Psychopharmakotherapie: Indikationen und Wirkweisen bei psychischen Störungen 9783666462610, 3525462611, 9783525462614

155 122 2MB

German Pages [152] Year 2006

Report DMCA / Copyright

DOWNLOAD FILE

Polecaj historie

Psychopharmakotherapie: Indikationen und Wirkweisen bei psychischen Störungen
 9783666462610, 3525462611, 9783525462614

Citation preview

Ulrike Schäfer / Eckart Rüther

Psychopharmakotherapie Indikationen und Wirkweisen bei psychischen Störungen

Mit 13 Abbildungen und 8 Tabellen

Vandenhoeck & Ruprecht

Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. ISBN 10: 3-525-46261-1 ISBN 13: 978-3-525-46261-4 © 2006, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen. Internet: www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Hinweis zu § 52a UrhG: Weder das Werk noch seine Teile dürfen ohne vorherige schriftliche Einwilligung des Verlages öffentlich zugänglich gemacht werden. Dies gilt auch bei einer entsprechenden Nutzung für Lehr- und Unterrichtszwecke. Printed in Germany. Satz: Text & Form, Garbsen. Druck und Bindung: Hubert & Co. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Produkthaftung: Autoren und Verlag haben sich um größtmögliche Genauigkeit bemüht. Dennoch kann für Angaben zu Präparaten und Applikationsformen keine Gewähr übernommen werden.

Inhalt

Vorwort ..............................................................................

9

Das Gehirn – die Psyche ................................................... Neurotransmitter – chemische Kuriere ......................

13 20

Gene oder Umwelt? ...........................................................

23

Psychische Störungen und die Chemie im Gehirn .......

25

Irrtürmer über Psychopharmakotherapie ......................

27

Neurotransmittersysteme und neurobiologische Modelle am Beispiel einiger psychiatrischer Erkrankungen .................................................................... Das Dopaminsystem .................................................... Das Noradrenalinsystem .............................................. Das Serotoninsystem .................................................... Das Azetylcholinsystem ............................................... Das GABA-System ........................................................ Das Glutamatsystem ..................................................... Die Neurotransmittersysteme im Zusammenspiel ... Neurobiologische Modelle am Beispiel psychiatrischer Erkrankungen .................................... Depressionen ............................................................. Schizophrenie ............................................................ Angststörungen ......................................................... Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörungen

33 34 35 37 39 39 40 40 41 41 47 53 59

6

Inhalt

Grundsätzliches zu Behandlungsmöglichkeiten psychischer Erkrankungen ...............................................

63

Grundsätzliches zur Psychopharmakotherapie ............. Einteilung ....................................................................... Wirkweisen ....................................................................

67 70 71

Spezielle Psychopharmakotherapie ................................. Antidepressiva ............................................................... Definition ................................................................... Einteilung ................................................................... Besonderheiten .......................................................... Wirkweise ................................................................... Indikationen .............................................................. Unerwünschte Arzneimittelwirkungen unter Antidepressiva allgemein ......................................... Unerwünschte Arzneimittelwirkungen unter SSRI, SNRI, SSNRI, NaSSA ...................................... Stimmungsstabilisierende Medikamente ................... Lithium ....................................................................... Valproat ...................................................................... Carbamazepin ........................................................... Lamotrigin ................................................................. Olanzapin ................................................................... Antipsychotika .............................................................. Tranquilizer und Anxiolytika ...................................... Benzodiazepine ......................................................... Niedrig dosierte Antipsychotika ............................. Trizyklische Antidepressiva ..................................... Andere Tranquilizer .................................................. Pflanzliche Tranquilizer ........................................... Beta-Blocker .............................................................. Hypnotika (Antiinsomnika, Schlafmittel) ................. Antidementiva ...............................................................

81 81 81 81 85 86 88 90 92 94 95 97 97 98 98 99 104 105 107 107 108 108 108 109 116

Inhalt

7

Psychostimulanzien ...................................................... 117 Entzugs- und Entwöhnungsmittel ............................... 119 Sexualtherapeutika ......................................................... 120 Psychopharmakotherapie im Kindes- und Jugendalter 121 Einsatz von Psychopharmaka bei spezifischen Störungsbildern im Kindes- und Jugendalter ................. Antipsychotika ............................................................... Einsatz von Stimulanzien .............................................. Antidepressive Medikation ........................................... Stimmungsstabilisierende Medikamente (mood stabilizer) ............................................................ Benzamide ....................................................................... Benzodiazepine ..............................................................

130 131 131

Beispiele multimodaler Behandlungen bei spezifischen psychiatrischen Erkrankungen ......................................... Depressionen .................................................................. Bipolare Störungen ........................................................ Angststörungen .............................................................. Zwangsstörungen ........................................................... Posttraumatische Belastungsstörung ........................... Schizophrenie ................................................................. Borderline-Störung ........................................................ Schlafstörungen .............................................................. Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung .....

133 133 136 137 139 140 141 141 143 147

127 127 128 129

Literatur ............................................................................... 149

Vorwort

Dieses Buch richtet sich an ärztliche und psychologische Psychotherapeuten. Es soll in leicht verständlicher Form über wichtige Wirkmechanismen und Einsatznotwendigkeiten verschiedenster Psychopharmaka informieren. Es entspricht der Alltagserfahrung der Autoren, dass noch immer häufig der psychopharmakologischen Behandlung gegenüber größte Skepsis, zum Teil Ablehnung, gezeigt wird – sowohl von den Patienten als auch von den sie behandelnden Psychotherapeuten. Dies geschieht dann zu Recht, wenn unüberlegt und nicht fachlich begründet zu schnell zu den »Psychopillen« gegriffen wird, birgt aber die Gefahr, dass notwendige ergänzende pharmakologische Behandlungen unterbleiben. Längst hat sich in der Fachwelt der Psychiater und der Psychotherapeuten die Erkenntnis durchgesetzt, dass es nicht ein Entweder-oder gibt. Der alte Grabenkampf »Medikamente oder Psychotherapie« ist (scheinbar) beendet. Die Praxis sieht oft anders aus – sei es, dass ideologisch gefärbte Ressentiments gegenüber Psychopharmaka bestehen, sei es, dass grundlegende Informationen über Indikationen für Psychopharmaka fehlen. Doch selbst wenn – was zu wünschen wäre – eine Offenheit gegenüber ergänzenden medikamentösen Behandlungen existiert, sind Informationen über Wirkweisen, Auftreten unerwünschter Arzneimittelwirkungen und notwendige Kontrolluntersuchungen unter den Medikamenten oft rar und schwer erhältlich. Pharmakologische Fachbücher sind eher unverständlich und

10 Vorwort verlieren sich in Details, populärwissenschaftliche Darstellungen sind dagegen oft einseitig verzerrend und entbehren häufig der Grundlage der evidence-based medicine. Wenn wir uns mit Wirkweisen der Psychopharmakotherapie und Psychotherapie auseinander setzen wollen, werden wir uns um die Funktionsweisen des Gehirns in seiner immensen Komplexität kümmern müssen, denn dies ist das »Organ der Seele« – der Ansatzpunkt für die medikamentöse und psychotherapeutische Behandlung. Untersuchungen der modernen bildgebenden Verfahren zeigen, dass es zu Hirnstruktur- und Funktionsänderungen sowohl bei medikamentöser als auch bei psychotherapeutischer Behandlung kommt. Psychische Störungen, Erleben von Ängsten, vor allem traumatisierende Erfahrungen, Reaktionen auf Stress und belastende Lebensereignisse hinterlassen Spuren im Gehirn – sie führen zu Veränderungen im Gehirn, die psychotherapeutisch als auch psychopharmakologisch wiederum veränderbar sind! Dass medikamentöse und psychotherapeutische Behandlungen in vielfältigster Weise verzahnt sind und sich nicht ausschließen, sondern im Gegenteil sich oft sinnvoll ergänzen, soll beispielhaft an wichtigen psychischen Störungsbildern erläutert werden. Dass wir in diesem Buch schwerpunktmäßig die psychopharmakologische Behandlung darstellen, bedeutet keinesfalls, dass wir die Psychotherapie vernachlässigen wollen. Die Autoren (beide sowohl Psychiater als auch Psychotherapeut) sind überzeugt davon, dass nur ein multimodales Behandlungskonzept aus Psychotherapie, Soziotherapie, Psychoedukation (meist mit Einbezug von Angehörigen) und nach sorgfältiger Abwägung von Für und Wider im Einzelfall Psychopharmakotherapie den komplexen psychischen Störungsbildern der Patienten umfassend gerecht werden kann. Letztlich liegt den psychischen Störungen oder Erkrankun-

Vorwort 11

gen ein komplexes Entstehungsgefüge aus sich verzahnenden biologischen und psychologischen Faktoren zugrunde. Dass wir uns in diesem Buch auf die Darstellung der Psychopharmakotherapie beschränken, liegt allein in der Tatsache begründet, dass wir nicht Eulen nach Athen tragen möchten ... Wir hoffen auf ein kritisches Lesepublikum und werden uns über Anregungen und Kritik freuen. Wenn das Buch dazu beiträgt, dass Psychotherapeuten – oft erste Ansprechpartner von psychisch kranken Menschen – auch an eine mögliche Psychopharmakotherapie denken oder bei bestehender, indizierter Medikation Patienten in der Compliance unterstützen, so hätte es sein Ziel erreicht. Ulrike Schäfer und Eckart Rüther

Das Gehirn – die Psyche

Spätestens seit Hippokrates – und das ist schon lang genug her – wissen wir, dass das Gehirn nicht nur der Ort des Denkens und des Gedächtnisses ist, sondern eben das Organ, in dem unsere Gefühle entstehen, unsere Wahrnehmungen verarbeitet werden und unser Verhalten geplant und gesteuert wird. Selbst Freud war der Meinung, dass die von ihm genannten psychischen Instanzen Ich, Es und Über-Ich im Gehirn ihren Ursprung haben. Was Hippokrates und Freud nur ahnen konnten, ist heute dank der modernen bildgebenden Verfahren zur Gewissheit geworden. Fühlen, Denken und Handeln sind neurobiologisch im Gehirn verankert. Genetische Veranlagungen für die Entwicklung neuronaler Strukturen, individuelle Verarbeitungsprozesse der psychosozialen Erfahrungen und Umwelteinflüsse sind dabei von größter Bedeutung. Kein anderer als Sigmund Freud war es, der als einer der Ersten beschrieb, dass das Gehirn aus untereinander verknüpften Neuronen (Nervenzellen) besteht und in ihrer Gesamtheit ein komplexes Nervennetzwerk bildet. Heute wissen wir, dass das Organ Gehirn kein starres System darstellt, sondern sich in einem steten Wandel befindet und sich sehr anpassungsfähig auf äußere Umstände ändern kann. Bei allen modernen Techniken und Erkenntnissen kommen wir jedoch schnell an unsere Grenzen: Das Gehirn ist derart komplex und kompliziert, dass wir es nicht mit unserem Gehirn begreifen können (das Gehirn versteht

14 Das Gehirn – die Psyche sich selbst nicht ...). In kaum zu glaubender Geschwindigkeit verarbeitet das Gehirn Milliarden von Informationseinheiten. Im Gehirn werden drei Arten von Gewebe unterschieden: die graue Substanz, die weiße Substanz und das Nervenwasser (der Liquor). Die Nervenzellen (Neuronen) bilden die graue Substanz. Die Neuronen sind quasi die »Kommandozellen« des Gehirns, es existieren im Großhirn etwa 1012 (!) dieser Zellen. Jede dieser Nervenzellen ist aufgebaut aus einem Zellkern, der die genetischen Informationen beinhaltet, Mitochondrien und kleineren Organeinheiten, die Enzyme, Proteine und Neurotransmitter bilden. Die Produktion dieser Neurotransmitter ist enorm wichtig, denn mit ihrer Hilfe kommunizieren die Neuronen untereinander. Die Nervenzellen haben vielfältige Dendriten (kleine Verästelungen), die es ihnen ermöglichen, viele Information gleichzeitig zu erhalten (s. Abb. 1). Das Neuron empfängt Reize, die als elektrischer Puls entlang seinem Axon weitergeleitet werden. Damit dies möglichst rasch geschehen kann, ist das Axon von einer Myelinschicht umgeben; es wird eine Leitungsgeschwindigkeit von etwa 20–60 m/s (!) erreicht. Auf diese Art und Weise gelingt es den Nervenzellen, über eine lange Distanz hinweg rasch zu kommunizieren. Diese Axone mit den Myelinscheiden bilden die weiße Substanz des Gehirns. Der elektrische Impuls wird am Ende des Axons mithilfe der Neurotransmitter auf die nächste Nervenzelle übertragen. Die Neuronen haben jedoch keinen direkten Kontakt, sondern sind über die Synapsen miteinander verbunden. An diesen Kontaktstellen befinden sich Rezeptoren für die unterschiedlichen Neurotransmitter. Binden sich Neurotransmitter an die Rezeptoren, so wird die Information von einem Neuron an das nächste weitergegeben.

Das Gehirn – die Psyche 15

Zellkörper Dendrit Zellkern mit genetischem Material Mitochondrium

Myelinscheide Axon

Synaptischer Spalt

Neurotransmitter Rezeptoren Dendrit

Abbildung 1: Aufbau einer Nervenzelle (schematische Vereinfachung)

Die Aktivität der Neurone führt jedoch nicht nur zur weiteren Informationsübermittlung, sondern zusätzlich zur Aktivierung des Zellkerns und über diesen zur Bildung von Proteinen gemäß der genetischen Information, die sich im Zellkern befindet. Infolge dieser Aktivität kommt es zur Ausbildung von Dendriten und Synapsen. Das heißt mit anderen Worten: Aktivitäten (Reize) führen zur Bildung von Hirnstrukturen und diese Hirnstrukturen beeinflus-

16 Das Gehirn – die Psyche sen wiederum die Aktivitäten. Es besteht somit – und das lebenslang! – eine Plastizität des Gehirns. Es ist daher von einem Wechselspiel zwischen Vererbung und Umwelt auszugehen. Es werden sensorische, motorische und so genannte Interneurone unterschieden. Die sensorischen Neurone sind für die Sinnesverarbeitung wie Sehen, Hören, Riechen, Tasten zuständig, die motorischen Neurone für die Muskelbewegungen und Drüsen, die Interneurone (Projektionsinterneurone genannt) für Informationsübermittlungen über große Distanzen im Gehirn. Interneurone führen zur Aktivierung oder Hemmung andere Neurone. Sie sind für Erinnerungsspuren, die Bildung von Assoziationen und das Lernen wichtig. Das Gehirn ist somit ein komplexes Netzwerk aus Neuronen und Interneuronen. Durch die komplexen Wechselwirkungen, Rückkopplungswege und Vielfältigkeiten der Verschaltungen, durch die Fähigkeit des Gehirns, sich stets an Umweltreize anzupassen, sich zu ändern, Aktivitäten zu steigern oder zu hemmen, ist einerseits die Plastizität begründet und andererseits ein dauerhaftes Lernen möglich. Es ist aber auch der Grund, warum ein jedes Gehirn individuell ist. Kein Gehirn arbeitet wie ein anderes. Diese unbegrenzte Komplexität ermöglicht uns vielfältige Denk- und Handlungsmöglichkeiten, erlaubt höchst individuelle Gefühle und ist letztlich Grundlage unserer einzigartigen individuellen Persönlichkeit. Durch den anatomischen Aufbau des Gehirns (es wirkt wie gefaltet) ist es möglich, trotz wenig Platz (der Schädel ist knöchern begrenzt) viele Neurone unterzubringen. Ins Gehirn gelangen etwa 2,5 Millionen Nervenfasern von allen Sinnesorganen, jedes dieser Axone gibt bis zu 300 Impulse pro Sekunde ab. Etwa 1,5 Millionen Axone verlassen das Gehirn.

Das Gehirn – die Psyche 17

Bereits in der Schwangerschaft werden diese Neurone im großen Umfang gebildet, mit einer Geschwindigkeit von rund 250.000 Neuronen pro Minute. Die Neurone wandern je nach ihrer Bestimmung an ihren Ort im Gehirn. Kommt es zu diesem Zeitpunkt zu einer Infektion, so kann dieser Prozess beeinträchtigt werden. Sobald die Neurone ihren eigenen Platz im Gehirn eingenommen haben (etwa zum Zeitpunkt der Geburt), werden die Verbindungen unter den Neuronen geknüpft. Das Dendritenwachstum ist in den ersten Lebensjahren besonders groß, es hält jedoch das ganze Leben an. Synapsen werden besonders von der 15. Schwangerschaftswoche bis zum dritten Lebensjahr gebildet, wenn sie nicht verwendet werden, sterben sie ab. Das geschieht vom 3. bis zum 19. Lebensjahr. Ab dem 19. Lebensjahr bis zum Lebensende findet ein ständiger Auf- und Abbau der Synapsen statt. Synapsen, die viel benutzt werden, verstärken sich, diejenigen, die kaum oder gar nicht benutzt werden, sterben ab. Welch ökonomisches System! Individuelle Erfahrungen und Verarbeitung der Lebensereignisse führen zu einer steten Wandlung des Nervensystems. Das Gehirn ist ein Informationsverarbeitungssystem, das sich selbst strukturiert – je nach Wechselwirkung und Erfordernis mit der Umwelt. Somit ist die Gehirnentwicklung abhängig von physikalischen und psychologischen Erfahrungen. Jede Wahrnehmung, jedes Denken und Fühlen führt zu Aktivierungen im Gehirn, die ihre Spuren deutlich hinterlassen: jeweils kleine Veränderungen im Gehirn. Dabei beeinflussen Umwelterfahrungen die Gehirnentwicklung immens. Fehlen zu bestimmten Entwicklungszeiten entsprechende Reize, zum Beispiel bei der Entwicklung des Seh- oder des Sprachzentrums, so können diese Zellen nicht gebildet werden. Wenn nun psychologische und biologische Umweltein-

18 Das Gehirn – die Psyche flüsse Veränderungen des Gehirns bewirken, bedeutet dies aber auch, dass durch Psychotherapie (und Psychopharmakotherapie) Änderungen des Gehirns herbeigeführt werden können. An dieser Stelle möchten wir uns auf die Darstellung von zwei Hirnsystemen beschränken. Das präfrontale System (Stirnhirn), welches etwa ein Drittel der Großhirnrinde des Menschen ausmacht, ist für abstraktes Denken, Problemlösen und zeitliche Strukturierungen von Verhalten wichtig. Es ist unsere moralische Instanz und entspricht im psychoanalytischen Sinn dem Über-Ich. Im präfrontalen System wird bewertet, wird etwas für gut oder schlecht deklariert. Eine andere wichtige Hirnstruktur ist das limbische System, der Ort der Emotionen – psychoanalytisch gesprochen: das Es. Das Frontalhirn ist die jüngste Region der Großhirnrinde, das limbische System die phylogenetisch ältere Struktur. Zwischen beiden Regionen gibt es viele Verbindungen. Im limbischen System werden Emotionen erlebt und reguliert. Das limbische System erhält zahlreiche Informationen aus verschiedenen Hirnregionen (zum Beispiel aus dem Gyrus cinguli, aus dem Hippokampus, aus dem Hypothalamus und dem Thalamus). Durst, Hunger sowie sexuelle Impulse werden von hier aus reguliert. Reaktionen auf Umweltreize sowie Verknüpfungen emotionaler Erfahrungen und Erinnerungen sind weitere Funktionen des limbischen Systems. Ein Teil des limbischen Systems, die Amygdala, gilt als besonders wichtig, quasi als Hauptschaltzentrale der Angstreaktionen. Der Hypothalamus kontrolliert die Nahrungs- und Flüssigkeitsaufnahme, das Sexualverhalten, das Schlafen und den Wachzustand, ferner Temperatur- und Kreislaufregulation, aber auch Angriffs- und Verteidigungsverhalten.

Das Gehirn – die Psyche 19

Der Hippokampus ist besonders für das Gedächtnis von großer Bedeutung, wobei Verknüpfungen vom Hippokampus zur Amygdala, zum Hypothalamus, zum Raphekern und zum Locus coeruleus sowie zum Nucleus accumbens eine große Rolle spielen. Der Nucleus accumbens wird als inneres Belohnungssystem angesehen. Er wird dann aktiviert, wenn eine Situation besser als erwartet ausfällt. Sämtliche Hirnstrukturen untereinander sind in komplexer Art und Weise verknüpft und verschaltet, modern gesprochen »vernetzt«, sie befinden sich in ständiger Wechselwirkung und steten Rückkopplungsmechanismen. Somit wird die Frage »Gefühl oder Verstand?« unsinnig. Emotionen und Gedanken stehen in stets sich ergänzenden und verzahnenden Bedingungen zueinander. Kommt es in diesem komplexen System zu Dysbalancen, fehlen notwendige Feinabstimmungen, so können Gefühle mächtig werden und zur alleinigen Steuerung des Verhaltens führen. Es resultiert ein Verhalten, das dann meistens auffällig wird, da die kognitive Kontrolle ausgeschaltet ist. Beispiele hierfür sind Patienten mit Stirnhirntumoren oder Schlaganfällen in dieser Hirnregion. Viele Aktivitäten – besonders die des limbischen Systems – laufen ab, ohne dass wir sie bewusst wahrnehmen: positive oder negative Gefühle, Gedanken und Assoziationen. Aber auch das ist uns seit Freud bekannt: Das Unbewusste lenkt uns stärker als unser bewusstes Ich. Auch hier wird eine Verzahnung psychoanalytischer Theorien und moderner neurobiologischer Psychiatrie deutlich.

20 Das Gehirn – die Psyche

Neurotransmitter – chemische Kuriere Der Informationsaustausch zwischen den Neuronen findet mithilfe der Neurotransmitter statt. Es werden verschiedene Neurotransmittersysteme unterschieden, so zum Beispiel: Noradrenalin, Serotonin, Dopamin, Azetylcholin, GABA und Glutamat. Je nach Lokalisation im Gehirn sind diese Systeme unterschiedlich verteilt und gewichtet. Untereinander sind sie auf vielfältigste Art und Weise miteinander verknüpft. Auf diese Art und Weise kommt es zu einer großartigen, fein abgestimmten Organisation des Gehirns. Bei einigen psychiatrischen Erkrankungen kommt es zu Fehlfunktionen dieser Neurotransmittersysteme, so beispielsweise ist bei schizophrenen Psychosen eine Dopaminstörung festzustellen, bei Depressionen, Angsterkrankungen und Zwangsstörungen kommt es zu Noradrenalin- und Serotoninstörungen. Neben den Kurierdiensten haben die Neurotransmitter jedoch weitere Aufgaben bei der Regulierung von Auf- und Umbau neuronaler Verschaltungen sowohl während der kindlichen Gehirnentwicklung als auch bei Veränderungsprozessen im Erwachsenengehirn. Psychopharmaka setzen an diesen Neurotransmittersystemen in ihrer Wirkung an (dazu später). Hinzuweisen ist noch auf die große Bedeutung des Azetylcholinsystems bei der Speicherung von Gedächtnisinhalten, dies ist der Ansatzpunkt für die Antidementiva (auch hierzu später). Fassen wir das bisher Gesagte zusammen: Wie immer wir uns verhalten, was immer wir handeln, denken oder fühlen, es führt gleichsam zur Aktivierung verschiedenster Hirnregionen. Diese große Komplexität des Gehirns kann mit einem Symphonieorchester verglichen werden. Ein fein abgestimmtes Zusammenspiel ist die Bedingung für eine wohl

Neurotransmitter – chemische Kuriere 21

klingende Musik. Ein jeder von uns spielt dabei seine höchst individuelle komplexe Symphonie, die er selbst komponiert und zugleich dirigiert. Unser Gehirn ist somit das Resultat unserer Erfahrungen, es ist einzigartig und macht die Individualität der menschlichen Persönlichkeit aus.

Gene oder Umwelt?

Die Polarität Genetik versus Umwelt ist keine mehr. Umwelt und Genetik sind keine Konkurrenten, es gibt kein Entweder-oder. Genetik und Umwelt stehen in einem sich bedingenden und verzahnenden Wechselspiel zueinander. Die Genetik determiniert uns nicht, sie legt uns nicht fest, wenngleich wir – ein jeder individuell – unsere genetischen Anlagen bei der Geburt mitbringen. Unsere Gene sind jedoch in höchstem Maß flexibel, sie reagieren auf Erfahrungen und Entwicklungen, sind in der Lage, sich dem Bedürfnis der Umwelt anzupassen. Die Genetik kann uns eine erhöhte Vulnerabilität oder Robustheit geben, was uns je nach Umweltsituation und Lebensereignissen entweder anfälliger oder immun machen kann. Die Tatsache, dass die Gene, die wir in jeder unserer Körperzellen (mit Ausnahme der roten Blutkörperchen) tragen, nicht grundsätzlich aktiviert sind, sondern je nach Lebensereignissen und Wechselwirkungen mit der jeweiligen Umwelt an- oder abgeschaltet sind, zeigt diese hohe Flexibilität. Der Mechanismus der aktivierten oder passiven Gene wird Genexpression genannt. Diese Möglichkeit der Gene, flexibel zu sein, ist der Grund, warum wir nicht genetisch streng und eindeutig determiniert sind. Wir sind also nicht Marionetten unserer Gene, wir sind aber auch nicht Spielball unserer Umwelt; beide stehen in wechselseitiger Beziehung. Bei vielen psychiatrischen Erkrankungen (und nicht nur dort) wird die Erkrankung nicht direkt vererbt, sondern lediglich die erhöhte Vulnerabilität, ein Erkrankungsrisiko. Je

24 Gene oder Umwelt? nach Lebensereignissen kommt es zur Manifestation einer Erkrankung. Deshalb ist die Frage, ob nun Umweltereignisse oder Genetik wichtiger sind, ähnlich wie die Frage, die der Physiologe Hepp gestellt hat: »Was ist einem Rechteck wichtiger – die Länge oder die Breite?« Aus der Life-Event-Forschung bei Depressionen ist bekannt, dass Stress, Verlusterfahrungen oder Traumata eine große Rolle bei den Menschen spielen, die anlagebedingt vulnerabel sind. Menschen dagegen mit einer anlagebedingten Robustheit sind trotz widrigster Lebensumstände nicht aus der Bahn zu werfen. Genetische Untersuchungen zeigen, dass Menschen mit einer erhöhten Vulnerabilität für affektive Störungen ein verändertes Serotonin-Transportergen haben. Fassen wir die Problematik Gen oder Umwelt zusammen: Unsere Gene geben uns keine starren Strukturen, die uns determinieren, sondern sie stehen in ständiger Wechselbeziehung zur Umwelt und unterliegen einem dynamischen Prozess, sie reagieren flexibel, veränderbar – ähnlich wie wir es auch vom Gehirn kennen.

Psychische Störungen und die Chemie im Gehirn

Alle Leistungen des Gehirns – also Gedanken, Gefühle, Sinneswahrnehmungen, Bewegungen, Bewertungen – sind Funktionen von Neuronennetzwerken, die wiederum das Ergebnis der Wechselwirkungen von Genetik und Umwelt (Erfahrung) sind. Psychische Beeinträchtigungen beruhen auf Funktionsstörungen dieser Neuronennetzwerke, besonders im limbischen System. Sie können durch genetisch bedingte Vulnerabilität sowie vorgeburtliche, frühkindlich erworbene oder im späteren Lebensalter erlittene Beeinträchtigungen entstanden sein. Folge dieser Veränderungen sind beispielsweise erhöhte oder erniedrigte Neurotransmitterfunktionen. Mit moderner Bildgebung lässt sich nachweisen, dass bei psychischen Störungen die Aktivität dieser Neuronen im limbischen System erhöht oder erniedrigt ist. Ziel der Einflussnahme – sei es durch Psychotherapie oder sei es durch Psychopharmakotherapie – muss also sein, die seelische Befindlichkeit des Patienten so zu bessern, dass die Fehlfunktionen dieser Neuronennetzwerke behoben wird. Sowohl Psychotherapie als auch Psychopharmakotherapie führen zu einer Veränderung dieser komplexen Systeme; mithilfe moderner bildgebender Techniken konnte dies gezeigt werden. Mit anderen Worten: Durch Psychotherapie (der Patient macht neue Erfahrungen, er erhält neue Erkenntnisse) werden Funktionsabläufe des Gehirns verändert, es können neue Verhaltensmuster und Emotionen entstehen, die wiederum Veränderungen der Aktivitäten in

26 Psychische Störungen und die Chemie im Gehirn Neuronen und Synapsen, also in den neuronalen Netzwerken bewirken. Durch die Psychotherapie kommt es zu Reorganisationsprozessen neuronaler Netzwerke sowohl auf der Ebene des Fühlens als auch des Denkens und Handelns. Psychotherapie ermöglicht somit, die Potenzen des Gehirns zu nutzen. Ähnlich wirken Psychopharmaka. Auch sie führen zu einer Reaktivierung des Gehirns und verändern Dysbalancen in den unterschiedlichen Neurotransmittersystemen, was unter anderem zur Folge hat, dass die Patienten stressresistenter werden.

Irrtürmer über Psychopharmakotherapie

Irrtum Nr. 1: »Psychische Störungen haben keine biologischen Entstehungsbedingungen und sollten ausschließlich mit Psychotherapie behandelt werden.« Zu vielen psychischen Erkrankungen gibt es inzwischen zahlreiche Untersuchungsergebnisse, die biologische (hirnbiologische, neurochemische, genetische) Entstehungsbedingungen belegen. Bei Depressionen, bei manisch-depressiven Erkrankungen, bei Zwängen, bei Angststörungen, bei schizophrenen Psychosen und bei Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörungen (ADHS) liegen biologische Vulnerabilitäten vor, die auf genetische Faktoren zurückzuführen sind. Psychopharmaka sind bei schizophrenen Psychosen und bei bipolar affektiven Erkrankungen immer einzusetzen, bei Depressionen, Ängsten, Zwängen und bei ADHS sind sie häufig ergänzend zu verwenden. Irrtum Nr. 2: »Alle Psychopharmaka führen zur Abhängigkeit.« Psychopharmaka werden häufig gleichgesetzt mit Beruhigungsmitteln. Beruhigungsmittel sind jedoch nur eine Substanzgruppe unter vielen anderen psychopharmakologischen Medikamenten. Selbstverständlich besteht bei Benzodiazepinen ein hohes Abhängigkeitspotenzial, deswegen sollten Benzodiazepine ausschließlich zeitlich limitiert zum Einsatz kommen. Andere Psychopharmaka wie Antidepressiva oder Antipsychotika haben hingegen kein Abhängigkeitspotenzial, das heißt, sie können – bei entsprechender

28 Irrtümer über Psychopharmakotherapie Indikation – unter Umständen auch dauerhaft eingesetzt werden. Irrtum Nr. 3: »Wenn eine Psychotherapie durchgeführt wird, dürfen keine Psychopharmaka genommen werden. Psychopharmaka stören den therapeutischen Prozess. Psychotherapie schließt eine Psychopharmakotherapie aus.« Oft lässt sich erst durch eine Psychopharmakotherapie überhaupt eine Bereitschaft und Möglichkeit zur Psychotherapie erzielen. Bei einigen psychiatrischen Erkrankungen, so beispielsweise bei der schizophrenen Psychose, sollte medikamentös therapiert werden. Wahnsymptome oder Halluzinationen lassen sich nicht durch Psychotherapie behandeln. Hier müssen Antipsychotika eingesetzt werden. Wenn der Patient frei von akuten psychotischen Symptomen ist, ist er für mögliche psychotherapeutische Maßnahmen zugänglich, wie beispielsweise Erlernen von Coping-Strategien, Verbesserung der familiären Kommunikation, Stressmanagement, Frühwarnsymptomtraining und vieles mehr. Auch ein schwer depressiv erkrankter Patient ist oftmals in seinem Antrieb so herabgesetzt, dass er zunächst medikamentös antidepressiv behandelt werden muss, damit er überhaupt die Möglichkeiten der Psychotherapie nutzen kann. Was würde es bringen, wenn in der Psychotherapie über verschiedene Aktivitätspläne und Aufbau positiver Aktivitäten gesprochen wird, wenn der Patient aufgrund seines Antriebsmangels nicht in der Lage wäre, diese im Alltag umzusetzen? Ein sinnvoller Einsatz von Psychopharmaka muss in die Psychotherapie einbezogen werden. Aber der Patient darf sich nicht auf das Pharmakon allein verlassen. Der Prozess der psychischen Änderung wird durch das Pharmakon verbessert, aber durch die alleinige Gabe wird ein psychischer Prozess nicht verändert.

Irrtümer über Psychopharmakotherapie 29

Irrtum Nr. 4: »Eine dauerhafte Psychopharmakotherapie ist grundsätzlich abzulehnen.« Bei psychiatrischen Erkrankungen, die in Episoden verlaufen, wie beispielsweise die manisch-depressive Erkrankung, rezidivierende depressive Episoden oder psychotische Episoden im Rahmen einer schizophrenen Psychose, ist unter Umständen eine lebensbegleitende (um das Wort lebenslänglich zu vermeiden) Behandlung notwendig. Sicherlich muss in der Individualsituation geprüft werden, ob die Voraussetzungen für eine vorbeugende Medikation (Prophylaxe) gegeben sind. Andererseits muss der Patient davor geschützt werden, immer wieder erneute Rezidive zu erfahren, die ihn sowohl im Hinblick auf seine Lebensqualität als auch im Hinblick auf seine psychosoziale Reintegrationsfähigkeit erheblich beeinträchtigen. Unter Umständen muss dann das Motto gelten: »Lieber mit Medikamenten gesund als ohne krank.« Selbstverständlich ist gerade bei einer dauerhaften Psychopharmakotherapie darauf zu achten, dass der Patient mit dem für ihn individuell am besten verträglichsten Medikament eingestellt ist. Regelmäßige Kontrolluntersuchungen bezüglich der Notwendigkeit weiterer Medikation und Überprüfung auf mögliche Nebenwirkungen sind selbstverständlich notwendig. Bei der grundsätzlichen Indikation zur vorbeugenden Medikation sind individuelle Faktoren zu berücksichtigen, vor allem muss sich immer die Frage gestellt werden, was es für diesen Patienten bedeuten würde, wenn er eine erneute Erkrankungsphase hätte (zum Beispiel berufliche Folgen, familiäre Folgen). Irrtum Nr. 5: »Häufig helfen Antidepressiva ohnehin nicht, dann kann man es auch gleich bleiben lassen.« Zunächst muss bei der Auswahl des Antidepressivums überlegt werden, welche Symptomatik für den Patienten individuell am belastendsten ist. Ist es die Unruhe, so sollte zu-

30 Irrtümer über Psychopharmakotherapie nächst ein sedierendes Antidepressivum eingesetzt werden. Ist es die Antriebsstörung, so sollte eher ein antriebssteigerndes Antidepressivum eingesetzt werden. Es ist also auf die jeweilige Zielsymptomatik zu achten. Ein häufiges Phänomen ist, dass die Patienten nicht ausreichend lange und nicht genügend hoch dosiert das Antidepressivum nehmen (was häufig an den Verordnungsweisen der Ärzte liegt!). Erst wenn ein Patient mindestens drei bis sechs Wochen ausreichend hoch dosiert ein Antidepressivum genommen hat und ein entsprechender Blutplasmaspiegel der jeweiligen Substanz vorliegt (Blutentnahme zwölf Stunden nach letzter Einnahme, so genanntes drug monitoring), kann von Therapieversagen dieses Antidepressivums gesprochen werden. Es sollte dann auf ein anderes gewechselt werden, das zu einer anderen Klasse von Antidepressiva gehört als das bereits ausprobierte (s. Kap. »Spezielle Psychopharmakotherapie – Antidepressiva«). Oft werden diese Regeln nicht beachtet. Der Patient erhält eine unzureichende Tagesdosis, er nimmt die Medikamente unregelmäßig ein, es wird zu rasch gewechselt und dann meist auf ein Präparat, welches der gleichen Klasse angehört wie das bereits erfolglos eingesetzte Antidepressivum. Häufig nehmen die Patienten die Medikation aus Angst vor Auftreten unerwünschter Arzneimittelwirkungen (Nebenwirkungen) nicht – oder sie haben bereits Nebenwirkungen, die nicht tolerabel sind. Selbstverständlich sollten die Patienten von ihrem behandelnden Psychiater ausführlich über die Möglichkeit aufgeklärt werden, dass unerwünschte Arzneimittelwirkungen auftreten. Es ist eine Alltagserfahrung, dass Patienten die Nebenwirkungen eher tolerieren, wenn sie im Vorfeld darüber ausführlich informiert worden sind. Oft sind die Nebenwirkungen zu Beginn der Behandlung am größten, meist auch in der Zeit, in der der Patient noch keine für ihn subjektiv spürbare Verbesserung durch die Medikamente erlebt. Die meisten Antidepressiva brau-

Irrtümer über Psychopharmakotherapie 31

chen ein bis drei Wochen, bis sie zu für den Patienten wahrnehmbaren Veränderungen führen. Auch über diese Wirklatenz muss der Patient vor Beginn der Behandlung aufgeklärt werden. Es sollte also nicht voreilig eine Therapie abgebrochen oder als erfolglos deklariert werden. Nach drei bis sechs Wochen ausreichend hoher und genügend langer Dosisgabe sollte eine deutliche Besserung zu verzeichnen sein, anderenfalls sollte in eine andere Substanzklasse gewechselt werden. Irrtum Nr. 6: »Wenn ein Psychopharmakon nicht wirkt, ist es ein Zeichen dafür, dass der Patient die Medikamente nicht nimmt.« Bei unzureichender Wirkung eines Psychopharmakons sollte der Blutplasmaspiegel kontrolliert werden. Dem Patienten sollte zwölf Stunden nach letzter Einnahme des Medikaments Blut entnommen werden, um den Plasmaspiegel dieses Medikaments zu bestimmen. Für viele Medikamente gibt es so genannte therapeutische Bereiche. Ein erniedrigter Plasmaspiegel kann unterschiedliche Ursachen haben. Einerseits kann es ein Hinweis darauf sein, dass der Patient die Medikamente nicht ausreichend hoch nimmt oder aber dass er sie nicht regelmäßig nimmt. Es kann jedoch auch trotz regelmäßiger Einnahme und ausreichend hoher Dosierung zu einem erniedrigten Spiegel kommen, wenn der Patient ein so genannter rapid metabolizer ist, das heißt, er verstoffwechselt die Medikamente schnell – das liegt an einem schnellen Metabolismus seiner Leber. Dann müsste die Medikation weiter erhöht werden, bis ein Spiegel erreicht wird. Es ist also im Einzelfall genau zu prüfen, warum individuell das eingesetzte Medikament nicht wirkt.

32 Irrtümer über Psychopharmakotherapie Irrtum Nr. 7: »Psychopharmaka verändern die Persönlichkeit.« Psychopharmaka verändern per se nicht die Persönlichkeit, sondern sie verändern die Hirnfunktionsstörung, die einen wesentlichen Beitrag zur psychischen Erkrankung beiträgt. Sie führen eher dazu, dass der Patient wieder seine ursprüngliche Persönlichkeit zurückgewinnt.

Neurotransmittersysteme und neurobiologische Modelle am Beispiel einiger psychiatrischer Erkrankungen

Es werden folgende Neurotransmittersysteme unterschieden: das Dopaminsystem, das Noradrenalinsystem, das Serotoninsystem, das Azetylcholinsystem, das GABA-System und das Glutamatsystem. Die Verfügbarkeit der Neurotransmitter hängt unter anderem vom Ausmaß der Synthese und der Freisetzung der Transmitter ab, der enzymatischen Inaktivierung im synaptischen Spalt und der Wiederaufnahme in das präsynaptische Axon. Die Wiederaufnahme ist ein besonders wichtiger Mechanismus der Inaktivierung. Hier spielen die Transportermoleküle eine besondere Rolle. Dabei entstehen Abbauprodukte (Metaboliten), die man im Liquor messen kann und die Rückschlüsse auf Aktivität erlauben. Zu unterscheiden sind prä- und postsynaptische Rezeptoren. Neurotransmitter sind an allen kognitiven, affektiven sowie behavioralen Vorgängen beteiligt. Welche Transmitter für welche Prozesse verantwortlich sind, ist erst in Ansätzen bekannt. Es ist weiterhin unklar, inwieweit Transmitterstörungen (zu viel, zu wenig, regulative Dysfunktionen) kausal an der Entstehung und Aufrechterhaltung von Konstrukten wie beispielsweise der Depression oder der Angststörungen beteiligt sind. Andererseits wissen wir viel mehr als noch vor 15 Jahren über die Art und Weise, wie alle Funktionen gesteuert und synchronisiert werden (Wahrnehmung, Informationsverarbeitung etc.). Es stehen neue Modelle der wichtigen Grundfunktionen menschlichen Verhaltens und besonders von

34 Neurotransmittersysteme und neurobiologische Modelle Störungen bei psychiatrischen Erkrankungen zur Verfügung. Dabei sind essenzielle Schlüsselmechanismen erkannt worden, jedoch nicht die Kausalstruktur. Weitere Erkenntnisse ergeben sich aus Bildgebung und anderen Untersuchungsmethoden, vor allem zur genetischen Steuerung und Genexpression.

Das Dopaminsystem Der Neurotransmitter Dopamin ist aus der Katecholaminreihe und hat eine chemische Verwandtschaft zu Noradrenalin und Adrenalin. Dopamin spielt eine wichtige Rolle bei vielen Erkrankungen wie beispielsweise bei der Parkinsonerkrankung oder der Schizophrenie. Innerhalb des Gehirns wird Dopamin als wesentlicher Neurotransmitter in drei Subsystemen benutzt: Ein erstes Subsystem, welches von der Substantia nigra ausgeht, schickt Nervenbahnen zum Nucleus caudatus und Putamen, dieses System wird nigrostriatale Bahn genannt. Ein zweites Subsystem ist die mesokortikale oder mesolimbische Bahn, diese sendet Verbindungen zum präfrontalen Kortex und zu temporolimbischen Regionen wie dem Mandelkern und dem Hippokampus. Das dritte Dopamin-Subsystem entspringt im Hypothalamus und schickt Nervenbahnen zur Hirnanhangsdrüse. Das Dopaminsystem ist innerhalb des Gehirns relativ genau lokalisiert. Es ist für kognitive und emotionale Prozesse bedeutsam, hier besonders das mesokortikale oder mesolimbische System. Am Modellbeispiel der Schizophrenie und der ADHS werden wir noch genauer auf das Dopaminsystem eingehen. Ansatzpunkt der Antipsychotika, insbesondere der ersten Generation, ist die Blockade

Das Noradrenalinsystem 35

von Dopamin-II-Rezeptoren mit den entsprechenden potenziellen Nebenwirkungen infolge der Blockade der Dopaminrezeptoren in der nigrostriatalen Bahn (Parkinsonoid, extrapyramidal-motorische Nebenwirkungen). Da die neueren Antipsychotika (Antipsychotika der zweiten Generation) eine differenziertere Wirkung auf die Dopamin-IIRezeptoren haben, sind hier entsprechend weniger Nebenwirkungen im extrapyramidal-motorischen System vorhanden.

Das Noradrenalinsystem Das noradrenerge System konzentriert sich im Hirnstamm (Locus coeruleus) mit auf- und absteigenden Ästen in vielen Regionen, vor allem im Hypothalamus. Das Noradrenalinsystem ist diffus im gesamten Gehirn verteilt. Die breit gefächerte Projektion lässt auf vielfältige Funktion schließen (aktivierende, synchronisierende Funktionen): zum Beispiel basale physiologische Funktionen wie Blutdruck, ferner Aufmerksamkeit, Konzentration, Emotionalität und Stressregulation (Stress und konditionierte Furcht bewirken eine deutliche Aktivierung). Zusätzlich bestehen Beziehungen zu Aggressivität. Das Noradrenalinsystem hat Einflüsse auf fast alle Regionen des menschlichen Gehirns, einschließlich des Kortex, des Hypothalamus, des Kleinhirns und des Hirnstamms. Viele Psychopharmaka, besonders die, die bei affektiven Störungen eingesetzt werden, beeinflussen das Noradrenalinsystem. Im Rahmen der Entwicklung trizyklischer Antidepressiva wurde sehr früh nachgewiesen, dass diese die Wiederaufnahme von Noradrenalin in die präsynaptische Nervenzelle hemmen, wodurch die Menge des Noradre-

36 Neurotransmittersysteme und neurobiologische Modelle nalins erhöht wird, die den postsynaptischen Rezeptor stimuliert. Nicht nur durch Antidepressiva der Klasse der Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer, sondern auch die MAO-Inhibitoren steigern die noradrenerge Transmission. MAO-Inhibitoren hemmen das Enzym Monoaminooxidase, welches Noradrenalin abbaut. Häufig sind jedoch die Antidepressiva nicht nur am noradrenergen Schenkel wirksam, sondern auch am serotonergen, zum Teil auch ausschließlich am serotonergen, wie es bei den selektiven Serotonin-Wiederaufnahmehemmern (SSRI) der Fall ist. Eine weitere wichtige Funktion des Noradrenalins besteht in der Wirkung der vermehrten Ausschüttung des Corticotropin-Releasing-Hormons (CRH). Ein komplexes System, welches als Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrindenachse bezeichnet wird (HPA-Achse), ist bedeutsam für alle Stress-, Verhaltens- und Leistungsfunktionen. Das Gehirn beeinflusst Funktionen über Hormone der Hirnanhangsdrüse (Hypophyse) und der Zirbeldrüse (Epiphyse). Die Freisetzung der Hypophysenhormone wird vom Hypothalamus kontrolliert. Spezifische Hypothalamusneurone besitzen lange Axone, welche in den Hypophysenhinterlappen und an den Nervenendigungen Hormone direkt in die Blutbahn abgeben. Neben Noradrenalin spielt hier auch das serotonerge System eine große Rolle. Insbesondere bei der Entstehung von Depressionen und Ängsten werden Störungen in diesen Regelkreisen angenommen.

Das Serotoninsystem 37

Das Serotoninsystem Die serotonergen Neurone sind im Gehirn ähnlich verteilt wie die Noradrenalinneurone. Sie haben ihren Ursprung in den Raphekernen und schicken Verbindungen zu einem ähnlich weiten Spektrum von Gehirnregionen aus, wie wir es bereits beim Noradrenalinsystem beschrieben haben. Serotonerge Verbindungen existieren zum Großhirn, den Basalganglien, zu den temporolimbischen Regionen, dem Hypothalamus, dem Kleinhirn und dem Hirnstamm. Ähnlich wie das Noradrenalinsystem hat das Serotoninsystem eher eine allgemein modulierende Funktion. Beobachtungen, dass Reserpin (ein Medikament, das früher zur Bluthochdruckbehandlung eingesetzt wurde) eine Verminderung von Serotonin und das Auftreten von depressiven Verstimmungen bewirkte, führten zur so genannten Serotoninmangel-Hypothese der Depression. Tierexperimentelle Befunde, dass Serotonin vermindert bei »hilflosen« Tieren vorliegt, unterstützen diese Hypothese. Antidepressiva wie die selektiven Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRI) erhöhen die Serotoninkonzentration im synaptischen Spalt durch Blockade der Wiederaufnahme. Es sind inzwischen über 20 Serotoninrezeptoren bekannt. Es kommt zur wechselseitigen Beeinflussung von Locus coeruleus und Raphekern. So scheint das serotonerge System oft gegenläufige Effekte zum noradrenergen System auszuüben. Kognitive und affektive Aktivierung werden gedämpft, parasympathische Aktivitäten nehmen zu. Störungen innerhalb dieses serotonergen Systems werden zu sehr vielen psychischen Störungen berichtet, es könnte vermutet werden, dass hier ein wesentlicher Vulnerabilitätsmarker zu suchen ist (s. Tab. 1). Nicht nur Antidepressiva haben einen Effekt auf das Serotoninsystem, sondern auch Antipsychotika der zweiten Ge-

38 Neurotransmittersysteme und neurobiologische Modelle neration, sodass anzunehmen ist, dass das Serotoninsystem auch bei der Schizophrenie fehlreguliert ist. Es wird hier bereits deutlich, dass es keine einfache Beziehung gibt im Sinne von: spezielle Neurotransmitterstörung gleich spezifische psychiatrische Erkrankung.

Tabelle 1: Je nach Serotonin-Rezeptortyp werden unterschiedliche klinische Störungen und entsprechende medikamentöse Beeinflussungen unterschieden (nach: Hüther, G.; Rüther, E.: Das serotonerge System. UNI-MED Verlag, Bremen, 2000). Rezeptor

Klinische Störung

Medikamentenbeispiel

Wirkung

5-HT1A

Angst

Buspiron

partieller Agonist

5-HT1B/1D

Migräne

Sumatriptan, Rizatriptan

Agonist

5-HT2A/2C

Migräneprophylaxe Methysergid Schizophrenie Risperidon

Antagonist Antagonist

5-HT3

Erbrechen bei Chemotherapie/ Bestrahlung

Ondansetron, Tropisetron, Granisetron

Antagonist

5-HT4

gastrointestinale Störungen

Metoclopramid, Bromoprid, Cisaprid

Agonist

5-HTTransporter

Depression, Zwangsstörungen

Fluoxetin, Fluvoxamin

Inhibitor

Das GABA-System 39

Das Azetylcholinsystem Ähnlich wie wir bereits beim Dopaminsystem beschrieben haben, ist auch das Azetylcholinsystem relativ spezifisch im Gehirn lokalisiert. Vom Nucleus basalis Meinert (Globus pallidus) werden Verbindungen zur gesamten Großhirnrinde ausgesandt. Eine zweite Gruppe von Azetylcholinneuronen geht von der Broca-Region und dem septalen Kern aus und sendet Verbindungen zum Hippokampus und zum Gyrus cinguli. Eine dritte Gruppe cholinerger Neurone wirkt dort lokal innerhalb der Basalganglien. Das Azetylcholinsystem ist von besonderer Bedeutung bei der Speicherung von Gedächtnisinhalten. Das wird besonders deutlich bei Alzheimer-Patienten, die einen Verlust von Azetylcholin in den Nervenbahnen aufweisen. Eine Blockade von cholinergen Rezeptoren führt zur Verschlechterung der Gedächtnisfunktionen. Medikamente, die beispielsweise zur Behandlung von extrapyramidal-motorischen Nebenwirkungen der Antipsychotika der ersten Generation eingesetzt werden (Anticholinergika), führen zu kognitiven Beeinträchtigungen mit erschwertem Lernen und Erinnern.

Das GABA-System Gamma-Amino-Buttersäure ist ein Neurotransmitter aus der Aminosäureklasse. GABA hat hemmende (inhibitorische) Funktionen. Es wird zwischen lokal verschaltetem und langstreckigem System innerhalb des GABAergen Systems unterschieden. Lokal verschaltete Neurone des GABAergen Systems sind in der Großhirnrinde und im limbischen System lokalisiert. Von den GABAergen Neuronen im Nucleus

40 Neurotransmittersysteme und neurobiologische Modelle caudatus und Putamen werden Projektionsfasern zum Globus pallidus und zur Substantia nigra gesendet. GABAerge Neurone sind auch im Kleinhirn zu finden. Viele der angstlösenden Medikamente wirken als GABAAgonisten, das heißt, sie erhöhen den inhibitorischen Tonus innerhalb des Gehirns. Bei entsprechendem Verlust von GABAergen Neuronen zwischen Nucleus caudatus und Globus pallidus kommt es zu choreatiformen Bewegungen wie beispielsweise bei der Huntington-Erkrankung.

Das Glutamatsystem Glutamat ist ein anregender (exitatorischer) Aminosäuretransmitter. Er wird in der gesamten Großhirnrinde und im Hippokampus produziert. Glutamat ist jedoch nicht nur ein Neurotransmitter, sondern kann auch als Neurotoxin wirken. In entsprechenden Konzentrationen kann es zu übermäßiger neuronaler Erregung führen. Beobachtungen, dass Phencyclidin (PCP) zu Psychosen führen kann, unterstreichen die Rolle des Glutamats. Phencyclidin blockiert eine Untergruppe von Glutamatrezeptoren, die so genannten NMDA-Rezeptoren (glutamaterge N-Methyl-D-AspartatRezeptoren).

Die Neurotransmittersysteme im Zusammenspiel Wie an verschiedenen Stellen bereits deutlich wurde, ist nicht davon auszugehen, dass ein Neurotransmittersystem für eine psychische Erkrankung zuständig ist. Die Schaltkreise sind weit verzweigt, sie arbeiten gemeinsam. Erinnerung,

Neurobiologische Modelle 41

Gedächtnis, Aufmerksamkeit, Gefühle, Antrieb und Motorik sind nicht in einem System oder einer Hirnregion lokalisiert, sondern abhängig von einem Zusammenspiel, einer Balance der verschiedenen Neurotransmittersysteme. Was immer wir mental tun, fühlen oder denken, es sind verschiedene Gehirnstrukturen beteiligt. Stellen Sie sich vor, Sie erzählen Ihrem Freund von einer persönlichen Begebenheit: Sie benutzen das Sprachsystem (Sie sprechen zu ihm), das Gedächtnissystem (Sie erinnern eine Begebenheit), das limbische System (Sie vermitteln Ihre Gefühle), das motorische System (Sie bewegen Ihre Lippen). Es sind also immer parallele Schaltkreise aktiv.

Neurobiologische Modelle am Beispiel psychiatrischer Erkrankungen Depressionen Bei der Ätiologie der Depression werden genetische Belastungen, ererbte Vulnerabilität, ein Zusammenspiel von Auslösern, hormonelle Umstellungen, körperliche Erkrankungen, psychosoziale Belastungssituationen mit Verlusterfahrungen, Trennungen, Überforderungen oder Krisen, Störungen des neuroendokrinen Systems, Beeinträchtigungen des circadianen Rhythmus des Schlafens sowie erlernte dysfunktionale kognitive Schemata angenommen (s. Abb. 2).

42 Neurotransmittersysteme und neurobiologische Modelle Genetik

Persönlichkeitsfaktoren

0

Biologischer circadianer Rhythmus (Schlaf)

0222

0

Traumaerfahrungen, belastende Ereignisse Deprivation

Noradrenalin Serotonin

0

2

Dysbalance der Neurotransmittersysteme

2

Neuroendokri0 nologische Aktivität

2 2 0 0

2

Kognitive Dysfunktionen erlernte Hilflosigkeit unzureichende positive Verstärkung

emotional 20 kognitiv Depressive Symptome 20 20 somatisch Abbildung 2: Ätiologie der Depression

Verschiedene Neurotransmitter-Hypothesen zur Entstehung der Depression wurden und werden diskutiert: – Die Monoaminmangel-Hypothese gilt zurzeit als gebräuchlichste Erklärung für Depressionen. Es wird davon ausgegangen, dass Noradrenalin, Serotonin und Dopamin vermindert zur Verfügung stehen. – Als Weiteres wird eine veränderte Rezeptoraktivität oder -sensitivität angenommen. – Ferner wird eine Störung des Gleichgewichts verschiedener Neurotransmitter, besonders von Noradrenalin und Azetylcholin, angenommen. Bei der Monoaminmangel-Hypothese wird eine Störung des Katecholamin-Stoffwechsels angenommen. Diese Störung kann auf der Stufe der präsynaptischen Bildung, der Freisetzung im synaptischen Spalt, der Interaktion mit der Post-

Neurobiologische Modelle 43

synapse, der biologischen Inaktivierung sowie der Wiederaufnahme in die Präsynapse bedingt sein. Auf die Beobachtungen, dass Reserpin Noradrenalin, Serotonin und Dopamin reduziert und Depressionen auslösen kann, wurde schon eingegangen. Die Wirkmechanismen der Antidepressiva durch Verhinderung des Rücktransports oder Verhinderung des Abbaus der Neurotransmitter unterstreicht diese Hypothese. Weitere Effekte der Antidepressiva – vor allem bei längerer Gabe – sind Sensitivitätsveränderungen sowohl der prä- als auch der postsynaptischen Rezeptoren. Hier spielt die β-down-Regulation eine wichtige Rolle: Die postsynaptischen β1-Rezeptoren werden durch einige trizyklische Antidepressiva nach mehrwöchiger Gabe vermindert. Funktionell entsteht eine Sensitivitätsveränderung gegenüber Noradrenalin. Inwieweit die Wirkungen auf präsynaptische α2- und postsynaptische α1-Rezeptoren eine Rolle spielen, ist noch ungeklärt. Die Katecholamin-Hypothese als Monoaminmangel-Hypothese ist insofern zu modifizieren, dass nicht entweder Noradrenalin oder Serotonin vermindert vorliegen, sondern dass möglicherweise eine Dysbalance zwischen diesen beiden und möglicherweise auch den anderen Neurotransmittern wie Azetylcholin und Dopamin vorliegt. Das führte zur so genannten Imbalance-Hypothese, die bei Depressionen eher ein cholinerges Übergewicht vermuten und bei Manien eher ein aminerges. Hier muss jedoch auch wieder einschränkend gesagt werden, dass auch bei Krankheiten wie der Schizophrenie Serotonin eine Rolle spielt. Als weiteres Modell ist die Beeinflussung der SecondMessenger-Systeme von Bedeutung. Neben den Signaltransduktionsprozessen von Neurotransmittern haben sie Kontrolle der Gen-Transkription. Die Bindung der Neurotransmitter an ihre entsprechenden Rezeptoren führt zur

44 Neurotransmittersysteme und neurobiologische Modelle

Abbildung 3a: Adenylatzyklase-System. Indirekte Wirkung des Transmitter-Rezeptor-Komplexes auf den Membrankanal über G-Proteine: Aktivierung der Adenylatzyklase über ein stimulierendes Guanosintriphosphat-bindendes Protein (Gstim). Hemmung der Adenylatzyklase über ein inhibitorisches Guanosintriphosphat-bindendes Protein (Ginhib). (außen = Extrazellularraum, innen = Intrazellularraum eines Neurons) (aus: M. Berger [Hg.]: Psychische Erkrankungen. Klinik und Therapie. Urban & Fischer, München u. Jena, 2004)

Abbildung 3b: Phosphoinositol-Zyklus. Indirekte Wirkung des Transmitter-Rezeptor-Komplexes auf den Membrankanal über G-Proteine: Durch den Transmitter-Rezeptor-Komplex wird ein Guanosinphosphat-bindendes Protein (G) aktiviert. Dieses stimuliert die Phospholi-

Neurobiologische Modelle 45 pase C, die in der weiteren Folge Phosphatidylinositol-4,5-bis-phosphat (PIP2) hydrolysiert. Es entstehen Inositol-1,4,5-triphosphat (IP3) und Diacylglycerol (DAG). IP3 interagiert mit spezifischen Rezeptoren und fördert die Ca++-Freisetzung aus nicht-mitochondrialen Speichern. DAG aktiviert Porteinkinase C, die der Substratphosphorylierung dient (aus: M. Berger [Hg.]: Psychische Erkrankungen. Klinik und Therapie. Urban & Fischer, München u. Jena, 2004)

Aktivierung von G-Proteinen und somit zu Veränderungen des intrazellulären Gehalts an Second-Messenger-Substanzen (s. Abb. 3a und 3b). Diese aktivieren Proteinkinasen und führen zu einer zellulären Aktivitätsänderung (zum Beispiel verändern sie die Aktivität der Ionenkanäle). Zusätzlich können second messenger zu Veränderungen der Zellaktivität wie beispielsweise Wachstums- und Differenzierungsprozessen führen. Dies wird über eine Aktivierung von ursprünglich exprimierten Transkriptionsfaktoren oder über eine Geninduktion erreicht. Eine weitere Hypothese zur Entstehung der Depression wird in der Störung der neuroendokrinologischen Regelkreise vermutet. Es wird davon ausgegangen, dass Depression eine Störung der Stressachse ist. Früher wurde ein pathologischer Dexamethason-Suppressionstest als Indikator angesehen, diese Sichtweise hat sich als nicht ausreichend erwiesen. Heute wird von einer Wechselwirkung zwischen Depressivität und Hyperkortisolismus ausgegangen. Es wird vermutet, dass der durch die Depression verursachte erhöhte Aktivitätspegel der HypothalamusHypophysen-Nebennierenrindenachse depressionsfördernde Effekte ausübt und damit die Erkrankung aufrechterhält. Endokrinologisch hat der Hyperkortisolismus Auswirkungen auf das Schilddrüsensystem und das Wachstumshormonsystem.

46 Neurotransmittersysteme und neurobiologische Modelle Die Ursache der erhöhten Aktivität der HypothalamusHypophysen-Nebennierenrindenachse könnte eine Störung im Bereich der Feed-back-Mechanismen des Systems sein. Das System begrenzt sich üblicherweise selbst, das heißt, nach einer Stressantwort hemmen die Steroide die Aktivität des Systems der Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrindenachse. Aus tierexperimentellen Studien mit Antidepressiva ist bekannt, dass nach mehrwöchiger Applikation ein Anstieg der Kortikoid-Rezeptoren vorliegt, der für diesen selbsthemmenden Mechanismus zuständig ist. Dies könnte eine Erklärung sein, dass bei Depressionen eine gestörte Funktion des Systems der Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrindenachse vorliegt. Auf psychosoziale Aspekte, psychodynamische Ansätze wie Störung des Selbstwertgefühls, Fehlverarbeitung entstandener Aggressionen, Aspekte der Life-Event-Forschung mit Verlustereignissen und Traumata sowie lerntheoretische und kognitive Aspekte mit Verstärkerverlusten, Mangel an Belohnungen, Verlust an sozialer Verstärkung sowie das Konzept der gelernten Hilflosigkeit mit Nichtkontrollierbarkeit und persönlichem Versagen sowie auf das kognitive Depressionsmodell wird hier nicht eingegangen. Zu vermuten ist jedoch, dass psychische Faktoren wie Überforderungen, Verlustereignisse, Traumata in der Kindheit eine gesteigerte Vulnerabilität bedingen, die bei entsprechender genetischer Disposition und bestimmten psychischen oder physischen Auslösesituationen zu einer Dysfunktion der unterschiedlichen Neurotransmittersysteme und endokrinologischen Systeme führt. Es entwickelt sich somit eine Wechselwirkung zwischen biologischen und psychischen Faktoren, aus denen sich zwangsläufig unterschiedliche Therapiemöglichkeiten ergeben.

Neurobiologische Modelle 47

Schizophrenie Die Schizophrenie tritt mit einer Prävalenz von 0,5 bis 1 Prozent auf; Männer und Frauen sind gleich häufig betroffen mit unterschiedlichem Erkrankungsbeginn (Männer 21 Jahre, Frauen 26 Jahre). Sie ist multifaktoriell bedingt, wobei genetische Faktoren, morphologische und biochemische Veränderungen, neurophysiologische Unterschiede und psychosoziale Faktoren eine Rolle spielen (s. Abb. 4). Dopamin war der erste Botenstoff des Gehirns, für den eine Beteiligung an der schizophrenen Erkrankung entdeckt wurde. Schizophrenieähnliche Symptome können durch stimulierende Drogen wie Amphetamine hervorgerufen werden, wobei Amphetamin die Freisetzung großer Mengen von Dopamin bewirkt. Chronischer Amphetaminmissbrauch

02 02

Genetik

22

22

222220

022222

Akute psychotische Symptomatik

222220

0 22

Remission

02 02

Verarbeitungsstrategien

02

Vulnerabilität

Stressoren Life-events expressed-emotion

Verlauf 22 Rezidive

Umweltfaktoren Familiäre Kommunikation

0 22

20

0

222220

0

Hirnmorpho- 20 Verhaltensdisposition 22 logie

0

chronisch

Abbildung 4: Entstehungsfaktoren bei der Schizophrenie

48 Neurotransmittersysteme und neurobiologische Modelle kann eine Schizophrenie bei prädisponierten Personen hervorrufen. Aus der Kenntnis der Antipsychotikatherapie, die zu einer Blockade von Dopaminrezeptoren führt und somit eine Reduzierung der Dopaminwirkung hervorruft, lassen sich psychotische Symptome behandeln. Aus diesen Kenntnissen wurde die Dopamin-Hypothese der Schizophrenie postuliert. Inzwischen ist jedoch bekannt, dass neben Dopamin auch Serotonin und Glutamat bei der schizophrenen Erkrankung eine Rolle spielen. Es wird heute davon ausgegangen, dass die Schizophrenie sich aus einem komplexen chemischen Ungleichgewicht entwickelt. In Wechselwirkung stehende und miteinander modulierende Neurotransmittersysteme sind daran beteiligt. Unterschiedliche ätiopathogenetische Aspekte der Schizophrenie wurden hypothetisch formuliert, so beispielsweise die Hypothese einer Störung der Reizfilterfunktion des Hypothalamus. Die thalamische Filterfunktion beinhaltet eine Reduktion der sensorischen Reizleitung (Selektion), um den Kortex vor Überlastungen mit irrelevanten Stimuli zu schützen. Bestimmte genetische Faktoren oder exogene Einflüsse führen zu hirnstrukturellen, neurophysiologischen und/ oder biochemischen Besonderheiten, die im Sinne einer erhöhten Vulnerabilität zur Manifestation der Erkrankung prädisponieren. Ungünstige psychosoziale Stressoren begünstigen bei vulnerablen Personen die Manifestation akuter psychotischer Symptome. Genetische Faktoren wurden bei familiärer Häufung über Zwillings- und Adoptionsstudien nachgewiesen, ferner wurde ein zunehmendes Risiko der Erkrankung bei enger werdendem Verwandtschaftsgrad belegt; Zwillingsstudien ergaben Konkordanzraten bei eineiigen Zwillingen über 50 Prozent und bei zweieiigen Zwillingen über zehn Prozent.

Neurobiologische Modelle

49

Aus familiengenetischen Studien ist zu schließen, dass nicht ein einzelnes Gen für die Vererbung der Schizophrenie verantwortlich ist, sondern wahrscheinlich ein polygener Erbgang vorliegt. Neuropathologische Veränderungen zeigen morphologische Auffälligkeiten wie leichte bis mäßige Erweiterung der inneren Liquorräume (Seitenventrikel und dritter Ventrikel), Erweiterung der äußeren Liquorräume, Verkleinerung des Frontalhirns, des Temporallappens und des Kleinhirns sowie Veränderungen des Balkens. Es wird morphologisch und physiologisch vor allem eine gestörte limbische »Vermittlerfunktion« zwischen Neokortex und Septum/Hypothalamus/Hirnstamm angenommen. Eine Dissoziation zwischen kognitiven Aktivitäten und emotionalen Reaktionen ist die Folge, mit konsekutiver klinischer Symptomatik einer Psychose. Auf die besondere Rolle der Dopaminrezeptoren der Schizophrenie weisen Untersuchungen hin, die eine erhöhte Dichte von D2-Rezeptoren in den Basalganglien bei unbehandelten schizophrenen Patienten nachweisen konnten. Dieses Ergebnis konnte jedoch nicht in allen Studien repliziert werden. Die Dopamin-Hypothese geht von einer allgemeinen Überfunktion dopaminerger Strukturen aus, wobei das Hauptinteresse den D2-Rezeptoren gilt. Die antipsychotische Wirkung vieler Antipsychotika wird über die D2-Rezeptorblockade bedingt. Es existieren drei dopaminerge Bahnsysteme innerhalb des ZNS: das nigrostriatale, das mesolimbische oder mesokortikale sowie das tuberoinfundibuläre. Als relevant für die schizophrene Erkrankung werden dopaminerge Bahnen des limbischen Systems angesehen (s. Abb. 5). Es wird von einem mesolimbisch-mesokortikalen Ungleichgewicht ausgegangen, wobei eine frontale dopaminerge Hypoaktivtat für die Negativsymptomatik der Schi-

50 Neurotransmittersysteme und neurobiologische Modelle

Abbildung 5: Die dopaminergen Bahnen im Gehirn (aus: Berger, M. [Hg.]: Psychische Erkrankungen. Klinik und Therapie. Urban & Fischer, München u. Jena, 2004)

Dopamin-Hypothese dopaminerge Hypoaktivität im frontalen Kortex

2220

Negativsymptome

dopaminerge Hyperaktivität im limbischen System

2220

Positivsymptome

Abbildung 6: Dopamin-Hypothese

zophrenie zuständig sein soll und eine mesolimbische Hyperaktivität eine Positivsymptomatik hervorrufen soll (s. Abb. 6). Die Dopamin-Hypothese der Schizophrenie wurde erweitert, da deutlich wurde, dass andere Transmittersysteme – das glutamaterge, das serotonerge und das GABAerge System – mitbeteiligt sind. Wechselwirkungen verschiedener Neurotransmittersysteme untereinander und ein gestörtes

Neurobiologische Modelle 51

Gleichgewicht sollen an der Entstehung der Erkrankung beteiligt sein. Auf die neuropathologischen Befunde und die Ergebnisse aus funktioneller Bildgebung wird hier nicht im Einzelnen eingegangen. Die funktionelle Bildgebung mit PET und SPECT zeigt eine verminderte Durchblutung im Frontalhirn, die bei den kognitiv beeinträchtigten Prozessen bei der Schizophrenie von Bedeutung sein könnte. Psychosoziale Faktoren wie das Konzept der schizophrenogenen Mutter zeigen weder eine Kausalität noch Spezifität. Das Expressed-Emotion-Konzept gilt nicht nur für die schizophrenen Erkrankungen, sondern auch für andere psychische Erkrankungen. Es konnte bei hoher Expressed-Emotion-Situation eine Zunahme der Rezidivgefährdung gesehen werden. Aus der Life-Event-Forschung, welche sich auf psychosoziale Stressfaktoren bezieht, sind Hinweise auf Korrelation des Risikos erneuter Exazerbation mit Anzahl der belastenden Ereignisse bekannt. Für eine medikamentöse Behandlung psychischer Erkrankungen war als erstes Antipsychotikum 1950 Chlorpromazin entdeckt worden. Es folgten bis 1960 Haloperidol, Fluphenazin und Thioridazin. Diese Antipsychotika werden als Antipsychotika der ersten Generation bezeichnet. Kennzeichnend für diese Antipsychotika ist die D2-Rezeptorblockade, die zu einer Herabregulierung von Dopamin führt, jedoch nicht nur im mesolimbischen System, sondern auch im nigrostriatalen System, welche die erheblichen und für den Patienten beinträchtigenden Nebenwirkungen wie extrapyramidal-motorische Störungen bedingen. Infolge dieser Nebenwirkungen kam es zu einer geringen Compliance. Das Auftreten irreversibler tardiver Dyskinesien war zu einem erheblichen Problem geworden, auch hatten die Antipsychotika der ersten Generation eine ungenügende Wirkung auf die Negativsymptomatik und auf die kognitiven Defizite, fer-

52 Neurotransmittersysteme und neurobiologische Modelle ner führten sie zu affektiven Nebenwirkungen wie Dysphorie und Anhedonie. Mit Einführung des Clozapins 1970 und im Weiteren mit Zotepin 1980 sowie Risperidon, Amisulprid, Olanzapin und Quetiapin in den neunziger Jahren sowie Ziprasidon in den letzten Jahren ist die Ära der Antipsychotika der zweiten Generation angebrochen. Diese wirken spezifischer und blockieren nicht in dem Maß die D2-Rezeptoren, wie es die Antipsychotika der ersten Generation tun. Zusätzlich haben sie Ansatzpunkte am Serotoninrezeptor, wo sie antagonistisch wirken. Aripriprazol hat sowohl einen partiellen agonistischen Effekt am D2- und am Serotonin-I-Rezeptor, während es einen antagonistischen Effekt beim Serotonin-II-Rezeptor hat. Insgesamt hat die Entwicklung der Antipsychotika ein differenziertes Wirkungsspektrum mit einer besseren Selektivität im mesolimbischen Bereich erzielen können. Ferner führen die Antipsychotika der zweiten Generation zu einer geringeren Bindung an den D2-Rezeptor und besetzen diesen kürzer, sodass extrapyramidale Nebenwirkungen deutlich geringer oder gar nicht auftreten. Die Compliance konnte durch die verringerten unerwünschten Arzneimittelwirkungen erheblich verbessert werden.

Tabelle 2: Vergleich von Antipsychotika der ersten und zweiten Generation Funktion

Wirkung 1. Generation

2. Generation

Gefühle

Dämpfen

Regulieren

Denken

Blockieren

Verbessern

Antrieb

Hemmen

Ausgleichen

Neurobiologische Modelle 53

Angststörungen Die wissenschaftliche Erstbeschreibung der Angst- und Furchtreaktion wurde von Cannon vorgenommen in der Beschreibung der »Kampf- oder Fluchtreaktion«. Diese Reaktion wurde ausgelöst, wenn ein angsterregender oder gefährlicher Reiz auftritt. Cannon erforschte darüber hinaus das autonome Nervensystem, welches für die neuronale Regulation unserer Vitalfunktionen wie Hunger, Durst, Herzschlag, Atmung oder Geschlechtstrieb zuständig ist. Es wird zwischen Sympathikus und Parasympathikus unterschieden; der Sympathikus ist in erster Linie von Adrenalin und Noradrenalin gesteuert. James Papez sah Emotionen als Ergebnis des limbischen Schaltkreises. Hypothalamus, der vordere Thalamus, der Gyrus cinguli und der Hippokampus bilden einen Schaltkreis, der Emotionen hervorbringt und verarbeitet. LeDoux und Davis entdeckten bei Angststörungen das Zusammenspiel aus Hippokampus und Mandelkern. Zentrales Thema war die Angstkonditionierung, die auf Arbeiten von Pawlow und Watson zurückgeht. Untersuchungen zur Angstkonditionierung zeigten, dass der Mandelkern des Gehirns (Amygdala) eine wesentliche Rolle spielt, um Angstreaktionen hervorzurufen. LeDoux nannte den Mandelkern »Nabe im Rad der Angst«. Der Mandelkern hat direkte Verbindungen zum Thalamus und zur sensorischen Hirnrinde. Wahrnehmungen kommen über den Thalamus herein und werden zum Mandelkern fortgeleitet. Die Bahn verläuft entlang der Hirnrinde und hat zur Aufgabe, auf gefährliche Reize schnell reagieren zu lassen. Der sensorische Thalamus leitet ebenfalls Informationen an die sensorische Hirnrinde weiter, jedoch ist dieser wesentlich langsamer zum Mandelkern verschaltet. Es werden hier genauere und komplexere Bewertungen des Reizes

54 Neurotransmittersysteme und neurobiologische Modelle vorgenommen. Die neurochemische Grundlage der Furchtund Angstreaktion ist durch den Neurotransmitter Noradrenalin bedingt. Der Locus coeruleus gibt Noradrenalin auf direkten Bahnen einerseits an den Mandelkern, andererseits an den Hippokampus ab. Das bewirkt, dass sowohl das limbische Gehirn als auch der physische Körper während der Angst- und Stressreaktion zur selben Zeit gemeinsam aktiviert werden. Jedoch sind Adrenalin und Noradrenalin nicht die einzigen Neurotransmitter, die bei diesen Reaktionen beteiligt sind, die Reduzierung der Kortisolproduktion ist zusätzlich von entscheidender Bedeutung. Sowohl der Hippokampus als auch der Mandelkern haben sehr viele Kortisolrezeptoren, die an der Regulierung des Stresses durch Rückkopplung beteiligt sind. Zur Ätiologie der Angststörungen werden psychodynamische Hypothesen, frühkindliche Traumata (zum Beispiel der Tod der Mutter), elterliches Interaktionsverhalten (Erziehungsstile, Modellfunktionen), belastende Lebensereignisse, lerntheoretische kognitive Modelle der Panikstörung sowie genetische Faktoren und neurobiologische Hypothesen angenommen. Je nach Angststörung werden verschiedene Hypothesen favorisiert. Patienten mit einer Panikstörung haben eine erhöhte Vulnerabilität oder konstitutionelle Disposition für das Auftreten von Angst. Das zeigt sich unter anderem darin, dass Verwandte ersten Grades bei Panikstörungen eine erhöhte Morbiditätsrate haben, ferner sind die Konkordanzraten bei monozygoten, aber auch bei heterozygoten Zwillingen höher als bei den Kontrollgruppen. Neurobiologische Hypothesen nehmen eine Neurotransmitterstörung besonders im serotonergen System an, aber auch das noradrenerge und das GABAerge System sind beteiligt. Ferner wird eine Hypersensitivität der CO2-Sensoren

Neurobiologische Modelle 55

angenommen sowie eine Störung der HPA-Achse. Weitere Hypothesen beziehen sich auf Benzodiazepin-/GABA-Bindungsstellen sowie auf Störungen im Bereich der Neuropeptide. Tierexperimentelle Befunde zeigen, dass die Serotoninrezeptoren im Hippokampus und im Kortex für die Entstehung von Angst bedeutsam sind. Mäuse, bei denen der Serotoninrezeptor ganz abgeschaltet wurde, zeigten keine Angst. Bei Patienten mit spontanen Panikattacken liegt ein dauerhaft erhöhtes Angstbereitschaftspotenzial vor, sodass Panikattacken spontan oder durch geringfügige Stimuli ausgelöst werden können. Es handelt sich bei der Angstdiathese nicht um eine allgemeine Ängstlichkeit, sondern um eine selektive Überempfindlichkeit im Hinblick auf bestimmte körperliche Sensationen. Es wird zwischen einem schnellen und einem langsameren Notfallkreislauf unterschieden. In einer Gefahrensituation wird zunächst ein schneller Schaltkreis aktiviert, der für eine Sofortreaktion sorgt. Ferner wird ein langsamer Notschaltkreis aktiviert, der eine Gefahrensituation genau analysiert. Der schnelle Weg umgeht den Kortex, er kann somit Reaktionen hervorrufen, bevor die Gefahr überhaupt bewusst wird. Von der Amygdala verlaufen Efferenzen zu verschiedenen Regionen, die bei Aktivierung körperliche Angstreaktionen auslösen. Beim langsamen Notschaltkreis, der vom Hippokampus gesteuert wird, wird eine genaue Analyse der Gefahrensituation vorgenommen. Die Gefahrensituation oder ein interner Stimulus wird über den Thalamus zu den primären sensorischen Rindenfeldern weitergeleitet, ferner kommt es zur Weiterleitung zu den sekundären Rindenfeldern (Assoziationsgebieten). Es findet ein Vergleich mit Erinnerungen statt, diese sind im Okzipitallappen (visuell), im Temporallappen (auditorisch) oder im orbi-

56 Neurotransmittersysteme und neurobiologische Modelle tofrontalen Kortex (olfaktorisch) lokalisiert. Es erfolgt dann erst eine Rückmeldung an die Amygdala, in Form einer Entwarnung und weiterer Reaktionen. Bei spontanen Panikattacken kommt es zur Aktivierung eines Angstnetzwerks, das aus Amygdala, Hippokampus, Thalamus und Hypothalamus sowie periaquäduktalem Grau besteht. Mangelnde Inhibition von Zentren, die eine Risikoeinschätzung bei körperlichen Sensationen vornehmen sollen (Amygdala/Hippokampus), führen zum falschen Alarm und lösen somit die Panikattacke aus. Serotonerge Medikamente wie beispielsweise die selektiven Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRI) wirken, indem sie die Neurotransmission in den Rapheneuronen verbessern und somit modulierend auf Hirnzentren wirken, in denen pathologische Angst ausgelöst wird. Die neurobiologischen Befunde bei der Panikstörung sind in in Abbildung 7 zusammengefasst. Bei der generalisierten Angststörung (s. Abb. 8) findet sich ebenfalls eine familiäre Häufung, wobei die Zwillingsuntersuchungen inkonsistent sind. Bezüglich des serotonergen Systems finden sich vereinzelte Befunde zu einer Störung des Serotoninsystems; die Wirksamkeit serotonerger Medikamente ist belegt. Eine eindeutige Störung des Katecholaminsystems lässt sich nicht nachweisen, wobei die Wirksamkeit noradrenerger Medikamente vorliegt. Bezüglich der GABABenzodiazepin-Rezeptoren finden sich Hinweise für veränderte Sensitivität des GABA- und des Benzodiazepin-Rezeptorkomplexes. Bei sozialphobischen Störungen soll das dopaminerge System betroffen sein. Insbesondere scheint es zu einer Dysfunktion des striatalen dopaminergen Systems bei sozialen Angststörungen zu kommen. Weitere Hinweise existieren für eine Dysfunktion des serotonergen Systems im Sinne einer postsynaptischen Überempfindlichkeit. Es gibt eine Kor-

Neurobiologische Modelle 57

relation der 5-HT2-Rezeptordichte mit dem Schweregrad der sozialen Angststörung. Weitere Befunde sind der Abbildung 9 zu entnehmen.

22

2

2

2

2

02

2 2 2 2 222 0 2 22 2 02

0

20

2 02

2 2

2

2 0

Panikstörung Neurobiologie

2

2

Genetik: erhöhte Konkordanzrate bei monozygoten Zwillingen

2

Bildgebende Verfahren: Neuroanatomische Veränderungen im Temporallappen Veränderungen des zerebralen Blutflusses

Abbildung 7: Panikstörung – Neurobiologie

Störungen im Serotoninsystem (Wirksamkeit serotonerger Medikamente) Störungen im Noradrenalinsystem Veränderungen der GABA-BenzodiazepinRezeptor-Sensitivität

Dysfunktionen der HPA-Achse

Überempfindlichkeit für Laktat, CO2 Hyperventilation, Koffein ...

58 Neurotransmittersysteme und neurobiologische Modelle

2

2 2 2 0

2 02

2

Genetik: familiäre Häufung

20

Generalisierte Angststörung Neurobiologie

Wirksamkeit serotonerger Medikamente Wirksamkeit noradrenerger Medikamente Veränderte GABA-Benzodiazepin-Sensitivität

Immunfunktionsveränderungen ^ = Chronischer Stresszustand

Abbildung 8: Generalisierte Angststörung – Neurobiologie

22 2

Soziale Angststörung Neurobiologie

Serotonindysfunktion (postsynaptische RezeptorÜberempfindlichkeit)

2 2 2 2 2 0

Genetik: familiäre Häufung

Noradrenalin: abgeschwächte α2-Funktion Panikreaktion bei CO2

20

EEG: Aktivierung des rechten Frontallappens bei Exposition Bildgebung: MRT: Putamen-Volumenreduktion fMRT: Aktivierung der Amygdala Magnetresonanzspektroskopie: Aktivitätsminderung in den Basalganglien; verminderte Dichte von Dopamin-Wiederaufnahmestellen und D2-Bindungskapazität Abbildung 9: Soziale Angststörung – Neurobiologie

Neurobiologische Modelle 59

Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörungen Wie bei den anderen psychiatrischen Erkrankungen ist auch die Ursache der Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörungen (ADHS) eine multifaktorielle (s. Abb. 10). Dauer-

Umweltfaktoren

Biologische Faktoren

2220

2220

2220

– broken home – Alkoholerkrankung des Vaters – Psychiatrische Erkrankung der Mutter – Niedriges Einkommen – Beengter Lebensraum

VerBotenNeuroerbung stoffanawechsel- tomie störung

Risikofaktoren – Alkohol, Drogen, Nikotin während der Schwangerschaft – Frühgeburt mit Geburtsgewicht unter 1.500 Gramm Abbildung 10: ADHS – Ursachen und Risiken (aus: Schäfer, U.; Rüther, E.: ADHS im Erwachsenenalter. Hogrefe, Göttingen, 2005)

aufmerksamkeit, Konzentration auf das Wesentliche, Planung und Steuerung von Verhalten, Lernen sowie Abrufen und Vergleichen von Erfahrungen setzen ein intaktes Zusammenspiel verschiedener Hirnstrukturen voraus. Bei ADHS kommt dem Frontalhirn eine besondere Bedeutung zu. Funktionelle Verfahren haben gezeigt, dass bei Kindern mit Aufmerksamkeitsstörungen eine Minderdurchblutung in dieser Hirnregion zu finden ist.

60 Neurotransmittersysteme und neurobiologische Modelle Eine besondere Bedeutung scheint das dopaminerge und noradrenerge System bei ADHS zu haben. Aus Familien-, Zwillings- und Adoptionsstudien ist bekannt, dass ADHS familiär gehäuft auftritt, Verwandte ersten Grades männlicher Patienten haben ein fünffach erhöhtes Risiko, Mütter von Kindern mit ADHS haben eine Erkrankungswahrscheinlichkeit von 15–20 Prozent, Väter von 25–30 Prozent, Geschwister von 32 Prozent. Monozygote Zwillinge zeigen eine Konkordanzrate von 66 Prozent, heterozygote Zwillinge 28 Prozent. Bei den genetischen Befunden spielt das Dopamin-Transportergen sowie D4- und D5-Rezeptorgene eine besondere Rolle. Ferner gibt es Hinweise auf Störungen des Serotonin-Transportergens. Neurobiologische Befunde sprechen für eine Dysfunktion im dopaminergen anterioren System, vor allem im präfrontalen Kortex, Striatum und Thalamus, welche die klinischen Impulskontrolldefizite erklären könnten. Die noradrenerge Dysregulation im Locus coeruleus führt klinisch zur Aufmerksamkeitsstörung (posteriore Aufmerksamkeitsstörung). Das dopaminerge System mit ventralem Tegmentum und Pars compacta der Substantia nigra als Produktionsort zeigt Projektionsbahnen vom Tegmentum zum Nucleus accumbens, der enge Verknüpfung zum limbischen System hat und für die Motivation und das Belohnungssystem eine besondere Rolle spielt. Im mesokortikolimbischen System findet die Regulation von motorischer Aktivität, Neugierverhalten, Entwicklungsund Handlungsstrategien statt. Die klinische Symptomatik der Hyperaktivität und novelty seeking sowie des unstrukturierten und desorganisierten Verhaltens leitet sich aufgrund von Beeinträchtigungen in diesen Strukturen ab. Projektionsbahnen von der Substantia nigra zum Striatum im Sinne des mesostriatalen Systems, das zur Aufrechterhaltung der

Neurobiologische Modelle 61

Aufmerksamkeit nötig ist, werden bei ADHS beeinträchtigt – mit konsekutiver klinischer Symptomatik der gestörten Daueraufmerksamkeit. Während einige Hypothesen zur Entstehung von ADHS in erster Linie eine Störung der Selbstregulationsprozesse mit Beeinträchtigung des exekutiven Systems, insbesondere des präfrontalen Kortex, des Striatums und der Substantia nigra, im Sinne einer gestörten Hemmfunktion sehen, sind andere Modelle wie beispielsweise Störung der Motivation mit Vermeidung von aversiv erlebten Verzögerungen und hauptsächlichen Beeinträchtigungen des mesolimbischen Belohnungssystems zu nennen. Eine Verknüpfung beider möglichen Hypothesen stellt das neuropsychologische Modell der ADHS von Sonuga-Barke dar (s. Abb. 11).

Abbildung 11: Neuropsychologisches Modell der ADHS von SonugaBarke (2002) (aus: Krause, J.; Krause, K.-H.: ADHS im Erwachsenenalter. Schattauer, Stuttgart u. New York, 2005)

62 Neurotransmittersysteme und neurobiologische Modelle Zusammenfassend ist davon auszugehen, dass der präfrontale Kortex eine übergeordnete Struktur bildet, die für die Steuerung und Verhaltensregulation zuständig ist und mit neuronalen Regelkreisen der Sensomotorik, des limbischen und motorischen Systems verbunden ist. Neben Beeinträchtigungen der Volumenminderung sowohl im Frontallappen als auch im Striatum (MRT), der verminderten Hirndurchblutung im Frontallappen und Striatum (SPECT), dem reduzierten Glukosemetabolismus im Frontallappen (PET) und der verminderten Dopa-Decaboxylase-Aktivität im Frontallappen (PET) ist der Befund der vermehrten Dopamin-Transporterdichte im Striatum von besonderer Bedeutung. Mit einer Methylphenidattherapie konnte die Dopamin-Transporterdichte im Striatum bei erwachsenen Patienten mit ADHS herunterreguliert werden. Eine neuere medikamentöse Strategie stellt das Atomoxetin (Strattera®) dar, welches ein selektiver NoradrenalinWiederaufnahmehemmer ist und daneben einen indirekten Einfluss auf die Dopaminaktivität im präfrontalen Kortex, jedoch nicht im Striatum hat.

Grundsätzliches zu Behandlungsmöglichkeiten psychischer Erkrankungen

Obgleich es in den letzten Jahrzehnten wirksame Behandlungsmethoden medikamentöser oder psychotherapeutischer Art für psychische Erkrankungen gibt, bleiben dennoch viele Patienten mit psychischen Erkrankungen unbehandelt oder nicht ausreichend behandelt. Unterschiedliche Gründe hierfür können vermutet werden. So werden sicherlich psychische Erkrankungen nicht ausreichend erkannt. Dies kann einerseits daran liegen, dass die Betroffenen ausschließlich körperliche Beschwerden beklagen und somit in der körperlich orientierten Medizin gefangen bleiben. Andererseits muss betont werden, dass viele psychische Erkrankungen mit körperlichen Beschwerden wie Schwindel, Herzrasen, Übelkeit, Schmerzen, Appetitveränderungen oder vegetativen Störungen einhergehen, sodass eine Reihe körperlicher Erkrankungen differenzialdiagnostisch immer abgewogen werden müssen. Das führt bei Patienten mit psychischen Erkrankungen, die überwiegend körperliche Beschwerden haben, nicht selten zu einer Odyssee von Untersuchungen und Konsultationen verschiedener Fachärzte. Viele Patienten sträuben sich, eine psychiatrische Genese ihrer Beeinträchtigungen zu akzeptieren. Sie haben Angst vor einer Überweisung zum Psychiater oder Psychotherapeuten, fühlen sich doch nicht »verrückt«. Nach wie vor – allen Aufklärungskampagnen zum Trotz – sind psychische Störungen mit einem erheblichen Stigma versehen. Viele Patienten fühlen sich etikettiert und ausgegrenzt, was es den

64 Behandlungsmöglichkeiten psychischer Erkrankungen Betreffenden erheblich erschwert, ihre psychische Erkrankung zu akzeptieren. Dies führt zu einem gemeinsamen Problem der Psychiater und Psychotherapeuten. Ein Großteil psychisch Erkrankter findet erst gar nicht den Weg zu ihnen. Erschwerend kommt hinzu, dass es zum Teil immer noch Grabenkämpfe zwischen Psychiatern und psychologischen Psychotherapeuten gibt, die zu einer zusätzlichen Verunsicherung des Patienten führen. Sie hören von dem Psychiater, dass Medikamente helfen könnten, sie hören vom Psychotherapeuten, ausschließlich eine Psychotherapie könne helfen. Vor beiden Therapiemöglichkeiten jedoch haben viele Patienten große Skepsis, sie fürchten sich vor einer Veränderung ihrer Persönlichkeit, vor Manipulation oder vor »medikamentösem Ruhigstellen«. In Anbetracht der Tatsache, dass psychische Erkrankungen häufig sind, ist eine entsprechende Entstigmatisierung psychischer Erkrankungen in der Allgemeinbevölkerung vonnöten. Information und Aufklärung über Entstehungsbedingungen psychischer Erkrankungen sowie über Behandlungsmöglichkeiten sind dringend erforderlich. Insbesondere die Information, dass medikamentöse Behandlungen und Psychotherapie sich nicht ausschließen, sondern einander ergänzen können, ist wichtig. Grundsätzlich wird zwischen einer medikamentösen und einer nichtmedikamentösen Behandlung unterschieden. Auf die nichtmedikamentösen Behandlungsverfahren wird hier nicht näher eingegangen, verschiedene Psychotherapieformen wie die psychodynamisch orientierte Psychotherapie, die Psychoanalyse, die Verhaltenstherapie, die Familientherapie, die Paartherapie und die Gesprächspsychotherapie werden eingesetzt. Spezifische Psychotherapieformen wir Traumatherapie und dialektisch behaviorale Therapie werden in ein psychotherapeutisches Gesamtbehandlungspro-

Behandlungsmöglichkeiten psychischer Erkrankungen 65

gramm integriert. Ergänzende Verfahren wie Muskelrelaxation nach Jacobson, autogenes Training oder Hypnose sind hilfreich. Wie bei anderen Therapien auch, so sollte ebenfalls für die Psychotherapie gelten, dass ein Wirksamkeitsnachweis der Therapie erbracht wird. Es sollte sich bei unzureichender Wirkung gefragt werden, ob die angewandte Methode für den jeweiligen Patienten und dessen Störungsbild die richtige ist. Kritisches Auseinandersetzen mit möglichen Alternativen sollte – wie es auch sonst in der Medizin üblich ist – auch in der Psychotherapie Anwendung erfahren. Zu den nichtmedikamentösen Behandlungsverfahren gehört ferner die Psychoedukation, also die Aufklärung und Information für den Patienten über seine Erkrankung, wenn möglich unter Einbezug der nahen Angehörigen. Hilfestellungen zum Selbstmanagement und psychiatrische Rehabilitationsverfahren können ergänzend Anwendung finden; Letztere besonders bei psychischen Erkrankungen, die zu einer erheblichen Beeinträchtigung der psychosozialen Integrationsfähigkeit führen. Der am besten belegte Wirkfaktor in der Psychotherapie ist eine positive therapeutische Beziehung. Sie ermöglicht dem Patienten die Erfahrung einer neuen Beziehung, die Reaktivierung und Re-Organisation von Emotionen und Handlungsweisen. An dieser Stelle sei daran erinnert, dass unser Gehirn auf neue Erfahrungen und Erlebnisse mit Strukturänderungen reagiert. Psychotherapeutische Maßnahmen haben auch nach Beendigung der Behandlung einen prophylaktischen Effekt, das heißt, die Wirkung der Psychotherapie überdauert die Behandlungszeit. Eine weitere Möglichkeit, psychische Erkrankungen zu behandeln, stellt die medikamentöse Therapie mit Psychopharmaka dar. Psychopharmaka sind Medikamente, die

66 Behandlungsmöglichkeiten psychischer Erkrankungen einen psychotropen Effekt auf das zentrale Nervensystem haben, das heißt auf das psychische Befinden Einfluss nehmen.

Grundsätzliches zur Psychopharmakotherapie

Die Entdeckung der Psychopharmaka vor etwa 50 Jahren hat entscheidend dazu beigetragen, dass viele psychische Erkrankungen heutzutage erfolgreich behandelt werden können. In einigen Situationen sind Psychopharmaka in der Behandlung psychischer Erkrankungen unentbehrlich, beispielsweise in der Behandlung der Schizophrenie, der bipolar affektiven Störungen, der wahnhaften Depressionen, der rezidivierenden depressiven Episoden, der akuten Erregungszustände, der ausgeprägten Zwangsstörungen. Psychopharmaka gehören zu den Medikamenten, die am meisten verordnet werden, dennoch kommt es zu immer wiederkehrenden Kontroversen. Oft mutet dieser Streit schon ideologisch an. In der Laienpresse ist von »Wunderpillen«, »Psychopillen« oder »chemischen Zwangsjacken« die Rede. Solche Zuschreibungen führen zu zusätzlichen Verunsicherungen auf allen Seiten. Wie hoch der Anteil der Menschen ist, die aufgrund ihrer psychiatrischen Erkrankung einer medikamentösen Behandlung bedürften, ist nicht bekannt. Ebenso unklar ist, wie hoch der Anteil der Patienten ist, die ihre Medikamente von sich aus absetzen. Unbekannt ist auch, wie viele Menschen sich suizidieren, weil sie keine adäquate medikamentöse Behandlung erhalten. Eine Trennung von Gehirn und Psyche ist nicht möglich. So wie die Psychotherapie Veränderungen im Gehirn bewirkt, so kommt es auch durch die Psychopharmakotherapie zu Veränderungen im Gehirn.

68 Grundsätzliches zur Psychopharmakotherapie Oft werden Psychopharmaka gleichgesetzt mit Benzodiazepinen und deshalb lehnen viele Patienten den Einsatz der Psychopharmaka ab, da sie sich vor einer Abhängigkeitsentwicklung (zu Recht, wenn Benzodiazepine gemeint sind!) fürchten. Es gibt jedoch nicht nur die Benzodiazepine in der Gruppe der Psychopharmaka, sondern es sind eine Reihe anderer Psychopharmaka zu unterscheiden, wie: – Antidepressiva, – Stimmungsstabilisierer, – Antipsychotika, – Anxiolytika, – Hypnotika (Antiinsomnika), – Antidementiva, – Psychostimulanzien. Fehlen Informationen zu diesen unterschiedlichen medikamentösen Beeinflussungsmöglichkeiten, so wundert es nicht, dass eine Erhebung zur Einstellung der deutschen Bevölkerung zur Behandlung mit Psychopharmaka ergab, dass zur Behandlung einer Schizophrenie, einer Depression oder einer Angst-/Panikstörung nur jeder Siebte zu Psychopharmaka rät. Mehr als doppelt so viele raten von dem Gebrauch ab. Laien unterscheiden nicht, ob es sich um eine Behandlung der Schizophrenie, der Depression, der Angst-/Panikstörung handelt. Es wird also ein Stereotyp deutlich: Die verschiedenen Psychopharmakagruppen werden nicht unterschieden; die Meinungen und festgefahrenen Einstellungen, die über Benzodiazepine gewonnen wurden, werden auf alle anderen Psychopharmakagruppen übertragen. Diesen Erhebungen stehen Untersuchungen von Patienten in psychiatrischen Kliniken gegenüber. Die Patienten, die selbst in den vorangegangenen Jahren eine medikamentöse Behandlung mit Psychopharmaka erhalten hatten, haben diese als positiv und hilfreich beurteilt.

Grundsätzliches zur Psychopharmakotherapie 69

Vorab: Immer gehört eine Psychopharmakotherapie eingebettet in einen Gesamtbehandlungsplan, der Psychoedukation, Psychotherapie, Soziotherapie und gegebenenfalls psychische Rehabilitationsmaßnahmen integriert. Natürlich sollte bei Einsatz von Medikamenten, die eine Abhängigkeit hervorrufen (so sicherlich bei den Benzodiazepinen!), zu größter Vorsicht geraten werden. Deshalb wird von fachärztlicher Seite der Einsatz von Tranquilizern und Hypnotika, die eine Abhängigkeitsentwicklung herbeiführen können, grundsätzlich immer zeitlich befristet empfohlen. Zu berücksichtigen ist ferner, dass etwa 30–50 Prozent der Verordnungen von Psychopharmaka erfolgen, ohne dass diese Patienten eine psychiatrische Diagnose haben. Hier muss dann ganz besonders die Indikation überprüft und gesichert sein. Grundsätzlich sollte der Einsatz von Psychopharmakotherapie sorgfältig entschieden werden, die Verordnung von Psychopharmaka gehört in die Hand eines Facharztes. Glücklicherweise war die Entwicklung der letzten zehn Jahre so, dass die Verordnungen von Tranquilizern, also den Medikamenten, die zu Abhängigkeit führen, deutlich zurückgingen, während die Verordnungen von Antidepressiva und Antipsychotika im Vergleich zunahmen. Antidepressiva und Antipsychotika machen nicht abhängig. Fürchten Patienten, dass sie durch Psychopharmaka einen Verlust ihrer Persönlichkeit erleiden, so ist eher das Gegenteil der Fall: Bei vielen psychischen Erkrankungen sind Kontrolle und Identität verloren gegangen, die durch Psychopharmaka wiedergewonnen werden können. Durch die Entwicklung der Psychopharmaka in den letzten Jahrzehnten ist es möglich geworden, Zwangsmaßnahmen wie Fixierungen innerhalb psychiatrischer (stationärer) Behandlungen zu vermeiden. Ferner hat die Psychopharmakotherapie dazu beigetragen, die stationäre Behandlungs-

70 Grundsätzliches zur Psychopharmakotherapie dauer zu verkürzen. Zum Teil macht der Einsatz der Psychopharmaka es erst überhaupt möglich, dass andere Therapiemaßnahmen greifen können, so kann eine Soziotherapie oder psychotherapeutische Rehabilitationsmaßnahme bei Psychosekranken erst greifen, wenn die Psychopharmaka dazu geführt haben, dass Wahn und Halluzinationen remittiert sind. Dank der Entwicklung der Antipsychotika der zweiten Generation, die einen günstigen Effekt auf Konzentrations- und Gedächtnisfähigkeiten haben, ist es möglich geworden, schizophren Erkrankte soziotherapeutischen Maßnahmen zuzuführen. Hier verzahnen sich Psychopharmakatherapie und psychotherapeutische Maßnahmen und Soziotherapie.

Einteilung Die Psychopharmaka werden in folgende Gruppen eingeteilt: Antidepressiva: Sie werden gegen Depressionen eingesetzt, aber auch bei Angststörungen, Zwangsstörungen und niedrig dosiert bei Schlafstörungen oder chronischen Schmerzen. Phasenprophylaktika (mood stabilizer): Diese Medikamente werden bei immer wiederkehrenden psychischen Erkrankungsphasen, wie beispielsweise bei manisch-depressiven Erkrankungen oder bei rezidivierenden depressiven Episoden, eingesetzt. Hauptvertreter sind Lithium, Carbamazepin, Valproat, Lamotrigin. Antipsychotika (früher Neuroleptika genannt): Das sind Medikamente, die bei Psychosen, zum Beispiel bei der Schizophrenie, zum Einsatz kommen. In niedriger Dosierung können sie bei Unruhezuständen oder aggressiven Verhaltenstörungen gegeben werden.

Wirkweisen 71

Tranquilizer (Anxiolytika): Hauptvertreter ist zum Beispiel das Benzodiazepin, ein Beruhigungsmittel im klassischen Sinne. Auf das erhöhte Abhängigkeitspotenzial ist besonders zu achten. Hypnotika: Hierunter werden Psychopharmaka zur Behandlung der Schlafstörungen verstanden. Stimulanzien: Sie finden beim Aufmerksamkeitsdefizit-/ Hyperaktivitätssyndrom und bei der Narkolepsie Anwendung. Antidementiva: Diese Medikamente werden bei Demenzerkrankungen, zum Beispiel bei Morbus Alzheimer, eingesetzt. Entzugs- und Entwöhnungsmittel: Darunter sind Medikamente zu verstehen, die bei Entzugsbehandlungen oder bei Alkoholabhängigkeit eingesetzt werden.

Wirkweisen Psychopharmaka modulieren die Neurotransmitter, indem sie deren Ausschüttung hemmen oder fördern, indem sie die bei psychischen Erkrankungen in Dysbalance geratenen Wechselwirkungen der unterschiedlichen Neurotransmitter wieder regulieren. Die Neurotransmitter, Kuriere der Informationen, sind notwendig, damit Neurone ihre Informationen austauschen können. Unterschiedliche Neurotransmitter stehen zur Verfügung, so zum Beispiel Serotonin, Noradrenalin, Dopamin, GABA und Glutamat. Die Neurotransmittersysteme sind in einem komplexen Netzwerk miteinander verbunden und stehen in Wechselbeziehungen zueinander, vergleichbar mit einem Mobile. Bei vielen psychiatrischen Erkrankungen ist bereits aufge-

72 Grundsätzliches zur Psychopharmakotherapie zeigt worden, welche Transmittersysteme am meisten beeinträchtigt sind. So wird bei den schizophrenen Psychosen eine Dysfunktion des dopaminergen Systems angenommen, bei Depressionen eine Dysfunktion des noradrenergen und serotonergen Systems, bei Angststörungen vor allem eine Dysfunktion des serotonergen Systems. Entsprechende Ansatzpunkte der Antipsychotika sind, dass sie den Transmitterüberschuss des dopaminergen Systems bei schizophrenen Erkrankungen beeinflussen, während Antidepressiva dafür sorgen, dass die Transmitterdysfunktion des serotonergen oder noradrenergen Systems behoben wird. Wann immer wir die Neurotransmissionen versuchen darzustellen, führt dieses zu einer starken Vereinfachung. In Wirklichkeit sind es hochkomplexe biochemische Systeme,

Informationen Impuls

Serotonin oder Noradrenalin Überträgerstoffe: (= Neurotransmitter)

Nervenendigung

Rücktransport synaptischer Spalt Rezeptoren = Bindungsstellen

Abbildung 12: Botenstoffe (nach: Schäfer, U.: Depressionen im Erwachsenenalter. Huber, Bern, 2001)

Wirkweisen 73

die sich gegenseitig beeinflussen und je nach Hirnstruktur in unterschiedlichem Maß mit unterschiedlichen Funktionen vorhanden sind. In verschiedenen Gehirnabschnitten kommt es je nach Funktion mal zum Überwiegen des einen, mal zum Überwiegen des anderen Neurotransmitters. Bei psychischen Erkrankungen ist am ehesten von einer Störung dieser feinen Abstimmung innerhalb des hochkomplexen Regulationssystems der verschiedenen Transmittersysteme auszugehen. Zusätzlich kommen weitere Substanzen der Regulation der Hirnfunktionen infrage, wie Neuropeptide, das heißt Eiweißsubstanzen, die wiederum die Neurotransmitter beeinflussen können. Psychopharmaka können zudem das Hormonsystem beeinflussen. Bisher existieren jedoch noch keine Medikamente, die direkt an den Neuropeptiden oder an den Hormonrezeptoren bei der Behandlung von psychiatrischen Erkrankungen ansetzen. Häufig gelangen Psychopharmaka in die Kritik, da sie zu zahlreichen unerwünschten Arzneimittelwirkungen führen. Dann wird vermutet, dass keine ausreichenden Erfahrungen mit Psychopharmaka vorhanden seien, bevor diese zugelassen werden. Grundsätzlich müssen Medikamente Prüfreihen durchlaufen, bevor sie überhaupt vom Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte zugelassen werden. Zunächst werden alle Medikamente präklinisch untersucht, bevor sie in eine erste klinische Überprüfungsphase kommen. In der präklinischen Phase werden pharmakologische und toxikologische Tierversuche durchgeführt. In der Phase I wird überprüft, ob das Medikament verträglich ist, es wird dafür bei gesunden Menschen angewandt. Es schließt sich dann die Phase II der klinischen Prüfung an, bei der die therapeutische Wirkung untersucht wird. Ebenso werden die unerwünschten Arzneimittelwirkun-

74 Grundsätzliches zur Psychopharmakotherapie gen erfasst. Zusätzlich wird in der zweiten Phase in Dosisfindungsstudien untersucht, welche Dosis notwendig ist, um die entsprechenden Krankheitssymptome zu beeinflussen. In der III., klinischen Überprüfungsphase wird die Wirksamkeit des neuen Medikaments bei etwa 1.000 bis 5.000 Patienten untersucht. Daran schließen sich Doppelblindstudien an, es wird gegen ein Standardpräparat getestet und/oder gegen ein Scheinpräparat. Das neue Medikament wird bezüglich der Wirksamkeit und des Auftretens der unerwünschten Arzneimittelwirkungen immer im Vergleich zu Standardpräparaten und zum Placebo zu untersuchen sein. Weitere Untersuchungen sind Langzeitstudien: Mindestens 100 Patienten werden über ein Jahr mit dem neuen Medikament unter regelmäßigen Kontrollen behandelt. Erst nach Abschluss dieser Phase III kann die Zulassung beim Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) beantragt werden. Nach der Zulassung schließt sich die klinische Phase IV an, bei der die Anwendungen unter Alltags-/Praxisbedingungen durchgeführt werden, die so genannte Anwendungsüberwachungsphase. Aus dem eben Dargestellten ist deutlich, dass Argumente, zugelassene Medikamente seien hinsichtlich ihrer Wirksamkeit und ihrer potenziellen Nebenwirkungen nicht gut untersucht, nicht aufrechtzuerhalten sind. Natürlich können im Rahmen langjähriger Anwendungen immer wieder noch andere Nebenwirkungen auftreten, dieses ist aber nicht nur bei Psychopharmaka der Fall, sondern auch – wie häufiger in der Presse zu lesen ist – bei anderen Medikamenten. Wie bei jeder medikamentösen Behandlung stellt sich auch bei der Psychopharmakotherapie die Frage der Compliance, der Akzeptanz und Einsicht in die Notwendigkeit der medikamentösen Behandlung. Nicht nur Psychopharmaka

Wirkweisen 75

werden unregelmäßig genommen, sondern ebenfalls viele andere Medikamente, die einer regelmäßigen Einnahme bedürfen. Wann immer wir vom Patienten eine regelmäßige, oft über Jahre anhaltende Einnahme eines Medikaments fordern, bedarf es der genauen Aufklärung und Information über Indikation, Wirkweisen und potenzielles Auftreten unerwünschter Arzneimittelwirkungen. Je besser der Patient – und möglicherweise auch seine Angehörigen – informiert ist, desto eher ist eine Compliance zu erwarten. Die irrige Annahme vieler Menschen, dass – sobald die Symptome verschwunden sind – das Medikament abgesetzt werden könne, ist bei einer Psychopharmakotherapie sehr gefährlich. Psychopharmaka sollten – von wenigen Ausnahmefällen abgesehen – niemals abrupt abgesetzt werden. Es sollte sich immer nach der Remission (dem Verschwinden der psychischen Symptome) eine Erhaltungstherapie anschließen. Auch hierüber muss der Patient informiert sein. Psychopharmaka sind eben keine Halsschmerztabletten, die abgesetzt werden, sobald die Halsschmerzen weg sind. Nicht nur Patienten unterschätzen das Risiko eines Rezidivs, sondern viele Ärzte und Psychotherapeuten auch! Immer sollte individuell gefragt werden, welche Folgen ein erneutes Rezidiv für den Betroffenen haben könnte (Verlust des Arbeitsplatzes, Trennung des Partners, familiäre Konflikte). Nicht nur das Verordnen von Medikamenten birgt Gefahren, auch das Unterlassen einer wirksamen Medikation kann nachteilige Folgen haben! Neben der Information über potenzielle Nebenwirkungen sind Kenntnisse über mögliche Interaktionen verschiedenster Arzneimittelgruppen von Wichtigkeit. Dies gilt insbesondere für ältere Menschen, da häufig eine Multimorbidität besteht und mehrere Medikamente gleichzeitig genommen werden. Im Einzelfall muss dann genau geprüft werden, wel-

76 Grundsätzliches zur Psychopharmakotherapie ches Medikament bei welchen Patienten einzusetzen ist, ob es sich mit den bereits eingenommenen Medikamenten verträgt oder ob es zu möglichen Interaktionen kommen kann. Besonderheiten des Metabolismus von Medikamenten sind zu berücksichtigen. Die Verstoffwechselung der meisten Medikamente findet in der Leber statt. Hier stehen bestimmte Enzymsysteme zur Verfügung. Einige Menschen haben einen individuell vermehrten Abbau, wir nennen sie die rapid metabolizer. Praktische Konsequenz ist dann oft, dass diese Menschen eine erhöhte Dosis des Medikaments brauchen, um einen ausreichenden Wirkstoffspiegel im Blut zu erzielen. Anderseits gibt es Menschen mit einem so genannten Slow-Metabolismus, die eine langsamere Verstoffwechselungsrate in der Leber haben, sodass schon bei geringeren Dosen ein erhöhter Wirkstoffspiegel des Medikaments im Blut festzustellen ist. Im Zweifelsfall sollte ein drug monitoring durchgeführt werden, bei dem die Blutkonzentration des jeweiligen Medikamentenwirkstoffs gemessen wird. Für viele Medikamente gibt es Angaben zum therapeutischen Bereich, darunter sind die Blutspiegel zu verstehen, in denen eine therapeutische Wirkung zu erwarten ist. Drug monitoring ist ebenfalls bei Verdacht auf Intoxikationen durchzuführen. Wann immer es gravierende oder unerwartete Arzneimittelwirkungen gibt, sollte ein drug monitoring erfolgen, und auch, wenn der Verdacht auf eine Noncompliance besteht. Insbesondere bei Medikamenten, die eine sehr geringe therapeutische Breite haben (zum Beispiel Lithium), sollte der Blutspiegel regelmäßig kontrolliert werden. Das rechtzeitige Erfassen von unerwünschten Arzneimittelwirkungen ist oberstes Gebot, sodass Kontrolluntersuchungen – je nach Substanz – erforderlich sind. Häufig müssen regelmäßige Laborkontrollen (Blutbild, Leberwerte, Nierenwerte, Schilddrüsenwerte), eine Überprüfung des

Wirkweisen 77

EKG, des Blutdrucks, des Pulses und manchmal EEG-Kontrollen erfolgen. Bei einigen Medikamenten sind regelmäßige Blutfettwerte, Blutzucker und Gewichtskontrollen nötig. Spezielle Probleme der Psychopharmakotherapie stellen sich in der Schwangerschaft oder während des Stillens. Hier gelten strengste Indikationsstellungen, bei einigen Psychopharmaka liegen Daten vor, die eine Anwendung in der Schwangerschaft möglich machen. Individuelle RisikoNutzen-Abwägungen sind immer vorzunehmen. Das gehört sicherlich in die Hand eines erfahrenen, mit Psychopharmaka vertrauten Psychiaters. Ähnliches gilt für die Psychopharmakagabe in der Stillzeit. Ein anderes spezielles Problem ist die Einnahme von Psychopharmaka und die Verkehrstauglichkeit. Bei Medikamenten, die zur Sedierung (Müdigkeit) führen, ist sicherlich die Verkehrstauglichkeit eingeschränkt und das Verkehrsunfallrisiko erhöht. Auch hierüber müssen die Patienten aufgeklärt werden. Unter Umständen muss zu Beginn der Behandlung, da dann meist die sedierende Wirkung am höchsten ist, auf Autofahren oder Tätigkeiten an laufenden Maschinen verzichtet werden. Entsprechende Warnhinweise finden sich meist auch im Beipackzettel. Andererseits muss betont werden, dass es eine Reihe von – insbesondere der modernen – Psychopharmaka gibt, die zu keiner Müdigkeit führen und somit die Verkehrstauglichkeit nicht beeinträchtigen, sondern im Gegenteil eher zur Verbesserung der Verkehrsfähigkeit durch erhöhte Konzentration führen. Dies gilt zum Beispiel bei Einsatz von Stimulanzien bei Menschen mit Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätssyndrom. Auch die Antidepressiva der neuen Generation, wie selektive Serotonin- oder Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer, zeigen, dass die Fahrtauglichkeit nicht beeinträchtigt ist. Die Verkehrstauglichkeit wird sicherlich eher durch die psychiatrische Grunderkrankung (wie beispielsweise Psychose,

78 Grundsätzliches zur Psychopharmakotherapie Suchterkrankung, Demenz) beeinträchtigt als durch die medikamentöse Behandlung. Eine weitere Problematik der Psychopharmakotherapie ist die Behandlung im höheren Lebensalter. Altersbedingte Metabolisierungsveränderungen, veränderte Resorption sowie veränderte Eiweißbindungen und eingeschränkte Elimination führen zu einer anderen Pharmakokinetik. Dies ist immer zu berücksichtigen. Ferner sind mögliche Interaktionen mit anderen Medikamenten zu beachten. Oft sind bei der Psychopharmakotherapie bei Alterspatienten andere (niedrigere) Dosen notwendig. Ein zusätzlicher Problemfokus stellt sich in der medikamentösen Kombinationsbehandlung. Grundsätzlich sollte eine Monotherapie, die Gabe nur eines Medikaments, angestrebt werden, aber es lassen sich nicht immer Kombinationstherapien vermeiden. So kann es beispielsweise zu Beginn einer sehr agitierten unruhigen depressiven Erkrankung sinnvoll sein, zusätzlich einen Tranquilizer oder ein sedierendes Antidepressivum zu einem selektiven SerotoninWiederaufnahmehemmer zu geben. Langfristig sollte eine Monotherapie angestrebt werden. Weitere mögliche Kombinationsbehandlungen sind die mit einem Antidepressivum und einem mood stabilizer zur Phasenprophylaxe, zum Beispiel bei bipolar affektiven Störungen (manisch-depressiven Erkrankungen). Bei wahnhaften Depressionen kann die Kombination aus einem Antipsychotikum und einem Antidepressivum sinnvoll sein. Ein weiteres grundsätzliches Problem stellt sich darin, dass Medikamente – nicht nur Psychopharmaka – auch außerhalb ihrer Zulassungsindikation verordnet werden, so genannte Off-Label-Verordnung. Auch hierüber sollte der Patient informiert sein und entsprechend einwilligen. Andererseits ist es nicht zu vertreten, wirksame Medikamente einem Patienten vorzuenthalten, nur weil eine entsprechen-

Wirkweisen 79

de Zulassung für diese Indikation nicht vorliegt. Beispiele hierfür sind die Off-Label-Verordnungen von Stimulanzien bei persistierenden Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörungen im Erwachsenenalter, niedrig dosierte Antipsychotikagabe bei Impulskontrollverlusten, zum Beispiel bei Borderline-Patienten, begleitende Antipsychotikagabe bei schwersten Zwangssymptomen. Ob überhaupt Psychopharmaka zum Einsatz kommen müssen, ist sicherlich von der Ausprägung und dem Schweregrad der jeweiligen psychischen Störung abhängig. Wie bereits erwähnt, gibt es psychiatrische Erkrankungen, bei denen der Psychopharmakaeinsatz unumstritten ist, so beispielsweise bei den schizophrenen Psychosen, bei bipolar affektiven Störungen, bei rezidivierenden depressiven Episoden. Das bedeutet aber nicht, dass bei diesen Erkrankungen keine Psychotherapie indiziert ist! Häufig ist gerade die Kombinationsbehandlung aus Psychotherapie und Psychopharmakotherapie die Therapie der Wahl. Es zeigt sich bei dieser Art der Kombinationsbehandlung dann oft das Problem, dass der Patient die positive Wirkung entweder nur der Psychotherapie oder nur der medikamentösen Behandlung zuschreibt. Das kann dann zu Passivität oder Noncompliance sowohl für die eine als auch für die andere Therapie führen. Zusammengefasst könnten die Tipps für einen guten Umgang mit Psychopharmaka so aussehen: – Psychopharmaka sollten eingesetzt werden, wenn eine psychiatrische Erkrankung vorliegt, für die eine Indikation für das entsprechende pharmakologische Vorgehen besteht. Sorgfältige Informationen, Aufklärung und Kontrolluntersuchungen zum Erfassen potenzieller Nebenwirkungen und zur Therapiekontrolle sind erforderlich. – Medikamentöse Vorbehandlungen sind genauestens zu

80 Grundsätzliches zur Psychopharmakotherapie





– – –



erfragen; es ist auf vorbestehende Suchterkrankungen zu achten, wenn Benzodiazepine eingesetzt werden sollen. Auf mögliche Arzneimittelwechselwirkungen (Interaktionen) sowie auf das Vorliegen von Kontraindikationen ist zu achten. Es muss individuell dosiert werden, bei einigen Medikamenten einschleichend, mit geringen Dosen beginnend. Bei älteren Patienten ist eine entsprechende Dosisanpassung auf niedrigem Niveau zu empfehlen. Tranquilizer und abhängigkeitserzeugende Hypnotika sollten immer nur zeitlich limitiert eingesetzt werden. Auf Wechselwirkungen von Psychopharmaka mit Alkohol ist zu achten. Der Patient ist hierüber aufzuklären. Die Psychopharmakotherapie gehört grundsätzlich in einen Gesamtbehandlungsplan, in dem Psychoedukation, Psychotherapie und eventuell soziotherapeutische Maßnahmen integriert werden. Die Langzeitgabe von Psychopharmaka sollte immer in die Hand eines Facharztes für Psychiatrie gelegt werden.

Spezielle Psychopharmakotherapie

Antidepressiva Definition Antidepressiva sind Psychopharmaka, die bei depressiven Symptomen und Syndromen unterschiedlichster Ätiologie eingesetzt werden. Sie führen zur Stimmungsaufhellung und zur Antriebsverbesserung.

Einteilung Es werden unterschiedliche Antidepressivaklassen unterschieden, so die tri- und tetrazyklischen Antidepressiva, irreversible und reversible MAO-Hemmer, selektive SerotoninWiederaufnahmehemmer (SSRI), selektive NoradrenalinWiederaufnahmehemmer (SNRI), duale Serotonin- und Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer (SSNRI) und das über das Noradrenalinsystem auf das Serotoninsystem wirkende Antidepressivum Mirtazapin (NaSSA). Die Einteilung erfolgt nach strukturchemischen Merkmalen oder nach pharmakologischen Wirkmechanismen sowie nach klinischtherapeutischen Profilen. Klinisch bedeutsam ist die Einteilung nach sedierenden und nicht sedierenden Antidepressiva. Die Tabelle 3 zeigt die derzeit in Deutschland auf dem Markt befindlichen gebräuchlichen Antidepressiva und gibt

82 Spezielle Psychopharmakotherapie Hinweise auf mögliche Interaktionen und wichtigste Indikationen. Die Tabelle 4 zeigt ebenfalls die unterschiedlichen Antidepressivaklassen mit den wichtigsten Nebenwirkungen. Tabelle 3: Übersicht über die derzeit in Deutschland auf dem Markt befindlichen Antidepressiva und antidepressiven Hilfsstoffe (nach: Schäfer, U., Rüther, E.: Psychiatrische Patienten in der Hausarztpraxis. Thieme, Stuttgart, 2005) Substanzgruppe

Substanz

Bemerkungen

Trizyklische Antidepressiva und analoge Substanzen(»klassische Antidepressiva«)

Amitriptylin

weltweit Standardsubstanz

Clomipramin

auch gegen Panikund Zwangsstörungen auch gegen KokainEntzugssyndrom auch als Schlafmittel eingesetzt historisch erstes Antidepressivum tetrazyklische Substanz Sedativum, antidepressive Wirkung schwach Auch als Schlafmittel eingesetzt

Desipramin Doxepin Imipramin Maprotilin Opipramol Trimipramin Selektive SerotoninWiederaufnahmehemmer

Citalopram Escitalopram Fluoxetin

Fluvoxamin Paroxetin Sertralin

wenig Interaktionen wenig Interaktionen viele Interaktionen, weltweit Standardsubstanz viele Interaktionen viele Interaktionen wenig Interaktionen

Antidepressiva 83 Komplexe serotonerge Substanzen

Mirtazapin Trazodon

Körpergewichtsanstieg, sediert deutlich sediert deutlich, gelegentlich Priapismus

Serotonerges Antidepressivum für Sonderfälle

Mianserin

sediert deutlich, Appetitsteigerung, Blutbildstörungen

Serotonin-Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer

Venlafaxin Duloxetin

wenig Interaktionen wenig Interaktionen

Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer

Reboxetin

sediert nicht, kein Körpergewichtsanstieg

MAO-Inhibitoren

Tranylcypromin

auch bei Zwangskrankheiten eingesetzt auch gegen soziale Phobien

Moclobemid Serotonin-Präkursoren

Tryptophan

bei Depressionen schwach wirksam

Pflanzliches Antidepressivum

JohanniskrautExtrakt

antidepressive Wirkung eher schwach

84 Spezielle Psychopharmakotherapie Tabelle 4: Antidepressiva-Klassen mit den wichtigsten Nebenwirkungen (nach: Schäfer, U.; Rüther, E.: Im Auf und Ab der Gefühle – Manie und Depression – die bipolare affektive Störung. ABW-Wissenschaftsverlag, Berlin, 2004)

Antidepressiva

trizyklische

tetrazykli- SSRI sche

SNRI

SSNRI

NaSSA

Amitriptylin

Maprotilin

Reboxe- Venlatin faxin

Mirtazapin

Fluoxetin Fluvoxamin

Duloxetin

Paroxetin Sertralin Citalopram Escitalopram Nebenwirkungen

Müdigkeit, Mundtrockenheit, Leberwertveränderungen EKG-Veränderungen, evtl. Gewichtszunahme, Gefahr tödlicher Dosen

Sexualstörungen, Appetitminderung, Übelkeit, Schlafstörungen, Kopfschmerzen

Müdikeit, Gewichtszunahme

Antidepressiva 85

Besonderheiten Es ist wichtig zu wissen, dass die antidepressive Wirksamkeit subjektiv erst nach ein bis sechs Wochen einsetzt, das heißt, der Patient muss wissen, dass er eine therapeutische Wirkung erst nach frühestens zwei bis drei Wochen spüren wird. Bedauerlicherweise ist dies gerade der Zeitraum, in dem die unerwünschten Arzneimittelwirkungen am häufigsten sind. Hierüber muss der Patient informiert sein. Es kann somit zu Beginn einer psychopharmakotherapeutischen antidepressiven Behandlung vorübergehend zu einer Verschlechterung der Befindlichkeit des Patienten kommen. Weitere Besonderheiten sind, dass tri- und tetrazyklische Antidepressiva sowie irreversible MAO-Hemmer bei Überdosierung giftig sind. Bei hohen Dosen kann es zu letalen Folgen kommen, deswegen ist der Einsatz bei suizidalen Patienten nur mit äußerster Vorsicht möglich, es sollten dann grundsätzlich kleinste Packungsgrößen verschrieben werden. Bei der antidepressiven Medikation wird zwischen einer Akutbehandlung, einer Erhaltungstherapie und einer Prophylaxe unterschieden. Die akute Behandlungsphase hat das Ziel, die aktuelle depressive Symptomatik zu reduzieren, die Erhaltungstherapie soll einem möglichen Rückfall bei bestehender depressiver Episode vorbeugen, schließlich wird die Prophylaxe eingesetzt, um weitere depressive Episoden zu verhindern. Wichtig ist, dass bei der Rezidivprophylaxe mit einem Antidepressivum die Dosis genauso hoch bleibt, wie sie nötig war, damit es zur Remission kam.

86 Spezielle Psychopharmakotherapie

Wirkweise Die Antidepressiva beeinflussen die Noradrenalin- und/ oder Serotonin-Wiederaufnahme aus dem synaptischen Spalt in die präsynaptische Zelle. Das bedeutet, dass es zu einer erhöhten und verbesserten Verfügbarkeit der Neurotransmitter im synaptischen Spalt kommt. Die Wirklatenzphase von mindestens zwei bis drei Wochen bis zum subjektiv spürbaren Wirkungseintritt ist möglicherweise durch eine Adaptationszeit der postsynaptischen Rezeptorsensitivität bedingt. Der Metabolismus der Antidepressiva erfolgt über das Cytochrom-P-450-System. Dies ist der Grund, warum es zu Interaktionen und zu gegenseitigen Beeinflussungen mit anderen Medikamenten kommen kann, sodass der Antidepressiva-Plasmaspiegel beeinträchtigt sein kann. Die Wirksamkeit der tri- und tetrazyklischen Antidepressiva, der SSRI, SSNRI, SNRI und NaSSA ist in der Behandlung der Depression gut belegt. Bei Zwangsstörungen ist die Wirksamkeit von SSRI und Clomipramin erwiesen. Bei Angststörungen sind ebenfalls SSRI, SSNRI, reversible MAO-Hemmer sowie Imipramin, Clomipramin und Opipramol zur Behandlung möglich. Eine Übersicht gibt Tabelle 5. Bei Zwangsstörungen ergibt sich folgende mögliche antidepressive Medikation: – Fluoxetin (Fluctin®), – Clomipramin (Anafranil®), – Paroxetin (Seroxat®), – Fluvoxamin (Fevarin®), – Sertralin (Zoloft®).

Antidepressiva 87 Tabelle 5: Beispiele einer medikamentösen Behandlung bei Angststörungen (nach: Schäfer, U.; Rüther, E.: Ängste – Schutz oder Qual? Die Angststörung. Ein Ratgeber für Betroffene. ABW-Wissenschaftsverlag, Berlin, 2005) Art der Angst- Neuere störung Medikamente Panikstörung

Citalopram (Sepram®, Cipramil®) 20–60 mg pro Tag Escitalopram (Cipralex®) 10–20 mg pro Tag

Ältere Medikamente Imipramin (Tofranil®) 100–200 mg pro Tag Clomipramin (Anafranil®) 150 mg pro Tag

Venlafaxin (Trevilor ret.®) 75–225 mg pro Tag Fluoxetin (Fluctin®) 20–40 mg pro Tag Fluvoxamin (Fevarin®) 50–300 mg pro Tag Paroxetin (Seroxat®) 20–60 mg pro Tag Generalisierte Angststörung

Venlafaxin (Trevilor® ret.) 75–225 mg pro Tag

Imipramin (Tofranil®) 75–200 mg pro Tag

Paroxetin (Seroxat®) 20–60 mg pro Tag Soziale Phobie Venlafaxin (Trevilor® ret.) 75–225 mg pro Tag Buspiron (Bespar®) 15–60 mg pro Tag Paroxetin (Seroxat®) 20–60 mg pro Tag Moclobemid (Aurorix®) 600 mg pro Tag

Opipramol (Insidon®) 100–300 mg pro Tag

88 Spezielle Psychopharmakotherapie

Indikationen Antidepressiva werden unabhängig von der Ätiologie bei depressiven Störungen wirksam eingesetzt. Bei depressiven Episoden sind Serotonin-Wiederaufnahmehemmer und trizyklische/tetrazyklische Antidepressiva etwa gleich wirksam. Bei ängstlich-agitierter Depression sollte ein eher sedierendes Antidepressivum – zumindest in der Initialbehandlung – eingesetzt werden. Bei ausgeprägten begleitenden Schlafstörungen kann der Effekt eines sedierenden Antidepressivums ausgenutzt werden, wenn das Antidepressivum zur Nacht verabreicht wird. Bei atypischen Depressionen (darunter sind Depressionen zu verstehen, die mit Appetitsteigerung und vermehrtem Schlafbedürfnis einhergehen) sollten eher MAO-Hemmer eingesetzt werden. Bei chronisch depressiven Syndromen (wie es die Dysthymie ist) können SSRI eingesetzt werden. Hierbei ist jedoch auf eine ausreichend lange Behandlungsdauer zu achten. Oft wird der Fehler gemacht, dass die antidepressive Medikation zu früh als erfolglos abgesetzt wird. Die Dysthymia ist ein chronisches Krankheitsbild, was eine entsprechend lange Behandlungsdauer nötig macht. Bei saisonal bedingter Depression (Winterdepression) können SSRI oder MAO-Hemmer zur Anwendung kommen. Zusätzlich sollte eine Lichttherapie angewandt werden. Bei Depressionen mit psychotischen Symptomen (zum Beispiel Wahn) ist die Kombinationsbehandlung mit einem Antidepressivum und einem niedrig dosierten Antipsychotikum notwendig. Antipsychotika der zweiten Generation wie beispielsweise Quetiapin oder Olanzapin sollten denen der ersten Generation vorgezogen werden, da sie weniger Interaktionen und weniger Nebenwirkungen haben. Insbesonde-

Antidepressiva 89

re bei Patienten mit bipolaren affektiven Störungen, die eine erhöhte Empfindlichkeit haben für das Auftreten von extrapyramidal-motorischen Störungen, welche eine typische Nebenwirkung der Antipsychotika der ersten Generation darstellen, sollten vorzugsweise mit Antipsychotika der zweiten Generation behandelt werden. Bei Depressionen älterer Menschen sind SSRI, SSNRI oder NaSSA vorzuziehen, da die Nebenwirkungsrate im Vergleich zu trizyklischen Antidepressiva geringer ist. Insbesondere die kardialen Nebenwirkungen der trizyklischen Antidepressiva sind bei älteren Menschen zu beachten. Zusätzlich kann es bei trizyklischen Antidepressiva zu Stürzen kommen, die bei älteren Menschen mit der Gefahr von Knochenbrüchen (Oberschenkelhalsfrakturen) verbunden ist. Bei Übergewicht oder Neigung zu Übergewicht sollten Antidepressiva, die den Appetit steigern, vermieden werden, wie beispielsweise Amitryptilin, Mirtazapin, Doxepin. Bei Patienten, die in der Vorgeschichte manische Episoden hatten, sollte nach Möglichkeit auf die Gabe von tri- oder tetrazyklischen Antidepressiva verzichtet werden, und es sollten stattdessen SSRI eingesetzt werden. Tri- und tetrazyklische Antidepressiva bergen ein erhöhtes Risiko eines switch (Wechsel von depressiver Symptomatik in eine manische). Bei Einsatz von SSRI ist dieses Switch-Risiko deutlich geringer. Eine der wichtigsten Regeln bei der Antidepressiva-Therapie ist, dass eine ausreichend lange Zeit und eine ausreichend hohe Dosierung gegeben wird, bis über Wirksamkeit oder unzureichenden Therapieeffekt entschieden werden kann. Hier finden sich im Alltag die Hauptfehlerquellen: Der Patient ist oft nicht über die Wirklatenz informiert, er wird ungeduldig, es wird keine ausreichend hohe Dosierung erzielt, er setzt vorschnell ab, es kommt zum übereilten Wechsel auf andere Präparate.

90 Spezielle Psychopharmakotherapie Erst wenn nach ausreichend langer (sechs Wochen) und ausreichend hoher (Blutspiegelbestimmungen) Therapiezeit kein Therapieeffekt zu sehen ist, sollte auf ein Antidepressivum einer anderen Klasse gewechselt werden. Es ist in der Regel wenig sinnvoll, innerhalb der gleichen Klasse auf ein anderes Präparat zu wechseln. Das heißt beispielsweise, wenn der Patient zunächst ein SSRI hatte, das nicht zum Therapieeffekt geführt hat, sollte auf ein SNRI oder SSNRI oder auf ein trizyklisches Antidepressivum gewechselt werden. Es sei an dieser Stelle noch einmal ausdrücklich darauf hingewiesen, dass Antidepressiva nicht zur Abhängigkeitsentwicklung führen. Ergänzend ein kurzer Hinweis zu pflanzlichen Präparaten wie zum Beispiel Johanniskrautextrakten. Sie sind lediglich bei sehr leichten Depressionen wirksam, nicht jedoch bei ausgeprägten depressiven Symptomen. Ferner muss darauf hingewiesen werden, dass Johanniskrautextrakte eine erhöhte Lichtempfindlichkeit (cave: Sonnenbäder) bewirken. Außerdem kommt es zu Wechselwirkungen mit der Antibabypille, sodass nur noch ein unzureichenderVerhütungsschutz gegeben ist.

Unerwünschte Arzneimittelwirkungen unter Antidepressiva allgemein Grundsätzlich ist zu sagen, dass es keine wirksamen Medikamente gibt, die nicht auch zu potenziellen unerwünschten Arzneimittelwirkungen führen können. Individuell ist es sehr unterschiedlich, ob das jeweilige Medikament zu Nebenwirkungen führt. Es ist nicht vorhersehbar, ob der eine oder andere Patient mit Nebenwirkungen reagiert. Ziel sollte es sein, da die antidepressive Medikation im

Antidepressiva 91

Sinne einer Erhaltungstherapie für mindestens mehrere Monate fortgesetzt werden sollte, ein Medikament zu finden, das möglichst wenige oder keine Nebenwirkungen individuell bei dem Patienten hervorruft. Eine Erhaltungstherapie sollte für mindestens ein halbes bis zu einem Jahr fortgesetzt werden, um eine depressive Symptomatik nicht wieder innerhalb der Episode auftreten zu lassen. Die unerwünschten Arzneimittelwirkungen treten besonders in den ersten zwei bis drei Wochen auf, mit der Zeit nehmen sie ab. Das ist für den Patienten oft problematisch, da der subjektiv spürbare therapeutische Effekt oft erst nach zwei bis drei Wochen einsetzt, sodass es zu Beginn der Behandlung unter Umständen zu einer subjektiven Verschlechterung durch Auftreten von unerwünschten Arzneimittelwirkungen kommen kann. Zu unterscheiden sind unerwünschte Arzneimittelwirkungen der tri- oder tetrazyklischen Antidepressiva und der Nebenwirkungen durch SSRI. Die trizyklischen Substanzen verursachen häufig cholinerge Nebenwirkungen und adrenerge Nebenwirkungen. Die cholinergen Nebenwirkungen entstehen durch Blockade cholinerger Rezeptoren und treten in Form von beispielsweise Akkommodationsstörungen (Anpassung der Augen an Nah- und Fernsehen), Obstipation (Verstopfung), Mundtrockenheit und Harnretention auf. Ferner kommt es zur Blockade histaminerger Rezeptoren, infolgedessen kommt es zu Müdigkeit und Sedierung. Dieser Effekt kann bei Schlafstörungen oder Unruhe jedoch erwünscht sein. Durch Blockade der Alpha-1-Rezeptoren kann es zu orthostatischen Dysregulationen kommen, ferner zu Blutdruckabfall, Herzfrequenzbeschleunigung, Herzrhythmusstörungen und vermehrtem Schwitzen. Regelmäßige Blutbild-, EKG- und Blutdruck-/Pulskontrollen sowie Leberwertkontrollen sind notwendig unter trizyklischer antidepressiver Medikation.

92 Spezielle Psychopharmakotherapie Bei älteren Menschen sind die Nebenwirkungen unter trizyklischen Medikamenten ausgeprägter, insbesondere die auftretenden EKG-Veränderungen; durch den Blutdruckabfall kann es zu Stürzen mit Frakturen kommen. Aus diesem Grund sind bei älteren Menschen eher SSRI oder SSNRI vorzuziehen. Zusätzlich ist zu erwähnen, dass die tri- und tetrazyklischen Antidepressiva bei zu hoher Einnahme zu lebensgefährlichen Intoxikationen führen können. Dies ist besonders bei Menschen mit Selbsttötungsabsicht zu bedenken. Vorteile von tri- oder tetrazyklischen Verbindungen sind bei den Patienten gegeben, die unter ausgeprägten Schlafstörungen oder innerer Unruhe leiden, denn sie führen zur Müdigkeit. Diesen Effekt nutzt man aus, indem man den Patienten bittet, die Antidepressiva zur Nacht zu nehmen. Weitere unerwünschte Wirkung der tri- und tetrazyklischen Antidepressiva ist eine Appetitsteigerung mit Gewichtszunahme. Es sind dann ergänzende Ernährungsberatungen wichtig. Sollte es zur Gewichtszunahme kommen, so sind Gewichtskontrollen notwendig; mit dem Patienten sollte eine obere Grenze festgelegt werden. Auf die Nebenwirkungen von Johanniskrautextrakten wie erhöhte Photosensibilität und Interaktionen mit der Antibabypille ist bereits hingewiesen worden.

Unerwünschte Arzneimittelwirkungen unter SSRI, SNRI, SSNRI, NaSSA Im Vordergrund stehen bei den SSRI/SNRI/SSNRI Übelkeit, Unruhe, Schlafstörungen, Schwindel und Gewichtsreduktion durch Appetitminderung. Ferner kann es zum Auftreten von sexuellen Dysfunktionen (erektile Dysfunktion, Orgasmusstörungen, verzögerte Ejakulation) kommen. Auch hier

Antidepressiva 93

muss der Patient vor Einnahme ausführlich über potenzielle Nebenwirkungen informiert werden. Bei dem noradrenergen und spezifisch serotonergen Antidepressivum Mirtazapin (NaSSA) ist besonders die Gewichtszunahme und Müdigkeit zu nennen. Es ist die einzige Substanz der neueren Antidepressivageneration, die zu Sedierung führt, sodass sie bei Patienten mit Schlafstörungen bevorzugt eingesetzt werden kann. Da die SSRI, SNRI oder SSNRI nicht zu Müdigkeit führen, ist Autofahren oder eine Tätigkeit an laufenden Maschinen möglich; der Wachheitsgrad ist nicht beeinflusst. In Überdosierung genommen, haben die SSNRI, SSRI und SNRI eine geringere Toxizität, sie führen nicht zu letalem Ausgang bei Intoxikation, wie es bei tri- oder tetrazyklischen Antidepressiva der Fall ist. Vorteile der SSRI, SNRI oder SSNRI gegenüber den triund tetrazyklischen Verbindungen sind geringe Wechselwirkungen mit anderen Substanzen. Dies ist bei älteren Menschen wichtig, die wegen Multimorbidität häufig andere Medikamente zusätzlich einnehmen müssen. Zudem haben die SSRI, SNRI oder SSNRI keine Nebenwirkungen auf das Herzkreislaufsystem, dies ist ein weiterer Vorteil beim Einsatz bei älteren Menschen. Bezogen auf die antidepressive Wirksamkeit sind die Subtanzklassen SSRI/SNRI/SSNRI und die tri- und tetrazyklischen Verbindungen ähnlich. Die wichtigsten Nebenwirkungen zu den jeweiligen Substanzen sind in Tabelle 3 zusammengefasst. Auf den Wechsel in eine andere Substanzklasse bei unzureichendem Ansprechen in der Individualsituation ist bereits hingewiesen worden. Zusätzliche Strategien zur Therapieverbesserung sind so genannte Augmentationsstrategien, also eine zusätzliche Gabe von Lithium oder T3 (Thybon) zum Antidepressivum. Ergänzende Maßnahmen wie Wach-

94 Spezielle Psychopharmakotherapie therapie (Schlafentzug) oder Lichttherapie (vor allem bei der Winterdepression) können zum Einsatz kommen. Beim Schlafentzug ist darauf zu achten, dass sedierende Medikamente an dem Abend vor dem Schlafentzug nicht genommen werden.

Stimmungsstabilisierende Medikamente Kommt es zu wiederholtem Auftreten depressiver oder manisch-depressiver Phasen, so ist eine Phasenprophylaxe (Vorbeugung) mit einem mood stabilizer (Stimmungsstabilisierer) nötig. Bei ausschließlich depressiven Phasen (unipolare affektive Störung) ist als Prophylaxe die Medikation mit einem Antidepressivum möglich, welches zur Remission der depressiven Symptomatik geführt hat. Es ist zu beachten, dass in gleicher Dosis, die zur Akuttherapie nötig war, die Prophylaxe fortgeführt wird. Alternativ kann Lithium eingesetzt werden. Weitere stimmungsstabilisierende Medikamente, vor allem für bipolar affektive Erkrankungen (manisch-depressive Erkrankungen), sind neben Lithium Valproat, Carbamazepin, Lamotrigin und Olanzapin. Lithium ist bei typisch manisch-depressiven Verläufen (Bipolar-I-Störungen) sowie bei rezidivierenden depressiven Erkrankungen Medikament der ersten Wahl. Valproat und Carbamazepin sind bei manisch-depressiven Mischzuständen (manische und depressive Symptome liegen gleichzeitig vor) dem Lithium wegen besserer Wirksamkeit vorzuziehen. Bei Manie mit psychotischen Symptomen und raschem Phasenwechsel (rapid cycling: manische und depressive Phasen wechseln sich rasch ab) ist Valproat Mittel der ersten Wahl.

Stimmungsstabilisierende Medikamente 95

Olanzapin ist besonders bei bipolaren Störungen mit überwiegender manischer Symptomatik indiziert, während Lamotrigin hauptsächlich zur Prophylaxe bei bipolaren Störungen mit überwiegend depressiven Phasen vorteilhaft ist.

Lithium Neben dem stimmungsstabilisierenden Effekt hat Lithium (Quilonum®, Hypnorex®, Quilonum ret.®) zusätzlich einen vorbeugenden Schutz vor Selbsttötung (antisuizidaler Effekt). Lithium kann auch zusätzlich zur Augmentation zu einem Antidepressivum eingesetzt werden. Lithium selbst hat in der akuten Behandlung einer manischen Episode ebenfalls eine antimanische Wirkung. Grundsätzlich muss der betroffene Patient zu einer Lithiumbehandlung sehr motiviert sein, denn eine längerfristige Therapie mit Lithium und die regelmäßigen Kontrollen erfordern eine hohe Compliance. Vor einer Lithiumbehandlung muss auch geklärt sein, ob Kinderwunsch besteht, denn Lithium sollte nur in Ausnahmefällen in der Schwangerschaft gegeben werden. Kontrolluntersuchungen vor und während der Behandlung mit Lithium sind engmaschig durchzuführen, da Lithium eine sehr enge therapeutische Breite hat. Insbesondere müssen Nieren-, Herz- und Schilddrüsenerkrankungen vor dem Einsatz von Lithium ausgeschlossen werden, ebenso eine Schwangerschaft. Regelmäßige Gewichtskontrollen, Halsumfangskontrollen und entsprechende Laborparameter (vor allem Kreatinin-Clearance, Schilddrüsenparameter, Elektrolytwerte) sowie EEG- und EKG-Kontrollen sind notwendig. Die Lithium-Konzentration im Blut ist im ersten Monat wöchentlich, im ersten halben Jahr monatlich und anschlie-

96 Spezielle Psychopharmakotherapie ßend vierteljährlich zu bestimmen. Die Blutspiegelkontrollen sollten genau zwölf Stunden nach der letzten Tabletteneinnahme durchgeführt werden. Die Lithiumkonzentration sollte bei der Behandlung der akuten Manie zwischen 1,0 und 1,2 mmol/l liegen, bei der prophylaktischen Behandlung sollte sie 0,6 bis 0,8 mmol/l betragen. Intoxikationserscheinungen (Vergiftungserscheinungen) sind Schwindel, verwaschene Sprache, Ataxie, Muskeltonuserhöhung und epileptische Anfälle; im Extremfall kann es zur Bewusstlosigkeit kommen. Wechselwirkungen, besonders mit Bluthochdruckmitteln vom Thiazid-Diuretika-Typ, sind zu berücksichtigen. Die wichtigsten Nebenwirkungen von Lithium sind vor allem zu Beginn der Behandlung Müdigkeit, Schwindel, vermehrtes Durstgefühl, häufigeres Wasserlassen, Übelkeit, Durchfall, Zittern, Auftreten von Akne, Blutveränderungen, Schilddrüsen- und Nierenveränderungen sowie Gedächtnisstörungen und Gewichtszunahme. Insgesamt treten die genannten unerwünschten Arzneimittelwirkungen nicht sehr häufig auf. Treten sie jedoch auf, so können sie die Lebensqualität ausgesprochen einschränken. Es muss dann über einen Wechsel der Phasenprophylaxe diskutiert werden. Die unter Lithium oft zu beobachtende Gewichtszunahme lässt sich durch Ernährungsberatung und durch die Information, möglichst auf kalorienreiche Getränke bei vermehrtem Durstgefühl zu verzichten, abmildern. Sollte es unter Lithium zu einem Auftreten des Tremors (Zittern, insbesondere der Hände) kommen, so können zur Abhilfe β-Blocker eingesetzt werden. Lithium sollte bis auf wenige Ausnahmen (beispielsweise Intoxikationen) niemals abrupt abgesetzt werden, denn dann besteht erhöhte Gefahr eines depressiven oder manischen Rezidivs. Wenn möglich, sollte Lithium immer über

Stimmungsstabilisierende Medikamente 97

einen längeren Zeitraum ausgeschlichen werden. Dies könnte zum Beispiel der Fall sein, wenn eine Schwangerschaft geplant wird. Als Faustregel kann gelten: Wenn Lithium über eine lange Zeit eingenommen wurde, so muss auch über eine lange Zeit ausgeschlichen werden.

Valproat Unerwünschte Arzneimittelwirkungen unter Valproat können Müdigkeit, Erhöhung der Leberenzyme, gastrointestinale Beschwerden, Gewichtszunahme, Tremor, Gerinnungsstörungen, Bauchspeicheldrüsenentzündungen und Haarausfall sein. Entsprechende regelmäßige Laborkontrollen sind notwendig. Valproat wird nach mg/kg Körpergewicht dosiert. Die tägliche Dosis beträgt etwa 1200–1800 mg. Wie bei Lithium werden Spiegelkontrollen im Blut durchgeführt, jeweils zwölf Stunden nach der letzten Valproateinnahme. Valproat darf nicht eingenommen werden, wenn eine gestörte Lebertätigkeit, Knochenmarksschädigung, Bauchspeicheldrüsenerkrankung oder eine Schwangerschaft vorliegt.

Carbamazepin Unerwünschte Arzneimittelwirkungen von Carbamazepin können gerade zu Beginn der Behandlung Müdigkeit, Schwindel und Übelkeit sein. Die Dosis sollte möglichst langsam gesteigert werden, um diese Nebenwirkungen gering zu halten. Regelmäßige Laborkontrollen (Leberwerte, Blutbild) sind notwendig. In der Schwangerschaft, während des Stillens, bei Herzrhythmusstörungen oder Lebererkrankungen darf Carba-

98 Spezielle Psychopharmakotherapie mazepin nicht angewandt werden, ebenso nicht bei Knochenmarkserkrankungen. Allergische Hautreaktionen können auftreten und zwingen zum Absetzen. Andere Nebenwirkungen sind Appetitlosigkeit, Durchfall, Verstopfung, Kopfschmerzen, Unsicherheit beim Gehen, Doppelbilder, Herzrhythmusstörungen, Blutbildveränderungen, Leberwertanstieg und vermindertes Natrium im Blut (Hyponatriämie). Ferner sind Wechselwirkungen mit der Antibabypille sowie mit anderen Medikamenten zu berücksichtigen.

Lamotrigin Unerwünschte Nebenwirkungen von Lamotrigin sind vor allem Hautauschläge. Immer ist eine sehr langsame Einschleichphase vonnöten. Bei Auftreten von Hautausschlägen ist Lamotrigin abzusetzen. Weitere unerwünschte Arzneimittelwirkungen sind Kopfschmerzen, Schwindel, Gelenkbeschwerden, Übelkeit und Erbrechen. Günstig ist Lamotrigin deshalb, weil es nicht zu Wechselwirkungen mit der Antibabypille kommt. Ferner kann Lamotrigin auch während der Schwangerschaft gegeben werden.

Olanzapin Unerwünschte Arzneimittelwirkungen unter Olanzapin, welches ebenfalls zur Phasenprophylaxe eingesetzt werden kann, sind Gewichtszunahme sowie Auftreten eines so genannten metabolischen Syndroms (Blutzuckeranstieg, Blutfettstoffwechselstörungen und Gewichtszunahme).

Antipsychotika 99

Zusammengefasst muss betont werden, dass viele der Nebenwirkungen unter der Phasenprophylaxe mit den genannten Medikamenten nicht auftreten. Im Einzelfall muss genau geprüft werden, welches Phasenprophylaktikum für den Patienten am günstigsten erscheint.

Antipsychotika Früher wurden die Antipsychotika Neuroleptika genannt. Es wird zwischen den Antipsychotika der ersten und der zweiten Generation unterschieden. Hauptsächlich werden Antipsychotika bei der Behandlung der Schizophrenie, bei manischen Symptomen, bei schizoaffektiven Psychosen, bei psychomotorischen Erregungszuständen und zur Langzeittherapie chronisch schizophrener Psychosen sowie zur Rezidivprophylaxe bei schizophrenen Psychosen eingesetzt. Die Wirkung der Antipsychotika besteht in einer Veränderung des Neurotransmittersystems, besonders des Dopamin-Stoffwechsels. Antipsychotika wirken, indem sie die Dopamin-Bindungsstellen (Rezeptoren) vor einer Überreizung von Dopamin schützen; die Antipsychotika blockieren die Dopamin-Rezeptoren (s. Abb. 13). Die Antipsychotika wirken besonders auf die psychotischen Symptome der Schizophrenie, auf die so genannten Positivsymptome wie Halluzinationen und Wahn. Die neueren Antipsychotika der zweiten Generation haben zusätzlich eine positive Wirkung auf die Negativsymptome wie Antriebsverlust und Konzentrationsminderung. Beispiele von Antipsychotika der ersten und zweiten Generation finden sich in den Tabellen 6 und 7.

100 Spezielle Psychopharmakotherapie a) Reizleitung funktioniert normal

Reiz (Information) aufnehmende Nervenzelle

Nervenzelle Information (Reiz) Dopamin Synaptischer Spalt

Dopamin-Bindungsstellen

b) Akute Psychoche verstärkte Reizweiterleitung »Überflutung«

Reiz Dopaminüberschuss

c) Antipsychotikawirkung

Reizleitung wieder normal

blockierte Rezeptoren durch Antipsychotika Abbildung 13: Wirkweise der Antipsychotika (Modell) (aus: Schäfer, U.; Rüther, E.: Schizophrenie – Eine Krankheit – kein Unwort. Ein Ratgeber. ABW-Wissenschaftsverlag, Berlin, 2004)

Antipsychotika 101 Tabelle 6: Antipsychotika der ersten Generation (aus: Schäfer, U.; Rüther, E.: Psychiatrische Patienten in der Hausarztpraxis. Erkennen – Untersuchen – Behandeln. Thieme, Stuttgart, 2006) Wirkstoffgruppe

Handelsname

Benperidol Clopenthixol Flupentixol Fluphenazin Fluspirilen Haloperidol Levomepromazin Perazin Perphenazin Pimozid Zuclopenthixol

Glianimon® Ciatyl® Fluanxol® Dapotum® Imap® Haldol® Neurocil® Taxilan® Decentan® Orap® Ciatyl-Z®

Tabelle 7: Antipsychotika der zweiten Generation (aus: Schäfer, U.; Rüther, E.: Psychiatrische Patienten in der Hausarztpraxis. Erkennen – Untersuchen – Behandeln. Thieme, Stuttgart, 2006) Wirkstoffgruppe

Handelsname

Amisulprid Aripripazol Clozapin Olanzapin Quetiapin Risperidon Ziprasidon Zotepin

Solian® Abilify® Leponex®, Elcrit® Zyprexa® Seroquel® Risperdal® Zeldox® Nipolept®

102 Spezielle Psychopharmakotherapie Im Vergleich führen die Antipsychotika der ersten Generation eher zum Dämpfen der Gefühle, zum Blockieren des Denkens und zum Hemmen des Antriebs, während die Antipsychotika der zweiten Generation die Gefühle eher regulieren, das Denken verbessern und den Antrieb ausgleichen. Die Gabe der Antipsychotika der zweiten Generation hat folgende Vorteile: Sie haben kaum extrapyramidale Nebenwirkungen, sie sind besser verträglich, was dazu führt, dass die Patienten eher bereit sind, die Medikamente regelmäßig einzunehmen. Die Antipsychotika der zweiten Generation haben einen positiven Einfluss auf die Negativsymptomatik, insbesondere auf die kognitiven Defizite, die bei der schizophrenen Psychose vorliegen. Sie haben ebenfalls eine günstige Wirkung auf begleitende depressive Symptome bei der schizophrenen Psychose. Die Nebenwirkungen der Antipsychotika der ersten Generation sind insbesondere das Auftreten extrapyramidaler Nebenwirkungen wie Bewegungsstörungen, Ruhelosigkeit (Akathisie), Zittern (Tremor), Steifheit in den Muskeln (Rigor) und eine Einschränkung der Beweglichkeit (Akinese). Unangenehm, wenn auch nicht bedrohlich, sind Zungen-Schlund-Krämpfe; das sind Verkrampfungen der Zungen-Schlund-Muskulatur, bei denen das Schlucken dem Patienten unmöglich oder schwer wird. In diesem Fall ist die sofortige Verabreichung von Biperiden (Akineton®) erforderlich. Gefürchtet sind die Spätdyskinesien unter der Behandlung mit Antipsychotika der ersten Generation; sie treten oft nach jahrelanger Anwendung auf. Hierunter sind unwillkürliche Bewegungen in der Muskulatur zu verstehen, häufig im Gesichtsbereich. Oft ist die Zunge betroffen, die im Mund dann hin und her geschoben wird. Aber auch an den Händen und Füßen können sie auftreten. Die Spätdyskinesien sind

Antipsychotika 103

für den Patienten am unangenehmsten und schränken ihn in seiner Lebensqualität erheblich ein. Weitere unerwünschte Arzneimittelwirkungen unter Antipsychotika der ersten Generation sind: – Mundtrockenheit, – verschwommenes Sehen, – Kreislaufsstörungen mit Schwindel, – Müdigkeit, – Reaktionsverlangsamung, – Harnverhalt, – Erhöhung des Augeninnendrucks, – Gewichtszunahme, – Libidoverlust, – Blutveränderungen (Blutbild und Leberwertveränderungen), – Allergien, – Auslösung von Krampfanfällen, – malignes Neuroleptika-Syndrom. Die Nebenwirkungen unter Antipsychotika der zweiten Generation sind insbesondere das Auftreten eines metabolischen Syndroms (Gewichtszunahme, Erhöhung des Blutzuckers und der Blutfettwerte), ferner Prolaktinerhöhung (mit der Folge sexueller Dysfunktionen) sowie Herzleitungsstörungen (QT-Zeit-Verlängerungen). Bei der Behandlung sollte das EKG kontrolliert werden. Regelmäßige Blutzuckerkontrollen sowie Bestimmung der Blutfettwerte sind ebenfalls notwendig. Die extrapyramidalen Bewegungsstörungen treten unter den Antipsychotika der zweiten Generation seltener auf; sie sind insgesamt im Vergleich zu den Antipsychotika der ersten Generation besser verträglich. Und eine bessere Verträglichkeit führt zu einer verbesserten Compliance, sodass dadurch auch ein erhöhter Rückfallschutz (Rezidivprophy-

104 Spezielle Psychopharmakotherapie laxe) unter den Antipsychotika der zweiten Generation besteht. Immer sind individuelle Dosisanpassungen vonnöten. Die antipsychotische Dosis sollte so gering wie möglich, aber andererseits ausreichend hoch sein. Auf mögliche Kontraindikationen (Gegenanzeigen) ist zu achten, wie beispielsweise bekannte Überempfindlichkeitsreaktionen, Blutbildveränderungen (Leukozytopenie: herabgesetzte Anzahl weißer Blutkörperchen) und Leberveränderungen. Auf die besondere Gefahr einer unter Umständen lebensgefährlichen Blutbildveränderung, der Agranulozytose, bei Gabe von Clozapin sei hier hingewiesen. Deshalb sind regelmäßige wöchentliche Blutkontrollen in den ersten 18 Behandlungswochen, später in vierwöchigen Abständen unbedingt erforderlich.

Tranquilizer und Anxiolytika Hierunter werden Medikamente verstanden, die bei der Behandlung von Angst und Spannungszuständen zum Einsatz kommen. Zu der Hauptgruppe der Anxiolytika (Angstlöser) gehören Benzodiazepine. Oft werden Benzodiazepine gleichgesetzt mit »die Psychopharmaka«; sie umfassen jedoch nur eine von vielen Gruppen. Alternativen zur Angstlösung sind Antidepressiva, niedrig dosierte Antipsychotika und β-Blocker oder bei leichterer Ausprägung pflanzliche Beruhigungsmittel.

Tranquilizer und Anxiolytika 105

Benzodiazepine Benzodiazepin-Tranquilizer sind die am häufigsten zur Verordnung kommenden Psychopharmaka. Klassischer Vertreter ist das Diazepam (Valium®). Benzodiazepine wirken über einen sedierenden Effekt, sie machen müde, sie lösen die Anspannung und Angst auf, wirken muskelentspannend. Sie kommen zur Dämpfung von Erregungszuständen, ferner zu Beginn einer antidepressiven Medikation zum Einsatz, wenn eine Sedierung erwünscht ist. Oft werden sie leider – meist fälschlicherweise – zur Behandlung von Schlafstörungen eingesetzt. Je nach Dauer der Wirksamkeit der Benzodiazepine werden kurzwirksame (zum Beispiel Triazolam), mittellangwirksame (zum Beispiel Temazepam oder Lormetazepam oder Nitrazepam) und langwirksame (Flurazepam und Diazepam) unterschieden. Benzodiazepine sollten grundsätzlich nur zeitlich befristet eingesetzt werden, da ein hohes Missbrauchs- und Abhängigkeitspotenzial besteht. Sind Benzodiazepine längere Zeit eingenommen worden und werden sie abrupt abgesetzt, so können Entzugserscheinungen auftreten. Eine Dauermedikation von Benzodiazepinen ist wegen des Abhängigkeitspotenzials unbedingt zu vermeiden. Auch bei einer niedrigen Dosis kann es bei längerfristiger Einnahme zu einer so genannten Niedrigdosis-Abhängigkeit kommen (low-dose dependence). Bei Patienten, bei denen aus der Vorgeschichte ein Abhängigkeitsrisiko bekannt ist, dürfen keine Benzodiazepine verordnet werden. Bei Angststörungen, die über eine längere Zeit bestehen, sollten ebenfalls keine Benzodiazepine eingesetzt werden.

106 Spezielle Psychopharmakotherapie Unerwünschte Arzneimittelwirkungen bei Benzodiazepinen sind neben dem müde machenden Effekt Konzentrationsstörungen, Muskelschwäche, Sprachstörungen, Gedächtnisstörungen und dysphorisch-depressive Verstimmungen. Besonders bei älteren Menschen kann es durch Schwindel und Gangstörungen zu einer erhöhten Sturzgefahr mit möglichen Schenkelhalsbrüchen kommen. Auch Verwirrtheitszustände können eintreten. Als weitere unerwünschte Arzneimittelwirkungen der Benzodiazepine sind der morgendliche hang over, also die beeinträchtigte Tagesleistungsfähigkeit, sowie die beeinträchtigte Reaktionsfähigkeit zu nennen. Es besteht ein erhöhtes Unfallrisiko. Werden Benzodiazepine bei Schlafstörungen längerfristig eingesetzt, so kann es beim Absetzen zu einem »ReboundPhänomen« kommen, das heißt, die Schlafstörung tritt verstärkt auf. Ferner sind bei Benzodiazepinen paradoxe Reaktionen möglich, statt eines sedierenden Effekts kommt es zur vermehrten Unruhe. Auf keinen Fall dürfen Benzodiazepine eingesetzt werden, wenn ein Schlafapnoe-Syndrom besteht, da Benzodiazepine zu Atemdepression führen können. Wenn überhaupt Benzodiazepine zum Einsatz kommen, so sollte eine kleinstmögliche Dosis verordnet werden. Die Behandlungsdauer sollte zeitlich sehr kurz befristet sein, auf die möglichen Kontraindikationen ist zu achten. Eine maximale Behandlungsdauer von vier Wochen sollte nicht überschritten werden. Der Patient muss von Beginn an über die zeitlich begrenzte Einnahme sowie über die möglichen Nebenwirkungen und »Rebound-Phänomene« aufgeklärt werden. Ferner ist der Patient über die eingeschränkte Verkehrstauglichkeit sowie über die Wirkverstärkung bei gleichzeitigem Genuss von Alkohol zu informieren.

Tranquilizer und Anxiolytika 107

Niedrig dosierte Antipsychotika In niedriger Dosis werden niedrigpotente Antipsychotika als Tranquilizer, als Beruhigungsmittel, eingesetzt. Sie wirken angst- und unruhereduzierend. Ein Abhängigkeitspotenzial bei den niedrig dosierten Antipsychotika als Tranquilizer besteht nicht, sie sind deshalb gegenüber den Benzodiazepinen bevorzugt einzusetzen. Regelmäßige Kontrolluntersuchungen sind unter Antipsychotika notwendig, wie bereits beschrieben. Die häufigsten Nebenwirkungen sind Gewichtszunahme und Müdigkeit. Über die Gefahr des Auftretens extrapyramidal-motorischer Nebenwirkungen und die Entwicklung von Spätdyskinesien muss der Patient aufgeklärt werden. Diese Nebenwirkungen schränken die Anwendung von Antipsychotika vor allem der ersten Generation zur ausschließlichen Sedierung erheblich ein.

Trizyklische Antidepressiva Sedierende trizyklische Antidepressiva werden ebenfalls als Tranquilizer eingesetzt, beispielsweise Opipramol (Insidon®). Trizyklische sedierende Antidepressiva wirken ebenfalls beruhigend, entspannend und angstlösend. Der Wirkungseintritt ist jedoch verzögert und nicht so schnell wie bei den Benzodiazepinen. Ein Abhängigkeitspotenzial existiert nicht. Die Nebenwirkungen der Antidepressiva sind bereits beschrieben, am häufigsten sind in niedriger Dosierung Mundtrockenheit und Müdigkeit zu nennen. Regelmäßige Laborkontrollen müssen erfolgen.

108 Spezielle Psychopharmakotherapie

Andere Tranquilizer Zu einer chemisch andersartigen Substanz gehört Buspiron (Bespar®). Hier kommt es zu einer geringeren Sedierung, ein Abhängigkeitspotenzial ist bisher nicht beobachtet worden. Die angstlösende Wirkung ist deutlich geringer als bei Benzodiazepin-Tranquilizern.

Pflanzliche Tranquilizer Bei leichteren Unruhe- oder Angststörungen können pflanzliche Beruhigungsmittel eingesetzt werden. Der wissenschaftliche Wirksamkeitsnachweis ist bisher unzureichend. Oft liegen die pflanzlichen Präparate in Mischsubstanzen aus beispielsweise Baldrianwurzel, Hopfen, Johanniskraut, Lavendelblüten, Melissenblätter, Passionsblumenkraut vor.

Beta-Blocker β-Blocker sind nicht zu den Psychopharmaka zu rechnen. Sie werden bei Angststörungen eingesetzt, wenn im Vordergrund körperliche Beschwerden wie vermehrter Herzschlag, Schwitzen, Zittern oder Magen-Darm-Beschwerden bestehen. Auf Unruhe, Reizbarkeit oder Ruhelosigkeit wirken sie nicht so gut. Eine Abhängigkeitsentwicklung besteht nicht. Eine ausreichende Angstlösung ist unter β-Blockern jedoch oft nicht zu erreichen.

Hypnotika (Antiinsomnika, Schlafmittel) 109

Hypnotika (Antiinsomnika, Schlafmittel) Unter Hypnotika oder Antiinsomnika werden Medikamente verstanden, die bei Schlafstörungen eingesetzt werden. Neben den bereits erwähnten Benzodiazepinen oder sedierenden trizyklischen Antidepressiva kommen ferner Medikamente wie Zolpidem oder Zopiclon zum Einsatz. Niedrig dosierte Antipsychotika sind mit den bereits beschriebenen unerwünschten Nebenwirkungen und Kontrolluntersuchungen verbunden. Grundsätzlich gilt, dass vor Einsatz einer medikamentösen Behandlung bei Schlafstörungen eine genaue Diagnostik durchzuführen ist. Es gibt Schlafstörungen, die eine spezifische Behandlung benötigen, so beispielsweise das RestlessLegs-Syndrom oder das Schlafapnoe-Syndrom. Grundsätzlich gilt, dass Schlafstörungen nicht isoliert medikamentös behandelt werden sollten, sondern in einen Gesamtbehandlungsplan integriert werden. Andererseits kann es von Nutzen sein, Schlafmittel einzusetzen, um eine schnelle Beschwerdelinderung zu erreichen und den Teufelskreis des Nicht-Schlafen-Könnens (mit vermehrter Angst, nicht einschlafen zu können) und damit die Verstärkung der Schlafstörung zu durchbrechen. Eine genaue Schlafanalyse ist jedoch in jedem Fall erforderlich. Benzodiazepine dürfen nur zeitlich befristet eingesetzt werden. Bei den Nicht-Benzodiazepin-Hypnotika wie Zolpidem oder Zopiclon ist die Abhängigkeitsentwicklung geringer als bei den Benzodiazepinen, jedoch im Einzelfall durchaus möglich, sodass auch diese Medikamente möglichst nicht dauerhaft eingesetzt werden sollten, sondern allenfalls im Rahmen einer Intervallbehandlung. Unter einer Intervallbehandlung verstehen wir, dass mit dem Patienten besprochen wird, dass er die regelmäßige tägliche Einnahme auf maximal vier Wochen beschränkt. Darauf sollte ein me-

110 Spezielle Psychopharmakotherapie dikamentenfreies Intervall folgen, das ebenfalls mehrere Wochen betragen sollte. Im Anschluss daran kann wieder für einen festgelegten Zeitraum ein schlafförderndes Medikament verabreicht werden. Alternativ zu der Intervallbehandlung ist eine intermittierende Gabe von Schlafmitteln möglich: Es wird von vornherein mit dem Patienten festgelegt, an welchen zwei oder maximal drei Abenden der Woche er das Schlafmittel nehmen kann. Der Patient sollte vor Beginn der Arbeitswoche für sich individuell festlegen, an welchen Tagen er besonders gut ausgeschlafen sein muss. Nicht-Benzodiazepin-Hypnotika, zum Beispiel Zopiclon oder Zolpidem, sind Mittel der Wahl zur Behandlung von Schlafstörungen. Sie sind nur kurz wirksam, sodass es nicht zu einem hang over mit Tagesmüdigkeit kommt. Die schlaffördernde Wirkung ist gut, die Einschlafzeit wird verkürzt, die Schlafqualität wird verbessert. Alternativ können bei Schlafstörungen sedierende Antidepressiva zum Einsatz kommen. Insbesondere bei Patienten, die abends an einer erheblichen Unruhe oder an Ängsten leiden, können sedierende Antidepressiva von Vorteil sein. Beispielhaft seien Amitryptilin, Trimipramin, Doxepin sowie Mirtazapin genannt. Sedierende Antidepressiva verbessern die Schlafqualität. Sie verkürzen zudem die Einschlafzeit und verlängern die Tiefschlafphasen. Eine Abhängigkeitsentwicklung ist nicht bekannt. Die unerwünschten Arzneimittelwirkungen unter Antidepressiva sind bereits erläutert worden, insbesondere sind Mundtrockenheit, vermehrtes Schwitzen, Blasenstörungen, Obstipation und Sehstörungen zu nennen. Regelmäßige EKG- und Blutbildkontrollen sind erforderlich. Bei bestehenden Herzrhythmusstörungen oder Herzvorschädigungen ist vor der Anwendung der Antidepressiva zu warnen. Lediglich Mirtazapin hat keine herzschä-

Hypnotika (Antiinsomnika, Schlafmittel) 111

digende Wirkung und sollte dann deshalb bevorzugt werden. Bestehen die Schlafstörungen im Zusammenhang mit Depressionen, so sind Antidepressiva vorzugsweise einzusetzen. Alternativ kann bei Schlafstörungen mit sedierenden niedrigdosierten Antipsychotika behandelt werden, wie beispielsweise Melperon, Pipamperon, Promethazin, Chlorprothixen, Levomepromazin. Auf mögliche Nebenwirkungen wie Kreislaufstörungen, Gewichtszunahme, Blutbildveränderungen, Auftreten von Spätdyskinesien, Auftreten extrapyramidal-motorischer Bewegungsstörungen ist zu achten. Regelmäßige Laborkontrollen sind erforderlich. Alternativ können die Antipsychotika der zweiten Generation in niedriger Dosis ebenfalls bei Schlafstörungen eingesetzt werden, wie beispielsweise Quetiapin (Seroquel®) oder Olanzapin (Zyprexa®). Im ambulanten Bereich nicht zum Einsatz kommen Chloralhydrat und Clomethiazol. Der Einsatz von Naturpräparaten bei Schlafstörungen zeigt deutlich weniger Wirkeffizienz. Baldrian, Hopfen und Melisse kommen in unterschiedlichen Kombinationen auf den Markt. Vorsicht ist geboten, wenn diese Naturpräparate in alkoholhaltiger Lösung dargereicht werden. Bei leichteren Schlafstörungen kann L-Tryptophan, eine Vorstufe des Neurotransmitters Serotonin, zum Einsatz kommen. Melatonin hat eine schlafanstoßende und schlaffördernde Wirkung. Diese Substanz kommt besonders bei Schlafstörungen im Rahmen eines Jetlags zum Einsatz. Die Substanz ist in Deutschland nicht erhältlich und muss gegebenenfalls über die internationale Apotheke besorgt werden. Eine zusammenfassende Darstellung der möglichen Schlafmittel findet sich in Tabelle 8.

Halcion® Remestan® Noctamid® Mogadan®

Rohypnol® Dalmadorm® Valium®

Tremazepam Lormetazepam Nitrazepam

Flunitrazepam Flurazepam Diazepam

Handelsnamen (Beispiele)

Triazolam

Benzodiazepine

Wirkstoffe (Beispiele)

0,125 – 0,25 kurz wirksam 10 – 40 0,5 – 2 5 – 10 mittellang wirksam 0,5 – 1 15 – 30 5 – 20 lang wirksam

übliche Dosierung in mg

geringe Giftigkeit

gute, schnelle Wirksamkeit

Vorteile

hohes Abhängigkeitsrisiko Rebound-PhänomeneMuskelschwäche Atemunterdrückung paradoxe Reaktionen Tagesüberhang mit Konzentrationsstörungen

Nachteile

Tabelle 8: Schlafmittel (aus: Schäfer, U.; Rüther, E.: Gut schlafen – fit am Tag: Ein Traum? Ein Ratgeber bei Schlafstörungen. ABW-Wissenschaftsverlag, Berlin, 2004)

112 Spezielle Psychopharmakotherapie

Ximovan®

Stilnox®

Insidon® Aponal® Saroten® Stangyl® Tolvin® Thombran® Remergil®

Imidazopyridine Zolpidem

Antidepressiva Opipramol Doxepin Amitryptilin Trimipramin Mianserin Trazodon Mirtazapin

Handelsnamen (Beispiele)

Cyclopyrrolone Zopiclon

Wirkstoffe (Beispiele)

relativ hohe Giftigkeit Nebenwirkungen auf Herz, Leber, Blutbild regelmäßige Kontrollen erforderlich (Blut, EKG) Gewichtszunahme

gute Wirkung, keine Abhängigkeit

in Einzelfällen Abhängigkeitsentwicklung möglich

Nachteile

geringere Nebenwirkungen keine Abhängigkeitsentwicklung kaum Absetzprobleme angstlösende Wirkung

geringe Suchtentwicklung geringe Giftigkeit

gute Wirkung kurze Wirkdauer

Vorteile

63534

50 – 150 5 – 50 5 – 50 5 – 50 5 – 20 25 – 50 15

10 – 20

3,75 – 7,5

übliche Dosierung in mg

Hypnotika (Antiinsomnika, Schlafmittel) 113

Eunerpan® Dipiperon® Atosil® Truxal® Neurocil®

Dolestan® Hoggar N®

Chloraldurat®

Antihistaminika Diphenhydramin Doxylamin

Alkoholderivate Chloralhydrat

Handelsnamen (Beispiele)

Antipsychotika Melperon Pipamperon Promethazin Chlorprothixen Levomepromazin

Wirkstoffe (Beispiele)

250 – 1000

50 – 100 25 – 50

25 – 75 20 – 60 10 – 50 15 – 50 10 – 50

übliche Dosierung in mg

schnelle Wirkung

geringe Giftigkeit

kein Abhängigkeitsrisiko geringe Nebenwirkung auf Herz-Kreislauf

Vorteile

Abhängigkeitsrisiko schneller Wirkverlust

geringe Wirkung Abhängigkeitsrisiko

anticholinerge Nebenwirkungen (Sehstörungen, Mundtrockenheit) Spätdyskinesien blutdrucksenkende Wirkung Blutbildveränderungen

Nachteile

114 Spezielle Psychopharmakotherapie

Naturpräparate Baldrian Hopfen Melisse

Thiazolderivate Clomethiazol

Wirkstoffe (Beispiele)

Euvegal® Valdispert®

Distraneurin®

Handelsnamen (Beispiele)

keine genauen Dosierungen

200 – 400

übliche Dosierung in mg

keine Abhängigkeitsentwicklung

gute, schnelle Wirkung

Vorteile

geringe Wirkung

hohes Abhängigkeitsrisiko nicht ambulant einsetzbar

Nachteile

Hypnotika (Antiinsomnika, Schlafmittel) 115

116 Spezielle Psychopharmakotherapie

Antidementiva Unter Antidementiva werden Medikamente verstanden, die eine Verbesserung der Hirnfunktion, besonders der Aufmerksamkeit, Gedächtnisfunktion und Konzentrationsfähigkeit bedingen. Antidementiva werden zur Behandlung der Alzheimer-Erkrankung oder anderer demenzieller Prozesse eingesetzt. Unterschiedliche Substanzen stehen zur Verfügung, beispielsweise Cholinesterasehemmer (Donepezil, Rivastigmin, Galantamin) und Glutamat-Antagonisten wie Memantine. In den letzten Jahren sind besonders bei der AlzheimerDemenz die Cholinesterasehemmer zur Anwendung gekommen. Ausgehend von dem Konzept, dass bei der Alzheimer-Demenz ein Azetylcholinmangel vorliegt, vermindern die Cholinesterasehemmer den Abbau von Azetylcholin und führen somit zu einer Erhöhung der Neurotransmittersubstanz. Mithilfe von Antidementiva kann günstigstenfalls ein vorübergehender Stillstand der Erkrankung, eine Stabilisierung erreicht werden. Eine Heilung ist nicht möglich. Die Zeit der Pflegebedürftigkeit, zu der es bei der Alzheimer-Demenz im fortgeschrittenen Stadium immer kommt, kann somit zeitlich hinausgeschoben werden, was für den Patienten und seine Angehörigen ein Gewinn an Lebensqualität bedeuten kann. Wie auch bei anderen Psychopharmaka ist die Behandlung mit Antidementiva immer in ein komplexes Behandlungskonzept eingebettet. Cholinesterasehemmer sind relativ gut verträglich. Es können zu Beginn der Behandlung Übelkeit, Bauchschmerzen, Durchfall, Schwindel, Appetitlosigkeit und Müdigkeit auftreten, weswegen eine langsame Dosissteigerung und eine einschleichende Dosierung erfolgen sollte. Eine Alter-

Psychostimulanzien 117

native zu den Cholinesterasehemmern stellt Mematine (Axura®, Ebixa®) dar. Kombinationen von Cholinesterasehemmern und Memantine sind möglich. Andere Antidementiva sind: Ginkgo Biloba (Tebonin forte®), Dihydroergotoxin (Dihydergot®), Nicergolin (Sermion®), Nimodipin (Nimotop®), Piracetam (Nootrop®, Normobrain®) und Pyritinol (Encephabol®).

Psychostimulanzien Unter Psychostimulanzien werden Medikamente verstanden, die die psychische Aktivität steigern, die Konzentrationsfähigkeit erhöhen und zu einer Abnahme motorischer Unruhe und Impulsivität führen. Zugelassene Indikationen für den Einsatz von Stimulanzien sind die Narkolepsie und die Aufmerksamkeitsdefizit-/ Hyperaktivitätsstörung im Kindes- und Jugendalter. Bei persistierender ADHS im Erwachsenenalter können die Stimulanzien ebenfalls zum Einsatz kommen, dies geschieht dann jedoch »off-label«. Hauptvertreter der Stimulanzien sind Methylphenidat (Ritalin®, Medikinet®, Equasym®) und D-Amphetamin, das in Deutschland jedoch nicht als Fertigarznei zur Verfügung steht. Eindeutig ist die Wirksamkeit der Stimulanzienbehandlung bei Vorliegen einer ADHS belegt. Leider ist die medikamentöse Behandlung mit Stimulanzien bei ADHS immer noch mit vielen ideologischen Einflüssen und verzerrten Darstellungen in den Medien behaftet. Grundsätzlich ist eine sorgfältige Diagnostik vor Einsatz von Stimulanzien zu fordern und immer gehört die Stimulanzienbehandlung in die Hand eines erfahrenen Kinder- und Jugendpsychiaters/

118 Spezielle Psychopharmakotherapie Psychiaters, der sich mit ADHS auskennt. Sind mehrfache Gaben am Tag notwendig, so stellen Retardpräparate wie Concerta®, Medikinet ret.® oder Ritalin SR® (Schweiz) eine sinnvolle Alternative dar. Die Therapie sollte mit kleinen Dosen begonnen werden. An unerwünschten Nebenwirkungen treten Kopf- und Bauchweh auf, vorübergehend kann es zur Appetitminderung kommen, selten kommt es zum erhöhten Blutdruck. Regelmäßige Blutdruck- und Gewichtskontrollen sind deshalb erforderlich. Übelkeit und Bauchschmerzen als Nebenwirkungen sind dann ausgeprägt, wenn das Medikament auf nüchternen Magen eingenommen wird. Bei hoher Dosierung von Stimulanzien sind depressive Reaktionen möglich. Ob Tics durch Stimulanzien vermehrt ausgelöst werden können, ist umstritten. Stimulanzien dürfen nicht eingesetzt werden bei Herzrhythmusstörungen, bei hohem Blutdruck oder bei Vorliegen einer Psychose. Alternative Behandlungsmöglichkeiten bei der ADHS stellt das Medikament Atomoxetin (Strattera®) dar. Diese Substanz ist ein selektiver Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer und chemisch den Antidepressiva der selektiven Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer verwandt. Es kommt zur Erhöhung des Neurotransmitters Noradrenalin. Ein Vorteil dieser Substanz ist, dass eine Einmalgabe pro Tag ausreicht, die Wirkung hält 24 Stunden an. Eine Abhängigkeitsentwicklung bei Atomoxetin liegt wie bei den Stimulanzien nicht vor. Die Dosierung ist ebenfalls individuell und wird nach Körpergewicht vorgenommen. Grundsätzlich ist die medikamentöse Stimulanzienbehandlung bei Vorliegen eines Aufmerksamkeitsdefizit-/ Hyperaktivitätssyndroms immer in ein multimodales Behandlungskonzept eingebettet, welches aus Eltern- und Lehrerberatung, Psychotherapie und Selbstmanagement besteht.

Entzugs- und Entwöhnungsmittel 119

Entzugs- und Entwöhnungsmittel Hierunter sind Medikamente zu verstehen, die bei der Behandlung von Entzugssymptomen oder zur Unterstützung der Alkoholentwöhnung eingesetzt werden. Psychopharmaka im engeren Sinn sind dies nicht. Zu nennen ist Acamprosat (Campral®), das zur Rückfallprophylaxe der Alkoholabhängigkeit eingesetzt werden kann. Unter dem Medikament kommt es zu einer Abnahme des Verlangens nach Alkohol (»Anti-Craving«). Die Behandlung muss immer von einer psychotherapeutischen Betreuung begleitet werden. Zur akuten Entzugsbehandlung wird unter stationären Bedingungen Clomethiazol (Distraneurin®) eingesetzt. Es ist das Mittel der Wahl beim Alkoholdelir. Es besteht ein hohes Abhängigkeitspotenzial, weshalb es ausschließlich stationär zur Anwendung kommt. Clonidin (Paracefan®) wird im Rahmen eines akuten Alkoholentzugssyndroms eingesetzt. Die Medikation darf nur unter intensivmedizinischen Maßnahmen erfolgen. Disulfiram (Antabus®) wird zur medikamentösen Alkoholentwöhnung eingesetzt. Es wirkt über die Hemmung des Abbaus von Alkohol. Nach Einnahme von nur geringen Mengen Alkohol kommt es zu Unverträglichkeitsreaktionen mit Schwindel, Übelkeit, Brechreiz, Herzbeschleunigung, Blutdruckabfall, bis hin zu einer Atemlähmung und Schock. Hierüber muss der Patient ausführlich aufgeklärt sein. Naltrexon (Nemexin®) ist zur Behandlung der Drogenabhängigkeit und bei Opiatabhängigen von Bedeutung. Es wird zur Entwöhnungsbehandlung Opiatabhängiger eingesetzt. Zuvor muss jedoch die Opiatentgiftung erfolgen. Unerwünschte Arzneimittelwirkungen von Naltrexon können Schlafstörungen, Unruhe, Erbrechen und Durchfall sein. Regelmäßige Kontrollen der Leberwerte sind erforderlich.

120 Spezielle Psychopharmakotherapie

Sexualtherapeutika Bei Erektionsstörungen kann Sildenafil (Viagra®) zur Anwendung kommen. Immer sind weitere psychotherapeutische Maßnahmen bei Sexualstörungen zu fordern.

Psychopharmakotherapie im Kindes- und Jugendalter

In kaum einem anderen medizinischen Fachgebiet wird so kontrovers diskutiert wie in der psychopharmakologischen Behandlung von kinder- und jugendpsychiatrischen Erkrankungen. Es existieren noch mehr Vorurteile und ideologische Unbeugsamkeiten als bei der Behandlung mit Psychopharmaka im Erwachsenenalter. Wie bei Einsatz von Medikamenten schlechthin, sind bei Verwendung von Psychopharmaka im Kindes- und Jugendalter essenzielle Voraussetzungen zu berücksichtigen: die Beziehung zwischen Arzt, Eltern und Kind/Jugendlicher, die fachlichen Voraussetzungen und strenge Indikationsstellungen, die gebietsspezifischen Kenntnisse des Verschreibers unter Berücksichtigung der Besonderheiten der Pharmakokinetik im Kindes- und Jugendalter sowie die grundsätzliche Problematik der multimodalen Behandlung bei psychischen Erkrankungen im Kindes- und Jugendalter. Grundsätzlich sind Pro und Contra bezüglich einer psychopharmakologischen Behandlung im Kindes- und Jugendalter mit den Betroffenen genauestens abzuwägen. Altersangemessene Aufklärung und Information über Indikation, therapeutische Wirkung, Auftreten unerwünschter Nebenwirkungen, Dosis, Zeitpunkt und Dauer der medikamentösen Behandlung sind notwendig. Auf mögliche Ängste der Eltern vor Entwicklung von Abhängigkeiten sowie Stigmatisierung aufseiten der Kinder und Jugendlichen durch die Medikamenteneinnahme muss besonders geachtet werden.

122 Psychopharmakotherapie im Kindes- und Jugendalter Sicherlich sind bei vielen kinder- und jugendpsychiatrischen Auffälligkeiten und Störungsbildern psychopharmakologische Behandlungen zweitrangig oder überhaupt nicht indiziert. Dennoch ist es unvertretbar, dass bei eindeutig nachgewiesenen positiven Wirksamkeiten von Medikamenten diese den jungen Patienten vorenthalten werden, nur weil sie noch Kinder oder Jugendliche sind. Effektive medikamentöse Behandlungen sind wissenschaftlich nachgewiesen bei der Aufmerksamkeitsdefizit-/ Hyperaktivitätsstörung, bei Tic-Störungen, beim TouretteSyndrom, bei affektiven oder schizophrenen Psychosen und bei Zwangsstörungen. Auf die besondere Problematik des Off-Label-Einsatzes kann hier nicht näher eingegangen werden. Bei entsprechender Indikation, die immer eine gute und umfassende Psychodiagnostik voraussetzt, ist eine psychopharmakologische Behandlung im Kindes- und Jugendalter als »individueller Heilversuch« möglich. Auch hierüber müssen die Betroffenen ausführlich informiert und aufgeklärt werden und entsprechend einwilligen. Auf die besondere Problematik von Placebo-Effekten sei hingewiesen, sie werden im Kindes- und Jugendalter bei circa 30 bis 40 Prozent angegeben. Da sich die Pharmakokinetik und Pharmakodynamik im Kindes- und Jugendalter vom Erwachsenenalter deutlich unterscheidet (beispielsweise raschere Verstoffwechselung in der Leber, infolgedessen sind höhere Dosen pro kg/Körpergewicht nötig als im Erwachsenenalter), ist grundsätzlich zu fordern, dass entwicklungspsychopharmakologische Kenntnisse des Verschreibers vorliegen. In aller Regel sollte eine psychopharmakologische Behandlung im Kindes- und Jugendalter nur durch einen Kinder- und Jugendpsychiater erfolgen. Wirkspektren, Wirkmechanismen, Nebenwirkungen und

Psychopharmakotherapie im Kindes- und Jugendalter 123

altersabhängige medikamentöse Dosen setzen spezifische entwicklungspharmakologische Kenntnisse voraus. Vorurteile bei Einsatz von Psychopharmaka wie beispielsweise »Psychopharmaka verändern die Persönlichkeit«, »Psychopharmaka stellen nur ruhig«, »alle Psychopharmaka machen abhängig«, »Psychopharmaka muss man lebenslang einnehmen«, »die Nebenwirkungen von Psychopharmaka sind schlimmer als die Krankheit selbst«, »Psychotherapie wirkt immer besser als Psychopharmaka« oder »Psychopharmaka helfen nicht auf Dauer« sind weit verbreitet und müssen durch realistische Aufklärungen und Informationen entkräftet werden. Wie bereits betont, ist es von absoluter Notwendigkeit, dass eine gute Psychodiagnostik erfolgt, bevor eine Psychopharmakotherapie zum Einsatz kommt. Hierfür müssen ausreichende Informationen von Eltern, Kindergarten/Schule und vom Betroffenen selbst erhoben werden. Eine störungsspezifische Diagnostik erfolgt unter Einbezug der Häufigkeit, Intensität und situativen Variabilität der psychischen Symptome. Die störungsspezifische Entwicklungsgeschichte muss berücksichtigt werden, auch müssen Begleitstörungen und Rahmenbedingungen genauestens erfasst werden. Strukturierte Interviews, Rating-Skalen, Verhaltensbeobachtungen, testpsychologische Diagnostik, körperliche Untersuchungen und gegebenenfalls zusätzliche Labor- und bildgebende Untersuchungen sind erforderlich, um psychiatrische Diagnosen, umschriebene Entwicklungsstörungen, Intelligenzminderung, organische Erkrankungen und psychosoziale Belastungen und Ressourcen zu erfassen. Immer sollten Art und Ausprägung der Symptome im Hinblick auf Grad der Beeinträchtigung sowie Genese und Prognose der Störung, Alter, Entwicklungsstand, Intelligenz und mögliche Komorbiditäten sowie psychosoziale Bedin-

124 Psychopharmakotherapie im Kindes- und Jugendalter gungen und Auswirkungen bei der Therapieplanung berücksichtigt werden. Die Psychopharmakotherapie ist ein Baustein in einem multimodalen Behandlungskonzept, welches bei kinderund jugendpsychiatrischen Auffälligkeiten immer zu fordern ist. Aufklärung und Beratung der Eltern und anderer Bezugspersonen (Erzieher/Lehrer), des betroffenen Kindes oder des Jugendlichen selbst, Elternberatung, Elterntraining, Psychotherapie für das Kind/den Jugendlichen (zum Beispiel Verhaltenstherapie) und psychosoziale Maßnahmen sind neben einer möglichen Psychopharmakotherapie Behandlungsbausteine eines multimodalen Settings. Bei Einsatz von Psychopharmaka im Kindes- und Jugendalter sind grundsätzlich die Aufklärung und ein informiertes Einverständnis der Eltern und des betroffenen Kindes/Jugendlichen zu fordern. Kontraindikationen für den Einsatz von Medikamenten sind auszuschließen. Sorgfältig sollte die Dosis bestimmt und überwacht werden, unter Berücksichtigung der altersspezifischen Besonderheiten (zum Beispiel schnellere Metabolisierung). Besondere Informationen über das Auftreten unerwünschter Arzneimittelwirkungen sind sorgfältig und dem jeweiligen Entwicklungsstand des Kindes/Jugendlichen angemessen zu vermitteln. Beim »individuellem Heilversuch« (off-label) sind ausführlichere Informationen über Wirkungen, Nebenwirkungen und Risiken der Behandlung notwendig. Über die rechtlichen Konsequenzen (Haftungsrisiko) müssen die Eltern entsprechend informiert sein und schriftlich in den »individuellen Heilversuch« einwilligen. Auf die spezifischen Besonderheiten der Pharmakokinetik und Pharmakodynamik wird hier nicht im Einzelnen eingegangen, grundsätzlich ist anzumerken, dass altersabhängige pharmakokinetische Aspekte eine große Rolle spielen, beispielsweise bei der Aufnahme des Medikaments in die

Psychopharmakotherapie im Kindes- und Jugendalter 125

Blutbahn, bei der Verstoffwechselung in der Leber, bei der Verteilung im Körper und bei der Ausscheidung der Medikamente über die Nieren.

Einsatz von Psychopharmaka bei spezifischen Störungsbildern im Kindes- und Jugendalter

Antipsychotika Bei Vorliegen einer Schizophrenie mit Beginn im Kindesund Jugendalter sind Antipsychotika – insbesondere Antipsychotika der zweiten Generation – Therapie der Wahl. Die Pharmakotherapie steht bei der Behandlung der Schizophrenie im Vordergrund. Oft können erst durch eine erfolgreiche Psychopharmakotherapie andere Maßnahmen wie Psychotherapie und Soziotherapie zur Anwendung kommen. Die Antipsychotika der zweiten Generation wirken sowohl auf die positiven Symptome der Schizophrenie (Gedankeneingebung, paranoide Ideen, Halluzinationen, Wahn) als auch auf die negativen Symptome (wie Affektverflachung, Antriebsminderung, emotionaler Rückzug, depressive Symptome). Da sie im Vergleich zu den Antipsychotika der ersten Generation weniger Nebenwirkungen haben, vor allem bezüglich des Auftretens extrapyramidal-motorischer Störungen wie Frühdyskinesien, Parkinsonoid (Rigor, Tremor, Akinese), Akathisien und Spätdyskinesien, sind Antipsychotika der zweiten Generation vorzuziehen. Auf einzelne Substanzen, entsprechende Kontrolluntersuchungen und Auftreten von Nebenwirkungen sei auf den Abschnitt »Antipsychotika« (S. 99ff.) verwiesen.

128 Einsatz von Psychopharmaka im Kindes- und Jugendalter

Einsatz von Stimulanzien Unumstritten ist die wissenschaftlich belegbare positive Wirksamkeit von Stimulanzien beim Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätssyndrom, das mit Aufmerksamkeitsdefizit, hypermotorischem Verhalten und Impulskontrollstörungen einhergeht. Bei ausgeprägter Symptomatik sind Stimulanzien Mittel der Wahl, wie beispielsweise Methylphenidat oder D-Amphetamin. Der Wirkmechanismus ist über eine Dopamin-Transporterblockade zu erklären. Wie eine große multizentrische Studie bei Kindern mit ADHS ergeben hat, ist die medikamentöse Behandlung und die medikamentöse Behandlung plus Verhaltenstherapie im Vergleich zu einer alleinigen Verhaltenstherapie wirkungsvoller. Methylphenidat-Präparate sind beispielsweise Equasym®, Medikinet® oder Ritalin®. Diese Substanzen sind unretardiert, sie wirken schnell und sind schnell abgebaut. Es stehen eine Reihe retardierter Präparate zur Verfügung, wie Concerta®, Medikinet ret.® und Ritalin SR® (Schweiz). Die Dosierung von Methylphenidat erfolgt nach mg/kg/ Körpergewicht. Es ist immer eine einschleichende Dosierung zu empfehlen. Auf Auftreten unerwünschter Arzneimittelwirkungen wie dysphorische Verstimmungen, Appetitminderung, Gewichtsabnahme, Einschlafstörungen und Blutdruckanstieg ist zu achten. Inwieweit Methylphenidat Tics verstärken oder auslösen kann, ist umstritten. Regelmäßige Blutdruckkontrollen sowie Gewichtskontrollen sind erforderlich. Stimulanzien sind seit circa 60 Jahren im Einsatz. Eine Abhängigkeitsentwicklung bei ADHS-betroffenen Menschen konnte bisher nicht belegt werden. Neben regelmäßigen Kontrolluntersuchungen bezüglich der möglichen Nebenwirkungen ist immer eine Kontrolle zum Überprüfen der

Antidepressive Medikation 129

weiteren Indikation notwendig. Regelmäßige Auslassversuche sollten erfolgen. Die Stimulanzienbehandlung ist selbstverständlich eingebettet in ein multimodales Behandlungskonzept, das immer aus Elternberatung und gegebenenfalls Verhaltenstherapie für den betroffenen Jugendlichen/Kind besteht. Eine alternative Behandlungsmöglichkeit bei Vorliegen eines ADHS ist das seit 2005 in Deutschland zugelassene Atomoxetin (Strattera®). Dies ist ein selektiver Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer und hat die Zulassung für Kinder und Jugendliche sowie für Erwachsene, wenn bei ihnen im Kindes- und Jugendalter bereits ein ADHS behandelt wurde. Die Wirksamkeit und Verträglichkeit ist mit denen von Methylphenidat vergleichbar. Vorteilhaft ist die Einmalgabe sowie die Rezeptierung außerhalb eines Betäubungsmittelrezepts.

Antidepressive Medikation Der Einsatz von tri- oder tetrazyklischen Antidepressiva ist bei Kindern und Jugendlichen umstritten. Ebenso kontroverse Diskussionen werden bei Einsatz von selektiven Serotonin-Wiederaufnahmehemmern (SSRI) geführt. Mögliche Indikationen sind neben Depressionen die Enuresis, Zwangsstörungen, Panikattacken, soziale Phobie, generalisierte Angststörung, posttraumatische Belastungsstörung, Bulimie, impulsiv-aggressives Verhalten. Die einzige Substanz, die ab dem achten Lebensjahr zur Behandlung bei Zwangsstörungen zugelassen ist, ist Fluvoxamin. Andere SSRI wie Citalopram, Fluoxetin, Paroxetin und Sertralin kommen jedoch zum Einsatz. Über Wirkweisen und Auftreten möglicher Nebenwirkungen siehe Kapi-

130 Einsatz von Psychopharmaka im Kindes- und Jugendalter tel »Spezielle Psychopharmakotherapie – Antidepressiva« (S. 81ff.). Der Einsatz von SSRI im Kindes- und Jugendalter ist individuell genauestens zu prüfen, insbesondere unter Berücksichtigung der Ausprägung der Symptome. Es gibt Hinweise, dass möglicherweise unter SSRI-Gabe die Suizidalität gefördert wird. Zu Beginn der SSRI-Behandlung werden daher Benzodiazepine zeitlich limitiert verordnet. Zu berücksichtigen ist stets auch, ob andere Therapiemaßnahmen (wie beispielsweise Verhaltenstherapie) bereits durchgeführt werden und in welchem Ausmaß diese einen Effekt zeigen.

Stimmungsstabilisierende Medikamente (mood stabilizer) Ist es bei einem Jugendlichen zu rezidivierenden depressiven und/oder manischen Episoden gekommen, so sind stimmungsstabilisierende Medikamente wie Lithium, Carbamazepin, Valproinsäure oder Lamotrigin zur Rezidivprophylaxe indiziert. Entsprechende Voruntersuchungen, Berücksichtigung der Kontraindikation, regelmäßige Laborkontrollen und Kontrollen zur weiteren Indikation sind notwendig. Für Einzelheiten sei auf den Abschnitt »Stimmungsstabilisierende Medikamente« (S. 94ff.) verwiesen.

Benzodiazepine 131

Benzamide Sulpirid (zum Beispiel Dogmatil®) und Tiaprid (Tiapridex®) sind indiziert bei chronischen Tic-Erkrankungen sowie beim Tourette-Syndrom. Sulpirid selbst hat auch einen günstigen Effekt auf Zwangsstörungen und Aggressionen. Bei häufig anzutreffender Komorbidität von Tic und Zwang kommen Tiaprid und SSRI zum Einsatz. Eine andere Substanz, die bei der Tic-Störung eingesetzt wird, ist Risperidon. Die Dosierung von Tiaprid erfolgt nach Körpergewicht, grundsätzlich sind individuelle Dosisanpassungen erforderlich. Auf mögliche Nebenwirkungen wie Müdigkeit, besonders zu Beginn der Behandlung, ist zu achten. Regelmäßige Kontrolluntersuchungen zur weiteren Indikation und zum Erfassen möglicher Nebenwirkungen sind erforderlich.

Benzodiazepine Der Einsatz von Benzodiazepinen im Kindes- und Jugendalter ist Ausnahmesituationen vorbehalten und erfolgt immer nur kurzfristig. Benzodiazepine können beispielsweise bei Einsatz von Antidepressiva zur Überbrückung deren Wirklatenz kurzfristig eingesetzt werden, wenn ausgeprägte Angststörungen oder Erregungszustände auftreten. Sie werden auch zu Beginn einer SSRI-Behandlung eingesetzt (s. o.). Auf die besonderen Risiken, das hohe Abhängigkeitspotenzial wurde bereits mehrfach hingewiesen.

Beispiele multimodaler Behandlungen bei spezifischen psychiatrischen Erkrankungen

Depressionen Die Kernsymptome der depressiven affektiven Störung sind depressive Verstimmung mit Selbstabwertung und Anhedonie, Antriebshemmung mit Entscheidungsschwäche, Desinteresse und Verlangsamung, vegetative Depressionssymptome wie Schlafstörungen, Tagesstimmungsschwankungen mit unter Umständen ausgeprägtem Morgentief sowie Auftreten von Suizidgedanken, Suizidplänen bis hin zu Suizidversuchen. Begleitende Zusatzbeschwerden im Rahmen einer depressiven Episode können Konzentrations- und Aufmerksamkeitsminderung sein, pessimistische Zukunftsgedanken, Gewichtsabnahme bei vermindertem Appetit, Freudlosigkeit, Gefühl der Leere, Libidoverlust und häufig komorbid auftretende diffuse Ängste, Panikattacken oder soziale Phobien. Organische Erkrankungen, die eine Depression hervor-rufen können, müssen ausgeschlossen werden, wie beispielsweise Schilddrüsenerkrankung, Vitamin-B12- und/oder Eisenmangel, ferner Infektionen und hirnorganische Erkrankungen. Neben der klar abgegrenzten depressiven Episode sind chronisch depressive Verstimmungen im Rahmen einer Dysthymie zu berücksichtigen. Zu beachten ist, dass es auch zu so genannten »doppelten Depressionen« kommen kann, dem gleichzeitigen Auftreten von Dysthymie und depressiven Episoden.

134 Beispiele multimodaler Behandlungen Bei der depressiven Episode ist zu berücksichtigen, dass diese in 70 bis 80 Prozent der Fälle rezidiviert. Quod vitam ist das Suizidrisiko mit circa 15 bis 20 Prozent hoch. Bei depressiven Erkrankungen ist grundsätzlich von einem multikausalen Geschehen auszugehen, bei dem genetische, biologische, psychologische, reaktive und soziale Faktoren sowohl für die Entstehung als auch für den Verlauf der Depression anzunehmen sind. Aktuelle psychosoziale Belastungen, biografische Faktoren, genetische Disposition, hirnorganische Faktoren, körperliche und krankheitsbedingte Einflüsse, Medikamente, Suchtmittel, Lichtmangel und Persönlichkeitsmerkmale sind zu erheben. Auf organisch bedingte Depressionen, zum Beispiel im Rahmen von Schädelhirntraumen, Tumoren, zerebrovaskulären Erkrankungen oder degenerativen Gehirnerkrankungen wie Morbus Alzheimer kann hier nicht näher eingegangen werden. Eine entsprechende Diagnostik ist zu fordern. Durch Substanzen wie Alkohol oder bestimmte Medikamente können Depressionen hervorgerufen werden. Eine Sonderform der Depression ist die saisonal abhängige Depression, bei der es zu herabgesetzten Stimmungen während der dunklen Jahreszeit kommt – mit atypischer Symptomatik wie Appetitsteigerung und Gewichtszunahme sowie einem vermehrten Schlafbedürfnis. Eine Lichttherapie kann hier nachgewiesenermaßen einen positiven therapeutischen Effekt haben. Ausschließlich körperliche Beschwerden wie Appetitminderung, Erschöpfung, Schlafstörungen und diffuse Schmerzzustände können eine Depression maskieren. Es wird von lavierter oder somatisierter Depression gesprochen. Bei genauerer Exploration sind meistens Konzentrationsstörungen, vermehrtes Grübeln sowie Antriebsstörungen eruierbar. Auf mögliche Depressionen in Zeiten hormoneller Um-

Depressionen 135

stellung wie beispielsweise in der Pubertät oder nach einer Geburt sowie in der Postmenopause sei hingewiesen. Grundsätzlich ist die Behandlung von depressiven Erkrankungen multimodal. Neben psychotherapeutischen Maßnahmen können bei entsprechend ausgeprägter depressiver Symptomatik und unter Berücksichtigung der individuellen Lebenssituation Antidepressiva zum Einsatz kommen. Antidepressiva sind unabhängig von der Ätiologie der Depression wirksam. Je nach klinischem Erscheinungsbild werden eher sedierende oder eher aktivierende Substanzen angewendet (s. Abschnitt »Antidepressiva«, S. 81ff.). Ergänzende Maßnahmen wie Wachtherapie (Schlafentzug) oder, bei Vorliegen von saisonalen Einflüssen, Lichttherapie kommen zum Einsatz. Die antidepressive Medikation erfolgt je nach Zielsymptomatik, auf entsprechende Nebenwirkungen und Kontrolluntersuchungen ist zu achten. Die Wirksamkeit psychotherapeutischer Interventionen zur Depressionsbehandlung ist besonders für die kognitiven Therapieverfahren und für die interpersonelle Psychotherapie gut belegt. Bei leichten Depressionen ist die Wirksamkeit von Antidepressiva gegenüber der Psychotherapie vergleichbar gut. Bei mittelschwerer und schwerer Depression ist eine Überlegenheit der Antidepressiva oder der Kombination von Psychotherapie plus Antidepressiva gegenüber der alleinigen Psychotherapie belegt. Verhaltenstherapeutische Strategien bei der Depressionsbehandlung sind schwerpunktmäßig zu nennen, etwa Aufbau positiver Aktivitäten, Erlernen von Problemlösungsstrategien, Abbau depressiver kognitiver Dysfunktion, Erlernen von Selbstkontrollmechanismen sowie Aufbau sozialer Kompetenzen und somit Verbesserung der sozialen Beziehungen. Bei der interpersonellen Psychotherapie wird fokusorien-

136 Beispiele multimodaler Behandlungen tiert auf Trennung oder Verlust von Bezugspersonen, Partnerschaftsproblematiken und veränderte Rollen geachtet. Psychodynamisch orientierte Psychotherapieverfahren kommen ebenfalls zur Behandlung der Depressionen zum Einsatz und können über die Ermöglichung neuer Beziehungserfahrungen sowie Verarbeitung unbewusster Konflikte und Abhängigkeiten zur Verbesserung des Selbstwertgefühls beitragen.

Bipolare Störungen Die bipolare Störung ist gekennzeichnet durch wiederholte Phasen depressiver und manischer Symptome. Die manischen Symptome bestehen in Antriebssteigerung und gehobener Stimmung, vermindertem Schlafbedürfnis, Omnipotenzgefühlen und Auftreten von Symptomen des Größenwahns. Oft ist erst über die Verlaufsbeobachtung (das Auftreten der verschiedenen Episoden) eine genaue diagnostische Zuordnung möglich. Sonderformen wie Mischzustände (manische und depressive Symptome gleichzeitig) sowie häufiger Phasenwechsel (rapid cycling) kommen vor. Von einer hohen genetischen Belastung bei bipolaren Störungen ist auszugehen. Zu unterscheiden in der Therapie sind Akuttherapie, Erhaltungstherapie und Rezidivprophylaxe. Die Akuttherapie soll die depressiven oder manischen Symptome reduzieren, in der Erhaltungstherapie soll die Remission in der Phase erreicht werden. Die Rezidivprophylaxe hat zum Ziel, erneute Phasen zu vermeiden. Die medikamentöse Behandlung steht in der Akuttherapie im Vordergrund, vor allem bei manischer Symptomatik. Hier kommen Lithium, Valproat, Carbamazepin oder Antipsy-

Angststörungen 137

chotika zum Einsatz. Die Rezidivprophylaxe wird mit einem mood stabilizer durchgeführt. In der Psychotherapie wird es darum gehen, auf mögliche Stressreduktion und Sensibilisierung von Zusammenhängen zwischen körperlichen und psychischen Prozessen zu achten. Das Einhalten regelmäßiger biologischer Rhythmen (wie Schlaf-Wach-Rhythmus), mehr Eigenverantwortlichkeit, die Vermittlung von Copingstrategien und der Aufbau sozialer Kontakte und positiver Aktivitäten sind mögliche Ziele der Psychotherapie. Wie auch bei der Behandlung von Depressionen sind Psychoedukation mit Information und Aufklärung sowie Einbezug von Angehörigen wichtiger Bestandteil begleitender Maßnahmen.

Angststörungen Angststörungen werden unterteilt in Panikstörung, Agoraphobie, soziale Phobie, spezifische Phobie und generalisierte Angststörung. Angstreaktionen sind im Sinne eines Alarmsystems eine sinnvolle und lebensnotwendige, biologische begründbare Reaktion, um in Gefahrensituationen schnell zu handeln. Bei Angststörungen kommt es jedoch zu einer Dysbalance und zu Angstreaktionen in Situationen, in denen die Angst nicht sinnvoll ist. Bei Menschen mit Angststörungen besteht eine erhöhte Vulnerabilität als Ausdruck erhöhter Angstbereitschaft, wobei die Hauptschaltstelle von Angst und Furcht die Amygdala ist mit entsprechenden Verbindungen zur Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenachse. In sich bedingender Wechselwirkung stehen eine erhöhte Aktivität in der Amyg-

138 Beispiele multimodaler Behandlungen dala, die Überempfindlichkeit auf körperliche Sensationen bei Dysfunktionalität des präfrontalen Kortex, Wechselwirkungen mit psychischen, familiären und sozialen Faktoren mit unzureichender Vermittlung von Bewältigungsstrategien, unter Umständen Erfahrungen traumatischer Ereignisse, Trennungserfahrungen und unsichere Bindungen zwischen Eltern und Kind sowie kognitive Modelle zur Fehldeutung körperlicher Symptome. Bei der Diagnostik der Angststörungen sind Anamnese mit entsprechender Situationsanalyse, Selbstbeobachtungsund Fremdbeobachtungsangaben sowie Symptomfragebogen und selbstverständlich Ausschluss körperlicher Erkrankungen, die mit Angst einhergehen können, von Bedeutung. Therapeutisch sind Psychotherapie (zum Beispiel kognitive Verhaltenstherapie mit Einsatz von Expositions- und Konfrontationsverfahren, kognitive Umstrukturierung, Aufdecken automatischer Gedanken) und Lernen von Entspannungsverfahren sowie soziales Kompetenztraining anzuwenden. Immer sollten ausführliche Informationen und Aufklärung über Angstentstehung, Angstreaktion und Ablauf der Angst erfolgen, um dem Patienten ein Selbstmanagement zu ermöglichen. Hilfreich können hierbei Angstund Vermeidungstagebücher sein. Bei ausgeprägten Angststörungen oder bei unzureichendem Effekt der Psychotherapie sind medikamentöse Behandlungsstrategien möglich. In erster Linie werden selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRI) eingesetzt, so beispielsweise bei der Panikstörung Citalopram, Escitalopram, Venlafaxin, Fluvoxamin, Fluoxetin oder Paroxetin. Alternativ können die älteren trizyklischen Substanzen wie Imipramin oder Clomipramin eingesetzt werden. Bei der generalisierten Angststörung sind Venlafaxin oder Paroxetin sowie Imipramin mögliche Alternativen. Bei der sozialen

Zwangsstörungen 139

Phobie kommen Venlafaxin, Paroxetin oder der reversible MAO-Hemmer Moclobemid zum Einsatz. Wichtig ist, dass die Antidepressiva bei Angststörungen ausreichend lange und ausreichend hoch dosiert gegeben werden müssen. Auf entsprechende Nebenwirkungen ist zu achten (s. Abschnitt »Antidepressiva«, S. 81ff.). Ergänzende Maßnahmen bei Angststörungen sind Sporttherapie (insbesondere Jogging, Walking) sowie Entspannungsverfahren (beispielsweise progressive Muskelrelaxation nach Jacobson).

Zwangsstörungen Bei Zwangsstörungen, bei denen es zu wiederkehrenden sinnlosen Zwangsgedanken und/oder -handlungen kommt, ist kennzeichnend, dass es bei Hindern der jeweiligen Zwänge zum Auftreten von Angst kommt. Es besteht eine hohe Komorbidität mit Depressionen. Im Rahmen der Diagnostik mit Exploration und Situationsanalyse sowie Fremdanamnese sollte in jedem Fall geklärt werden, ob Angehörige in die Zwangsrituale einbezogen werden, um gegebenenfalls die Angehörigen entsprechend zu beraten. Die Therapie der Zwangsstörungen ist eine multimodale: Neben Verhaltenstherapie mit Konfrontationstechniken, Exposition, flooding und Desensibilisierung können SSRI eingesetzt werden, wobei zu berücksichtigen ist, dass diese über einen längeren Behandlungszeitraum und mit höheren Dosen gegeben werden müssen, als es bei der Depressionsbehandlung üblich ist. Ähnlich wie bei den Angsterkrankungen ist ätiologisch von einem multimodalen Konzept mit erhöhter Vulnerabili-

140 Beispiele multimodaler Behandlungen tät und zusätzlichen psychosozialen Belastungen sowie einem hohen genetischen Anteil auszugehen. Verhaltenstherapeutisch sollten Vermeidungsstrategien abgebaut werden. Konfrontationsübungen mit auslösenden Reizen, Expositionstraining, unter Umständen mit Reizüberflutung (flooding), Erlernen des Gedankenstopps, Selbstinstruktionstraining, Desensibilisierung und Erlernen sozialer Fertigkeiten sind Beispiele von Interventionen. Medikamentös können zum Beispiel Clomipramin, Fluoxetin, Fluvoxamin, Sertralin, Citalopram oder Paroxetin zum Einsatz kommen.

Posttraumatische Belastungsstörung Bei der posttraumatischen Belastungsstörung kann es zu wiederkehrenden Erinnerungen an das Trauma und flashbacks kommen. Vermeidungsverhalten, Ängste sowie vermehrte Schreckhaftigkeit, Auftreten depressiver Symptome und Schlafstörungen finden sich häufig. Traumaspezifische Psychotherapien mit dem Ziel einer Integration des Traumas kommen zum Einsatz. Spezifische Traumabehandlungen wie beispielsweise EMDR (EyeMovement-Desensitization and Reprocessing) zeigen gute Wirksamkeit. Grundsätzlich ist die traumaspezifische Therapie eingebettet in einen komplexen Gesamtbehandlungsplan. Auf Stabilisierung und Wiedergewinnen an Sicherheit für den Patienten ist zu achten. Medikamentös können SSRI eingesetzt werden, bei vermehrten Alpträumen und Schlafstörungen Trimipramin.

Borderline-Störung 141

Schizophrenie Bei der Schizophrenie kommt es einerseits zu Positivsymptomen wie Wahn, Halluzinationen, Ich-Erlebnisstörungen, Fremdbeeinflussungserlebnissen, Erregung, Denkzerfahrenheit. Andererseits sind negative Symptome wie Sprachverarmung, depressive Symptome, Antriebsstörungen, Konzentrationsstörungen und sozialer Rückzug zu nennen. Wenngleich die Therapie der Schizophrenie primär eine medikamentöse ist (Antipsychotika), sind im langfristigen Verlauf Psychotherapie und sozialtherapeutische Maßnahmen sowie Rehabilitationsmaßnahmen von immenser Bedeutung. Eine ausschließliche Psychotherapie ist bei der schizophrenen Erkrankung nicht möglich, ergänzend ist sie von großer Bedeutung, um dem Patienten und seinen Angehörigen Coping-Strategien zu vermitteln. Frühwarnsymptomtraining, Training sozialer Fertigkeiten, Stressbewältigungstraining, Verbesserung der familiären Kommunikation, kognitives Training und Hilfestellung bei Tagesstrukturierung und Freizeitgestaltung sind mögliche Inhalte psychotherapeutischer Interventionen. Leider ist es im Alltag häufig so, dass Patienten mit einer schizophrenen Psychose Schwierigkeiten haben, einen Psychotherapieplatz zu finden.

Borderline-Störung Die Borderline-Störung als emotional instabile Persönlichkeitsstörung vom Borderline-Typ ist dadurch gekennzeichnet, dass die Patienten häufig zu impulsivem Handeln neigen, ohne die Konsequenzen adäquat zu berücksichtigen. Die Neigung zu Ausbrüchen von Wut oder Gewalt und die Unfähigkeit zur Kontrolle ihres impulsiven Verhaltens füh-

142 Beispiele multimodaler Behandlungen ren zu erheblichen Konflikten. Häufig kommt es zu unbeständigen oder unberechenbaren Stimmungsschwankungen. Die Beziehungen sind instabil, Ängste vor dem Verlassenwerden sind ein zentrales Problem. Insgesamt ist von einer Störung der Emotionsregulation auszugehen. Psychoanalytischen Theorien zufolge kommt es zu einer unzureichenden Integration von Selbst- und Objektrepräsentanzen, behaviorale Theorien gehen von einer Störung subkortikaler Zentren der Emotionsregulation aus. Neben den bereits beschriebenen Verhaltensweisen kommt es häufig zu depressiven Einbrüchen, selbstverletzendem Verhalten und Suizidalität. Psychotherapeutische Maßnahmen wie die dialektisch behaviorale Therapie nach Marsha Linehan sowie die psychodynamisch orientierte Psychotherapie nach Kernberg kommen zum Einsatz. Bei häufig vorhandenen frühen Traumatisierungen werden traumaspezifische Psychotherapien zusätzlich eingesetzt. Kommt es zu ausgeprägten Symptomen von Angst und Depressionen oder Impulskontrollverlusten sowie Schlafstörungen oder paranoid-halluzinatorischen Symptomen, können Psychopharmaka ergänzend zur Anwendung kommen. SSRI (zum Beispiel Citalopram), mood stabilizer (Valproat, Carbamazepin, Lamotrigin), Antipsychotika der zweiten Generation (Risperidon, Olanzapin oder Quetiapin) können ergänzend zu den psychotherapeutischen Maßnahmen Anwendung finden.

Schlafstörungen 143

Schlafstörungen Es wird zwischen Einschlaf- und/oder Durchschlafstörungen unterschieden. Vor der Therapie ist grundsätzlich eine genaue Diagnostik erforderlich, um beispielsweise organische Schlafstörungen wie das Schlafapnoe-Syndrom, Restless-Legs-Syndrom, Schlaf-wach-Rhythmusstörungen bei der Parkinson- oder bei der Alzheimer-Erkrankung sowie Ein- und Durchschlafstörungen bei internistischen Erkrankungen wie beispielsweise Diabetes oder Schilddrüsendysfunktionen zu erkennen und entsprechend zu behandeln. Exogene Einflüsse wie Stress- und Belastungssituationen, Umgebungsfaktoren, Medikamente, Alkohol, Jetlag und Schichtarbeit sind zu berücksichtigen. Psychiatrische Erkrankungen, die häufig mit Schlafstörungen einhergehen, sind Depressionen, Manie, Angststörungen und Schizophrenie. Häufig sind Fehlverhalten, gestörte Erregungsbalance und vermehrte Ängstlichkeit Ursache der Chronifizierung. Genaue Anamnese, Schlafprotokolle, eventuell Schlaflaboruntersuchung (insbesondere bei Verdacht auf Schlafapnoe-Syndrom oder beim Restless-Legs-Syndrom), Vermittlung von Schlafhygiene und Informationen über Schlafdauer und Altersabhängigkeit der Schlafdauer, Erlernen von Schlafritualen und Behandlung möglicher psychiatrischer oder internistischer Grunderkrankungen sind erforderlich. Je nach Schlafstörung kommen unterschiedliche Therapiestrategien zum Einsatz, so beispielsweise beim Schlafapnoe-Syndrom nächtliche Beatmungsgeräte und bei Restless-Legs-Syndrom eine medikamentöse Therapie mit L-Dopa-Präparaten oder Dopamin-Agonisten. Bei organischen oder psychiatrischen Erkrankungen steht die Behandlung der Grunderkrankung im Vordergrund. Bei psychophysiologischer Insomnie sind Schlafhygiene, Sti-

144 Beispiele multimodaler Behandlungen muluskontrolle, Schlafrestriktion und Verhaltenstherapie wichtige Maßnahmen. Ergänzend kommt eine medikamentöse Therapie zum Einsatz. Bei der primären Insomnie (primär psychophysiologische Insomnie) ist ein Teufelskreis der Schlafstörung mit Angst vor der Schlafstörung, Angst vor Leistungsversagen und Konzentrationsminderung am Tag, Erzwingen des Schlafs mit vermehrtem Grübeln, hohe Erwartungshaltung, Ärger, Wut und körperliche Anspannung die Folge. Ein multimodales Behandlungskonzept aus verhaltenstherapeutischen Maßnahmen, Verbesserung der Schlafhygiene, Stimuluskontrolle, Erlernen von Entspannungsverfahren und Psychotherapie (Verhaltenstherapie, Entspannungstherapie, aufdeckende Psychotherapie, Traumbeeinflussungstherapie) kommt zum Einsatz. Bei den schlafhygienischen Maßnahmen ist darauf zu achten, dass der Patient nicht länger im Bett verweilt als notwendig und aufsteht, wenn er wach ist. Der Patient sollte an einen regelmäßigen Rhythmus (gleiche Zubettgehzeit, gleiche Aufstehzeit) gewöhnt werden. Tagsüber zu schlafen sollte vermieden werden. Die Gestaltung des Schlafzimmers sollte angenehm sein. Auf koffeinhaltige Getränke am späten Nachmittag oder am Abend sollte verzichtet werden; ebenso auf Alkohol. Regelmäßige körperliche Tätigkeiten, zum Beispiel Sport, sollten im Tagesablauf eingeplant werden. Die Abendgestaltung sollte entspannend sein, aufregende Tätigkeiten sollten gemieden werden. Bei vermehrtem Grübeln vor dem Einschlafen wird empfohlen, ein Tagebuch zu führen. Ein Schlafritual sollte individuell mit dem Patienten besprochen werden. Bei der Stimuluskontrolle, die zu den effektivsten Techniken bei Schlafstörungen gehört, wird der Patient angehalten, das Bett zu verlassen, wenn er nicht einschlafen kann. Regeln, wie etwa, das Bett nur aufzusuchen, wenn Müdigkeit

Schlafstörungen 145

vorhanden ist und der Patient der Ansicht ist, einschlafen zu können, ferner, dass das Bett ausschließlich zum Schlafen da ist, bis auf sexuelle Aktivitäten keine anderen Tätigkeiten im Bett erlaubt sind, bei Einschlafproblemen das Bett wieder verlassen werden muss und der Patient ein anderes Zimmer aufsuchen sollte, führen dazu, dass der Anblick »Bett« (Stimulus) mit dem Gedanken »hier kann ich einschlafen« verbunden wird. Oft sind diese Regeln der Stimuluskontrolle nur durch konsequentes und geduldiges Üben möglich. Es muss ein engmaschiger Kontakt zum Therapeuten bestehen, damit der Patient immer wieder motiviert wird, die Stimuluskontrolle durchzuführen. In der Therapie ist darauf zu achten, dass ausreichende Tagesaktivitäten auch unter Einbezug körperlicher Bewegung notwendig sind, um einen guten Nachtschlaf zu ermöglichen. In der kognitiven Verhaltenstherapie können Entspannungstherapien wie Muskelrelaxation nach Jacobson oder Autogenes Training erlernt werden, um das erhöhte Erregungsniveau zu senken. Gedankenstopp-Techniken bei nächtlichem Grübeln und kognitive Umstrukturierung bei Vorliegen von verzerrten Gedanken in Bezug auf einen gesunden Schlaf kommen zum Einsatz. Die Traumbeeinflussungstherapie versucht, auf die Gefühle im Traum Einfluss zu nehmen. Die Träume dienen zur Verarbeitung der Realität. In den Träumen können Gefühle zutage treten, die in der Wirklichkeit verborgen geblieben sind, wie Ängste, Zurückweisungen und Verlusterfahrung. Lösungswege, alternative Handlungsweisen und Veränderungen der Affekte sind im Lauf der Therapie möglich. Traumtagebücher, in denen Beziehungen der Affekte im Traum zu denen der Affekte des Alltags herzustellen sind, sind unterstützend hilfreich. Die medikamentöse Behandlung von Schlafstörungen

146 Beispiele multimodaler Behandlungen zielt darauf ab, den Teufelskreis der Schlafstörungen zu durchbrechen. Gut und schnell wirksam sind Benzodiazepine, sie sind jedoch mit einem hohen Abhängigkeitsrisiko verbunden und sollten grundsätzlich nur kurzfristigem Einsatz vorbehalten bleiben. Zyklopyrrolone und Imidazopyridine (zum Beispiel Zopiclon oder Zolpidem) haben eine gute Wirkung bei geringer Suchtentwicklung. Sedierende Antidepressiva wie Opipramol, Doxepin, Amitriptylin, Trimipramin und Mirtazapin zeigen keine Abhängigkeitsentwicklung. Auf regelmäßige Kontrolluntersuchungen des Blutbilds ist zu achten, gegebenenfalls ist das EKG zu kontrollieren. Sedierende Antipsychotika wie Melperon, Pipamperon, Promethazin, Chlorprothixen, Levomepromazin können ebenfalls zum Einsatz kommen. Sie haben kein Abhängigkeitsrisiko, jedoch können Spätdyskinesien auftreten. Zusätzlich sind regelmäßige Blutkontrollen erforderlich. Naturpräparate wie Baldrian und Hopfen haben ebenfalls keine Abhängigkeitsentwicklung, zeigen jedoch nur eine geringe Wirkung (vgl. Abschnitt »Hypnotika«, S. 109ff.). Die Vor- und Nachteile des Einsatzes von Schlafmitteln sollten individuell genau geprüft werden. Manchmal kann es von Vorteil sein, Schlafmittel zu Beginn der Behandlung einzusetzen, damit der Patient eine rasche Entlastung erfährt. Von vornherein muss mit ihm besprochen werden, dass eine medikamentöse Behandlung der Schlafstörung eine vorübergehende Behandlung ist und begleitende Psychotherapie erforderlich ist. Bei Vorliegen von psychiatrischen Grunderkrankungen, die mit Schlafstörungen einhergehen, wie beispielsweise Angststörungen oder Depressionen, sind diese Grunderkrankungen vorrangig zu behandeln. Zu berücksichtigen ist stets, dass Schlafstörungen häufig ein frühes Symptom bei verschiedenen psychiatrischen

Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung 147

Grunderkrankungen wie beispielsweise Depressionen, bipolar-affektiven Störungen (Manie und Depression) und bei der Schizophrenie sein können. Sie sollten dann als Alarmsymptom aufgefasst werden, um entsprechende Maßnahmen zu ergreifen.

Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung Die ADHS ist nicht nur eine Störung im Kindesalter, sie kann bis in das Erwachsenenalter persistieren. Da es häufig Komorbiditäten mit anderen psychiatrischen Erkrankungen (insbesondere affektive Störungen, Suchterkrankungen, Persönlichkeitsstörungen) gibt, werden sie oft übersehen. Kernsymptome der ADHS sind Aufmerksamkeitsstörungen, vermehrte Ablenkbarkeit, Desorganisation, impulsives Verhalten, motorische Unruhe, gestörtes Sozialverhalten, emotionale Instabilität. Die Diagnose setzt voraus, dass es sich um eine persistierende ADHS im Erwachsenenalter handelt, das heißt, die Störungen müssen bereits in der Kindheit begonnen haben und situationsübergreifend sein. Anamnese, Fremdanamnese, Informationen aus der Schulzeit (Zeugnisse), testpsychologische Untersuchungen sowie Fragebögen zur Selbst- und Fremdbeobachtung kommen zum Einsatz. Ätiologisch wird von einem multifaktoriellen Geschehen auszugehen sein, bei der es zu einer Verzahnung psychologischer und biologischer Faktoren kommt. Neurotransmitterdysfunktion des dopaminergen und noradrenergen Systems, hohe genetische Heredität und psychosoziale Risikofaktoren sind beispielhaft zu nennen. Die Therapie der ADHS im Erwachsenenalter ist eine multimodale, bei der Psychotherapie mit ausführlicher Auf-

148 Beispiele multimodaler Behandlungen klärung, Information über das Erkrankungsbild sowie Behandlung der psychischen komorbiden Störungen wie Ängste und Depressionen, aber auch Coping-Strategien erforderlich werden. Die tiefenpsychologisch interaktionelle Form der Psychotherapie und verhaltenstherapeutische Elemente kommen häufig in Kombination zum Einsatz. Der Einbezug des jeweiligen Partners ist notwendig. Erlernen von Selbstmanagement, Verbesserung der Strukturierungsmöglichkeiten, Vermittlung von Lernstrategien, Chaos-Management, Erlernen von Entspannungsmethoden sowie Lernen von Zeit- und Finanzmanagement sind zu nennen. Bei ausgeprägter Symptomatik kommen Stimulanzien zum Einsatz, beispielsweise Methylphenidat. Sämtliche Medikation im Erwachsenenalter geschieht »off-label« im Sinne eines individuellen Behandlungsversuchs. Eine sorgfältige Diagnostik vorausgesetzt, können Stimulanzien für den betroffenen Patienten oft eine ergänzende wertvolle Hilfe sein, um eine verbesserte Steuerungsfähigkeit und eine verbesserte Aufmerksamkeit zu erzielen (s. Abschnitt »Psychostimulanzien«, S. 117f.). Eine neuere Substanz ist Atomoxetin (Strattera®), ein selektiver Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer. Für diese Substanz besteht eine Zulassung im Erwachsenenalter, sofern bereits im Kindes- und Jugendalter die ADHS mit Atomoxetin behandelt wurde. Oft macht erst der Einsatz einer medikamentösen Therapie die Psychotherapie möglich, denn Aufmerksamkeitsstörung, impulsives Verhalten, Vergesslichkeit (Termine!) hindern die Patienten häufig an einer kontinuierlichen Inanspruchnahme von psychotherapeutischen Maßnahmen.

Literatur

Literatur Psychiatrie und Psychotherapie Benkert, O.; Hippius, H. (2003): Kompendium der Psychiatrischen Pharmakotherapie. 4. Aufl. Berlin u. a. Berger, M.: Psychische Erkrankungen. 2. Aufl. München u. Jena. Klingelhöfer J.; Rentrop, M. (2003): Klinikleitfaden Neurologie, Psychiatrie. 3. Aufl. München u. Jena. Möller, H.-J.; Laux, G; Deister, A. (Hg.) (2005): Psychiatrie und Psychotherapie. 3. Aufl. Stuttgart. Schäfer, U.; Rüther, E. (2006): Psychiatrische Patienten in der Hausarztpraxis. Erkennen – Untersuchen – Behandeln. Stuttgart. Literatur Kinder- und Jugendpsychiatrie Eggers, C.; Tegert, J. M.; Resch, F. (Hg.) (2004): Psychiatrie und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters. Berlin u. a. Goodman, R.; Scott, S.; Rothenberger, A. (2000): Kinderpsychiatrie kompakt. Darmstadt. Knölker, U.; Mattejat F.; Schulte-Markwort, M. (2000): Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie systematisch. Bremen. Ratgeber für Patienten und Angehörige Schäfer, U. (1999): Depressionen im Kindes- und Jugendalter. Ein kurzer Ratgeber. Bern. Schäfer, U. (2000): Musst Du dauernd rumzappeln? Die hyperkinetische Störung. Ein Ratgeber. 2. Aufl. Bern. Schäfer, U. (2001): Depressionen im Erwachsenenalter. Ein kurzer Ratgeber für Betroffene und Angehörige. Bern. Schäfer, U. (2003): Tim Zippelzappel und Philipp Wippelwappel. Eine Geschichte für Kinder mit ADHS-Syndrom. Bern. Schäfer, U.; Rüther, E. (2003): Tagebuch meiner Depression. Aktiv mit der Krankheit umgehen. Bern.

150 Literatur Schäfer, U.; Rüther, E. (2004): Demenz – Gemeinsam den Alltag bewältigen. Ein Ratgeber für Angehörige und Pflegende. Göttingen. Schäfer, U.; Rüther, E. (2004): Gut schlafen – fit am Tag: Ein Traum? Ein Ratgeber bei Schlafstörungen. Berlin. Schäfer, U.; Rüther, E. (2004): Im Auf und Ab der Gefühle. Manie und Depression – die bipolare affektive Störung. Ein Ratgeber. Berlin. Schäfer, U.; Rüther, E. (2004): Schizophrenie. Eine Krankheit – kein Unwort. Ein Ratgeber. Berlin. Schäfer, U.; Rüther, E. (2005): ADHS im Erwachsenenalter. Ein Ratgeber für Betroffene und Angehörige. Göttingen. Schäfer, U.; Rüther, E. (2005): Ängste – Schutz oder Qual? Angststörungen. Ein Ratgeber für Betroffene und Angehörige. Berlin. Schäfer, U.; Rüther, E.; Sachsse, U. (2006): Borderline-Störungen. Ein Ratgeber für Betroffene und Angehörige. Göttingen. Schäfer, U.; Rüther, E.; Sachsse, U. (2006): Hilfe und Selbsthilfe nach einem Trauma. Ein Ratgeber für seelisch schwer belastete Menschen und ihre Angehörigen. Göttingen.

Neue Ratgeber Ulrike Schäfer / Eckart Rüther / Ulrich Sachsse Hilfe und Selbsthilfe nach einem Trauma Ein Ratgeber für seelisch schwer belastete Menschen und ihre Angehörigen 2006. 89 Seiten mit 6 Abb., kartoniert. ISBN 3-525-46250-6 Dieses Buch richtet sich an Menschen, die von einem plötzlichen Trauma betroffen sind, etwa durch eine Umweltkatastrophe, ein Gewaltverbrechen, einen Verkehrsunfall oder den unerwarteten Verlust eines geliebten Menschen. Der Ratgeber gibt den Betroffenen selbst, aber auch ihren Angehörigen, wichtige Informationen über mögliche Reaktionen und Folgen nach einem erlittenen Trauma. Die in der Behandlung von traumatisierten Patienten erfahrenen Autoren geben Hilfestellungen und zeigen, wie ein Leben nach dem Trauma weitergehen kann und welche Möglichkeiten es zur Überwindung des Traumas gibt. Spezifische Traumatherapien werden ebenso vorgestellt wie medikamentöse Unterstützung.

Ulrike Schäfer / Eckart Rüther / Ulrich Sachsse Borderline-Störungen Ein Ratgeber für Betroffene und Angehörige 2006. 118 Seiten mit 9 Abb., kartoniert ISBN 3-525-46249-2 Die Borderline-Störung ist eine psychische Erkrankung, die sowohl für den Betroffenen selbst als auch für seine Angehörigen eine schwierige Herausforderung darstellt. Viele Verhaltensweisen widersprüchlicher Art, starke Stimmungsschwankungen, heftige Auseinandersetzungen führen zu Belastungen und Verzweiflung. Verlustängste und reale Trennungserfahrungen sind oftmals die Folge. Der Ratgeber informiert über das Erkrankungsbild, mögliche Ursachen und Behandlungsstrategien. Selbsthilfe, verschiedene Therapieformen, der Einsatz von Medikamenten und Umgangsmöglichkeiten für die Angehörigen stehen im Mittelpunkt.

Neue Behandlungskonzepte Ulrike Lehmkuhl (Hg.) Psychotherapie und Psychopharmakotherapie im Kindes- und Jugendalter

Marianne Leuzinger-Bohleber / Stephan Hau / Heinrich Deserno (Hg.) Depression – Pluralismus in Praxis und Forschung

Indikation, Effekte, Verlauf

Schriften des Sigmund-FreudInstituts. Reihe 1: Klinische Psychoanalyse: Depression, Band 1. 2005. 353 Seiten mit 17 Abb. und 26 Tab., kartoniert ISBN 3-525-45164-4

2003. 187 Seiten mit 18 Abb. und 21 Tab., kartoniert ISBN 3-525-46180-1 Die in diesem Band vorgelegten Arbeiten weisen auf die Notwendigkeiten multimodaler Behandlungskonzepte in der Kinder- und Jugendpsychiatrie hin. Fast alle Störungsbilder des Faches machen dies erforderlich. Die Entwicklung neuer Psychopharmaka verbesserte die Möglichkeiten, auch Kinder und Jugendliche medikamentös zu behandeln, allerdings in der Regel bisher nur im Heilversuch, weil kaum eines dieser Präparate für Kinder und Jugendliche zugelassen worden ist. In der Öffentlichkeit am geläufigsten ist die Behandlung von Kindern mit hyperkinetischen Störungen mit Methylphenidat und ergänzenden und unterstützenden Therapien inklusive intensiver Elternberatung.

Nach Prognosen der WHO entwickelt sich die Depression weltweit zur Volkskrankheit. Lange Zeit galten Depressionen als leicht zu behandeln. Diese Auffassung hat sich angesichts neuer Studien radikal verändert: Über die Hälfte der Patientinnen und Patienten erleiden nach Therapie einen Rückfall und 20 bis 30 Prozent chronifizieren ihr Leiden. Daher ist eine gemeinsame Anstrengung von Praktikern verschiedenster Professionen und von Forschern unterschiedlichster Disziplinen geboten. Dieser Band illustriert, dass sich der Blick über den Zaun der eigenen Disziplin gleichzeitig als verunsichernd und herausfordernd, aber auch als motivierend und förderlich erweist.