilierung einer spezifischen Didaktik. Man kann in der Rückschau auf die bisherigen Entwicklungen rund um den konfessionell-kooperativen Religionsunterricht daher durchaus von einer »ökumenischen Erfolgsgeschichte«4 sprechen. Auf politischer und administrativer Ebene wird mittlerweile in vielen kirchlichen Schulabteilungen auf Hochtouren gearbeitet, um interkonfessionelle Kooperationsverträge mit den staatlichen Bildungsbehörden zu erarbeiten – allerdings mit mehr und weniger großem Mut und Erfolg. Denn wo die einen bereits über einen von den Kirchen gemeinsam verantworteten ökumenischen Religionsunterricht sprechen,5 denken andere noch nicht einmal an die Realisierung konfessioneller Kooperation.

»Denkschriften, katholisch«, in: WiReLex. Wissenschaftlich-Religionspädagogisches Lexikon (Februar 2018), doi.org/10.23768/wirelex.Denkschriften_zum_Religionsunterricht_katholisc h.200390 (Abruf: 23. 5. 2021). 4 Vgl. Jan Woppowa/Henrik Simojoki, »Mehr Ökumene wagen. Eine Richtungsanzeige für den konfessionell-kooperativen Religionsunterricht«, in: Una Sancta 75 (2020), S. 2–11, hier S. 2–6 sowie als aktuellen Überblick: Henrik Simojoki/Jan Woppowa, »Konfessionell-kooperativer Religionsunterricht. Zwischenbilanz und Zukunftsperspektiven«, in: EvTheo 80 (2020), S. 16– 28. 5 So etwa aktuell mit einem umfassenden Reformprojekt in Niedersachsen, siehe Evangelischer Pressedienst Niedersachsen-Bremen / Pressestelle der Konföderation evangelischer Kirchen in Niedersachsen, »Kirchen planen neues Unterrichtsfach ›Christlicher Religionsunterricht‹« (19. 5. 2021), www.religionsunterricht-in-niedersachsen.de/aktuell/christlicher-ru (Abruf: 23. 5. 2021).

254 1.2

Jan Woppowa

Abbruch: Katholische Ambivalenzen im Umgang mit dem Religionsunterricht

In Nordrhein-Westfalen hat die offizielle Freigabe zur konfessionellen Kooperation zu umgehenden Regelungen auf Länderebene geführt, war man doch im Kreis Ostwestfalen-Lippe bereits seit 2005 mit diesem Modell auf Grundschulebene schon bestens vertraut. Auf Basis einer entsprechenden Kooperationsvereinbarung zwischen den (Erz-)Bistümern, Landeskirchen und staatlichen Schulbehörden aus dem Jahr 2017 besteht für allgemeinbildende Schulen seit dem Schuljahr 2018/19 die Möglichkeit, auf Antrag den Religionsunterricht konfessionell-kooperativ durchzuführen.6 Weil hierfür nicht nur eine Qualifizierung der beteiligten Lehrkräfte, sondern insbesondere auch der Fachlehrerwechsel von katholischen und evangelischen Lehrkräften innerhalb eines Lernzeitraums obligatorisch ist, werden allerdings nur solche Schulen einen erfolgreichen Antrag durchbringen können, an denen faktisch auch Lehrkräfte beider Konfessionen unterrichten. Die bereits 2003 von Norbert Mette und Saskia Hütte identifizierte »Grauzone«7 eines Religionsunterrichts in konfessionell gemischten Lerngruppen ohne Lehrerwechsel oder gar im Klassenverband wird dadurch vermutlich nicht bearbeitet werden, weil für solche Schulen die Antragshürden zu hoch liegen dürften. Gegenüber dieser eher harten Lesart konfessioneller Kooperation begegnet in Niedersachsen eine weiche Lesart: Was hier offiziell ›Kooperation‹ genannt wird, ist faktisch – und meist auch als Regelform – Religionsunterricht in konfessionell heterogenen Lerngruppen, durchgeführt von einer katholischen oder evangelischen Lehrkraft, und zwar ohne Lehrerwechsel und über einen längeren Lernzeitraum hinweg. Auch solche Organisationsmodelle haben die Bischöfe als eine mögliche Form konfessioneller Kooperation gebilligt und damit einer Regionalisierung und Kontextualisierung des konfessionellen Religionsunterrichts in Deutschland zugestimmt.8 Zugleich aber scheint die Kehrseite dieses Regionalisierungsprinzips auf, denn dem im Land Nordrhein-Westfalen ausgearbeiteten Kooperationsvertrag verweigert sich bis heute eines der beteiligten katholischen (Erz-)Bistümer. Das Argument, es mangele hier nicht an ausreichend konfessionell homogenen Lerngruppen, bleibt ausschließlich auf der demographischen Begründungslinie. Dadurch werden theologische und religionspädagogische Argumente ausgeblendet, wo-

6 Zur Orientierung vgl. Paul Platzbecker, »Der konfessionell-kooperative Religionsunterricht in NRW. ›Kokolores‹ oder ›Modell der Zukunft‹?«, in: RpB 80 (2019), S. 45–56. 7 Saskia Hütte/Norbert Mette, Religion im Klassenverband unterrichten: Lehrer und Lehrerinnen berichten von ihren Erfahrungen (Theologie und Praxis – Abt. B 16), Münster 2003. 8 Vgl. Die deutschen Bischöfe, Die Zukunft des konfessionellen Religionsunterrichts, S. 25.

Konfessioneller Religionsunterricht, wohin?

255

durch man in der Konsequenz mit der Akzeptanz und Zukunft des schulischen Religionsunterrichts spielt.9

1.3

Umbruch: Öffentliche Stimmen von einiger Relevanz

Diese innerkatholische Ambivalenz trifft auf eine öffentliche Stimmung, die für Fragen nach dem konfessionellen Religionsunterricht ganz andere Antworten bereithält. So titelte Anfang 2017 die Wochenzeitung DIE ZEIT mit der Schlagzeile Brauchen wir ›Reli‹ noch?, und die Frage Und wie soll man Religion lehren? wird von der Redakteurin Evelyn Finger klar und eindeutig beantwortet: »Am besten ohne die Schüler voneinander zu trennen.«10 Denn – so begründet sie ihre Antwort – die Verfechter eines bekenntnisorientierten Religionsunterrichts sagten nicht, »warum man in der Schule überhaupt glauben lernen soll, statt nur über Religion unterrichtet zu werden. Sie sagen auch nicht, welchen tieferen Sinn es hat, in Zeiten von Hass und Terror die Schüler nach Religion auseinanderzudividieren. Sie sagen, in ›Reli‹ werde nicht der Glaube benotet, nur Religionswissen. – Wenn das aber stimmte, wenn die irrtumsimmune Prämisse ›Gott ist!‹ im Religionsunterricht nicht zählte, dann wäre getrennter Unterricht umso sinnloser.«11

Mit dieser Meinung steht die Redakteurin nicht allein, vielmehr ist ihre Sicht der Dinge besonders breitentauglich, denn der konfessionelle Religionsunterricht verliert immer mehr an Glaubwürdigkeit. Allerdings offenbaren diese Begründungen eine unzureichende Vorstellung vom schulischen Religionsunterricht und damit eine klare Problemanzeige: Der bekenntnisgebundene Religionsunterricht hat an Legitimität als öffentliches Schulfach auch deshalb verloren, weil nach wie vor Vorstellungen von ihm kursieren, die ihn – auch 45 Jahre nach dem Würzburger Synodenbeschluss und seiner deutlichen Trennung der Lernorte und ihrer Gesetzmäßigkeiten – in die Nähe von Glaubensunterweisung oder kirchlicher Katechese rücken. Ein so verstandener Unterricht war und ist zu Recht ein Fremdkörper in der öffentlichen Schule. Dass aber zwischen einem Unterricht in religiös heterogenen 9 Vgl. etwa Bernadette Schwarz-Boenneke, www.domradio.de/themen/glaube/2017-09-01/erz bistum-koeln-haelt-konfessionellem-religionsunterricht-fest (Abruf: 24. 3. 2020). Ähnliche Positionen treten auch in anderen Regionen bzw. Diözesen Deutschlands auf und zeigen, wie ambivalent die Vorstellungen vom schulischen Religionsunterricht aktuell noch sind. Vgl. dazu auch Simojoki/Woppowa, »Konfessionell-kooperativer Religionsunterricht. Zwischenbilanz und Zukunftsperspektiven«. 10 Evelyn Finger, »Religionsunterricht«, in: Die Zeit 3 (2017), www.zeit.de/2017/03/religionsunte rricht-schulen-lehre-konfessionen-trennung/komplettansicht?print (Abruf: 24. 3. 2020). 11 Ebd.

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Lerngruppen einerseits und dem Anspruch eines bekenntnisorientierten Lernens jenseits von katechetischen Lernprozessen im Glauben andererseits kein prinzipieller Widerspruch besteht, kommt in den Ausführungen Fingers nicht in den Blick. Genau diese fruchtbare Spannung wird allerdings zugunsten der Glaubwürdigkeit religiöser Bildung in der Schule aufrecht zu erhalten sein, denn auch den bekenntnisorientierten Religionsunterricht normiert nicht eine konkrete Glaubenspraxis, sondern das Grundrecht auf positive wie negative Religionsfreiheit.12 Das scheint letztlich allerdings auch Finger im Blick gehabt zu haben, selbst wenn ihr Bild vom Religionsunterricht von falschen Prämissen ausgeht: »Religion lehrt, dass es Größeres gibt als uns selbst. Religionskritik lehrt, dass dieses Größere verneint werden darf. Wer beides lernt, ist fähig zur Religionsfreiheit, ohne die es kein friedliches Miteinander der Kulturen geben wird: unbehelligt glauben oder nicht glauben dürfen.«13

Eine weitere Beobachtung kann darauf aufmerksam machen, dass in bestimmten politischen und gesellschaftlichen Kreisen der schulische Religionsunterricht polarisierend wirken kann, und zwar über den kirchlichen Binnenraum hinaus und möglicherweise heute mehr als gestern gerade dort, wo auch islamischer Religionsunterricht angeboten wird. Als im Jahr 2018 ein von der Universität Paderborn im Ruhrgebiet verantworteter Unterrichtsversuch zur Kooperation zwischen katholischem, evangelischem und islamischem Religionsunterricht in der Presse publik wurde, dauerte es nur wenige Stunden, bis sich rechtskonservative Katholiken sowie Vertreter ortsansässiger rechtskonservativer Parteien auf den Plan gerufen fühlten und das Kooperationsprojekt zur Verbreitung ihres Weltbildes sowie fremdenfeindlicher und antimuslimischer Ressentiments instrumentalisierten.14 Kurzum: Der schulische Religionsunterricht ist und bleibt angefragt, und zwar von außen, politisch-gesellschaftlich motiviert und angesichts demokratiefeindlicher, nationalistischer Strömungen gerade auch dann, wenn er in pro12 Aus der Notwendigkeit heraus, entsprechende Argumentationsfiguren für religiöse Bildung in der Schule zu plausibilisieren, hat beispielsweise der Deutscher Katechetenverein – Fachverband für religiöse Bildung und Erziehung, die »Kampagne für den Religionsunterricht«, www.darum.info (Abruf: 13. 4. 2020) initiiert. 13 Ebd. 14 Ausgelöst durch die Beiträge von Lucas Wiegelmann, »Die vielen Namen Gottes«, in: Welt am Sonntag 39 (30. 9. 2018), S. 55f. bzw. ders., »Christlichen Religionsunterricht retten – mit Hilfe des Islam?« (1. 10. 2018), www.welt.de/kultur/plus181725978/Stadtgymnasium-Dortm und-Christlichen-Religionsunterricht-retten-mit-Hilfe-des-Islam.html (Abruf: 24. 3. 2020). Für ein Beispiel rechtskonservativer Instrumentalisierung vgl. David Berger, »›Unterwerfung‹: Dieses Gymnasium schockiert sogar Linksliberale« (4. 10. 2018), philosophia-perenni s.com/2018/10/04/unterwerfung-dieses-gymnasium-schockiert-sogar-linksliberale (Abruf: 24. 3. 2020).

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duktiver Weise mit religiös-weltanschaulicher Pluralität umgehen möchte. Aber auch von innen heraus wird er angefragt und in seiner öffentlichen Relevanz beschnitten, wenn er angesichts eines falsch oder gar nicht verstandenen Auftrags kirchlicher Bildungsverantwortung in der öffentlichen Schule in einem falschen Licht erscheint.

2.

Die Zukunft des Religionsunterrichts zwischen zwei Polen

Aus den zuvor gemachten Beobachtungen sowie aus aktuell kursierenden konzeptionellen Überlegungen zum schulischen Religionsunterricht kristallisieren sich im Wesentlichen zwei Pole heraus, zwischen denen die Zukunftsfähigkeit des Fachs ausgehandelt wird. Ausgangspunkt ist dabei die folgende zugespitzte Leitfrage: Wie lassen sich der Anspruch eines bekenntnisbefähigenden oder positionellen Lernens auf der einen Seite und das Anliegen eines dialogischen oder kooperativen Lernens auf der anderen Seite miteinander in Einklang bringen? Schulischer Religionsunterricht soll einerseits in der vertieften Auseinandersetzung mit einer religiösen Tradition zur Ausbildung eines individuellen Standpunkts befähigen, soll Positionalität zeigen und ermöglichen. Darin liegt nach wie vor der Anspruch des konfessionellen Modells und auch sein heimlicher Lehrplan. Andererseits soll er das gerade in einer dialogischen Offenheit und Kooperationsbereitschaft tun, und zwar mit dem Religionsunterricht anderer Bekenntnisse, mit affinen Fächern wie Philosophie und Ethik oder Politik und Geschichte sowie nicht zuletzt auch im Dialog mit dem Phänomen der Konfessionslosigkeit.15 Zwei Pole bzw. Gruppen von Antworten auf diese Leitfrage sind heute zu erkennen: 1. Konfessionell gebundene Antworten werden im Sinne eines konfessionshomogenen katholischen und evangelischen bzw. eines konfessionell-kooperativen Religionsunterrichts gegeben sowie analog im Sinne des islamischen oder jüdischen Religionsunterrichts. Problematisch werden diese Formen, wenn sie zu stark auf die Betonung von Differenz zugeschnitten werden, wie das insbesondere in Bezug auf den konfessionell-kooperativen Religionsunterricht und den hier mitunter stattfindenden Umgang mit Konfession und Konfessionalität zu beobachten ist. Denn nicht selten rutscht dieser Unterricht mehr oder weniger bewusst ab in die Gefahren extremer Positionen zwischen einer reinen Konfessionskunde einerseits oder Tendenzen einer ReKonfessionalisierung andererseits mit entsprechenden didaktisch-methodi15 Vgl. die Systematisierung bei Ulrich Riegel, Wie Religion in Zukunft unterrichten? Zum Konfessionsbezug des Religionsunterrichts von (über-)morgen, Stuttgart 2018.

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schen und unterrichtspraktischen Folgen.16 Eine spezifisch katholische Herausforderung könnte darin liegen, die Konfessionalität des schulischen Religionsunterrichts als Bildungsort auch konsequent bildungstheoretisch zu denken und nicht in erster Linie einen institutionellen Anspruch der Beheimatung oder konfessionellen Identitätsbildung damit zu verbinden.17 Darüber hinaus scheinen alle konfessionell gebundenen Antworten noch zu wenig auf die bestehende Herausforderung von religiös-weltanschaulicher Pluralität vorbereitet zu sein, denn die primäre Logik dieser Modelle ist die der genuinen Bekenntnisgebundenheit mit punktuellen oder phasenweisen organisatorischen und inhaltlichen Öffnungen für religiöse Pluralität. 2. Religionsplural ausgerichtete Antworten im Sinne eines religionskooperativen Religionsunterrichts oder in der Linie des dialogischen Religionsunterrichts nach Hamburger Lesart gehen bewusst auf die Heterogenität der Schülerschaft oder vor Ort bestehende religionsplurale Kontexte ein. Bleibend herausfordernde Aufgabe ist dabei die Beantwortung der Frage nach einem didaktisch angemessenen Einspielen der Teilnehmerperspektive(n) und der existenziellen Relevanz von religiösen Traditionen, und zwar jenseits einer rein informierenden bekenntnisneutralen Sachkunde. Dabei scheinen Unterrichtsmodelle, die wesentlich auf Begegnung und Umgang mit Differenz abheben, in besonderer Weise gefährdet, Differenzen überzubetonen und dadurch möglicherweise auch unerwünschte Lernprozesse wie Verstärkung von Vorurteilen erst auszulösen.18 Eine spezifisch katholische Herausforderung im Umgang mit religionspluralen Antworten besteht aktuell darin, Wege der religiös-weltanschaulichen Öffnung des konfessionellen Religionsunterrichts mutiger zu beschreiten, und zwar im Sinne einer progressiven Lesart der im Bischofspapier geäußerten Rede von einer »wünschenswerte[n] Zusammenarbeit«19 mit anderen Religionen in Bezug auf den Religionsunter16 Vgl. Jan Woppowa, »Zum prekären Umgang mit Konfessionalität und Heterogenität: Plädoyer für eine ökumenisch inspirierte Lesart des konfessionell-kooperativen Religionsunterrichts«, in: Auf dem Weg zu einer ökumenischen Religionsdidaktik. Grundlegungen im europäischen Kontext, hrsg. von Mirjam Schambeck, Henrik Simojoki und Athanasios Stogiannidis, Freiburg i. Br. 2019, S. 219–234. 17 Vgl. die Problemanzeigen bei Rita Burrichter, »Umgang mit Heterogenität im konfessorischen Religionsunterricht? Anmerkungen zu Optionen und Herausforderungen in einem schulischen Praxisfeld«, in: Komparative Theologie: Herausforderung für die Religionspädagogik. Perspektiven zukunftsfähigen interreligiösen Lernens, hrsg. von ders., Georg Langenhorst und Klaus von Stosch, Paderborn 2015, S. 141–158, hier S. 146–149. 18 Vgl. Jan Woppowa/Carina Caruso, »Gemeinsam lernen? Erkenntnisse und kritische Anfragen aus einem Unterrichtsversuch zum religionskooperativen Religionsunterricht«, in: Praxis für die Zukunft. Erfahrungen, Beispiele und Modelle kooperativen Religionsunterrichts (Studien zur interreligiösen Religionspädagogik 5), hrsg. von Maria Juen und Mehmet Tuna, Stuttgart 2021, S. 53–69. 19 Die deutschen Bischöfe, Die Zukunft des konfessionellen Religionsunterrichts, S. 30.

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richt, aber auch darüber hinaus etwa in einer Beteiligung der katholischen Kirche am ›neuen‹ Hamburger Weg des schulischen Religionsunterrichts.20

3.

Ankerpunkte für einen zukunftsfähigen Religionsunterricht

Wie kann sich nach den einleitenden Beobachtungen und im Aushandeln zwischen zwei polaren Antworten ein zukünftiger Religionsunterricht auf Basis von Art.7 Abs.3 GG verstehen und worin liegen besonders dringliche Aufgaben, die es im Sinne seiner Glaubwürdigkeit als Teil öffentlicher Allgemeinbildung zu bearbeiten gilt? Fünf im Folgenden knapp umrissene Ankerpunkte – gleichsam als Versicherungen gegen das Abdriften in einseitige Lesarten aus Sicht des einen oder anderen Pols – nehmen diese Frage auf und greifen dabei teilweise auf ›spezifisch katholische‹ Lesarten des schulischen Religionsunterrichts zurück, die heute und morgen möglicherweise neue Relevanz gewinnen könnten.

3.1

Religionsunterricht als aufgeklärte Diakonie

Das katholische Zentralpapier zum schulischen Religionsunterricht, der sogenannte Würzburger Synodenbeschlusses aus dem Jahr 1974, hat historisch gesehen ungefähr in der Mitte der letzten hundert Jahre seit der Verabschiedung der Weimarer Reichsverfassung im Jahr 1919 einen wichtigen und notwendigen Akzent gesetzt, um – zumindest aus katholischer Sicht – den konfessionellen Religionsunterricht zukunftsfähig zu machen. Nicht zufällig ist der Beschluss auch später noch als »Dokument einer Wende«21 mit »Langzeitqualität«22 charakterisiert worden. Auch wenn seine Begründungsfiguren und Zielvorstellungen offenkundig bis heute nicht von allen Insidern und Outsidern des Geschäfts mit dem Religionsunterricht verstanden worden sind, hätte der katholische Religionsunterricht ohne diese inhaltlichen Weichenstellungen schon längst seine Glaubwürdigkeit verloren. Durch eine kluge Bilanzierung und kritische Integration vorausgegangener Konzepte des Religionsunterrichts, durch seine konvergenztheoretische Begründung aus theologischer und pädagogischer Sicht, durch seine bildungstheoretische Zielbestimmung des Religionsunterrichts und 20 Vgl. Jochen Bauer, »Der erneuerte Hamburger Religionsunterricht und die katholische Perspektive. Lassen sich konfessionell-kooperatives und interreligiöses Lernen zusammendenken?«, in: engagement 37 (2019), S. 171–179. 21 Hans Mendl, Religionsdidaktik kompakt. Für Studium, Prüfung und Beruf, überarb. Neuaufl., München 2018, S. 61. 22 Gottfried Bitter, »Religionsunterricht nach dem Würzburger Synodenbeschluss, noch immer aktuell?«, in: Lebendige Katechese 24 (2002), S. 68–74, hier S. 68.

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schließlich durch seine klare Trennung von Gemeindekatechese und schulischem Religionsunterricht mündet der Beschluss in einer diakonischen Lesart des Religionsunterrichts. Denn im Mittelpunkt dieses Religionsunterrichts stehen die Kinder und Jugendlichen mit ihren eigenen Bildungsbedürfnissen und Bildungsansprüchen, und zwar ohne trennende Sicht auf ihre religiöse Herkunft: »Zu einer Kirche, die sich auf Jesus Christus beruft, gehört als ureigene Aufgabe dieses ›Dasein für andere‹. Unabhängig davon, ob die Menschen zu ihr gehören oder nicht, muß sie bereit sein, ihnen mit dem zu dienen, was sie ist, und was ihrem Auftrag entspricht. Religionsunterricht in der Schule ist eine der Formen, in denen sie diesen Dienst an jungen Menschen vollziehen kann. Er ist insofern unter diakonischem Aspekt zu sehen.«23

Der Synodenbeschluss hat damit den Religionsunterricht in den diakonischen Grundvollzug der Kirche eingeordnet und seine bildungstheoretische und subjektorientierte Ausrichtung auch ekklesiologisch begründet, denn er wendet auf diese Weise die Kirchentheologie des Zweiten Vatikanischen Konzils und die hierin angelegten kirchlichen Grundvollzüge der martyria, leiturgia und diakonia (und im weiter gefassten Kontext auch der koinonia) religionspädagogisch an.24 Dieses Vorgehen spiegelt sich indirekt bereits in der Konzilserklärung über die christliche Erziehung Gravissimum educationis (GE) und den hier gegebenen grundlegenden Richtlinien für die christliche Erziehung im schulischen Kontext wider. Denn auch diese ist in erster Linie personal und nicht ekklesial ausgerichtet, wie Werner Simon resümiert: »Erziehung hat somit die Bildung der menschlichen Person zum Ziel. Sie, die Person selbst, nicht ein außerhalb der Person liegender Zweck, ist Ziel der Bildung.«25 Den Religionsunterricht in entschiedener Weise als diakonischen Beitrag in der Gesellschaft zu begreifen, ist damit eine konsequente Lesart sowohl der ekklesiologischen als auch pastoralen Grundaussagen des Zweiten Vatikanischen Konzils. Allerdings scheint das Eintreten für eine diakonische Lesart des schulischen Religionsunterrichts in der Postmoderne26 nur noch gebrochen möglich zu sein, insoweit die Erkenntnis 23 Der Religionsunterricht in der Schule, Art. 2.6.1. 24 Vgl. Dorothea Sattler, Kirche(n), Paderborn 2013, S. 105–114. 25 Werner Simon, »Bildung und Erziehung«, in: Die großen Metaphern des Zweiten Vatikanischen Konzils. Ihre Bedeutung für heute, hrsg. von Mariano Delgado und Michael Sievernich, Freiburg u. a. 2013, S. 337–352, hier S. 343. Vgl. außerdem Joachim Theis, »Viel mehr als Wissensvermittlung. Erklärung über die christliche Erziehung ›Gravissimum educationis‹«, in: Das Zweite Vatikanische Konzil. Beschlüsse – Ideen – Personen, hrsg. von Johannes Brantl, Margarete Eirich und Walter Euler, Trier 2016, S. 126–132. 26 Ganz zentral bei Bitter, »Religionsunterricht nach dem Würzburger Synodenbeschluss« und etwa Hans Mendl, »Religionsunterricht 2020 – Ein schulisches Fach im Spannungsfeld zwischen Pluralität und Konfessionalität«, in: Religionsunterricht 2020. Diagnosen – Prognosen – Empfehlungen, hrsg. von Hartmut Rupp und Stefan Hermann, Stuttgart 20133, S. 134–150, hier S. 139.

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einer auch und gerade in der Schule sich vollziehenden Unterwerfung des Subjekts unter machtförmige Prozesse sowie insbesondere Foucaults Rede von der »Pastoralmacht«27 alle bildenden Institutionen zur selbstkritischen Reflexion zwingen, allen voran die katholische Kirche angesichts eines in den letzten zehn Jahren offenkundig gewordenen unbeschreiblichen Machtmissbrauchs. Der diakonische Grundzug des Religionsunterrichts sollte daher weniger pastoral als vielmehr bildungstheoretisch verstanden werden.

3.2

Religionsunterricht als bildungstheoretisch begründeter Lernort

Mit Blick auf die Bandbreite der in den Schulen und Lerngruppen vertretenen Milieus und als Garant einer religiösen Grundbildung für alle Kinder und Jugendlichen in den öffentlichen Schulen ist Religionsunterricht radikal bildungstheoretisch zu begründen. Das gilt heute mindestens so sehr wie Mitte der 1970er Jahre, angesichts der oben zitierten Stimmen aus einer religiös-gesellschaftlichen Pluralität und politischen Instrumentalisierung religiöser Bildung heraus wohl noch mehr als damals. Es kann dem schulischen Religionsunterricht besonders ›aus katholischer Sicht‹ nicht mehr um konfessionelle Identitätsbildung oder gar kirchliche Beheimatung gehen, sondern vielmehr um einen Beitrag zu einem lebenslangen Identitätsbildungsprozess des Subjekts. Bitter hat im Blick auf die Ziele des Religionsunterrichts seinerzeit das komplementäre Begriffspaar von Selbstbestimmungsfähigkeit und Solidaritätsfähigkeit ins Spiel gebracht und dabei unter maßgeblichem Rückgriff auf Helmut Peukert Bildung im Horizont universaler Solidarität als »Wahrnehmung des Anderen«28 charakterisiert. Angesichts gegenwärtiger Tendenzen einer Ökonomisierung der Lebenswelten und der Entsolidarisierung menschlichen Zusammenlebens scheint das eine nach wie vor tragfähige Zielbestimmung zu sein, denn insbesondere religiöse Bildung kann darin ihr eigenes ideologiekritisches Widerstandspotenzial entfalten.29 Diese »kritische Traditionslinie«30, auf deren Verstummen Rudolf Englert vor zehn Jahren eindringlich aufmerksam gemacht hat, könnte für den Bildungsdiskurs sowie den Religionsunterricht der Zukunft unverzichtbar wer27 Michel Foucault, »Subjekt und Macht (1982)«, in: ders., Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits. IV (1980–1988), Frankfurt am Main 2005, S.269–294, hier S.277; vgl. weiterhin zu einem kritischen Subjektbegriff ebd., S. 275 sowie zu machtförmigen Prozessen in der Schule ebd., S. 283. 28 Helmut Peukert, zitiert nach Bitter, »Religionsunterricht nach dem Würzburger Synodenbeschluss«, S. 189. 29 Vgl. zum Begriff religiöser Bildung als Widerstand meine knappen Ausführungen in Jan Woppowa, Religionsdidaktik, Paderborn 2018, S. 204–206. 30 Rudolf Englert, »Vorsicht Schlagseite! Was im Bildungsdiskurs der Religionspädagogik gegenwärtig zu kurz kommt«, in: ThPQ 158 (2010), S. 123–131, hier S. 127.

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den, wenn religiöse Bildung in der Gesellschaft auch in zehn Jahren noch Anerkennung finden will. Religiöse Bildung hat dabei wie philosophische Bildung die Aufgabe, die lernenden Subjekte dazu zu befähigen, sich mit einem kulturellen Erbe und seinen Inhalten kritisch auseinanderzusetzen, dabei ein eigenständiges Urteil auszubilden und Optionen für oder gegen bestimmte Sinnofferten zu treffen. Darüber hinaus scheint angesichts zunehmender Phänomene des Antisemitismus, der Diskriminierung von Minderheiten oder der sog. ›Hate Speech‹ in den digitalen Medien eine »Kompetenz zum Widerstand«31, und zwar insbesondere auch aus einem religiösen Weltzugang heraus notwendiger denn je. In all diesen Herausforderungen konvergieren schließlich die Anliegen verschiedener unter dem Dach eines mehrperspektivischen Bildungsbegriffs versammelter Fächer, sowohl der sinnkonstituierenden Bereiche von Religion, Philosophie und Ethik, aber auch des normativ-evaluativen Bereichs von Politik und Gesellschaft.32 Angesichts der größeren Herausforderung von Selbstbestimmungs- und Solidaritätsfähigkeit wäre dies gewiss keine schlechte Allianz.33 In einer radikal bildungstheoretischen Lesart leistet der Religionsunterricht schließlich mehr denn je Aufklärungsarbeit, insofern er junge Menschen über ihr Grundrecht der Religionsfreiheit nicht nur informiert, sondern ihnen erst die Möglichkeiten praktischer Religionsfreiheit eröffnet.34 Denn mit Bitter lässt sich sagen, dass erste heute, in den religiösen Freiheitsräumen und Wahlmöglichkeiten der späten Moderne »die kulturellen Voraussetzungen für die Religionsfreiheit gegeben«35 sind, unter denen sich der Religionsunterricht als »Entdeckungs- und Prüfungsraum«36 für Religion als mögliches Sinnstiftungssystem erweisen kann. Religionsunterricht ist daher von der Zielursache religiöser Bil31 Fritz Reheis/Stefan Denzler/Michael Görtler/Johann Waas (Hgg.), Kompetenz zum Widerstand. Eine Aufgabe für die politische Bildung, Schwalbach/Ts. 2016. 32 Vgl. den mittlerweile etablierten Bildungsbegriff bei Jürgen Baumert, »Deutschland im internationalen Bildungsvergleich«, in: Die Zukunft der Bildung, hrsg. von Linda Reisch, Jürgen Kluge und Killius Nelson, Frankfurt am Main 2002, S. 100–150. 33 Die vorliegenden Zeilen entstehen während der für alle Menschen gleichermaßen bedrohlichen Corona-Pandemie. Wie labil und ambivalent gerade in solchen gesellschaftlichen, medizinischen, psychischen und wirtschaftlichen Krisenlagen der gesellschaftliche Umgang der Menschen miteinander ist, zeigen einerseits eine vielfältige Solidarität und entsprechende Unterstützungsmaßnahmen und andererseits ein verstärkt aufkommender Antisemitismus sowie Diskriminierungen gegenüber Individuen und ethnischen Gruppen, vgl. zu Letzterem etwa Patrick Gensing, »Tagesschau.de-Faktenfinder: Corona als Strafe Gottes« (9. 3. 2020), www.tagesschau.de/faktenfinder/corona-strafe-gottes-101.html oder SWR, »Hass und Anfeindungen gegen Chinesen in Freiburg«, www.swr.de/swraktuell/baden-wuerttemberg/sued baden/hass-und-anfeindung-gegen-chinesen-in-freiburg-100.html (Abruf: 25. 3. 2020) sowie den Kommentar des Präsidenten des World Jewish Congress Ronald S.Lauder, »Was schadet und was nützt«, in: Süddeutsche Zeitung (9./10. 4. 2020), S. 5. 34 Vgl. Bitter, »Religionsunterricht nach dem Würzburger Synodenbeschluss«, S. 201. 35 Ebd., S. 193. 36 Ebd.

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dung her durchzubuchstabieren. Das heißt, wenn »die ursächliche Wirkung des Ziels einer Handlung [darin besteht], daß es zwar das letzte in der Ausführung, aber das erste in der Intention ist, um dessentwillen alle Schritte getan werden …«37, dann bedeutet das für unseren Kontext: Das Ziel religiösen Lernens in der Schule gemäß Art. 7 Abs. 3 GG ist allein die religiöse Bildung seiner Subjekte zur individuellen Ausübung praktischer Religionsfreiheit gemäß Art. 4 GG. Dieses Ziel muss zugleich umfassende Ursache aller Maßnahmen und Interventionen sein.

3.3

Religionsunterricht als mehrperspektivischer und Relevanz fördernder Umgang mit Konfessionalität

Wenn sich der Religionsunterricht ad extra in einem mehrperspektivischen Bildungsbegriff verankert, sollte er ad intra eine entsprechende multiperspektivische Didaktik verfolgen.38 Das gilt nicht nur, aber besonders auch für den Umgang mit Konfessionalität, denn das konfessionelle Bekenntnis bleibt angesichts der Standortgebundenheit seines Sprechers bzw. seiner Sprecherin und auch angesichts seiner historischen Bedingtheit immer perspektivisch und kontextuell verortet. Wenn der konfessionelle Religionsunterricht also den Anspruch erhebt, die konfessionellen Wahrheitsansprüche einer bestimmten Tradition zu bearbeiten, dann sind auch diese in ihrer Perspektivität und geschichtlichen Dynamik zu erschließen.39 Das heißt, weil »unter den Bedingungen der Spätmoderne Wahrheit nur noch perspektivisch Gestalt finden und bezeugt werden kann, bedeutet das eben auch für Theologie und Religionsunterricht, dass sie Räume für unterschiedliche Perspektiven eröffnen«40 müssen. Das schließt den Wahrheitsanspruch anderer Bekenntnisse mit ein, aber nicht weniger auch die individuellen Perspektiven der Lernenden und Lehrenden auf Welt und Wirklichkeit. Auch hier wiederum ist die Konfessionalität des (katholischen) Religionsunterricht nicht einseitig ekklesiologisch zu bestimmen.41 Eine Differenzierung zwischen Konfessionalitätsprinzip einerseits und konfes37 Medard Kehl, Die Kirche. Eine katholische Ekklesiologie, Würzburg 42001, S. 417. 38 Vgl. Woppowa, Religionsdidaktik, S. 185–191. 39 Vgl. ähnlich auch Norbert Mette, »Das Bildungspotential der Religionen für die SchülerInnen erschließen. Plädoyer für einen von Religionen gemeinsam verantworteten Religionsunterricht«, in: ÖRF 26.2 (2018), S. 9–30, DOI: 10.25364/10.26:2018.2.2 (Abruf: 23. 5. 2021), S. 9–30 , hier S. 19. 40 Klaus von Stosch, »Konfessionalität und Komparative Theologie«, in: Kooperativer Religionsunterricht. Fragen – Optionen – Wege, hrsg. von Jan Woppowa, Tuba Is¸ık, Katharina Kammeyer und Bergit Peters, Stuttgart 2017, S. 59–78, hier S. 75. 41 Vgl. dazu auch Burrichter, »Umgang mit Heterogenität im konfessorischen Religionsunterricht?«.

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sorischem Prinzip des Lehrens und Lernens andererseits ist daher nach wie vor notwendig,42 weil eine gefährliche Vermischung beider Prinzipien noch immer begegnet und darüber hinaus eine am Subjekt orientierte Lesart von Konfessionalität bis heute nicht vollends eingeholt ist. Darauf hat erst kürzlich Norbert Mette hingewiesen: »Die organisatorische Gestalt des Religionsunterrichts, insbesondere auf katholischer Seite, die bis vor kurzem an der sog. konfessionellen Trias rigide festgehalten hat, bleibt hinter dem im eigenen Text weiter angelegten prinzipiellen Verständnis von Konfession und Konfessionalität zurück.«43 Von daher wird es auch zukünftig eine Aufgabe bleiben, diese Unterscheidung einzufordern, damit auf der einen Seite das bildungstheoretische Anliegen des (katholischen) Religionsunterrichts glaubwürdig vertreten werden kann. Auf der anderen Seite bedeutet das auch, die Relevanz konfessioneller Bindungen und Überzeugungen für das Glauben und Leben von Menschen aufzeigen zu können, um Religionen und Konfessionen in ihrer alltagsprägenden Relevanz zu vermitteln. Das verlangt nicht zuletzt eine gewisse Ambiguitätstoleranz im Umgang mit der Perspektivität christlicher Wahrheitsansprüche und mit der Mehrdeutigkeit von Konfessionalität.

3.4

Religionsunterricht in kontextuell und regional bedingter Verfasstheit

Eine Ambiguitätstoleranz in konzeptioneller Hinsicht ist vorauszusetzen, wenn man das in der letzten bischöflichen Erklärung zur Sprache gebrachte Prinzip der Regionalisierung verschiedener Modelle des Religionsunterrichts ernst nimmt. Wenn in Hamburg der Religionsunterricht für alle (in seiner Neuauflage) mit möglicherweise auch katholischer Beteiligung das richtige Modell am richtigen Ort ist, in Niedersachsen ein konfessionssensibler Religionsunterricht in konfessioneller Heterogenität zum flächendeckenden Regelfall wird, in BadenWürttemberg ein konfessionell-kooperativer Religionsunterricht mit Lehrerwechsel oder im Rheinland sowie in weiten Teilen Bayerns nach wie vor noch ein konfessionell getrennter Religionsunterricht vorherrscht, dann ist unmittelbar einsichtig und plausibel: »Den katholischen Religionsunterricht wird es immer weniger geben.«44 Der schulische Religionsunterricht ist auf konzeptioneller 42 Vgl. zu dieser Unterscheidung schon Bitter, »Religionsunterricht nach dem Würzburger Synodenbeschluss«, S. 196. 43 Mette, »Das Bildungspotential der Religionen für die SchülerInnen erschließen«, S. 20. 44 Sabine Pemsel-Maier, »Diversität als Herausforderung: Auf der Suche nach einem katholischen Religionsunterricht, der ›an der Zeit‹ ist«, in: Religionsunterricht 2020. Diagnosen – Prognosen – Empfehlungen, hrsg. von Hartmut Rupp und Stefan Hermann, Stuttgart 2013, S.120–133, hier S.122; vgl. auch Mendl, »Religionsunterricht 2020«, S.149 sowie bereits Bitter, »Religionsunterricht nach dem Würzburger Synodenbeschluss«, S. 200.

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Ebene mittlerweile auf die faktische Pluralität durchaus vorbereitet und hinsichtlich unterschiedlicher Organisationsformen von Hamburg bis Freiburg auch regional ausgerichtet. Bis heute ist allerdings eine »Prioritätensetzung«45 anzumahnen, denn: »Es geht nicht um die Rettung eines Organisationsmodells, sondern um die Sicherung der Präsenz eines Faches ›in Sachen Religion‹ an der Schule, das mehr ist als Ethik, Lebenshilfe und Religionskunde und an dessen Ausgestaltung und Durchführung die großen Religionsgemeinschaften beteiligt sind.«46

Hans Mendl empfiehlt schließlich »ein optionales Abwägen verschiedener Organisationsmodelle«47 und – so ließe sich unschwer hinzufügen – im Sinne einer Ambiguitätstoleranz auch ein Aushalten verschiedener Organisationsmodelle, ohne bestimmte davon zu diskreditieren.48

3.5

Religionsunterricht aus kooperativer Bildungsverantwortung

Auf die Frage nach dem ›Wohin des konfessionellen Religionsunterrichts‹ ist schließlich eine gemeinsame Antwort aller Beteiligten zu geben, sofern sie für die Zukunft dieses Fachs tragfähig sein soll. Das sind zunächst einmal mindestens die beiden großen Kirchen als wesentliche Player, wenn es um den schulischen Religionsunterricht in Deutschland geht, aber darüber hinaus andere christliche Konfessionen und diejenigen Religionsgemeinschaften, die sich um einen Religionsunterricht gemäß Art. 7 Abs. 3 GG bemühen, allen voran Islam und Judentum. Es braucht deshalb mindestens eine ökumenische Bildungsverantwortung für religiöse Bildung in der Schule, wenn man bedenkt, dass sich gerade der bekenntnisorientierte Religionsunterricht nach Art. 7 Abs. 3 GG in seiner gesellschaftlichen und auch schulischen Umgebung zunehmend in der Situation einer empirischen und schon längst in der einer – wissenssoziologisch gesprochen – »kognitiven Minderheit« (Peter L. Berger) wiederfindet. Auch deshalb scheint das Ziel einer elementaren religiösen Bildung nach außen hin nur noch 45 Mendl, »Religionsunterricht 2020«, S. 149. 46 Ebd. 47 Ebd. Auf die Grenzen einer regionalen Ausdifferenzierung hat eindrücklich Henrik Simojoki aufmerksam gemacht und zugleich für eine stärkere Vernetzung zwischen regionalen Kontexten geworben: vgl. Henrik Simojoki, »Königsweg oder Sargnagel? – Chancen und Grenzen der regionalen Kontextualisierung des Religionsunterrichts«, in: Zukunftsfähiger Religionsunterricht. Konfessionell – kooperativ – kontextuell, hrsg. von Konstantin Lindner, Mirjam Schambeck, Henrik Simojoki und Elisabeth Naurath, Freiburg i. Br. 2017, S. 101–119. 48 Zur religionspädagogischen Relevanz von Ambiguitätstoleranz vgl. Jan Woppowa, »›Nothing is ever lost!‹. Überlegungen zu einer ambiguitätsfördernden Religionspädagogik von morgen«, in: Religionspädagogische Beiträge 83 (2020), S. 15–23.

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ökumenisch zu plausibilisieren zu sein. Das wiederum ruft nach öffentlichkeitstauglichen Begründungen des Religionsunterrichts etsi deus non daretur, das heißt in erster Linie bildungstheoretischen. Denn je geringer die gesellschaftliche Relevanz der Kirchen in der Öffentlichkeit ist, desto mehr müssen sich kirchliche Verantwortliche für den schulischen Religionsunterricht bildungstheoretischer und religionspädagogischer Argumente bedienen, um den Religionsunterricht in der Schule zu plausibilisieren. Damit ist weit mehr ausgesagt als der alleinige Blick auf die Organisation des Religionsunterrichts, auch wenn hier Sabine Pemsel-Maier uneingeschränkt Recht zu geben ist: »Die Zukunft des katholischen Religionsunterricht liegt in seiner Kooperationsfähigkeit.«49 Im Kontext einer ökumenischen Religionsdidaktik ist deshalb perspektivisch »an einer ökumenischen Profilierung des konfessionell-kooperativen Religionsunterrichts zu arbeiten, die ihn stärker als bislang vom Gedanken der Ökumene aus denkt und ihn sowie seine Lehrkräfte bzw. Schülerinnen und Schüler nicht für eine konfessionelle Profilierung und Abgrenzung instrumentalisiert«50,

wie gegenwärtig durchaus zu beobachten ist. Ein solcher ökumenischer Zugriff auf den Religionsunterricht ist übrigens auch mit dem römisch-katholischen Kirchenrecht zu begründen: Der CIC/1983 trifft zwar keine direkte Aussage zur ökumenischen Ausrichtung des Religionsunterrichts. Doch indem er ihn – wenn auch hier einseitig katechetisch gedacht – erstens in den Verkündigungsdienst der Kirche einordnet und insofern zweitens »die Förderung der ökumenischen Bewegung zu den grundlegenden Normen innerhalb des Verkündigungsrechtes gehört«51, muss sich folgerichtig auch »der Religionsunterricht durch ökumenische Offenheit auszeichnen«52. Allerdings reicht es heute nicht mehr aus, Offenheit nur zu postulieren; hier sind vielmehr starke strukturelle Entscheidungen gefragt.

49 Pemsel-Maier, »Diversität als Herausforderung«, S. 130. 50 Simojoki/Woppowa, »Konfessionell-kooperativer Religionsunterricht. Zwischenbilanz und Zukunftsperspektiven«, S. 25. Vgl. darüber hinaus auch Woppowa/Simojoki, »Mehr Ökumene wagen« sowie Schambeck, Mirjam/Henrik Simojoki/Athanasios Stogiannidis, Auf dem Weg zu einer ökumenischen Religionsdidaktik. Grundlegungen im europäischen Kontext, Freiburg i. Br. 2019. 51 Peter Krämer, Kirchenrecht I: Wort – Sakrament – Charisma, Stuttgart/Berlin/Köln 1992, S. 42. 52 Ebd., S. 53. Vgl. auch Wilhelm Rees, »Rechtliche Rahmenbedingungen für einen konfessionell-kooperativen Religionsunterricht in den öffentlichen Schulen Österreichs«, in: ÖRF 26.2 (2018), DOI: 10.25364/10.26:2018.2.4 (Abruf: 23. 5. 2021), S. 47–68, hier S. 55 mit ergänzendem Hinweis auf das Ökumenische Direktorium sowie eine auf Basis der Konzilsdekrete Unitatis redintegratio und Nostra aetate auch interreligiös zu weitende Offenheit.

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Darüber hinaus ist eine kooperative Bildungsverantwortung heute und morgen noch entschiedener interreligiös zu weiten.53 Denn es wird zunehmend deutlich, dass unter den für alle gleichermaßen geltenden Herausforderungen religiöser Pluralität die Religionsgemeinschaften eine gemeinsame Verantwortung für eine öffentlich wirksame religiöse Bildung tragen. Allen Beteiligten muss daran gelegen sein, für ein religiöses Lernen zu werben, das seine Wirksamkeit gegen fundamentalistische Verzerrungen entfalten kann und das Schülerinnen und Schüler für eine vernünftig verantwortete und reflektierte Haltung zu Religion und Glauben befähigt. Der Religionsunterricht in der Schule hat – gleich welchem Bekenntnis er folgt – die zentrale Aufgabe, die religiöse Orientierungsund Standpunktfähigkeit von Kindern und Jugendlichen zu fördern wie auch eine Konvivenz- und Solidaritätsfähigkeit aufzubauen. Wenn es gelingt, zumindest in einigen Grundüberzeugungen bekenntnisübergreifend einer Meinung zu sein, wäre das ein wirksames Signal in die Öffentlichkeit. Das gilt umso mehr, sofern man Art. 7 Abs. 3 GG als »Minderheitenschutz«54 charakterisieren möchte, denn dann können sich in nicht allzu ferner Zukunft wohl alle beteiligten Religionsgemeinschaften unter diesem Dach sammeln. Perspektivisch wäre damit zwar an der interreligiösen Öffnung zu arbeiten, allerdings unter dem selbstkritischen Vorbehalt gegenüber einer christlich geprägten Diskursherrschaft und im Bewusstsein mehr oder weniger verdeckter machtförmiger Lernprozesse im Umgang mit Differenz und Minoritätssituationen.55 Wenn sich allerdings »der konfessionell-kooperative Religionsunterricht als ein zukunftsfähiges Modell etabliert, das in besonderer Weise damit umzugehen gelernt hat, positionelle Differenzen lernförderlich ins Spiel zu bringen und dabei die He-

53 Vgl. dazu auch meine früheren Ausführungen: Jan Woppowa, »Der Religionsunterricht im Licht aktueller Erklärungen. Zukunftsweisende Anlässe für eine kooperative Bildungsverantwortung von Christen und Muslimen?«, in: HIKMA. Zeitschrift für Islamische Theologie und Religionspädagogik 8.2 (2017), S. 229–240; Jan Woppowa/ Katharina Kammeyer, »Auf dem Weg zu einer kooperativen Bildungsverantwortung? Ein Resümee in drei Schritten«, in: Kooperativer Religionsunterricht. Fragen – Optionen – Wege, hrsg. von ders. et al., Stuttgart 2017, S. 179–199 sowie zuletzt das deutliche Plädoyer für einen gemeinsam verantworteten Religionsunterricht bei Mette, »Das Bildungspotential der Religionen für die SchülerInnen erschließen«, S. 24–30. 54 Bernhard Dressler, »Hat religiöse Bildung Zukunft?«, in: Religionsunterricht 2020. Diagnosen – Prognosen – Empfehlungen, hrsg. von Hartmut Rupp und Stefan Hermann, Stuttgart 2013, S. 42–54, hier S. 50. 55 Vgl. zu diesen Problemanzeigen beispielsweise Bernhard Grümme, »Aufgeklärte Heterogenität. Grenzen und Perspektiven interreligiösen Lernens«, in: Kooperation im Religionsunterricht: Chancen und Grenzen interreligiösen Lernens. Beiträge aus evangelischer, katholischer und islamischer Perspektive, hrsg. von Rainer Möller, Clauß Peter Sajak und Mouhanad Khorchide, Münster 2017, S. 219–231 sowie die kritische Reflexion eines Unterrichtsversuchs bei Woppowa/Caruso, »Gemeinsam lernen?«.

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terogenität der Lerngruppen bewusst zu integrieren«56, dann könnte und müsste perspektivisch noch stärker ins Blickfeld rücken: eine reflektierte Kooperation mit anderen Bekenntnissen, die Berücksichtigung des Phänomens der Bekenntnislosigkeit und schließlich eine Öffnung der Lerngruppen auf eine maximale religiös-weltanschauliche Heterogenität hin.57

4.

Fazit: Wird der Religionsunterricht zu einem Fremdkörper in der Schule?

Auf die Frage, ob der bekenntnisorientierte Religionsunterricht nach Art.7 Abs.3 GG möglicherweise zu einem Fremdkörper in der öffentlichen Schule einer religiös-weltanschaulich pluralen Gesellschaft werden könnte, lässt sich hier abschließend mit Ja und Nein antworten. – Einerseits: Nein, weil nicht nur aus religionspädagogischer, sondern auch aus bildungstheoretischer Perspektive Religion als genuiner Bestandteil eines umfassenden Bildungsbegriffs verstanden wird. Bildung ist heute nur mehrperspektivisch und komplementär zu denken, wobei das Fach Religion dabei einen unersetzbaren und spezifisch profilierten Wirklichkeitszugang bietet.58 Der bekenntnisorientierte Religionsunterricht ist deshalb so lange kein Fremdkörper, wie er zeigen kann, dass er in besonderer Weise ein zu Standpunkt und Solidarität befähigendes Lernen verfolgt, und zwar innerhalb der Rahmung von religiöser Bildung und Religionsfreiheit und zugleich unter der Maßgabe dialogischer Offenheit. Andererseits: Ja, er ist ein Fremdkörper, aber in konstruktivem Sinn. Ein an einem bestimmten Bekenntnis orientierter Religionsunterricht hält die Gottesfrage nicht nur als rationales Konstrukt aufrecht, sondern bringt sie als unbequemen Anspruch und mit einer existenziellen Relevanz ins Spiel – exemplarisch an einem Bekenntnis orientiert, aber durchaus stellvertretend für andere. Das lässt religiöse Bildung widerständig werden und misst ihr eine politisch-gesellschaftskritische Dimension bei gegenüber Funktionalisierungen von Religion und gegenüber Instrumentalisierungen des Menschen. Ein kritisch-produktiver Fremdkörper ist innerhalb der öffentlichen Schule ein notwendiger Resonanzraum für Fragen und Inhalte, für die sonst keine Zeit bliebe. Und er wäre am Puls der Zeit, nicht trotz, sondern wegen seiner exemplarischen Bindung an existenziell relevante und wirksame religiöse Überzeugungen. 56 Simojoki/Woppowa, »Konfessionell-kooperativer Religionsunterricht. Zwischenbilanz und Zukunftsperspektiven«, S. 26. 57 Vgl. etwa Riegel, Wie Religion in Zukunft unterrichten? 58 Vgl. Baumert, »Deutschland im internationalen Bildungsvergleich« sowie Woppowa, Religionsdidaktik, S. 80–97.

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Möglicherweise liegt darin eine neue »diakonische Sinnspitze des schulischen Religionsunterrichts«59, dass noch mehr als vor 25 Jahren heute in einer Zeit massiver Glaubwürdigkeitskrisen religiöser Traditionen und Institutionen (insbesondere der katholischen Kirche) und auch religiöser Bildung in der Schule »von den christlichen Kirchen eine radikale Selbstlosigkeit gefordert«60 ist. Diese nämlich erweist sich darin, dass sich die Kirchen auch zukünftig für einen ›Fremdkörper Religionsunterricht‹ im öffentlichen Bildungsraum engagieren sowie darüber hinaus sich Seite an Seite mit Vertreterinnen und Vertretern nichtchristlicher Religionen und Weltanschauungen für eine religiöse Bildung von Menschen einsetzen, deren Erträge sie entweder gar nicht oder nur mittelbar für sich selbst in Anspruch nehmen können.

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59 Bitter, »Religionsunterricht nach dem Würzburger Synodenbeschluss«, S. 199. 60 Ebd., S. 198.

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Cos¸kun Sag˘lam

Einführung des Islamischen Religionsunterrichts und aktuelle Herausforderungen

1.

Einleitung

Die Einführung des Islamischen Religionsunterrichts in Deutschland hat in den letzten Jahren einerseits beachtliche Fortschritte gemacht, steht aber andererseits noch am Anfang ihrer Entwicklung. Im Anschluss an die Deutsche Islam Konferenz (DIK)1 empfahl der Wissenschaftsrat im Jahr 2010 die Gründung universitärer Einrichtungen für Islamische Studien unter anderem zum Zwecke der flächendeckenden Einführung des Islamischen Religionsunterrichtes an deutschen Schulen, die neben der Ausbildung von Lehrerinnen und Lehrern die dazu erforderlichen »Religionsgelehrten« hervorbringen sollen.2 Dass es trotz der schwierigen Ausgangslage zu enormen Entwicklungen in der Islamischen Theologie in Deutschland kommen konnte, hat nicht zuletzt mit der bereits zitierten Analyse und darauf aufbauenden Empfehlung des Wissenschaftsrates aus dem Jahr 2010 zu tun: »Der Wissenschaftsrat erkennt die Notwendigkeit eines weiteren Ausbaus islamischer Religionspädagogik an, betrachtet es aber als dringlich, dass dieser Ausbau von der Etablierung theologisch orientierter Islamischer Studien in Deutschland begleitet wird. Die disziplinäre Entwicklung Islamischer Studien in diesem theologischen Sinne bildet die Voraussetzung dafür, dass der religionspädagogischen Ausbildung künftiger islamischer Religionslehrerinnen und -lehrer eine methodisch fundierte Reflexion religiöser Schriften, Deutungs- und Normativitätsansprüchen sowie Praktiken zugrunde liegt, die wissenschaftlichen Ansprüchen genügt.«3

1 Zur Bedeutung der Deutschen Islam Konferenz für einen religionsverfassungsrechtlichen Integrationsprozess siehe: Uwe Hunger/Nils-Johann Schröder (Hgg.), Staat und Islam – Interdisziplinäre Perspektiven, Münster 2016, S. 200ff. 2 Wissenschaftsrat, »Empfehlungen zur Weiterentwicklung von Theologien und religionsbezogenen Wissenschaften an deutschen Hochschulen. Drs. 9678–10/Berlin« (29. 1. 2010), www.wissen schaftsrat.de/download/archiv/9678-10.pdf (Abruf: 20. 11.2020), S. 8. 3 Wissenschaftsrat, »Empfehlungen«, S. 73ff.

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Ein Ziel der Gründung von Islaminstituten in Deutschland ist es demnach, die islamischen Normen und Wertvorstellungen im akademischen Diskurs angemessen einzubringen. Hieraus sollen sich an den Standorten unterschiedliche Profile entwickeln, die die Pluralität innerhalb des Islam in Deutschland angemessen repräsentieren. Schon kurze Zeit nach diesen Empfehlungen wurden bereits Fakten geschaffen.4 Seit 2011 fördert das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) die Standorte Tübingen, Frankfurt am Main (mit Gießen), Münster, Osnabrück und Erlangen-Nürnberg5 für einen vor kurzem abgeschlossenen Zeitraum von fünf Jahren mit einer Summe von 20 Millionen Euro, um diese oben genannten Ziele zu realisieren. In jedem Fall soll und kann eine islamische Religionspädagogik in Deutschland den wissenschaftlichen Diskurs zum Verhältnis von Religion und Pädagogik und damit auch das Angebot ›Religionsunterricht‹ bereichern. Hierbei muss sie zunächst darauf achten, ein eigenes Profil zu entwickeln und der Versuchung widerstehen, bereits bestehende christliche Konzepte, die – wenn auch theologischen Ursprungs – nicht vom Himmel gefallen, sondern Ergebnis spezifisch historischer Entwicklungen sind, unreflektiert zu kopieren. Gleichzeitig soll die Islamische Religionspädagogik jedoch von den Ergebnissen der Forschung in Europa sowie den traditionell muslimischen Ländern profitieren und ihr Repertoire sukzessiv erweitern. Die Einführung der Islamischen Theologie sowie Religionspädagogik in Deutschland zieht jedoch nicht nur Sympathien auf sich. So gibt es sowohl von muslimischer als auch nicht-muslimischer Seite Stimmen, die sich gegen die Einführung der Islamischen Theologie bzw. des Islamischen Religionsunterrichts aussprachen oder noch immer aussprechen; in beiden Fällen mit jeweils sehr unterschiedlichen Motiven, auf die im Folgenden näher eingegangen wird.

2.

Aktuelle Diskurse zum Islam und der Islamischen Theologie

Das Image des Islam bei der deutschen Mehrheitsgesellschaft ist stark von Vorurteilen belastet. Bereits in den Debatten der vergangenen Jahre über das Kopftuch (im Schulunterricht), dem Minarett- und Moscheebau und weiteren wurde häufig die Gefahr einer vermeintlichen ›Islamisierung‹ Deutschlands heraufbeschworen. Die Flüchtlingswelle im Zuge des sogenannten ›arabischen Frühlings‹ und der daraus resultierenden Konflikte haben die Diskussionen um 4 Zur Entstehung der Einrichtungen in Deutschland siehe u. a.: Bülent Uçar/Cos¸kun Sag˘lam, »Islamische Religionspädagogik in Deutschland. Stand der Einrichtung – Personal – Arbeitsschwerpunkte«, in: Zeitschrift für Pädagogik und Theologie 64.1 (März 2012), S. 13–25. 5 Inzwischen gibt es u. a. in Berlin, Hamburg und Paderborn weitere universitäre Einrichtungen für Islamische Theologie bzw. Religionspädagogik.

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die Rolle des Islam in Deutschland angeheizt. Häufig werden auch Themen der Migration und die Herausforderungen, die mit ihnen einhergehen, mit Fragen rund um den Islam vermengt. Des Weiteren spielt – spätestens seit den Anschlägen vom 11. September 2001 – das Thema Sicherheit auch in Bezug auf den Islam eine größere Rolle, sodass sich »Politik und Regierungen für die Entwicklung einer rechtsstaats-kompatiblen muslimischen Erziehung unter staatlicher Kontrolle [engagierten].«6 Dies entspricht sicher auch den Erwartungen großer Teile der Mehrheitsgesellschaft, denen ›die Lehren des Islam‹ nicht geheuer zu sein scheinen. Dass mit der AfD eine Partei in das Bundesparlament Einzug gehalten hat, die mit diffusen Ängsten auf Stimmenfang geht, macht die Situation für die demokratischen Parteien nicht leichter.7 Die Statistik verdeutlicht die Diskrepanz zwischen der Wahrnehmung bzw. Bewertung des Islam seitens der Mehrheitsgesellschaft und der Einstellung der Muslime. So bekennen sich laut den Ergebnissen des Religionsmonitors der Bertelsmann Stiftung von 2019 89 % der Gesamtbevölkerung für die Demokratie, während dies auf 91 % der Muslime und lediglich 83 % der Konfessionslosen zutrifft.8 Die Bedeutung des ›Schutzes von Minderheiteninteressen‹ weise zwar bei 80% bei der Gesamtbevölkerung einen hohen Wert auf, allerdings könne gerade der Islam nicht davon profitieren: »Bei der Anerkennung religiöser Vielfalt gibt es allerdings noch Nachholbedarf: Grundsätzlich sind 87 Prozent der Befragten laut Studie offen gegenüber anderen Weltanschauungen. Etwa 70 Prozent sprechen anderen Religionen auch einen Wahrheitsgehalt zu und sind somit als religiös tolerant anzusehen. Doch nur knapp jeder Zweite in Deutschland meint, dass religiöse Pluralität die Gesellschaft bereichert. Mit Blick auf den Islam sinkt dieser Anteil noch einmal: Nur ein Drittel der Bevölkerung betrachtet den Islam als Bereicherung. Christentum, Judentum, Hinduismus und Buddhismus werden hingegen von einer Mehrheit als bereichernd empfunden.«9

Dies spiegelte sich auch in den Ergebnissen der 2016 durchgeführten Befragung des Sachverständigenrates deutscher Stiftungen für Integration und Migration wider, in der Muslime im Allgemeinen (12,1 %) und türkische Muslime im Besonderen (15,1 %) angaben, dass Menschen mit ihrer Herkunft aus der Gesell6 Mathias Rohe, Der Islam in Deutschland. Eine Bestandsaufnahme, München 2016, S. 289. 7 Die fehlende Differenzierung und die Angst vor dem Islam hat auch historische Gründe. Siehe dazu: Thomas Naumann, »Historische und theologische Gründe der europäischen Angst vor Muslimen«, in: Verhärtete Fronten. Der schwere Weg zu einer vernünftigen Islamkritik, hrsg. von Thorsten Gerald Schneiders, Wiesbaden 2012, S. 25–42; Rohe, Der Islam in Deutschland, S. 17ff. 8 Yasemin El-Menouar, »Religiöse Toleranz weit verbreitet – aber der Islam wird nicht einbezogen« (7.2019), www.bertelsmann-stiftung.de/de/themen/aktuelle-meldungen/2019/juli/reli gioese-toleranz-weit-verbreitet-aber-der-islam-wird-nicht-einbezogen (Abruf: 19. 7. 2020). 9 Ebd.

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schaft ausgeschlossen würden. Dieser Wert ist nahezu doppelt so hoch wie jener bei den befragten Zuwanderern insgesamt.10 Und auch 60 % der Menschen ohne Migrationshintergrund stimmen der Aussage »[i]nsgesamt werden viele Muslime aus der Gesellschaft in Deutschland ausgeschlossen« zu.11 Muslime messen der Religion einen deutlich höheren Wert bei, was – wie die Zahlen oben verdeutlichen – jedoch kein Indiz für eine negative Haltung zur Demokratie darstellt. Auch die Moscheegemeinden würden zu Unrecht häufig mit Terrorismus in Verbindung gebracht,12 denn Studien zeigen, dass die Radikalisierung von Muslimen zum Einen außerhalb der Moscheen der großen Dachverbände geschieht und – so die Ergebnisse einer Untersuchung von Sageman – gerade das Fehlen der religiösen Erziehung Ursache für extremistische Vorstellungen und Handlungen sei: So resultiere »the fervor of these jihadists … from their lack of religious training, which prevents them from evaluating their new [›Manichaean‹] beliefs in context«.13 Während so manche nicht-muslimischen Stimmen häufig im Zuge der Eröffnung von Instituten für Islamische Studien bzw. Theologie die Gefahr einer abstrakten »Islamisierung« heraufbeschwören, gab und gibt es unter Muslimen – und bei Weitem nicht nur bei extremistischen Gruppen – große Sorge um den »authentischen Islam«, der nun durch einen deutschen »Staatsislam« ersetzt werden solle.14 Verstärkt wurde dieser Eindruck auch durch Beiträge einiger Vertreter der neuen Einrichtungen. Sven Kalisch, einst Professor für ›Religion des Islam‹ am Centrum für Religiöse Studien (CRS) an der Westfälischen WilhelmsUniversität (WWU) Münster, ging gar so weit, die Existenz Muhammeds (sav)

10 Sachverständigenrat der Deutschen Stiftung für Integration und Migration, »Zugehörigkeit und Zugehörigkeitskriterien zur Gesellschaft im Einwanderungsland Deutschland – Ergebnisse des SVR-Integrationsbarometers 2016 – Handout« (2016), S. 6, www.svr-migration.de /wp-content/uploads/2016/10/Handout_SVR_FB_PK_28_Juni_IB_Zugehoerigkeit.pdf (Abruf: 20. 11. 2020). 11 Sachverständigenrat der Deutschen Stiftung für Integration und Migration, »Viele Götter, ein Staat: Religiöse Vielfalt und Teilhabe im Einwanderungsland – Jahresgutachten 2016 mit Integrationsbarometer« (2016), www.svr-migration.de/wp-content/uploads/2016/04/SVR_J G_2016-mit-Integrationsbarometer_WEB.pdf (Abruf: 19. 7. 2020) S. 42. 12 Ebd., S. 78. 13 Marc Sageman, Leaderless Jihad: Terror Networks in the Twenty-First Century, Philadelphia 2008, S. 60. Siehe auch: Teije Hidde Donker/Edwin Bakker, Jihadi Terrorists in Europe: Their Characteristics and the Circumstances in which they Joined the Jihad. An Exploratory Study, Den Haag 2006, S. 46f. 14 Auch bei Vertretern muslimischer Verbände, die später jedoch Kooperationspartner etwa in den Konfessorischen Beiräten werden sollten, ging (und geht noch) zum Teil diese Angst um. Unabhängig davon bekommt das Institut für Islamische Theologie in Osnabrück in regelmäßigen Abständen Post von rechtsextremer sowie fundamentalistischer Seite, die jeweils ihren Unmut und teils konkrete, teils abstrakte bzw. wirre Drohungen in Richtung der Einrichtung äußern.

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anzuzweifeln15 – was die Befürchtungen der Kritiker zu bestätigen schien. Auch der Nachfolger des auf diese Aussage und die Reaktionen seitens der muslimischen Verbände hin abgesetzten Kalisch,16 Mouhanad Khorchide, ging mit seiner ›Theologie der Barmherzigkeit‹ für manche Muslime zu weit, da auch er nach Meinung wichtiger Vertreter muslimischer Gemeinden so manche Prinzipien der Religion relativiere.17 So verfasst der Koordinierungsrat der Muslime ein ca. siebzigseitiges Gutachten, in dem zentrale Thesen Khorchides verworfen werden.18 Auch der Vorsitzende des Zentralrats der Muslime, Ayman Mazyek, bezweifelte inzwischen die Möglichkeit des Fortbestandes einer »vertrauensvolle[n] Kooperation« mit Khorchide, die ihm nun »äußerst fragwürdig« erschien.19 Es ist auch bereits erkennbar, dass sich an den verschiedenen Standorten – wie bereits vom Wissenschaftsrat prognostiziert – unterschiedliche Profile und Ansichten entwickeln, die nicht allein durch »die im Wissenschaftsbetrieb wohlbekannten persönlichen Eitelkeiten und Animositäten« (Rohe S. 297) erklärt werden können. So gibt es auch durchaus inhaltliche Differenzen.20 Im Gegensatz zu Studiengängen wie der Islamwissenschaft oder der Orientalistik handelt es sich bei der Islamischen Theologie um einen bekenntnisgebundenen Studiengang.

15 Er zweifelte u. a. auch die Existenz Jesu an, was allein schon zu ähnlichen Reaktionen in der muslimischen Community geführt hätte. Eine Übersicht der medialen Reaktionen kann der folgenden Internetseite der Stadt Münster entnommen werden: »Kalisch bezweifelt Existenz Muhammeds«, www.muenster.de/~angergun/kalisch.html (Abruf: 19. 7. 2020). Siehe auch Oebbecke, der die Reaktionen der muslimischen Verbände als Ursache sieht: Janbernd Oebbecke, »Islamische Theologie an deutschen Universitäten. Rechtspolitische Aspekte«, in: Zeitschrift für evangelisches Kirchenrecht 56 (2011), S. 262–278, hier S. 266f. 16 Ähnliche Entscheidungen hatte es auch seitens der Katholischen Kirche bereits gegeben. So wurden Hans Küng, Uta Ranke-Heinemann auch und Eugen Drewermann aufgrund von Aussagen zu katholischen Dogmen ihres Lehrstuhls enthoben. 17 Siehe dazu: Hermann Horstkotte/Ruben Karschnick, »Islam-Studien in Münster. Khorchide im Schwitzkasten« (10. 1. 2014), www.zeit.de/studium/hochschule/2014-01/khorchide-muen ster-islamische-theologie-kritik (Abruf: 20. 11. 2020). Außerdem Sıraçog˘lu, Halil, »›Die Debatte‹: Kritische Betrachtung von Grundthesen und Methodik der ›Theologie der Barmherzigkeit‹« (16. 11. 2013), www.islamische-zeitung.de/die-debatte-kritische-betrachtungvon-grundthesen-und-methodik-der-theologie-der-barmherzigkeit-von-halil-siracoglu (Abruf: 20. 11. 2020). 18 IslamiQ, »Theologie der Barmherzigkeit – KRM-Gutachten zu den Thesen Mouhanad Khorchides veröffentlicht« (17. 12. 2013), www.islamiq.de/2013/12/17/krm-gutachten-zu-den -thesen-mouhanad-khorchides-veroeffentlicht (19. 7. 2020). 19 Jan Kuhlmann, »Streit um den Islam-Theologen Mouhanad Khorchide. Wer prägt die Islamische Theologie in Deutschland?« (2013), de.qantara.de/inhalt/streit-um-den-islam-theolo gen-mouhanad-khorchide-wer-praegt-die-islamische-theologie-in (19. 7. 2020). 20 Siehe dazu: Jan Felix Engelhardt, Islamische Theologie im deutschen Wissenschaftssystem. Ausdifferenzierung und Selbstkonzeption einer neuen Wissenschaftsdisziplin, Wiesbaden 2017.

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Dies ist auch darum wichtig, weil in Fragen theologischer Inhalte wie im Rahmen des Religionsunterrichts im Sinne des Art. 7 Abs. 3 GG seine Inhalte in Übereinstimmung mit den Grundsätzen der jeweiligen Religionsgemeinschaften erteilt werden. Bedingung hierfür sei jedoch, dass eine »nicht akzeptable Art und Weise« der Einflussnahme auf den Wissenschaftsbetrieb vermieden wird.21 Im Bereich der Islamischen Theologie werden die Grenzen gerade abgesteckt und selbst die christlichen Theologien, die bekanntermaßen eine lange Geschichte in Europa bzw. Deutschland aufweisen, müssen sich dieser Herausforderung noch immer stellen. Auch hier scheint nicht »geklärt« zu sein, wo die Grenzen genau verlaufen oder zu verlaufen haben. So konstatiert Schweitzer, dass die zu starken Erwartungen der »abnehmenden Seite«, also etwa der Kirchen, die die Absolventinnen und Absolventen später einstellen sollen, problematisch seien: »Entsprechend spannungsvolle Diskurse finden sich im evangelischen Bereich beispielsweise in Synoden, die sich mit dem Studium aus sehr unterschiedlichen Gründen unzufrieden zeigen (›zu wenig an sozialen Fragen ausgerichtet‹, ›zu wenig auf Spiritualität bedacht‹, ›zu wenig missionarisch‹ usw.), aber auch in Veröffentlichungen von Kirchenleitungen beispielsweise über die Zukunft von Kirche (besonders umstritten: EKD 2006: ›Kirche der Freiheit‹).«22

Die Mitwirkung in Schule und Hochschule, so Schweitzer weiter, dürfe sich niemals gegen »wissenschaftliche Erkenntnisse« wenden, auch solle sich die (evangelische) Kirche nur dem »Prinzip der Wahrheit« unterstellen.23 Doch stellt diese Darstellung weder die Rechte der Theologien an den Universitäten noch eine ausreichende Differenzierung dessen dar, was denn diese ›Wahrheit‹ sei, da sie in dieser Form der Abgrenzung wie Gegensätze erscheinen, was nicht zulässig ist.24

21 Rohe, Der Islam in Deutschland, S. 295. 22 Friedrich Schweitzer, »Kirchliche Mitwirkung im staatlichen Bildungswesen? Die Praxis der Kooperation von Kirche und Staat in Schule und Hochschule aus evangelischer Perspektive«, in: Freiheit der Forschung und Lehre?, hrsg. von Rauf Ceylan und Clauß Peter Sajak, Wiesbaden 2017, S. 249–265, hier S. 260. 23 Ebd. 24 In diesem Sinne verstehe ich auch Karl Jaspers: »Ein bewiesener Gott ist kein Gott. Daher: Nur wer von Gott ausgeht, kann ihn suchen. Eine Gewissheit vom Sein Gottes, mag sie noch so keimhaft und unfassbar sein, ist Voraussetzung, nicht Ergebnis des Philosophierens.« In: Karl Jaspers, Der philosophische Glaube angesichts der Offenbarung, München 1963, S. 30. und »Denn sowenig Gottes Dasein bewiesen werden kann, ebenso wenig sein Nichtdasein. Die Beweise und ihre Widerlegungen zeigen nur: ein bewiesener Gott ist kein Gott, sondern wäre bloß eine Sache in der Welt.« Karl Jaspers, Einführung in die Philosophie, München 1989, S. 34.

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Für den evangelischen Theologen Jürgen Moltmann sind alle »Christen, ob jung oder alt, ob Frau oder Mann, die glauben und etwas dabei denken […] Theologen«.25 Somit sei die akademische Theologie »nichts anderes als die wissenschaftliche, d. h. methodisch nachprüfbare und nachvollziehbare, geistige Durchdringung und Erhellung dessen, was Christen in den Gemeinden sich dabei denken, wenn sie an Gott glauben und in der Gemeinschaft Christi leben«.26

Auch der – nachvollziehbare – Wunsch, der ebenfalls angebracht wird, die Berufsperspektiven für Absolventen der Theologien breit aufzustellen, darf nicht auf Kosten der Qualität theologischer Studien und des Religionsunterrichts geschehen.

3.

Status der organisierten Muslime sowie der theologischen bzw. konfessorischen Beiräte

Auch wenn der Status der organisierten Muslime bzw. der muslimischen Verbände27 noch immer nicht endgültig geklärt ist in der Frage, ob diese auch als ›Religionsgemeinschaft‹ im Sinne des Grundgesetzes anerkannt sind, hat das Projekt Islamische Theologie bzw. Islamischer Religionsunterricht bereits begonnen. Oebbecke sieht neben »großen Unsicherheiten im Umgang mit der Situation« vor allem in Bezug auf die Imamausbildung, die nicht von den organisierten Muslimen ausgegangen sei, einen politischen Willen, der das Projekt vorantreibe: »Der Vorgang zeigt aber auch, dass die Hochschulpolitik in Land und Universität mit der Deckung des von ihr identifizierten Bedarfs an bekenntnisgebundener Wissenschaft vom Islam nicht gewartet hat, bis die rechtlichen Fragen, die für den Parallelfall Religionsunterricht seit langen Jahren diskutiert werden, geklärt sein würden. Wo ein Wille ist, wird politisch auch vorwärts gegangen, wenn rechtlich ein Weg (noch) nicht erkennbar ist. Das Interesse – mindestens was die Imamausbildung angeht, praktisch ausschließlich das Interesse des Staates, nicht der organisierten Muslime – an der

25 Jürgen Moltmann, Erfahrungen theologischen Denkens. Wege und Formen christlicher Theologie, Gütersloh 1999. S. 25. Zitiert nach: Martin H. Jung, Einführung in die Theologie, Darmstadt 2004, S. 46f. 26 Ebd., S. 47. 27 Für einen guten Überblick über die muslimischen Verbände siehe: Rohe, Der Islam in Deutschland, S. 117–173. Peter Antes/Rauf Ceylan (Hgg.), Muslime in Deutschland. Historische Bestandsaufnahme, aktuelle Entwicklungen und zukünftige Forschungsfragen, Wiesbaden 2016.

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Etablierung islamischer Theologie lässt auch rechtliche Unsicherheiten in Kauf nehmen.«28

An den meisten Standorten wird die Islamische Theologie von (theologischen/ konfessorischen) Beiräten begleitet. Der Beitrag dieses Beirats entspricht in etwa den Mitwirkungsrechten der christlichen Kirchen in theologischen Instituten, namentlich der Mitwirkung bezüglich der Zustimmung zu Studieninhalten und der Besetzung von Professuren und Juniorprofessuren nach Abschluss des hochschulinternen Verfahrens in Form einer Einverständniserklärung.29 Dadurch sind die muslimischen Gemeinden mittelbar in den Prozess der Etablierung der Islamischen Theologie und Religionspädagogik in Deutschland eingebunden. Das hat auch dazu geführt, dass sowohl das Maß staatlichen Einflusses als auch die Rolle der muslimischen Verbände noch immer höchst umstritten sind. Heinig sieht die Beiratslösung primär als Strategie »zur Schaffung politischer Akzeptanz durch die Einbindung theologischer Expertise jenseits der Verbände und die Beteiligung nichtorganisierter Muslime«,30 da die politischen Verantwortlichen die Reaktionen der Bevölkerung befürchteten, die dem Islam gegenüber misstrauisch sei. Daher warnt er bereits 2011 vor einem »›Staatsislam‹ durch die Hintertür«, wenn der Staat sich seine Kooperationspartner selbst aussuche und dadurch die religiös-weltanschauliche Neutralität gefährde.31 Die Glaubensbindung der Theologien hat Konsequenzen für die Lehre an den Universitäten. Die historischen Ursachen (Renaissance, Aufklärung), die zu einer Differenzierung zwischen Religionswissenschaft und Theologie geführt haben, schlagen sich auch im Grundgesetz nieder. Entsprechend obliegt die Ordnung und Verwaltung der eigenen Angelegenheiten den jeweiligen Religionsgemeinschaften. 28 Oebbecke, »Islamische Theologie an deutschen Universitäten«, S. 267. 29 Zum Diskurs um die Beiräte siehe auch: Rauf Ceylan, »Implementierung Theologischer Beiräte für die neue Wissenschaftsdisziplin Islamische Theologie«, in: Das wissenschaftsorganisatorische Verhältnis der Theologie zu den Religionsgemeinschaften. Freiheit der Forschung und Lehre?, hrsg. von Rauf Ceylan und Clauß Peter Sajak, Wiesbaden 2017, S.266–291. Oebbecke bezeichnet die Beiräte – passend – als »Ausübungsorgan für die Rechte von Religionsgemeinschaften«. Oebbecke, »Islamische Theologie an deutschen Universitäten«, S.277. 30 Hans-Michael Heinig, »Islamische Theologie an staatlichen Hochschulen in Deutschland«, in: Zeitschrift für Islamisches Kirchenrecht 56.3 (Jahr), S. 238–261, hier S. 256. 31 Ebd., S. 56. Auch die christlichen Kirchen äußerten ihre Bedenken gegen das Beiratsmodell, was etwa im Rahmen der o. g. Kleinen Anfrage der Grünen-Fraktion zum Ausdruck gebracht wurde: »Welche Schlussfolgerungen und Konsequenzen zieht die Bundesregierung aus Bedenken der christlichen Kirchen, dass über diese Beiratslösungen für die Islamische Theologie die grundgesetzlich geschützte Konfessionalität des Religionsunterrichts sowie der Theologischen Fakultäten und Institute unterlaufen werden könnte?« Die Antwort zu dieser Frage wurde mit der Frage verknüpft, deren Antwort unter der Fußnote 29 dieser Dissertation ausgeführt wird.

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»Die Wissenschaftsfreiheit, die staatliche Universitäten und Fakultäten gegenüber dem Staat genießen, kann diese Staatsfreiheit alleine nicht hinreichend garantieren. Denn in der Theologie kreuzen sich, systemtheoretisch gesprochen, zwei Systemcodierungen: der Code der Wissenschaft (wahr/unwahr) und der der Religion (Glaube/Unglaube). Die Wissenschaftsfreiheit flankiert nur die funktionale Ausdifferenzierung der Wissenschaft, nicht aber die der Religion. Wissenschaftsfreiheit bezieht sich nur auf den Code eines, des wissenschaftlichen, Systems. Als glaubensbezogene Wissenschaft verlangt die Theologie aber eine additive Aktivierung der Religionsfreiheit in ihrer Funktion als verfassungsrechtlich intendiertem Autonomieschutz eines bestimmten Lebensbereichs.«32

Doch indem Ergebnisse der modernen Wissenschaft und Forschung mit Glaube und Dogma konfrontiert würden, erhoffe sich der Staat auch durch entsprechend ausgebildete Geistliche eine Rückwirkung auf die theologische Praxis – etwa durch interdisziplinären Austausch, der an den Universitäten gewährleistet sei.33 Entsprechend empfiehlt der Wissenschaftsrat die Institutionalisierung der Islamischen Theologie an einer »Philosophischen oder Kulturwissenschaftlichen« Fakultät.34 Einerseits solle durch die Mitwirkung der Religionsgemeinschaften eine ›feindliche Übernahme‹ verhindert werden, so Heinig, andererseits ist die Einwirkung der Religionsgemeinschaft (derzeit über die Beiräte) auf ausschließlich religiöse Inhalte begrenzt – in sonstigen Fragen beispielsweise wissenschaftlicher Kriterien oder Ansprüche haben die Beiräte kein Mitspracherecht. Entsprechend gehen sowohl personelle Besetzungen sowie Einführung und Änderungen von Lehrplänen immer zunächst über den üblichen Gremienweg der Universitäten und werden schließlich dem Beirat für das Votum vorgelegt. So werden die Beiräte vor allem in Fragen der Lehrpläne und des Personals wie etwa im Falle von (Junior-)Professor:innen eingebunden. Für Oebbecke besteht aufgrund der Bedeutung der Verbände für die Realisierung und Wahrnehmung der neuen Angebote (Islamische Theologie und Islamischer Religionsunterricht) faktisch ein Kooperationsbedarf der Länder und Hochschulen mit den Vertretern der Muslime. »Der Umstand, dass die zuständige religiöse Stelle eine Torwächterposition einnimmt, bei Religionslehrern über ihre Zustimmung und bei geistlichem Personal als Arbeitgeber, nötigt die Hochschule also schon faktisch dazu, durch organisatorische Maßnahmen auf klar geäußerte Einwände gegen die Tätigkeit bestimmter Personen zu reagieren, jedenfalls wenn diese wie hier nachvollziehbar begründet werden.«35

32 Heinig, »Islamische Theologie an staatlichen Hochschulen in Deutschland«. Siehe auch: Art. 140GG i. V. m. Art. 137 Abs. 3 WRV. 33 Ebd. 34 Wissenschaftsrat, »Empfehlungen zur Weiterentwicklung von Theologien und religionsbezogenen Wissenschaften an deutschen Hochschulen«, S. 78. 35 Oebbecke, »Islamische Theologie an deutschen Universitäten«, S. 267.

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Während Oebbecke in dem Beiratsmodell einerseits eine Übergangslösung sieht, die jedoch im Falle ihrer Bewährung durchaus »Traditionsgut«36 werden könne, was nicht unüblich sei,37 können die Beiräte aus Sicht von Rohe nur »für einige Zeit als rechtlich abgesichert gelten, jedoch keine Dauerlösung sein« und daher sei es »erforderlich, den Übergang zur Kooperation mit den bestehenden bzw. entstehenden Religionsgemeinschaften zu planen.«38 In einigen Bundesländern ist man – trotz Lehrbetrieb seit 2012 – noch weit von einer angemessenen (Übergangs-)Lösung entfernt. Nicht nur aus muslimischer Sicht wird deutliche Kritik an aktuellen Modellen – zum Beispiel in NRW – geübt.39 Hier gründete unter anderem die Staatssekretärin für Integration, Serap Güler, gemeinsam mit dem Direktor des Zentrums für Islamische Theologie (ZIT) an der Universität Münster, Mouhanad Khorchide, eine muslimische Gemeinde, die auch als Ansprechpartnerin für die Politik zur Verfügung stehe.40 Abschließend zu diesem Thema kann ich – als Geschäftsführer des Konfessorischen Beirats an der Universität Osnabrück – für Niedersachsen in Bezug auf die Kooperation zwischen der Universität Osnabrück und den muslimischen Landesverbänden, die über entsandte Theologinnen und Theologen in dem Beirat vertreten werden, eine vertrauensvolle Zusammenarbeit konstatieren. Auch wenn es in manchen Fällen und Fragen unterschiedliche Ansichten und Widerstände gab, konnten Bedenken ausgeräumt und Lösungen gefunden werden. Der Beirat kann ausschließlich aus ›religiösen Gründen‹ Einwände zu Personal- oder Lehrplan-Entscheidungen erheben. Wissenschaftliche Anforderungen und Kriterien, die auch bei theologischen Studiengängen41 über den üblichen Gremienweg der Universitäten beschlossen werden, sind nicht beeinträchtigt. Ob diese Konstruktion am Ende den verfassungsrechtlichen Vorgaben entspricht, muss an anderer Stelle entschieden werden.

36 Formulierung nach von Axel von Campenhausen/Heinrich de Wall, Staatskirchenrecht, München 42006, S. 104, Fußn. 53. 37 Oebbecke, »Islamische Theologie an deutschen Universitäten«, S. 278. 38 Rohe, Der Islam in Deutschland, S. 297. 39 Für NRW siehe: Andreas Otto, »NRW sucht nach neuer Basis für islamischen Religionsunterricht. Gesetzentwurf der Regierungskoalition löst Kritik aus« (21. 5. 2019), www.domradio .de/themen/islam-und-kirche/2019-05-21/gesetzentwurf-der-regierungskoalition-loest-kriti k-aus-nrw-sucht-nach-neuer-basis-fuer-islamischen (Abruf: 20. 11. 2020); KNA, »KRM kritisiert Kommissionsmodell für Islamunterricht« (27. 5. 2019), www.islamiq.de/2019/05/27/k rm-kritisiert-kommissionsmodell-fuer-islamunterricht (Abruf: 20. 10. 2020). 40 Till-Reimer Stoldt, »Staatsreligion made in NRW?« (30. 3. 2019), www.welt.de/regionales/n rw/article191070125/Kritiker-werfen-dem-Land-vor-am-deutschen-Staatsislam-zu-arbeiten. html (Abruf: 20. 11. 2020). 41 Entsprechend auch bei christlichen Studiengängen.

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4.

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Islamischer Religionsunterricht zwischen ›subjektiver‹ und ›objektiver Religion‹

Die Bildungsaufträge sowie theologischen und didaktischen Einordnungen des Islamischen Religionsunterrichts können den jeweiligen Curricula entnommen werden. Als Bestandteil des staatlichen Erziehungsauftrages in der Schule basiert auch der Islamische Religionsunterricht auf den Werten des Grundgesetzes. Er ist bekenntnisorientiert und soll durch systematische Angebote islamischer Glaubensgrundlagen zur »begründeten Annahme und Identifikation des Glaubens befähigen«42. Entsprechend dem niedersächsischen Kerncurriculum für den Islamischen Religionsunterricht für die Sekundarstufe I heißt es, dass es im Islamischen Religionsunterricht sowohl um die »verstehende Einübung der rituellen Praxis« als auch um die »Reflexion der Glaubensinhalte und Glaubenspraxis« gehen müsse.43 Als Ziele des Islamischen Religionsunterrichts werden unter anderem der Erwerb der Grundkenntnisse über die Religion und die Entwicklung einer persönlichen religiösen Sprache genannt.44 Wichtig ist hierbei, dass sich die Schülerinnen und Schüler auch in Bezug auf ihren Glauben in deutscher Sprache artikulieren können. Des Weiteren wird die Erlangung der Religionsmündigkeit durch die Förderung der Kritikfähigkeit angeführt. Der interreligiöse und interkulturelle Austausch soll Akzeptanz und Toleranz dem Anderen gegenüber bewirken.45 Hierzu gibt der folgende Auszug aus einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 25. 2. 1987 prägnant den Gegenstand und die Sonderstellung des Religionsunterrichts an deutschen Schulen wieder: »Seine Sonderstellung gegenüber anderen Fächern gewinnt der Religionsunterricht aus dem Übereinstimmungsgebot des Art. 7 Abs. 3 Satz 2 GG. Dieses ist so zu verstehen, dass er in ›konfessioneller Positivität und Gebundenheit‹ zu erteilen ist. Er ist keine überkonfessionelle vergleichende Betrachtung religiöser Lehren, nicht bloße Morallehre, Sittenunterricht, historisierende und relativierende Religionskunde, Religionsoder Bibelgeschichte. Sein Gegenstand ist vielmehr der Bekenntnisinhalt, nämlich die Glaubenssätze der jeweiligen Religionsgemeinschaft. Diese als bestehende Wahrheiten zu vermitteln ist seine Aufgabe.«

Daran kann sich auch die islamische Religionspädagogik orientieren. Entsprechend muss sie zunächst ihre Forschung auf Grundlage islamischer Quellen und des damit einhergehenden Gottes- und Menschenbildes betreiben. Des Weiteren bietet die (europäische) Geschichte der Religionspädagogik einen enormen 42 Niedersächsisches Kultusministerium (Hg.), Islamische Religion, Kerncurriculum für die Schulformen des Sekundarbereichs I – Schuljahrgänge 5–10, Hannover 2014, S. 5–7. 43 Ebd. 44 Niedersächsisches Kultusministerium (Hg.), Islamische Religion, Grundschule, Hannover 2010, S. 8. 45 Ebd.

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Schatz an Erfahrungen und Konzepten, der auch für die islamische Religionspädagogik fruchtbar gemacht werden kann. Hierzu bedarf es jedoch einer reflektierten Beschäftigung mit ihrer Entwicklung und zahlreichen Verästelung in den vergangenen Jahrhunderten. Englert konstatiert aktuell, dass der Religionsunterricht vor allem zwei Intentionen verfolgen müsse:46 1. Er müsse mit einer substantiellen religiösen Tradition wie der jüdisch-christlichen Überlieferung so bekannt machen, dass dem Eigen-Sinn dieser Tradition gebührend Rechnung getragen wird (Glaube/ Tradition – Abb. 1) und 2. Kindern und Jugendlichen die Quellen und Traditionen so verfügbar machen, dass sie zu eigener religiöser Orientierungs- und Ausdrucksfähigkeit finden (Leben/Erfahrung – Abb. 1). Damit benennt er im Grunde grob jene Pole, zwischen denen sich der ›Religionsunterricht‹ bzw. die religiöse Unterweisung bereits spätestens seit Anfang des 19. Jh. bewegt.

Abbildung 147

Abbildung 1 verdeutlicht die Bandbreite und Tendenz des Religionsunterrichts seit etwa 1820, der – wenn auch in Wellenform – sukzessiv von der »objektiven

46 Rudolf Englert, Religionspädagogische Grundfragen. Anstöße zur Urteilsbildung, Stuttgart 2011, S. 213. 47 Quelle: Herbert Zwergel, »Vorlesung SoSe 2008 – Grundlagen des Lernens und Lehrens im Religionsunterricht«, studylibde.com/doc/2333554/grundlagen-des-lernens-und-lehrens-im -religionsunterricht (Abruf: 18. 10. 2020).

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Religion«48 (Glaube/Tradition) in den Bereich der »subjektiven Religion« (Leben/ Erfahrung) tendiert. In diesem Zeitraum fanden rege und ertragreiche Debatten in Bezug auf Form und Inhalt religiöser Unterweisungen statt, die zu sehr interessanten Konzepten geführt haben. Rainer Lachmann ist zuzustimmen, wenn er konstatiert, dass »[r]eligionsdidaktische Historienschau […] nicht nur problemsichtig und urteilsfähig mache[…], sondern sie befreit auch; denn wir müssen den religionspädagogischen ›Stein der Weisen‹ nicht immer wieder neu (er-)finden, sondern können und dürfen auch stets auf ›Alt-Bewährtes‹ in kritisch konstruktiver Adaption zurückgreifen.«49

Dies trifft in doppelter Hinsicht auf muslimische Religionspädagogen zu. Einerseits können Muslime viel aus dieser Geschichte lernen, gleichwohl muss bewusst sein, dass christliche Vorstellungen und ihre Begrifflichkeiten die Theologie und ihre Bezugswissenschaften dominieren. Auch vermeintlich neutrale Begriffe wie ›Spiritualität‹ oder ›Theologie‹ haben ihren Ursprung im Christentum. Eine unreflektierte Übernahme der Begriffe und Konzepte birgt die Gefahr, dass Inhalte transportiert werden, die ein mit fremden Vorstellungen ›belastetes‹ Gottes- oder Menschenbild vermitteln. Mit den Worten von Körtner: »Die problematische Übertragung […] eines von Hause aus christlichen Begriffs auf nichtchristliche Religionen erweckt den Eindruck, als stimmten alle Religionen im Wesentlichen überein, wobei das Wesen von Religion in einem eher diffusen Sinne als ›mystisch‹ bestimmt wird. Daß es dabei zur Verzeichnung und Vereinnahmung fremder Religionen kommt, scheint vielen Menschen gar nicht bewusst zu sein«50

Die eingangs dargelegte Herausforderung, wie eine Form religiösen Lehrens und Lernens zwischen subjektorientiertem Stil heutigen Religionsunterrichts und der Vermittlung substantieller religiöser Überlieferung und Normen gelingen kann, gilt für alle Konfessionen bzw. Religionen gleichermaßen. Wie kann Religionsunterricht den ( jungen) Menschen, die zum Teil nach Sinn und Orientierung suchen, sein Potenzial am besten entfalten? Was muss sich ändern und welche 48 Konzept siehe: Rainer Lachmann, »Geschichte der Religionspädagogik bis Anfang des 20.Jahrhunderts – didaktische Schlaglichter«, in: Religionspädagogisches Kompendium, hrsg. von Gottfried Adam, Rainer Lachmann und Martin Rothgangel, Göttingen 2013, S.53–72, hier S. 66 und Rudolf Englert, Religionspädagogische Grundfragen: Anstöße zur Urteilsbildung, Stuttgart 2007, S. 212. 49 Ebd., S. 71. 50 Ulrich H. J. Körtner, Wiederkehr der Religion? Das Christentum zwischen neuer Spiritualität und Gottvergessenheit, Gütersloh 2006. Zitiert nach: Isabelle Morgenthaler/Christoph Noth, »Eine kulturell sensible Religionspsychologie und klinische Beratungspsychologie – Wunsch oder Wirklichkeit?«, in: Pastoralpsychologie und Religionspsychologie im Dialog / Pastoral Psychology and Psychology of Religion in Dialogue (Praktisch Theologie heute 115), hrsg. von Isabelle Noth, Christoph Morgenthaler und Kathleen J. Greider, Stuttgart 2011, S. 136–154, hier S. 139.

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Vorkehrungen müssen getroffen werden, damit vermieden werden kann, dass Schülerinnen und Schüler, die 13 Jahre lang den Religionsunterricht besuchen, kaum über Kenntnisse im Bereich der Religion verfügen?51 Bei der Beantwortung dieser Fragen lohnt es sich durchaus zurück zu blicken, um – bereichert mit Erkenntnissen – vorwärts zu schreiten. Der Islamische Religionsunterricht sollte dementsprechend darauf abzielen, auf Basis dieser Erkenntnisse und aus den Glaubensgrundlagen heraus den Schülerinnen und Schülern Kompetenzen und Werte zu vermitteln, die ihnen im Hier und Jetzt Halt, Orientierung und eben auch Sinn bieten – was nicht mit der ›Kompetenz‹ verwechselt werden darf, religiöse Quellen seinen ›Bedürfnissen‹ entsprechend zu interpretieren.

5.

Zum Schluss – Extremismusprävention

Es gibt eine rege Diskussion darüber, inwieweit dem Islamischen Religionsunterricht oder der Islamischen Theologie eine Rolle bei der Prävention von religiösem Extremismus zukommt. Kritiker – vor allem auf muslimischer Seite – unterstellen, dass gerade durch diese Diskussion eine besondere Gewaltbereitschaft im Islam suggeriert werde und die islamtheologischen Einrichtungen etwa durch Tagungen zu religiösem Extremismus zu Terrorabwehr-Einrichtung abgewertet würden.52 Auch wenn Bedenken in dieser Hinsicht verständlich sind, wäre es naiv zu glauben, dass man sich dieses Themas durch bloßes Ignorieren entledigen könnte. Gerade vor dem Hintergrund aktueller Ereignisse (unter anderem die Terroranschläge um den Karikaturen-Streit), können besonders muslimische Theolog:innen und Lehrer:innen nicht die Augen vor diesem Thema verschließen. Auch wenn es sich bei den Extremisten um eine sehr kleine Minderheit handelt, geht doch eine große Gefahr von ihnen aus, auch für das friedliche Zusammenleben. Entsprechend muss dieses Thema – als eines von vielen weiteren – als Gegenstand des Unterrichts behandelt werden, um vor allem die Schülerinnen und Schüler in dieser Hinsicht aufzuklären und zu wappnen53 51 Grethlein, Chr., »Religionspädagogik ohne Inhalt? Oder: Was muss ein Mensch lernen, um als Christ leben zu können?«, in: Zeitschrift für Theologie und Kirche 100 (2003), S. 118–145, hier S. 118; aus: Englert, Religionspädagogische Grundfragen, S. 209. 52 Vgl. Mustafa Ayanoglu, »Hoffnung auf Normalität – Islamische Theologie an deutschen Universitäten«, Interview von Mustafa Ayanoglu (u. a.) mit Constantin Wagner (et al.) (8. 9. 2020), www.ufuq.de/hoffnung-auf-normalitaet-islamische-theologie-an-deutschen-universi taeten/Kandemir (Abruf: 20. 11. 2020); Elif Zehra, »Weg vom Populismus, hin zum Kernproblem« (8. 2. 2016), www.islamiq.de/2016/02/08/weg-vom-populismus-hin-zum-kernprob lem (Abruf: 8. 10. 2020). 53 Dies wird bzw. wurde auch für den Lehrplan des Evangelischen und Katholischen Religionsunterrichts gefordert. Helmut Hanisch hat sich mit diesem Thema beschäftigt und er-

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Gerade Menschen, die ihren Glauben praktizieren und diesen ernst nehmen, können nicht unbeteiligt bleiben, wenn im Namen ihrer Religion Verbrechen verübt werden. Wie auch aus den Forschungen von Sageman (siehe oben) hervorgeht, kann eine Kernfunktion des Religionsunterrichts – die Vermittlung authentischer Glaubensinhalte – bereits eine Form der Extremismusprävention sein und hat somit auch integrationsfördernde Wirkung. Denn auch wenn »Integration« nicht (Haupt-)Ziel des (Islamischen) Religionsunterrichts ist, so ist sie dadurch doch ihre unausweichliche Folge. Ein weiteres Argument, welches von Uçar gegen die bloße Integrationsfunktion des Islamischen Religionsunterrichts angebracht wird, ist der Eigenwert der Religion bzw. der Religiosität, welche nicht zu einem bloßen Werkzeug für Integration gemacht werden dürfe. »Es geht hier um mehr als um Wissensvermittlung oder eine Funktionalisierung des Religionsunterrichts als Mittel der Integration, und zwar hat das Fach Religion eine sinnstiftende und Orientierung gebende Bedeutung.«54 Uçar bestreitet mit dieser Aussage keineswegs die integrative Wirkung des Islamischen Religionsunterrichts. Vielmehr kritisiert er den mit der Forderung nach Integration einhergehenden Generalverdacht gegen den Islam und einen etwaigen »Integrationsunterricht« zu dem der Islamische Religionsunterricht degradiert würde.55 Die Tatsache, dass der Islam nun rechtlich peu à peu mit dem Judentum, dem orthodoxen, dem katholischen und dem evangelischen Christentum in Bezug auf den Religionsunterricht faktisch gleichgestellt wird, hat eine integrative Wirkung. Die Anerkennung und Gleichberechtigung fördert die Identifikation mit Schule, Land und Gesellschaft und trägt damit seinen Teil zur Beheimatung und Integration der Muslime in Deutschland bei.56

örtert religionspädagogische Konsequenzen im Hinblick auf den Umgang mit Schülerinnen und Schülern, die »unterrichtliche Kommunikationsprozesse immer wieder dadurch belasten, dass sie auf bestimmten Glaubenspositionen beharren und fordern, dass sie ebenso von Anderen geteilt werden.« Helmut Hanisch, »Wahrnehmung von Fundamentalismus und Toleranz im Religionsunterricht«, in: Religionspädagogische Beiträge. Zeitschrift der Arbeitsgemeinschaft Katholische Religionspädagogik und Katechetik (AKRK) 61 (2008), S. 87– 100, hier S. 99. 54 Bülent Uçar, »Was kann und sollte Islamische Religionspädagogik in der staatlichen Schule leisten?«, in: CIBEDO-Beiträge 4 (2008), S. 24–30, hier S. 26. 55 Ebd., S. 27. 56 Vgl. auch: Rohe, Der Islam in Deutschland, S. 292. Siehe auch: Cos¸kun Sag˘lam, »Die Rolle des islamischen Religionsunterrichts bei der Integration von Muslimen und als pädagogisches Konzept gegen religiösen Extremismus«, in: Zeitschrift für Jugendkriminalrecht und Jugendhilfe (März 2013), S. 43–47, hier S. 47.

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Schweitzer, Friedrich, »Kirchliche Mitwirkung im staatlichen Bildungswesen? Die Praxis der Kooperation von Kirche und Staat in Schule und Hochschule aus evangelischer Perspektive«, in: Freiheit der Forschung und Lehre?, hrsg. von Ceylan Sajak, Wiesbaden 2017, S. 249–265. Sıraçog˘lu, Halil, »›Die Debatte‹: Kritische Betrachtung von Grundthesen und Methodik der ›Theologie der Barmherzigkeit‹« (16. 11. 2013), www.islamische-zeitung.de/die-debatte -kritische-betrachtung-von-grundthesen-und-methodik-der-theologie-der-barmherzi gkeit-von-halil-siracoglu (Abruf: 20. 11. 2020). Stoldt, Till-Reimer, »Staatsreligion made in NRW?« (30. 3. 2019), www.welt.de/regionales/n rw/article191070125/Kritiker-werfen-dem-Land-vor-am-deutschen-Staatsislam-zu-arb eiten.html (Abruf: 20. 11. 2020). IslamiQ, »Theologie der Barmherzigkeit – KRM-Gutachten zu den Thesen Mouhanad Khorchides veröffentlicht« (17. 12. 2013), www.islamiq.de/2013/12/17/krm-gutachtenzu-den-thesen-mouhanad-khorchides-veroeffentlicht (Abruf: 19. 7. 2020). Uçar, Bülent, »Was kann und sollte Islamische Religionspädagogik in der staatlichen Schule leisten?«, in: CIBEDO-Beiträge 4 (2008), S. 24–30. Uçar, Bülent/Cos¸kun Sag˘lam, »Islamische Religionspädagogik in Deutschland. Stand der Einrichtung – Personal – Arbeitsschwerpunkte«, in: Zeitschrift für Pädagogik und Theologie 64.1 (März 2012), S. 13–25. Wissenschaftsrat, »Empfehlungen zur Weiterentwicklung von Theologien und religionsbezogenen Wissenschaften an deutschen Hochschulen. Drs. 9678–10/Berlin« (29. 1. 2010), www.wissenschaftsrat.de/download/archiv/9678-10.pdf (Abruf: 20. 11. 2020). Zehra, Elif, »Weg vom Populismus, hin zum Kernproblem« (8. 2. 2016), www.islamiq.de /2016/02/08/weg-vom-populismus-hin-zum-kernproblem (Abruf: 8. 10. 2020). Zwergel, Herbert, »Vorlesung SoSe 2008 – Grundlagen des Lernens und Lehrens im Religionsunterricht«, studylibde.com/doc/2333554/grundlagen-des-lernens-und-lehrens-im -religionsunterricht (Abruf: 18. 10. 2020).

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Kontextbezogen – Vernunftbasiert – Lebensweltorientiert. Bildungstheologische und didaktische Bestimmungen des Islamischen Religionsunterrichts

Ausgehend vom Grundrecht auf religiöse Bildung nach Artikel 7, Absatz 3 des Grundgesetzes reflektiert der folgende Beitrag die Grundideen eines islamischen Religionsunterrichts (IRU) im europäischen Kontext. Bei aller Klarheit dieses Anspruchs kann man leider nicht davon ausgehen, dass der IRU trotz des enormen Interesses seitens der Muslim:innen, der Bundesländer und des Bundes nach der bisherigen 10-jährigen Praxiserfahrung zur Normalität in der Bildungslandschaft Deutschlands geworden ist. Auch wenn es noch keine rechtliche und strukturelle Klarheit zur flächendeckenden Etablierung eines solchen Bildungsangebots für junge Muslim:innen im öffentlichen Raum gibt, werden im Beitrag bewusst die sich erschöpfenden juristischen Debatten ausgeklammert und der Fokus auf bildungstheoretische und religionspädagogische Reflexionen gelegt. In diesem Sinne werden – in Anlehnung an Luhmanns Fachterminus – der Zustand der doppelten Kontingenz1 im Umgang mit einem augenscheinlich uneinlösbaren Anspruch auf einen IRU als reguläres Fach bildungstheoretisch relevante Zielsetzungen, religionspädagogische Potenziale und fachdidaktische Ansätze skizziert und abschließend auf ihre Bedeutung für eine zukunftsfähige Perspektive fokussiert.

1.

Praxis ja, aber bitte ohne Anspruch!

Die inzwischen kaum durchschaubare Kontroverse über die (Un)Realisierbarkeit eines IRU2 bezieht sich unter anderem auf das Fachprofil dieses Schulfaches, das je nach juristischem Rahmen in verschiedenen Bundesländern als ›Islami1 Vgl. Siehe dazu: Jurit Kärtner, »Das Problem der doppelten Kontingenz als Ausgangsproblem des Sozialen und der soziologischen Theorie. Vorschlag zu einer Systematisierung der soziologischen Systemtheorie Niklas Luhmanns«, in: Zeitschrift für theoretische Soziologie 4.1 (2015), S. 60–88. 2 Mehr dazu u. a.: Thorsten Anger, Islam in der Schule. Rechtliche Wirkungen der Religionsfreiheit und der Gewissensfreiheit sowie des Staatskirchenrechts im öffentlichen Schulwesen,

292

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scher Religionsunterricht‹, ›Islamkunde‹ oder ›Islamunterricht‹ bezeichnet wird. »Viele Titel – ein Fach?«, fragten sich einst die Islamwissenschaftler Mohr und Kiefer vor gut zehn Jahren und blickten damals auf eine fast zehnjährige Debatte über eine mögliche Einführung eines angemessenen Bildungsangebotes für junge Muslim:innen angesichts zunehmender Vehemenz der Debatte über die gesellschaftliche und politische Integration in Deutschland zurück.3 Die Frage lautete damals wie auch heute: Ist das Problem nun politisch, strukturell oder institutionell unlösbar? Offenbar doch, insofern das Problem – unserer Einschätzung nach – an einem berechtigten Kritikpunkt festzumachen ist, der konzeptionell weiterhin eine Hürde darstellt. Der Islamwissenschaftler Jamal Malik bringt die latente Skepsis gegenüber dem Schulfach wie folgt auf den Punkt: »Der Unterricht soll eine Lesart des Islams vermitteln, die sich kollisionsfrei in eine werteplurale Gesellschaft einfügen lässt. Darüber hinaus soll der hiesige islamische Religionsunterricht ein Gegengewicht bilden zum althergebrachten Koranunterricht mancher Gemeinden, der nicht selten im Verdacht steht, antidemokratische und integrationsfeindliche Auffassungen zu befördern.«4

Man kann inzwischen folgenden Trend beobachten: Die juristische, aber auch politische Debatte um den rechtlichen Status eines IRU hat inzwischen eine eigene institutionelle Dynamik entwickelt. Sie entkoppelt sich nach eigener Einschätzung zunehmend vom wissenschaftlichen Diskurs der neuen Disziplin Islamische Religionspädagogik (IRP). Dieser schleichende Entkopplungsprozess ist zwar für die strukturelle Abstimmung der Rahmenbedingungen ungünstig, aber er bringt den Vorteil mit sich, dass die junge wissenschaftliche Disziplin der IRP in ihrer wissenschaftlichen Profilbildung unabhängiger wird und neue Fachprofile unter Rahmenbedingungen des säkularen Staates und unter Berücksichtigung der Lebenswirklichkeit von jungen Muslim:innen entwickeln kann. Darum soll es im Folgenden gehen und nicht um die politische Debatte. Für Fachvertreter:innen der IRP stellt die aktuelle Debatte wahrhaftig ein ernsthaftes Dilemma dar: Bestände man auf den im Grundgesetz (GG) garantierten Anspruch, so läuft man Gefahr, dass das Angebot angesichts der fehlenden anerkannten Religionsgemeinschaft eingestellt wird. Ließe man sich dagegen auf die juristisch mögliche Alternative z. B. einer Islamkunde ein, dann läuft man Gefahr, als Fachvertreter gegen die Interessen der Hauptzielgruppe Berlin 2003; Myrian Dietrich, Islamischer Religionsunterricht. Rechtliche Perspektiven, Frankfurt am Main 2006. 3 Irka-Christin Mohr/Michael Mohr, Islamunterricht – Islamischer Religionsunterricht – Islamkunde. Viele Titel – ein Fach?, Bielefeld 2009. 4 Jamal Malik, »Vorwort«, in: Islamunterricht – Islamischer Religionsunterricht – Islamkunde. Viele Titel – ein Fach?, hrsg. von Irka-Christin Mohr und Michael Kiefer, Bielefeld 2009, S.7–11, hier S. 7.

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dieses Bildungsangebotes zu agieren. Der katholische Theologe und Kenner der Lebenslagen von Muslim:innen in Deutschland Hansjörg Schmid verweist in seinem Beitrag Wie der islamische Religionsunterricht die Gesellschaft verändert (2010)5 auf den für den Argumentationsstrang in diesem Beitrag zentralen Aspekt: Die Praxen der bisherigen Schulversuche bieten – so Schmid – ein geeignetes Experimentierfeld für den Aufbau eines Profils »von unten«.6 Konkret begründet Schmid seine These mithilfe einer Reihe dynamischer Prozesse, die mit der Einführung von Modellversuchen in Gang gesetzt wurden. Dabei sind u. a. folgende Prozesse thematisch besonders relevant: 1) Durch die Einführung der Modellversuche ist eine breite religionspädagogische Debatte entstanden. 2) Die Praxis der Modellversuche eröffnete eine Debatte über Qualifikationswege und Standards für professionelles Handeln von Islam-Lehrkräften. 3) Im IRU entstand ein Raum für zahlreiche Fragen der muslimischen Identitäten im europäischen Kulturraum. 4) Religionspädagogisch findet seitdem eine zukunftsweisende Verständigung und Artikulation der Muslim:innen über säkulare und religiöse Wirklichkeitsbereiche statt, und zwar in der Sprache des Einwanderungslandes. 5) Auf der institutionellen Ebene ist im Rahmen von langjährigen Klärungsverfahren zwischen Staat und Trägern des IRU ein Vertrauensverhältnis entstanden, in dem die Muslim:innen als integraler Teil der Gesellschaft und nicht nur als Fremdkörper wahrgenommen werden.7 Wir schließen uns dieser argumentativen Richtung an und heben über die von Schmid genannten Prozesse hinaus den Prozess der Theoriebildung und der Systematisierung theologischer und religionspädagogischer Erkenntnisse hervor. Inzwischen liegt eine Reihe von Sammelbänden und Herausgeberschaften, die ansatzweise über diesen Prozess der Theoriebildung informieren, vor. In einem der ersten Sammelbände zum Verhältnis von Islamischer Theologie und Religionspädagogik setzen die Herausgeber Polat und Tosun an dem Befund an, dass sich ›der‹ Islam zwar als eine »schriftlich gut dokumentierte und wissenschaftlich dicht bearbeitete Religion« dennoch für religionspädagogisch relevante Erkenntnisse aus Deutschland, Österreich und der Türkei öffnet.8 Aus den Beiträgen muslimischer und christlicher Theolog:innen und Religionspädagog:innen gehen wichtige Impulse in diesem Öffnungsprozess hervor, die sich schwerpunktmäßig auf die Wahrnehmung der Lebensumstände der Gegenwart, auf die dringende Entwicklungsaufgabe einer eigenständigen Fachdidaktik des Islam, auf eine Neujustierung des Verhältnisses von Theologie und Pädagogik 5 Hansjörg Schmid, »Wie der islamische Religionsunterricht die Gesellschaft verändert«, in: Katholische Blätter 135 (2010), S. 136–141. 6 Ebd., S. 138. 7 Ebd., S. 138–140. 8 Vgl. Mizrap Polat/Cemal Tosun (Hgg.), Islamische Theologie und Religionspädagogik: Islamische Bildung als Erziehung zur Entfaltung des Selbst, Frankfurt am Main 2010, S. 8f.

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und auf die Integration humanistischer Ansätze in der neuen Disziplin der islamischen Religionspädagogik beziehen. In Auseinandersetzung mit den Bildungszielen und -standards moderner Gesellschaften finden zentrale Hauptziele der allgemeinen Bildungsarbeit ihren Zugang in die Gedankenwelt der islamischen Religionspädagogik und bekommen einen eigenen fachspezifischen Akzent. Religiöse Mündigkeit avanciert – erwartungsgemäß – zum zentralen Ziel der islamischen Religionspädagogik.

2.

Das Verhältnis von Theologie und Pädagogik – eine islamische Sicht

Die Verhältnisbestimmung zwischen Religionslehre und Pädagogik gehört zu den konstitutiven Merkmalen einer Fachprofilbildung. Eine Religionspädagogik geht primär von einer zweifachen integrativen Leistung aus. Sie ist einerseits daran interessiert, die junge Generation in die religiöse Tradition zu integrieren. Andererseits sorgt sie dadurch für die Integration und Weitergabe der Religion in die Gesellschaft. Sie steht bei dieser doppelten Integrationsleistung vor der Grundsatzfrage: Was will die ältere Generation (Tradition) der jüngeren Generation auf den Weg in die Zukunft mitgeben? An diesem für jede Pädagogik zentralen Grundbegriff des Generationsverhältnisses9 lässt sich die Frage nach dem Verhältnis von Theologie und Pädagogik in Anlehnung an den Theologen und Pädagogen Friedrich Schleiermacher (1768–1834) als eine Frage der theologischen Verantwortung gegenüber der Zukunft einer jungen Generation deuten. Die herkömmliche Vorstellung von der Bewahrung einer eigenen theologischen, religiösen Identität wohnt der institutionellen Natur von Religion als Institution inne. Die Pädagogik hätte vor diesem Verständnis nur den einen Auftrag zu erfüllen: für die Kontinuität der Tradition zu sorgen. Eine systemkritische Revision der Tradition kann sich eine solche traditionstreue Pädagogik nicht leisten, weil sie die erforderliche Autonomie vom System nicht genießt. Dagegen kann eine von der langen Tradition der Theologie bzw. – islamisch betrachtet – der Gelehrtenkultur autonome Pädagogik sich nicht als eine Religionspädagogik behaupten, wenn sie nur den Kontrast zur Tradition abbildet. Dieses Dilemma der zweifachen Integrationsleistung zwischen Kontinuität und Kontrast scheint ein Schicksalsmoment für die junge Disziplin der IRP zu sein. Ihr Risiko ist zu groß, wenn sie sich der Tradition gegenüber ›sehr‹ kritisch 9 Vgl. Friedrich Schleiermacher, Texte zur Pädagogik I, hrsg. von Michael Winkler und Jens Brachmann, Frankfurt am Main 2000, S. 290f.; Hans-Rüdiger Müller, »Das Generationenverhältnis. Überlegungen zu einem Grundbegriff der Erziehungswissenschaft«, in: Zeitschrift für Pädagogik 45 (1999), S. 787–805.

Kontextbezogen – Vernunftbasiert – Lebensweltorientiert

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positioniert, weil sie die Diskontinuität in ihrem gegenwärtigen Fachprofil riskiert. Ihr Risiko ist aber genauso groß, wenn sie sich der Tradition gegenüber ›sehr‹ loyal verhält, weil sie damit den Anschluss an die Lebenswirklichkeit ihrer jungen Klientel aufs Spiel setzen kann. Dieses Dilemma macht sich in der konkreten Praxis der IRP bei jeder Debatte um die Lehrerlaubnis (igˇa¯za) oder um die theologische Kompetenz bemerkbar. Für die universitäre Lehrerausbildung gehört sie – nach unserer Auffassung – zum Gegenstand eines professionellen Lehrerhandelns unbedingt dazu. Ein typisches Diskussionsthema in diesem Zusammenhang ist die Unterscheidung zwischen einer Gemeindepädagogik und einer schulischen Religionspädagogik. Wo liegt nun der Unterschied? Im Vergleich zu außerschulischen Lernangeboten in der Familie, Moschee oder der muslimischen Jugendarbeit ermöglicht ein staatlich organisierter Religionsunterricht eine andere Art der Begegnung mit der eigenen Religion, die zum einen in voller Anerkennung der konstitutiven Bedeutung der Religion für die Persönlichkeitsentwicklung die religiöse Selbstbestimmung fördern soll.10 Zum anderen findet der schulische Religionsunterricht im Rahmen einer staatlichen Bildungsinstitution statt, die unter Wahrung des weltanschaulichen Neutralitätsgebotes für die Einhaltung der Menschenrechte und folglich konsequent gegen jegliche Formen des politischen und religiösen Extremismus oder entsprechend motivierten Rassismus eintritt.11 Es wäre demnach grob fahrlässig, wenn die junge Disziplin der IRP dieser Zerreißprobe zum Opfer fällt, das heißt wenn sie sich auf eine Entweder-OderArgumentation einlässt. In ihrer Autonomie als eigenständiges Fach, das sich der religiösen Mündigkeit verpflichtet fühlt, liegt unter anderem der Mehrwert einer sowohl traditionstreuen als auch traditionskritischen Religionspädagogik, die ihr Augenmerk an staatlichen Schulen darauf richten sollte, eine junge muslimische Generation auf ihr Leben in ihrer neuen (Wahl)Heimat Deutschland vorzubereiten. Es gab im Laufe der »1.400-jährigen, gleichermaßen reichen wie vielschichtigen Tradition der islamischen Bildung«12 – so gut wir uns die Historie der islamischen Pädagogik (tarbı¯ya isla¯mı¯ya) vergegenwärtigen können – keinen vergleichbaren Auftrag. Weder die herkömmliche islamische Gelehrtenkultur noch ihre – traditionell betrachtet – Hilfsdisziplin der islamischen Pädagogik standen vor der gewaltigen Aufgabe, den Beheimatungsprozess des Islam in einer mehrheitlich nicht-muslimischen, säkularen Gesellschaft pädagogisch zu gestalten und institutionell zu bewerkstelligen. 10 Vgl. Burkard Porzelt, Grundlegung religiöses Lernen, Stuttgart 2013, S. 15. 11 Mehr dazu beim Bernd Schröder, »Was macht es für einen Unterscheid, ob ethische Fragen, im Ethik- oder Evangelischen/Katholischen/Jüdischen/Islamischen Religionsunterricht behandelt werden?«, in: JRP 31 (2015), S. 41–63. 12 Sebastian Günther, »Bildung und Ethik im Islam«, in: Islam. Einheit und Vielfalt einer Weltreligion, hrsg. von Rainer Brunner, Stuttgart 2016, S. 210–236, hier S. 231.

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Von diesem Standpunkt aus kann die junge Disziplin der IRP selbstbewusst auf die Geschichte (religions)pädagogischen Denkens in der islamischen Lehrund Lernkultur zurückblicken. Insofern sie – wie bereits erwähnt – grundsätzlich von der fehlenden Erfahrung im Umgang mit einem bisher kaum bekannten Erfahrungsfeld ausgeht, kann sie sich als neue Disziplin aus den Kontinuitätszwängen befreien und sich als Anwältin für die Stimme der jungen muslimischen Generation behaupten und etablieren. Eine IRP, die sich diesen Herausforderungen stellt, fungiert als eine friedensstiftende Vermittlungsinstanz zwischen den Generationen und damit zwischen Tradition und Gegenwart. Religiös ist und bleibt sie, indem sie das theologische Potenzial der Religion für eine selbstbestimmte Lebensführung in der Gegenwart ausschöpft – pädagogisch wiederum, indem sie sich den Bildungsstandards des gegenwärtigen Handlungsfelds und der Nachhaltigkeit ihres pädagogischen Wirkens verpflichtet sieht. In der Verhältnisbestimmung von Theologie und Pädagogik kann – im begrenzten Rahmen dieses Beitrages – noch ein Hinweis auf den Umgang mit der eigenen Fachgeschichte gegeben werden. Man blickt dabei weniger auf die pädagogische Aktualität der jeweiligen Überlegungen. Dass diese auch unter dem Einfluss der jeweiligen historischen, gesellschaftlichen und kulturellen Faktoren entstanden sind, dürfte für den hermeneutisch geschulten Geist eine Selbstverständlichkeit sein. Vom großen Interesse ist dagegen die Frage nach den Paradigmen der Weitergabe religiösen Wissens bzw. der religiösen Tradierung und Qualifizierung. In ihrer Traditionstreue kann die IRP – nach eigener Einschätzung – auf vier Paradigmen (der Schulungspraxis) zurückblicken:

2.1

Eine Schulungspraxis der Pflege und Weitergabe traditioneller Textgrundlagen

Im Mittelpunkt dieser Schulungspraxis steht eine nach den strengen Regeln der lückenlosen Kettenüberlieferungen (naql) zunächst reine Weitergabe der Primärquellen (Koran, prophetische Sprüche, Grundlagenwerke der arabischen Sprache und der klassischen Normenlehre). Mit der imponierenden Gedächtnisleistung der Schüler:innen sorgen Vertreter:innen dieser Schulungspraxis für die Kontinuität in der Tradition, indem das textwissenschaftliche Gut als solches ›geschützt‹ wird. Strenge Disziplin, außergewöhnliche Gedächtnisleistungsfähigkeit, Frömmigkeit und Fügsamkeit prägen die Schulpraxis. Muhammad ibn Sahnu¯n (776–854) und Abu¯ l-Hasan ʿAlı¯ ibn Muhammad al-Qa¯bisı¯ ˙ ˙ ˙ (936–1012) sind zwei berühmte Vertreter dieser Schulpraxis, die in vielen Ländern mit muslimischer Mehrheit als medrese oder kutta¯b (sog. ›Koranschulen‹) bekannt ist. Die Absolvent:innen sind in der Gesellschaft hoch angesehen und

Kontextbezogen – Vernunftbasiert – Lebensweltorientiert

297

übernehmen in der Regel die Vorbeterrolle in den großen Moscheen, vor allem bei besonderen Anlässen wie Festen.

2.2

Eine spirituelle, intellektuelle und philosophische Lernkultur

Eine andere Schulungspraxis widmete sich im Verlauf der islamischen Bildungstradition dem Seelenleben und der asketischen Lebensführung. Im Mittelpunkt dieser Schulungspraxis steht die Selbstbildung im Sinne einer intellektuellen, (religions)philosophischen und selbstläuternden Betätigung. Die Selbstfindung und dadurch die Erfahrung der Gottesnähe sind zentrale Ziele dieser lebenslangen Bildungsarbeit. Der bekannte Theologe und Philosoph Abu¯ Ha¯mid al-G˙aza¯lı¯ (1058–1111), der Literat und Rationaltheologe ʿAmr ibn Bahr al˙ ˇ˙ a¯hiz (776–868) und der Sozialhistoriker ʿAbd ar-Rahma¯n ibn Haldu¯n (1332– G ˙ ˙ ˙ ˘ 1406) stehen neben weiteren mit ihren theologischen sowie sozialkritischen, intellektuellen und philosophischen Schriften in mehreren Wissenstraditionen und liefern in einigen ihrer pädagogischen Traktaten und Ausführungen bis in die Gegenwart interessante Impulse für eine im Geist der Religiosität verankerte und interdisziplinär offene ethische Haltung.

2.3

Eine integrative Lernkultur naturwissenschaftlicher und theologischer Erkenntnisse

Die Theologie als Ansporn für die naturwissenschaftliche Erkundung des Schöpfungswerks Gottes macht das pädagogische Profil dieser Lernkultur aus. Die Religion wird nicht nur normativ in ihrer sozialen Funktion betrachtet. Sie ist eine genauso wichtige Orientierungsfolie für die Erschließung eines der Natur innewohnenden ›Buches der Schöpfung‹. Die Tätigkeit des Theologen ist der des Mediziners gleichgestellt. Zahlreiche Theologen und Mediziner (wie Ibn Sı¯na¯, lat. Avicenna 980–1037), Mathematiker (wie al-Hwa¯rizmı¯ 780–846) und Astrologen ˘ (wie Ibn al-Haitam, lat. Alhazen, 965–1040) stellen für diese theologisch-natur¯ 13 wissenschaftlich orientierte Lernkultur eine historisch motivierende Referenz dar, wie der Mensch auch gottesdienstlich in Gesellschaft und Wissenschaft aktiv sein kann.

13 Mehr dazu exemplarisch in: Maurice Lombard, The Golden Age of Islam, Wien 2009.

298 2.4

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Eine Schulungspraxis der text- und praxistreuen Nachahmung

Das Primat einer solchen Denkrichtung ist der Schutz der Nachfolgergenerationen vor religiöser Entfremdung und die Rückbindung der jungen Menschen an den reinen Ursprung der Religion. Assoziiert wird diese Lernkultur mit dem politisch brisanten Begriff des Salafismus. Die ›Reinigung‹ und der ›Schutz der Religion‹ vor jedem fremden, innovativen ›Angriff‹ prägt die Haltung in dieser Denkrichtung. Der Heranwachsende muss mit möglichst viel Wissen aus erster treuer Hand von bestimmten Gelehrten einer einzigen theologischen Richtung ausgestattet werden. Die apologetisch ausgebildete Schülerschaft steht unmittelbar im sogenannten Daʿwa-Auftrag (vergleichbar mit dem Missionierungsgedanken im Christentum) dieser Lernkultur. Damit wird der soziale Auftrag der Religion so eingelöst, dass die reine Religion vor jedem volkstümlichen Brauch oder Erneuerungstrend (bidʿa) geschützt werden soll. Als führende theologische Figur in dieser Lernkultur wird der große Gelehrte Taqı¯ ad-Dı¯n Ahmad ibn ˙ Taimı¯ya (1263–1328) »subjektiv wahrgenommen«.14 Ohne jeglichen Anspruch auf Vollständigkeit soll an dieser Stelle dieser grobe Exkurs mit zwei Hinweisen abgeschlossen werden: Es ist erstens selbstverständlich, dass die Abgrenzung der einzelnen Paradigmen nicht absolut trennscharf sein kann, so dass ein Rechtsgelehrter aus der ersten Schultradition beispielsweise die Kunst der spirituellen Praxis nicht kennt. Die Klassifizierung gibt zweitens Aufschluss über die gelebte und vorhandene Vielfalt der praxeologischen und theoretischen Orientierungen in den islamischen Lernkulturen, die reichlich Anhaltspunkte für die Neuorientierung der neuen Disziplin bieten. Kurzum: Wenn eine starke ideologisch geprägte Bewegung wie der Salafismus die IRP auf eine Schutzfunktion eines exklusiven, ›wahren‹ Verständnisses der Theologie reduzieren und festlegen will, hat eine IRP im Dienste religiöser Mündigkeit – wie sie hier vertreten wird – die Option, sich sowohl innerhalb der Tradition als auch im Austausch mit allen wissenschaftlichen Disziplinen neu aufzustellen – und zwar vielfaltsbewusst, was die Tradition angeht, und weltoffen, was die Zukunft bestimmt.

14 Es wird hier bewusst von ›subjektiv wahrnehmen‹ gesprochen, weil die Zuordnung zum eigenen Lager von den Anhänger:innen dieser Denkrichtung willkürlich geschieht. Ibn Taimı¯ya genießt aufgrund seiner vielfältigen theologischen und rational-argumentativen Rhetorik ein hohes Ansehen unter allen Denk- und Rechtsschulen.

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3.

299

IRU im Kontext allgemeiner Bildungstheorie

Nach der etwas ausführlicheren Darstellung des Verhältnisses zwischen Theologie und Pädagogik soll es folglich um die konkreten Aufgaben und Zielsetzungen einer IRP in einem europäischen Kontext der Moderne gehen. Die Frage nach Möglichkeiten und Grenzen der Institutionalisierung religiöser Bildung an staatlichen Institutionen versteht sich vor diesem Hintergrund genau genommen als Frage nach dem Fachprofil, der Funktion und Zielsetzung eines solchen Bildungsangebotes im staatlichen Auftrag und soll folglich näher reflektiert werden. Für die Begründung religiöser Bildung im öffentlichen Bildungssystem werden in der entsprechenden Literatur – zusammenfassend wiedergegeben – vier Argumentationsstrategien angewendet:15 1) Anthropologische Begründungen weisen Religion als eine konstitutive Dimension der menschlichen Natur auf, die angesichts der Endlichkeit des Menschen nach einem letzten Ursprung und Ziel fragt. 2) Systemtheoretische Argumente beschreiben Religion als ein gesellschaftliches System im epochalen Prozess funktionaler Ausdifferenzierung. So wie die Politik oder die Wirtschaft folge auch die Religion ihrem eigenen Code, auf dessen Basis sich bestimmte Institutionen bilden. 3) Bildungstheoretische Begründungsstrategien setzen unter anderem an empirisch nachweisbaren Bedingungen von Bildung an, insbesondere auch an der immer stärker wahrnehmbaren religiösen Vielfalt in der Gesellschaft. Sich in dieser von Pluralität geprägten Gesellschaft zurechtzufinden und damit auseinanderzusetzen mit dem Ziel, eine eigene Orientierung zu gewinnen, gehört mit zu den Aufgaben des Bildungssystems. 4) In Bezug auf die Notwendigkeit religiöser Bildung im öffentlichen Bereich verweist der Erziehungswissenschaftler Dietrich Benner fernerhin auf das öffentliche Interesse, das darin besteht, dass Religion, angesichts ihres Gewaltpotentials und den damit einhergehenden fundamentalistischen Tendenzen, aus sich selbst heraus Aufklärung betreiben und damit zur Gestaltung eines gerechten Zusammenlebens ihren besonderen Beitrag leisten kann.16 Zusammenfassend wird die religiöse Bildung als jene Perspektive wahrgenommen, die die Allgemeinbildung um neue und ihr spezifische Aspekte erweitert. In der Bildungsdebatte ist daher gegenwärtig die Rede von den unterschiedlichen 15 Vgl. Gerhard Mertens et al. (Hgg.), Allgemeine Erziehungswissenschaft II. Handbuch der Erziehungswissenschaft 2, Paderborn 2011, S. 183–215. 16 Vgl. Dietrich Benner, Bildung und Religion. Nur einem bildsamen Wesen kann ein Gott sich offenbaren, Paderborn 2014, S. 10–12.

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Modi der Welterschließung und von fachspezifischen Rationalitäten. Man kann bekanntermaßen ein und dieselbe Situation, ein und dasselbe Problem aus unterschiedlichen fachlichen Perspektiven in den Blick nehmen. Die schulischen Fächer bilden entsprechend ihrer Vielfalt die grundlegenden Modi der Welterschließung ab und üben deren Rationalitäten ein. Die Theorien der modernen Allgemeinbildung gehen davon aus, dass die Schule als zentrale Sozialisationsinstanz der nachwachsenden Generation jene Kenntnisse, Fähigkeiten und Haltungen (Kompetenzen) zu vermitteln habe, die Voraussetzungen für die gesellschaftliche Teilhabe sind. Und dies habe im Rahmen der Allgemeinbildung zu erfolgen, die den reflexiven Zugang zu unterschiedlichen, nicht wechselseitig substituierbaren Modi der Welterfahrung eröffnet. In diesem Sinne geht es letztendlich im Kern um die Orientierungswissen vermittelnde Begegnung mit kognitiver, moralisch-evaluativer, ästhetisch-expressiver und religiös-konstitutiver Rationalität:17 In der Gemeinsamkeit von Bildung und Religion wird somit – so der Theologe Dietrich Korsch – »die Eigenständigkeit der Religion erhalten und die Breite der Bildung gewonnen«.18 Für den IRU speziell kommen die konzeptuellen und religionspädagogischen Dimensionen hinzu, die an die Theorie der Allgemeinbildung anknüpfen: Ein IRU an staatlichen Schulen hat – wie bereits oben angedeutet – grundlegend einen anderen Charakter als beispielsweise eine religiöse Unterweisung in einer Gemeinde. Er ist konzeptionell anders gestaltet, findet in einem anderen Kontext statt und unterliegt durch seinen Rechtsstatus in einem Kooperationsmodell den im Bildungssystem für alle Schulfächer geltenden Bildungsstandards. In diesem Sinne verfolgt er das Ziel, durch den Aufbau von Qualifikationen, Wissensstrukturen, Einstellungen und Werthaltungen Schüler:innen dazu zu befähigen, ihr Leben selbstbestimmt mithilfe religiöser Kompetenzen zu gestalten, und dies nicht in parallelgesellschaftlichen Strukturen, sondern mitten in einer kulturell und religiös pluralen Gesellschaft. Mit dem Erwerb von Kompetenzen und Fertigkeiten wie etwa religions- und vielfaltssensibles Wahrnehmen, Beschreiben, Deuten, Verstehen, Begründen oder Gestalten sollen Schüler:innen dazu befähigt werden, mit (religiösen) Alltagssituationen selbstständig und reflexiv umzugehen und Problemlösungsansätze in variablen Situationen erfolgreich und verantwortungsvoll zu entwickeln und umzusetzen.19 In diesem Sinne hat der IRU 17 Vgl. Jürgen Baumert, »Deutschland im internationalen Bildungsvergleich«, in: Die Zukunft der Bildung, hrsg. von Linda Reisch, Jürgen Kluge und Killius Nelson, Frankfurt am Main 2002, S. 100–150. 18 Dietrich Korsch, »Bildung und Glaube. Ist das Christentum eine Bildungsreligion?«, in: NZSTh 2 (1994), S. 190–214, hier S. 206. 19 Vgl. Said Topalovic, »Der kompetenzorientierte Unterricht – Bausteine zur Entwicklung einer Didaktik für den islamischen Religionsunterricht«, in: HIKMA – Zeitschrift für Islamische Theologie und Religionspädagogik 10 (2019), S. 26–48.

Kontextbezogen – Vernunftbasiert – Lebensweltorientiert

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an der Schnittstelle zwischen öffentlicher Bildung und religiöser Unterweisung in einer Moschee eine besondere Aufgabe, die sowohl bildungstheoretisch als auch religionspädagogisch begründet werden kann: Er ermöglicht in dieser Hinsicht nicht nur einen spezifischen Weltzugang, sondern fördert darüber hinaus jene Orientierungs- und Handlungskompetenzen, die es den jungen Menschen ermöglichen (sollen), ihren (religiösen) Alltag reflexiv zu deuten, in diesem selbstständig zu handeln und diese Handlungen auch selbstständig zu verantworten.

4.

Grundlegende Bildungsziele eines IRU

4.1

Gott und Offenbarung verstehen als Kernaufgabe des IRU

Mit diesem Aufsatz, in dem von religiöser Mündigkeit als Zielsetzung religionspädagogischen Handelns ausgegangen wird, geht ein Plädoyer in der Konkretion dieser Zielsetzung für eine verstehensorientierte Ausrichtung des religiösen Lernens an der Schule einher. Religiöse Lernkulturen sind – wie im Falle der Offenbarungsreligionen – schriftgebundene Tradition. Die Lernkultur ist somit nicht nur subjektorientiert. Sie ist auch textorientiert. Die Grundidee der Mündigkeit – wie sie hier in Anlehnung an die phänomenologische Analyse Hoyers (2006) entfaltet wird – soll nicht als Norm gesetzt, sondern als Prozess gedeutet werden. Die Mündigkeit ist sowohl ein bildungstheoretisches Kriterium für die geistige und moralische Verfassung des Individuums, sie ist aber auch eine dauerhafte Leistung in Interaktion zur Herstellung eines selbstbestimmten Passungsverhältnisses von Subjekt und Umwelt.20 Für den am Verstehen orientierten Lernprozess stellt dieser interaktive Rahmen von Subjekt – Objekt – Umwelt eine unabdingbare Voraussetzung für die Erschließung von situationsbezogenem Sinn und für die Deutung von überlieferten Texten, in denen die Religionsgemeinschaften traditionell den Willen Gottes enthalten sehen. Jede religiöse Bildung in den Traditionen von Buch- und somit Schriftreligionen bedarf also der Förderung von hermeneutischer Kompetenz. Der Islam bildet in diesem Zusammenhang keine Ausnahme. Die überlieferten Texte und Primärquellen des Islam (der Koran und die Sprüche sowie die detailliert dokumentierte Biographie des Propheten Muhammad) sind Gegenstand religiöser Bildung und ergeben im Ganzen – für die Menschen, die daran glauben und sich dieser religiösen Tradition anschließen – einen Sinn. Der Verstehensprozess setzt 20 Vgl. Timo Hoyer, »Erziehungsziel Mündigkeit. Eine problemgeschichtliche Skizze«, in: Erziehung und Mündigkeit. Bildungstheoretische Studien, hrsg. von Heinz Eidam und Timo Hoyer, Münster 2006, S. 9–31, hier S. 10.

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genau an dieser Stelle an und hat immer mit größeren Sinnzusammenhängen zu tun. Im Interesse an dem Allgemeinen (Allgemeinbildung) und am Ganzen (Verstehen) überschneiden sich beide Prozesse in einem am Leitziel der Mündigkeit orientierten Lernprozess im IRU. Im muslimischen Diskurs über einen zeitgemäßen Weg im Umgang mit der Tradition plädiert der zeitgenössische Kultur- und Religionsphilosoph Ta¯ha¯ ˙ ʿAbd ar-Rahma¯n für eine Neubestimmung des herkömmlichen Verhältnisses ˙ von Vernunft und Überlieferungstext, in dem die Vernunft überwiegend zwar immer berücksichtigt, aber nie in ihrer Souveränität anerkannt wurde. Die Forderung leitet er aus den theologisch-anthropologischen Maximen des Islam, die im Einzelnen in den Primärquellen entsprechende Erwähnung finden: Vernunft, (Willens)Freiheit, Sprachfähigkeit, Moralität und individuelle Verantwortung. Eine Neubestimmung dieses traditionellen Verhältnisses von Vernunft und Norm ergibt sich für ihn nicht aus Protest, sondern aus der Dringlichkeit der historischen Kontextualisierung theologischer Ideen und Wahrheiten.21 Für arRahma¯n hat jede Generation die Verpflichtung – auch religiös betrachtet die ˙ Pflicht – den ›Raum‹ ihrer kulturellen und gesellschaftlichen Lebenswirklichkeit zu bestimmen, um den überlieferten Text überhaupt verstehen zu können. In einer derartigen Wechselwirkung von Aneignung räumlicher Nähe und Vermittlung herkömmlicher Ideen kann der Lernende schrittweise befähigt werden, die hermeneutische Tätigkeit nachvollziehen zu können. Im Vergleich zu einer herkömmlichen Vermittlungsdidaktik ermöglicht die Einübung der Deutungsmethode unter anderem auch eine neue Aneignung von Lesarten. In seiner kritischen Schrift zur Frage nach der Moral spricht ar-Rahma¯n einige ˙ Grundsätze an, bei denen man bisher der Meinung war, sie seien definitiv geklärt und verstanden. Mit ihm stellen wir hier die Frage: Wie kann man überhaupt neue Räume für das Verstehen eröffnen, wenn man eine solche ›erschöpfte Haltung des Geistes‹ vertritt? Eine Reihe von Koranversen können und müssen immer wieder zum Gegenstand hermeneutischen Denkens unter neuen Lebensbedingungen gemacht werden, wie etwa »Die Wahrheit ist es von eurem Herrn [gekommen]: darum lass den gläubig sein, der will, und den ungläubig sein, der will […]« (K 18:29). Man kann die bisher tradierten Deutungen unendlich reproduzieren. Die meisten beziehen sich auf eine der klassischen Fragen der rationalen Theologie (kala¯m) nach der Willensfreiheit.22 Wie aktuell ist diese Frage nun für die Lebenswirklichkeit der jungen Muslim:innen in Deutschland? Die Frage ist methodischer Natur und will auf keinen Fall die Tradition abwerten. Bei der Be21 Ta¯ha ʿAbd ar-Rahma¯n, Suʾa¯l al-ahla¯q [Die Frage der Moral], Beirut 2000, S. 156ff. ˙ www.altafsir.com, ˙ 22 Vgl. Sammlung˘ aller Korankommentare – tafa¯sı¯r, siehe Vers 18:29 (Abruf: 20. 11. 2020).

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trachtung des angeführten und vieler anderer universalisierbarer Verse unter dem Blickwinkel des Verstehens entsteht zunächst ein reflexiver Raum, in dem konventionelle sowie innovative Lesarten aufeinander treffen können. Ein methodisch kontrolliertes Verstehen vollzieht sich als eine produktive Begegnung mit dem tradierten Text in einem Raum der geistigen Entfaltung. In diesen Raum tritt der Lernende in einen Interaktionsprozess mit dem Text ein. Das Erkenntnisinteresse kann mit folgendem Gedanken eingeleitet werden: Der kulturelle Raum, in dem wir heutzutage den Vers lesen, ist sicherlich ein anderer als der zu seiner Offenbarungszeit im 7. Jahrhundert. Diese erste Erfahrung von Differenz in der Zeitperspektive erfordert die Konstruktion eines Vergleichsrahmens, in dem der Text neu kontextualisiert wird. Im zweiten Schritt erfordert der Vergleich einen anderen Zugang zum Text und führt andere Konsequenzen herbei, andere Deutungsoptionen oder zumindest andere Deutungsansätze, die – drittens – zum Gegenstand neuer Erfahrungen gemacht werden sollen. In diesem prozessualen Verstehen von Text (wie der oben genannte Vers K 18:29) eröffnet sich ein neuer Horizont für die Begründung von Mündigkeit unter den Bedingungen von Freiheit und persönlicher Verantwortung, wie sie heute von jungen Muslim:innen im europäischen Kontext erfahren wird. Bedingt durch die zunehmende Pluralität im Alltag junger Menschen bedarf es religionsübergreifend der Entwicklung einer bewussten Religiosität auf der Basis von Schrift- bzw. Buchreligionen. Der Islam stellt – wie bereits erwähnt – in der Hinsicht keine Ausnahme dar. Denn die überlieferten Schriften müssen im Laufe der Menschheitsgeschichte immer wieder neu gelesen und ausgelegt werden. In sinnerschließenden Begegnungen mit der ›heiligen Schrift‹ – dem Wort Gottes – im Hier und Jetzt stellen sich selbstverständlich dringende Fragen nach dem, was wir heutzutage den ›alten‹ Schriften für die Bewältigung unseres modernen Lebens abgewinnen können. Für junge Heranwachsende sind solche Schriften – so die Erfahrungen aus dem IRU – sprachlich kaum zugänglich.23 Bildung soll allerdings – idealtypisch – den Menschen dazu befähigen, sich, seine Umwelt und die Welt insgesamt zu verstehen. Denn die religiöse Signatur von Bildung erweitert die Bildungsperspektive um Gott, als Referenz für die Deutung ˇ awzı¯ya24 (gest. menschlicher Existenz. »Gott zu verstehen« – so Ibn Qaiyim al-G 1350) – stellt eine Lebensaufgabe dar, zu deren Bewältigung religiöse Bildung unter folgenden drei Aspekten beitragen kann: 23 Vgl. hierzu Harry Harun Behr/Mathias Rohe/Hansjörg Schmid (Hgg.), »Den Koran zu lesen genügt nicht!«: Fachliches Profil und realer Kontext für ein neues Berufsfeld. Auf dem Weg zum islamischen Religionsunterricht, Münster 2008. ˇ awzı¯ya (1292–1350), Damaskus, ein Klassiker der 24 Muhammad Ibn Abı¯-Bakr Ibn Qaiyim al-G ˙ islamisch-sunnitischen Theologie, der sich in zahlreichen Schriften sich über die klassischen Kernfächer der Theologie hinaus mit Fragen der Mystik, Moral und des Seelenlebens im Islam auseinandersetzte.

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1) Die Entfaltung der sinnverwiesenen (religiösen) Natur des Menschen (arab. fitra)25; ˙ 2) die wachsame Auseinandersetzung mit der (sozialen) Wirklichkeit, so dass der Mensch bestimmen kann, was ethisch zwingend zu tun ist; 3) die sinnerschließende Auseinandersetzung mit dem Wort Gottes (Offenbarungsschrift)26 unter einem Handlungsgesichtspunkt: Welches Handeln ist nun situativ angemessen und im Sinne Gottes?27 Zur Bewältigung dieser Lebensaufgabe gehört zunächst selbstverständlich dazu, dass die Inhalte der Schrifttradition samt aller Normen und Leitideen gelernt sein wollen, um fachkompetente Souveränität im Deutungs- und Umdeutungsprozess genießen zu können. Angesichts der Tatsache, dass im Islam keine Lehramtsautorität besteht, ist jeder Mensch im Grunde aufgefordert, Kompetenzen im Umgang mit dem Glauben28 zu erwerben, mit dem Ziel, eine gottbewusste Haltung zu entwickeln. Durch eine solche Haltung soll sich das mündige Subjekt – idealtypisch – gegen Vereinnahmungs- und Entmündigungstendenzen durch sogenannte ›theologische Experten‹ oder ›Gelehrte‹ behaupten können. Die islamische Geistesgeschichte kennt keinen Klerus, aber eine ›diskursive Gelehrsamkeit‹, an der jedes theologisch kompetente Subjekt teilnehmen kann. Der Erwerb religiösen Wissens ist daher eine hochangesehene Tugend in der islamischen Tradition, die zur höchsten Stufe des Gottesbewusstseins führt. Das »Wissen um Gotteswillen fördert die Liebe zu ihm und fundiert den Prozess der Willensbildung.«29 Der Akt des Verstehens stellt nach diesem Grundverständnis die handlungsleitende Verbindung zwischen der überlieferten Schrift (Offenbarungsschrift) und der sozialen Wirklichkeit her. Diesen höchst anstrengenden Doppelakt der Sinnerschließung und sinnstiftenden Gestaltung der Wirklichkeit bezeichnet

25 Die Natur des Menschen wird unter anderem als Ort von Gotteszeichen betrachtet: vgl. Koran, Sure 41, Vers 53. 26 Damit ist im Allgemeinen der Koran gemeint. ˇ awzı¯ya, Mada¯rigˇ as-sa¯likı¯n bayna mana¯zil iyya¯ka naʿbudu wa-iyya¯ka 27 Vgl. Ibn Qaiyim al-G nasta͗ ¯ın [Stufen der Wanderer auf der Suche nach Hilfe im Gottesdienst] 4, hrsg. von ʿIma¯d ¯ mir, Kairo 1996, S. 261. ʿA 28 Dies umfasst unter anderem auch die Aneignung vom Basiswissen über Glaubensinhalte und religiöse Praxis, Basiskompetenzen im Lesen und Rezitieren der Schrift, zentrale Aussagen des Propheten, Grundregeln des sozialen Umgangs miteinander [arab. adab] sowie welche der Spiritualität und der praktischen Lebensführung [arab. tazkı¯ya] und Grundwissen über allgemeine Regeln der Normenlehre [arab. fiqh]. ˇ awzı¯ya, Mada¯rigˇ as-sa¯likı¯n, Bd. 1, S. 47. 29 Al-G

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Muhammad asˇ-Sˇa¯tibı¯30 (gest. 1388) ebenfalls als die permanente Aufgabe reli˙ ˙ giöser Bildung, die erfüllt werden will. Er schreibt: »Das handlungsleitende Nachvollziehen dessen, was (von Gott) als allgemeine Zielsetzung gesetzt wurde (arab. tahqı¯q al-mana¯t), ist die Basis aller religiösen Verpflich˙ ˙ tungen. Dieser (Bildungs)Auftrag endet nie (bis zum Jüngsten Tag), weil er die dauerhafte Aufgabe impliziert, die Gültigkeit einer religiösen Norm entsprechend ihrer Zielsetzung unter den aktuellen Lebensumständen dauernd prüfen zu müssen.«31

Die genuine Aufgabe religiöser Bildung – könnte man als Zwischenfazit festhalten – kreist im Kontext islamischer Lehr- und Lernkultur um diese immerwährend neu zu bestimmende, offene Fundamentalfrage: Wie soll ich heute den in den Schrifttraditionen tradierten Sinn erschließen und zeitgemäß verstehen? Die Koranaussage »Denkt nach (ihr Menschen)! Ihr seid wohl mit Denkvermögen ausgestattet« (vgl. K 2:59) lässt sich nach asˇ-Sˇa¯tibı¯ sogar als eine verpflichtende ˙ Aufforderung der islamischen Glaubenslehre an das Subjekt verstehen, sich beider Verfahren der rationalen und der sinnerschließenden Schlussfolgerungen bedienen zu müssen, um dem hohen Wahrheitsanspruch genügen zu können.32

4.2

Bildung zur Mündigkeit

Mündigkeit hat sich infolge der Aufklärung zum Leitziel in der modernen Bildung entwickelt. In diesem Sinne ist die Mündigkeit als Bildungsziel im Anschluss an moderne Entwicklungen längst auch in der Religionspädagogik angekommen.33 Aus einer islamischen Perspektive betrachtet beschreibt Polat Mündigkeit wie folgt: »Mündigkeit im islamischen Sinne bedeutet vor allem, die Menschen in die Lage zu versetzen, wenn sie glauben, zu wissen, warum sie glauben und eigenständig im Glauben zu handeln. Die Freiheit, ob ein Mensch überhaupt glaubt oder nicht bleibt davon 30 Ibrahim bin Mosa bin Muhammad asˇ-Sˇa¯tibı¯, ein andalusischer, sunnitischer Gelehrter, gest. ˙ Hauptwerk ˙Al-muwa¯faqa¯t fi usu¯l asˇ-sˇarı¯ʿa (Ausbalancierungen 1388 in Granada. Mit seinem ˙ als einer der Hauptgründer der bzgl. der Regeln von Urteilsbildung innerhalb der ˇsarı¯ʿa) gilt er maqa¯sid-Schule, die sich der Betrachtung der höheren Ziele der Scharia bei der Urteilsbildung ˙widmet. 31 Muhammad asˇ-Sˇa¯tibı¯, Al-muwa¯faqa¯t fi usu¯l asˇ-sˇarı¯ʿa [Ein Grundlagenwerk über die allge˙ Zielsetzungen ˙ der Scharia] 4, Damaskus ˙ meinen 1998, S. 57 [eigene Übersetzung]. 32 Vgl. Averroes, Die entscheidende Abhandlung und die Urteilsfällung über das Verhältnis von Gesetz und Philosophie, übers. und komm. von Franz Schupp, Hamburg 2012, S. 5–11. 33 Vgl. Karl Ernst Nipkow, Bildung in einer pluralen Welt 2: Religionspädagogik im Pluralismus, Gütersloh 1998; Friedrich Schweitzer, »Freiheit und Autonomie aus evangelisch-theologischer und religionspädagogischer Perspektive«, in: Zwischen Gewissen und Norm. Autonomie als Leitkategorie religiöser Bildung im Islam und Christentum, hrsg. von Tarek Badawia und Hansjörg Schmid, Berlin 2016, S. 49–64.

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unberührt. Die religiöse Mündigkeit als Denk-, Sprach- und Handlungsfähigkeit sowie als Moment des Bewusstseins in der Religion setzt einen Glauben voraus. Insofern ist sie auch eine religionsimmanente Fähigkeit, das Herausbilden und Entwickeln eines Bewusstseins, wodurch ein Individuum zur eigenen Deutungshoheit gelangt, seine Bedingungen, Orientierungen und sein Engagement eigenständig gestaltet und nicht zuletzt seine Reflexionsgabe nutzt und übt.«34

Religiöse Mündigkeit ist somit durch religiöse Bildung möglich, nicht jedoch durch eine Bildung ohne oder gar gegen die Religion. Bildungsprozesse, die demnach als Zielsetzung Mündigkeit im Fokus haben, sind an folgende Aufgaben gebunden: Erstens sind diese aufgefordert, religiöse Inhalte zu vermitteln und zugleich die Möglichkeit zu schaffen, diese in einem kritischen Diskurs zu reflektieren. Zweitens orientieren sich die religiösen Fragen und Inhalte an der Lebenswelt der jungen Heranwachsenden. Darauf aufbauend haben sie drittens die Aufgabe, selbstbestimmte und selbstverantwortliche Urteilsfindung zu fördern und zu ermöglichen. In diesem Sinne lassen sich dementsprechende Lehrund Lernprozesse in ihrer didaktischen Struktur wie folgt skizzieren:35 Zu Beginn des Lehr- und Lernprozesses bieten Lehrende eine lebensweltnahe und problemorientierte Lernsituation bzw. Fragestellung an, die von den Lernenden als persönlich bedeutsam bewertet wird (Persönlichkeitssinn, kognitive und emotionale Aktivierung). Dies wird dadurch gewährleistet, dass sich die Lernsituation bzw. Fragestellung auf die unmittelbare Lebenswelt der Lernenden bezieht (Lebensweltorientierung). Die Lernsituation eröffnet zugleich und im Idealfall neue Fragestellungen, die die Lernenden mit ihrem vorhandenen Vorwissen (noch) nicht lösen können – wobei eine Überforderung zu vermeiden ist. Ein erster konkreter Ansatz zur Bewältigung der Aufgabe besteht darin, selbstständig und/oder in der Gruppe über mögliche Antworten zu reflektieren und Lösungsmöglichkeiten zu erkunden (Denk- und Kommunikationsprozesse). In diesem Schritt erfolgt bestenfalls eine kritische und multiperspektivische Annäherung an Lerninhalte. Erachten die Lernenden ihren Aneignungsprozess als abgeschlossen, so werden die Ergebnisse im Plenum präsentiert, sodass alle Anwesenden Kenntnis von den entwickelten Lösungsvorschlägen erhalten (Evaluationsprozess). Der Lernzyklus schließt mit einer gemeinsamen Diskussion, in der die Lernenden über die Lernergebnisse und zugleich über Handlungsentscheidungen im Alltag reflektieren (Reflexionsprozesse). Denn wenn der IRU das Ziel verfolgt, Schüler:innen bei ihrer individuellen Entwicklung zu begleiten und Lernprozesse zu initiieren, die zur Mündigkeit und Eigenverant34 Mizrap Polat, »Religiöse Mündigkeit als Ziel des islamischen Religionsunterrichts«, in: Islamische Theologie und Religionspädagogik. Islamische Bildung als Erziehung zur Entfaltung des Selbst, hrsg. von Mizrap Polat und Cemal Tosun, Frankfurt am Main 2010, S.185–202, hier S. 187. 35 Vgl. Topalovic, »Der kompetenzorientierte Unterricht«, S. 26–48.

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wortung beitragen wollen, dann muss er in der Lage sein, neue und den behandelten Inhalten ähnliche (Problem-)Situationen zu konstruieren, in denen die Schüler:innen auch ohne Hilfestellungen selbstständig Handlungsstrategien reflektieren können.

4.3

Bildung zur Pluralitätsfähigkeit

Bei der Gestaltung eines Zusammenlebens in einer von Vielfalt und Pluralismus geprägten Gesellschaft kann die religiöse Position kaum ausgeblendet werden, vielmehr verfügt die Religion in dieser Frage über ein (großes) Potenzial sowohl für den gesellschaftlichen Frieden wie auch für Unfrieden. Für die Frage der religiösen Bildung ist das Pluralismusthema insofern wichtig, als sich kaum an einem Ort im öffentlichen Raum Menschen unterschiedlicher religiöser und weltanschaulicher Einstellungen und Überzeugungen begegnen wie in der Schule.36 In diesem Sinne erfordert diese (neue) Realität begründete religionsdidaktische Positionen in Bezug auf die religiösen und weltanschaulichen Fragestellungen, insofern diese Gegenstand und Zielsetzung eines IRU bilden sollen. Der bulgarische Islamwissenschaftler Arif Kemil Abdullah geht in dieser Frage von dem Ansatz aus, Pluralismus sei eine göttliche Schöpfungsnorm, und stellt in dieser Hinsicht folgende Hauptziele des Koran im Umgang mit dem religiösen und weltanschaulichen Pluralismus vor: 1. Das Kennenlernen des Anderen bzw. das Streben nach gegenseitigem Verständnis (taʾa¯ruf). Dies leitet Abdullah aus dem Vers 49:13 ab und konstatiert dabei, dass dies eines der wesentlichsten Ziele des Koran darstellt. 2. Der Koran ruft – so Abdullah – die Menschen zum gemeinsamen Engagement im Guten auf (taʿa¯wun) (K 5:2). 3. Er erinnert fernerhin die Menschen an ihre gemeinsame Verantwortung (tasa¯buq) in der Durchführung guter Werke (K 5:48). Die drei angeführten Zielsetzungen deuten auf eine Steigerung im Umgang miteinander, vom bloßen Verstehen des Anderen über die Zusammenarbeit bis hin zum aktiven gemeinsamen Handeln, das den religiösen und weltanschaulichen Pluralismus in einen dynamischen Prozess verwandelt, was sich letztlich im vierten und letzten Ziel »Gegenseitige Unterstützung im Guten« (tada¯fuʿ) wiederfindet (K 16:90).37 36 Zugleich ist die Schule im Vergleich zu den Moschee- und Vereinsstrukturen jener Ort, an dem sich die innerislamische Pluralität begegnet, was gleichzeitig die Möglichkeit bietet, den Umgang – auch – mit dieser zu erlernen. 37 Vgl. Abdullah Arif Kemil, The Qurʾan and Normative Religious Pluralism: A Thematic Study of The Qurʾan, London 2014, S. 152–183.

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Für die konkrete religionsdidaktische Praxis bedeutet dies wiederum klare Zielsetzungen für einen schulischen IRU zu bestimmen. Im Rahmen schulischer Lehr- und Lernprozesse erleben die Schüler:innen zum Teil sehr unterschiedliche Deutungshorizonte und haben die Möglichkeit sich mit religiösen und/oder weltanschaulichen Wissensbeständen interaktiv auseinandersetzen und dabei zu erfahren, wie multiperspektivische Zugänge aussehen können. Ziel solcher Interaktionen ist es auch, Schüler:innen bei der Entwicklung interreligiöser und pluralitätsfähiger Kompetenzen zu begleiten, was wiederum auf den IRU zurückfallen kann. Mit der interreligiösen Kompetenz verbindet Schambeck unter anderem die Fähigkeit, angemessen mit der Vielzahl an Religionen umzugehen.38 Die Pluralitätskompetenz umfasst wiederum Fähigkeiten wie das eigene Umfeld »aus mehreren unterschiedlichen Perspektiven […] empathisch wahrzunehmen und deuten zu können«.39 Im Kontext von schulischen Lehr- und Lernprozessen nehmen demnach die Schüler:innen unterschiedliche religiöse und weltanschauliche Deutungen wahr und reflektieren diese. Das Ziel ist dabei die Förderung von interreligiösen sowie pluralitätsfähigen Kompetenzen, um eine plurale Gesellschaft und die unterschiedlichen Weltdeutungen wahrnehmen und mit dieser im Alltag – im Sinne des friedlichen Zusammenlebens – umgehen zu können.

5.

Das fachdidaktische Profil des IRU – eine Richtungsbestimmung

Die zuvor bestimmten Zielsetzungen erfordern im didaktischen Sinne einen Fokus auf eine subjektorientierte Didaktik, die Schüler:innen als Subjekte ihres eigenen Lernens wahrnimmt, ganz im Sinne des deutschen Lernpsychologen Franz Weinerts, der konstatiert: »Ein guter Unterricht ist Unterricht in dem mehr gelernt als gelehrt wird«.40 Von einer Subjektposition der Schüler:innen zu sprechen heißt, sie ernst zu nehmen in ihrer Subjektivität, in ihrem Erfahrungsschatz und in ihrer Bedürftigkeit. Sie werden dabei – idealerweise – ermutigt, ihre eigene Perspektive einzubringen und auch individuelle Lernwege und Lernerfahrungen einzuschlagen. Denn ein Religionsunterricht, der zur Mündigkeit bilden möchte, muss den lebensweltlichen Fragen der Schüler:innen 38 Mirjam Schambeck, Interreligiöse Kompetenz, Göttingen 2013, S. 56. 39 Michael Wermke, »Der Beitrag der evangelischen Religionspädagogik zum Projekt Europa«, in: Aufwachsen in Würde: Die Hildesheimer Barbara-Schadeberg-Vorlesungen, hrsg. von Martin Schreiner, Münster 2012, S. 91–100, hier S. 97. 40 Franz Weinert, »Guter Unterricht ist ein Unterricht, in dem mehr gelernt als gelehrt wird«, in: Guter Unterricht – Was ist das? Aspekte von Unterrichtsqualität, hrsg. von Josef Freund, Heinz Gruber und Walter Weidinger, Weinheim 1998, S. 7–18, hier S. 7.

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gerecht werden und sie in ihrer Lebensgeschichte und in ihrem Bedürfnis nach Orientierung und Sinn ernst nehmen. Die Lebenswirklichkeit der Schüler:innen ist wiederum einerseits durch die entwicklungspsychologischen Fortschritte, andererseits durch unterschiedliche religiöse Vorerfahrungen geprägt. Gerade im IRU – und in Bezug auf das zweitgenannte, treffen im europäischen Raum junge Menschen aufeinander, die bis dato unterschiedliche lebensweltliche Erfahrungen gemacht haben – dies vor allem aufgrund ihrer unterschiedlichen traditionellen und kulturellen Zugänge zur Religion und religiösen Praxis. Für die Lehrkräfte stellt dies zwar eine Herausforderung dar, bildet allerdings zugleich den Ausgangspunkt für die Planung und Gestaltung von Lehr- und Lernprozessen. Dieser Bezug auf die konkrete Lebenswelt der Schüler:innen ist fernerhin ein Garant dafür, dass Religion als lebendige Größe wahrgenommen werden kann, die junge Menschen ansprechen und ihnen Halt und Orientierung im Leben geben bzw. diesen zur »Orientierungs- und Lebensfähigkeit«41 verhelfen möchte. Lernpsychologisch betrachtet impliziert eine solche Didaktik im weitesten Sinne immer Konstruktion (etwas Neues wird gelernt), Rekonstruktion (etwas Bekanntes wird neu entdeckt) und Dekonstruktion (etwas Gelerntes wird kritisch in Frage gestellt, was mit Distanzierungsprozessen gegenüber bisherigen Wissensbeständen verbunden ist). Im Kontext der IRU kann dieser Dreier-Schritt folgendermaßen übersetzt werden: Konstruktion: neues Wissen wird mithilfe kritisch-konstruktiver Aneignung erworben, wobei neue (religiöse) Erfahrungen gemacht werden können. Rekonstruktion: das bereits bekannte Wissen wird neu entdeckt bzw. aus einer neuen Perspektive betrachtet. Die Entwicklung multiperspektivischer Denkmuster wird dabei gefördert. Dekonstruktion: etwas bereits Gelerntes wird überprüft und mithilfe kritisch-konstruktiver Aneignung kritisch reflektiert. Eine kritisch-konstruktive Aneignung geschieht weiterhin immer in einer engen Kooperation zwischen den Lehrenden und Lernenden sowie zwischen den Lernenden selbst; sie alle gemeinsam bilden ein »pädagogisches Gesamtsubjekt«.42 In diesem Prozess – kritisch-diskursiver und reflektierender Natur – entwickeln junge Menschen jene Kenntnisse, Fähigkeiten und Haltungen, die sie zu mündigen Individuen bilden sollen. Dieser Prozess unterstützt außerdem kritische Fragestellungen und fördert die Entwicklung eigener Denk- und Argumentationsstrukturen, wo Antworten auf unterschiedliche Fragen oder Lösungen für unterschiedliche Situationen diskutiert und reflektiert werden. Fer41 Joachim Kunstmann, »Subjektorientierte Religionspädagogik. Modellvorschlag für ein zeitgemäßes Konzept religiöser Bildung«, in: Zeitschrift für Pädagogik und Theologie 69 (2017), S. 367–377, hier S. 375. 42 Hartmut Giest/Joachim Lompscher, Lerntätigkeit – Lernen aus kultur-historischer Perspektive. Ein Beitrag zur Entwicklung einer neuen Lernkultur im Unterricht, Berlin 2006, S. 25.

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nerhin möchte dieser Prozess zur Hinterfragung bereits entwickelter Argumentationsstrukturen beitragen, damit sich junge Heranwachsende »ihrer eigenen Denk- und Argumentationsmuster bewusster werden«43 können (Dekonstruktion). Kritisch ist dieser Ansatz fernerhin, insofern er die Möglichkeit schafft, die religiösen Inhalte einer subjektiven Überprüfung unterziehen zu können. Dies stellt die Lernenden als Subjekte in den Mittelpunkt der Planung und Gestaltung eines IRU und hat fernerhin zum Ziel die blinde Nachahmung religiöser Grundlagen, Praktiken oder Überzeugungen (taqlı¯d) zu verhindern. Der hier präferierte Ansatz hat – zusammenfassend wiedergegeben – zum Ziel, die religiösen Inhalte und die Lebenswirklichkeit der Schüler:innen in Verbindung zu bringen, in einem kritisch-konstruktiven Kommunikationsprozess zu reflektieren und dementsprechend in mögliche Handlungsentscheidungen zu transformieren.

6.

Zukunftsaussichten

Im Beitrag wurde der Versuch unternommen, bildungstheologische sowie didaktische Grundlegungen eines IRU im europäischen Kontext konkreter zu bestimmen. Eine erfolgreiche Gestaltung des Faches in der Zukunft wird vor dem Hintergrund angestellter Überlegungen von diesen drei – aus der Sicht der Autoren – zentralen Feldern abhängen: Das erste betrifft die konkrete bildungstheologische Grundlegung eines IRU. Denn ein schulischer IRU vollzieht sich – im Gegensatz zum traditionellen Unterricht in einer Moscheegemeinde – im Rahmen der Allgemeinbildung. In weiterer Folge bedarf es darauf aufbauender fachdidaktischer Ansätze, die eine kritisch-konstruktive Aneignung von Religion ermöglichen. Und letztendlich ist eines der zentralsten Felder die Qualifizierung der Islam-Lehrkräfte, die sowohl religionspädagogischen als auch inhaltlichen Anforderungen eines Unterrichts an staatlichen Schulen genügen. Dies sei vor allem auch deswegen genannt, als im Laufe des letzten Jahrzehnts deutlich wurde, dass der IRU durch ein sensibles Interaktionsfeld charakterisiert ist, in dem teilweise disparate Erwartungen und Ansprüche unterschiedlicher Handelnder (Bildungspolitik, Schulleitung, Kollegium, Schülerschaft, Eltern und weitere) aufeinandertreffen, welche die Islam-Lehrkräfte mehr als herausfordern. Fernerhin kann die Frage nach der ›theologischen Kompetenz‹ und der ›theologischen Deutungshoheit‹ zu schwierigen Spannungen und Infragestellung 43 Tarek Badawia, »Islamischer Unterricht in der pluralen Gesellschaft – Reflexionen zum Umgang mit dem eigenen Wahrheitsanspruch im Islam«, in: Religion in der Schule. Zwischen individuellem Freiheitsrecht und staatlicher Neutralitätsverpflichtung, hrsg. von A. Katarina Weilert und Philip W. Hildmann, Tübingen 2018, S. 235–252, hier S. 239.

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der Fachkompetenz einer Islam-Lehrkraft im schulischen Kontext führen. Für eine Islam-Lehrkraft geht dies zugleich mit einem »komplexen Aushandlungsprozess«44 einher, in dem ein Höchstmaß an Profession und Kompetenz erwartet wird, um den vielfachen Erwartungen und Widersprüchen im schulischen Alltag gerecht werden zu können.

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Kontextbezogen – Vernunftbasiert – Lebensweltorientiert

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Topalovic, Said, »Der kompetenzorientierte Unterricht – Bausteine zur Entwicklung einer Didaktik für den islamischen Religionsunterricht«, in: HIKMA – Zeitschrift für Islamische Theologie und Religionspädagogik 10 (2019), S. 26–48. Weinert, Franz, »Guter Unterricht ist ein Unterricht, in dem mehr gelernt als gelehrt wird«, in: Guter Unterricht – Was ist das? Aspekte von Unterrichtsqualität, hrsg. von Josef Freund, Heinz Gruber und Walter Weidinger, Weinheim 1998, S. 7–18. Wermke, Michael, »Der Beitrag der evangelischen Religionspädagogik zum Projekt Europa«, in: Aufwachsen in Würde: Die Hildesheimer Barbara-Schadeberg-Vorlesungen, hrsg. von Martin Schreiner, Münster 2012, S. 91–100. www.altafsir.com (Abruf: 2. 5. 2020).

V. Statt eines Nachworts

Andreas Kubik

Kooperation – Dekonstruktion einer religionspädagogischen Sehnsucht

Anstelle eines bündelnden Rückblicks auf den vorliegenden Band, der große Linien aufzeigt oder ›weiterführende Perspektiven‹ ausmacht, möchte ich durchaus subjektiv einen Punkt herausgreifen, der mir auf den Tagungsdiskussionen von Stunde zu Stunde deutlicher wurde. Er betrifft das Stichwort der ›Kooperation‹, welches auf der Osnabrücker Tagung zwar nicht programmatisch im Mittelpunkt stand, sich aber gleichsam von selbst in viele der Gespräche mischte. Die dekonstruierende – nicht: destruierende – Sicht auf dieses Stichwort gibt mir zugleich Gelegenheit, auf einige Beiträge dieses Bandes noch einmal zurückzublicken. Ich beginne mit einem persönlichen Eindruck aus der universitären Lehre. Vor einiger Zeit wurde mir von meinen studentischen Mitarbeiter:innen zugetragen, unter den Osnabrücker Studierenden habe sich der Eindruck gebildet, ich sei ein strikter Verfechter von konfessionellem Religionsunterricht und ein Gegner von kooperativen oder interreligiösen Formaten. Hier handelt es sich um ein Missverständnis: Das bin ich nicht. Die bekannte und wichtige Erklärung von 2016 zur Zukunft des Religionsunterrichts unter den Stichworten »konfessionell – kooperativ – kontextuell«1 wurde auch von mir unterschrieben. Ich bin allerdings der Meinung, dass kein anderes Konzept gedanklich dem konfessionellen Religionsunterricht nach Art. 7 Abs. 3 Grundgesetz (GG) schlechthin überlegen ist. Vielmehr haben alle alternativen Formate Folgekosten, welche häufig in einer Art vorlaufender Kooperationsseligkeit unberücksichtigt bleiben und dafür dann zu einem späteren Zeitpunkt zu Einsparungen an anderer Stelle nötigen. Der Berechnung dieser Folgekosten war ein Großteil meiner Forschungsarbeit der letzten Jahre gewidmet. Ich möchte an dieser Stelle eine Art Zwischenfazit dieser Überlegungen ziehen; wie gesagt: nicht, um den Gedanken der Kooperation zu beerdigen, sondern im Gegenteil, um daran mitzuwirken, 1 Abgedruckt bei Konstantin Lindner/Mirjam Schambeck sf/Henrik Simojoki/Elisabeth Naurath (Hgg.), Zukunftsfähiger Religionsunterricht: konfessionell – kooperativ – kontextuell, Freiburg/Basel/Wien 2017, S. 445–448.

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dass er langfristig zur Einlösung des Versprechens gelangen kann, das in ihm enthalten ist.

1.

›Kooperation‹ als Ausdruck von good common sense?

Am Ende seiner beeindruckenden Literaturüberschau zur »Religionspädagogik im Zeichen religiöser Pluralisierung« resümiert der katholische Religionspädagoge Clauß Peter Sajak, zwar würden Religionsgemeinschaften und vor allem die Kirchen nach wie vor den konfessionellen Religionsunterricht propagieren, »doch wissen alle, die in der schulischen Praxis tätig sind, dass dies inzwischen nur noch eine Chimäre ist«.2 Ebenso beweise die – auch meiner Meinung nach beobachtbare – Hinwendung der Theorie zu stärker kooperativ oder inter- bzw. multireligiös orientierten Ansätzen »eine enttabuisierte und entideologisierte Diskussion um die Weiterentwicklung einer Didaktik des Religionsunterrichts«3 – Tabus und Ideologien richten offenbar nach Sajaks Meinung die Verfechter eines nach Religionen und Konfessionen getrennten Unterrichts auf. Dem Tenor nach sind bei Sajak jene Diskussionen nicht nur zähneknirschende Zugeständnisse an unvermeidliche religionskulturelle Entwicklungen, sondern auch in der Sache wünschenswert: Ein zukunftsorientierter Religionsunterricht solle »im Klassenverband«4 stattfinden und aus der Diversität der Schülerinnen und Schüler didaktischen Honig saugen, auch wenn es derzeit nach wie vor Situationen gebe, in denen »noch in konfessionelle bzw. konfessionell-kooperative Lerngruppen eingeteilt wird«.5 Selbst die konfessionelle Kooperation ist nach Sajak eigentlich bereits Auslaufmodell, bevor sie überhaupt richtig implementiert wurde. Forderungen nach gemeinsamem Religionsunterricht im Klassenverband sind an sich schon alt, sie lassen sich bis in die Aufklärungszeit zurückverfolgen.6 Zuletzt waren entsprechende Überlegungen wieder verstärkt nach der ›Wende‹ an die Öffentlichkeit getreten.7 In diesen Diskursen wurde zumeist mit pädagogischen Gründen argumentiert, wohingegen die positiven Gehalte und 2 Clauß Peter Sajak, »Von der Konfession zur Religion. Religionspädagogik im Zeichen religiöser Pluralisierung«, in: Theologische Revue 115 (2019), S. 267–278, hier S. 278. 3 Ebd. 4 Sajak, »Von der Konfession zur Religion«, S. 271, 273. 5 Sajak, »Von der Konfession zur Religion«, S. 273 [Hervorhebung von A.K.]. 6 Vgl. Andreas Kubik, »Konfessionsübergreifende Religionspädagogik in der Aufklärung«, in: Zwischen Tradition und Wandel. Pädagogischen und religionspädagogische Initiativen im ›langen 19. Jahrhundert‹, hrsg. von Antje Roggenkamp et al., Leipzig 2021 [im Druck]. 7 Vgl. paradigmatisch Barbara Asbrand, Zusammen Leben und Lernen im Religionsunterricht. Eine empirische Studie zur grundschulpädagogischen Konzeption eines interreligiösen Religionsunterrichts im Klassenverband der Grundschule, Frankfurt am Main 2000.

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Praktiken einer Konfession oder Religion didaktisch deutlich relativiert wurden. Demgegenüber zeichnen sich die neuesten Debatten dadurch aus, dass sie auf den Versuch einer pädagogisch motivierten Superstruktur explizit verzichten und den Ertrag der interreligiösen Grundlagenarbeit der letzten Jahre einarbeiten, welche unter dem Stichwort ›Heterogenität‹ die Deutungshoheit der Religionen über ihre eigenen Traditionen und Bildungsanliegen stark machen will.8 Erst dadurch konnte das Stichwort ›Kooperation‹ überhaupt in den Rang eines Zauberworts einrücken, signalisiert es doch gleichrangige Partner, Augenhöhe, Austausch und wechselseitige Lernprozesse. Gemeint ist hier nicht das temporäre Projekt zweier Fächer, wie sie – Stichwort ›fächerübergreifender Unterricht‹ – immer einmal vorkommen kann, sondern die auf Dauer gestellte,9 von starken gemeinsamen Interessen getragene Zusammenarbeit. So werde ich den Begriff im Folgenden auch verstehen. Freilich wäre die Sehnsucht nach ›Kooperation‹ vermutlich nicht ganz so groß geworden, wenn nicht auch handfeste äußere Krisen des christlich-konfessionellen Religionsunterrichts eine Änderung der bisherigen Praxis nötig erscheinen ließen. Hauptpunkt ist neben dem wachsenden Selbstbewusstsein religiöser Minderheiten sicherlich der prozentuale Rückgang von christlich getauften und sozialisierten Kindern. Dieser Umstand bringt zahlreiche Diskutanten zu der Diagnose: Ein konfessioneller Religionsunterricht sei – zumindest auf lange Sicht – schon rein zahlenmäßig nicht mehr möglich.10 Doch ist an diese Krisendiagnose sogleich die Rückfrage zu stellen: Was soll das eigentlich heißen, »nicht möglich«? Religiöse Minderheiten zeigen jeden Tag, dass das durchaus möglich ist. Das Verwaltungs-Minimum liegt etwa in Niedersachsen bei 12 Schülerinnen und Schülern pro Schule und Religionsgemeinschaft. Dazu müsste man gegebenenfalls klassen- oder jahrgangsübergreifende Gruppen bilden (was bei den bisherigen Zahlen ohnehin immer noch die absolute Ausnahme darstellen dürfte). Eben dies scheint man aber nicht zu wollen: Offensichtlich findet man »klassen- oder jahrgangsweise erteilten gemeinsamen Unterricht wichtiger als konfessionell einheitliche Lerngruppen«.11 Überspitzt gesagt: Man hält einen jüdischen Religionsunterricht mit kleinen Gruppen für unbedingt einrichtungswürdig, einen entsprechenden christlichen Religionsunterricht aber für undurchführbar. Es wäre hier vor allem zu fragen, warum das eigentlich so ist (eine Vermutung dazu weiter unten). 8 Daran hat Sajak selbst intensiv mitgearbeitet, vgl. zuletzt Clauß Peter Sajak, Interreligiöses Lernen, Darmstadt 2018. 9 Eine Dauer, die zwar von getrennten Phasen unterbrochen werden könnte, welche aber wiederum klar auf das gemeinsame Lernen hingeordnet wären. 10 Vgl. hierzu den Beitrag von Janbernd Oebbecke, »Art.7 Abs.3 GG und die Weiterentwicklung des Religionsunterrichts«, in diesem Band, S. 69–84. 11 Oebbecke, »Art. 7 Abs. 3 GG und die Weiterentwicklung des Religionsunterrichts«.

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Doch wäre es natürlich viel zu kurzschlüssig, die Aufwertung des Gedankens der Kooperation allein auf solche Äußerlichkeiten zurückzuführen. Die christliche Religionspädagogik war auch aus inneren Gründen bereit dazu, in diese Richtung zu gehen. Zwei Dinge scheinen mir dabei vor allem eine Rolle zu spielen. Zum einen ergibt sich die Bereitschaft aus der Geschichte der modernen christlichen Religionspädagogik heraus. Diese kann insgesamt als die Geschichte der Verhältnisbestimmung von traditioneller christlicher Katechetik und modernem pädagogischen Bildungsdenken erzählt werden.12 Sie stellt sich damit ein in die »Umformungskrise« des neuzeitlichen Christentums,13 welche durch Reformation und Aufklärung hervorgerufen wurde und nicht nur die Dogmatik, sondern auch die Praxisvollzüge des Christentums in der einen oder anderen Weise tangiert.14 Sie hat auf mühsamem und verschlungenem Wege ihr Leitparadigma verändert: weg vom Primat des Stoffs, hin zu den Gedanken der Schülerbzw. Subjektorientierung. Man sieht sich in der Pflicht, die religiösen Fragen und Bedürfnisse der Schülerinnen und Schüler wahrzunehmen und in den Mittelpunkt des Unterrichts zu rücken. Dabei dachte man freilich lange Zeit zunächst an die Glaubensnöte und -zweifel christlicher Kinder und solcher, deren Eltern sich mehr oder weniger vom Christentum abgewandt hatten. In Bezug auf unser Thema wurde dieses Ergebnis des Geschichtsverlaufs erst dann virulent, als ein zweites Datum hinzutrat, das in der religionspädagogischen Literatur – soweit ich sehe – bei weitem nicht die Aufmerksamkeit erfährt, die es der Sache nach eigentlich haben müsste: nämlich die Entscheidung der christlichen Kirchen, den schulischen Religionsunterricht auch für Kinder und Jugendliche zu öffnen, welche nicht der jeweiligen Konfession und Religion angehören; im Ergebnis: für alle.15 Es wird kaum je die Frage aufgeworfen, warum die christlichen Kirchen – 12 Dieses Drama zwischen Konkurrenz, wechselseitigem Überbietungsanspruch und vielfältigsten Ausgleichsversuchen ist seltsamerweise noch nicht erzählt worden: Es gibt bisher keine eigentliche Geschichte der Religionspädagogik; vgl. am ehesten Gerd Bockwoldt, Religionspädagogik. Eine Problemgeschichte, Stuttgart 1977. Erhellend ist allerdings bereits Christian Palmer, Evangelische Katechetik, Stuttgart 31851, S.1–70 (in der ersten Auflage noch sehr viel knapper). 13 Diesen Ausdruck Ernst Troeltschs und Emanuel Hirschs hat vor kurzem Bernd Schröder für den religionspädagogischen Kontext zustimmend aufgegriffen; vgl. Bernd Schröder, Religionspädagogik, Tübingen 2012, S. 3. 14 Für eine Überblicksskizze vgl. Andreas Kubik, Theologische Kulturhermeneutik impliziter Religion. Voraussetzungen und Implikationen eines praktisch-theologischen Paradigmas der Spätmoderne, Berlin/Boston 2018, S. 354–376. 15 Es ist zu erinnern, dass es keinen Rechtsanspruch gibt, am Religionsunterricht der eigenen Wahl teilzunehmen, sondern nur darauf, einen Religionsunterricht der je eigenen Religion (bzw. Konfession) zu erhalten. Genau diese Frage hatte bekanntlich das berühmte Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 25. 2. 1987 ausgelöst; vgl. Engelbert Groß/Andreas Weiß, Religion und Schule in der Rechtsprechung. Sammlung relevanter Gerichtsurteile, Münster 2005, S. 240–248.

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und mit ihnen die jeweiligen theologischen Religionspädagogiken – überhaupt meinten, ein für alle Kinder und Jugendliche passendes Bildungsangebot machen zu können. (Auch dazu eine Vermutung weiter unten.) Welche Antwort man auch immer geben würde: Aus der Verbindung dieser beiden Punkte entsteht die eigentliche Unruhe, welche für den Bedeutungsaufschwung des Gedankens der Kooperation bedeutsam sein dürfte: nämlich dass christliche Religionslehrer:innen – gewöhnt an den Gedanken der Subjektorientierung – sich nunmehr aus der Anwesenheit nicht-christlicher Kinder und Jugendlicher ein religionspädagogisches Gewissen machen. Von der Rechtslage her wären sie dazu überhaupt nicht verpflichtet: Sie könnten schlicht und ergreifend vollkörnigen evangelischen oder katholischen Religionsunterricht geben, nicht-christliche Kinder und Jugendliche als Gäste begrüßen und sich um deren Anliegen nicht weiter scheren, denn diese müssen ja nicht teilnehmen. Eine solche Vorgehensweise dürfte in der Regel als unangemessen (oder gar unbarmherzig) angesehen werden. Die christlichen Lehrkräfte möchten auch ihren nicht-christlichen Schülerinnen und Schülern gerecht werden. Sie empfinden aber stark, dass sie dies nicht ohne weiteres können, teils, weil ihnen religionskundliche Expertise fehlt, teils, weil sie die spezifischen religionspädagogischen Probleme, die sich aus anderen religiösen Traditionen (oder dem gänzlichen Fehlen einer solchen) ergeben, nicht überblicken. Der Anspruch, als christliche Religionslehrkraft auch nicht-christliche Kinder und Jugendliche subjektorientiert bilden und fördern zu können, bleibt implizit. Daher: Kooperation. Sieht man es so, dann ist der Gedanke der ›Kooperation‹ zunächst einmal eine Idee, um ein hausgemachtes Problem der christlichen Religionsdidaktik zu lösen. Dass dieser Umstand bislang kaum bemerkt wurde, liegt vermutlich an den äußeren Umständen und organisatorischen Schwierigkeiten des Religionsunterrichts.

2.

Wer will ›Kooperation‹?

Infolgedessen kann es auch nicht verwundern, dass eigentlich alle Buchpublikationen, die den Gedanken der ›Kooperation‹ bewerben oder zumindest sehr wohlwollend diskutieren, von christlichen Religionspädagog:innen stammen.16 16 Vgl. neben dem bereits genannten Band von Lindner et al., Zukunftsfähiger Religionsunterricht ferner Lothar Kuld et al. (Hgg.) Im Religionsunterricht zusammenarbeiten. Evaluation des konfessionell-kooperativen Religionsunterrichts in Baden-Württemberg, Stuttgart 2009; Carsten Gennerich/Reinhold Mokrosch, Religionsunterricht kooperativ: Evaluation des konfessionell-kooperativen Religionsunterrichts in Niedersachsen und Perspektiven für einen religions-kooperativen Religionsunterricht, Stuttgart 2016; bei Jan Woppowa/Tuba Is¸ık/Katharina Kammeyer/Bergit Peters (Hgg.), Kooperativer Religionsunterricht. Fragen – Optio-

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Hier hat der Gedanke vielfach nachgerade elektrisierendes Potenzial. Hingegen muss man nüchtern feststellen, dass die vermeintlichen Kooperationspartner dieser Idee keineswegs mit ähnlich einhelliger Begeisterung gegenüber stehen. Bevor ich dies ausführe, noch zwei Vorbemerkungen. Zunächst sei bemerkt, dass die Klarheit der Debatte meines Erachtens enorm dadurch eingetrübt wird, dass häufig nicht sauber zwischen christlich-konfessioneller Kooperation und Kooperation zwischen Religionen unterschieden wird, was sich insbesondere den Studierenden des Lehramts mitteilt und sich auf diesem Wege vermutlich auch in die schulische Praxis übersetzt.17 Vielfach wird so getan, als würde beides ungefähr auf einer Ebene liegen oder als sei letzteres einfach die Fortentwicklung von ersterem. Das ist mitnichten der Fall. Zur Erinnerung: Die konfessionelle Kooperation im Religionsunterricht, die in wenigen Bundesländern seit den späten 1990er Jahren offiziell praktiziert wird, zeichnet sich durch folgende Merkmale aus: – klare Vereinbarungen zwischen den Kooperationspartnern, – geregelte und transparente Verfahren in der Didaktik und in der Zuordnung der Lehrkräfte sowie der Zustimmung der Eltern, – begleitende wissenschaftliche Evaluationen und – eine starke theologische Begleitidee, nämlich die der ›Ökumene‹, wie auch immer man diese inhaltlich näher versteht. Nichts davon gibt es analog bezüglich der ›Kooperation‹ zwischen Religionen.18 Insbesondere hinsichtlich des letzten Punktes dürfte weitgehende Uneinigkeit herrschen: Geht es einfach nur um Religionsfrieden? Oder um eine größere Annäherung? Soll die ›Kooperation‹ im Religionsunterricht gar ein Mittel dazu sein, diese Annäherung zu erzielen? Speist sich der kooperative Wille aus der Idee eines großen ›monotheistischen Kontinuums‹, wie es der Ansatz des »trialogischen Lernens« nahe legt?19 Welcher außerschulischen Realität entspricht eigentlich die ›Kooperation‹ zwischen Religionen im Unterricht? Natürlich, zur nen – Wege, Stuttgart 2017, ist immerhin auf Herausgeber:innenebene muslimische Beteiligung gewährleistet. 17 So – neben meinen eigenen Gesprächserfahrungen – Ergebnisse einer Befragung von vier berufserfahrenen Grundschullehrkräften in Niedersachsen durch Hannah Sandeck, Die Anwesenheit muslimischer Kinder im evangelischen Religionsunterricht der Grundschule. Eine religionspädagogische Herausforderung (?), MA-Arbeit masch., Osnabrück 2020. 18 Dies gilt zumindest hinsichtlich der deutschen Diskussion, wenn man von Hamburg absieht (dazu einige Gedanken weiter unten). Ansonsten wäre hier vor allem auf den Religionsunterricht in England zu verweisen, der in einer Art Kooperation abgehalten wird, wenn auch unter deutlicher Vorrangstellung des Christentums; vgl. Karlo Meyer, Zeugnisse fremder Religionen im Unterricht. »Weltreligionen« im deutschen und englischen Religionsunterricht, Neukirchen-Vluyn 1999. 19 Vgl. Sajak, Interreligiöses Lernen, S. 53–81.

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Lösung wichtiger gesellschaftlicher Aufgaben müssen Menschen guten Willens zusammenarbeiten. Aber folgt daraus die Notwendigkeit einer Kooperation im schulischen Unterricht? An dieser Stelle ist – zweite Vorbemerkung – auch daran zu erinnern, dass bereits die konfessionelle Kooperation insgesamt sehr mühsam auf den Weg gebracht wurde und bis heute keineswegs einen akzeptierten Normal- oder gar Regelfall des Religionsunterrichts darstellt. Man kann sich noch nicht einmal sicher sein, dass nicht vielleicht ein neuer, konservativer katholischer Bischof nach seinem Amtsantritt die Uhr einfach zurückdreht und in seinem Zuständigkeitsbereich aus der konfessionellen Kooperation aussteigt.20 Auch ist die christliche Orthodoxie, die in Deutschland zahlenmäßig stark wächst, bislang noch so gut wie gar nicht berücksichtigt worden.21 Was spricht eigentlich dafür, dass es im Hinblick auf religionskooperatives Unterrichten leichter würde? Es kann doch auch nicht übersehen werden, dass die Genehmigung eines konfessionell-kooperativen Religionsunterrichts häufig als Ticket für einen Religionsunterricht im Klassenverband gebraucht wird,22 der schlicht und ergreifend als ungeplantes Experiment anzusehen ist.23 Unwilligkeiten der Schulleitungen, mehrere Religionsunterrichte zu organisieren, mögen ein Übriges tun. Meine eigenen Erkundigungen im Osnabrücker Land deuten darauf hin, dass eine nicht eben seltene Form des Religionsunterrichts der ›unfreiwillige Religionsunterricht für alle in nicht-ratifizierter christlicher Verantwortung‹ darstellt. Damit zurück zum eigentlichen Punkt. Bei der christlichen Freude an ›Kooperation‹ wird häufig übersehen, dass diese Freude auf Seiten der potenziellen Kooperationspartner nicht in der gleichen Weise geteilt wird. Am ehesten noch 20 So trägt derzeit etwa das Erzbistum Köln als einziges Bistum in Nordrhein-Westfalen die entstandene konfessionelle Kooperation nicht mit; unter anderem mit dem – nicht völlig von der Hand zu weisenden – Argument, »dass der konfessionell-kooperative Religionsunterricht landläufig als ›ökumenischer Unterricht‹ missverstanden werde«. (Presseerklärung des Erzbistums vom 20. 10. 2017; www.erzbistum-koeln.de; Abruf: 25. 11. 2020). Das Erzbistum macht ganz klar, dass es den konfessionell-kooperativen Unterricht als B-Lösung einstuft. 21 Vgl. dazu das Themenheft »Religionspädagogik und Orthodoxie« der Zeitschrift für Pädagogik und Theologie: David Käbisch/Ralf Koerrenz/Martina Kumlehn/Thomas Schlag/ Friedrich Schweitzer/Henrik Simojoki (Hgg.), Zeitschrift für Pädagogik und Theologie (ZPT) 71, Themenheft 4: Religionspädagogik und Orthodoxie (2019). 22 Vgl. dazu den Beitrag von Bernd Schröder, »Welche Formen von Religionsunterricht existieren neben dem konfessionellen Religionsunterricht – offiziell und im Graubereich?«, S. 149–177 in diesem Band. 23 Um auch hier nicht missverstanden zu werden: Als praktischer Theologe finde ich solche Experimente höchst faszinierend und traue der sich dort entwickelnden ›Weisheit der Praxis‹ auch einiges zu. Jedoch muss klar sein, dass diese Experimente, insofern zumeist christliche Lehrkräfte den Unterricht erteilen, zur Religionsfreiheit der nicht-christlichen Schülerinnen und Schüler und ihrer Eltern in einem mindestens ambivalenten Verhältnis stehen.

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gibt es dafür Ansätze auf muslimischer Seite, zumindest dort, wo es bereits enge Zusammenarbeit mit christlicher Theologie auf universitärer Ebene gibt. Doch selbst bei den religionspädagogisch progressiveren Stimmen plädiert man eher für kooperative Phasen, »nachdem dem Ganzen ein konfessioneller Religionsunterricht vorausgegangen ist«.24 Die Konsolidierung des Faches ›Islamischer Religionsunterricht‹ steht verständlicherweise im Vordergrund, bevor man sich auf den wackeligen Untergrund der ›Kooperation‹ begeben möchte. Deutlich kühler fällt bereits die Antwort auf die Kooperations-Avancen aufseiten des Faches Ethik/Philosophie/Werte und Normen aus. Zu Recht wird darauf hingewiesen, dass nicht von vornherein klar ist, in welcher Hinsicht eine solche Kooperation überhaupt stattfinden und was man sich davon versprechen sollte.25 Aus der Praxis ist der entgegenkommendste Satz: »Gelegentliche [gemeinsame] Projektphasen hätte ich gerne als festes Element im Unterricht«,26 was mit viel hermeneutischem Wohlwollen als »Willen zu einer dosierten Kooperation« ausgelegt werden kann.27 Vollends reserviert klingen die jüdischen Stimmen, selbst die aus einer eher liberalen Richtung: Sie schreiben der interreligiösen Begeisterung ins Stammbuch, »dass unser Hauptaugenmerk immer darin bestehe, in erster Linie eine gut verankerte jüdische Identität herzustellen«.28 Neben allgemeiner Toleranz fordern sie ebenso »Respekt vor der Differenz«29 und fürchten die Überformung durch einen Unterricht, welcher sich auf vermeintlich »gemeinsame Themen«30 beschränkt und gerade dadurch subtile Patronisie24 Tuba Is¸ık/Naciye Kamcılı-Yıldız, »Ein Streitgespräch über Konfessionalität im Islamischen Religionsunterricht«, in: Kooperativer Religionsunterricht. Fragen – Optionen – Wege, hrsg. von Jan Woppowa, Tuba Is¸ık, Katharina Kammeyer und Bergit Peters, Stuttgart 2017, S. 108– 122, hier S. 122. Das Zitat stammt von Tuba Is¸ık. 25 Vgl. den Beitrag von Anne Burkard in diesem Band (»Herausforderungen für die Kooperation zwischen bekenntnisorientiertem Religionsunterricht und seinen Ersatzfächern. Eine philosophiedidaktische Perspektive«, S. 179–202), die darauf aufmerksam macht, dass der religionsbezogene Anteil des Faches nicht im Vordergrund seines Selbstverständnisses steht; ferner Gesine Fuß, »Das Verhältnis von Ethik- und Religionsunterricht aus Sicht des Fachverbands Ethik«, in: Religions- und Ethikunterricht zwischen Konkurrenz und Kooperation, hrsg. von Bernd Schröder und Moritz Emmelmann, Göttingen 2018, S. 225–232, deren Position deutlich zu einem neutralen Ethikunterricht für alle hinneigt. 26 Rainer Merkel/Till Warmbold, »Religions- und Ethikunterricht im Alltag der Schule«, in: Religions- und Ethikunterricht zwischen Konkurrenz und Kooperation, hrsg. von Bernd Schröder und Moritz Emmelmann, Göttingen 2018, S. 27–53, hier S. 49. Das Zitat stammt von Till Warmbold. 27 Ebd. Das Zitat stammt von Bernd Schröder. 28 Elisa Klapheck/Rosa Rappaport, »Respekt vor dem Anderssein – ein Gespräch über Jüdischen Religionsunterricht und die Möglichkeit von interreligiösen Elementen«, in: Kooperativer Religionsunterricht. Fragen – Optionen – Wege, hrsg. von Jan Woppowa, Tuba Is¸ık, Katharina Kammeyer und Bergit Peters, Stuttgart 2017, S. 124–139, hier S. 132. Das Zitat stammt von Elisa Klapheck, gibt aber die Meinung beider wieder. 29 Ebd., S. 135. 30 Ebd.

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rungstendenzen aufweist, indem diese zumeist aus christlicher Perspektive angesteuert werden.31 Die vorsichtige Aussicht, eine gelegentliche »Austauschstunde«32 zu erwägen, kann in diesem Lichte als großes Entgegenkommen gewertet werden, nicht zuletzt angesichts der geschilderten, zutiefst ambivalenten konkreten Dialogerfahrungen. Gerade dieser letzte Punkt macht noch auf ein weiteres wenig reflektiertes Problem der »Kooperation« aufmerksam. Christliche Religionspädagog:innen haben in den letzten Jahrzehnten im engen Gespräch mit der allgemeinen Didaktik religionsdidaktische Prinzipien entwickelt, die inzwischen einen weitgehenden Konsens in der Fachwelt der christlichen Religionspädagogik bilden. Es ist von daher verständlich, wenn sie der Meinung sind, diese religionsdidaktischen Prinzipien würden gleichsam religionsübergreifend gelten. Aber diese Meinung ist irrig. Dazu ein instruktives Beispiel: Auf die oben genannte Hauptzielbestimmung des jüdischen Religionsunterrichts reagierte ein »christlicher Theologe irritiert. Er sagte, dass in seinem Umfeld der christliche Religionsunterricht nur ein Angebot zur Identifizierung darstellen dürfe.«33 Diese Auffassung dürfte, wie gesagt, weitgehend Konsens in der evangelischen wie katholischen Religionsdidaktik sein. Sofern sie aber für anderen Religionsunterricht als verbindlich gemacht würde, handelte es sich schlicht um einen Akt der Machtausübung,34 denn: Im jüdischen Religionsunterricht »kann es nicht nur um ein Angebot zur Identifizierung gehen, sondern um eine Vertiefung der Identität unter allen Umständen.«35 Dasselbe gilt für Prinzipien wie die Berücksichtigung der historischen Kritik oder dem Prinzip der »Schülerorientierung«.36 Wollte man z. B. aus christlicher Sicht Kritik an einem ›stumpfen Aus31 Genannt werden z. B. »die Themen Wiederauferstehung und Messias« (S. 134). Beide sind zwar Bestandteil der jüdischen Tradition, »Christen sind sich aber oft, glaube ich, nicht bewusst, dass sie das Thema vorgeben, das bei uns keine große Rolle spielt.« (Ebd.) Das Zitat stammt von Elisa Klapheck. – Zur Problematik des Vorgangs der ›Vergleichens‹ in Sachen Religion, bei der in der Regel nur die eine Seite das Vergleichsinteresse setzt, vgl. Michael Bergunder, »Comparison in the Maelstrom of Historicity. A Postcolonial Perspective on Comparative Religion«, in: Interreligious Comparisons in Religious Studies and Theology, hrsg. von Perry Schmidt-Leukel und Andreas Nehring, London 2016, S. 34–52. 32 Klapheck/Rappaport, »Respekt vor dem Anderssein«, S. 137. 33 Ebd., S. 132. 34 Vgl. zum Machtaspekt des interreligiösen Dialogs den Beitrag von Joachim Willems in diesem Band: »Art. 7 Abs. 3 GG bleibt – aber wohin geht der Religionsunterricht? Eine evangelische Perspektive«, S. 231–249. 35 Klapheck/Rappaport, »Respekt vor dem Anderssein«, S. 132f. 36 Christian Grethlein, »Islamischer Religionsunterricht in Deutschland. Aktuelle Fragen und Probleme«, in: ZThK 108 (2011), S. 355–380, hier S. 370f. – In dem verdienstvollen Werk von Saskia Eisenhardt/Kathrin S. Kürzinger/Elisabeth Naurath/Uta Pohl-Patalong (Hgg.), Religion unterrichten in Vielfalt: konfessionell – religiös – weltanschaulich. Ein Handbuch, Göttingen 2019, werden im didaktischen Teil zumeist schlicht christlich erprobte didaktische Ansätze auf interreligiöse Kontexte übertragen, in der Regel, ohne dass diese Übertragbarkeit

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wendiglernen‹ im Religionsunterricht üben wollen, so kann man diese Entscheidung für sich selbst ja fällen; Juden und Muslime würden sich zu recht befremdet zeigen, wenn diese Entscheidung religionsübergreifend gelten sollte. Zu den »Grundsätzen« (Art. 7 Abs. 3 GG) der Religionsgemeinschaften, nach denen unterrichtet werden muss, müssen sinnvollerweise auch die je eigenen religionsdidaktischen Prinzipien gehören. Über diese kann man unter Umständen in einen fruchtbaren Austausch treten, aber sie dürfen nicht einseitig für allgemein verbindlich erklärt werden.37 Noch gar nicht berücksichtigt sind in diesem Gespräch die Anbieter von säkularem Weltanschauungsunterricht,38 die zumal in Berlin eher als Konkurrenz denn als potenzielle Kooperationspartner wahrgenommen werden.

3.

Wofür steht ›Kooperation‹?

Ziehen wir ein Zwischenfazit. – Eine äußere Notwendigkeit zur Kooperation besteht nicht, sofern christliche Lehrkräfte nur bereit wären, mit deutlich kleineren Lerngruppen zu arbeiten, wie es andere Religionen auch schon seit langem handhaben, und sofern die Schulleitungen durchgehend willens wären, sich an die gesetzlichen Vorgaben zu halten. – Freiwillige konfessionelle Kooperationen sind, wo sie eingeführt sind, durchaus beliebt (und theologisch wie didaktisch gut legitimiert), aber zum einen in der Praxis doch oft mühsamer, als es auf den ersten Blick scheint, und zum anderen werden sie immer wieder auch zweckentfremdet bzw. in einen Religionsunterricht im Klassenverband mit unklarer Verantwortung umgewandelt. – Die möglichen Kooperationspartner – jüdischer und islamischer Religionsunterricht, Ethik- bzw. Werte-und-Normen-Unterricht – sind nicht in gleicher Weise angetan von der Kooperationsidee wie christliche Religionspädagog: innen; sofern sie freundlich interessiert reagieren, ist es schwer zu untervon den ›anderen‹ ratifiziert wurde (vgl. S.127–203). Der Sache nach liegt hier eine christliche Didaktik für heterogene Lerngruppen vor, die unmethodisch aus als plausibel empfundenen einzelnen Praxiserfahrungen gewonnen wurde – und als solche durchaus ihren Wert haben mag. 37 Jochen Bauer, Religionsunterricht für alle. Eine multitheologische Fachdidaktik (Religionspädagogik innovativ 30), Stuttgart 2019, weist völlig zu Recht darauf hin, dass bei diesem Gespräch »Vorsicht angebracht« sei, da manche Überlegungen »vor einem christlichen Hintergrund entwickelt wurden und bei ihrer Übertragung auf andere Religionen möglicherweise unbemerkt christliche Deutungsschemata einfließen könnten« (S. 295). 38 Vgl. dazu den Beitrag von Michael Bauer, »Weltanschauungsunterricht. Anmerkungen zu einem inzwischen 100jährigen Problem«, S. 87–99 in diesem Band.

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scheiden, ob die Reaktion allererst durch die christlichen KooperationsAvancen hervorgerufen wurde oder ob ›Kooperation‹ in ihrem genuinen Eigeninteresse liegt. Durch die Bank scheint das Ziel der Konsolidierung des eigenen Fachs eigentlich höher bewertet. – Gemeinsame religionsübergreifende didaktische Prinzipien gibt es bislang erst sehr bedingt; auch ist eine wirkliche theologische Leitidee eines solchen kooperativen Unterrichts bislang noch nicht absehbar. In der Regel sind Sekundärinteressen – z. B. Vereinfachung der Organisation – im Spiel. – Die Bevölkerung scheint – ohne dass es dafür wirklich belastbare Daten gäbe – tendenziell kooperative Formate gutzuheißen, allerdings in der Regel ohne dass sich ihre Interessen auf die theologischen Debatten dazu abbilden ließen. Ich habe hier die Angelegenheit etwas zugespitzt, um den Punkt deutlich ins Licht zu stellen. Aus ihm folgt die Frage: Warum wollen angesichts der soeben skizzierten Lage so viele christliche Religionspädagog:innen ›kooperieren‹; bzw. dasselbe anders: Was wollen christliche Religionspädagog:innen, wenn sie ›kooperieren‹ wollen? Ich möchte an dieser Stelle eine Hypothese formulieren, welche auf Widerspruch hofft, aber ebenso darauf, dass dieser nicht unter Missachtung der zuvor geltend gemachten Aspekte eingelegt wird. Als Anfahrtsweg komme ich noch einmal auf den Umstand zurück, der – obwohl auf den ersten Blick relativ nebensächlich scheinend – vermutlich doch als heuristischer Schlüssel gelten kann, nämlich dem Unbehagen der christlichen Lehrkräfte gegenüber kleinen Lerngruppen. Es ist relativ offensichtlich, dass immer dort, wo man (noch) von stabilen Besucherzahlen christlich-konfessioneller Lerngruppen ausgehen kann, das Bedürfnis nach ›Kooperation‹ weniger ausgeprägt ist. Wenn das richtig ist, dann sind alle Argumente, welche ›Kooperation‹ zum didaktischen Königsweg machen, nur bedingt schlüssig, da sie ja genauso gut auch entfallen können, wo eine Kooperation zahlenmäßig nicht erforderlich ist. Historisch gesehen ist ferner der Wunsch nach ›Kooperation‹ im protestantischen Bereich stärker ausgeprägt als im katholischen.39 Auch das bislang einzige genuin auf Kooperation basierende Modell – der Hamburger ›Religionsunterricht für alle in evangelischer Verantwortung‹ – ist ein Projekt, das sich protestantischer Programmatik verdankt; selbst der sehr elaborierte Versuch, sie in eine »multitheologische Fachdidaktik« zu überführen, kann seine christlich-protestantische

39 Erst seit 2016 akzeptiert die Deutsche Bischofskonferenz die konfessionelle Kooperation als reguläre Möglichkeit; vgl. Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz (Hg.), Die Zukunft des konfessionellen Religionsunterrichts. Empfehlungen für die Kooperation des katholischen mit dem evangelischen Religionsunterricht (Die deutschen Bischöfe 103), Bonn 2016.

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Herkunft nicht verleugnen.40 Das kann auch nicht überraschen, denn der gesellschaftlich bekannte und weithin akzeptierte didaktische Rahmen in Sachen Religionsunterricht ist nun einmal aus der jahrzehnte-, wenn nicht jahrhundertelangen Ausgleichsarbeit zwischen christlicher Katechetik und moderner Pädagogik entstanden. Die Bedeutung dieses Umstands ist religionspädagogisch bislang meines Erachtens noch nicht hinreichend zu Bewusstsein gelangt: Bereits das »Wie des Herangehens ist hier […] nicht neutral«.41 Nimmt man beide Faktoren zusammen, zum einen die Proportionalität von Kooperationswilligkeit und sinkender expliziter Christlichkeit und zum zweiten die christliche Grundierung aller bisherigen Didaktik der ›Kooperation‹, so scheint mir, dass folgende Hypothese dies Geflecht am besten erklärt: Der Willen zur ›Kooperation‹ kompensiert die verloren gegangene Selbstverständlichkeit des christlich-konfessionellen Religionsunterrichts und seiner (fast) flächendeckenden Verbreitung. Die kooperative Didaktik mit ihrer christlichen Grundierung ist der geeignete Weg, um den eigenen theologischen Überzeugungen, insofern sie sich in didaktische Grundsätze übersetzt haben (natürlich nicht als konkrete dogmatische Gehalte), weiterhin allgemeine Verbreitung zu sichern. ›Kooperation‹ wäre dann der Wunsch danach, eine gewisse Homogenität in religionspädagogischer Hinsicht für die Gesellschaft herzustellen. Faktisch können nur diejenigen Religionsgemeinschaften an einer solchen ›Kooperation‹ teilnehmen, welche mit dieser Homogenität vermittelbar sind. ›Kooperationen‹ mit – die hier eher zufällig aufgezählten Religionsgemeinschaften mögen die Unhöflichkeit entschuldigen – den Zeugen Jehovas, der Transzendentalen Meditation oder Scientology hat bislang niemand gefordert. In diesem Sinne wäre eine ›Kooperation‹, welche im Idealfall den gesamten Klassenverband umfasst, die Festschreibung einer Art christlicher Tiefengrammatik in der didaktischen Struktur des Religionsunterrichts. Um es noch einmal zu sagen: Die Stoßrichtung dieser Hypothese ist nicht Ideologiekritik oder Entlarvung. Es geht hier deshalb darum, das Gespräch um eine für alle Seiten gewinnbringende Kooperation um einen meines Erachtens etwas unterbelichteten Aspekt zu ergänzen, um dadurch für die Zukunft größere Klarheit über die Ziele und Anliegen von ›Kooperation‹ zu gewinnen.

40 Vgl. dazu meine Rezension des Werks von Jochen Bauer, in: Zeitschrift für evangelisches Kirchenrecht 66 (2021), S. 97–101. 41 Karlo Meyer, Grundlagen interreligiösen Lernens, Göttingen 2019, S. 60. Der Kontext leitet exzellent in die Fragestellung ein, vgl. ebd., S. 40–74.

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4.

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Was besagt das für die Zukunft?

Einmal angenommen, die Hypothese sei richtig: Was könnte daraus für die Zukunft religionspolitisch folgen? Es sind im Wesentlichen drei Szenarien, die in Frage kommen. 1) In Szenario 1 sagt man ›Kooperation‹, meint aber einen Religionsunterricht für alle in christlicher Verantwortung, wie es ihn vielfach – vor allem an Grundschulen, Gesamtschulen und Berufsschulen (dort in Gestalt einer Art undogmatischen christlichen ›Lebenskunde‹) – schon heute gibt. In der konkreten Umsetzung wird er sich in der Regel von einem ›normalen‹ evangelischen (und zum Teil auch katholischen) Religionsunterricht kaum unterscheiden: Er wird faktisch eine Einführung in das Christentum mit geringen Einsprengseln anderer Religionen bedeuten. Diejenigen Ziele, welche die Lehrkräfte damit verbinden, werden vermutlich gesellschaftlich relativ stark akzeptiert sein, auch wenn dieser Unterricht einer juristischen und religionsphilosophischen Rechtfertigung nicht fähig ist. Das Nachsehen hätten Kinder anderer Religionsgemeinschaften, insofern nur ganz punktuell – durch gelegentliche Besuche von entsprechendem Personal oder Lernen an anderen Lernorten – eine authentische Auseinandersetzung mit ihrer eigenen Tradition in der Schule ermöglicht wird.42 2) Ein zweiter Typus von Antwort setzt ganz auf die Dignität von religionsdidaktischen Maximen, welche sich zwar im christlichen Raum entwickelt haben, aber zugleich als allgemein verstanden werden.43 Von anderen Religionsgemeinschaften – insbesondere vom Islam – wird verlangt, dass sie sich diesen Zielen möglichst anpassen (Schülerorientierung, historische Kritik, Selbstrelativierung usw.), obwohl sie nur zum Teil von ihnen gegengezeichnet sind. Diesen Umstand könnte man billigend in Kauf nehmen und argumentieren, dass diese didaktischen Maximen in der Schule eben prioritär seien.44 Insofern wäre ein solches Szenario ein relativ offener christlicher didaktischer Paternalismus. Wie bei jedem Paternalismus käme dann viel auf 42 Das empfinden christliche Lehrkräfte auch sehr stark und versuchen ihr Möglichstes, um diesen Kindern religionsdidaktisch gerecht zu werden, was aber unter den gegebenen Bedingungen ein schwieriges Unterfangen ist. Das Machtgefälle dieses Szenarios zeigt sich auch darin, dass muslimische Eltern – häufig in Unkenntnis der Abmeldemöglichkeit, zumal in Grundschulen – immer wieder schon dankbar sind, dass überhaupt irgendetwas vom Islam im christlichen Religionsunterricht vorkommt. 43 Vgl. die häufig wiederkehrende Formulierung bei Bauer, Religionsunterricht für alle, diese oder jene im christlichen Beritt entwickelte didaktische Maxime »müsste auch von anderen Religionsgemeinschaften akzeptiert werden können«, S. 290 u. ö. 44 Von daher könnten die Kinder und Jugendlichen funktional gesehen dann ebenso gut in einen undogmatischen christlichen Religionsunterricht gehen, wie es ja faktisch heute vielerorts auch der Fall ist.

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das Wohlwollen des Hausherrn an. Es könnte sein, dass die nicht-christlichen Religionsgemeinschaften damit relativ gut fahren, wenn sie einer solchen ›Kooperation‹ zustimmen, wie es etwa in Hamburg lange Zeit der Fall war.45 Ihr Gewinn wäre, dass sich für sie Akzeptanzprobleme verringern, indem die christlichen Partner gleichsam die didaktische Dignität des Gesamtunternehmens verbürgten – aber eben auf Kosten der mangelnden Eigenständigkeit und geringer Berücksichtigung ihrer eigenen Bildungstraditionen. 3) Das gedanklich sauberste Szenario und zugleich das bei weitem am schwersten zu realisierende wäre eine Vertiefung des Gedankens der Kooperation, der dann auch eine Verständigung über Inhalte, Ziele, und didaktische Verfahren eine Einigkeit allererst diskursiv aushandeln müsste – bzw. verständnisvolle (und vielleicht gerade darin didaktisch fruchtbare) Verfahren entwickeln, wie man mit den bleibenden Differenzen umgehen könnte. Die christliche Religionsdidaktik müsste sich dann z.B. auch darauf ansprechen lassen, dass ihr Vorgehen von anderen Religionen als eine »Selbstbeschränkung« hinsichtlich der eigenen Inhalte wahrgenommen wird.46 Ob ein solcher Unterricht nicht schon bereits methodisch zu anspruchsvoll ist, um an der Schule umgesetzt zu werden, müsste die Zukunft zeigen. Jedenfalls dürfte es ohne eine entsprechende Dialog-Vorbereitung an der Universität kaum zu machen sein. Das große Versprechen der ›Kooperation‹ besteht darin, dass es der Gesellschaft und der Religion gemeinsam gut tut, wenn Religion in der Schule erörtert wird. Die Aushandlungsprozesse, welche die Existenz einer öffentlichen Religion in der modernen Gesellschaft mit sich bringen, werden besser in der Schule ausgetra45 Hingegen erscheint es mir gar nicht ausgemacht, dass der ›Hamburger Weg‹ bei seiner Erweiterung auf eine ›gemeinsame Verantwortung‹ der beteiligten Religionsgemeinschaften nicht in einer Sackgasse endet. Die verfassungsrechtlichen Bedenken sind immens, und die muslimischen Gemeinschaften könnten mittelfristig zu einem eigenen Unterricht übergehen, wenn es einmal zur Ausbildung muslimischer Lehrkräfte kommt. 46 Klapheck/Rappaport, »Respekt vor dem Anderssein«, S. 132. Eine solche – nämlich in der Form einer Ermäßigung zu einem bloßen ›Deutungsangebot‹ – ist keineswegs Ausdruck allgemeiner ›pädagogischer Verantwortung‹ des Religionsunterrichts, wie in der Tradition Karl Ernst Nipkows gern formuliert wird, sondern eine theologische Entscheidung einer partikularen Religionsgemeinschaft: Dies und das hält das moderne Christentum für das vom christlichen Standpunkt aus Gebotene. Wollte man diesen Gesichtspunkt auf seine Spitze treiben, so könnte man beinahe überlegen, ob ein ›kooperativer‹ Unterricht nach Szenario 1 und 2 nicht in Wahrheit eine Art katechetischen Unterrichts in einem sich selbst als ›undogmatisch‹ verstehenden Christentum (in der Tradition der christlichen Aufklärungspädagogik) darstellt. Sichtbar wird dies u. a. an Formulierungen in Praktikumsberichten von Studierenden, in denen sie – obwohl ihnen das niemand beigebracht hat – überraschend häufig schreiben: »Ich möchte den Schülerinnen und Schülern gern vermitteln, dass…«, worauf in der Regel die umgeformten modern-christlichen Glaubenswahrheiten folgen, etwa dass Gott alle Menschen liebt, dass sie für Gottes gute Schöpfung dankbar sein dürfen, dass Gott sich in Jesus den Menschen zuwendet usw.

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gen. Letztlich verspricht die ›Kooperation‹ – aber vermutlich nur die des Szenarios 3 – zu verhindern, dass gemeindliche und öffentliche Formen der jeweiligen Religionen auseinanderfallen. Ein Anhänger dieses Versprechens bin ich auch.

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Autor:innen

Annett Abdel-Rahman, Lehrerin und islamische Religionspädagogin, Forschungsgebiet: Kompetenzorientierung im islamischen Religionsunterricht. Sie ist Landeskoordinatorin für das Netzwerk der Lehrkräfte des Faches Islamische Religion im Auftrag des Kultusministeriums in Niedersachsen, Mitarbeiterin in den Kommissionen des Kultusministeriums zur Erstellung der Kerncurricula und Materialien für das Fach Islamische Religion, Lehrbeauftragte für Fachdidaktik Islamische Religion am Institut für Islamische Theologie der Uni Osnabrück, Lehrbeauftragte für Islam und Schule der Uni Vechta und Mit-Autorin der Schulbuchreihe Bismillah – Wir entdecken den Islam. Prof. Dr. Tarek Badawia ist Erziehungswissenschaftler, Religionspädagoge und Inhaber des Lehrstuhls für Islamisch-Religiöse Studien mit dem Schwerpunkt Religionspädagogik und Religionslehre am Department für Islamisch-Religiöse Studien an der Friedrich-Alexander-Universität in Erlangen-Nürnberg. Er arbeitet in Forschung und Lehre zu praktisch-theologischen und religionspädagogischen Fragestellungen im Themenfeld von Islam, Bildung und Gesellschaft. Dipl.-Pol. (Univ.) Michael Bauer, M. A., ist hauptamtlicher Vorstand der Humanistischen Vereinigung, einer bundesweit aktiven öffentlich-rechtlichen Körperschaft. Er studierte Musikwissenschaft, Politikwissenschaft und Soziologie an der Universität Erlangen-Nürnberg und der Musikhochschule Frankfurt am Main. Er engagiert sich als Mentor in der Studienförderung der Friedrich-EbertStiftung und als Mitglied des Auswahlausschusses des Humanistischen Studienwerks. Seit 2020 ist er Präsident der European Humanist Federation mit Sitz in Brüssel. Prof. Dr. Anne Burkard ist Professorin für Didaktik der Philosophie und das Fach Werte und Normen an der Georg-August-Universität in Göttingen. In der Philosophiedidaktik arbeitet sie unter anderem zu Umgangsweisen mit Skepsis

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Autor:innen

und Relativismus im Unterricht, zur Förderung argumentativer Fähigkeiten sowie zu Möglichkeiten fachspezifischer sprachlicher Bildung. Dr. Angelika Günzel, Leiterin des Militärrabbinats, zuvor Professorin für Verfassungsrecht an der Hochschule des Bundes für öffentliche Verwaltung in Brühl und zuständige wissenschaftliche Mitarbeiterin u. a. für Staatskirchenrecht am Bundesverfassungsgericht. Zu ihren Forschungsschwerpunkten gehören: Religionsverfassungsrecht in Deutschland mit besonderer Berücksichtigung des Judentums, das Verhältnis von Staat und Religion in Israel und jüdische Bildung im pluralen Staat. Uri R. Kaufmann ist seit 2011 Leiter der Alten Synagoge sowie des Hauses jüdischer Kultur in Essen. Dr. Eva-Maria Kenngott leitet den Arbeitsbereich Religionspädagogik am Institut für Religionswissenschaft und Religionspädagogik der Universität Bremen. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen moralische Bildung, interreligiöse Bildung und in der religionskundlichen Didaktik. Dr. Susanne Klinger, seit 2017 Vertretung des Lehrstuhls für Praktische Theologie: Pastoraltheologie und Religionspädagogik am Institut für Katholische Theologie der Universität Osnabrück. Forschungsschwerpunkte u. a.: Moralpädagogik, Autonomiediskurs und Wertebildung, religionstheologische Kulturhermeneutik, theologischer Methoden- und Begründungsdiskurs. Andreas Kubik, Professor für Praktische Theologie und Religionspädagogik am Institut für Evangelische Theologie an der Universität Osnabrück. Er forscht zu Grundfragen des Religionsunterrichts, zur religionsbezogenen Mediensozialisation sowie zur Geschichte der Religionspädagogik. Dr. iur. Hendrik Munsonius, M.Th., ist Referent am Kirchenrechtlichen Institut der EKD und Lehrbeauftragter in Göttingen. Univ.-Prof. Dr. Janbernd Oebbecke war bis 2018 Professor für Öffentliches Recht und Verwaltungslehre an der Universität Münster und Geschäftsführender Direktor des Kommunalwissenschaftlichen Instituts. Seine Forschungsschwerpunkte sind aus dem Verfassungs- und dem Allgemeinen Verwaltungsrecht das Organisationsrecht, aus dem Besonderen Verwaltungsrecht das Kommunalrecht sowie aus dem Religionsrecht das Recht des Religionsunterrichts und die Rechtsfragen des Islam in Deutschland.

Autor:innen

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Cos¸kun Sag˘lam studierte Psychologie und Sozialwissenschaften in Duisburg und ist seit 2012 wissenschaftlicher Koordinator am Institut für Islamische Theologie an der Universität Osnabrück. Dort lehrt und forscht er zudem im Bereich der Religionswissenschaft. Prof. Dr. Bernd Schröder, Professor für Praktische Theologie mit Schwerpunkt Religionspädagogik an der Theologischen Fakultät der Georg-August-Universität Göttingen. Said Topalovic, M.A., ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Islamische Religionspädagogik am Department für Islamisch-Religiöse Studien (DIRS) an der Friedrich-Alexander-Universität in Erlangen-Nürnberg. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen der Islamischen Religionspädagogik und Religionsdidaktik mit dem Fokus auf Kompetenzorientierung und Digitalisierung sowie der Lehrerprofessionsforschung. Prof. Dr. Dr. Joachim Willems, ist Professor für Religionspädagogik am Institut für Evangelische Theologie der Universität Oldenburg. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören unter anderem Fragen von religiöser Bildung in religiösweltanschaulich diversen Gesellschaften, diskriminierungskritische Religionspädagogik sowie das Verhältnis von Religion und Politik mit den regionalen Schwerpunkten Deutschland und Russland unter Berücksichtigung bildungspolitischer Fragen und der theologischen Anarchismusforschung. Prof. Dr. Jan Woppowa, Professor für Religionsdidaktik am Institut für Katholische Theologie in der Fakultät für Kulturwissenschaften der Universität Paderborn; Forschungsschwerpunkte: konzeptionelle Fragen religiöser Bildung, Didaktik des schulischen Religionsunterrichts in konfessioneller Heterogenität, Professionalisierung von Lehrkräften, religionspädagogische Fragen des jüdischchristlichen Dialogs.